Das Christentumsverständnis Wilhelm Boussets: Evangelische Theologie im Spannungsfeld von Historismus und Rationalismus [1 ed.] 9783666573101, 9783525573105


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German Pages [354] Year 2019

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Das Christentumsverständnis Wilhelm Boussets: Evangelische Theologie im Spannungsfeld von Historismus und Rationalismus [1 ed.]
 9783666573101, 9783525573105

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FKDG 117

Jan Höffker

Der Autor Dr. Jan Höffker war Mitglied des Doktorandenkollegs »Transformationsprozesse im neuzeitlichen Protestantismus« und ist derzeit Vikar in der Landeskirche Hannover.

In der Forschung gilt Wilhelm Bousset vor allem als Vertreter eines »theologischen Historismus«. Jan Höffker zeigt, dass Bousset an vielfältigen Diskursen in der Theologie partizipierte, die ihren Zielpunkt darin besaßen, dass die Theologie den religiös Ansprechbaren seiner Zeit einen mit ihrem modernen Lebensgefühl vermittelbaren Zugang zur Welt des Christentums wieder aufschließen konnte. Der Autor zeichnet Bousset so als einen Theologen, der die unaufhebbare Wechselbeziehung von Religion und Theologie wachhält. Bousset gerät daher als ein sehr eigenständiger Akteur der Religionsgeschichtlichen Schule in den Blick.

ISBN: 978-3-525-57310-5

9 783525 573105

Band 117

Höffker  Das Christentumsverständnis Boussets

FORSCHUNGEN ZUR KIRCHEN- UND DOGMENGESCHICHTE

Das Christentumsverständnis Wilhelm Boussets Evangelische Theologie im Spannungsfeld von Historismus und Rationalismus

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Herausgegeben von Volker Henning Drecoll und Volker Leppin

Band 117

Vandenhoeck & Ruprecht

Jan Höffker

Das Christentumsverständnis Wilhelm Boussets Evangelische Theologie im Spannungsfeld von Historismus und Rationalismus

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Satzpunkt, Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-3237 ISBN 978-3-666-57310-1

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Gegenwartsdiagnose und politische Anliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2 Boussets Bemühen um die religiösen Gebildeten. . . . . . . . . . . . . . . 25 1.3 Boussets volksbildnerisches Interesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.4 Kirchenpolitisches Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.5 Bousset als Mitglied und ‚Haupt‘ der Religionsgeschichtlichen Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Boussets Religionstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1 Wilhelm Boussets frühe Religionstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1.1 Was ist Religion – empirisch? Allgemeine Beobachtungen. 59 2.1.2 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.1.3 Die Unterscheidung von Religion und Theologie. . . . . . . . . 68 Exkurs: Die Kulturbedeutung der Religion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2.1.4 Boussets Religionstheorie und seine frühe CarlyleRezeption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.1.5 Welche Typen entwickelt Religion in der Religionsgeschichte?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.1.6 Boussets Hinwendung zur neufriesianischen Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2.1.7 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2.2. Glaube und Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2.2.1 Boussets Debattenbeitrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2.2.2 Die Frage nach der Geltung der Religion. . . . . . . . . . . . . . . . 135 2.2.3 Die praktische Bedeutung der Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . 142 2.2.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 2.2.5 ‚Praktische‘ und ‚intellektuelle‘ Gewissheit . . . . . . . . . . . . . . 158 2.2.6 Rationales und Irrationales in der christlichen Religion – die Kontroverse mit Ernst Troeltsch um die Bedeutung des Kultes für die christliche Religion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2.2.7 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

6 Inhalt 3. Die Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums als Darstellungsmedium von Boussets Christentumsverständnis . . . . . . . . 187 3.1 Jesus und die ‚palästinensische‘ Urgemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 3.1.1 Der historische Jesus als Impulsgeber und das Gemeindebewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3.1.2 Verschiebungen im Bild des historischen Jesus. . . . . . . . . . . 191 3.2 Die Paulusdeutung Wilhelm Boussets. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3.2.1 Paulus – größter Jünger Jesu und Stifter der christlichen Religion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3.2.1.1 Die heidenchristliche Traditionslinie als Hintergrund paulinischer Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3.2.1.2 Paulus’ ‚Persönlichkeit‘ und seine Bedeutung für die Fortentwicklung der christlichen Religion. . . . 208 3.2.1.3 Die Christusmystik als Zentrum der paulinischen Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 3.2.1.4 Das paulinische Christentum als neue Sozialgestalt – Paulus als Organisator. . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3.2.2 Paulus, der erste christliche Theologe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3.2.2.1 Die theologischen Hauptlinien des Paulinismus . . 221 3.2.2.2 Die paulinische Anthropologie. . . . . . . . . . . . . . . . . 222 3.2.2.3 Die paulinische Erlösungslehre. . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Exkurs: Boussets historische Herleitung der paulinischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 3.2.3 Jesus und Paulus – die religiöse Bedeutung der paulinischen Theologie für die christliche Frömmigkeit. . . 240 3.2.4 Zwischenbilanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 3.3 Das johanneische Christentum als wirkmächtigste Gestaltung christlicher Religiosität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3.3.1 Das ‚Milieu‘ der johanneischen Frömmigkeit. . . . . . . . . . . . 257 3.3.2 Die Ambivalenzen der johanneischen Gottesmystik . . . . . . 258 3.3.3 Das erlösende Bild Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 3.3.4 Die Funktion des Bildes Jesu für den Glauben . . . . . . . . . . . 263 3.3.5 Die Produktionsbedingungen des johanneischen Christusbildes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3.3.6 Die johanneische Frömmigkeit als exemplarische Ausdrucksgestalt christlicher Frömmigkeit – eine Zwischenbilanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3.4 Der Geist Jesu in der christlichen Religionsgeschichte – Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Inhalt

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4. Die Entfaltung des Wesens der christlichen Religion. . . . . . . . . . . . . . . . 273 4.1 Boussets Überlegungen zur Umformung des Christentums im Medium der Frage nach dem Wesen des Christentums . . . . . . . . . 273 Exkurs: Die Frage nach dem Wesen des Christentums als Medium neuzeitlich-moderner Selbstvergewisserungsstrategien. . . . . . . . . . . . . . 275 4.1.1 Das Evangelium Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 4.1.2 Reformatorische Weiterbildung am Wesen des Christentums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 4.1.3 Neuprotestantische Umformungen angesichts des neuzeitlichen Kulturwandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 4.1.4 Die selbständige säkulare Kultur als Umformungsfaktor. . . 310 4.2 Christliche Frömmigkeit in der umstrittenen Moderne – der Neuprotestantismus und die christliche Zukunftsreligion. . . . 317 4.3 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 5. Schluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Siglenverzeichnis der Schriften von Wilhelm Bousset. . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Vorwort

Die vorliegende Monographie ist aus meiner Dissertation hervorgegangen, die ich im Rahmen des Göttinger Promotionskollegs „Transformationsprozesse des neuzeitlichen Protestantismus“ angefertigt habe und die im Sommersemester 2017 von der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen angenommen wurde. Sie wurde für die Veröffentlichung leicht überarbeitet und gekürzt. Ein längerer Weg geht damit zu Ende. Und ich spüre das Bedürfnis, vielen Menschen, die mich bis hierhin begleitet haben, zu danken. Anfangen möchte ich mit meinen Kollegen im Promotionskolleg. Wir hatten wunderbare gemeinsame Göttinger Jahre, interessante Workshops, Sommerakademien und vieles mehr. Bei allem habe ich viel lernen können und tolle Menschen kennenlernen dürfen. Dafür bin ich dankbar. Mein Dank gilt ferner Christoph Spill vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der das für mich nicht ganz alltägliche Unternehmen einer Buchveröffentlichung mit viel Rat und Tat begleitet hat. Auch den Herausgebern Professor Dr. Volker Leppin und Professor Dr. Volker Henning Drecoll möchte ich für die unkomplizierte und schnelle Aufnahme meiner Untersuchung zu Wilhelm Boussets Christentumsverständnis in die Reihe Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte (FKDG) danken; weiterhin der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, die es mir erlaubte, noch unveröffentlichte Briefe Boussets hier zitieren zu dürfen. Dies hat die Perspektive auf Boussets Schaffen mithin sehr geweitet. Für einen namhaften Druckkostenzuschuss möchte ich der Landeskirche Hannovers sowie der VELKD danken. Fenja, Daniel, Walter, meine Brüder Michael und Daniel und meine Frau Elsa haben dann in manchen Korrekturgängen die Veröffentlichung auf die Zielgerade befördert. Ich danke euch dafür sehr. Mit manch anderem fängt die gemeinsame Geschichte allerdings schon sehr viel früher an. Da ist Professor Dr. Martin Laube, der seit 2011 in Göttingen lehrt. Durch seinen Zugang zu Dogmatik und Theologiegeschichte sowie durch seine unterhaltsamen Lehrveranstaltungen hat er zum einen in mir ein starkes Interesse an den Fragen der Systematischen Theologie zum Ende meines Studiums wachgerufen, zum anderen hat er mein Forschungsinteresse auf die Theologie unter den Bedingungen des Historismus gelenkt. Ich möchte ihm ausdrücklich für die Betreuung, insbesondere für das gemeinsame Anschieben dieses Forschungsprojektes und die Erstellung des Zweitgutachtens, danken. Noch länger reicht die Geschichte mit meinem Doktorvater Professor Dr. Peter Gemeinhardt zurück. Es muss im Wintersemester 2007/08 gewesen sein. Herr Gemeinhardt hat eine Lehrveranstaltung zu Heiligenviten angeboten. Und bei aller Liebe zu den Heiligen und ihren Taten – auch hier waren es Herrn Gemeinhardts Zugang zum Stoff und seine Art, diesen uns näherzubringen, die mir die fabelhafte Welt der Kirchengeschichte öffneten. Und auch das Leben, das sich um den Lehr-

10 Vorwort betrieb seines Göttinger Lehrstuhls für Kirchengeschichte bildete, hatte seine Verlockungen. Ich jedenfalls bin froh und glücklich, dass Herr Gemeinhardt sich gerne darauf einließ, mit Wilhelm Bousset thematisch weit in die frühe Moderne auszugreifen. Mit seiner intensiven Betreuung gerade zum Ende der Arbeit hat er wesentlich dazu beigetragen, dass diese fertig werden konnte und ich mich nach dem Einreichen der Dissertation mit ganzer Kraft den schönen Aufgaben des Vikariates widmen konnte. Der zeitliche Aufwand und die Weitsicht, die seine Betreuung kennzeichneten, waren wirklich ausgesprochen väterlich, so dass ich meiner Tochter gut erklären konnte, was ‚Doktorvater‘ bedeutet. Länger als Herrn Gemeinhardt kenne ich von denen, die an diesem Unternehmen beteiligt waren, eigentlich nur meine Frau Elsa. Was mir diese Jahre in Göttingen bedeuten, ist schwer zu beschreiben. Ich glaube, wir haben uns gut gegenseitig durch diese Zeit von Promotion und Vikariat hindurchgetragen. Und haben so den Zauber der ersten Lebensjahre unserer Tochter Julie in seiner ganzen Fülle erleben dürfen. Was für eine schöne Zeit! Dafür bin ich sehr dankbar. Und Julie ist jetzt sicherlich auch froh, dass „der Schinken“ ein richtiges Buch wurde, das in ein Regal passt und über das man nicht mehr im Flur stolpert. Ich bin froh, dass das geschehen ist, bis unsere Lotta mit dem Krabbeln anfängt. Ich widme das Buch meinen Eltern Elisabeth und Gerhard Höffker, die – trotz manchen Umwegs – immer darauf vertraut haben, dass ich meinen Weg finden werde. Und so ist es auch. Iber, den 6. Oktober 2019 Jan Höffker

Meinen Eltern

1. Einleitung

In der jüngsten systematisch-theologischen Diskussion zur Christologie wird vermehrt wieder das Problem ‚Glaube und Geschichte‘ in den Vordergrund des theologischen Interesses gerückt. Insbesondere Christian Danz hat sich darum bemüht, die von ihm auch in der neueren Debatte um die dogmatische Christologie beobachtete „eigentümliche Spaltung“1 zwischen einem historischen und einem dogmatischen Zugriff auf die Person Jesu von Nazareth einer neuen theologischen Bearbeitung zuzuführen, indem er ein „unreduzierbares Wechselverhältnis“2 der beiden Zugriffsweisen postuliert – mit der Pointe freilich, dass „unter den erkenntniskritischen Bedingungen der Moderne […] Glaube und Geschichte [sich] nicht mehr zusammenführen lassen.“3 Der historische Jesus wird bei Danz so nur mehr die bildhafte Repräsentation der „geschichtliche[n] Bestimmtheit des religiösen Vollzugs als ein personales Geschehen in der Geschichte.“4 Danz stellt sich mit seinem Versuch einer Reformulierung der dogmatischen Christologie bewusst in die breite Tradition der protestantischen Theologie am Anfang des 20. Jahrhunderts. Denn schon damals war der Problemkomplex ‚Glaube und Geschichte‘ ein Kernproblem der evangelischen Theologie, das von den jeweiligen theologischen Schulrichtungen je unterschiedlich gelöst wurde. Vor dem Hintergrund der von Danz erkannten Spannung zwischen Exegese und Dogmatik gerät sogleich die sogenannte Religionsgeschichtliche Schule in den Blick, deren Anliegen – pointiert ausgedrückt – darin bestand, ihre historisch-kritische Forschung gegenüber einer dogmatisch gebundenen Deutung der Geschichte ins Recht zu setzen. Danz’ Sympathie gilt dabei insbesondere Ernst Troeltsch, der gemäß Danz’ theologiegeschichtlicher Konstruktion die Trennung einer historischen und einer religiösen Deutung der Geschichte – ohne freilich beide unvermittelt auseinanderfallen zu lassen – favorisiert.5

1 Danz, Grundprobleme, 5. 2 Danz, Grundprobleme, 9. 3 Danz, Christologie, 190. 4 Danz, Christologie, 190. 5 In Troeltschs Insistieren auf jener Trennung der Deutungsperspektiven liegt nach Danz der „Anknüpfungspunkt“ für die christologischen Debatten im 20. Jahrhundert. Troeltschs geschichtsphilosophische „Deutung der Religionsgeschichte in der Christologie“ (Danz, Christologie, 184f) ist nach Danz explizit nicht rezipiert worden und scheint auch für Danz’ Reformulierung der Christologie ein bleibendes Rezeptionshindernis darzustellen. Vgl. auch die Kritik Michael Murrmann-Kahls, die in eine ähnliche Richtung weist (ders., Kultfrömmigkeit, 122 Anm. 57).

14 Einleitung Die Frage nach dem Verhältnis von ‚Glaube und Geschichte‘ ist jedoch nicht exklusiv durch den „Systematiker“6 der Religionsgeschichtlichen Schule, Ernst Troeltsch, bearbeitet worden. Vielmehr stand diese Fragestellung angesichts der ‚radikalhistorischen‘ Forschungen der Religionsgeschichtlichen Schule mit ihren überlieferungskritischen Folgekosten den meisten Anhängern der Religionsgeschichtlichen Schule vor Augen.7 Innerhalb dieser von einem gemeinsamen Interesse geleiteten „Gruppe“8 um Ernst Troeltsch, Wilhelm Bousset, William Wrede, Hermann Gunkel und Heinrich Hackmann nimmt die vorliegende Untersuchung den Göttinger Extraordinarius und späteren Gießener Professor für das Neue Testament, Wilhelm Bousset, genauer in den Blick. Denn Boussets Leben und Werk erweist sich bei näherem Hinsehen als exemplarischer Fall einer theologischen Existenz, die genau die Spannung zwischen historischer Forschung und religiösem Leben bearbeiten und zu einem Ausgleich bringen will. Ist Bousset auf der einen Seite ein Exeget, dem es um eine rückhaltlose Methodenstrenge zu tun ist, so vereint er ebenso in seiner Person das Anliegen eines Transfers der Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung in die Vollzüge des gegenwärtigen religiösen Lebens, aber auch die Einhegung ihrer relativistischen Konsequenzen. Ist Troeltsch der „Krisentheologe par exellence“9, so kann man mit einigem Recht von Bousset behaupten, dass er wie nur wenige andere ausgehend von Troeltschs Gegenwartsdiagnosen darum bemüht ist, durch die Popularisierung seiner Forschungen unmittelbar auf die religiöse Lage der Gegenwart Einfluss zu nehmen. Gerade durch seine Jesusbücher, aber auch durch persönliche religiöse Rechenschaft wie Unser Gottesglaube, versucht Bousset Orientierung für die gebildeten Frommen in der krisenhaft wahrgenommenen Gegenwart zu stiften. Die Krise hat gewissermaßen die historische Erforschung des Urchristentums selbst mit hervorgebracht. Sie muss insofern als Symptom und Katalysator der modernen Geltungskrise des Religiösen angesehen werden. Denn den bedeutendsten Teil der zeitgenössischen Theologie sieht Bousset durchaus mit großem Unbehagen in zwei Schulrichtungen auseinanderfallen – auf der einen Seite eine Modern-positive Theologie mit einer gemäßigteren liberalen Vermittlungstheologie, wie sie beispielsweise die Ritschlsche Schule repräsentiert, auf der anderen Seite die ‚positivistische‘ historische Theologie –, wie unten noch genauer dargestellt werden soll. Zielen die Modern-positive Theologie, aber auch die liberale Vermittlungstheolo6 Troeltsch, Dogmatik, 500; zu dieser „Fremdbezeichnung“ und zum Problem, die Religionsgeschichtliche Schule vermittels „der Differenz von ‚historisch‘ und ‚systematisch‘“ zu deuten, vgl. kritisch Graf, Systematiker, 237f mit Anm. 9. 7 Vgl. die pointierte Gegenüberstellung divergierender Bewältigungsstrategien des Problems ‚Glaube und Geschichte‘ bei Lüdemann, Wissenschaftsverständnis, 81–83. 8 Soziologisch ist es wohl angemessener, anstelle von einer Schule von einer Gruppe zu reden (vgl. Graf, Systematiker, 289); auch Bousset sprach am liebsten von einer Gruppe sich theologisch nahe stehender Freunde (vgl. Reitzenstein, Bousset, 4; MuR 4). 9 Graf, Religion, 227; Hervorhebung im Original.

Einleitung

15

gie der Ritschlschen Schule mehr oder weniger unter Ausblendung des neuzeitlichmodernen Wandels der Lebenswelten noch überwiegend auf die Repristination des ‚alten Glaubens‘ der Reformatoren, so sieht Bousset die liberale Richtung, in der er sich selbst verortet, in einer bloß historisch interessierten Theologie aufgehen. Hier­aus ergibt sich für ihn der „Mangel an gestaltender Kraft“10 der liberalen Theologie, denn nach Bousset führt von der historischen Methode der Kulturwissenschaften kein Weg zur Frage nach dem, was gelten soll. Die Distanz, die die Theologie aufgrund dieser historistischen Selbstbeschränkung gegenüber dem orientierungslos gewordenen religiösen Leben seiner Zeit so einnimmt, wird deutlich, wenn Bousset nicht ohne Pathos gegen den ‚Historismus und Psychologismus‘ in der liberalen Richtung der Theologie einwendet, dass „die breite Masse der Laien“ „[...] nicht wissen [will], was gewesen ist und wie alles geworden ist, sie wollen wissen, was sein soll und was zu gelten hat, sie wollen grosse schlichte Wahrheiten, mit denen man leben und sterben kann auch im Gewühl des zwanzigsten Jahrhunderts.“11 In der Bereitstellung jener schlichten Wahrheiten durch eine ausgearbeitete Religionsphilosophie sieht Bousset die Aufgabe der Theologie und er hat sich zeitlebens darum bemüht. Bousset wird so in kirchen- und theologiegeschichtlicher Perspektive zu einem höchst interessanten Zeitgenossen am Anfang des 20. Jahrhunderts, der in seiner Person gewissermaßen die enzyklopädische Zerrissenheit der evangelischen Theologie seiner Zeit verkörperte – war auf der einen Seite die historische Theologie darin bestrebt, sich allein um das Verstehen und Begreifen beispielsweise der Entstehung des Urchristentums zu bemühen, so beabsichtigte die Systematische Theologie die relativistischen Konsequenzen historischen Denkens wieder einzuhegen. Dass Bousset neben seiner Funktion als Theologieprofessor immer auch das religiöse Leben der Gegenwart, zu dem er sich, wenngleich nicht ohne Reserve, als frommer Christ auch selbst zählte12, im Blick behielt – Leben und Lehre also immer miteinander vermittelte13 –, wirft ferner ein weiteres Schlaglicht auf die Eliten des wilhelminischen Kaiserreiches und deren Selbstverständnis. Als Freund, Gesprächspartner und theologischer Weggefährte Ernst Troeltschs ist Bousset sodann auch für die Systematische Theologie hinsichtlich ihrer eigenen Fachgeschichte von Interesse. Denn neben Boussets früher Religionstheorie ist insbesondere sein Werben für die neufriesianische Religionsphilosophie ein einschlägiges Beispiel für die 10 RL 21. 11 RL 24. 12 Vgl. nur das Geleitwort Wilhelm Heitmüllers zum von Boussets Frau Marie Bousset herausgegebenen Predigtband Wir heißen euch hoffen: „Schlicht, einfach unkompliziert, im besten Sinne naiv wie sein ganzes Wesen“ war Boussets Frömmigkeit und unterschied sich damit bewusst vom „überreizte[n]“ religiösen Leben der Gegenwart mit seinem „genießerische[n] und quietistische[n] Wesen“ (ebd. VIIIf). 13 Vgl. schon Troeltschs Nachruf auf Bousset in der Christlichen Welt, in dem Troeltsch Boussets ständige Vermittlung von „Wissenschaft und Leben“ (ders., Fakultät, 283) hervorhebt, die als Grundzug der theologischen Existenz bei Bousset eine besondere Ausprägung erfahren habe.

16 Einleitung mannigfaltigen Versuche einer religionsphilosophischen Geltungssicherung der Religion, die nach Bousset in den Aufgabenbereich der Systematischen Theologie fällt – und sich in Boussets Ausprägung charakteristisch von Troeltschs Theologie unterscheidet. Steht nun das breite theologische Schaffen Ernst Troeltschs schon länger im Fokus der Theologiegeschichtsschreibung wie auch der Systematischen Theologie, so ist Boussets Leben und Werk bisher eher als eine Nebenlinie der theologiegeschichtlichen Forschungen im Umfeld der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Religionsgeschichtlichen Schule wahrgenommen worden. Zwar ist die Literatur zu Bousset in den letzten Jahren nicht unerheblich gewachsen, doch eine umfassendere Untersuchung des theologischen Programms mit der enzyklopädischen Verbindung von Historismus und Rationalismus liegt bislang noch nicht vor. Auch die Frage nach Boussets Christentumsverständnis und dessen Funktion für die Deutung und Bewältigung der Krise des religiösen Lebens der Gegenwart ist noch nicht ausführlich bearbeitet worden. Die wenigen Monographien, die Bousset zum Gegenstand ihrer Untersuchung haben, betrachten ihn zumeist als einen Vergleichspunkt, um bestimmte Konstellationen innerhalb der Religionsgeschichtlichen Schule zu beschreiben. Insbesondere die Arbeit von Karsten Lehmkühler ist in dieser Hinsicht immer noch instruktiv, setzt sie doch an einer entscheidenden Schnittstelle in Boussets Theologie ein, nämlich dem Verhältnis von Exegese und Dogmatik, also der Frage nach den impliziten dogmatischen Prämissen in Boussets Historiographie. Lehmkühler zeigt sehr deutlich, wie das gegenwärtige Geltungsinteresse der Religionsgeschichtler und damit auch Boussets die historiographische Heuristik durch dogmatische Grundentscheidungen präformierte.14 Durch diese Fokussierung auf die eine Fragestellung bleiben freilich manche wichtigen Aspekte des Bousset’schen Denkens, wie beispielsweise die materiale Darstellung von Boussets Christentumsverständnis vor dem Hintergrund des religiösen Lebens der Gegenwart, notwendig unterbelichtet. Dasselbe ist allerdings auch gegenüber der älteren, aber dadurch nicht weniger hellsichtigen Untersuchung von Heinrich Kahlert einzuwenden. Auch hier lässt sich vieles hinsichtlich der Motive hinter Boussets Rezeption der Sozialphilosophie Thomas Carlyles lernen, und insbesondere Kahlerts Darstellung von Boussets Entwurf eines modernen Christentums15 legt in mancher Hinsicht das Fundament für das, was die vorliegende Untersuchung sich zum Ziel gesetzt hat, eben die Konturierung von Boussets Verständnis eines modernen Christentums. Letztlich bleibt Kahlerts Darstellung aber – entsprechend ihres Selbstverständnisses – nur eine dar14 Vgl. Lehmkühler, Kultus. Ist dies die einzige Monographie, die sich ausführlicher mit Boussets Theologie auseinandersetzt, so muss freilich an dieser Stelle auch die Bousset-Biographie von Anthoine Frans Verheule (Verheule, Bousset) genannt werden, die ganz hervorragend über Boussets Leben in seinen mannigfaltigen Bezügen informiert; freilich muss es ihr schon allein ihres Genres wegen an theologischer Tiefenschärfe mangeln. 15 Kahlert, Held, 177–202.

Einleitung

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stellende Skizze, die gerade nicht eine Rekonstruktion des theologischen Denkens Boussets im Sinne der Aufdeckung der geistesgeschichtlichen Grundlagen desselben ist. Die letzte Monographie, in der Bousset eine exponiertere Rolle spielt, ist die Dissertation von Thomas Auwärter aus dem Jahr 2006.16 Diese in jeder Hinsicht sehr lehrreiche Untersuchung vergleicht die pneumatologischen Konzepte der Religionsgeschichtlichen Schule untereinander und legt sodann Strukturen des Geistverständnisses um 1900 frei; freilich muss auch sie Boussets breit gestecktes theologisches Programm einer Umformung des Alt- in einen Neuprotestantismus unbeachtet lassen. Neben Monographien, die sich u. a. mit Boussets Theologie befassen, ist insbesondere binnen der letzten zehn Jahre – gleichsam als Nebenlinie des wieder größer gewordenen Interesses an der Religionsgeschichtlichen Schule – eine erfreuliche Mehrung von Aufsätzen eingetreten, die sich ausdrücklich mit Boussets Denken befassen. Dieses erneute Interesse zeigt sich zuerst mit Brent A. R. Heges Aufsatz Christ as a poetic symbol von 2009. In groben Linien rekonstruiert Hege im Prinzip treffend die Entwicklung der Theologie Boussets von seiner frühen Phase mit ihrer geltungstheoretischen Hochschätzung des religionsgeschichtlichen Vergleichs bis hin zur späten Phase, die die Geltungsfrage nur mehr über den Rekurs auf die neufriesianische Religionsphilosophie einer tragfähigen Lösung zuzuführen versprach. Heges Einteilung des Geschichtsverständnisses Boussets in „two periods“17 wird man freilich nicht uneingeschränkt zustimmen können, da durchaus gefragt werden kann, ob der „profound shift in Bousset’s thinking“18, den Hege zu erken­nen glaubt, tatsächlich – insbesondere hinsichtlich Boussets Bild vom historischen Jesus – eine so tiefgreifende Zäsur in Boussets Denken als Ganzem darstellt, wie Hege suggeriert. Ein weiterer instruktiver Aufsatz von Gudrun Beyer untersucht das noch unveröffentlichte Jesus-Kolleg, das Bousset 1919 in Gießen gehalten hat. Ausgehend von Boussets Hinwendung zum Neufriesianismus zeichnet sie mit großer Präzision und archivalischer Genauigkeit das Jesusbild dieses Kollegs nach; leider setzt sie dieses Bild nur gelegentlich mit Boussets früheren Darstellungen in seinen Jesusbüchern in Beziehung. Im Dienst einer Konstellationsanalyse der Mitglieder der Religionsgeschichtlichen Schule hat Martin Laube sodann im Rahmen des Rudolf-Otto-Kongresses das für die Religionsgeschichtliche Schule charakteristische Verhältnis von Religion und Theologie bei Otto und Bousset verglichen und 16 Auwärter, Spiritualität. 17 Hege, Christ, 197. 18 Hege, Christ, 198. Sodann wirft der Aufsatz von Hege auch ein Licht auf die anglo-amerikanische Rezeption Boussets, die sich auf die Deutung Boussets als eines „classic liberal whose interests in the historical Jesus of Nazareth are best understood as a misguided attempt to provide a firm and secure foundation for faith by means of historical-critical research“, zu reduzieren scheint (ebd. 197). Hege will freilich dieses Zerrbild zurecht zugunsten seiner Darstellung Boussets als eines für die vielschichtigen Probleme, die sich um den Problemkomplex ‚Glaube und Geschichte‘ ranken, sensiblen Theologen korrigieren.

18 Einleitung diese Verhältnisbestimmung in Hinblick auf die deutlich voneinander abweichenden religionstheoretischen Pointen hin aufzuschließen versucht. Ein Jahr später (2015) erschien schließlich ein Aufsatzband in der Zeitschrift Early Christianity, dessen Inhalt auf Vorträge anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Erscheinens der Erstausgabe von Boussets Kyrios Christos zurückgeht und noch einmal Boussets Rekonstruktion der Urchristentumsgeschichte in kritischer Würdigung auf den Prüfstand stellt. Dass Bousset in den jeweiligen Fachkulturen der Systematischen Theologie und der Kirchengeschichte zusammen mit dem Neuen Testament mit unterschiedlichen Akzentsetzungen wahrgenommen wird, ist freilich nicht überraschend. Es ist jedoch das ausdrückliche Anliegen dieser Untersuchung, Boussets Denken gerade nicht in nur einer für sich isolierten Perspektive zu deuten, vielmehr sollen – ähnlich dem Ansatz Karsten Lehmkühlers – multiperspektivisch die Verbindungslinien zwischen seiner Religionstheorie, seiner historischen Rekonstruktion des Urchristentums und seinem Willen zur Umformung des Alt- in einen Neuprotestantismus aufgezeigt und für die Deutung von Boussets Verständnis eines modernen Christentums aufgeschlossen werden. Einen Versuch in diese Richtung machte schon Klaus Berger in einem hinsichtlich der Quellen der Bousset’schen Theologie, die Berger zumeist als Referenzen in den Fußnoten aufführt, wegweisenden Aufsatz.19 Lag das Anliegen Bergers jedoch primär auf dem Aufweis des Abhängigkeitsverhältnisses der Exegese von der Dogmatik, so blieb die Frage nach Boussets Verständnis eines modernen Christentums unbeantwortet: Dieses ist nur über die Rekonstruktion seiner historischen Schriften bzw. seiner ‚geschichtsphilosophischen‘ Wesensschrift nachvollziehbar, ist doch für Bousset die Frage nach dem Christentum eine historische und eben nicht eine religionsphilosophische Fragestellung. Gegenüber diesen allesamt hilfreichen und weiterführenden Versuchen einer Deutung der Theologie Boussets, die allerdings zumeist aufgrund ihres Anliegens eher einzelne Aspekte der Theologie Boussets hervorheben, will die vorliegende Untersuchung nun den Fokus stärker auf das theologische Programm von Boussets ‚religiösem Liberalismus‘ lenken, das bestimmte Grundanliegen sowohl des Historismus als auch des Rationalismus in sich vereint. Im Rücken dieser Fragestellung soll so ferner Boussets Verständnis eines modernen Christentums im Rahmen einer systematisierenden Zusammenschau konturiert werden, das sich vor dem Hintergrund des tiefgreifenden gesamtkulturellen Wandels in Neuzeit und Moderne gegenüber einem Altprotestantismus ebenfalls in grundstürzender Weise gewandelt hat. Welche Rolle spielt die Überlieferung für das Christentum angesichts der veränderten Stellung der Moderne zur Geschichte? Welche Organisationsform muss es sich geben, damit es das religiöse Ferment des Zusammenhalts der Gesellschaft bilden kann, um so gleichzeitig die antagonistischen Prinzipien einer strittig

19 Berger, Exegese.

Einleitung

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gewordenen Moderne wieder einzuhegen. All dies sind Fragen, die Bousset als Diagnostiker der modernen religiösen Krisis umtrieben. Dabei soll zunächst Boussets Religionstheorie, die sich vor allem auf dessen religionspsychologische Beobachtungen bezieht, in einer systematischen Zusammenschau rekonstruiert werden. Gegen eine überzogene ‚Wende‘-Metaphorik hinsichtlich Boussets Theologie soll hier gezeigt werden, wie erstaunlich stabil sich Boussets ‚empirische‘ Religionstheorie noch bis in seine Vorlesung Religion und Theologie aus dem Jahr 1919 darstellt. Hierin liegt gleichsam das verbindende Element mit Troeltschs frühem Programm des Aufweises der Selbständigkeit der Religion gegenüber allen naturalistischen Reduktionismen (Kapitel 2.1). Entwicklungen und Verschiebungen insbesondere seit Boussets Agitation für die neufriesianische Religionsphilosophie sollen freilich nicht abgeblendet werden, sodass in Kapitel 2.2 Boussets neufriesianische Auflösung des Problems ‚Glaube und Geschichte‘ ausführlich hinsichtlich seines Anliegens und seines vermeintlichen theologischen Mehrwertes rekonstruiert werden soll. Da Boussets Christentumsverständnis angemessen jedoch nur – da es sich eben, wie noch zu zeigen sein wird, um eine letztlich historische Fragestellung handelt – über seine Deutung der christlichen Religionsgeschichte auf Grundlage seiner historischen Studien erfasst werden kann, werden in Kapitel 3 Boussets Studien zur Entstehung des Urchristentums genauer in den Blick genommen. In Kapitel 4 wird sodann der Wandel vom Alt- zum Neuprotestantismus vor dem Hintergrund des von Bousset wahrgenommenen Wechsels der Kulturtypen von der Autoritätskultur des Mittelalters zur selbständigen modernen Kultur thematisch, der noch einmal plastisch Boussets Verständnis eines modernen Christentums vor Augen führt. Für diese Untersuchungen muss im Rahmen dieser Einleitung zunächst das Fundament gelegt werden. Es sollen daher Boussets oben angedeutete parteipolitische, kirchen- und theologiepolitische wie auch volksbildnerische Anliegen kurz dargestellt werden, die Bousset nachdrücklich als einen Theologen konturieren, dessen gesamtes Schaffen in letzter Konsequenz ein praktisches Interesse für das religiöse Leben der Gegenwart mit sich führt. Vor dem Hintergrund der Darstellung seiner theologiepolitischen Selbstverortung innerhalb der vielschichtigen Schulrichtungen innerhalb der zeitgenössischen Theologie muss sodann eine Verortung Boussets innerhalb der Religionsgeschichtlichen Schule erfolgen, die für ihn in vielerlei Hinsicht prägend war; umgekehrt hat allerdings auch Bousset jener ‚Schule‘ bedeutende Impulse verliehen. Daher soll in einem mitlaufenden Vergleich Boussets Denken an dessen bedeutendsten Schnittstellen im Gegenüber zu seinen theologischen Weggefährten kontrastiert werden, sodass hier auch ein Beitrag zur noch ausstehenden umfassenden Konstellationsforschung innerhalb der Religionsgeschichtlichen Schule geleistet werden kann.20

20 Vgl. Sparn, Erbe, im Erscheinen.

20 Einleitung

1.1 Gegenwartsdiagnose und politische Anliegen Bousset war – trotz seiner Mitgliedschaft in der Landessynode – seiner Kirche, insbesondere dem konservativen Flügel, zutiefst suspekt.21 Dies hing zuerst an seinem Einsatz für die Lehrfreiheit evangelischer Pastoren – dazu s. u. –, aber auch an seiner politischen Orientierung. Als Mitglied der Partei Nationalsozialer Verein zielte Bousset innenpolitisch auf die Überwindung der Segmentierung und Fraktionierung der wilhelminischen Gesellschaft, indem er die zu einem großen Teil religionskritische bzw. antiklerikale Arbeiterschaft für sein christlich grundiertes Gesellschaftsideal wiedergewinnen will.22 Analog der Gesellschaftskritik Thomas Carlyles, die dieser am England des frühen 19. Jahrhunderts ausbildete, sieht Bousset nämlich einen tiefen Riss durch die Gesellschaft des Kaiserreiches sich hindurchziehen. Zwanglos überträgt Bousset die Frontstellungen des Englands der Frühindustrialisierung auf die Verhältnisse im Kaiserreich23, in dem nun immer mehr die Nebenfolgen der dort verzögert einsetzenden Industrialisierung wie die Ausbildung eines ungebildeten Proletariats bzw. dessen Pauperisierung24 Gegenstand von Theologie, 21 Vgl. Verheule, Bousset, 37–43, der ebd. 38 die verschiedenen theologischen Richtungen innerhalb der Landeskirche Hannovers auflistet, wobei sich die Landeskirche durch den ‚Fall Weingarten‘ wieder stärker auf ihre Orthodoxie besann. 22 Zum Nationalsozialen Verein und seinen unterschiedlichen Flügeln vgl. Hübinger, Kulturprotestantismus, 149–152; Berger, Religionsgeschichte, 282–284; Düding, Verein, besonders 200– 202, wo die „‚Grundlinien‘ des Nationalsozialen Vereins“ in ihrer nationalistischen, sozialistischen und liberalen Ausrichtung dokumentiert sind. Dass das Bemühen um die deutsche Arbeiterschaft für Bousset gewissermaßen zu einem politischen Lebensthema wurde, bezeugt sein später Aufsatz Die Stellung der evangelischen Kirche im öffentlichen Leben bei Ausbruch der Revolution aus dem Jahr 1919 (vgl. ebd. 60: „Das eigentlich Tragische an der ganzen Entwicklung [sc. des 19. Jahrhunderts]“ sei, „[...] daß die breiten Arbeitermassen des deutschen Volkes dem Einfluß der evangelischen Kirche und der Berührung mit ihr verloren gingen“, denn so blieben sie ein Fremdkörper in der Gesellschaft. Entsprechend moniert Bousset, dass Bismarcks und Wilhelms II. politisches Versagen gerade darin bestand, dass sie es nicht vermochten, die Arbeiterschaft „innerlich mit sich [sc. dem ‚Volksganzen‘] zu verschmelzen und verwachsen zu lassen“ [ebd. 61]). Alle Zitate Boussets und seiner Zeitgenossen werden nachfolgend nach dem Original zitiert. Auf eine Angleichung an die gegenwärtig geltende Orthographie wird bewusst verzichtet; griechische Zitate Boussets werden ins lateinische Alphabet übertragen. 23 Vgl. Bousset, Carlyle, 324: Carlyles Gesellschaftskritik sei „für uns vielleicht der interessanteste und wichtigste [sc. Teil der Anschauungen Carlyles]. […] So kommt es, daß gerade die Carlyleschen sozialen Schriften uns oft Satz für Satz, Wort für Wort anmuten, als seien sie gerade heute und für uns geschrieben.“ Allerdings will Bousset keine bloße Repristination der Sozialphilosophie Carlyles, vielmehr gelte es auch hier „nicht nachzureden, sondern selbständig weiterzubilden“ (ebd. 327). 24 Eine Kurzcharakteristik der Lebensumstände der Arbeiterschaft bietet Bousset in seinem Vortrag Erneuerung des deutschen Volkes (Erneuerung, 87f.94), der im Jahr 1915 u. a. auch Boussets anfängliche Kriegsbegeisterung dokumentiert (vgl. nur ebd. 95, wo Bousset von der „heilige[n] Not des großen Krieges“ spricht, die er „wie eine neue Offenbarung erlebt [hat]“ [Bousset, Gottesglaube, 24]). Diese Perspektive ändert sich offenbar im Verlauf des Krieges, sodass Bousset 1919 vom „Graus des Krieges“ und vom fehlgeleiteten Nationalismus in Form einer „Religion des Va-



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Philosophie und den sich entwickelnden Gesellschaftswissenschaften wurden. Mit Carlyle sah auch Bousset in der wilhelminischen Gesellschaft das Ideal der Freiheit der Persönlichkeit dem kapitalistischen Streben nach Prosperität geopfert. Der Mensch wird, so seine Systemkritik, nicht mehr als ein gottgewolltes Individuum wahrgenommen, sondern als Bestandteil der arbeitenden Masse; die „heiligen“25 interpersonalen Beziehungen sind laut Bousset auch gegenwärtig nur noch utilitaristisch „auf Nutzen und Erfolg“26 gegründet, sodass die Wahrung der Würde der Persönlichkeit bedroht werde. Analog zum England der Frühindustrialisierung hängt auch das wilhelminische Deutschland einem schlechten Eudämonismus an, dessen Mittel Bousset in der kapitalistischen „Manchesterpolitik“27 erblickt. Sowohl die Auflösung der Arbeiterschaft in eine konturlose Masse als auch der atomistische Individualismus der Gebildeten stehen Boussets romantischem Gesellschaftsideal eines „innerlich zusammenhängenden Organismus“28, das er mit Carlyle teilte, entgegen. Es war also letztlich die „soziale Frage“29, die Bousset in die Politik trieb, sie war ihm das eigentlich „größte und mächtigste Problem des modernen Lebens.“30 Der Sozialphilosoph Thomas Carlyle gab aber nach Bousset neben der Problembeschreibung auch die „im Zeitalter der Demokratie und des allgemeinen Wahlrechts […] paradoxe Antwort“31 auf die soziale Frage, nämlich dass die Arbeiterschaft wieder „wahre Führer“32 bräuchte. Vom gebildeten Bürgertum liberaler Prägung erwartet Bousset indes diesbezüglich nicht allzu viel – mit seiner Weltanschauung des „Laisser faire, laisser aller“33 sind jenem die normativen Grundlagen abhanden gekommen, um den Massen glaubhaft Wertvorstellungen zu vermitteln, die den Menschen wieder seine ursprüngliche Zweckbestimmung erkennen lassen. Wie noch zu zeigen sein wird, will Boussets Programm eines religiösen Liberalismus terlandes“ reden kann (vgl. ders., Einleitung in eine Vorlesung, 430f.451); er spricht sich nun für den Völkerbund aus (ebd. 431). Auch seine vormals offenkundig nationalistische Rhetorik (vgl. nur ders., Erneuerung, 100–102) scheint in eine internationalere Perspektive gerückt zu sein, ohne seinen Nationalismus dadurch aufzugeben. Für jedes Volk gelte „[...] daß es sein muß mit den anderen, jedes an seinem Platz mit seinen Gaben und Werten dem Ganzen verantwortlich“ (ders., Einleitung in eine Vorlesung, 431; in dieselbe Richtung deutet Bousset allerdings schon 1915 vgl. ders., Gottesglaube, 25). Nach dem Krieg engagiert sich Bousset mit Troeltsch in der neugegründeten Deutschen Demokratischen Partei. Zu Boussets Deutung des Krieges, der ihm theologisch letztlich ein Rätsel bleibt, vgl. Verheule, Bousset, 43f. 25 Bousset, Carlyle, 325. 26 Bousset, Carlyle, 326. 27 Vgl. Bousset, Stellung, 57. Die Gegenbegriffe zu Glück und Prosperität sind für Bousset freilich Pflicht und Arbeit (vgl. Bousset, Carlyle, 298), durch sie „erhält die einzelne Person einen unmeßbaren Wert“ (ebd.). 28 Bousset, Carlyle, 298. 29 Bousset, Carlyle, 324; zu Boussets politischer Biographie vgl. Verheule, Bousset, 26–29. 30 Bousset, Carlyle, 324. 31 Bousset, Carlyle, 326. 32 Bousset, Carlyle, 326. 33 Bousset, Carlyle, 326; vgl. hierzu auch Berger, Exegese, 109–111.115.

22 Einleitung genau diesen Libertinismus durch eine christlich-religiöse Persönlichkeitsmetaphysik ablösen, sodass sich die Gebildeten wieder ihrer Pflicht gegenüber den ungebildeten Massen erinnern. Neben ganz konkreten sozial-, aber auch kirchenpolitischen Anliegen34 zielt Boussets Programm vor allem auf eine Änderung der „Gesinnung“35, vor allem der Gebildeten. In Friedrich Naumann indes sah Bousset einen solchen charismatischen Anführer, der sowohl der Verelendung der Arbeiterschaft entgegenzuwirken vermochte und ihnen sodann eine Perspektive, die über einen verheißenen Wohlstand hinausging, geben konnte, als auch die Gebildeten für die soziale Frage aufzuschließen versprach.36 Nach der Auflösung von Naumanns Nationalsozialem Verein 1903 war Bousset weiter im linksliberalen Spektrum politisch aktiv. Zusammen mit seinen späteren philosophischen Weggefährten Rudolf Otto und Leonhard Nelson engagierte er sich seit 1907 im Göttinger Verein der entschieden Liberalen und trat auf Veranstaltungen des linksliberalen Akademischen Freibundes auf.37 Signifikant für dessen politisches Bemühen war die Hinwendung zur Sozialdemokratie, die auch Bousset ein elementares, politisches Anliegen wurde, denn nur über die Sozialdemokratie erschien ihm die abgehängte deutsche Arbeiterschaft erreichbar.38 Diese 34 Insbesondere die „Frauenfrage“ und damit verbunden das Frauenwahlrecht lagen Bousset am Herzen (ders., Erneuerung, 91f; vgl. auch Merk, Bousset, 170): Die deutsche Frau soll nach Bousset stärker in „väterländliche[] öffentliche[] Aufgaben“ eingebunden werden; ihr Blick soll sich weiter vom Privaten auf „das Allgemeine und die großen Fragen [sc. der Politik]“ (ebd. 95) richten. Die Frauenfrage sieht Bousset in einer Linie mit dem „Schwinden alter Vorurteile“ (ebd. 92) auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, das Bousset als eine ihn optimistisch stimmende Nebenfolge des Krieges deutet. 35 Bousset, Carlyle, 326. 36 Vgl. Reitzenstein, Bousset, 2; Naumann habe „beherrschenden Einfluß geübt und bis zum Ende bewahrt […]; der große Idealist und Künstler, an dem Bousset mit einer Art Carlylescher Heldenverehrung gehangen hat“ (Berger, Exegese, 111). 37 Vgl. hierzu Dahms, Liberalismus, 225–242. Neben der politischen Zusammenarbeit scheint Bousset allerdings erst 1908/09 zu Nelsons neufriesianischer Schule hinzugestoßen zu sein, vgl. ebd. 230f; dazu s. u. Kap. 2.1.6. 38 Vgl. nur Bousset, Erneuerung, 89f; vgl. auch Dahms, Liberalismus, 235f. Freilich war die religionspolitische Agenda der Sozialdemokratie in ihrem Agnostizismus bzw. ihren monistischen Weltanschauungen und der Ausweisung der Religion aus dem öffentlichen Bereich in die Privatheit für Bousset letztlich inakzeptabel (vgl. Bousset, Stellung, 61f). Noch weniger attraktiv schien ihm allerdings die Deutsche Zentrumspartei, da sie als – in seinen Augen – reaktionärer Repräsentant des politischen Katholizismus das Verhältnis von Religion und Politik wiederum zu eng fasste, vgl. Verheule, Bousset, 28f. Bei der Sozialdemokratie erblickt Bousset hingegen verheißungsvolle Entwicklungen einer „heilsame[n] Wendung der Sozialdemokratie“ (ebd. 69), die sich vom Materialismus ab- und Kulturwerten des Staatsgedankens zuwendet und sich damit für Religion und Kirche prinzipiell öffnet (vgl. ebd.). So hofft Bousset, dass die deutsche Arbeiterschaft einen „Sinn für Ewigkeitswerte“ (ebd. 68) gewinnt. „Ganz hoffnungslos sind die Zeichen der Zeit nicht“ (ebd. 69), wie er 1919 konstatiert. Bousset teilt diese Hoffnung mit Leonhard Nelson, der schon 1909 in dem revisionistischen Flügel der Sozialdemokratie einen Anknüpfungspunkt für gemeinsame politische Bündnisse erblickte (vgl. den Brief an Bousset vom 17. September 1909 [dokumentiert bei Dahms, Liberalismus, 235]).



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Bündnisbestrebungen waren freilich für den Göttinger Extraordinarius ein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zu einer ordentlichen Professur.39 Erst 1915 – also relativ spät angesichts der großen wissenschaftlichen Leistungen, die Bousset auf dem Gebiet der historisch-kritischen Bibelstudien erbrachte – wurde Bousset dann doch nach Gießen auf den Lehrstuhl für das Neue Testament berufen.40 Die Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhaltes führte Bousset allerdings nicht nur auf die depersonifizierenden Eigengesetzlichkeiten des frühmodernen Kapitalismus zurück. Boussets Krisenanalyse reicht tiefer. Der ‚libertinistische‘ Liberalismus, den Bousset vor Augen hat,41 ist vielmehr für ihn nur ein Symptom der neuzeitlichen Geltungskrise der Religion. Dass dieser Liberalismus sich im 19. Jahrhundert derart prominent entwickeln konnte, wie es Bousset darstellt, hängt für Bousset auf das engste mit dem Mangel an Überzeugungskraft der überkommenen kirchlichen Formen der christlichen Religion zusammen, was wiederum auf die Letztbegründung der Ethik zurückwirkte42:

Mit den Formen droht der Inhalt, der unter jenen sich barg, verloren zu gehen, mit der Kirche und dem kirchlichen Glauben ist auch Gott und der letzte Grund des Weltalls ein ‚Vielleicht‘ geworden. Mit den Formen der menschlichen Gesellschaft sind auch die alten tiefen und heiligen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch verloren gegangen.43

39 Vgl. hierzu Verheule, Bousset, 28f; Dahms, Liberalismus, 236. 40 Zu Boussets Berufung nach Gießen vgl. Merk, Bousset, 159–161, der insbesondere auf die von der Berufungskommission befürchteten Bedenken der Landeskirche abhebt, die offenbar eher einen Neutestamentler aus dem modern-positiven Lager bevorzugt hätte und eine „Beunruhigung in den Kreisen der ‚Rechten‘“ (Brief des Darmstädter Oberkonsistoriums an das Ministerium für innere Angelegenheiten; zitiert ebd. 160) befürchteten. 41 Vgl. Boussets prägnantes Gesellschaftsbild in ders., Einleitung, XVIII: „Weithin ist es doch in unserer heutigen Gesellschaft, wenn wir von den Kreisen absehen, in denen das Dogma und die Autorität herrscht, der Wille, über letzte Wahrheiten des Lebens nachzusinnen, fast verschwunden. Und dafür ist so vieles andere bei uns lebendig geworden: einseitige Betonung wirtschaftlicher Standes- und Klasseninteressen, ein Haschen nach den Erfolgen des Tages, Opportunitätsgetriebe und jämmerliche Rücksichtsnahme nach allen Seiten und dazu etwa ein einseitiges Ästhetisieren, dem der rechte Ernst fehlt […].“ 42 Vgl. Bousset, Stellung, 56. „Liberales Bürgertum“ und die evangelische Kirche haben sich nach Bousset im Verlauf des 19. Jahrhunderts „auseinandergelebt. „[D]ie vielgerühmte Konsolidierung des evangelischen Kirchenwesens bedeutete zugleich eine ungeheure Verengung […]“; anstatt die „reichen Anregungen [sc. der Aufklärung] zu einer Vertiefung und Neugestaltung der Frömmigkeit auszunutzen, übersprang man [sc. die evangelischen Kirchen] keck die Jahrhunderte und stellte einfach die alte Frömmigkeit wieder her“ (56f). Aber auch das liberale Bürgertum trägt nach Bousset eine Mitschuld, denn der erstarkende Liberalismus wandte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr dem „im Zeichen der Naturwissenschaft stehenden Materialismus“ wie auch der an den Prinzipien „Gewinn und Genuß“ ausgerichteten „Manchesterpolitik“ (ebd. 57f) zu. Diesen „Riß zwischen Kirche und liberalem Bürgertum“ (ebd. 59) sieht Bousset trotz aller Tendenzen zu einer Überwindung dieser geschlossenen Weltanschauungskonzepte (vgl. ebd. 58) auch in seiner Gegenwart noch wirksam. 43 Bousset, Carlyle, 325.

24 Einleitung Bousset zielt hier zunächst auf den kirchlichen Supranaturalismus und Christozentrismus, den er im landeskirchlich organisierten Christentum ungebrochen an der Herrschaft sieht. Beides steht in unvermittelbarem Widerspruch zur modernen Kultur. Sowohl der auf den Aufweis der Absolutheit des Christentums zielende Supranaturalismus, als auch der Autoritätsglaube an bestimmte objektive Heilstatsachen stehen laut Bousset eigentümlich quer zum modernen Immanenzdenken in Natur- und Geschichtswissenschaft bzw. zur modernen Individualisierung – auch in der Religion. Jene überkommenen Formen führt Bousset auf die eigentümlich konservative Verfasstheit der evangelischen Kirche zurück, die nachfolgend kurz skizziert werden soll. Trotz der mannigfaltigen beobachtbaren Tendenzen zur Umbildung in eine Volkskirche erblickt Bousset in den einzelnen evangelischen Landeskirchen letztlich die „bürokratisch verwaltete Obrigkeitskirche“44, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts, seit der Konsolidierung der evangelischen Kirchen, das kirchliche Leben prägte. Gemessen an ihrem Anspruch gestalteten sich die evangelischen Landeskirchen als regelrechte „Anstaltskirche[n]“45 und schreiben so, indem sie alle Lebensbereiche kirchlich einzuhegen gedachten, gewissermaßen den mittelalterlichen Kulturtyp fort. Ihre synodale Parlamentsverfassung war für Bousset freilich „nur schöner Schein“, denn eine „wirkliche Vertretung des Kirchenvolkes“46 kann Bousset in der Zusammensetzung der Synodalen nicht erkennen – Arbeiter, Kaufleute und Teile des Mittelstandes sieht Bousset weitestgehend nicht in den Synoden repräsentiert. Als „gefügige Werkzeuge in der Hand des Kirchenregiments“47 kommen die Synoden also auch gegenwärtig gerade nicht ihrer Funktion als parlamentarisch verfasstes Partizipationsorgan zur kirchlichen Selbstverwaltung nach. Als Folge der Bürokratisierung und der Hierarchisierung des kirchlichen Lebens erkennt Bousset aber

44 Bousset, Stellung, 50. Zu den innerkirchlichen Bewegungen, die jener evangelischen Anstaltskirche Züge einer offeneren, auf Beteiligung der Gemeinde zielenden Volkskirche verlieh, vgl. ebd. 53f. Als Gegenbewegung zur „Anstalts- und Pastorenkirche“ ist die „Gemeinschaftsbewegung ins Leben gerufen [worden]“ (ebd. 53). Allerdings ist ihr, wie Bousset moniert, „das beschränkte Pochen auf den Bibelbuchstaben, die Angst vor jeder stärkeren Inanspruchnahme des Verstandes, die Unaufgeschlossenheit gegenüber dem modernen Leben und seinen brennenden Fragen“ (ebd. 54) zu eigen. Eine mögliche Vergemeinschaftungsform für das kirchenkritische Bürgertum ist also auch diese innerkirchliche Bewegung nicht. Auch Wicherns Innere Mission scheitert nach Bousset – obgleich er auch hier den Willen, „im Volksganzen“ zu wirken und die „Anstalts- und Pastorenkirche“ volkskirchlich umzugestalten, begrüßt – an derselben dogmatischen „Enge und Begrenztheit“ (vgl. ebd. 54f) wie auch die der Gemeinschaftsbewegung. Erst der von Adolf Stoecker ins Leben gerufene Evangelisch-soziale Kongress hat nach Bousset „die großen Fragen und ringenden Probleme des deutschen Volks- und Staatslebens“ bearbeitet, wenngleich er auch früh durch den Abgang Stoeckers wieder „einen Teil seiner praktischen Stoßkraft“ (ebd. 64) verlor. 45 Bousset, Stellung, 54. 46 Bousset, Stellung, 51. 47 Bousset, Stellung, 51.



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auch die „patriarchale Herrschaft des Pfarrers“48. Sie ist wiederum ein bedeutender Faktor, um jegliche „frei wirkenden Kräfte weiter Kreise“49 wieder zu unterbinden, indem das kirchliche Leben auf den Wortgottesdienst durch den theologisch gebildeten Pfarrer reduziert wird. Neben diesen hierarchisierten Strukturen des Kirchenregiments ist sodann die Kirchenlehre, die nach Bousset vollständig „in den Bahnen der Repristination“ wandelte und „eine Sprache und Formen [einführte], die man in weiten Kreisen einfach nicht mehr verstand“50, das größte Hemmnis für eine aktive Teilhabe des liberalen Bürgertums hinsichtlich einer Partizipation am kirchlichen Leben. Spuren jener „alten Frömmigkeit“51 kann Bousset auch in seiner Gegenwart in der Amtskirche ausmachen, deren notae Bousset insbesondere im nicht verhandelbaren Bekenntnisstand und in der entschlossen supranaturalen Weltanschauung erblickte. Boussets „trübes Bild“ der Landeskirchen kulminiert darin, dass „der Einfluß der evangelischen Kirche auf das deutsche Volksleben mehr und mehr verengt wurde“, während doch die Aufgabe der Kirche nach Bousset gerade darin besteht, ein „Volksgewissen“52 zu stiften. Verharrt die evangelische Kirche also – ungeachtet der oben dargestellten ermutigenden Tendenzen – weiter in ihrem Anstaltskirchentum mit der festen Bindung an die konservativ-reaktionären Eliten, wird sie das selbständig gewordene liberale Bürgertum kaum wieder erreichen.

1.2 Boussets Bemühen um die religiösen Gebildeten Gegenüber dem Auseinanderstreben von Kirche und liberalem Bürgertum ist es nachgerade Boussets Anliegen, jenes Auseinanderfallen beider eigentlich einander bedürfender Größen wieder einzuhegen, indem er sich in mannigfacher Weise für die Erneuerung seiner Kirche einsetzte. Denn einerseits brauchte die Kirche die liberalen Kräfte, um wirklich eine von innen gewandelte, offene Volkskirche werden zu können, andererseits brauchten die religiös ansprechbaren Gebildeten die Kirche als feste Organisationsform ihrer Frömmigkeit, deren Überlieferung noch dazu die religiös produktivsten Symbole bereithielt. Hoffnung, dass die Zusammenführung dieser disparaten Größen gelingen könnte, bot ihm die gegenüber der Hochzeit des Materialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nun neu einset48 Bousset, Stellung, 53. 49 Bousset, Stellung, 53. 50 Bousset, Stellung, 56. Bezeichnend ist zudem, dass in den deutschen Landeskirchen zumeist die Kirche von den konservativ-reaktionären Kräften aus Adel, Großgrundbesitzern und Bauerntum gestützt wurde. Dieses Deckungsverhältnis ist allerdings nach Bousset keineswegs notwendig, wie er am Beispiel Englands und Nordamerikas zeigt; selbst der Katholizismus schaffte es nach Bousset, unterschiedliche politische Strömungen innerhalb seiner Mauern zu vereinen (vgl. ebd. 60). 51 Bousset, Stellung, 57. 52 Bousset, Stellung, 65.

26 Einleitung zende Offenheit des liberalen Bürgertums für religiöse Fragestellungen. So beobachtet Bousset schon früh eine innerhalb des Bürgertums weit verbreitete, neue „Sehnsucht“53 nach Religion, die das materialistische Dogma immer mehr aufzuweichen scheint. In Boussets Konstruktion der jüngeren und gegenwärtigen Lage kam es bei den bürgerlichen Gebildeten förmlich zu einem weltanschaulichen Umschwung in allen Lebensbereichen: Die geistige Haltung und Weltanschauung der liberalen bürgerlichen Kreise hat eine starke Vertiefung erfahren, der Geist des deutschen Idealismus ist in entschiedenem Erwachen begriffen, die Flut der naturalistischen Weltanschauung ebbte zurück, die Naturwissenschaft wurde von einer dem Idealismus sich allmählich zuwendenden Philosophie in die Schranken gewiesen, das Verständnis für die historischen Mächte der Vergangenheit erstarkte, der Sinn für den Ernst und die Wucht der sozialen Pro­ bleme wuchs, stärkere ethische Bestrebungen machten sich geltend, religiöse Fragen wurden wieder zu Tagesfragen, religiöses Sehnen regte sich.54

Bousset beschreibt hier offensichtlich das geistige Klima, das seit den 1890er Jahren für das kulturelle Leben im Kaiserreich immer prägender wurde. Der Historismus begann sowohl das wissenschaftliche als auch das kulturelle Leitparadigma zu werden, in dessen Rücken allerdings auch idealistische Bewusstseinsphilosophien, beispielsweise in der Form des Neukantianismus, eine Renaissance erfuhren.55 Der damit einhergehenden Öffnung einer geschlossenen naturalistischen Weltanschauung korrespondierte eben jenes von Bousset beschriebene, neue Fragen nach religiöser Weltdeutung.56 Durch den supranaturalen Dogmatismus der Kirche verprellt, suchen jene Gebildeten allerdings nach einer Organisationsform abseits der evangelischen Anstaltskirchen.57 Auf dem Hintergrund der geltungstheoretischen Fol53 WdR VII. 54 Bousset, Stellung, 58. 55 Zum schwer bestimmbaren Phänomen des Historismus vgl. Schnädelbach, 51–55; Oexle, Historismus, 41–72, sowie Laube, Selbstklärung, hier 120–124. 56 Vgl. WdR 2. 57 Bousset, Stellung, 68: Die Gebildeten suchen „Ersatz für das religiös-sittliche Leben der Kirche – innerhalb des Rahmens des Christentums oder außerhalb.“ Ebd. werden einschlägige außerkirchliche neureligiöse Vereinigungen, die Bousset vor Augen hat, aufgezählt. Kennzeichnend für diese neureligiösen Bewegungen war sodann der allenthalben anzutreffende Versuch, ihre religiöse Weltanschauung mit monistischen Weltanschauungskonzepten zu kombinieren; hierin bestand fraglos die Attraktivität für die Gebildeten, für die der kirchliche Supranaturalismus letztlich ein sacrificium intellectus bedeutete. Bousset erkennt darin ein berechtigtes Anliegen und versucht dieses mit einer Neubelebung der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie einzuholen, um so ein Paradigma zu bieten, das sowohl den theistischen Gottesglauben als auch die monistische Weltanschauung der Natur- und Geschichtswissenschaften nebeneinander bestehen lassen kann. Zur aufblühenden ‚neuen Mystik‘ in der frühen Moderne vgl. auch Graf, Rettung, 110f; Hübinger, Kulturkritik, insbesondere 101–105, der die religiöse Publizistik des Eugen Diederichs-Verlages untersucht. Laut Hübinger ist die neue Mystik, repräsentiert beispielsweise durch sich explizit als außerkirchlich verstehende, religiöse Schriftsteller wie Arthur Bonus, Albert Kalthoff und Arthur Drews, vor allem durch Antiintellektualismus und Antihistorismus kombiniert



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geprobleme des historistischen Denkens erstarkt nach Bousset ein religiös motivierter Antihistorismus, der sich im Frömmigkeitstypus der Mystik seinen eigenen Ausdruck verschafft. Das liberale Bürgertum wird zwar so durch die Hinwendung zu den ungeschichtlichen ‚freireligiösen‘, mystischen Zirkeln dem Boussets Zeit bewegenden Problem ‚Glaube und Geschichte‘ enthoben, allerdings büßt es damit gleichzeitig jede gestalterische Kraft ein, denn dazu bedarf es eines Dranges zur Allgemeinheit.58 Den Zirkeln der modernen Mystik ist es aber nach Bousset wiederum eigentümlich, dass Religion „Eigentum der kleinen Kreise der Erweckten und Erleuchteten“59 ist und eben nicht in Beziehung zum Gesamt der Gesellschaft steht. Dem Selbstverständnis der mystischen Zirkel gemäß ist Religion „etwas ganz Besonderes, ganz Individuelles und droht daher immer einen launenhaften und willkürlichen, oft grotesken und bizarren Charakter anzunehmen.“60 Bousset ist demgegenüber gerade daran gelegen, Religion als Grundvollzug vernünftiger Subjektivität zu fassen, sodass allein hierdurch schon die Flucht in jene von der Gesellschaft sich auf sich selbst zurückziehenden Konventikel für eine recht verstandene Frömmigkeit keine Option sein kann. Durch jene Eskapismen der Gebildeten in bestimmte religiös-ästhetische Sondergruppen sieht Bousset das Kulturleben insgesamt in einem „chaotischen Zustand“61. Dies hängt für ihn zunächst damit zusammen, dass es an normativer Orientierung fehlt. Fiel dies in der kirchlichen Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit noch in den Aufgabenbereich der kirchlichen Erzählung einer Heilsgeschichte, so verfängt dies in der modernen Kultur nicht mehr, da die Kirche keinen umfassenden Zugriff mehr auf die sich ausdifferenzierende und verselbständigende moderne Kultur hat. Vor dem Hintergrund der großen Umwälzungen der Moderne in mit einem religiös-weltanschaulichen Monismus gekennzeichnet (vgl. auch WdR 241). Der Antiklerikalismus wurde zusätzlich durch die lehramtlich sanktionierten ‚Fälle‘ geschürt (ebd. 103 am Beispiel des ‚Falles Jatho‘). Analog anderer Bewegungen, wie beispielsweise die Wandervögel, deren Wesen Bousset im ästhetischen Genuss erblickt, bedeutet diese neue Mystik für diesen letztlich die „Flucht der Besten aus einer kalt und hart gewordenen Welt […] in die Einsamkeit“ (Bousset, Einleitung in eine Vorlesung, 433). Dieses „moderne Aesthetentum“ ist für Bousset strukturell dasselbe Phänomen wie das antike und mittelalterliche Mönchtum: „ein Herausziehen der besten und brauchbarsten Kräfte aus der Welt alltäglicher Arbeit und Pflichterfüllung“ (ebd.). 58 Vgl. RL 37, wo Bousset den gesellschaftstheoretischen Einwand platziert, dass eine mystische Frömmigkeit „immer von gemeinschaftszersetzender Tendenz“ ist. Mag auch die Zuflucht in einer Sekte mit ihren ekstatischen Phänomenen angesichts des relativistischen Historismus und einer dogmatisch-reaktionären Kirche nachvollziehbar sein, es wird dabei der nach Bousset für das Wesen der Religion unaufgebbare Zug zur Allgemeinheit ignoriert. Daher hat die Mystik mit Boussets religiösem Liberalismus zwar einen „gemeinsamen Gegner“, nämlich „alle rein äussere kirchliche Autorität“ (ebd. 27), hinsichtlich der Religion und ihrer ‚Kulturbedeutung‘ vertreten aber beide Bewegungen unterschiedliche Auffassungen; vgl. Einleitung einer Vorlesung, 451: „Glaube ist [...] kein müdes tatenloses Träumen, kein Hände-in-den-Schoßlegen, Glaube ist höchste Aktivität, gesteigerte Tat“. Vgl. hierzu insgesamt auch RuT 42f. 59 RL 37. 60 RL 27. 61 KFR 419.

28 Einleitung Wissenschaft und Technik sind die kirchlichen Formen, wie gezeigt, hochgradig unplausibel geworden, da sie prinzipiell mit dem wissenschaftlichen Leitparadigma der Immanenz und der wesensmäßigen Relativität aller historischer Tatsachen nicht mehr zusammenbestehen können. Ihr Anspruch hingegen, gegen die Überzeugungen der modernen Welt noch die alleinige Deutungshoheit über das religiös-sittliche Leben zu haben, kann nach Bousset nur zu einer Abwendung vom kirchlichen Christentum führen.62 Die Krise des kirchlich organisierten Christentums ist aber nicht die Krise der Religion. Gegen die einfache Säkularisierungsthese einer Ablösung des Glaubens durch die Naturwissenschaft vertritt Bousset mit der Religionsgeschichtlichen Schule die These, dass Religion eine selbständige Bewusstseinstatsache ist, die nun aber unter den Bedingungen der Moderne einer neuen Form zugeführt werden muss. Über die Beharrungskraft der Religion besteht bei Bousset kein Zweifel, nur eben der Vollzugsrahmen ist hochgradig strittig. Denn weder die autoritäre Anstaltskirche noch die selbstbezüglichen Frömmigkeitskonventikel der neuen Mystik sind die angemessenen Sozialgestalten der modernen, freien Frömmigkeit. Zwar meint Bousset, dass auch die moderne Frömmigkeit notwendig einer kirchlichen Organisationsform bedarf63, nur steht ihm auch vor Augen, dass es von dem „religiösen Sehnen“ der frühen Moderne, das Bousset im gebildeten Bürgertum wahrnimmt, noch „ ein sehr weiter Weg bis zu einer tätigen Anteilnahme am praktischkirchlichen Leben“64 ist. Demgemäß beabsichtigt Boussets Programm in seiner Zusammensetzung aus historischer Kritik und religionsphilosophischer Geltungssicherung der Religion eine Umformung des altprotestantischen Kirchentums in eine volkskirchliche Gestalt, die auch Raum für Boussets neuen Protestantismus, den religiösen Liberalismus, bietet. Bousset ist überzeugt, dass es einer Erneuerung der Form bedarf. Denn mit dem neuzeitlichen Wandel der Kulturformationen hat sich auch die Frömmigkeit verändert und „der neue Glaube, bedarf neuer Formen“65, die der modernen 62 Boussets persönliche Stellung zu jenem reaktionären Konservativismus der Kirche geht aus seinem frühen Carlyle-Aufsatz hervor (ders., Carlyle, 325): „Das Frevelhafteste wäre es, diesen Prozeß [sc. der Auflösung der überkommenen Formeln] hemmen zu wollen, die alten Formen, deren Inhalt geschwunden ist, um ihrer selbst willen, aufrecht zu erhalten, die Heiligtümer zu stützen, wenn der Glaube daraus geschwunden ist, die Autoritäten durch Gewalt zu halten ohne innere Überzeugung.“ 63 Vgl. nur Bousset, Stellung, 68; hierzu vgl. Kap. 2.2. 64 Bousset, Stellung, 59. 65 Bousset, Erneuerung, 106. Bousset hofft auf ein „Volkssehnen“ nach einer gemeinschaftlich gelebten Frömmigkeit – dann nämlich wird an die Kirche „[...] die Aufgabe herantreten, sich den neuen Anforderungen gemäß zu gestalten und sich die Frage vorzulegen, ob die alten Dämme und Wasserzeichen für den breiter gewordenen Strom ausreichen“ (ebd. 107). Zum kulturgeschichtlichen Wandel seit der Reformationszeit, die „mit der Aufklärung beginnend die gesamte Struktur unseres kulturellen Lebens derart verändert hat, dass wir von einer modernen Zeit, einer modernen Kultur, einer modernen Theologie mit Recht recht reden können und müssen“, vgl. MPT Kaftan, 331f, hier 332.



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Ausdifferenzierung des Lebens und der modernen Art des Denkens kompatibel sind. Zum bedeutsamsten Instrument für die Selbstklärung der Formen des religiösen Lebens66 wird ihm dabei die Theologie. Sie hat gegenüber dem religiösen Leben die Aufgabe einerseits durch Kritik der Überlieferung das religiöse Leben von bestimmten überkommenen Autoritäten zu befreien, andererseits aber auch regulativ auf dieses einzuwirken, damit bestimmte, vom theologischen Normbegriff abweichende Formen moderner Frömmigkeit, wie beispielsweise die oben genannte neue Mystik, kritisch in einen Gegensatz zur angemessenen Form christlich-religiösen Lebens in der Moderne gesetzt werden. Um dem Plausibilitätsverlust der alten Formen kirchlichen Glaubens Einhalt zu gebieten, bedarf es allerdings eines echten „Neubau[s]“67 der Theologie. Denn neben dem religiösen Leben steckt laut Bousset die Theologie selbst mitten in der Krise und muss sich selbst auf den modernen Wandel einstellen. Um Boussets avisierten Neubau besser konturieren zu können, seien nachfolgend Boussets Selbstabgrenzungsversuche gegenüber den dominierenden Strömungen der zeitgenössischen evangelischen Theologie kurz dargestellt. Auf der einen Seite steht, wie oben schon gezeigt, eine Modern-positive Theologie, die als Richtung der „theologischen Rechten“68 gilt. Bousset hat sich durch mehrere Sammelrezensionen in der Theologischen Rundschau in den Jahren 1906 bis 1907 mit dem Programm der Modern-positiven Theologie eingehender auseinandergesetzt.69 Insbesondere anhand von Richard H. Grützmachers Studien zur Systematischen Theologie skizziert Bousset die Unzulänglichkeiten der Modernpositiven Richtung. Hierbei ging es durchaus auch um die angemessene Deutung der Moderne. Während Grützmacher den Geist der Moderne durch positivistisch66 Vgl. RK 28. 67 KFR 419. 68 MPT Kaftan, 287. 69 Bousset erkennt dabei durchaus die inneren Differenzen innerhalb der Modern-positiven Theologie an, wie er anhand des Vergleichs zwischen Richard Grützmachers und Theodor Kaftans systematischer Theologie zeigt (MPT Grützmacher 1.5). Dem Ansatz Kaftans einer „moderne[n] Theologie des alten Glaubens“ (MPT Kaftan, 288) ist Bousset sogar insofern wohlgesonnen, dass er mehr die Schnittmengen betont als die Differenzen – Kaftans Zugeständnisse gegenüber der „objektiven Visionshypothese“, also die Frage, ob Jesus wirklich auferstanden sei oder ob dies nur ein kreativer Bewusstseinsvorgang der Jünger gewesen ist, lässt Bousset auch in kirchenpolitischer Hinsicht auf eine Annäherung hoffen: „Es ist noch gar nicht abzusehen, welch eine Rolle dies Wort in den praktischen, kirchenpolitischen Kämpfen zu spielen berufen ist“ (ebd. 328). In vielem sieht Bousset daher Kaftans Ansatz durchaus mit einer modernen Theologie kompatibel, wie Bousset am Beispiel des Verzichts Kaftans auf eine Inspirationstheorie der Schrift zeigt, denn auch Kaftan will, was Bousset sehr begrüßt, auf einen Rekurs auf eine formale Autorität verzichten, um dann doch immer wieder hinter diese Selbstverpflichtung zurückzufallen (vgl. ebd. 332f; auch Seeberg zeigt hierin seinen „Zug der Modernität“ [MPT Seeberg, 371]). Dasselbe gilt auch für Kaftans Rezeption der Geschichts- und Naturwissenschaften, die er an den entscheidenden Stellen wieder in ihrem Wirkungsbereich einengt (vgl. MPT Kaftan, 335–340). Am Ende verstrickt sich Kaftans Theologie also doch wieder in einem „unklaren Kompromiss zwischen alten und modernen Ideen“ (ebd. 297).

30 Einleitung materialistische Philosophien, Evolutionsbiologien und spiritistische Theosophien repräsentiert sieht, erkennt Bousset darin ‚Gegenströmungen‘, die das idealistische Fundament als Tiefenstruktur der modernen Kultur als solches nicht in Abrede stellen.70 Dass Grützmacher sich beispielsweise durch die Aufnahme von Ibsens Vererbungslehre erhofft, über diesen Umweg wieder das kirchliche Erbsündendogma plausibel machen zu können, überzeugt Bousset nicht. Vielmehr führt dieser deterministische Biologismus sicher „zur Aufhebung oder zumindest zur Abschwächung allen Schuld- und Verantwortungsgefühls“71 und am Ende zur Aufhebung der Religion. Und so ist es insgesamt für die Modern-positive Theologie kennzeichnend, dass sie die „innersten Tendenzen“72 jener Gegenströmungen unterschätzt und in jenen antagonistischen Kräften der Moderne Potenziale sieht, die sie nach Bousset nicht besitzen, da sie letztlich ein reduktionistisches Weltbild wie alle Naturalismen inhärieren. Sodann ist der modern-positiven Richtung eine nach Bousset offenkundig übertriebene „Ehrfurcht vor der kirchlichen Lehrtradition“73 zu eigen. Dies liegt, wie er am Beispiel Theodor Kaftans zeigt, am theologischen Interesse, die ‚Objektivität‘74 der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu fixieren.75 Allerdings läuft auch Kaftans Theologie auf eine für die Modern-positive Theologie eigentümliche „Vermischung zweier verschiedener Gedankenwelten“76 hinaus. Einer krisenfesten Theologie muss es aber – wie Bousset anhand der Christologie, dem „eigentliche[n] Gebiet des Kampfes“77 zwischen modern-positiven und liberalen Theologen, erläutert – um Stringenz im Denken zu tun sein. Wenn man also den Ausgangspunkt beim historischen Jesus wählt – wie es nach Bousset auch die Modern-positive Theologie vorgibt –, dann kann nur „vom Sittlich-Religiösen in der Person Jesu“ ausgegangen wer70 Vgl. MPT Grützmacher, 4; auch hinsichtlich der Deutung des „Wesen[s] der modernen Kultur“ (ebd. 5) überzeugt Kaftan Bousset eher als Grützmacher. Jene Gegenströmungen hält Bousset für „im wesentlichen gesehen krank, ungesund, unbrauchbar […] eine Gesundung unseres gesamten Geisteslebens [kann] nur unter Anknüpfung an die geistigen Errungenschaften der grossen Kulturepoche des deutschen Idealismus und ihrer entsprechenden Weiterbildung […] erfolgen.“ Die Gegenströmungen hingegen prägten das Bild der Moderne, weil sie durch ihr „laute[s] Getöse“ gleich den „Schreiern auf dem Markte“ mehr Gehör fänden und damit die Vorherrschaft in dem Ringen um eine rechte Modernedeutung einnähmen (vgl. ebd. 4). Dabei zeigen doch gerade die Kantrenaissance und der erneute Rückgriff auf Goethe und Schiller, dass die gegenwärtig „besten und wirklich führenden Geister[] auf den verschiedenen Geistesgebieten“ (ebd.) in Wissenschaft und Kultur vom deutschen Idealismus beeinflusst sind. 71 MPT Grützmacher, 6. 72 MPT Seeberg, 373. 73 MPT Grützmacher, 5. 74 Vgl. MPT Kaftan, 296. 75 Umgekehrt wird laut Bousset vonseiten der Modern-positiven Theologie gerade den Anschauungen der ‚neugläubigen Theologen‘ in Boussets eigenem Umfeld der Vorwurf gemacht, sie würden „die Sicherheit der in der Person Jesu von Nazareth gegebenen Offenbarung nicht garantiere[n]“ (MPT Kaftan, 290). 76 MPT Kaftan, 298. 77 MPT Kaftan, 289.



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den, nicht aber von einer „ausserhalb der Sphäre des Geschichtlichen“78 liegenden Wunderkausalität, die die Objektivität der Erlösung verbürgen könnte. Denn nach Bousset lässt sich das Interesse, die Gottheit Christi behaupten zu wollen, nicht mit dem historischen Rekurs auf Jesus als den Anfänger der christlichen Religion mitein­ ander vermitteln. Der dogmatische Begriff ‚Christentum Christi‘ zeugt schon von einem diametral verschiedenen christologischen Ansatz und hat mit der „alten christologischen Dogmatik“79 nichts mehr gemein. Indem nun aber die Modernpositive Theologie die „Behauptung eines kontradiktorischen Gegensatzes Jesu und der ganzen übrigen Menschheit“80 aufstellt, verlässt sie nach Bousset die eigentümlich moderne geschichtliche Betrachtungsweise, die sich methodisch an dem immanenten heuristischen Schema der Natur-Geschichtswissenschaft orientieren will. Dabei ist es nach Bousset doch das ausdrückliche Anliegen der modern-positiven Richtung, auf das moderne Denken als Explikationsrahmen ihrer Theologie zu rekurrieren.81 Gegenüber diesen immanenten Wissenschaften bemüht sich die Modern-positive Theologie hingegen um einen supranaturalen Offenbarungsbegriff, der die Absolutheit des Christentums absichern soll. Dieser muss freilich die nichtchristliche, aber auch die jüdische Frömmigkeit degradieren – wogegen der Historiker Bousset freilich vehement protestiert. Und so ist nach Bousset der Modern-positiven Theologie als Ganzer ein „Hinweggleiten über historische Schwierigkeiten“82 eigentümlich. Der Modern-positiven Theologie geht es also um die Repristination des Dogmas von der Heilsgeschichte mit Sündenfall, Erlösung 78 MPT Kaftan, 297; in der Konstruktion der Christologie liegt hier nach Bousset „tatsächlich ein ‚Entweder-Oder‘“ (ebd.). 79 MPT Seeberg, 417. Das Modern-positive Anliegen, die „‚Gottheit‘ Christi“ zu repristinieren, weist Bousset zurück, denn auf dem „Gebiet der religiösen Psychologie“ (ebd.) kann Jesus nicht zugleich der exemplarische Fromme und Objekt des Glaubens sein. Auch Jesus bleibt in „kreatürlicher Abhängigkeit von dem allmächtigen, ewigen Gott“ (ebd. 420). Allerdings erkennt Bousset in Seebergs Rede vom „Christentum Christi“ (ebd. 416) ein Verständigungspotenzial, von dem er hofft, dass es „einmal die Brücke zur Verständigung der sich befehdenden theologischen Richtungen“ (ebd. 417) biete. 80 MPT Seeberg, 416. 81 Vgl. MPT Kaftan, 337: „Aber auf der einen Seite eine Welt naturhaften, naturgesetzlichen Geschehens und die auf dieses gerichtete Wissenschaft rundweg anzuerkennen und dann von dieser Welt willkürlich einige in derselben Sphäre liegende Vorgänge eximieren, das ist für ‚modernes‘ Empfinden ein unhaltbarer Widerspruch in sich.“ Dasselbe gilt nach Bousset für Kaftans Exemtion der Offenbarungsgeschichte von der übrigen Geschichte. Kaftan besitzt hier eine große Nähe zur Ritschlschen Schule und partizipiert damit insgesamt an den Mängeln einer Vermittlungstheologie, die die Methodenstrenge der neuen modernen Wissenschaften nicht ernst zu nehmen scheint. 82 MPT Grützmacher 2; vgl. auch MPT Seeberg, 375. Grützmachers emphatische Rezeption des modernen Entwicklungsgedankens irritiert Bousset, da auch hier wieder die kritischen Potenziale dieses heuristischen Schemas eingehegt werden, denn freilich will Grützmacher den Entwicklungsgedanken nur auf die biblische Offenbarungsgeschichte anwenden, nicht aber auf „die Religion und ihre Geschichte im Allgemeinen“ (MPT Grützmacher, 11) und zerreißt damit die Wirklichkeit.

32 Einleitung und Restitution. Um jenes heilsgeschichtliche Schema dem modernen Menschen beliebt zu machen, werden vom Dogma „[...] hier Spitzen abgebrochen und dort die Ecken abgeschliffen.“83 Dieses Vorgehen zeigt nach Bousset die charakteristischen „Mängel einer Vermittlungstheologie“ – sie ist eben kein Neubau, sondern ein bloß „missglückte[r] Umbau“84. Entsprechend erblickt Bousset das Grundproblem dieser Richtung darin, dass sie „‚modern‘ und ‚positiv‘ zugleich“85 sein will. Bousset kann jedoch das Anliegen der Modern-positiven Theologie, modern zu sein, auch anerkennen – immerhin erkennt er wirklich „neue Gedanken“, die nichts mehr mit dem ‚alten Glauben‘ gemein haben, nur werden die wieder in alte Formen gepresst, die ihre Plausibilität verloren haben. Für das religiöse Leben, aber auch für die Theologie selbst wäre es jedoch förderlicher, „[...] wenn für die neuen Gedanken auch neue Formen geprägt würden.“86 Mehr Sensibilität für die Wandlungsprozesse bis in die Moderne erkennt Bousset bei der liberalen Theologie der Ritschlschen Schule.87 Sie besitzt vielfältige Schnittmengen mit der liberalen historischen Theologie, denn beide lassen sich mit dem antirationalistischen Programm ‚Offenbarung in der Geschichte‘ umschreiben. Allerdings fällt auch sie als eine der in der kirchlichen Öffentlichkeit prominentesten theologischen Richtungen unter Boussets Verdikt, nur Vermittlungstheologie zu sein. Denn auch die Ritschlsche Schule besitzt nach Bousset noch eine zu große Nähe zum kirchlichen Supranaturalismus, der eine Offenbarung Gottes nur auf dem Gebiet der biblischen Religion zulassen kann. Kennzeichnend für diese Richtung sei nach Bousset „die schwärmerische Schätzung und Absolutierung der von aller Religionsgeschichte abgelösten Person Christi“88. Ihr programmatischer Antirationalismus im Verbund mit ihrem offenbarungstheologischen ‚Christozentrismus‘ muss sodann die Gebildeten auf Distanz halten, da sie vor dem Hintergrund des enormen Anwachsens des historischen Wissens nicht mehr verfangen. Und so gilt sowohl von der Modern-positiven Theologie als auch von der Ritschlschen Schule, dass „eine wirkliche Förderung und Klärung unserer theologischen Lage nicht zu erwarten [ist].“89 Gegenüber diesen ‚Vermittlungstheologien‘ bescheinigt Bousset der liberalen Richtung in der Theologie – und hier hat er zweifelsohne zuerst die Religionsge83 MPT Seeberg, 374. Seeberg hat das „[...] Bestreben, von dem Gedankengebäude der alten Dogmatik so viel, wie irgend geht, in die moderne Welt herüberzuretten“ (ebd.). 84 MPT Seeberg, 374. 85 MPT Kaftan, 287. 86 MPT Seeberg, 380. 87 Da insbesondere die Ritschlsche Schule die Frontstellung, gegen die sich Boussets Neuformulierung des Verhältnisses ‚Glaube und Geschichte‘ wendet, markiert, sollen hier Boussets Einwürfe gegen die Ritschlsche Schule nur grob skizziert werden, sie werden eingehender in Kap. 2.2.1 aufgeführt. 88 RL 23. Für Bousset ist dies gleichsam der Ausdruck eines theologischen Interesses, hinter dem wiederum eine „aus dem Pietismus stammende Christusmystik“ (ebd.) steht. 89 MPT Seeberg, 424.



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schichtliche Schule vor Augen – zwar einen Sinn für den Wandel der Formen, allerdings bleibt sie auch darin stecken. Denn ihre Umsetzung des mit der Ritschlschen Schule gemeinsamen, gegen einen kirchlichen Autoritätsglauben wie auch gegen eine solipsistische Mystik gewendeten Programms ‚Offenbarung in der Geschichte‘90, reduzierte sich nach Bousset eben vor allem auf historisch-religionspsychologische Studien. Die Folge war ein Übermaß an historischer Kritik, die zwar überkommene Autoritätsstrukturen durch ihre Überlieferungskritik abbaute91, aber eben nicht epistemologisch in der Lage war, zu „positiver, bauender schaffender Arbeit“92 anzuhalten, denn der Schritt von der Genese zur Geltung war ihr methodisch unmöglich geworden. Im Gegensatz zur Ritschlschen Schule entschränkte dieser religiöse Liberalismus die biblische Offenbarungsgeschichte auf die gesamte Religionsgeschichte, um „[...] in der Weise Herders auf das Rauschen des göttlichen Geistes in der Geschichte zu lauschen.“93 Wenngleich man durch die Einführung einer konsequent historischen Methode auch den methodischen Ansprüchen der modernen Geschichtswissenschaften Genüge tat, so droht nach Bousset auf der anderen Seite die „Gefahr wenigstens eines Versinkens in Historismus und Psychologismus“94, die im religiösen Leben entweder zur übertriebener Ehrfurcht vor dem Gewordenen führt oder aber in eine relativistische Skepsis umschlägt.95 Analog dazu beklagt Bousset den Mangel an „grossen beherrschenden und zwingenden Gedankensystemen“96, wie dasjenige Ritschls, im gegenwärtigen religiösen Liberalismus. Das Unvermögen hinsichtlich der Geltungsfrage meinen die historisch arbeitenden Theologen durch „das schwärmerische persönliche Bekenntnis“97 kompensieren zu können. Diesen irrationalen Dezisionismus markiert Bousset aber als ausdrückliche Schwäche, die s. E. erklärt, dass der gegenwärtig so verfasste religiöse Liberalismus in eine eigentümliche Distanz zu den gebildeten, religiösen Laien gerückt ist, die sich aufseiten der Gebildeten in einer allgemeinen „Unbefriedigung mit der bisherigen religiösen Unterweisung“98 Ausdruck verschafft. Nach Bousset will eben der gebildete Laie nicht nur wissen, wie die gegenwärtige Lage geworden ist, sondern auch was in ihr zu gelten hat. Boussets Absetzungsbewegung von der historischen Theologie ist freilich auch eine Selbstkritik. Denn bis zu seiner Hinwendung zur neufriesianischen Religionsphilosophie zieht sich seine Theologie ebenfalls auf den Dezisionismus einer unverfügbar sich einstellenden Überzeugung zurück. Zwar war Bousset auch vormals 90 Vgl. RL 29f. 91 Vgl. RL 24. 92 RL 21f. 93 RL 22. 94 RL 22. 95 Vgl. RL 30: „So sind denn auch die Konsequenzen des reinen Historismus verderbliche gewesen“ (ebd.). 96 RL 22. 97 RL 22f. 98 RL 24.

34 Einleitung bestrebt, jene Überzeugung nicht in einen bloß willkürlichen Subjektivismus münden zu lassen – vielmehr werden die individuelle „sittlich-religiöse Erfahrung“ der Gegenwart und kollektive Erfahrungen der Geschichte gegeneinander gehalten99 –, ein Mittel der Überwindung des Auseinandertretens von Genese und Geltung fand er aber bis 1907/08 nicht, sodass er sich mit dem Rückzug auf „die sittliche Tat“100 der Willensentscheidung behalf, wie man seinem Vortrag Die Mission und die sogenannte Religionsgeschichtliche Schule abspüren kann.101 Auf dem Hintergrund jener von Bousset tief empfundenen Geltungskrise der liberalen Theologie lässt sich sein Anliegen verstehen, die Theologie einem ‚Neubau‘ zu unterziehen. Gegenüber dem gegenwärtigen Selbstverständnis des religiösen Liberalismus will Bousset nach dem eigentlichen Wesen des religiösen Liberalismus fragen, das er eben nicht in historischer Kritik an den kirchlichen Autoritäten und einem dezisionistischen Bekenntnisakt erschöpft sieht, vielmehr will er stärker den Zug zur Allgemeingültigkeit im liberalen Religionsverständnis herausarbeiten. Bousset fühlt sich im Recht, die Ausrichtung des religiösen Liberalismus auf das historischreligionspsychologische Begreifen um die Dimension der Religionsphilosophie und der Metaphysik zu erweitern. Denn sie gehört nach Bousset zum „Wesen des religiösen Liberalismus“102, wie er anhand einer kurzen Skizze der Geschichte des religiösen Liberalismus zu zeigen versucht.103 Bestätigt fühlt er sich in seiner Neujustierung der liberalen Theologie durch Troeltschs Arbeiten, denn auch Troeltsch will die lähmende Dichotomie zwischen historischem Verstehen und Geltung beanspruchenden Inhalten überwinden.104 In ihm sieht Bousset einen bedeutenden Gewährsmann seines theologischen Programms, wenngleich nach Bousset Troeltschs „immanenter Rationalismus“105 niemals zum Ziel, einer Norm, die der Geschichte übergeordnet ist, führen kann. Bousset bevorzugt demgegenüber durch eine Neubelebung des transzendentalphilosophischen Kritizismus des Kantschü99 Vgl. MPT Kaftan 294f, insbesondere ebd. 295: „So gehören Objektives und Subjektives in unserem Glauben zusammen wie die beiden Pole des selben elektrischen Stromes.“ Beschreibt Bousset hier eine für die Religionsgeschichtliche Schule durchaus repräsentative Position, die den Schulterschluss mit Troeltsch sucht, so verändert sich Boussets eigene Position nach seiner Hinwendung zum Neufriesianismus nicht unerheblich, vgl. hierzu Kap. 2.2. 100 MPT Kaftan 295. 101 Vgl. nur MuR 20. 102 RL 25. 103 Die Aufklärung markiert nach Bousset zugleich die Geburtsstunde des religiösen Liberalismus (vgl. RL 25). Das Charakteristikum für den Liberalismus im Zeitalter der Aufklärung erblickt Bousset im „Selbstvertrauen der Vernunft in Bezug auch auf das Allertiefste und Zentralste im menschlichen Leben, auf seine Religion“ (ebd.). Zwar hat der neuere Liberalismus gegenüber dem alten Rationalismus des religiösen Liberalismus mit Recht die Geschichte in ihrer elementaren Funktion und Bedeutung für das Geistesleben – „den Wert alles Symbolischen“ und der „Bedeutung der Bilder und Gleichnisse im religiösen Leben“ (ebd. 33) – erkannt, das Grundanliegen des Liberalismus bleibt jedoch für Bousset unangetastet. 104 Vgl. MPT Grützmacher, 8. 105 RL 23.



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lers Jakob Friedrich Fries den vernunfttheoretischen Aufweis der Vernünftigkeit der Religion und ist überzeugt, mit diesem Neufriesianismus ein religiöses Apriori in der Form von bestimmten, voneinander geschiedenen Ideen als Norm in Anschlag bringen zu können. Durch die so neugewonnene Gestaltungskraft kann der religiöse Liberalismus sodann das gegenwärtige, krisengeschüttelte religiöse Leben kritisieren, um diesem wieder Orientierung zu geben, und entgeht so der modernpositiven Kritik – der Bousset auch ein relatives Recht einräumt –, dass die liberale Theologie „allzu modern, allzu nachgiebig gegen das Spezifisch-Moderne“106 sei. Boussets Programm richtet sich also auf eine Überwindung der Affinität des religiösen Lebens zur Mystik107, denn, wie oben gezeigt, geht von der Mystik nach Bousset kein Impuls zur Gestaltung des Gesamtlebens in Staat, Kultur und Kirche aus. Der religiöse Liberalismus hingegen würde sich nach Bousset, sobald er die Religion als eine „Notwendigkeit höheren menschlichen Gesamtlebens“108 aufzufassen lernt, sich selbst widersprechen, würde er sich in mystischen Zirkeln vereinzeln. Der elitäre Individualismus der frommen Gebildeten muss sich der Arbeit am „einheitliche[n] Ganze[n] eines Volkslebens“109 annehmen; darauf diese Gestaltungskraft freizusetzen zielt letztlich Boussets Programm. Praktisch bedeutet dies, dass Bousset die Gebildeten anhalten will, sich wieder innerhalb einer kirchlichen Organisation zu versammeln; wohlwissend, dass die dort überlieferten Symbole „immer nur eine möglichste Annäherung des Bildes an die Wahrheit“110 darstellen und teilweise noch der Umformung in modernem Denken und Fühlen adäquate Formen bedürfen. Bousset empfiehlt diese Unvollkommenheit, ja Verkehrtheiten […] bis zu einem gewissen Grade [zu ertragen].“111 Wichtiger ist Bousset die kirchliche Organisation des religiösen Liberalismus, denn nur er verbürgt eben ein gesamtgesellschaftliches, sozialpolitisch ausgerichtetes Gestaltungspotenzial. 106 MPT Grützmacher, 3. Den Vorwurf vonseiten Richard Grützmachers, Bousset richte das Evangelium an der Moderne aus, weist er jedoch vehement zurück: „Mir ist es nicht in den Sinn gekommen, von der Moderne aus als feststehende Autorität das Evangelium zu kritisieren und zu reduzieren. Vielmehr wollte ich zeigen, dass das recht verstandene Evangelium sich mit gewissen Grundforderungen der modernen Weltanschauung sehr wohl verträgt. Es kam mir im Zusammenhang darauf an, die Wandlungen aufzuweisen, die das Christentum, ohne sich selbst untreu zu werden, machen müsse, um sich in der modernen Welt lebenskräftig zu behaupten.“ MPT Grützmacher, 8 Anm. 1. 107 Vgl. RL 28: Der religiöse Liberalismus „betont stark gegenüber dem anarchischen Wesen, der Zuchtlosigkeit, Laune und Willkür, der Schwärmerei erweckter Kreise das Gesetzmässige und Allgemeingültige, und gegenüber den Verstiegenheiten des Mystizismus und seinem aufgeregten Wesen dringt [er] auf das Einfache und Schlichte, das jedermann Zugängliche […].“ 108 RL 37. 109 RL 37. 110 RL 38. 111 RL 38; vgl. ebd. 39: „Der religiöse Liberalismus sollte von dieser inneren geistigen Freiheit noch viel mehr Gebrauch machen […]. Gerade je grösser die innere Freiheit ist, desto leichter wird es ihr, Bergeslasten äusserer Tradition zu tragen, ohne zu ersticken, und an den Ketten äusserer unzureichender Formen sich nicht wundzureiben.“

36 Einleitung Anschlussfähig wird Boussets Programm durch dessen neufriesianische Grundlegung. Denn es trennt seinem Anspruch gemäß säuberlich zwischen den Kompetenzbereichen der empirischen Wissenschaften und der nach Letztbegründung fragenden Philosophie und zwingt so die Gebildeten nicht, im Rahmen der persönlichen Rechenschaft einen Sprung im Wahrheitsbewusstsein auszuhalten, der sie nötigt das Immanenzdenken der Wissenschaft willkürlich aufzuheben. Hierin erblickt Bousset gerade den enormen Vorteil gegenüber den Vermittlungstheologien der Ritschlschen Schule und der Modern-positiven Theologie, der die Attraktivität seines Programms für die Gebildeten begründen soll.112

1.3 Boussets volksbildnerisches Interesse Boussets Bemühen um die gebildeten Frommen ist sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal seiner Theologie im breiten Diskurs der zeitgenössischen protestantischen Theologie. Vielmehr war es ein lagerübergreifender Konsens innerhalb der Theologie, dass die diagnostizierte Krise des gegenwärtigen religiösen Lebens, die sich, wie gezeigt, in der Distanznahme der Arbeiterschaft und des liberalen Bürgertums vom kirchlichen Christentum, wie auch im ‚Weltanschauungskampf ‘ mit der naturalistischen Religionskritik äußert, nur überwunden werden kann, wenn die Theologie neben ihren innertheologischen Selbstverständigungsdebatten endlich für die sich noch zur christlichen Lebenswelt dazugehörig fühlenden Frommen schreibt. Freilich artikuliert die Theologie hier Ambitionen, die in anderen Wissenschaftsbereichen schon länger gute Praxis waren: „die Gattung populärwissenschaftlicher Vorträge und Publikationen [lag] zu Anfang des 20. Jahrhunderts gleichsam in der Luft.“113 Innerhalb der protestantischen Theologie gab es allerdings bis 1900 kaum Organe, die die universitären Gelehrtenzirkel überschritten.114 Und so hat Boussets theologiepolitischer Weggefährte Hermann Gunkel im Jahr 1900 in der Christlichen Welt einen „Notschrei“ nach „volkstümlicher theologischer Literatur“115 abgesetzt. Mit einigem Pathos mahnt er die Theologen, aus ihren selbstbezüglichen Fachdiskursen auszubrechen. So schreibt er:

112 Vgl. MPT Kaftan, 331: Ein theologisches Programm, das bei den Gebildeten verfangen soll, kann nur unter den Bedingungen der Moderne erfolgen, die sich im „gesteigerten Individualismus, der eine andre Stellung zum Autoritätsgedanken [fordert]“, in der „andre[n] Struktur des allgemeinen philosophischen Denkens […]“ zeigen. Dazu muss der „aufgeschlossene[] Wirklichkeitssinn, der sich in den grossen, das moderne Zeitalter beherrschenden Mächten der Naturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft [offenbart]“, Berücksichtigung finden. 113 Schröder, Multiplikationsstrategien, im Erscheinen; Schröder verweist auf Daum, Wissenschaftspopularisierung, 337–376. Zu den historischen Entstehungsbedingungen vgl. auch Reimann, Volksbildungsinteresse, 225–235; zu Bousset vgl. insbesondere ebd. 232. 114 Prominente Ausnahmen führt ebenfalls Schröder auf (vgl. Multiplikationsstrategien, im Erscheinen). 115 Gunkel, Notschrei, 60.



Boussets volksbildnerisches Interesse

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Vergeßt nicht eure heilige Pflicht an eurem Volk! Schreibt für die Gebildeten! Redet nicht so viel über Litterarkritik, Textkritik, Archäologie und alle anderen gelehrten Dinge, sondern redet über Religion! […] Unser Volk dürstet nach euren Worten über die Religion und ihre Geschichte! Seid ja nicht ängstlich und glaubt ja nicht, das, was ihr erkannt habt, dem Laien verschweigen zu müssen! Wie wollt ihr Vertrauen haben, wenn ihr bei den letzten Fragen ausweicht? Wenn ihr aber schweigt, dann reden die Schwätzer.116

Bousset hat diesen Appell offensichtlich sehr beherzigt. Denn schon 1897 hat er sich als Herausgeber um eine neue Zeitschrift, der Theologischen Rundschau, verdient gemacht, für die er auch eifrig als Rezensent tätig war. Das verlagspolitische Anliegen Paul Siebecks117 hinter der Bereitstellung dieses neuen Organs war, theologische Wissenschaft und praktisches Amt nicht weiter auseinanderfallen zu lassen, sondern neugewonnene Erkenntnisse in die Pfarrerschaft liberaler Prägung zu vermitteln.118 Deutlich wird dies an Boussets Bemühen, zum Ende seiner Rezensionen immer darin zu münden, die Konsequenzen der neueren Forschungen für die praktische Arbeit zusammenzufassen.119 116 Gunkel, Notschrei, 60f; ebd. verrät Gunkel auch den von ihm avisierten Adressatenkreis: „gebildete Laien“. Auch Bousset erblickt hier ein Desiderat: Ihm ist „[...] mit erschreckender Deutlichkeit klar geworden, wie wenig die wissenschaftliche Theologie bis jetzt, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Früchte ihrer Arbeit zum Allgemeingut zu machen […]“ (Bousset, Was wissen wir von Jesus, 6). Gunkels ‚Schwätzer‘ sieht Bousset personifiziert im Bremer Pfarrer Kalthoff (vgl. ebd.), dem es um die Leugnung der Existenz des historischen Jesus zu tun war, was freilich weite Kreise der gebildeten Laien angefochten haben muss (vgl. Kap. 2.2). 117 Bernd Schröder lenkt bezüglich der Urheberschaft aller populärwissenschaftlicher Reihen zurecht den Blick auf die Initiative der Verleger Siebeck und Ruprecht bei der konkreten Umsetzung des editorischen Unternehmens einer Bücherreihe zur volksbildnerischen Multiplikation theologischen Wissens (Multiplikationsstrategien, im Erscheinen); erst durch sie konnten die vorgängigen Ankündigungen, Appelle und Desiderate Gunkels, Boussets und Weiß’ innerhalb eines programmatischen Entwurfs einer Reihe tatsächlich in thematischer Geschlossenheit durchgeführt werden. Für die Frage nach der Urheberschaft beispielsweise der Religionsgeschichtlichen Volksbücher heißt das freilich: „Schaut man auf beteiligte Personen [...] und die Vorgeschichte [...], schaut man zudem auf programmatische Äußerungen Schieles – er wollte die R[eligionsgeschichtlichen] V[olksbücher] gerade nicht als Sprachrohr ‚eine[r] ‚Schule‘ von Theologen oder ‚eine[r] ,Partei‘ von Gelehrten‘ verstanden wissen – kann man die R[eligionsgeschichtlichen] V[olksbücher] trotz ihres Titels nicht rundheraus als Initiative der Religionsgeschichtlichen Schule in Anspruch nehmen, vielmehr als bürgerorientiertes Forum des freien Protestantismus bzw. moderner Theologie insgesamt“ (ebd.). 118 Vgl. die Einleitung des ersten Bandes der Theologischen Rundschau: „[D]ie Kluft, die sich allmählich zwischen der theologischen Wissenschaft und praktischem Amt aufgethan hat“, soll durch dieses neue Zeitschriftenformat geschlossen werden [Bousset, Einführung, 1]). Graf macht darauf aufmerksam, dass „mit Ausnahme einzelner Großstädte und der von liberalen Pfarrermehrheiten geprägten Landeskirchen Badens, Thüringens, Elsaß-Lothringens und HessenNassaus nur eine Minderheit von ca. 20–25 % der Pfarrer“ (ders., Theologie, 59) durch die Publizistik liberal geprägter Theologen erreicht wurde. 119 Vgl. exemplarisch Bousset, Evangelienkritik, 50f.

38 Einleitung Konkreter wurde dann sein populärwissenschaftliches Engagement mit öffentlichen Vorträgen und Ferienkursen, die sich explizit an einen fachfremden Adressatenkreis wandten.120 Hier hatte Bousset offenkundig Lehrer höherer Schulen, wie auch den nichtakademisch ausgebildeten Volksschullehrer und eben Kreise des gebildeten Bürgertums vor Augen, die sich in den freien protestantischen Vereinen zusammengeschlossen haben.121 Insbesondere die Lehrerschaft sieht Bousset in Gefahr – verprellt durch die auf Orthodoxie zielende geistliche Schulaufsicht der Kirche122 –, sich weltanschaulich „Darwin, Haeckel, Delitzsch und Kalthoff “123 zuzuwenden. Ihnen gilt Boussets populärwissenschaftliches Schaffen. Ein Blick in das Vorwort der Göttinger ‚Lehrer‘- bzw. ‚Ketzerbibel‘124, deren neutestamentlicher Teil u. a. in die editorische Verantwortung Boussets fiel, zeigt dabei noch einmal deutlich die Intention hinter dem populärwissenschaftlichen Unternehmen. Man will nicht die ‚naive Absolutheit‘ bzw. den „Kinderglauben“ antasten, sondern

[...] denen helfen, die den Boden zu verlieren beginnen oder ihn schon verloren haben, indem wir durch offene Mitteilung des Tatbestandes ihre Zweifel und Unklarheit in Wissen und Überzeugung zu verwandeln suchen. Besonders denken wir auch an die vielen unter unseren Gebildeten, die sich reif und wissend dünken, um dem Christentum den Abschied zu geben, und die doch nur ein undeutliches oder gar verzerrtes Bild von ihm haben. Wir bitten sie: lernt erst gründlich kennen, was ihr verwerft!125

Hier wird der „Aufklärungsimpetus“126 der Religionsgeschichtlichen Schule deutlich, wie ihn auch Gerd Theißen als ein wesentliches Charakteristikum des Selbstverständnisses der Religionsgeschichtler markiert.127 Auch Bousset war ein ‚Aufklä120 Eine umfangreiche Auflistung der populärwissenschaftlichen Organe bietet Schröder, Multiplikationsstrategien, im Erscheinen. 121 Vgl. zur Zusammensetzung des Adressatenkreises der Ferienkurse Janssen, Popularisierung, 121. 122 Vgl. Bousset, Stellung, 67. Die Gefahr wird nach Bousset noch dadurch gesteigert, dass eine „hochkirchliche evangelische Richtung“, also der Inbegriff von „Orthodoxie und heteronome[r] Kirchlichkeit“, wichtige Funktionsämter inne hat, hierin sieht Bousset eine „drohende Gefahr für unsere moderne Kultur in Staat und Schule“ (RL 29). 123 Protokolle der Landessynode, 512. 124 Vgl. Janssen, Popularisierung, 132 Anm. 10. 125 Vorwort, dokumentiert bei Janssen, Popularisierung, 127. Das Unternehmen einer Neuübersetzung der beiden Testamente lässt sich in ihrem Anliegen und ihrer Durchführung nach Schröder (Multiplikationsstrategien, im Erscheinen) deutlicher der Religionsgeschichtlichen Schule zuordnen, jedenfalls besser als andere Organe, deren Autorenschaft sich eher aus der Schülergeneration der Religionsgeschichtlichen Schule und deren Umfeld zusammensetzt. 126 Hübinger, Kulturprotestantismus, 205. 127 Einschränkend wird man allerdings auch hier sagen müssen, dass die Initiative doch immer bei den Verlegern Paul Siebeck und Wilhelm und Gustav Ruprecht lag, denn jene populärwissenschaftlichen Reihen waren in ihrer thematischen Geschlossenheit fester Bestandteil der Verlagspolitik, insbesondere des Mohr Siebeck-Verlages, der sich – wie Ruth Conrad (Lexikonpolitik, 195–228), aber auch Gangold Hübinger (Kulturprotestantismus, 190–219) gezeigt haben – um eine Förderung der modernen Theologie liberaler Prägung (vgl. Conrad, 202; zu den verlags- wie



Boussets volksbildnerisches Interesse

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rer im Rahmen der Religion‘128, dessen Selbstanspruch es war, durch Bildung im Sinne einer adressatenorientierten Vermittlung von Wissen den theologischen Laien in Religionsdingen zu einem eigenen Urteil zu befähigen. Boussets populärwissenschaftliches Wirken entfaltete sich allerdings erst mit seiner Wesensschrift, die nun „einem weiten Kreis vorgelegt[]“129, aus Vorträgen entstanden ist, die Bousset offenbar im Rahmen eines Ferienkurses hielt. Auf das Betreiben seines Bruders Hermann, der seinerzeit Geschäftsführer des GebauerSchwetschke Verlags in Halle war, gab Bousset seine Vortragsmanuskripte in Druck.130 Im Kontext der Verlegung dieser Vortragssammlung muss die Idee einer weiteren Reihe gemeinverständlichen Schriften gereift sein. Das nächste populärwissenschaftliche Buch – Boussets Jesusbüchlein, das ein regelrechter Verkaufsschlager war131 – erschien dann unter der Herausgeberschaft Friedrich Michael Schieles132 in der Reihe Religiongeschichtliche Volksbücher für die deutsche christliche Gegenwart133. Bousset will hier auf dem Hintergrund des Standes der historischkritischen Jesusforschung, wie sie sich ihm 1904 darstellte, ein „einheitliches, marauch theologiepolitischen Differenzen des Mohr Siebeck-Verlages und des Vandenhoeck und Ruprecht-Verlages vgl. ebd. 226f) verdient gemacht hat. Hat Siebeck 1906 die anfangs in Halle bei dem Verlag Gebauer-Schwetschke verlegten Religionsgeschichtlichen Volksbücher übernommen, so haben sich die Gebrüder Ruprecht um die Realisierung des Projektes des Göttinger Bibelwerkes bemüht (vgl. Schröder, Multiplikationsstrategien, im Erscheinen). Der Büchermarkt für gebildete Laien war seinerzeit theologie- und kulturpolitisch, aber auch verlagsökonomisch von großem Interesse und dementsprechend heiß umkämpft, denn auch der Eugen Diederichs-Verlag versuchte ein religiös interessiertes Lesepublikum für seine Religions- und Modernedeutung zu gewinnen. Hier zeigt sich sodann die „seitenverkehrte[] Modernitätsreflexion“ des Mohr SiebeckVerlages und des Eugen Diederichs-Verlages: „[...] während Siebeck eine Reform kirchlicher In­ stitutionen im Sinne liberal-bürgerlicher Vergesellschaftung förderte und seinen Autoren wie Baumgarten und Troeltsch hierzu den politisch-publizistischen Raum bot, betrieb Diederichs deren Demontage durch eine Avantgarde ‚neuromantischer‘, ‚neuidealistischer‘ oder ‚neumystischer‘ Autoren, die antikirchliche Ideale freier Vergemeinschaftung verfochten“ (Hübinger, 194f). 128 Theißen, Schule, im Erscheinen. 129 WdR VII. 130 Zur Genese der Religionsgeschichtlichen Volksbücher vgl. Schröder, Multiplikationsstrategien, im Erscheinen; Verheule, Bousset, 34f. 131 Vgl. Verheule, Bousset, 35; Schröder, Multiplikationsstrategien, im Erscheinen. 132 Zu Schiele, dem „großen Förderer populärer Theologie um 1900“, vgl. Conrad, Lexikonpolitik, 214–224, hier 214. 133 Zu dem den Ferienkursen recht ähnlich zusammengesetzten Adressatenkreis vgl. Schröder, Multiplikationsstrategien, im Erscheinen; eine wirkliche Durchlässigkeit und Hinwendung zu bildungsfernen Schichten war freilich nicht beabsichtigt, man blieb mit Ausnahme der Volksschullehrer und der Beamtenschaft im akademischen, bildungsbürgerlichen Milieu. Ungeachtet dessen macht Schröder auf den „Perspektivwechsel“ (ebd.) der Religionsgeschichtlichen Volksbücher aufmerksam, der sie nicht einfach zu einem volksnahen Organ zur Einspeisung akademischen Wissens macht, sondern das – orientiert an Fragen der Gegenwart – wissenschaftlich Rechenschaft geben will. Erst hierin zeige sich ihr volksbildnerischer Impetus; vgl. nur den Klappentext der Religionsgeschichtlichen Volksbücher, dokumentiert bei Janssen, Popularisierung, 116: „Die Absicht der Volksbücher ist lediglich die: auf offene Fragen – offen und bescheiden wissenschaftlich begründete Antworten zu geben.“

40 Einleitung kantes Bild“134 von der Person Jesu zeichnen. Auch wenn er den Gang der Forschung nicht explizit macht, so setzt sein Entwurf jenes Bildes diesen voraus. Volksbildnerisch wird er aber darin, indem er den Fokus der Darstellung auf das für die Adressaten auch gegenwärtig religiös Bedeutsame in diesem Bild legt. Aber nicht nur um eine populäre Darstellung der historisch-kritischen Forschung der Geschichte des Urchristentums bemühte sich Bousset, sondern auch um eine persönliche Rechenschaft der eigenen neuprotestantischen Frömmigkeit mit ihrem doppelten Anliegen einer religiösen Selbstdeutung, die sich selbst als legitime Ausdrucksgestalt christlicher Frömmigkeit unter den Bedingungen der Moderne begreifen will, und dem Willen zur Koexistenz mit dem modernen szientistischen Bewusstsein. Hat Bousset insbesondere auf Ebene der Theologie für sein neufriesianisch grundiertes Programm eines religiösen Liberalismus geworben, so hat er sich allerdings nicht mit den Binnendiskursen der ‚scientific community‘ beschieden. Beispielsweise hat Bousset im Rahmen von Ferienkursen auch – analog seinem theologischen Interesse für religionsphilosophische Fragen – Vorträge zu den „Hauptproblemen der Religionsphilosophie“ oder aber in apologetischer Stoßrichtung zum Thema „Christentum und Monismus“135 gehalten, denn ihm stand deutlich vor Augen, dass letztlich nur über den Weg der vernunfttheoretischen Begründung der Bewusstseinstatsache ‚Religion‘ die Gebildeten reflexive Gewissheit erlangen konnten. Wenngleich Bousset in einem Rückblick 1919 auch selbstkritisch konstatieren muss, dass diese volksbildnerischen Anregungen „nur sehr selten“ „zu dem Entschluß dauernder und ernstlicher Mitarbeit im Rahmen der Kirchen“136 führte, so kann allerdings kein Zweifel bestehen, dass Bousset exakt mit jenen populärwissenschaftlichen Schriften eine Reintegration des gebildeten Bürgertums in die christliche Lebenswelt und ihrer kirchlichen Gemeinschaften erstrebte. Auch was die Auflagenzahl anlangt, wird man hinsichtlich der Religionsgeschichtlichen Volksbücher von einem verlegerischen Erfolg sprechen dürfen, von denen Boussets Beiträge sogar in mehrere Sprachen übersetzt wurden.137 Ob Bousset mit diesem volksbildnerischen Engagement allerdings zum „Schrittmacher“ einer „populartheologischen Vortragsbewegung“138 wurde, muss mit Bernd Schröder insofern 134 Bousset, Jesus, I. 135 Vgl. Janssen, Popularisierung, 120; beide Vorträge sind nicht mehr erhalten. 136 Bousset, Stellung, 59; zum ausbleibenden Erfolg der Religionsgeschichtlichen Volksbücher vgl. Conrad, Lexikonpolitik, 220f. 137 Vgl. Verheule, Bousset, 45; Zu den vergleichsweise hohen Auflagenzahlen beispielsweise von Boussets Jesus vgl. Schröder, Multiplikationsstrategien, im Erscheinen; Hübinger, Kulturprotestantismus, 205 mit Anm. 48; 214. 138 Rühle, Verlag, 116. Neben Bousset erkennt Rühle insbesondere in Heinrich Weinel einen weiteren Schrittmacher jener Bewegung. An Weinel und an der thematischen Ausrichtung der von ihm herausgegebenen Lebensfragen lässt sich jedoch nach Bernd Schröder noch einmal präziser erfassen, dass die populärwissenschaftliche Vermittlung kein Alleinstellungsmerkmal der Religionsgeschichtlichen Schule war, sondern deren Initiative vielmehr aufseiten der Verlage lag; vgl.



Kirchenpolitisches Engagement

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modifiziert werden, dass Bousset zwar in der Realisierung der populärwissenschaftlichen Vorhaben eine immense Wirkung entfaltete, ungeachtet dessen wird man sagen müssen, dass die Initiative hingegen in den Bereich der Verlagspolitik insbesondere des Mohr Siebeck-Verlags fiel.

1.4 Kirchenpolitisches Engagement Die Folgen von Boussets Bemühen um die religiös interessierten Gebildeten geraten noch auf einer weiteren Ebene in den Blick, nämlich durch sein kirchenpolitisches Handeln als weltliches Mitglied der Hannoveraner Landessynode. Mehrfach war Boussets Theologie Gegenstand von kirchlichen Resolutionen, sodass Bousset vor allem für Akzeptanz und Verständnis seiner Theologie in der Synode werben wollte.139 Dies wurde fraglos auch durch seine Einwürfe zu den vielen ‚Fällen‘, in denen er sich gegen jeden Bekenntniszwang aussprach, wie beispielsweise im Fall der Amtsenthebung des Osnabrücker Pfarrers Hermann Weingart, noch virulenSchröder, Multiplikationsstrategien, im Erscheinen: „Auch in seinem Falle ist indes neben der neutestamentlichen Expertise eine besondere Affinität zu Erwachsenenbildung und Religionspädagogik zu beobachten: Weinel war (zusammen mit Wilhelm Bousset u. a.) 1911 Mitbegründer des ‚Bundes für Reform des Religionsunterrichts‘ und gab als solcher die ‚Dresdener Leitsätze‘ dieses Bundes u. d. T. ‚Zur Reform des Religionsunterrichts‘ heraus (Göttingen 1911). Er war ein engagierter Vortragsreisender und leitete über Jahre die 1888 ins Leben gerufenen Jenaer ‚Ferienkurse für Damen und Herren‘. Er gab mit den ‚Quellenheften für die Volkshochschule‘ und den ‚Religionskundlichen Quellenheften‘ zwei wichtige Arbeitshilfen für die Erwachsenenbildung und den Religionsunterricht heraus. – Dies spricht dafür, Weinel weniger als Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule, sondern als wachen Zeitgenossen und (religions-)pädagogisch interessierten Wissenschaftler für die ‚Lebensfragen‘ engagiert zu sehen. Für diese Lesart spricht zudem, dass von den 28 Publikationen dieser Reihe nur neun, höchstens zehn als ‚religionsgeschichtlich‘ i. e. S. anzusehen sind.“ Dass Bousset offenbar an religionspädagogischen Fragen interessiert war, legt neben seinem oben skizzierten grundsätzlichen Engagement für die Bildung der Lehrerschaft auch die Publikation seines Aufsatzes Noch einmal Jesus und Paulus in der Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht nahe. 139 Zu Boussets kirchenpolitischem Handeln als Synodaler vgl. Verheule, Bousset, 37–42; Merk, Bousset, 170. Die Ablehnung, die Bousset seitens des konservativen Flügels der Landeskirche erfuhr, lässt sich an einem offenen Brief von Pastor Hermann Cromes in der Christlichen Welt aus dem Jahr 1905 leicht exemplifizieren. Nach Crome unterminiere Boussets „radikal-moderne[] Theologie“ mit ihrem „neuen Glauben ohne die wunderbaren Dogmen“ das Gebet zum Herrn, die eigentlich „fundamentale Position des Christentums“, und müsste dies als „Götzendienst“ (Crome, Gemeinsames, 245f) abtun. Dass beide Positionen innerhalb der Kirche nebeneinander bestehen können, hält Crome sodann für einen Selbstwiderspruch einer kirchlichen Bekenntnisgemeinschaft und fordert, dass Bousset und Weinel mit ihren Anhängern eine selbständige Gemeinschaft nach dem Vorbild der Unitarier (vgl. ebd.) bilden sollen. Bousset antwortet noch im übernächsten Heft, indem er zunächst konzediert, dass er in der Tat „ein Gebet zu Jesus im strengen Sinn des Wortes – nicht etwa ein geistiges Reden mit Jesus –“ persönlich ablehnt; er will aber hier niemanden zu diesem Standpunkt nötigen, sondern meint, dass die evangelische Kirche durchaus beiden Frömmigkeitsstilen Platz bietet (Verwahrung, 290).

42 Einleitung ter.140 Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit musste Bousset entsprechend regelmäßig vor der Landessynode ausräumen. Weniger Boussets exegetische Schriften, die freilich für die bekenntnisgebundenen evangelischen Kirchen allein schon große Irritationen erregen mussten, gerieten in den Fokus der Synode. Da sie nur innerhalb der Theologie rezipiert wurden, drohte gewissermaßen ihr kritisches Potential innerhalb der theologischen Gelehrtenwelt zu verhallen, ohne eine Breitenwirkung zu entfalten. Gefährlich wurde Boussets ‚radikal-moderne Theologie‘141 erst, indem sie vermittels der oben dargestellten Organe volksbildnerisch werden wollte. Und so sprach die Landessynode das Anathema über die religionsgeschichtliche Theologie, indem sie eine Resolution erließ:

Die Landessynode erkennt es als eine schwere Gefährdung der Kirche, daß neuerdings durch öffentliche, an verschiedenen Orten gehaltene Vorträge und durch populäre Schriften in die Gemeinden ein Christentum hineingetragen wird, welches die Sündlosigkeit des Herrn in Zweifel zieht, aus dem Tod Christi das ‚für euch, für unsere Sünden‘ hinwegnimmt und in seiner Auferstehung wesentlich nichts anderes sieht, als das Wiederaufleben seines Lebensbildes in den Herzen der Jünger, ein Christentum, welches mit den Grundlagen der apostolischen Verkündigung des Evangeliums (1Kor 15, V. 3.4) und mit dem vornehmsten Glaubensartikel der evangelisch-lutherischen Kirche unverträglich ist.142

Bousset selbst charakterisiert in einer Stellungnahme vor der Landessynode am 8. Dezember 1905 die Resolution als eine „Karrikatur“143, die gerade nicht die Anliegen der modernen Theologie, der sich Bousset zugehörig empfindet, trifft. Weder leugnen Bousset und die übrigen Verfasser der Religionsgeschichtlichen Volksbücher gemäß Boussets Darstellung die ‚Sündlosigkeit des Herrn‘ noch die soteriologische Dimension des Todes Jesu, wenngleich der Tod von der modernen Theologie als eine „Zusammenfassung und Vollendung seines ganzen Wirkens“144 gedeutet werde. Die Synode verkennt nach Bousset den „Ernst[] der Lage“, wie er sich in der „Entchristlichung der breiten Volksmasse“, die an den „bisherigen Formen christli140 Vgl. Hübinger, Kulturprotestantismus, 129f; insbesondere Boussets Ablehnung einer Bekenntnisverpflichtung forderte die Gegenrede des Synodalen Heintze heraus, der hierin sicher repräsentativ für einen Großteil der Landeskirche gewesen ist, vgl. hierzu Verheule, Bousset, 39f. Nach Heintze steht Bousset mit den Verfassern der Religionsgeschichtlichen Volksbücher nicht mehr innerhalb des Christentums, denn er verkündigt einen anderen Jesus als die Kirche (vgl. Protokolle der 7. ordentlichen Landessynode der evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers, 473). 141 S. o. Anm. 139. 142 Protokolle, 454. 143 Protokolle, 457. 144 Protokolle, 458. In dieser Deutung des Todes Jesu als Berufsgehorsam will Bousset allerdings unbedingt eine „Wirklichkeit für uns“ (ebd.) erblicken. Demgegenüber sei das kirchliche Satisfaktionsdogma nur mehr eine „beschränkte und vergängliche“ „Ausgestaltung“ (ebd. 459) jenes Geschehens.



Bousset als Mitglied und ‚Haupt‘ der Religionsgeschichtlichen Schule

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chen Glaubens irre geworden sind“145, zeigt, wenn sie meint, dass man durch Resolutionen den Gang der Dinge aufhalten könne.146 Diesen fasst Bousset krisendiagnostisch als „Prozeß der Gährung“147, dem eine „starke Umwandlung der Formen des alten Glaubens“148 nachfolgen muss, soll denn gesichert sein, dass jene Volksmassen weiterhin der geschichtlichen Lebenswelt des Christentums verbunden bleiben. Unhintergehbare Ermöglichungsbedingung ist dabei für Bousset, dass die Kirche sich, wie gezeigt, in eine Volkskirche umgestaltet, die auch den modernen Frommen Raum bietet. Dies schließt allerdings konkrete Partizipationsmöglichkeiten ein, in denen Boussets religiöser Liberalismus Gehör finden soll.149 Über den offenen Diskurs „durch Hervortretenlassen der Gegensätze [sc. zwischen rechtem und linkem Flügel], durch persönliche Aussprache und Sichkennenlernen“ erhoffte Bousset eine Plausibilisierung für die Notwendigkeit der Erneuerung der Formen christlicher Frömmigkeit. Dass Bousset sich seiner Landeskirche trotz aller offenkundiger Differenzen tief verbunden fühlte, zeigt sodann sein pastorales Engagement, regelmäßig für ein mehr liberales Monatsblatt der Landeskirche Hannovers, der Kirchlichen Gegenwart, Kurzandachten zu schreiben, die dann später in einer Predigtsammlung von Boussets Frau Marie herausgegeben wurden.150 In diesen Dokumenten gewinnt die tiefe christliche Frömmigkeit Boussets eine deutliche Kontur.

1.5 Bousset als Mitglied und ‚Haupt‘ der Religionsgeschichtlichen Schule Als populärwissenschaftlicher Schriftsteller wurde Bousset in der kirchlichen Öffentlichkeit, wie gezeigt, als Vertreter einer ‚radikal-modernen‘ Theologie wahrgenommen. Innerhalb der Theologie gewann diese Strömung der zeitgenössischen Theologie sodann Gestalt in der sogenannten Religionsgeschichtlichen Schule, die auf Boussets theologisches Denken außerordentlich fruchtbar wirken sollte. Um Boussets Denkweg nachzeichnen zu können, ist es daher sinnvoll und geboten, innerhalb dieser Einleitung den theologiegeschichtlichen Ort der Religionsgeschicht145 Protokolle, 455. 146 Nach Bousset handelt es sich hierbei um tiefgreifende Umformungsprozesse, die sich nicht einfach „durch Majorisierung auch einer noch so kleinen Minorität“ (Protokolle der 7. ordentlichen Landessynode der evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers, 461) erledigen lassen. Hierin liegt gleichsam das Grundübel von Resolutionen, die gar nicht anders wahrgenommen werden können als der autoritäre Richterspruch einer elitären Minderheit, vgl. ebd. 461. 147 Protokolle, 463. 148 Protokolle, 463. 149 Vgl. RL 39: „Er [sc. der religiöse Liberalismus] soll sich innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft das Recht der freien Meinungsäusserung wahren und eine Duldung seiner Eigenart fordern, auch wenn diese noch verklausuliert und unter noch so vielen Kautelen ausgesprochen wird. Er soll eine offene Sprache führen, Kampf und Ärgernis nicht scheuen […].“ 150 Vgl. Bousset, Wir heißen euch hoffen.

44 Einleitung lichen Schule wie auch deren theologische Anliegen unter besonderer Berücksichtigung Boussets kurz darzustellen. Liegen auch die genaueren Umstände der Anfänge der Religionsgeschichtlichen Schule immer auch noch weitestgehend im Dunkeln,151 so lässt sich ab den 1890er Jahren der freundschaftliche Zusammenschluss152 junger Göttinger Privatdozenten beobachten. Ernst Troeltsch gewährt in seinem Nachruf auf Wilhelm Bousset in der Christlichen Welt einen Einblick in diese Jahre der Entstehungszeit der „‚kleine[n] Göttinger Fakultät‘“, die Troeltsch als Jahre eines „gründlichen Wechsel[s] der Dinge“153 erlebt hat. In jenem „jugendlichen Kreise gleichstrebender Freunde“154, der in der Theologiegeschichtsschreibung in seiner Ausdehnung mitunter stark fluktuiert, bildeten die beiden Erlanger und Göttinger Studienfreunde Troeltsch und Bousset gemeinsam mit Johannes Weiß155, Hermann Gunkel, Heinrich Hackmann und William Wrede die Keimzelle der späteren Religionsgeschichtlichen Schule, wenngleich Johannes Weiß sich schon deutlich früher als Bousset und Troeltsch habilitierte und Gunkel schon 1889 nach Halle wechselte.156 Eigentümlich ist den Akteuren dieser Gruppe jedenfalls, dass sie sich zwischen 1888 und 1893 in ihren Promotionsverfahren einander sekundierten.157 In den folgenden Jahren wurden auch Troeltsch (1892) und Wrede (1893) auf Extraordinariate in Bonn und Breslau berufen – einzig Bousset blieb in Göttingen und bildete einen 151 Am besten informiert immer noch Özen, Wurzeln über die Anfänge der Religionsgeschichtlichen Schule. Instruktiv sind weiterhin Sinn, Christologie und Lehmkühler, Kultus. Zur besonderen Rolle, die Bousset hier für die jüngeren Sympathisanten der Religionsgeschichtlichen Schule einnahm, vgl. Özen, Wurzeln, 47–51 wie auch Lueken, Anfänge, 286; nach Reitzenstein hat Bousset „[...] zuletzt für viele wohl als der Führer [sc. der Religionsgeschichtlichen Schule] gegolten“ (ders., Bousset, 3). 152 Hierzu vgl. Sinn, Christologie, 9; Gunkel hebt ebenfalls auf die „wechselseitige Freundschaft“ (ders., Bousset, 8) unter den jungen Gelehrten als einendes Band der Religionsgeschichtlichen Schule ab. 153 Troeltsch, Fakultät, 281. 154 Bousset, Vorwort, 3. 155 Dass Weiß durchaus von Bousset und Troeltsch mit einer gewissen Reserve betrachtet wurde, hat Graf (Systematiker, 259–265) gezeigt. Weiß selbst bekennt sich jedoch eindeutig zum Programm der Religionsgeschichtlichen Schule (vgl. Weiß, Heitmüller, hier 186–189; Sinn, Christologie, 12 Anm. 61). 156 Vgl. hierzu Graf, Systematiker, 281. Reitzenstein, der sich auf die mündliche Mitteilung seines Freundes Bousset berief, macht darauf aufmerksam, dass erst auf Geheiß der von Albert Eichhorn stark beeinflussten, „älteren Freunde Boussets“ Gunkel und Wrede dieser dem Freundeskreis, aus dem die Religionsgeschichtliche Schule erwachsen sollte, beitrat (ders., Bousset, 3; vgl. auch Gunkel, Bousset, 8). 157 Einen Versuch einer Rekonstruktion dieser Frühzeit vermittels der Promotionsthesen bietet Graf, Systematiker. Graf macht ferner darauf aufmerksam, dass der Freundeskreis sich vielfach gegenseitig in den einschlägigen Periodika rezensierte: „Da die jungen Göttinger signifikanterweise von dieser Möglichkeit intensiven Gebrauch machten und sich nicht scheuten, sich in den Rezensionen zueinander zu bekennen, ist diesen Texten zur Bestimmung dessen, was sie theologisch miteinander verband, eine sehr viel größere Bedeutung als bisher beizumessen“ (ebd. 290 Anm. 172).



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ersten Schülerkreis um sich, innerhalb dessen sich u. a. auch Wilhelm Heitmül­ler bewegte.158 In diesen Dunstkreis wird man auch Paul Wernle – und einige mehr159 – einordnen müssen, wenngleich er sich später von der Religionsgeschichtlichen Schule und insbesondere von seinem Freund Bousset nachdrücklich distanzierte.160 Es ist offenkundig schwierig die Ränder der Religionsgeschichtlichen Schule trennscharf abzugrenzen. Sodann verleitet der soziologische Begriff einer Schulbildung dazu, die „internen Differenzen“ vorschnell abzublenden, wie Johann Hinrich Claussen richtig zu bedenken gibt.161 Dieses Unbehagen spürten scheinbar auch schon die Akteure selbst. Denn sowohl Bousset als auch Gunkel eignen sich den Begriff mit großer Zurückhaltung an.162 Schon allein das Fehlen einer eindeutig identifizierbaren Lehrergestalt erschwerte die Rede von einer theologischen Schulbildung.163 Angesichts der oben angeführten internen Differenzen kann durchaus gefragt werden, worin nun das gemeinsame Anliegen lag, „das dazu führte, daß man schließlich ‚wir‘ sagte.“164 158 Johannes Weiß wurde 1895 nach Marburg auf den neutestamentlichen Lehrstuhl berufen und Heinrich Hackmann ging als Pfarrer nach Shanghai. 159 Sympathisanten und an den Rändern der Gruppe stehende Akteure u. a. aus der Altphilologie sind bei Sinn, Christologie 12–14 aufgelistet. Eine Sonderrolle bildet Rudolf Otto, der zwar vielerorts als der andere Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule neben Ernst Troeltsch angesehen wird. Martin Laube – und vor ihm schon Heinrich Kahlert (vgl. ders., Held) – hat unlängst gezeigt, dass Otto trotz des mit Bousset gemeinsamen Werbens für den Neufriesianismus in wesentlichen Punkten vom theologischen Programm Boussets und Troeltschs abweicht (vgl. Laube, Otto). 160 Vgl. hierzu den von Alf Özen herausgegebenen Briefwechsel der beiden Freunde (Özen, Bousset). 161 Claussen, Jesus-Deutung, 30. Auch Graf wendet ein, dass entgegen der Funktion „theologiehistorischer Klassifikationsbegriffe“ dem Begriff Religionsgeschichtliche Schule ein „Mangel an Eindeutigkeit“ eignet (ders., Systematiker, 239). Zu den unterschiedlichen Anliegen innerhalb der Religionsgeschichtlichen Schule vgl. Troeltsch, Dogmatik, 502–504, der „zwei Interessenrichtungen“ erkennt, die man grob mit den historischen Disziplinen und der systematisch-theologischen Disziplin der theologischen Enzyklopädie identifizieren kann. Eine Auflistung der unterschiedlichen Richtungen bietet ferner Wrede, Studium, 65–67. 162 Vgl. MuR 3: Bousset spricht von einem „nicht gerade sehr glücklichen Namen“, der „[...] nun einmal aufgekommen ist.“ Scheinbar ist die Spezifizierung des jungen Forscherverbundes als einer Schule eher eine Fremd- als eine Selbstbeschreibung (so auch Sinn, Christologie, 6; Lehmkühler optiert hier anders [Kultus, 25]; zur Heterogenität dessen, was unter dem „Schlagwort“ Religionsgeschichtliche Schule summiert wird, vgl. auch Murrmann-Kahl, Heilsgeschichte, 300f). Zur Datierung: Schon 1895 konnte Troeltsch von einer „jungen Göttinger Schule“ reden (vgl. den Brief an Bousset vom 23. Juli [Dinkler-Schubert 27]) und Boussets Bruder Hermann benutzte 1903 den Begriff, ohne ihn gesondert einzuführen, in einem Brief an den Göttinger Verleger Gustav Ruprecht (dokumentiert in Lüdemann/Schröder, Schule, 16). Offenbar stand der Begriff ‚Religionsgeschichtliche Schule‘ also schon vor 1903 im Gebrauch. 163 Vgl. Gunkel, Bousset, 8: „Eine seltsame ‚Schule‘ freilich war es, die so entstand. Eine Schule ohne Lehrer und zunächst auch ohne Schüler.“ 164 Graf, Systematiker, 240. Graf zitiert dabei Gunkel, Reischle, 1109.

46 Einleitung Nimmt man das Selbstverständnis der Akteure ernst, dann gerät die Religionsgeschichtliche Schule als eine „innertheologische Bewegung“165 in den Blick, deren Anliegen zunächst darin bestand, sich von den ‚vermittlungstheologischen‘ Richtungen der liberalen Theologie, insbesondere der Ritschlschen Schule abzugrenzen – ihrem Selbstverständnis nach war die Religionsgeschichtliche Schule Ritschls „letzte Schule“166, die gleichzeitig dessen dogmatische Engführungen und historiographische „Gewaltsamkeit“167 überwand. Die Lossagung von der Ritschlschen Schule verlief neben den oben schon angedeuteten systematisch-theologischen Vorbehalten gegenüber ihrer Theologie168 vor allem über das strenge Einfordern der historischen Methode für die Erforschung des Neuen Testaments.169 Haben Ritschl und seine Schule noch vornehmlich das Neue Testament auf dem Hintergrund der Propheten gedeutet,170 so fordert das methodische Prinzip der Korrelation – auf das die historische Methode nach Troeltsch neben den Prinzipien der Kritik und der Analogie aufbaut171 –, dass die historische Individualität des Ur165 Gunkel, Richtungen, 66; entsprechend ist es der Religionsgeschichtlichen Schule auch nach Troeltsch zuerst um die „prinzipielle Auseinandersetzung mit der Historisierung der Theologie, mit dem Geist der psychologischen Analyse und des entwicklungsgeschichtlichen Relativismus“ (Troeltsch, Lage, 689) zu tun. Das „Programm einer neuen dogmatischen Richtung“ (ebd.) strebt sie nicht an, lediglich die offenkundigen wissenschaftlichen wie theologischen Mängel der Ritschlschen Theologie will sie durch die prinzipielle Einführung der historischen Methode in die Theologie überwinden. 166 Troeltsch, Fakultät, 282. 167 Gunkel, Bousset, 4: es sei nach Gunkel ferner „kein Zufall, daß die jüngere Schule sich gerade im Gegensatz zu dieser Texterklärung entwickelt hat“ (ebd.). Zur sich von der Ritschlschen Schule emanzipierenden Urchristentumsdeutung vgl. das prägnante Votum Ernst Troeltschs in einem frühen Brief an Bousset vom 5. August 1898 (Dinkler-von Schubert 34): „Bezüglich des Urchristentums […] habe ich mich von den Harnack-Ritschlschen Formeln überhaupt sehr losgemacht. Es ist doch ganz falsch, den Unterschied von Urchristentum und Katholizismus so zu konstruieren, dass dort die durch den Zusammenhang mit alttestamentlicher Gedankenwelt geschützte rein praktisch religiöse, wohl gar in Kantischen Werturteilen verlaufende und daher normative Philosophie und Spekulation vom Christentum fernhaltende Form des Christentums gegeben sei und hier der griechisch-philosophische Intellektualismus.“ 168 Eine kurze Skizze bietet Wrede, Studium, 66. Vgl. hierzu Kap. 2.2.1. Ferdinand Kattenbusch, der sich selbst als Ritschlianer der älteren Generation – in programmatischer Abgrenzung zur jüngeren Generation um Ernst Troeltsch – einführt, attestierte Troeltsch und den anderen Anhängern einer rein historisch ausgerichteten Theologie ein „Bedürfnis ‚modern‘ zu sein“ und damit die Sache der Theologie an den Zeitgeist zu verraten (ders., Sachen, 77). Zu den Positionskämpfen in der Ritschlschen Schule, die in ein Nebeneinanderexistieren der Ritschlschen Schule und der Religionsgeschichtlichen Schule mündeten, vgl. Rendtorff, Einleitung, 1–50, bes. 4–15. 169 Vgl. nur Troeltsch, Lage, 689: „Es gilt, die allgemeinen religionsgeschichtlichen Methoden, denen wir außerhalb des christlichen Gebietes alles verdanken, und denen auch das Maß geschichtlichen Verständnisses, das wir auf christlichem Gebiet besitzen, teils willig, teils widerwillig verdankt wird, ohne jeden Vorbehalt anzuwenden und zu sehen, was dabei rauskommt, eine Aufgabe deren Lösung von der Dogmatik der Schule Ritschls überall im Keim erstickt wird.“ 170 Vgl. RuT 41. 171 Als Beleg, dass auch Bousset sich im Anschluss an Troeltsch dieser Begriffe bedient, vgl. MPT Kaftan, 337.339; der vielfach anzutreffende Vorwurf, die Religionsgeschichtler würden die



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christentums nur aus der unmittelbar vorausgehenden Erscheinung des zwischentestamentarischen Judentums, dem sogenannten ‚Spätjudentum‘172, begreiflich wird. Mit den soeben aufgeführten Prinzipien der historischen Methode ist gleichzeitig ein Grundzug des Überzeugungssets der Religionsgeschichtlichen Schule benannt. Denn entgegen der dogmatischen Methode der Ritschlschen Schule war es innerhalb der historistischen Weltanschauung, aus der die historische Methode hervorging, unmöglich geworden, die Geschichte in eine Heils- und eine Profangeschichte aufzuteilen.173 Für die Theologie bedeutete die Rezeption dieser Methode „eine prinzipielle Veränderung der gesammten Denkweise und der ganzen Stellung zum Gegenstand.“174 Genese und Geltung traten fortan programmatisch auseinander. Im Rahmen der historischen Methode konnte fortan kein singulärer Punkt mehr – wie Jesu „sittliche[s] Charakterbild“ oder seine Auferstehung175 – aus der geschichtlichen Korrelation herausgenommen und damit absolut gesetzt werden. Analogizität einer Erscheinung sogleich als Abhängigkeit der biblischen Religion von analogen Erscheinungen aus der biblischen Umwelt deuten (vgl. nur Reischle, Theologie, 30), geht an deren Selbstverständnis vorbei, vgl. nur WdR 90: „Die Propheten Israels für geistige Schüler Babylons erklären, das hieße etwa behaupten, der Bildhauer stände in geistiger Abhängigkeit vom Steinbrucharbeiter.“ Michael Murrmann-Kahl hat jüngst erneut stark gemacht, dass insbesondere Bousset niemals von einer direkten Abhängigkeit von einer religionsgeschichtlichen Parallele spreche. Die „Transformation in den christlichen Kontext“ als „Verbesonderung und Umbildung (innere Transformationsprozesse) durch die christliche Rezeption“ erfährt bei Bousset stets ausführliche Berücksichtigung (ders., Kultfrömmigkeit, 118 mit ebd. 113). Zur heuristischen Kategorie der Analogie vgl. die Kritik Harnacks (ders., Lehrbuch, 112): Die Religionsgeschichtler würden das älteste Christentum auf die Stufe einer alogischen, naiv-superstitiösen, mystisch-spekulativen Religion herabdrücken. „Aber die DG hat keine Veranlassung, von ihrer bisherigen Betrachtung abzugehen und ihre Maßstäbe vom Wesentlichen und Unwesentlichen zu ändern.“ 172 Zu diesem tendenziösen Begriff vgl. Kap. 2.1.5. 173 Zur weltanschaulichen Positionalität der historischen Methode vgl. Troeltschs programmatischen Aufsatz Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie: Die historische Methode schließt nach Troeltsch „eine bestimmte Stellung zum geistigen Leben überhaupt“ ein und wird damit zu „eine[r] Methode, Vergangenheit und Gegenwart aufzufassen.“ Eine derartige, das geistige Leben vollständig in sich hineinziehende und zugleich umformende Methode ist freilich – wie Troeltsch offen zugibt – von einem bestimmten philosophischen Ideal getragen, dem Historismus, der am Ende des 19. Jahrhunderts als „eigentümlich moderne Denkform“ (ders., Krisis, 247) das geltende wissenschaftstheoretische Leitparadigma war. Kennzeichnend für den Historismus – ganz gleich in welchen Spielarten er vertreten wurde – war die „grundsätzliche [...] Historisierung unseres Wissens und Denkens“ (ders., Methode, 6). Innerhalb dieser geschlossenen Weltanschauung gab es keinen Punkt in der Geschichte, der dieser entnommen wäre bzw. der nicht mit dem Strom der Geschichte, dem Werden und Vergehen, vielfältig korreliere und damit durch diese bedingt sei. 174 Troeltsch, Methode, 8. 175 Troeltsch, Methode, 5. Auf allen anderen Gebieten der Christentumsgeschichte haben seine Gegner, so Troeltsch, inzwischen die historische Methode zugelassen (vgl. ebd.), und trotzdem haben sie „[...] von dem alten Baum [sc. der dogmatischen Methode] sich ein vertrocknetes kleines Reis [geschnitten], an dem sie das Wachsthum der Frucht ebenso erwarten dürfen meinen“ (ebd. 15). Troeltsch moniert an einer derartigen Position vor allem, dass beide Methoden hier miteinander vermengt werden (ebd. 17) und so ein apologetischer Schutzwall um die letzten von

48 Einleitung Für die historische Erforschung des Neuen Testaments bedeutete dies freilich, dass gleichsam nach vorne und nach hinten die „Schranken“176 eingerissen wurden, die vormals das Neue Testament noch einem geschichtlichen Verständnis entzogen. Denn mit dem Prinzip der Korrelation konvergiert notwendig die Aufhebung der Kanonizität des Neuen Testaments, sodass das neutestamentliche Zeitalter organisch an die altkirchliche Dogmengeschichtsschreibung angeschlossen wurde.177 Es galt nunmehr durch einen religionsgeschichtlichen Vergleich zunächst in religionstheoretischer Hinsicht zu einem „Verständnis ‚der Religion‘ überhaupt“178 zu gelangen, um sodann die eigene Religion, das Christentum bzw. dessen Wesen, als die höchste Ausgestaltung der religionspsychologisch beschreibbaren Bewusstseinstatsache ‚Religion‘ aufzuweisen, wie es Troeltsch dann in seiner Absolutheitsschrift durchzuführen versuchte.179 War die Erforschung der neutestamentlichen Gedander historischen Methode noch nicht eroberten Gebiete der Christentumsgeschichte gezogen wird. Troeltsch ist sich aber gewiss: „Die innere Logik der einmal angewendeten [sc. historischen] Methode zwingt vorwärts, und alle von der Theologie aufgebotenen Gegenmittel, die diese Methode unschädlich machen oder auf ein beschränktes Gebiet einzwängen wollen, zerbrechen unter den Händen.“ (ebd. 10). Und so fordert Bousset dann auch 1904, nun endlich diese hinsichtlich ihres Erkenntniswertes unübertroffene historische Methode auch auf „die klassische Zeit der Anfänge des Christentums“ (RuNT 271) anzuwenden. 176 RuNT 266. 177 Vgl. nur Boussets Kyrios Christos; hier wird programmatisch die Entwicklung des urchristlichen Christusglaubens bis zu Irenäus rekonstruiert, denn nur hier ließe sich nach Bousset ein sachlich gebotener „Abschluß“ jener Entwicklung aufweisen (vgl. KC VIII; vgl. ebd. 334). Die Religionsgeschichtler sind nicht mehr bereit, sich an ein „Urteil [zu binden], das erst eine spätere Zeit über diese [sc. neutestamentliche Literatur] gefällt hat“ (MuNT 3) und verweisen damit auf die chronologisch nachgängige Kanonisierung des biblischen Kanons durch die Kirche. 178 Wrede, Studium, 65. Zum essentialistischen Religions- und Christentumsbegriff der Religionsgeschichtlichen Schule vgl. Sparn, Erbe, im Erscheinen; vgl. ferner Alkier, Hermeneuten, im Erscheinen, der ebenfalls auf die Zentralstellung eines allgemeinen Religionsbegriffs im Hintergrund des religionsgeschichtlichen Denkens aufmerksam macht: „An die Stelle von ‚scriptio sui interpres‘ tritt das Prinzip ‚religio sui interpres‘“. 179 Vgl. Murrmann-Kahl, Heilsgeschichte, 302. Dass die Religionsgeschichtliche Schule also entgegen den Anwürfen Julius Wellhausens kein letztlich nur antiquarisches Interesse an der Religionsgeschichte hat (Wellhausen, Skizzen, 33; Bousset nimmt dies in RuNT 277 auf; vgl. auch Klatt, Gunkel, 70–74), lässt sich exemplarisch an Troeltschs Promotionsthesen belegen: „Die Theologie ist eine religionsgeschichtliche Disziplin, doch nicht als Bestandteil einer Konstruktion der universalen Religionsgeschichte, sondern als Bestimmung des Inhalts der christlichen Reli­ gion, durch Vergleichung mit den wenigen großen Religionen, die wir genauer kennen“ (ders., Thesen, 70). Das praktische Interesse, das hinter dem religionsgeschichtlichen Vergleich steht, ist auch Boussets Wesensschrift leicht abzuspüren, bestand doch das praktische Ziel der historischen Methode letztlich in der Hoffnung und Erwartung, an die Stelle der kirchlichen Lehre eine „menschenfreundliche und adressatengeneigte Art von Theologie setzen zu können“ (Rendtorff, Sauerteig, 11), die die unterschiedlichen Geltungsansprüche der Religionen zulassen konnte und dennoch zugleich die „Anschauung vom Christentum als einer wirklichen Offenbarung Gottes und der Gewißheit, dass er [sc. der Fromme] eine höhere sonst nirgends finden kann“ (Troeltsch, Absolutheit, 204) aufzuweisen imstande ist. Trotz des Anliegens eines rein historischen Verständnisses der Bibel und der darin bezeugten biblischen Religion waren die meisten der Religionsge-



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kenwelt vermittels eines religionsgeschichtlichen Vergleichs auch nicht völlig neu – wie auch Bousset zugesteht180 –, so ist der „Grad der Intensität“181 des religionsgeschichtlichen Arbeitens hingegen schon ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber der historischen Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts. Ungeachtet dessen, dass nirgends über die Methodologie des religionsgeschichtlichen Vergleichs gesondert reflektiert wurde – weswegen Stefan Alkier mit einigem Recht die Religionsgeschichtler „hermeneutische Eklektiker“182 nennt –, sind übergreifend bestimmte Beschreibungsmuster erkennbar, die die Forschungen als religionsgeschichtlich ausweisen. Der Blick wurde nun von den Schriftstellerpersönlichkeiten des Neuen Testaments, die noch von der Literarkritik als Urheber ihrer Stoffe gedacht wurden, abgewendet.183 In den Fokus treten nun das Gemeindebewusstsein und dessen anonyme Tradierungsprozesse. Dies beschreibt in nuce die Wende von der Literarkritik zur religionsgeschichtlichen Methode mit ihrer formgeschichtlichen Hinwendung zum Primat des religiösen Lebens – Schrift gilt demgegenüber „als minderwertiges Sekundärphänomen“184, schließlich ist sie als „Codification einer Tradition“185 nur der nachgängige Ausdruck des religiösen Lebens. Zwar galt die Bedeutung der großen Persönlichkeiten unbenommen, sie wurden nur auf dem Hintergrund des religionsgeschichtlichen ‚Milieus‘ neu begriffen.186 Mit der Abwendung von der Lehre und den Institutionen, wie sie nach Bousset noch in Harnacks Dogmengeschichte

schichtler keineswegs bloße Positivisten, sondern Theologen, die sich von ihrer historischen Arbeit einen Gewinn für die gegenwärtige religiöse Lage erhofften. 180 Vgl. RuNT 313. 181 Alkier, Hermeneuten, im Erscheinen; so auch Pietsch, Zeitalter, im Erscheinen. Vgl. schon Gressmann, Eichhorn, 26: „Unterscheidendes Merkmal ist nicht, daß sie [sc. die Religionsgeschichtliche Schule] sondern wie sie Religionsgeschichte treibt.“ 182 Alkier, Hermeneuten, im Erscheinen. 183 Zur Selbstunterscheidung der religionsgeschichtlichen Auslegung von der zeitgeschichtlichen und literarkritischen Methode vgl. auch Paulsen, Methode, 23–29. Auch die Subdisziplin ‚Theologie des Neuen Testaments‘ sollte in eine urchristliche Religionsgeschichte überführt werden (vgl. Wrede, Aufgabe). Zur ‚Methode der Lehrbegriffe‘, die noch ganz die biblischen Schriftstellerpersönlichkeiten und deren Lehrsystem in den Blick nahm, vgl. Gunkel, Bousset, 3–6, der über diese an Logik und systematische Geschlossenheit orientierten Art der Auslegung des Neuen Testaments urteilt: „Die lebendige Religion in ihrer Tiefe und Mannigfaltigkeit trat ungebührlich zurück, ja wurde durch alle diese logischen Untersuchungen nur verdunkelt.“ Die Negativfolie bildete hier die Biblische Theologie von Bernhard Weiß in ihrem „einseitigen Betonen des Lehrhaften und Verstandesmäßigen“ (ebd. 5). Als insgesamt gelungener Versuch, den methodischen Neuansatz anstelle der Methode als Lehrbegriff für einen studentischen Adressatenkreis fruchtbar zu machen, gilt den Religionsgeschichtlern Weinels Biblische Theologie des Neuen Testaments, die Bousset ausführlich rezensiert hat. Gegenüber der an Lehrbegriffen orientierten Darstellung sei Weinels Buch eine „lebendige Einführung in das Leben und Fluten der Gedanken und des Geistes der Urchristenheit“ (Bousset, Theologie, 326). Hinsichtlich der konkreten Ausführung hat Bousset allerdings manche Bedenken (vgl. ebd. 328). 184 Alkier, Hermeneuten, im Erscheinen. 185 Gunkel, Schöpfung, 208. 186 Vgl. Gunkel, Reischle, 1109f; Bousset, Was wissen wir von Jesus, 10–12.

50 Einleitung dominieren187, hin zur vermeintlich unmittelbareren religiösen Erfahrung in „Sitte, Brauch und Kultus“188, brachten die Religionsgeschichtler – nicht ohne theologisches Interesse – einen emphatischen vorreflexiven Religionsbegriff in Anschlag, der sich durch Rückgriff auf eine bestimmte ‚Lebensmetaphorik‘ der theologischen Deutungshoheit immer wieder entzieht.189 Diese Neubestimmung der heuristischen Perspektive der Wissenschaft vom Neuen Testament kann man somit mit einigem Recht einen „Paradigmenwechsel“190 in der Auslegung des Neuen Testaments nennen, wenngleich das Recht und der Mehrwert der Literarkritik nicht in Abrede gestellt wurden. Sie bedarf allein der Ergänzung durch die religionsgeschichtliche Perspektive, die noch eine ältere Geschichte des Stoffes hinter dem Text meint aufdecken zu können.191

187 Vgl. RuNT 257: „Aber im wesentlichen war doch H[arnack] mit seiner Aufgabe einer Dogmengeschichte eine Beschränkung auf das begriffliche Element gegeben.“ Bousset unterstellte Harnack, der immerhin laut Rade neben Wellhausen als „unfreiwilliger Schöpfer“ der Religionsgeschichtlichen Schule (Rade, Religionsgeschichte, 2191; vgl. Gunkel, Bousset, 8f) gelten darf, einen reduktiven Zugang zur Christentumsgeschichte. Zum ambivalenten Verhältnis der Religionsgeschichtlichen Schule zur älteren historischen Theologie um Wellhausen und Harnack vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 27–36. Laut Reitzenstein prägten auf je verschiedene Weise insbesondere die Göttinger Lehrer Ritschl, de Lagarde, Hermann Schultz und Bernhard Duhm Boussets theologisches Denken (vgl. ders., Bousset, 2; vgl. hierzu Kap. 2.1.3). 188 RuNT 271. 189 Vgl. nur Gunkel, Ziele, 25: „Schließlich aber wissen wir, daß nicht die Lehre Kern und Stern der Religion ist, sondern die Frömmigkeit, deren Ausdruck erst die Lehre ist. Die religiöse Überzeugung versteht man nur, wenn man weiß, wie sie aus dem Grunde des inneren Lebens hervorgegangen ist; und so kann auch der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis [...] nur das religiöse Leben sein.“ Zu den Berührungspunkten der Rede vom ‚religiösen Leben‘ zur Lebensphilosophie vgl. Sparn, Erbe, im Erscheinen und Buntfuß, Tagungsrückblick, im Erscheinen, der auf das Motiv des Rückgriffs auf jene essentialistischen Begrifflichkeiten aus Idealismus und Lebensphilosophie verweist: „[…] die Protagonisten der Religionsgeschichtlichen Schule [bemühten] mit der Begrifflichkeit des Geistes, der Geschichte und des Fortschritts in der Nachfolge des deutschen Idealismus sowie des Lebens vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Lebensphilosophie ein Set an Rahmentheorien, das es ihnen im Sinne eines Überbietungssynkretismus erlaubte, historische Relativität und religiös-theologische Normativität nicht beziehungslos auseinander treten zu lassen, sondern zu einer teleologischen Gesamtschau des ‚geschichtlich religiösen Lebens‘ zu verbinden.“ In der Tat besaß der Rekurs auf den Lebensbegriff bei den Religionsgeschichtlern die Funktion, auf die vorreflexive Dimension der Religion vor aller lehrhaften Rationalisierung zu verweisen. Diese Überschreitung der konkreten Erscheinung auf universale Wirklichkeitsdeutung schließt ferner den Anspruch auf universale Gültigkeit in sich. 190 Murrmann-Kahl, Heilsgeschichte, 346. 191 Zur Traditions- bzw. Überlieferungsgeschichte vgl. Paulsen, Methode; kritisch zu dieser „epigenetischen Betrachtungsweise“, die „[...] die ganze Substanz eines geistesgeschichtlichen Komplexes stoffanalytisch auf die Umwelt zu verteilen suchte“, vgl. Sänger, Phänomenologie, hier 17. Nach Sänger waren die Religionsgeschichtler mit ihrem Anspruch, „[...] das disparate Material unter dem Aspekt des Wesentlichen zu sondieren und zu begreifen“ (ebd. 16) mehr Religionsphänomenologen, die „alles von allem“ (ebd. 20) ableiten würden und sich daher einer „Reduktionsmethode“ (ebd. 21) bedienten.



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Hinter dieser methodischen Ausweitung des Blickwinkels auf die Religionsgeschichte stand das religionstheoretische Anliegen, Religion als eine uneinholbare, irrationale Tatsache des menschlichen Geistes zu begreifen. Das religionsgeschichtliche Programm, in dessen Mitte der Aufweis der Selbständigkeit der Religion stand, fand hier nun methodisch seinen Niederschlag. Mit diesem umfänglichen Paradigmenwechsel sollte nun „Anschlußrationalität“192 an das moderne Wissenschaftsverständnis in Geschichts- und Naturwissenschaft hergestellt werden – auch hier mit dem praktischen Interesse, für eine klare Unterscheidung zwischen einem wissenschaftlichen Zugriff auf das religiöse Leben und diesem selbst zu sorgen: Wer die Sachlage so [sc. nämlich auf Grundlage der historischen Methode] beurteilen gelernt hat, wird die streng wissenschaftliche Untersuchung und die praktische Verkündigung schärfer scheiden, wird der ersteren mehr nur eine indirekte Wirkung auf die letztere einräumen. [...] Es wird dann dem Pfarrer leichter werden, die Wissenschaft zu benutzen und doch sich unabhängiger von ihr zu verhalten. Es wird dem Laien erspart sein, daß er das auf der Kanzel beständig bekämpft und beschimpft hört, was er zu Hause in allen seinen Büchern liest oder bei seiner Arbeit überall voraussetzt, aber auch daß er eine freisinnige Versöhnung der Wissenschaft und Theologie rühmen hören muß, von der draußen nirgends etwas zu merken ist. Darin wird jeder einen Gewinn sehen, der nicht durchaus ein System haben muß, und der sich darin finden kann, in einer Zeit religiöser Krisis und Gärung zu leben.193

Während die Ritschlsche Schultheologie in Troeltschs Sicht eben genau jene vermeintliche Versöhnung proklamierte – und darin übereilt und verkürzt ein vermittlungstheologisches Anliegen einlöste194 –, ging es der Religionsgeschichtlichen Schule eher um eine aushandlungspflichtige, Spannungsmomente einschließende ‚Zusammenbestehbarkeit‘ einer religiösen Wirklichkeitsdeutung mit dem wissenschaftlichen Weltbild. Wissenschaftliche und religiöse Weltdeutung sollten so miteinander koexistieren, ohne die je eigenen Kompetenzbereiche zu überschreiten.195 192 Murrmann-Kahl, Heilsgeschichte, 305: „Die kleine scientific community zielt in ihrem Programmentwurf darauf ab, Anschlußrationalität an die historische Wissenschaft zu gewinnen, ohne dabei den spezifisch christlich-theologischen Gegenstand preiszugeben. Im Gegensatz etwa zu Paul de Lagarde geht es nicht um eine Auflösung der Theologie in die allgemeine Religionsgeschichte, sondern um die Erfassung der christlichen Tradition mit adäquaten und das heißt unter den Bedingungen des modernen Wahrheitsbewußtseins mit wissenschaftlichen, historischen Mitteln.“ 193 Troeltsch, Lage, 696. 194 Typisch für die vermittlungstheologische Ausrichtung der Ritschlschen Schule sei es ferner nach Troeltsch, dass sie an einer „Armut an Problemen“ (ders., Lage, 689) leidet, indem sie sich eben von den Anfragen aus Natur- und Geschichtswissenschaft durch den Rekurs auf eine dogmatische Methode unabhängig weiß und das historische Bewusstsein auszublenden versucht. Analog der Modern-positiven Theologie fehlt ihr der Sinn für den „Abstand dieser Gedankengänge vom modernen Denken“ (MuR 21). 195 Dieses programmatische Anliegen hat Troeltsch schon in seinem frühen Aufsatz Die Christliche Weltanschauung und wissenschaftlichen Gegenströmungen (1893/94) markiert. Dies bedeutete freilich, dass umgekehrt auch von der Wissenschaft verlangt wurde, so Bousset, „im Inte-

52 Einleitung Sahen die Religionsgeschichtler die Exegese der Ritschlschen Schule entsprechend noch in vielem an ein dogmatisches Verwertungsinteresse gebunden, so verwahrten sie sich gegen jegliche „Modernisierungen“196, die die Fremdheit der Welt des Neuen Testaments überdecken könnte. Dies hatte freilich zur Nebenfolge, dass unsicher blieb, was nun das Christliche im Christentum der Gegenwart sein sollte.197 Unter den Bedingungen modernen, geschichtlichen Denkens blieb, was die Geltungsfrage anlangt, damit nur noch, wie gezeigt, ein Dezisionimus, wie ihn Bousset bis zu seiner Hinwendung zur neufriesianischen Religionsphilosophie auch vertritt.198 Die „praktische Lebensüberzeugung“, im Christentum die höchste Ausgestaltung der Religion zu kennen, machte sodann die aufklärerische Frage nach einer „Perfektibilität des Christentums“199, wie sie von der theologischen Rechten der Religionsgeschichtlichen Schule als „verschleiert im Hintergrunde“ stehendes Ziel untergeschoben wurde200, überflüssig. Gegen den Verdacht, vermittels einer synkretistischen „phantastische[n] Universalreligion“201 das überkommene Christentum mit seinen ‚zeitgeschichtlichen Bedingtheiten‘ überwinden zu wollen, wendet Bousset ein: resse einer idealistischen und frommen Weltanschauung“ anzuerkennen, „[...] dass sie mit ihrer Arbeitsmethode nicht die gesamte Weltwirklichkeit umspannt, dass es jenseits der Sphäre, die wir Natur nennen, eine höhere Welt des Geistes und der Persönlichkeit gäbe, die ihr auf ewig verschlossen [bleibt]“ (MPT Kaftan 336). Letztlich hat dieses Anliegen einer friedlichen Koexistenz beider Wirklichkeitszugänge auch Bousset dazu bewogen, sich der neufriesianischen Religionsphilosophie zuzuwenden, dann allerdings wieder mit demselben Motiv der Ritschlschen Schule, eine Unabhängigkeit von der Geschichtswissenschaft für die reflexive Vergewisserung der religiösen Lebensposition plausibel zu machen. Hier gehen, wie noch zu zeigen sein wird (siehe Kap. 2.2.6), Troeltsch und Bousset unterschiedliche Wege. 196 RuNT 314; zum dogmatischen Verwertungsinteresse vgl. Wrede, Aufgabe, 82; in Bezug auf das umstrittene messianische Selbstbewusstsein Jesu vgl. auch Bousset, Theologie, 328: „Der Systematiker wird sich dauernd zu merken haben, daß das sog[enannte] Selbstbewußtsein Jesu in unseren Evangelien nicht der sichere Boden ist, um darauf Berge zu bauen.“ 197 Vgl. aber Gunkel, Bousset, 7: „Alle diese Leitsätze aber waren getragen von jugendlicher Begeisterung für die Erkenntnis einer halb verschütteten und nun wieder emporsteigenden Welt, die in vielem so ganz anders ist, als man es sich sonst gedacht, und doch voller religiöser und sittlicher Kräfte, welche die Grundlage aller gegenwärtigen, wahrhaft christlichen Frömmigkeit ist und bleiben muß.“ 198 Bousset weist in MuR 18 darauf hin, dass er diesbezüglich „auf Widerspruch auch in unseren eignen Reihen“ stieß. Wen Bousset genau vor Augen hat, wird nicht ganz klar, aber offenkundig wird hier davon ausgegangen, dass „an Stelle jener dogmatischen Theorie [sc. der Ritschlschen Schule]“ der „religionswissenschaftliche Beweis für die unbedingte Überlegenheit und Vollendung des Christentums“ tritt und jene vollgültig ersetzt. Ungeachtet dessen wird man Troeltschs Unterscheidung zwischen der naiven Absolutheit der frommen Lebensposition und dem relativ bleibenden, wissenschaftlichen Erweis der Höchstgeltung des Christentums (hierzu vgl. Voigt, Methode, 161–163) als eine theologische Grundüberzeugung der Religionsgeschichtlichen Schule identifizieren dürfen. 199 MuR 19. 200 Vgl. ebd. 4f, wo Bousset die Polemiken Warnecks und von Walters aufführt. 201 Warneck, zitiert in MuR 5.





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Wer einmal seines Lebens dauernden und festen Halt in dem Ganzen des Evangeliums, in dem Lebens-Impulse gefunden hat, der von der Person Jesu tatsächlich ausgegangen ist und in seiner Gemeinde uns berührt und umfaßt […], der bedarf jener äußerer Gewißheit [sc. des religionswissenschaftlichen Beweises] nicht mehr.202

Für die Religionsgeschichtler ist dies aber keine willkürliche „Willensentscheidung“203, vielmehr – so betont Bousset im Schulterschluss mit Troeltsch – erlaube gerade die religionsgeschichtliche Ausrichtung der Theologie dem gegenwärtigen religiösen Erleben mit der Geschichte ein Gegenlager zu bieten, sodass dem vermeintlichen Subjektivismus immer auch historische Gründe beigebracht werden können.204 Damit lässt sich das Programm einer historischen „Standortepistemologie“, das Friedemann Voigt für Troeltsch rekonstruiert hat, wenigstens auch auf Bousset ausdehnen.205 Denn die gesamte historische Arbeit Boussets zielt doch auf den Erweis des inneren Verweisungszusammenhanges zwischen seiner neuprotestantischen Frömmigkeit und dem historisch zu ermittelnden Wesen des Christentums. Dass die historische Methode von den Religionsgeschichtlern durchaus nicht positivistisch angewendet wurde, wurde schon gezeigt.206 Denn hinter dem religionsgeschichtlichen Arbeiten steht doch die gemeinsame Überzeugung der Religionsgeschichtler, dass Gott zu jeder Zeit zu den Menschen geredet hat.207 Der Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung und Geschichte entschlug man sich also, indem man entschlossen eine allgemeine Offenbarung208 behauptete und für eine Entschränkung des heilsgeschichtlichen Offenbarungsverständnisses eintrat. Gegenüber dem supranaturalistischen Offenbarungsverständnis der Modern-positiven Theologie und der Ritschlschen Schule bestritt die Religionsgeschichtliche Schule also die Unterscheidbarkeit von göttlicher und menschlicher Geschichte.209 202 MuR 19; vgl. auch WdR 260f. 203 MuR 20. 204 Dazu vgl. Anm. 99. 205 Vgl. Voigt, Methode, 169. Dass Bousset sich wenigstens bis zu seiner Hinwendung zum Neufriesianismus Troeltschs Programm eines immanenten Rationalismus – wie Bousset es nennt – verpflichtet fühlt, lässt sich vielfach belegen, wie Kap. 1 zeigen wird. Einen klaren Beleg liefert der Brief Boussets an Wernle vom 19. Oktober 1910 (Özen 183). Bousset hat sich Troeltsch angeschlossen in der Hoffnung, dass „[...] er [sc. Troeltsch] uns aus der christologischen Verengung des theologischen Supranaturalismus in der herrschend gewordenen Nuance Ritschl’scher Theologie herausführen würde (Hermann, Kaftan, Reischle, Kattenbusch).“ 206 Troeltsch spricht ausdrücklich von „meiner ‚theologischen Methode‘“ (ders., Methode, 2). 207 Vgl. Reitzenstein, Bousset, 7. 208 MuR 7: „Was wir, Tröltsch und jeder der sich aus unserem Kreise zu dieser Frage geäußert, verwerfen, und worauf unsere Gegner allerdings alles Gewicht legen, ist die Annahme eines absoluten Unterschiedes zwischen der spezifischen Offenbarung Gottes in Christo […] und der allgemeinen göttlichen Offenbarung in den Religionen der Völker und der Behauptung, daß erstere von letzterer nicht blos graduell sondern toto genere verschieden sei.“ 209 Vgl. Boussets Kritik an Kaftans Geschichtsdeutung: „Hier haben wir wieder die alte fatale Entgegensetzung eines rein menschlich natürlichen Geschehens und eines Geschehens göttlicher Offenbarung“ (MPT Kaftan, 339).

54 Einleitung Damit ist das Programm ‚Offenbarung in der Geschichte‘, wie es im Grunde auch die Ritschlsche Schule intendierte, beschrieben.210 Will man auch den ‚kirchlichen Supranaturalismus‘ der Ritschlschen Schule und der Modern-Positiven Theologie vermeiden, so bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass die Religionsgeschichtler die Wirklichkeit in einem einfachen Kausalzusammenhang aufgehen ließen. Zwar scheidet die Bindung des evangelischen Glaubens an ein analogieloses Wunder, das den Naturzusammenhang durchbricht – beispielsweise Jesu leibliche Auferstehung211 –, aus. Dennoch bekennt man sich freimütig zu einer supranaturalistischen Weltanschauung! Gegenüber den Monismen in Naturwissenschaft und Philosophie behauptet die Religionsgeschichtliche Schule vielmehr „ein ständiges Hinwirken neuer Kräfte aus einer uns gänzlich unerreichbaren und undurchdringlichen, schlechthin wunderbaren Tiefe göttlichen Daseins.“212 Gerade die Konkretheit der Wirklichkeit, ihr „‚Dies‘-Sein und ‚So‘Sein“213, versagt sich einer bloßen Ableitung aus dem Gegebenen. Es bleibt ein „prinzipiell unerklärlicher Rest“, der für die monistische „doppelte Betrachtungsweise“214, die in allem gesetzmäßig sich vollziehendem Geschehen auch göttliches Wirken erblicken will, unsichtbar bleiben muss.215 Hierin zeigt sich das schöpferische Poten210 Vgl. nur Troeltschs Aarauer Vortrag, hierzu s. u. Kap. 2.2.6. Zum Stellenwert jenes Programms vgl. auch Pietsch, Zeitalter, im Erscheinen. 211 Bousset ordnet sich selbst dem Lager der ‚subjektiven Visionshypothese‘ zu, vgl. MPT Kaftan, 328f. Allerdings will Bousset festhalten, „dass das Ostererlebnis der Jünger“ keine „reine Illusion und Halluzination“ war. Die Anhänger der subjektiven Visionshypothese gäben nur die „äussere Form des Erlebnisses der Jünger vollständig als reine Vision preis; was aber auch sie festhalten ist dies, dass die Jünger in dieser äusseren vergänglichen Form ein Erlebnis von ewiger Bedeutung hatten, nämlich die Erfahrung, dass ihr Herr Jesus Christus kraft seines Geistes lebendig, persönlich unter ihnen weiterwirkte.“ Und darauf kommt es Bousset an: „Die Gewissheit von dem persönlich lebendigen Herrn Jesus. Alles was darüber hinausgeht aber sind Formen, in die man sich diese Gewissheit vermittelt.“ 212 MuR 10; vgl. ebd. 9: „Auf Grund dieser allgemeinen Überlegung fassen wir den Mut, dem reinen Monismus der Weltanschauung den Abschied zu geben und wenden uns mit aller Entschiedenheit einer supranaturalistischen, dualistischen Weltanschauung zu.“ 213 MuR 9. 214 MuR 8f. Dass eine monistische Weltanschauung durchaus Ausdruck einer tiefen religiösen Haltung sein kann, stellt Bousset nicht in Abrede (vgl. ebd. 8). 215 Vgl. wiederum Alkier, Hermeneuten, im Erscheinen: „Wer hingegen in der Religionsgeschichtlichen Schule die Gründungsväter einer immanenten, rein psychologisch und innerweltlich argumentierenden Theologie und Religionsforschung sieht, die Kategorien wie Geisteskraft, Wunder und Offenbarung aus dem Denkhorizont wissenschaftlicher Theologie zu entfernen suchten, hat diese Bewegung gründlich missverstanden. So uneinheitlich und zum Teil sogar kontrovers Albert Eichhorn, Hermann Gunkel, Wilhelm Bousset, William Wrede, Paul Wernle, Wilhelm Heitmüller, Ernst Troeltsch, Otto Pfleiderer und andere argumentierten und urteilten, so verband sie doch die Überzeugung, dass Religion kein abstraktes oder auf Ethik zu reduzierendes Denkgebäude sei, keine zu entmythologisierende Anthropologie im Gewand überholter schwülstiger Metaphern, sondern Erfahrungsraum des Ganz Anderen, Überwältigenden, machtvoll Lebendigen, Wunderbaren.“ Entsprechend verstehen sich die Religionsgeschichtler, zumindest Troeltsch und Bousset, auch nicht als Vertreter einer reinen voraussetzungslosen Wissenschaft.



Bousset als Mitglied und ‚Haupt‘ der Religionsgeschichtlichen Schule

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zial, das die Religionsgeschichtler der Geschichte zuschreiben, deren tatsächlicher Verlauf gerade nicht deduzibel scheint. Nur von dieser geschichtsphilosophischen Prämisse aus lässt sich nach Bousset „ein wirkliches Werden im Weltgeschehen“ als einem „Aufstieg vom Niederen zum Höheren“216 im menschlichen Geistesleben denken. Denn anders als ein naturalistischer bzw. hegelianischer Entwicklungsbegriff rechnete der evolutive Entwicklungsgedanke der Religionsgeschichtlichen Schule mit dem „Einströmen neuer Kräfte“217 in die Geschichte. Rückzugsort dieser supranaturalen Weltanschauung war die Individualität der großen religiösen Persönlichkeiten – mit dem die schon vielfach festgestellte Hochschätzung des schottischen Sozialphilosophen Thomas Carlyle korrespondierte –, die sich dem geschichtlichen Begreifen der historischen Methode notwendig entzogen. Das religionstheoretische Interesse hinter der methodischen Neuorientierung war es die Religion als eine geschichtliche Bewegung des Bewusstseins wahrzunehmen. Denn „daß die Religion [...] wie alles Menschliche ihre Geschichte hat“218, war für die Religionsgeschichtler unbestrittene Tatsache. Eine Theorie von der Religion, ist also nicht mehr ahistorisch bzw. funktionalistisch zu entwickeln – wie etwa noch der Begriff der natürlichen Religion in der Aufklärungszeit und in den diesem nachfolgenden voluntativen Religionstheorien des 19. Jahrhunderts –, sondern eine Religionstheorie hat vielmehr beim tatsächlichen religiösen Bewusstsein einzusetzen, das dementsprechend auf historischem Weg untersucht werden kann. Die Religionsgeschichtler zielten also auf eine Historisierung der Religion. Nachfolgend soll nun das Programm Wilhelm Boussets im Spannungsfeld zwischen Historismus und Rationalismus, religionsgeschichtlicher Forschung und liberalem Persönlichkeitsideal, Leben und Wissenschaft nachgezeichnet werden.

Vielmehr ist man sich gewiss, dass man sich – ohne dabei den Rahmen der historischen Methode zu verlassen – mit der Erforschung des Urchristentums, insbesondere des Lebens Jesu „auf den Höhen menschlicher Geschichte [befindet]“ und „dass wir es mit den allerrealsten, allerwirkungsvollsten Vorgängen des menschlichen Geisteslebens zu thun haben“ (JPGJ 9; vgl. auch Troeltsch, Rückblick, 195f). 216 MuR 9. Die Folgelast, nun auch Jesus als eine prinzipiell überbietbare historische Individualität anzusehen, ist für die Religionsgeschichtler nur eine theoretische Möglichkeit im Rahmen ihrer Methode, vgl. nur WdR 260. 217 Troeltsch, Weltanschauung, 311; in dieser programmatischen Aufsatzsequenz legt Troeltsch eingehend Rechenschaft über den Entwicklungsgedanken, der nach Troeltsch „ein sehr kompliziertes und vieldeutiges Erzeugnis verschiedener Motive ist“ (ebd. 303), und dessen eigentümliche Probleme für die christlich-religiöse Weltanschauung ab, vgl. ebd. 294–311 und zur Unterscheidung des evolutiven vom naturalistischen bzw. „idealistisch-ästhetischen“ Entwicklungsbegriff vgl. 304f.306f; als Beleg für Boussets Hochschätzung des Entwicklungsgedankens vgl. MPT Seeberg 376: „[...] aber kann nicht auch die religiöse Geschichte der Menschheit so angesehen werden, das der allwaltende Gott durch das Medium der Erfahrungen in Natur und Geschichte die Menschenseele berührte, sie allmählich zu sich in die Höhe zog von den ersten dumpfen Ahnungen und unklaren Vorstellungen hinauf zu immer reinerer Vorstellung und immer klarerer Erkenntnis?“ 218 Gunkel, Reischle, 1109.

2. Boussets Religionstheorie

2.1 Wilhelm Boussets frühe Religionstheorie Im Folgenden gilt es, Boussets Religionstheorie auf ihre grundlegenden Anliegen hin offenzulegen, da sie den Deutungsrahmen für Boussets Christentumsverständnis zeitlebens bildete. Seine Hinwendung zum Neufriesianismus hat diesbezüglich keinerlei tiefer reichende Umakzentuierungen nach sich gezogen. Die Beschreibung der Bewusstseinstatsache Religion, die er durch bloße religionspsychologische und religionsgeschichtliche Beobachtungen gewonnen haben will, besitzt auch noch nach seiner Hinwendung zu Fries’ Kritizismus dieselbe Geltung für die Bestimmung des Christlichen. Denn dies ist für Bousset zunächst eine historische Frage.1 Entgegen einer offenbarungstheologischen Absolutsetzung des Christentums bei gleichzeitiger Depotenzierung der anderen geschichtlichen Religionen setzt Bousset hinsichtlich seiner Frage nach dem Wesen der Religion mit einer „anderen Gesamtanschauung“2 ein. Die historische Methode bildet dabei den Argumentationsrahmen. Gegenüber einer rein „praktischen Vergegenwärtigung“3 der Religion der Gegenwart, die sich nach Bousset freilich vornehmlich mit dem Christentum auseinandersetzen müsste, will sich Bousset der historischen Frage nach dem Wesen des Christentums auf dem Weg des „erkenntnismäßige[n] Wissen[s]“4 nähern, d. h. zur Bestimmung des Christlichen werden die gesamten Erscheinungen des religiösen Lebens herangezogen. Diese kulturwissenschaftliche Zugangsweise schließt sodann eine allgemeinere idealistische Perspektive in sich, indem Bousset das religiöse Leben als Einheit verstanden und vermittels des Entwicklungsgedankens5 betrachtet 1 Vgl. KFR 435. 2 WdR 8. 3 WdR 9. 4 WdR 9. 5 Vgl. MPT Grützmacher, 14. Zwar dürfe man sich dies nicht als chronologisch lineare oder kontinuierliche Entwicklung vorstellen – nichtsdestotrotz ist es für Bousset letztlich unstrittig, dass sich ein Aufstieg der Religionsgeschichte „von unten nach oben“ (WdR 9) vollzieht. Eine umgekehrt verfahrende offenbarungstheologische Konstruktion einer Dekadenzgeschichte gleichsam ‚von oben nach unten‘ verkenne hingegen, dass das menschliche Geistesleben einen stetigen Aufstieg vollziehe. Eine bloße Dekadenzgeschichte steht im „Gegensatz [...] zu aller Wissenschaft vom menschlichen Geistesleben“ (WdR 7). Bousset scheint ein solches Geschichtskonzept bei Harnack und Ritschl vorliegen zu sehen (vgl. MWNT 4f). Religion als selbständige und irreduzible Funktion des Geistes steht mit den übrigen Bereichen des menschlichen Geistesleben in einem engen Wechselverhältnis und muss dementsprechend als am Aufstieg des menschlichen Geisteslebens partizipierend gedacht werden oder aber als Movens dieser Entwicklung (vgl. den nachfolgenden Exkurs zur Kulturbedeutung der Religion). Analog zur Anerkennung der für

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Boussets Religionstheorie

wissen will und innerhalb dieser Einheit die treibenden Kräfte und das bleibend Wertvolle6 ermitteln will – für Bousset bedeutet dies freilich, genauso wie für Ernst Troeltsch, die faktische aber nichtsdestotrotz notwendige Selbstaufhebung der historischen Methode.7 Das Christentum ist unter diesen Denkbedingungen freilich nur mehr die Spezies seiner Gattung8, deren Höchstgeltung Bousset mittels des religionswissenschaftlichen Instruments des religionsgeschichtlichen Vergleichs ermitteln will. Boussets praktisches Anliegen hinter der Historisierung des Religionsbegriffs ist, auf diesem Wege Moderne und Christentum in ein produktives Verhältnis zu setzen. Denn für Bousset ist mit der Moderne und den modernen, positivistischen Wissenschaften eben nicht das Ende der Religion und des Christentums gegeben. Allerdings wird das Christentum sich verändern müssen, will es denn mit dem selbständig gewordenen, modernen Lebensgefühl, das ja für Bousset durchaus sein Eigenrecht besitzt, koexistieren können. Der Altprotestantismus muss sich unter Hinzunahme neuprotestantischer Elemente von innen heraus weiterentwickeln; nur dann kann er die Deutungshoheit im Weltanschauungskampf um die Religion behalten. Das „praktische Ziel“ seiner Gesamtschau der allgemeinen Religionsgeschichte fußt somit, wie Bousset in seiner Wesensschrift bekennt, auch auf der „[...] festen Überzeugung [...], daß auch für sie [sc. die modernen Europäer] noch immer die Religion in der Form des Christentums und nur in dieser Form das bietet, wonach sich in ihnen die Sehnsucht regt.“9 Boussets Wesensschrift ist somit aufgrund ihrer praktischen Abzweckung und mit dem Ansinnen einer Wesensbestimmung des religiösen Lebens, an dessen Ende das Christentum als höchste Religion steht, ein idealer Ausgangspunkt, um Boussets Religionstheorie in Hinblick auf seine Christentumsverständnis zu rekonstruieren Es ist daher für deren Erhebung sinnvoll, diesen Abschnitt einer eingehenden Analyse zu unterziehen.10

Bousset unwiderleglichen Faktizität einer ‚Höher-Entwicklung‘ des Geisteslebens, das immer mehr zu sich selbst kommend alle Fremdbestimmung abstreift, muss nach Bousset – gleichsam im Rückschluss – auch die Religionsgeschichte, die ja mit diesem Aufstieg auf das Engste verbunden ist, als ein Aufstieg von ‚von unten nach oben‘ gedacht werden. 6 Vgl. WdR 9. 7 Zum epistemologischen Status der Wesensbestimmung vgl. Kap. 4.1. Bousset beschreibt seine Ausführungen im ersten Kapitel von WdR als „allgemein orientierende Sätze über das Wesen der Religion“ (ebd.), wenngleich er geltend macht, dass dies keine Aufhebung der historischen Methode bedeute, denn die allgemeinen Sätze über die Religion wären „ebensogut im Laufe der geschichtlichen Betrachtung [gewonnen worden]“ (ebd. 10). Ein Allgemeinbegriff ist demnach immer ein Abschlussbegriff der historischen Methode. 8 Vgl. WdR 9. 9 WdR VII. 10 Zur zeitgenössischen Rezeption und Würdigung von WdR vgl. Gunkel, Wilhelm Bousset, 17f.



Wilhelm Boussets frühe Religionstheorie

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2.1.1 Was ist Religion – empirisch? Allgemeine Beobachtungen 1903 legte Bousset seine im Rahmen einer populärwissenschaftlichen Vortragsreihe niedergeschriebenen Einsichten über das Phänomen der Religion der wissenschaftlichen wie auch der religiös interessierten Öffentlichkeit vor. Analog zu Troeltschs Selbständigkeitsaufsatz in der ZThK – den Bousset hinsichtlich seiner Grundanliegen zustimmend zitiert11 –, will auch Bousset das Phänomen, das er als Religion begreift, in dessen Selbständigkeit im menschlichen Geistesleben ausweisen: „Die Religion ist ein Grundphänomen des menschlichen Geisteslebens, von primärem, nicht ableitbarem Charakter.“12 Er wendet sich damit gegen funktionalistische Religionstheorien, die der Religion entweder nur eine bestimmte gesellschaftsstabilisierende Funktion zuschreiben oder sie nur als ein ‚Vehikel‘ bzw. als ein Epiphänomen innerhalb des menschlichen Geisteslebens13 begreifen und sie damit zwar evolutionsgeschichtlich und bewusstseinstheoretisch erklärbar machen, aber zugleich auch als prinzipiell aufhebbar beschreiben. Mit Troeltsch wendet sich Bousset damit gegen eine „naturalistische Verödung des Geistes“, die „[...] die Funktion des religiösen Bewusstseins aus rein innerweltlichen Faktoren zu erklären suchten.“14 Für Bousset geht eine so gefasste Theoriefigur an der ‚Bewusstseinstatsache‘ Religion vorbei, denn diese muss doch in pointiert anderer Weise als die übrigen Grundvollzüge des Geistes wie Denken, Fühlen, Wollen beschrieben werden – eine rein funktionale Zuordnung zu diesen scheidet somit für Bousset aus. Vielmehr lässt sich nach Bousset Religion positiv als ein „Streben nach Leben, nach Gütern“15 begreifen. Gerade eine so gefasste Bestimmung ermöglicht ihm die seines Erachtens sichere Abgrenzung von den anderen Grundvollzügen des menschlichen Bewusstseins. Moralität wird nach Bousset beispielsweise durch das „sittliche Gesetz [...] als eine alle Wün11 Vgl. WdR 286. 12 WdR 10. Vgl. auch KC 330. 13 Vgl. UG 62; WdR 10: „Demgegenüber [sc. den funktionalistischen Religionstheorien] bleibt die Ansicht zu Recht bestehen, daß wir es in der Religion mit einer zentralen, primären [!] Funktion des menschlichen Personenlebens zu tun haben, die wir zunächst nicht ableiten, auch nicht auf eine der Kategorien des menschlichen Geisteslebens: Denken, Fühlen, Wollen zurückführen können.“ Damit erteilt er freilich auch allen kantianischen, hegelianischen und am jungen Schleiermacher angelehnten Religionstheorien eine Absage – aufgeführt werden jene neuzeitlichen Religionstheorien andeutungsweise ebd. 10. Mit dieser Beschreibung des Phänomens der Religion weist Bousset – wie oben schon angedeutet – religionstheoretisch eine große Nähe zu Troeltschs Versuch auf, die Religion in ihrer Selbständigkeit zu würdigen. Zu Troeltschs Selbständigkeitsschrift vgl. Lauster, Selbständigkeit; Laube, Troeltsch. Weitere Gewährmänner seiner Religionstheorie nennt Bousset ebd. 271f. 14 Barth, Apriori, 360. Boussets Religionstheorie wendet sich explizit gegen den „englischfranzösischen Positivismus und Materialismus“ und dessen evolutionsgeschichtlichen Erklärung der Religion, die in deren Aufhebung mündet. Gegenüber dieser in der Moderne „[...] zur Herrschaft“ gekommenen Weltanschauung innerhalb der geistesgeschichtlichen „Gegenströmungen“ (WdR 245) gilt es, die Deutungshoheit wiederzugewinnen, indem deren Theoriemodell als reduktionistisch desavouiert wird. 15 WdR 11.

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Boussets Religionstheorie

sche tötende Forderung“ gesteuert und ist damit laut Bousset bei näherem Hinsehen „uninteressiert“16; das „eigentliche[] ethische[] Handeln“17, wie Bousset sich ausdrückt, will nichts abseits des Sittengesetzes – die Güter, die es schafft, gehen sekundär aus diesem hervor. Analog dazu verhalte es sich mit der ästhetischen Anschauung – beide Bewusstseinsfunktionen sind prinzipiell ohne „praktisches Interesse“18. Religion ist aber demgegenüber „höchstes, gespanntes Interesse, persönliches Interesse [...], ein Haben-Wollen, Besitzen-Wollen, Sein-Wollen.“19 Eine als religiös zu beschreibende Regung des Bewusstseins muss sich also immer von etwas affiziert wissen und ein Interesse in Bezug auf jenes ausgebildet haben. Bousset macht sich hier die Unterscheidungsleistungen der Religionstheorie Julius Kaftans zu eigen.20 Religion gerät bei Kaftan, wie bei Bousset, zunächst als eine vornehmlich praktische Angelegenheit des Menschen in den Blick, die auch Kaftan durch den Rekurs auf den „in der Welt unbefriedigte[n] Anspruch auf Leben“21 vom theoretischen Welterkennen, wie auch von einer einfachen Zuordnung zur Sittlichkeit, wie er sie bei Wilhelm Herrmann erblickt, unterscheiden will.22 Dass Kaftan sich zur Ritschlschen Schule zählt, von der ja Boussets Theologie sich insgesamt emanzipieren will, spielt hier freilich nur eine untergeordnete Rolle, da dessen religionstheoretische Beschreibung ohne offenbarungstheologische Immunisierungsfiguren auskommt, die gleichsam das Schibboleth zwischen Ritschlscher und Religionsgeschichtlicher Schule bildete. Mit Kaftan will allerdings auch Bousset seine Religionstheorie von einem bloßen Eudämonismus unterschieden wissen. Die Güter, die die Religion erstrebt, liegen vielmehr – zumindest auf den höheren Stufen – jenseits des rein diesseitigen Glücksstrebens. Bousset folgert sodann aus dieser Selbstunterscheidung der Religion von Ästhetik und Moral, dass Religion nur „in sich selbst“23 verstanden werden muss. Aller16 WdR 12. 17 WdR 11. 18 WdR 12. Einen Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion markiert Bousset sodann im je eigenen Gegenstandsbereich: Religion habe es mit „dem einzelnen Leben und insbesondere der Persönlichkeit“ (UG 36) zu tun, wogegen die Wissenschaft immer auf das Allgemeine ausgerichtet sein muss. Zu den Konvergenzen und der „relative[n] Differenz“ zwischen Religion und der Ästhetik vgl. ebd. 36f. Die ästhetische Wahrnehmung lasse zwar auch eine höhere Harmonie im Leben „ahnen“, der Glaube aber „muss die Welt nehmen wie sie ist“, die Welt in ihrer Unvollkommenheit sehen lernen und diese gestalten wollen (ebd. 37). 19 WdR 12. 20 Vgl. auch die Ausführungen Siebecks in seinem Lehrbuch der Religionsphilosophie, 11–30, auf die Troeltsch, Selbständigkeit, 404 hinweist. 21 Kaftan, Wesen, 86. Zu Kaftans Religionstheorie vgl. Costanza, Einübung, 41–50. 22 Vgl. Kaftan, Wesen, 52: „Es handelt sich in aller Religion um Leben und nicht – um gleich den Gegensatz zu nennen – um vollkommenes Leben, um Güter oder um ein höchstes Gut und nicht um ethische Ideale.“ Dies sei gleichsam eine „bestimmt unterschiedene Art der Werthbeurteilung“ (ebd. 51), denn ein „moralische[s] Urteil verhält sich gleichgültig gegen das Streben nach Gütern.“ 23 WdR 11.



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dings reicht eine solche Beschreibung nicht aus, um das Phänomen der Religion vollumfänglich fassen zu können und es zudem trennscharf vom Gebiet der Kultur zu unterscheiden, das sich im Streben nach Gütern erschöpft. Hier führt Bousset dann die zweite positive Bestimmung seines Religionsbegriffs ein: den Götter- bzw. den Gottesbezug.24 Gegenüber den Kulturgütern besitzt der Gottesgedanke der Religionen die Funktion, jene auf ihre Vorläufigkeit zu reduzieren, sodass die Güter der Religion immer die höheren bleiben. Das „Urdatum“25 des Gottesglaubens lässt sich allerdings nicht einfach aus dem Streben nach Gütern ableiten. Dies wäre der Fehlschluss der illusionistischen Religionstheorien. Deren Deutungsmodell wird nach Bousset schon allein durch die in allen Religionen beobachtbare Gottesfurcht ad absurdum geführt. Die im Gottesgedanken mitgesetzte Gottesfurcht steht als ein unauflösliches Moment religiöser Erfahrung eigentümlich quer zur bloßen Idealsetzung einer ausschließlich segenspendenden Gottheit durch das religiöse Bewusstsein, wie es nach Bousset das illusionistische Erklärungsmodell vorsieht. Diese religionspsychologische Einsicht führe die Illusionsthese eben ad absurdum, da kein Weg von der empirisch feststellbaren Furcht vor der göttlichen Wirklichkeit zum religionsphilosophischen Postulat, dass die Gottesbilder immer Idealsetzungen des menschlichen Bewusstseins seien26, führe. Eine am geschichtlichen Phänomen der Religion orientierte Religionstheorie muss hingegen die Selbstaussage der Religion ernstnehmen, welche „die Gottheit als die allerrealste Tatsache“ ansieht, die „gewisser ist als das menschliche Leben selbst“27 und damit über die bloße Funktion der Bedürfnisbefriedigung28 hinausweist. Ein derartiges Reduktionsmodell übergeht eben das faktisch „vorliegende seelische[] Phänomen[] der Religion“29, das bipolar – Bousset drückt dies im Bild der Ellipse aus30 – verfasst ist. Denn neben dem ekstatischen Moment der Frömmigkeit – dem „Hingerissen-Werden“31 – 24 Dies hält auch Troeltsch für den irreduziblen Kern des religiösen Erlebens, vgl. ders., Selbständigkeit, 395. Religion bezieht sich „auf etwas vom bloßen Prinzip des geistigen Lebens Unterschiedenes, etwas in sich Geschlossenes und irgendwie ‚Persönliches‘.“ 25 WdR 15. 26 Der illusionistischen Religionstheorie gemäß seien die Götter – so Bousset – „nur Wunschwesen, aus dem Lebensdrange des Menschen geboren, idealisierte Menschen, die das besitzen und geben können, was die empirischen Menschen nicht besitzen“ (WdR 15f). Vgl. auch Troeltsch, Selbständigkeit, 412. 27 WdR 15.Vgl. auch MuR 10. 28 Boussets Referat seiner Deutung der so genannten genetischen Religionskritik findet sich in WdR 15; vgl. auch UG 62. 29 WdR 15. 30 WdR 14. Vgl. auch ebd. 16: Das aus der „[...] Psychologie des religiösen Lebens vorliegende doppelte Grunddatum: Güter und Götter“ soll keineswegs vorschnell aufeinander reduziert oder aufgelöst werden, wie es andere Religionstheorien durchführen, vgl. auch RuT 36; UG 12. Als Kronzeugen für diese Doppelstruktur der religiösen Erfahrung ruft Bousset Luther auf: „Mit unübertrefflicher Sicherheit hat Luther das zum Ausdruck gebracht, wenn er sagt: Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten – lieben und vertrauen“ (WdR 23f). 31 Bousset bringt an dieser Stelle Einsichten der Religionspsychologie in Anschlag, die Rudolf Otto später in Das Heilige einer breiten Öffentlichkeit bekannt machen sollte. Vgl. dazu Boussets

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sei eben auch die Furcht auf der Ebene der religiösen Erfahrung Teil der „herrschende[n] Grundstimmung“32 in der Religion. Das Moment der Furcht in der religiösen Erfahrung, das nach Bousset gemeinhin nur den primitiven Religionsstufen zugeordnet wird, nimmt nach Bousset auch in den höheren Religionen keineswegs ab, auch nicht in der Religion der Moderne. Vielmehr steigt gewissermaßen proportional zum naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt die Furcht vor der alles menschliche Leben relativierenden Unendlichkeit des Universums, mit der es die Religion zu tun hat: Wir treiben daher auf schwankendem Kahn, und überall umgeben uns schwindelnde Abgründe. Ob wir, unser Auge mit dem Fernrohr bewaffnend, in die Welt des Unendlichgroßen schauen und eine Sternenwelt sich an die andere reihen sehen, ob wir mit dem Mikroskop hineinschauen in die Welt des Unendlichkleinen, ob wir unsere Gedanken zu den Milchstraßensystemen erheben, oder sie auf die letzten kleinen Bausteine des Weltalls, die Moleküle und Atome richten, immer überkommt uns dieses schwindelnde Gefühl von den Abgründen, mit denen das Leben uns umgibt.33

Diese für die frühe Moderne mentalitätsgeschichtlich sicherlich ganz treffende Beschreibung der vielfach empfundenen Ambivalenz des zeitgenössisch sich in einer nicht gekannten Geschwindigkeit vollziehenden Fortschritts im naturwissenschaftlichen Begreifen und Beherrschen der Welt zeigt, dass Bousset das moderne Lebensgefühl keineswegs in einem unvermittelbaren Gegensatz zur Religion sieht. Denn gerade die „zitternde Scheu und Ehrfurcht vor der uns umgebenden großen Wirklichkeit“34 an der Grenze zwischen „bekannte[r] und unbekannte[r] Welt“35, die gleichsam die Grundsignatur der Religiosität in der Moderne ausmache, steht doch laut Boussets Religionstheorie in enger Beziehung zur Religion. Dies versucht Votum in einem Brief anlässlich der Lektüre von Ottos Buch vom 3. Dezember 1916 (dokumentiert in: Schütte, Religion, 127f): „In meinem Wesen der Religion habe ich – wenn auch in noch so laienhafter Form – doch etwas davon schon zum Ausdruck gebracht. – Religion die Scheu vor dem, was ‚anders‘ ist als wir. Und auch den Doppelcharakter in aller Religion Scheu, Furcht und Flucht und doch das starke Hingezogen- und Hingerissen-Werden.“ Schon Troeltsch verweist allerdings auf den französischen Religionswissenschaftler Albert Réville (Troeltsch, Selbständigkeit, 431f), der die religionspsychologische Signatur des religiösen Bewusstseins mit ihren Teilmomenten der Scheu und des Zutrauens schon 1881 hervorgehoben habe. 32 WdR 16; vgl. auch ebd. 19. 33 WdR 19. Das „Gefühl der [...] Ohnmacht“ aufgrund der fortschreitenden naturwissenschaftlichen Erschließung der Wirklichkeit und die empfundene Unfähigkeit, einen „wirklichen Gesamtüberblick [sc. über die gesamte Wirklichkeit]“ zu erlangen – da wir die „Wirklichkeit nur von ihrer uns zufällig zugekehrten Seite aus [anschauen]“ –, wird in Bousset Religionsgeschichtlichem Volksbüchlein Unser Gottesglaube geradezu zur Signatur der Moderne erhoben (UG 4f; vgl. auch ebd. 14); dazu vgl. Kap. 4.4.1. 34 WdR 20. 35 WdR 18; vgl. auch UG 14: „Je weiter wir staunend vorwärts [sc. in unserer Naturerkenntnis] dringen, desto klarer wird es: die Welt, die wir kennen, die wir erkennend beherrschen, ist nur eine Insel im Ozean, rings umbrandet und umflutet von der unergründlichen Tiefe göttlichen Lebens und göttlichen Schaffens.“



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Bousset religionsgeschichtlich plausibel zu machen.36 Je mehr der Mensch sich seine Welt erschloss, diese zu beherrschen lernte und damit ‚profanisierte‘, desto größer und unergründlicher erschien die ihn umgebende fremde Wirklichkeit, nach der sich dann auch das Gottesbild gestaltete. Die für Bousset in der Moderne greifbare Ehrfurcht vor der Unermeßlichkeit der den Menschen umgebenden Wirklichkeit scheint für ihn hinsichtlich einer religiösen Wirklichkeitsdeutung ein erfahrungsproduktives Potenzial zu besitzen, zumindest hält sie die grundsätzliche Empfänglichkeit für die Option einer religiösen Weltdeutung offen. Gegenüber der tief empfundenen Furcht lassen nun die höheren Religionen den Menschen den Blick in den Abgrund allererst als „ein kühnes, frohes Hoffen“37 ertragen. Und so beschreibt Bousset den Glauben an Gott – also an diese unbekannte, ganz andere Wirklichkeit – auch als ein „großes paradoxes: Und dennoch.“38 Religion ist demnach eine Haltung, die die Differenzerfahrungen des Lebens und darin eingeschlossen die furchterregende Erfahrung der fremden Wirklichkeit – die Abgründe also, vor die sich vor allem der moderne Mensch gestellt sieht – mit seiner eigenen, ihm vertrauten Wirklichkeit in einer Weise integrieren und so vermitteln kann, dass diese Abgründe ihren nihilistischen Schrecken39 verlieren. Eine theologisch motivierte Auflösung des religiösen Erfahrungsmomentes der Furcht ist für Bousset also keineswegs ohne Folgekosten durchführbar.40 Denn gerade die empfundene Furcht markiert die Selbstunterscheidung von der göttlichen Wirklichkeit in der Erfahrungsstruktur des religiösen Subjekts – ein für Bousset, wie oben gezeigt, unhintergehbares Merkmal religiöser Wirklichkeitsdeutung: Die göttliche Wirklichkeit ist „mehr als wir und anders als wir.“41 Ohne das Moment der Furcht in der religiösen Erfahrung kann keine Differenz mehr sinnvoll zwischen Mensch und der erfahrenen Wirklichkeit ausgesagt werden, was freilich dem soteriologischen Interesse des Frommen, der ja trotz aller Furcht gerade von der Gottheit sein Heil erwartet, diametral entgegensteht.42 Beide Brennpunkte der Ellipse – Güter und Gottesbezug – sind dabei stets als aufeinander bezogen zu denken. Denn Religion nur aus dem bloßen Gottesbezug zu beschreiben, der keine ‚egoistische‘ Willensregung – wie sie doch auch für eine

36 Vgl. WdR 16–19. 37 WdR 266; vgl. auch UG 12. Die als Demut empfundene religiöse Gefühlsregung „[bejaht] die Hingabe [an] die große und erhabene Wirklichkeit Gottes und unsere Kleinheit.“ Religion ist also für Bousset auch eine Form der Endlichkeitsreflexion, die aber „von aller leidvollen und trostlosen Resignation“ (UG 16) weit entfernt sei. 38 WdR 24; dazu vgl. auch UG 16. 39 Die „Betrachtung der äußeren Wirklichkeit“ lässt ohne eine religiöse Deutung nur einen „trostlosen Schluß“ (UG 8) zu. 40 Zwar gesteht Bousset zu, dass „[j]e höher die Religionen steigen, desto höher steigen auch die Momente des Vertrauens und der Liebe. Aber auch aus den höchsten Religionen schwindet das Moment der Furcht nicht“ (WdR 23), so auch in Jesu Frömmigkeit (vgl. ebd.). 41 UG 12. 42 Vgl. WdR 23.

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religiöse Erfahrung wesensmäßig sei43 – aufweise, reiche nach Boussets Dafürhalten nicht aus, um der Wirklichkeit des Phänomens der Religion gerecht werden zu können. So ist es ferner ein Merkmal der höheren Religionen, dass der Gläubige diese höhere Wirklichkeit als eine Wirklichkeit, die „für ihn da sei[]“44, begreife. Religion ist demnach nicht nur das Bewusstsein, dass die fremde Wirklichkeit ein furchterregender Abgrund sei, sondern zugleich ein vertrauensvolles „Wagen“, dass diese fremde Macht auch für den Glaubenden da sei und ihn erhalte45 – Furcht wird zu Ehrfurcht transformiert, ohne dabei vollständig aufgehoben zu werden. Dieses soteriologische Interesse des frommen Subjekts, das sich formal in dem Streben nach Gütern bezeugt, überführt Bousset in die abschließende Definition, dass Religion „persönlicher Verkehr mit der Gottheit“46 sei. Hier zeigt sich erneut die Doppelstruktur der Frömmigkeit: Trotz der hemmenden Furcht vor den unbekannten Mächten kann der Glaubende „doch von ihnen nicht loskommen, er wagt es doch, er drängt sich an sie heran, er fühlt sich mit ihnen verwandt, er gehört zu ihnen, sie zu ihm. [...] Ein solches Wagen liegt schließlich aller Religion zugrunde, ein Wagen, das mit der Zeit immer größer wird, bis dahin, daß der Christ zu dem allmächtigen Gott spricht: Du bist mein Vater.“47 Religion ist damit für Bousset 43 Vgl. WdR 20f. 44 WdR 22. 45 WdR 22; vgl. auch UG 12. Der religiöse Glaube versteht ferner die empirische Wirklichkeit mehr und mehr als „ein Ausfluss seines [sc. des Unendlichen] Wesens, ein Werk seines Willens“ (UG 14). Das religiöse Leben klärt sich also immer mehr über sich selbst auf: Analog zum voll ausgebildeten Theismus versteht sich auch der Fromme als unbedingt abhängig vom Gott, der alles wirkt und von dem der Fromme alles empfängt (vgl. UG 15). 46 WdR 21. Das personale Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist als ein „Geben- aber auch Nehmenwollen“ bestimmt (ebd.). Doch gerade ein personales Gottesverhältnis sieht Bousset in der Moderne aufgrund des stetig fortschreitenden Naturerkennens in die Krise geraten. Denn unter den gegenwärtigen Bedingungen des geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Denkens ließe sich die erfahrene, fremde Wirklichkeit nur mehr als ein aller Natur vorausliegendes und diese transzendierendes, „absolute[s] Sein[]“ (UG 26) fassen. Analog zu diesem Eindruck der nicht aussagbaren Unendlichkeit dieser Wirklichkeit drohe nun aber die Möglichkeit, dieser Wirklichkeit eine heilsame Nähe zuzusprechen, zu schwinden. Demgegenüber kommt der christliche Gottesgedanke doch gerade darin zu stehen, dass die göttliche Wirklichkeit als geistig-persönliche Kraft gefasst wird, vgl. WdR 203. 47 WdR 22; vgl. auch UG 25. Mit der religiösen Erfahrung der „persönlichen Fürsorge Gottes“ konvergiert die „Zuversicht auf die persönliche Vorsehung Gottes“ (ebd. 27); die Vorstellung einer Vorsehung Gottes ist nach Bousset an höhere Religionen gebunden, da sie ein tief empfundenes, personales Gottesverhältnis voraussetzt; gerade in der krisenhaft erlebten Moderne sei die Vorstellung einer göttlichen Vorsehung Ausdruck eines tiefen Glaubens, da dem Anschein nach alles wissenschaftlich-objektivierende Erkennen – ob in der methodisch relativistischen Geschichtsoder in der mechanistischen Naturwissenschaft – eine Sinn vermittelnde Teleologie unterminiert (vgl. ebd. 28). Bousset blendet die relativistischen, jeden Sinn methodisch ausschließende Erkenntnisse der Wissenschaften aber nicht aus: Der äußeren, wissenschaftlich objektivierten Wirklichkeit eine objektiv feststellbare sinnhafte Teleologie zu unterlegen, scheidet auch für Bousset aus, vielmehr versucht er Vorsehungsglaube und Sinnzuschreibung als eine wertbezogene Deutungsleistung des Einzelnen zu reformulieren (ebd.; zum Diskurs über den Vorsehungsglauben in



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angesichts der furchterregenden unbekannten Wirklichkeit ein „Wunder menschlicher Zuversicht.“48 Woher das fromme Subjekt den Mut für den vertrauensvollen Sprung in den Abgrund nimmt, bleibt auch für Bousset letztlich unableitbar, zumindest ist er nicht kausal aufzulösen. Das Wagnis des religiösen Glaubens, das sich im christlichen Symbol von ‚Gottvater‘ artikuliert, besteht also darin, dass sich das religiöse Individuum trotz aller Furcht vor dieser unbekannten, ganz anderen Wirklichkeit darauf verlässt, dass es „im Grunde [seines] Wesens“49 zu dieser Wirklichkeit gehört und von ihr alles Heil erwarten darf. Die göttliche Wirklichkeit als ‚unser Vater‘ zu beschreiben, sei allerdings nicht im Sinne einer „zureichende[n] theoretische[n] Erkenntnis“50 zu verstehen – Religion und in diesem Fall der christliche Glaube redet natürlich nach Bousset nicht von einem supranaturalen Tatsachenwissen –, vielmehr muss immer das Wissen um die Differenz zwischen der symbolischen Aussage wie beispielsweise der Rede des Frommen vom väterlichen Gott und einer erkenntnismäßigen Bestimmung des an sich seienden göttlichen Wesens, die Bousset mit Kants und dann später mit Fries’ Transzendentalphilosophie als Unmöglichkeit verabschiedet51, bewusst geder zeitgenössischen Theologie vgl. Danz, Wirken Gottes, 170f; von Scheliha, Glaube). Das die erfahrene Wirklichkeit deutende Individuum leistet also eine reflexive Bedeutsamkeitszuschreibung. Sinn erlebe man allererst im eigenen Handeln („auf dem Posten, auf den wir gestellt sind“), dort könne der „Zweck unseres Daseins“ (ebd. 28), der sich – als Offenbarung erlebt – sukzessive enthüllt (ebd. 29), erlebt und dann auch erkannt werden. Bousset erweist sich in dieser Passage als ein überzeugter Anhänger einer lutherischer Berufsethik. Gegen eine deterministische Deutung der Vorsehungslehre wendet Bouset ein, dass die Freiheit damit nicht unterminiert werde, vielmehr die Einsicht in den Plan Gottes den Frommen derart entzückt, „als habe er ihn selbst gedacht“ (ebd.). 48 WdR 22. 49 UG 12. 50 UG 26. 51 Boussets Kant-Rezeption bewegt sich hier in den klassischen Bahnen liberaler Kant-Exegese (vgl. exemplarisch Kaftan, Kant, 23f; vgl. ferner zur protestantischen Kant-Rezeption im Wilhelminischen Zeitalter Graf, Kant und Heit, Vernunft, 21ff). Einerseits habe „der Weise[] des christlichen Zeitalters“ bzw. „de[r] Philosoph des Protestantismus“ (zu dieser protestantischen Inanspruchnahme Kants vgl. Raffelt, Kant) es unmöglich gemacht, „in Zeit und Raum [...] nach einem Unbedingten, Ewigen [zu] suchen“ (UG 23f). Andererseits wies er die Menschen an, „in die Tiefe der eigenen Seele [zu] schauen und auf das in sich ruhende Gesetz“ (UG 23f). Hier finde sich „ein Unbedingtes“ (UG 38). Daran schließt sich die Überbietungsthese, dass jene „Tatsache des Sittlichen“ einer „Ergänzung durch den Glauben“ bedarf (ebd.; vgl. auch ders., Einleitung einer Vorlesung, 450; vgl. dazu insgesamt Kap. 4) –, denn der Gottesglaube ist hier als erlebte Offenbarung beschrieben, nicht als handlungstheoretisches Postulat, und ermögliche so erst eine dauerhafte Herauslösung des Unbedingten aus den Relativitäten menschlichen Daseins (vgl. ebd.; und v. a. Bousset, Jesus, 63: Im Evangelium sei die Überzeugung bezeugt, dass das alleinige Ziel des Handelns, „die Vollendung des einzelnen persönlichen Lebens in Gott“ sei). Dass der Religionsgeschichtler Bousset Kants funktionaler Religionstheorie hingegen nur einen zeitgebundenen, relativen Wert zubilligt, legt eine kurze Passage in Religion als Kulturmacht nahe (vgl. RK 33): Das „rasche Vorwärtsstürmen“ der Kultur der Aufklärung assimiliert sich die Religion, die entsprechend nur mehr „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, also rein funktional in ihrer Kul-

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halten werden. In der symbolischen Rede von ‚Gottvater‘ wird vielmehr nur das aus der religiösen Erfahrung resultierende soteriologische Interesse „zum Ausdruck [gebracht], daß in dieser [sc. göttlichen] Wirklichkeit eine Kraft und Macht regiert, die unser persönliches Leben [...] will und bejaht.“52 In den Symbolen also bringt das fromme Subjekt gewissermaßen das Verhältnis zur anderen, unbekannten Wirklichkeit und damit auch die religiöse Erfahrung der Fremdkonstituierung zum Ausdruck, wie auch die Erfahrung, dass das religiöse Individuum in seinem Leben und Sterben an diese andere Wirklichkeit gewiesen ist. Das Symbol ‚Gottvater‘ drückt demgemäß explizit die Heilserfahrung des religiösen Individuums aus. Die Symbole, die sich im neuen religiösen Leben herausbilden und Geltung beanspruchen, sind freilich immer eng mit den Vorstellungswelten der Kultur, in der sie gebildet werden, korreliert. So führt Bousset die Genese eines Symbols im religiösen Leben immer auf ein „Ineinander zweier Faktoren“ zurück: „göttliches Wirken und [die] Rezeptivität des schon vorhandenen Seins“53. Die Kontingenz einer religiösen Weltdeutung erkennt Bousset also offenkundig in dem von der gesamtkulturellen Entwicklung abhängigen ‚Rezeptionsvermögen‘ auf Seiten des religiösen Individuums; zumindest insofern, als dieses die Deutung des religiösen Erlebnisses, aber auch das Erleben selbst präformiere. Einen reinen, unmittelbaren Erfahrungseindruck im religiösen Erleben kann es nach Bousset also auf Ebene des Bewusstseins gerade nicht geben, da das Bewusstsein immer schon an kulturell vermittelte, geschichtliche Ausdrucksformen gebunden ist. Im Anschluss an Kant verneint also auch Bousset eine Gotteserkenntnis, die einen reinen Ausdruck der erfahrenen Wirklichkeit darstelle und gleichsam Zugriff zu Gottes An-sich-Sein habe. Vielmehr wird das religiöse Erlebnis, wenn es zu Bewusstsein kommt, schon durch bestimmte kulturelle Deutungsmuster präformiert, und auch die apriorischen Verstandeskategorien bleiben als Bedingung für jede mögliche Erfahrung in Geltung. Jeder zu Bewusstsein gebrachte Gegenstand ist demzufolge immer schon geformt und damit nicht mehr an sich objektivierbar. Die Rede von der göttlichen Wirklichkeit ist also immer nur symbolische Rede, die Gott gerade nicht begreifen kann, aber ihn in der Relation zum Endlichen beschreibt.

turbedeutung von der Aufklärung selbst erfasst werden konnte. In einer derart progressiven, selbständigen und geschlossenen Kulturformation (vgl. WdR 244f) „gerät [die Religion] dann ins Hintertreffen“ (RK 33) Erst in späteren Zeiten in denen gleichsam die ‚Dialektik der Aufklärung‘ zu Bewusstsein kommt – wenn also gemäß Boussets Diktion „die Menschengeschlechter zur Mannbarkeit herangereift sind“ –, kommt auch der Religion wieder eine Bedeutung für die Kultur zu. Denn sie, so wird man Bousset lesen müssen, bearbeitet die Spannungen und Ambivalenzen der Aufklärungskultur, indem sie als kritisches Korrektiv für die brüchig gewordene Kultur fungiert (RK 33; vgl. schon Bousset, Carlyle, 252). Die Ambivalenz, die Bousset in Kants Religionsphilosophie erblickt, vermag hingegen erst Friedrich Jakob Fries zu einem Ausgleich zu bringen. Ihn will Bousset für eine protestantische Religionsphilosophie fruchtbar machen. Dazu siehe Kap. 2.1.6. 52 UG 27. 53 MuR 10; vgl. ebd. 11 wie auch MPT Seeberg, 376.



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Zweierlei leistet der Symbolbegriff dabei für Boussets Religionstheorie. Einerseits empfindet Bousset Kants erkenntnistheoretischen Kritizismus als eine Befreiung für die religiöse Lebensposition vom Zwang einer reinen, philosophisch suffizienten Gotteserkenntnis, denn zuerst ist sie unter modernen Denkbedingungen unmöglich geworden, sodann ist sie für den Glaubenden letztlich ohne Belang, da das Gottesverhältnis des Individuums hierin vollständig unberücksichtigt bleibt, dem theoretischem Erkennen Gottes demnach – sollte es denn gelingen – keine religiöse Bedeutung zukommen kann.54 Und andererseits ist ihm die symbolisch vermittelte religiöse Weltdeutung das „das Einzigste und Wertvollste“55, um überhaupt von Gott reden zu können. Denn nur in der symbolischen Rede wird ein letztes Geheimnis um das Wesen Gottes gehüllt bei gleichzeitigem Ausdruck der religiösen Heilserfahrung.

2.1.2 Zwischenfazit Mit der auf dem Weg der historischen Methode gewonnenen Religionstheorie meint Bousset nun das Phänomen ‚Religion‘ als Urdatum des Bewusstseins ausweisen zu können, wenngleich er den Ursprung der Religion vor seiner Hinwendung zum Neufriesianismus noch nicht religionsphilosophisch einzuholen versucht, sondern lediglich die Faktizität der Religion in der gesamten Menschheitsgeschichte konstatiert. Empirisch meint Bousset allerdings, Religion trennscharf von anderen Bewusstseinsinhalten abgrenzen zu können, indem er für die Religion mit Julius Kaftan das ‚eudämonistische‘ Streben nach Gütern als Charakteristikum markiert, das ferner durch den Gottesbezug als zweitem Grunddatum einer religiösen Gefühlsregung eine kulturkritische Funktion innehat, indem für die Religion alle Kulturgüter nur mehr in ihrer Vorläufigkeit in den Blick geraten. Mit der Herausstellung jener irreduziblen Grunddaten des religiösen Lebens meint Bousset nun sowohl jegliche naturalistische Deutung, als auch Feuerbachs Illusionsthese als Reduktionismen desavouieren zu können. Aber auch gegenüber Religionstheorien, die Religion als ein bloßes Epiphänomen des Geistes begreifen wollen, meint Bousset durch seine Wesensbestimmung des religiösen Lebens Religion vielmehr in ihrer Selbständigkeit gegenüber anderen Bewusstseinsinhalten und -funktionen begreifen zu können. Damit weist Boussets theologisches Programm grundsätzlich dieselbe Stoßrichtung auf wie Troeltschs frühe Schriften – beide rekurrieren hierbei insgesamt ein Anliegen der Religionsgeschichtlichen Schule. Indem Bousset ferner Religion vom Welterkennen abrückt, löst er ein weiteres Anliegen der Religionsgeschichtlichen Schule ein, indem er die Vorgängigkeit der Religion vor der nachfolgenden Theologie zum Proprium seiner Religionstheorie erhebt, worauf im Folgenden einzugehen ist. 54 Vgl. UG 26. 55 UG 26.

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2.1.3 Die Unterscheidung von Religion und Theologie Für Boussets Religionstheorie ist die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Theologie von kaum zu überschätzender Bedeutung. In ihr kommen die vielfältigen Anliegen seines theologischen Schaffens zum Ausdruck. Ein Hauptmotiv der historischen Annäherungsweise an die christliche Religion ist dabei, die Vorgängigkeit der Religion gegenüber Dogma und Lehre zu behaupten. Als Beleg für dieses theologische Interesse kann ein Zitat Boussets aus einem frühen Aufsatz in der Theologischen Rundschau dienen:

Denn jene Literatur [sc. des ‚Spätjudentums‘] ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Literatur der ungebildeten Masse; das offizielle Schriftgelehrtentum steht ihr ferne, sie spiegelt die Stimmungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die naive Frömmigkeit der unteren Schichten wieder. Eine ganz neue Welt erschloss sich hier [...]. Man lernte verstehen, dass es bei einer lebendigen Auffassung der Religionen nicht nur und vielleicht nicht in erster Linie auf die Erfassung der abgeklärten Vorstellungs- und Begriffswelt, der biblischen Lehrbegriffe, Dogmen und Theologumenen ankomme, dass der breite Strom des religiösen Lebens der Masse in einem andern Bette fliesse, als man ihn bisher gesucht, in dem Bette der Stimmungen und Phantasieen, der oft schwer kontrollierbaren Erfahrungen und Erlebnisse primitivster Art, in Sitte, Brauch und Kultus.56

Bousset hat hiermit jedoch nicht nur die heuristische Perspektive auf den Gegenstand der historischen Theologie beschrieben, sondern auch eine religionstheoretische Einsicht formuliert, die ihn und die Religionsgeschichtliche Schule insgesamt in die Tradition neuprotestantischer Emanzipationsbestrebungen von einem dogmatischen Christentumsverständnis stellt. In religionstheoretischer Perspektive gilt also, dass Religion zunächst als ein Bewusstseinsphänomen anzuerkennen ist, das für sich selbst besteht. In der Selbstbeschreibung wird Religion als ein Widerfahrnis beschrieben, etwas, das das Subjekt nicht willkürlich selbst erzeugt hat. Religion wird also erlebt und stellt sich unableitbar in der menschlichen Erfahrung ein – unabhängig von allem Denken und Wissen. Religion wird so gleichsam zum schlechthin Irrationalen. Damit ist gleichzeitig der theologiekritische Richtungssinn benannt, der der religionsgeschichtlichen Perspektive inhäriert.57 Das religiöse Erleben soll in seiner vorreflexiven Vorgängigkeit gegenüber dem rationalisierenden Zugriff vonseiten der Theologie immunisiert werden. Ist damit gleichsam ein gemeinsames Anliegen der Religionsgeschichtlichen Schule genannt, so weichen die jeweiligen Verhältnisbestimmungen von Religion und Theologie allerdings nicht unerheblich voneinander ab. Exemplarisch sei hier auf Rudolf Otto verwiesen, dessen Eintreten für „das Eigenrecht einer solchen vorreflexiven Gefühlsreli-

56 RuNT 271. 57 Vgl. Laube, Otto, 226, der Boussets Verhältnisbestimmung von Religion und Theologie mit dem Zugang von Rudolf Otto vergleicht.



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gion“ nun gerade, wie Martin Laube zeigen konnte, auf ihrem „Gegensatz zur vernünftigen Reflexion“58 basiert. Bousset optiert hier anders. Zum äußeren Anlass für eine eingehendere Reflexion über das Verhältnis von Religion und Theologie, das immer schon die Voraussetzung seines theologischen Denkens bildete, wird ihm die öffentliche Klage eines Studenten, dass das theologische Studium nicht mehr erbaue, vielmehr zur einer Belastung für die Frömmigkeit werde.59 Als Grund für diese Belastung wird, so Bousset, ein Übermaß an historischem Wissen verantwortlich gemacht, das zunächst einmal das Gefühl des „Abstandes der Zeiten“60 und der Fremdheit des Gewesenen bewusst mache und sodann das Gefühl der Unbewältigbarkeit und Unabgeschlossenheit theologischer Erkenntnis evozierte – das Theologiestudium schien für Boussets Studenten in eine nicht bewältigbare Stoffhuberei umzuschlagen. Diesem Eindruck von der Praxisuntauglichkeit des Theologiestudiums steht laut Bousset ferner die allgemeine Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, „unmittelbarer Erbauung, [...] unmittelbare[m] Schauen“61, entgegen, die laut Bousset insbesondere für die aus dem Krieg heimgekehrten Studenten charakteristisch sei.62 Dabei ist die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit im Kreise der Theologiestudenten nur ein Symptom eines drohenden „Zeitalter einer neuen christlichen Gnosis“63. Gnostisch sei ein nicht geringer Anteil des modernen Christentums darin, dass sie – analog der antiken Gnosis64 – die Bedeutung der Geschichte unterminieren und nur noch den „Rausch der Unmittelbarkeit“65 suchten. Unter diesen Bedingungen muss die Theologie immer das Fremde für die Religion bleiben. 58 Laube, Otto, 227. 59 Vgl. RuT 29.32; zu Boussets Krisenbewältigungsstrategie gegenüber dem Eskapismus der Unmittelbarkeit vgl. Graf, Systematiker, 267: „Dem Bewußtsein des Bruchs mit der Vergangenheit gegenüber weist Bousset auf eine die Tiefenstruktur der Kultur determinierende geschichtliche Kontinuität hin, die durch die Christentumsgeschichte repräsentiert wird und im Rekurs auf den Anfang christlicher Religion je neu wahrgenommen werden kann. Das ist eine Möglichkeit der Krisenbewältigung, die Bousset sich dann auch selbst zu eigen macht.“ Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund dieser Vorlesung vom 20. Juni 1919 vgl. ebd. 265f; für Graf stellt jene späte Vorlesung, die allerdings wesentliche Motive von Boussets frühen religionstheoretischen Prämissen weiterführt, völlig zurecht „ein faszinierendes Dokument der Vermitteltheit von Theologie und Zeiterfahrung“ (ebd. 265) dar. 60 RuT 31. 61 RuT 31. 62 Die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit speist sich nach Bousset aus der Erfahrung des Zusammenbruchs aller Gewissheiten: „Sie sind aus der Not des Krieges mit glühender Sehnsucht und heißem Heimweh der Seele zurückgekehrt. Sie sind gespannt auf das unerhört Neue, das Wunderbare. Und ist die äußere Welt zusammengebrochen, so wollen Sie den Halt im Innern, eine Gottesstimme, die zu Ihnen redet, ein Letztes, Festes, Ganzes, auf dem Sie fußen können“ (RuT 31). 63 RuT 35. 64 Vgl. hierzu Boussets Gnosiskapitel in KC 183–214, insbesondere 214f. 65 RuT 35. Die antike Gnosis als Gegnerin des „an die Vergangenheit gebundenen Glaubens und jede auf diesem Fundament sich erhebende rationale Betrachtung“ und dem „revolutionären Schlachtruf gegen die Vergangenheit: Fort mit dem Alten Testament!“ (ebd 34) wird hier gewisser-

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Schon Boussets historische Studien haben ihm gezeigt, dass Religion und Theologie von einem spannungsvollen Verhältnis zueinander bestimmt sind. Zunächst ist die Theologie jedoch eine späte Entwicklung in der Religionsgeschichte. Erst mit den zum Universalismus strebenden „höchststehenden Religionen“66 entwickelte sich auch eine Theologie, deren Proprium Bousset gerade darin erblickt, dass sie Religion auf alle übrigen Lebensbereiche beziehen will. Weder die Nationalreligionen noch die Propheten haben eine Theologie entwickelt. Die Religion der Nationalreligion erschöpfte sich in ihrer hierarchiestabilisierenden Funktion als „dumpfe, an Sitte und Brauch, an Kult und Herkommen gebundene Macht“67, die so ihre kultur- und ideologiekritische Funktion, einbüßte. Auf der nächsthöheren religionsgeschichtlichen Stufe der Propheten kann Bousset ebenso wenig Theologie entdecken. Religion kommt hier ausschließlich in ihrer irrationalen Seite zum Ausdruck, indem die Propheten allein die fordernde und furchteinflößende Seite der sich offenbarenden göttlichen Wirklichkeit betonen. Erst die zum Universalismus strebende Religion des Diasporajudentums hat eine Theologie im Vollsinn entwickelt und für die Bearbeitung der Religion den Rückgriff auf die menschliche Vernunft eröffnet. Allerdings zeigen sich nach Bousset gerade in der ‚spätjüdischen‘ Frömmigkeit besonders nachdrücklich die eigentümlichen Gefahren, die das spannungsvolle Verhältnis von Religion und Theologie nach nur einer Seite aufzulösen drohen. So erkennt Bousset insbesondere in der pharisäischen Frömmigkeit die Einhegung der Religion durch die Theologie, die die vormals universalistische Religion in eine partikularistische Buchfrömmigkeit umschlagen ließ.68 Jesus ist in Boussets früher Deutung entsprechend der Befreier der Religion von den Übergriffigkeiten der Theologie.69 Aber auch die christliche Religion selbst ist anfällig für eine wenig maßen zum Ahnvater einer Richtung der modernen Frömmigkeit, die Bousset meint als moderne christliche Gnosis beschreiben zu können. Interessanterweise erkennt Bousset in den Apologeten die Retter des Christentums aus den Wirren der Antike (ebd.), zu deren Eigentümlichkeit ja gerade die Bezugnahme auf philosophische Referenzsysteme zählte. Harnacks These der Hellenisierung des Christentums würde Bousset historisch zustimmen, allerdings erkennt er in der sich ausbildenden kirchlichen Theologie ein unaufgebbares Mittel, um das Christentum vor dem Schicksal einer Sekte zu bewahren. Freilich lösen die Apologeten am Ende die christliche Religion in ein „Bündel der menschlichen Erkenntnis zugänglicher Wahrheiten“, also in eine „verständige Weltanschauung“, auf und verkennen dabei, dass Religion eben „etwas Ureigenes auf eignem Grunde sei: das Verhältnis der Seele zu Gott“ (KC 330). Sie haben die Religion mit ihrem philosophischen System zur Deckung gebracht. Das „Problem von Glaube und Wissen“, das christentumsgeschichtlich hier zum ersten auftauche, gipfelt hier in einer „hoffnungslose[n] Verwirrung“ (ebd. 331). Zu Boussets Apologetendeutung, die eine „Gesamtanschauung voller Widersprüche“ (ebd. 328) darstellt, vgl. ebd. 328–333. 66 RuT 33. 67 RuT 3. 68 Zu Boussets Deutung des Pharisäismus s. u. Kap. 2.1.5. 69 Vgl. nur WdR 200: Der historische Jesus „befreite […] die Frömmigkeit von der Gelehrsamkeit. Seine eigentlichen und ingrimmigsten Gegner sind die Schriftgelehrten, die Theologen. Für ihn ist Frömmigkeit […] etwas ungeheuer Einfaches, nicht etwas, was man sich anstudiert.“



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segensreiche Vorherrschaft der Theologie. Insbesondere Paulus intellektualisiert nach Bousset sogar in letzter Konsequenz die christliche Religion, indem er sie in den Glauben an ein theologisches System, in dessen Mitte die einmal vollzogenen Heilstaten standen, überführte.70 In der Christentumsgeschichte habe es sodann nicht an theologiekritischen Bewegungen gemangelt. Gleichsam zu den Ahnherren des modernen Emanzipationsstrebens der Religion gegenüber der theologischen Bevormundung, wie es u. a. in der modernen Gemeinschaftsbewegung seinen Ausdruck findet, erhebt Bousset die Schwärmer, die im spiritualistischen Unmittelbarkeitspathos sich von den Wittenberger Universitätstheologen lossagten. Was Boussets Studenten als ein quälendes Problem der zeitgenössischen Universitätstheologie ansahen, erkennt Bousset selbst als ein auf Dauer gestelltes Problem, das nur „Kriegszeit und Kriegsnot […] wieder besonders lebendig zum Bewußtsein gebracht haben.“71 Bousset nähert sich diesem Problem unter Rückgriff auf ein leicht variiertes Wort von Ernst Troeltsch: „Die Theologie ist für die Religion ebenso wenig schwer zu ertragen wie zu entbehren.“72 Bousset führt sodann eine prägnante Definition der Theologie ein: […] was ist Theologie? Doch nichts anderes als der Versuch der wissenschaftlichen Bearbeitung der Erscheinung Religion mit allen Mitteln, welche der Wissenschaft zur Verfügung stehen, mit den Mitteln der Philologie, der Geschichte des systematischphilosophischen Denkens.73

Theologie ist für Bousset also die nachgängige Reflexion auf die stets vorgängige religiöse Praxis. Die Pointe von Boussets Theologieverständnis liegt jedoch darin, dass der Theologie keine exklusiv theologische Methode zur Verfügung steht. Sie ist nur darin Wissenschaft, indem sie auch auf Grundlage der wissenschaftstheoretisch geltenden Methoden arbeitet. Und dies ist unter dem geltenden Paradigma des Historismus zunächst die historische Methode, auf deren Weg allerdings eine Normbegründung für die Praxis unmöglich wird. Religionsphilosophische Geltungsprobleme sind zwar auch in Boussets Theologiebegriff integriert, aber durch 70 Dazu vgl. Kap. 3.2.2.1. 71 Vgl. RuT 29. 72 RuT 30. Bousset bezieht sich auf Troeltschs 16. Promotionsthese, vgl. Troeltsch, Thesen, 71. Dort ist freilich anstelle der Religion von der Kirche die Rede. Bousset hat gegen Troeltschs Promotionsthesen am 14. Februar 1891 opponieren müssen (vgl. Graf, Systematiker, 268; Graf deutet die Aufnahme des Troeltsch-Zitats zurecht als „Ausdruck dafür, wie sehr sich Bousset in systematischer Hinsicht dem alten Freunde [sc. Troeltsch] verpflichtet wußte“ [ebd.]); Boussets Nähe zu Troeltschs Denken gilt m. E. unbeschadet des Dissens hinsichtlich der Reichweite der neufriesianischen Religionsphilosophie, wie Kap. 2.2.6 noch zeigen wird. Troeltsch wird so als „Kronzeuge[]“ (ebd. 268) gegen Ottos Religionstheorie eingeführt, die mit ihrem „Irrationalitäts-Axiom“ für Bousset, laut Graf, „zum Ausgangspunkt all der neuen Strömungen in Theologie, Kirche und Zeitgeist [wird], die religiöse Unmittelbarkeit und Eskapismus aus der Geschichte zum Programm erheben“ (ebd. 269). Allerdings muss hier gegenüber Grafs an sich plausiblen Beobachtungen eingeschränkt werden, dass Bousset diesen Zusammenhang nicht explizit macht. 73 RuT 30.

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deren Bearbeitung wird gerade die Distanz zur gelebten Religion noch zusätzlich erhöht: Theologie – erkenntnismäßige Erfassung der Religion! Ist das nicht ein Widerspruch in sich und Quadratur des Zirkels? Ist Religion nicht das Irrationale im Menschenleben? Das Urirrationale, tiefstes Geheimnis der menschlichen Seele, das über sie kommt, wie etwas Fremdes, ganz Ungeheures, Gewaltiges in Erschauern und Bangen, in Entzücken und Grausen, in ehrfürchtigem Staunen, im Aufruhr tiefster Gefühle. […] Ist da nicht alle Theologie, dies Begreifenwollen des Unbegreiflichen ein unmögliches Begehren, ein schädliches Beginnen?74

Die Theologie droht also stets vermittels der Reflexion die affektive Dimension religiöser Erfahrung zu kompromittieren, indem sie meint, einen Begriff davon erstellen zu können, was sich allem begrifflichen Zugriff entzieht. Freilich fällt damit nicht nur die eigene Unfähigkeit der Theologie auf sie selbst zurück, vielmehr wird sie zu einer Belastung für die Religion, indem sie einerseits in historischer Perspektive die Relativität der religiösen Ausdrucksformen vor Augen führt, andererseits in religionsphilosophischer Perspektive einen Normbegriff der Religion erstellt, der notwendig zu einer Verengung individueller Frömmigkeit führen muss. Die Lebensdienlichkeit der Theologie ist für Bousset in dieser Perspektive kaum mehr begründbar. Die Stimmung, die sich unter Boussets Studenten ausbreitete, war für Bousset also letztlich nachvollziehbar. Denn wenn die Theologie nun allerdings immer der Religion nachgängig ist, was soll dann ihre Aufgabe sein, außer die nachträgliche Irritation der Frömmigkeit durch ihre historische Überlieferungskritik? Allerdings erschöpft sich die Theologie nicht in Kritik und Irritation der Frömmigkeit. Ihr kommt noch eine andere Funktion zu, die sie eben „unentbehrlich“75 für die Religion macht. Zunächst setzt Bousset mit der vermeintlich banalen Beobachtung ein, dass der Wille der Religion zur Selbstunterscheidung von der dogmatischen Tradition doch letztlich von der Theologie selbst formuliert worden ist.76 Hier spricht sich Boussets Hoffnung aus, dass, wenn sich die Theologie ihre Begrenztheit bewusst halte, sie durchaus das Eigenleben der Religion wahren kann, ohne sie zwangsläufig lehrhaft-dogmatisch vereinnahmen zu müssen. Wahrt die Theologie gleichsam diese Distanz zur Religion und versteht sich wirklich nur als reflexive Bearbeitung derselben, ist dies einmal förderlich für die Religion selbst, denn die Theologie, auch die historische Theologie, hilft dem religiösen Subjekt, sich Rechenschaft über die gemachte Erfahrung zu geben.77 Sodann kommt der 74 RuT 30f. Das Verdienst, die Seite der Irrationalität, der Uneinholbarkeit und Unableitbarkeit der Religion, kurz der Vorgängigkeit der Religion vor aller Theologie zur Geltung gebracht zu haben, gebührt Boussets „Freund Otto“, der dies in „seiner Schrift [sc. Das Heilige] so lebendig und mit so reichem Material zur Darstellung gebracht [hat]“ (ebd.). 75 Vgl. RuT 33. 76 Vgl. RuT 33. 77 Zur primär historischen Ausrichtung der Theologie bemerkt Bousset nur, dass damit die Christlichkeit der Religion steht und fällt. Christliche Religion „wurzelt in der Vergangenheit und



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Theologie aber auch die Funktion zu, die Religion nicht als bloßen Irrationalismus stehen zu lassen. „Denn es steht nun doch so: die Religion ist keine schlechthin irrationale Macht. […] Wäre die Religion nur jenes Irrationale, so wäre sie etwas Unheimliches, Vernichtendes, Tötendes.“78 Bousset schreibt nun aber Religion selbst auch ein rationales Moment ein79, das wiederum im Gottesgedanken seinen Ausdruck findet – dieser wird eben nicht nur als verstörendes, die menschliche Existenz relativierendes Erlebnis erfahren, sondern immer auch als segnende Macht.80 Dieses rationalitätsfähige Moment kommt für Bousset darin zum Ausdruck, dass die Religion im Verlauf der Religionsgeschichte immer mehr diesen Erfahrungsgehalt entfaltete. Bousset verknüpft diese Analyse religiöser Erfahrung mit der geschichtsphilosophisch grundierten These der sukzessiven Ausgestaltung des rationalen Momentes in den höheren Religionen. Historisch meint Bousset diese These zudem bewähren zu können, immerhin ist ihm zufolge die christliche Persönlichkeitsreligion die Religion der großen westlich-europäischen Kultur. Denn durch den gesteigerten rationalen Gehalt in der christlichen Religion ist in dieser eine Anschlussrationalität für „alle[] rationalen Mächten menschlichen ist gebunden an die Geschichte. Christliche Religion hat ihr Fundament in den Urkunden des alten und des neuen Testamentes und christliche Religion kann es mit diesen Fundamenten gar nicht ernst und genau genug nehmen“ (RuT 39). Denn die Erfahrung des ‚gegenwärtigen Christus‘, der die Frage nach dem historischen Jesus vermeintlich bedeutungslos werden lässt, lässt sich von „Phantasmata“ nur unterscheiden, indem sie „ständig an der geschichtlichen Erscheinung Jesu von Nazareth und der geschichtlichen Wirkung, die von ihm ausging [, prüft]“ (ebd. 40). Dies ist eine unvergleichlich mühselige, sich in „Kleinarbeit“ (ebd. 40) zu verlieren drohende Arbeit, wie Bousset insbesondere für seine Disziplin exemplifiziert. Allerdings bemerkt er auch, dass diese Arbeit schlicht notwendig sei, da sie schon durch die Philologie eröffnet wurde. Die Philologie erforscht denselben Gegenstand wie die Theologie und es könnten auch, wie ein Jahrzehnt zuvor in Drews’ Thesen – vgl. Kap. 2.2 –, „[...] einmal sehr radikale Folgerungen gezogen werden“ (ebd. 42). Die historische Theologie muss also mit der Philologie um die Deutungskompetenz ringen. Diese das religiöse Leben irritierende oder sogar bedrückende Kleinarbeit dominierte gegenwärtig die historische Theologie. Erst wenn dies getan ist, kann eine religiös bedeutsamere „zusammenfassende geschichtliche Arbeit“ (ebd. 40; vgl. auch ebd. 30) erfolgen. Die Schnittmengen zu Troeltschs Programm sind hier kaum zu übersehen (vgl. außerdem Evangelienkritik, 50f; MPT Kaftan, 294f, wo Bousset in groben Strichen dieses Programm erläutert); dies wird zu beachten sein, wenn in Kap. 2.2.6 die Differenzen zwischen Bousset und Troeltsch verhandelt werden. Das großangelegte Programm einer kulturgeschichtlichen Annäherung an das Wesen des Christentums verliert Bousset trotz seiner Hinwendung zum rationalistischen Neufriesianismus nicht aus den Augen. 78 RuT 36. 79 Vgl. Laube, Otto, 230f; Graf, Systematiker, 269. Für Boussets Religionstheorie sei eigentümlich, dass die Religion selbst einen „spezifischen Gehalt von Rationalität“ aufweist (Graf, 269). Graf deutet Boussets Religionstheorie als Fortschreibung seiner Promotionsthesen und der in diesen artikulierten religionstheoretischen Annahme, dass Religion immer durch rationale Gehalte „mitkonstituiert“ ist (ebd. 254), was auch zu überzeugen vermag. Graf kann hinsichtlich der Rationalität der Religion wiederum eine nahezu identische Position mit dem jungen Troeltsch erkennen (ebd.). 80 Zur Akzentverlagerung gegenüber Otto vgl. Laube, Otto, 229–231.

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Geisteslebens“ hergestellt, sodass die Religion sich „mit Recht und Staat und Volksleben, mit Kunst, Moral und Streben nach letzter Erkenntnis innig verbunden [hat].“81 Freilich fällt Bousset damit nicht hinter seine religionstheoretische Prämisse der unaufhebbaren Irrationalität der Religion zurück – ohne diese ihr eigentümlich eingeschriebene Spannung zwischen irrationalen und rationalen Erfahrungsgehalten ist Religion nicht zu haben –, allerdings spielt dieses Moment für die kulturprägende Kraft der Religion eine verminderte Rolle. Nur durch die Beziehung der sich sukzessive selbst rationalisierenden Religion auf alle kulturerzeugenden Bereiche des menschlichen Geistes könne nach Bousset vermieden werden, dass die Religion die Sozialgestalt der Sekte82 annehme. Allerdings darf die Religion wiederum nicht ihre kulturkritische Kraft verlieren, die sie immer über die Kultur hinausstreben lässt, denn dann wäre sie wieder auf der Stufe der Nationalreligionen angelangt, in der die Religion fest zur Machterhaltung funktionalisiert ist und damit ihrer irrationalen, überweltlichen Kraft beraubt ist. Als Vermittlerin zwischen diesen Bereichen kommt hier der Theologie die allergrößte Bedeutung zu, nämlich die Aufgabe, eine „gemeinsame Sprache zu schaffen, in der man sich über die Religion verständigt.“83 Denn erst wenn eine allgemein zugängliche Sprache abseits ekstatischer Rede von der Religion hergestellt ist, kann überhaupt ein Transfer der religiösen Anliegen in das „allgemeine menschliche Leben“84 gelingen. Bousset erkennt in der Theologie demnach den entscheidenden Multiplikator der Religion für das gesamtkulturelle Leben. Insbesondere in Zeiten der allgemeinen Krise, die Bousset für das Jahr 1919 noch einmal nachdrücklicher spürt als für die Vorkriegsjahre, wäre es verheerend, wenn die Religion sich auf ihr „vertieftes Eigenleben“85 zurückziehen würde. Dies käme für Bousset einem „Kräfteverbrauch“86 gleich, der die allgemeine Kulturarbeit letztlich orientierungslos zurücklässt und die religiösen Kreise zu einer Sondergruppe werden lässt. Die Vermittlung kann aber nur die Theologie als Wissen um die Religion leisten. Theologie ist damit nicht allein ein retardierendes Moment für die Religion. Sie lässt die Religion sich entfalten und reguliert87 höchstens das religiöse Leben, indem sie Einseitigkeiten und Engführungen aufdeckt und überkommene Formen der Kritik unterzieht und so Autoritätsstrukturen abbaut.88 Vielmehr sind es die wissenschaftlichen Kernkompetenzen „Können, Wissen, und 81 RuT 37. 82 Umgekehrt gilt, dass das Auftreten einer Sekte auch auf eine zu enge Bindung der Religion mit der Kultur hindeuten könnte, vgl. RuT 38. 83 RuT 38. 84 RuT 38. 85 RuT 38. 86 RuT 39. 87 Vgl. RuT 38. 88 Für diese Aufgabe erhofft sich Bousset insbesondere von der neufriesiansichen Religionsphilosophie materiale Normen zur Kritik des religiösen Lebens der Gegenwart; vgl. hierzu Kap. 2.1.6.



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Erkennen in Schweiß und Arbeit“89, die es erlauben sollen, die Sprache zu finden, anhand derer die kulturprägende Kraft der Religion für die übrigen Lebensbereiche aufgeschlossen werden kann. Gegenüber einer überzogenen Kritik an der Theologie, die Religion nur als eine irrationale „Kraft“ verstehen will, wendet Bousset ein, dass zwar theologische „[...] Einsicht Kraft nicht schaffen [kann], aber sie kann die vorhandene regulieren und so doch indirekt Kraft bedeuten.“90 Bousset ist es also darum zu tun, keine Diastase zwischen Religion und Theologie aufkommen zu lassen, sondern deren Wechselwirkung zu betonen. Zwar wird die vorreflexive Uneinholbarkeit der Religion nicht angetastet, doch ist die Theologie das unentbehrlich Andere der Religion.91 Sie wird nie Religion erzeugen, aber sie stabilisiert sie und findet eine Sprache, die einen Bezug auf die allgemeine Kulturarbeit erst ermöglicht. Für die gegenwärtig empfundene Krise wäre es laut Bousset also verheerend, wenn die Theologiestudenten in ihrer verständlichen Sehnsucht nach unmittelbarem Erleben auf dem Weg der Sekten wandeln und in eine enthusiastische Sondergruppensemantik verfallen. Mit der Bousset eigenen Emphase hebt er nochmals auf das „aristokratische“92 Selbstverständnis der Theologie ab, das sich auch die Theologiestudenten zu eigen machen sollen; in Zeiten der Krise bedarf es der „Führer“93. Mögen auch in den höheren Religion keine Weiheunterschiede zwischen Laien und Fortgeschrittenen anerkannt sein, in der Kulturwelt gibt es graduelle Unterschiede in der Bildung, die freilich dazu verpflichten, diese erworbenen Kompetenzen auch dem Ganzen zukommen zu lassen und so vermittels eines Transfers die Schätze der Religion für die Allgemeinheit aufzuschließen: „Es handelt sich […] um Ihre spezielle Aufgabe, die Sie als Theologen haben, die Sprache zu finden, in der Sie die Religion des Evangeliums dem deutschen Volk der Gegenwart verkünden können, so daß Sie verstanden werden.“94

Exkurs: Die Kulturbedeutung der Religion Bousset geht also von einem konstitutiven Bezug der Religion auf die Kultur aus. Und doch inhäriert seine Religionstheorie eine eigentümliche Spannung zwischen Religion und Kultur. Schon in seiner Wesensschrift spricht Bousset von einem „nahen und wieder eigentümlich konträren Verhältnis“95 zwischen Religion und Kul89 RuT 43. 90 RuG 42. 91 Zur sachlichen Parallele bei Troeltsch, dem es auch um den Aufweis der „Wechselwirkungen von Religion und Theologie“ zu tun ist, vgl. Voigt, Methode, 157–161, hier 160. Bousset fasst dies in das Bild von Pol und Gegenpol, vgl. RuT 43. 92 RuT 32. 93 RuT 43; vgl. hierzu grundlegend die Darstellung der Sozialphilosophie Carlyles in Bousset, Carlyle, 299. 94 RuT 43. 95 WdR 12.

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tur. Zwar ist einerseits beiden gemeinsam, dass sie sich als ein Streben nach Gütern beschreiben lassen. Was die Kultur an kulturellen Gütern bildet, wuchs ihr in Boussets Kulturdeutung letztlich durch die Religion zu, die so gleichsam zur „Pfadfinderin neuer Kulturgüter“96 geworden ist. Aus religiösen Motiven wurden im Rahmen der Religionsgeschichte bestimmte Güter erzeugt, denen eine bestimmte soziale Funktion zukam: Das öffentliche Recht wurde beispielsweise auf dem Hintergrund der Furcht des Stammes vor der nach Sühne für das übertretene Recht trachtenden Gottheit gebildet.97 Jener Glaube der Nationalreligion – dazu s. u. – verschwindet auf höheren Stufen des religiösen Lebens und der nunmehr in die Selbständigkeit entlassene „Gedanke des öffentlichen Rechts wird zum gewaltigen Hebel des kulturellen Fortschritts.“98 In dieser Funktion der Religion für die Herausbildung von Kulturgütern zeigt sich die in genetischer Hinsicht ‚positive‘ Kulturbedeutung der Religion. Was für das öffentliche Recht gilt, gelte nach Bousset ebenso für die Kulturgüter ‚Wissen‘ und ‚Moral‘. Beide wurden im engen Verbund mit den Bedürfnissen des religiösen Lebens erzeugt und dann dem „profanen Gebrauch“99 überantwortet. In diesem Prozess der Ausscheidung der Kulturgüter erweist sich die Kultur als „glückliche Erbin der Religion.“100 Diese Ausscheidung aus dem religiösen Bezugsrahmen erfolgte immer dann, wenn das religiöse Leben sich auf eine höhere Stufe gehoben hatte, auf der es sich aus den Funktionsbereichen öffentlichen Lebens, exemplarisch nennt Bousset wiederum Recht, Wissen und Moral, herauslöste. Solange nun jedes Kulturgebiet innerhalb seiner Grenzen operiere, sei grundsätzlich eine friedliche Koexistenz möglich, in der sogar „leicht ein gedeihliches und gegenseitig förderndes Verhältnis“101 ausgebildet werden kann. Dies bedeute einerseits für die Religion, dass sie auf den höheren Stufen keinen Anspruch mehr hegt, dem Weltwissen, aber auch dem moralischen Handeln, ein geoffenbartes, supranaturales Tatsachenwissen aufzuzwingen, was einer zu vermeidenden Grenzüberschreitung gleichkäme;102 in einen Bereich, der seine Gehalte nunmehr aus anderen, immanenten Quellen – dazu s. u. – bezieht. Diese anerkannte Selbständigkeit bestimmter Kulturgüter kommt nun vor allem der Religion und ihrer Weltdeutung wieder selbst zugute, denn durch die Freisetzung der Kulturgüter löste sich das religiöse Leben aus seinen ursprünglichen, sozialen Funktionen und konnte sich so

96 WdR 13; vgl. auch WdR 3: „Alles höhere menschliche Leben ist zunächst im Bunde mit der Religion emporgestiegen.“ 97 Vgl. WdR 13f. 98 WdR 14. 99 WdR 14. 100 WdR 14. 101 WdR 13. 102 Religion hat es vielmehr mit der „letzten Wahrheit und Wirklichkeit“ und mit „dem, was sein soll“ (RK 27) zu tun und weist damit über die Natur- und Geschichtswissenschaft und ihren Theorien über die objektivierte Welt in Natur und Geschichte hinaus.



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wieder auf das diesem Eigentümliche – „Gott und die Seele“103 – konzentrieren: „[w]as sie [also] an Breite verlor, gewann sie an Tiefe und konzentrierter Kraft.“104 Bousset rekonstruiert demnach die Religions- und Kulturgeschichte letztlich als einen Befreiungsprozess der Religion von aller funktionalen Gebundenheit in der Kulturarbeit. Am Ende dieser kulturgeschichtlichen Entwicklung steht nunmehr die selbständige, moderne Kultur, die nun aber im Gegensatz zur kirchlich geprägten Einheitsund Autoritätskultur des Mittelalters nicht mehr kirchlich eingehegt werden kann,105 sondern „[...] ganz aus eigener Kraft [handelt].“106 Und es liegt durchaus in der Fluchtlinie dieser Entwicklung der Emanzipierung bestimmter Kulturgüter, dass sich in der Neuzeit Moralvorstellungen etablieren konnten, die ihre Prinzipien nicht der Religion verdanken: „Auf diesem Grunde [sc. der selbständigen Kultur und ihrer Funktionssysteme] erheben sich die Systeme einer religionsfreien, an dem Gedanken der menschlichen Gemeinschaft orientierten, durchaus diesseitigen Moral, eine Gesamtanschauung, die wir etwa mit dem Namen Deismus zusammenfassen.“107 Der Deismus steht hier in Boussets Neuzeitdeutung stellvertretend für alle Strömungen, die ihre Normen allein aufgrund „einer rein immanenten Anschauung“108 generieren wollen. Und solange jene Strömungen es vermochten, der Religion – ungeachtet ihrer kirchlichen Ausprägung – abseits ihres Systems noch einen Platz in ihrer Weltanschauung zuzuweisen – wie die Aufklärung und der deutsche Idealismus109 –, lassen sich diese Ausgestaltungen der Kulturgeschichte der Neuzeit als legitime Nebenfolgen des Befreiungsprozesses der Religion zu sich selbst begreifen, von denen beide Seiten, Kultur und Religion, letztlich profitieren. Nur dann kann wirklich von einer Überführung der mittelalterlichen Einheitskultur in eine moderne Kultur der Immanenz gesprochen werden. In dieser kulturgeschichtlichen Linie steht allerdings auch der „nordamerikanisch-englische[] Pragmatismus“, der auf Grundlage der Kriterien „Nutzen und biologische Brauchbarkeit“ unter Ab103 RK 22. 104 WdR 5; vgl. auch RK 30. Geht die Religion allerdings in ihrer kulturschaffenden Funktion auf, dann wird sie zu bloßen „‚Stütze‘ des Bestehenden im Bündnis von Thron und Altar“ (RK 33) und kann so nicht mehr zur „ewigen Unruhe“ (ebd.) in der Kulturgeschichte werden und kulturelle Fehlentwicklungen korrigieren. 105 Vgl. WdR 243ff; RK 31. In ausdrücklichem Anschluss an Ernst Troeltschs Protestantismusstudien erkennt Bousset die Quellen der modernen Kultur vor allem in der Antike und billigt dem reformatorischen Christentum eine – bezogen auf die moderne Kultur – nur mehr relative Kulturbedeutung zu (vgl. RK 24; Bousset spricht auch vom ‚indirekten Einfluss‘, vgl. RK 32; herzu vgl. Kap. 4). Allerdings scheint der Protestantismus eine besondere Affinität zur modernen Kultur zu besitzen, immerhin erblickt Bousset eine gewisse Folgerichtigkeit darin, dass sich erst in den „protestantischen Ländern“ die moderne Kultur ausbilden konnte (WdR 243). 106 RK 29. 107 WdR 244. 108 RK 30. 109 Vgl. hierzu WdR 244

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blendung der Religion ebenfalls versuche, „[...] eine zusammenhängende Weltanschauung zu gewinnen“110 und auf diese Weise Kulturgüter zu erzeugen. Allerdings erkennt Bousset im Rückzug auf diese immanenten Prinzipien ein Problem der modernen Kultur überhaupt. Denn einerseits unterliegen die immanent gebildeten Kulturgüter einer Norm, der nach Bousset ein höchst relatives Moment innewohnt, sodass weder von ihnen ein handlungsorientierendes Potenzial zu erwarten ist, noch dass die Kulturarbeit sich auf ein bestimmtes Ziel zubewege.111 Eine teleologisch gerichtete Kulturarbeit, die „irgendwann [...] in das ewig von Gott Gewollte“112 einmündet, ist somit nur mehr aus der Perspektive des Glaubens zu erlangen – die immanent verfahrenden Normbegründungsversuche verfügen eben nicht mehr über eine „letzte absolute Zweckmäßigkeitslehre“113, die dem Ethos der selbständigen Kultur eine Teleologie und damit auch einen Sinn unterlegen könnte. Andererseits sieht Bousset die Tendenz zur Absolutsetzung der selbständigen Kultur gegeben, die eigentlich gar nicht in ihrem Vermögen liegt114, vielmehr Teil eines Dekadenzphänomens einer im Niedergang begriffenen Kultur ist. Hier erhebt dann die Religion ihre Stimme, die zunächst als „Kritikerin der Kultur“115 jede sich absolut setzende Kulturbildung auf ihre Vorläufigkeit hinweist und sie so zum bloßen Mittel zum Zweck der Arbeit am Reich Gottes herabsetzt:116 Die Religion, insbesondere die christliche, verkünde vielmehr, „daß der einzelne an ihr und in ihr [sc. der Kulturarbeit] sich erheben soll zum bewußten Handeln nach Gottes Geboten.“117 Hierin, in der Kritik der sich selbst absolut setzenden Kultur, erschöpft sich dann aber auch weitestgehend die Kulturbedeutsamkeit der Religion. Denn positive Normen kann sie wiederum nicht selbst generieren118, auch sie speisen sich aus anderen Quellen. Die Religion bildet – so wird man Bousset lesen müs110 RK 30. Die kirchliche Konsolidierung im 19. Jahrhundert bedingte dann ferner ein „weiteres starkes Zurücktreten des Einflusses der Religion“ (WdR 245) in der Kultur, was für Bousset offenkundig ein Missstand bedeutete. 111 „Das Allerunsicherste, die biologische Nützlichkeit und Brauchbarkeit[,] macht man zum Maßstab dessen, was das Allergewisseste und Sicherste sein soll“ (RK 30). Zur Begründung der Kulturarbeit reiche der Rekurs auf utilitaristische Prinzipien nicht aus, vielmehr zeige die Geschichte, dass „die Kulturarbeit des Menschen sich in tote Geleise verirrt und daß sie in verkehrte Formen gepreßt wird und sich in ihnen festlegt“ (RK 30), wenn sie sich an rein utilitaristischen Prinzipien ausrichte. 112 RK 29. 113 RK 29. 114 Vgl. RK 30: „Der Kulturarbeit selbst fehlen durchaus die letzten Maßstäbe und Normen der Kulturarbeit.“ 115 RK 30. 116 Vgl. WdR 240. 117 WdR 240. Freilich versteht Bousset unter „Gottes Geboten“ nicht den geschichtlichen Ausdruck des göttlichen Willens in der Schrift. Vielmehr sind diese im „Gefühl heiliger Verpflichtungen“, im „Gefühl, daß etwas sein soll und etwas unbedingt nicht sein soll“ (RK 26) enthalten. 118 Vgl. RK 29.31. Analog dazu liegt die Bedeutung der Reformation allein darin, dass sie die Religion aus ihrer Funktionalisierung in der mittelalterlichen Einheitskultur herauslöste und so wieder eine „innere[] religiöse[] Freiheit“ ermöglichte. Einen bedeutenden Impuls für neue Kul-



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sen – sozusagen die Letztbegründung bzw. das kritische Korrektiv der positiven, geschichtlichen Normen, auf denen dann die selbständige Kultur aufbaut – die Religion nimmt in Anspruch, alle Kulturarbeit immer „sub specie aeternitatis“119 zu leisten. Diese Integrationsleistung von Religion und Kultur haben dann vor allem bedeutende Kulturformationen wie Aufklärung und Idealismus vorgenommen, zu deren Voraussetzung ungebrochen die „in sich selbst ruhende[] menschliche[] Kultur“ gehöre.120 Bousset beklagt offenkundig, dass gegenwärtig eine solche Integration durch die aus der Religionskritik hervorgegangenen, pragmatistisch-utiliaristischen gesonnenen Gegenströmungen praktisch gegenstandslos ist und Religion nur noch zur Privatsache gemacht wird. Jenen immanenten Kulturtheorien setzt Bousset die Unterscheidung zweier „Sphären des menschlichen Daseins“121 entgegen, der inneren und der äußeren Kultur. Während die äußere Kultur ausschließlich vermittels der Wissenschaft auf das Naturbeherrschen zielt und gleichsam im menschlichen Wesen angelegt ist – denn „die Natur [zwingt] uns, Kultur zu treiben“122 –, bezieht sich die innere Kultur auf Freiheit und Sittlichkeit, die dem Menschen gemäß Bousset theologischem Kantianismus als Sittengesetz eignen – sie ist der „Inbegriff seiner persönlichen höheren Güter, der Inbegriff dessen, was wahr und schön und gut und heilig ist.“123 Mit jener Unterscheidung, die Bousset auf dem 25. Protestantentag 1911 vorgetragen hat, vertritt er zwar ein typisches „liberalprotestantisches Kulturverständnis“124, indem er Religion nur auf die innere Kultur bezieht. Gegenüber einer materialen Bestimmung der moralischen Imperative durch die Religion betont Bousset allerdings, dass aufgrund ihres geschichtlichen Gewordenseins die Normen der geschichtlichen Religion keinen Geltungsanspruch erheben können; dies kann nur auf religionsphilosophischem Weg eingeholt werden. Für seine Religionstheorie bedeutet die Frage nach der Kulturbedeutung, dass Bousset den Religionsbegriff der liberalen Theologie im Umkreis Ritschls zwar in Ansätzen teilt – wie am Beispiel der Aufnahme der Religionstheorie Kaftans deutlich wird –, ihn aber mit Troeltsch charakteristisch ausweitet. Denn diese „guten

turbildungen jenseits der mittelalterlichen Formen hat sie gerade nicht gegeben (vgl. RK 29 und Kap. 4). 119 RK 26. 120 WdR 244. Ferner ruft Bousset Goethe als „Symbol“ einer selbständigen, in sich selber ruhenden, die Religion jedoch integrierenden Kultur (vgl. WdR 245), auf, um seiner These Geltung zu verleihen, dass „eine aufwärtsstrebende, nach vorne dringende, lebenskräftige Kultur es nicht gegeben [hat] und nicht geben [wird] ohne Religion“ (WdR 2). Und so ist Goethe dann auch der Exponent einer die Kulturbedeutung der Religion bejahenden „Kultur tiefster Innerlichkeit“ (ebd. 246). 121 RK 28. 122 RK 29. 123 RK 25. 124 Vgl. Graf, Rettung, 123 Anm. 60 mit Bezug auf das Votum von Otto Baumgarten zu Boussets Referat auf dem Protestantentag 1911.

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apologetischen Versuche“125, die Relevanz der Religion über deren Kulturbedeutung126 zu erschließen, indem sie den Geist von der Natur immunisieren, haben ein letztlich reduktionistisches Religionsverständnis. Die Formel „Selbsterhaltung des Menschen gegen Natur und Welt“, in der Bousset die Hauptfunktion der Religionstheorie seines „Lehrers Ritschl“127 erblickt, greift hier doch zu kurz und unterschlägt gewissermaßen den zweiten Brennpunkt der obigen Ellipse: „zur Religion gehören Gott und die Seele.“128 Mit Troeltsch wendet sich Bousset also letztlich gegen die ‚liberalen‘, nach der „kulturtheoretischen Verwertbarkeit“ der Religion fragenden Religionstheorien, wie sie von einer Vielzahl protestantischer Theologen vertreten wurde.129 Bei Bousset tritt der religiöse Individualismus als kulturkritisches Prinzip in den Fokus. Das Erleben einer fremden Macht relativiert die Kulturgüter und tritt in Distanz zur ‚Kulturseligkeit‘, wie sie noch für die Ritschlsche Schule prägend war.130 Kulturgeschichtliches Urbild ist die „Überweltlichkeit“131 des Evangeliums Jesu. Das theologische Interesse Boussets hinter der Unterscheidung von innerer und äußerer Kultur ist jedenfalls deutlich erkennbar: durch die Abrückung der Religion von der unmittelbaren Erzeugung der Kulturgüter wird ihm die Religion eine unerschöpfliche Quelle der Ideologiekritik. Hier kommt sodann das eigentümlich gebrochene Verhältnis zur modernen Kultur zum Vorschein, wie es Friedrich Wilhelm Graf für die Religionsgeschichtliche Schule insgesamt herausgearbeitet hat.132 Denn die Selbständigkeit der modernen Kultur kann doch nur eine relative sein – ohne Religion wird sie notwendig dekadent und unterminiert die Werte der freien sittlichen Persönlichkeit. Eine Vorrangstellung in der modernen Religionslandschaft kommt so freilich dem Neuprotestantismus zu, da nur er als Produkt der Neuzeit ein produktives Verhältnis zur Moderne entwickeln kann, indem er ihre kulturelle Selbständigkeit unangetastet lässt und sie gerade nicht wieder durch bestimmte positive kirchliche Normerwartungen einhegen will.133 125 RK 30. 126 Vgl. hierzu Graf, Rettung, 111, der zu Recht den Begriff der Kulturbedeutung als „für die protestantische Theologie um 1900 zentralen Begriff “ deutet. 127 RK 21. 128 RK 22. 129 Pfleiderer, Theologie, 60 mit Bezug auf die Religionsphilosophien von Wilhelm Bender und Hermann Siebeck. 130 Vgl. nur Graf, Rettung, 116f. 131 RK 22. 132 Graf, Rettung, 115f. 133 Hierzu passt eine Passage in WdChr 98f, in der es um die Frage der Übertragbarkeit der „Forderungen des Evangeliums auf unsere Zeit“ (ebd. 98) geht. Bousset betont am Beispiel der Perikope vom Reichen Jüngling – gegenüber Harnack, der in Boussets Darstellung sich stärker an das Evangelium anlehnen und die Worte Jesu an den Jüngling auf das Leben der evangelischen Geistlichkeit übertragen wissen will (vgl. ebd.) –, dass man sich gerade nicht hier an das Evangelium mit seiner überweltlichen Ethik halten könne, vielmehr gelte es, auf eine „unmittelbare“ (ebd. 99) Anwendung zu verzichten. Im Gegenteil muss nach Bousset die „Hebung der sozialen Lage“ (ebd. 99) Ziel des kirchenleitenden Handelns sein.



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2.1.4 Boussets Religionstheorie und seine frühe Carlyle-Rezeption Die bis hierin dargestellte Religionstheorie Boussets ist, wie gezeigt, getragen vom idealistischen Persönlichkeitsgedanken. Dies gilt einmal in der Hinsicht, dass die moderne Funktion der Religion letztlich in der Stabilisierung der Persönlichkeit besteht, die angesichts der ‚depersonifizierenden‘ Gefahren der Moderne im Naturzusammenhang aufzugehen droht. Dann gilt es aber auch in der Hinsicht, dass eine Entwicklung bzw. Entfaltung der Religion nur vermittels großer Persönlichkeiten gedacht werden kann. Bousset steht hier in einem breiten neuzeitlichen Traditionsstrom, der sich den Gang der Geschichte durch den Eingriff divinatorisch begabter Individuen erklärt. Hierfür hat Bousset auf das Erbe von Romantik und Idealismus zurückgegriffen, das er über einen Umweg – den schottischen Schriftsteller Thomas Carlyle – rezipierte. In Thomas Carlyles Werk hat eine Nebenlinie des Idealismus auf Boussets Persönlichkeitsbegriff eine nachhaltige Wirkung entfaltet. Vieles, was Boussets Persönlichkeitsbegriff prägt, lässt sich als von Carlyles Werk beeinflusst nachweisen, wie Heinrich Kahlert und Klaus Berger hinlänglich gezeigt haben.134 Dennoch soll im Folgenden weniger das Augenmerk auf die Theoriegeschichte des Persönlichkeitsbegriffs gelegt werden, als vielmehr auf die Funktion des Persönlichkeitsbegriffs für Boussets Religionstheorie. Im Gefolge Wilhelm von Humbolts und Schleiermachers entwickelt der romantische Begriff der Persönlichkeit sowohl im Bildungswesen als auch in Religionswissenschaft und Theologie des 19. Jahrhunderts eine große Plausibilität. Drohte angesichts der voranschreitenden Geschichts- und Naturwissenschaft die Einzigartigkeit der christlichen Religion bzw. die Geltung der Religion im Allgemeinen immer mehr reduziert bzw. in Abrede gestellt zu werden, so versprach der Persönlichkeitsbegriff sich diesen Rationalisierungstendenzen der Wissenschaft zu widersetzen. Individualität galt als letztes Geheimnis, das auch durch die Geschichtswissenschaft nicht aufgelöst werden konnte. So konnte vermittels neuzeitlicher Individualitätsmetaphysik das religionstheoretische Anliegen eingeholt werden, dass sich Religion immer wieder einem wissenschaftlich-objektivierenden Zugriff erfolgreich entzieht.135 Und so kann Bousset auch im Kontext des Persönlichkeitsgedankens noch unbefangen von wirklicher Offenbarung reden, was ihm ja auf Ebene der historischen Kritik die historische Methode verunmöglichte: „Jenes lebendige Hineinwirken göttlichen Lebens und göttlicher Kräfte gestaltet sich für uns umso gewaltiger und greifbarer, je mehr wir uns von den Außenseiten des Weltgeschehens [sc. in Natur und Geschichte] dem Zentrum desselben nähern, der Entfaltung und Entwicklung menschlichen Geisteslebens. So greifen wir am besten Got134 Vgl. Kahlert, Held, 171–202; Berger, Exegese, 86–114. 135 Vgl. hierzu Lang, Prophet, passim; Theißen, Kriterienfrage, 45ff. Eine monokausale Auflösung wäre zu wenig. Carlyle selbst stand ja bereits in einer Tradition, sodass mit Kahlert konstatiert werden muss, dass die enorme Konjunktur des Persönlichkeitsbegriffs gleichsam in der Luft lag (Kahlert, Held, 162–169).

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tes neuschaffende Macht in der menschlichen, sich zum wahren Eigenleben erhebenden Individualität und Persönlichkeit.“136 Mit dem Persönlichkeitsbegriff kann die Theologie also die Geschichtswissenschaft mit ihrem Anspruch auf korrelative Ableitung und Einordnung der Individualität in einen allgemeinen Zusammenhang wirksam auf Distanz halten, sodass der Offenbarungsgedanke nicht fallengelassen werden muss. Es bleibt somit immer ein letzter „unerklärlicher Rest“137 in der Welterklärung übrig, der sich dem Zugriff der Wissenschaft erfolgreich erwehrt, auch wenn sie die „Tendenz“138 aufweist, das Individuelle aus dem Gegebenen so weit wie irgend möglich abzuleiten. Den großen religiösen Persönlichkeiten ist also nach Bousset gegeben, dass sie über eine besondere divinatorische Begabung verfügen, die sie in die Tiefe der Wirklichkeit blicken lässt und die vorfindliche auf jene unendliche Wirklichkeit hin transzendiert; sie greifen das Unendliche im Endlichen, wie Bousset in einem Carlyle-Referat affirmiert: „Und das gemeinsame Charakteristikum dieser Führer war immer dies, daß sie sich über die sinnliche Welt des Verstandes erhoben, daß sie mit großen, hellen Augen, dem Universum tiefer in die Seele schauten, daß sie die Wirklichkeit um sie herum wahrer und besser verstanden.“139 Den großen Persönlichkeiten eignet also etwas Geniales.140 Aus dem Gestus der Gottunmittelbarkeit141 erkannten die ‚Genies‘ der Religionsgeschichte, dass sich Religion nicht an das Vorfindliche verlieren kann – wie Bousset beispielsweise die Nationalreligionen, die noch der großen Persönlichkeiten entbehrten, charakterisierte. Sie verliehen der Religionsgeschichte erst ihre eigentümliche Dynamik, indem sie die Wirklichkeit auf ihre Tiefendimension hin freilegten und so besser als die ihnen gegenübergestellte Masse verstanden, was Religion ist. Ihr Hauptgeschäft war damit die Sozial- und Kultkritik. Freilich geschah dies nicht vermittels philosophischer Reflexion. Im Selbsterleben der großen Männer überkommt sie der göttliche Geist und lässt sie reden. Die große Persönlichkeit zeichnet sich also nicht durch das Stiften einer neuen Weltanschauung aus, ihr Schaffen beschränkt sich auf das Gebiet der Religion. Diese divinatorische Gabe der großen Persönlichkeiten ist sodann mit einer besonderen religiösen Produktivität verknüpft, denn die religiösen Persönlichkeiten 136 MuR 10. 137 MuR 9. Bousset überträgt den Gedanken, dass das Individuelle den ‚unerklärlichen Rest‘ in der Welterklärung bildet in geschichtsphilosophischer Absicht auf das „‚Dies‘-Sein und ‚So‘-Sein“ (ebd.) der Wirklichkeit – dies bleibt der an die „immanente Kausalbetrachtung“ (ebd.) gebundenen Wissenschaft ein Rätsel. 138 RuG 10. 139 Bousset, Carlyle, 299; die Parallelen zu Schleiermachers Reden sind offenkundig. 140 Zu diesem Wechselbegriff vgl. Theißen, Kriterienfrage, 47ff. 141 Den prophetischen Gestalten eignet „unmittelbare, nicht reflektierte Gewissheit“. So gilt nach Bousset auch für Carlyle selbst: Was dem philosophischen Auge als „letzte Möglichkeit, am Rande des Denkens stehend“ [...], Gott und die Freiheit des menschlichen Wesens, das stand vor seiner [sc. Carlyles] Seele in voller Unmittelbarkeit.“



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verändern die Symbolbestände einer geschichtlichen Religion, die die Grundlage der religiösen Selbstverständigung dauerhaft bilden. Die großen Persönlichkeiten sind also darin „Übergangsmenschen“142, dass in ihnen das Alte noch präsent, aber durch das schöpferisch Neue schon innerlich aufgehoben war. Die großen Männer haben also keine völlig neuen Gedanken ersonnen, sondern die neu erlebte Wirklichkeit vermittels der kulturell geltenden Symbolbestände neu gedeutet. Einen völligen Bruch mit den überkommenen Symbolbeständen kann Bousset jedoch gerade nicht feststellen – weder bei den altisraelitischen Propheten noch bei Jesus. In religionstheoretischer Hinsicht kommt den großen Persönlichkeiten also die Aufgabe zu, die Symbole der neuen geschichtlichen Religion zu stiften, um die dann die kommenden Generationen der Gläubigen kreisen.143 Die Vergangenheit bleibt hier gegenwärtig, lebendig für die Gegenwart. Auf dem Gebiet des Symbolischen gibt es keinen gradlinigen Fortschritt. Hier waltet die Unberechenbarkeit des Individuums, des Genius und des Heros. Hier werden im Sturm Höhen erreicht, die niemals wieder überstiegen werden; plötzlich und über Nacht kann es wie ein Aufblitzen aus der Dunkelheit kommen, und dann enthüllt menschliches Leben in seinen ungeahnten Tiefen, und Gestaltungen werden geschaffen, zu denen die folgenden Generationen wieder und wieder zurückkehren als zu unmittelbarer lebendiger Gegenwart.144

Gerät hier noch einmal die Unableitbarkeit des religiösen Erlebens in den Blick, so hebt Bousset sodann die Bedeutung der religiösen Persönlichkeiten für den Lauf der Geschichte hervor. Als Stifter der religiösen Symbole prägen sie die religiösen Artikulationsformen der kommenden Generationen und engen deren religiöse Produktivität wiederum ein. In den großen religiösen Persönlichkeiten vollzieht sich also der Umbruch der Zeiten – eine alte Welt mit ihren überkommenen, erstarrten Formen wird durch eine neue abgelöst.145 Dadurch sind sie imstande, „Richtung und Stärke des Stromes [sc. der Religionsgeschichte] zu verändern oder zu verstärken.“146 In jenem revolutionären Zeitalter haben die alten Formen keine 142 Vgl. Theißen, Kriterienfrage, 55; den Begriff gebraucht Meinecke, der sachlich mit Boussets geschichtsphilosophischem Persönlichkeitsbegriff übereinstimmt. 143 Daher ist auch der Gedanke einer „Offenbarung Gottes in der Geschichte“ (BPJG 14) für die geschichtlichen Religionen unaufgebbar; er hängt letztlich an der Bedeutung der großen Persönlichkeiten und dem von ihnen ausgehenden Leben, in dem sich Gott offenbart. 144 BPJG 15; vgl. ferner: UG 62: „Darauf aber beruht das Geheimnisvolle der Entstehung des Glaubens, daß von den Stärkeren, den Führern des religiösen Lebens, den Persönlichkeiten, denen sich die Welt Gottes greifbar und mit innerer Gewißheit erschlossen hat, der Funke überspringt von Person zu Person.“ Vgl. ferner ders., Carlyle, 299. 145 Zur Geschichtlichkeit dieser Formen vgl. Bousset, Carlyle, 299: „Aber freilich diese Formen sind wechselnde, kommende und gehende, aufblühende und verwelkende. In ihnen ringt das Menschengeschlecht darnach [sic!] seinen unerschöpflichen, geheimnisvollen, transzendenten Inhalt zum Ausdruck zu bringen.“ Berger meint hier eine versteckte Feuerbachrezeption Boussets zu erkennen (ders., Exegese, 93). 146 RuG 43.

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wirklichkeitserschließende Kraft mehr,147 während allerorts neue Ideen aufkommen, die allerdings noch unverbunden nebeneinander bestehen. Angesichts solcher Gemengelagen tritt dann der Held auf.148 Er erschafft souverän neue Formen und löst die alten erstarrten Formen ab. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um ungeschichtliche Formen, vielmehr bedient sich das geniale Individuum der Tradition, in der es steht, und akzentuiert um bzw. verschiebt innerhalb der überlieferten Symbolbestände, sodass die in diesem Sinn neu geschaffene Form wieder sinnstiftend ist.149 Für Bousset ist die Ansprechbarkeit auf Religion unterschiedlich unter den Menschen ausgeprägt. Es gibt eben „Stärkere[]“150 im religiösen Leben, die religiös empfindsamer sind. Diese religiös Begabten – der Gegenbegriff ist hier der religiöse Virtuose151 – stiften also eine neue religiöse Weltdeutung. Diesen die Wirklichkeit tiefer ergründenden und neu aufschließenden großen Persönlichkeiten stehen die weniger begabten Massen gegenüber. Sie verfügen nicht über dieselbe religiöse Produktivität und verlieren sich schnell an das Vorfindliche152 in einer Gesellschaft, deren Grundlagen nach dem Nutzenprinzip verhandelt werden, wie Bousset verächtlich diagnostiziert.153 Ethische Orientierung, die die Beziehung von Mensch zu 147 Das ‚konservative‘ Aufrechterhalten der Formen durch Autoritäten führt hingegen zu Orientierungs- und Sinnverlust, vgl. Bousset, Carlyle, 325: „Das Frevelhafteste wäre es, diesen Prozeß hemmen zu wollen, die alten Formen, deren Inhalt geschwunden ist, um ihrer selbst willen, aufrecht zu erhalten, die Heiligtümer zu stützen, wenn der Glaube daraus geschwunden ist, die Autoritäten durch Gewalt zu halten ohne innere Überzeugung.“ 148 Vgl. RK 32: „[Die Religion] schafft uns auch die Menschen, die uns hinüberführen über diese schweren Zeiten der Krisis und der Verödung des menschlichen Daseins Menschen, die dann noch Mut behalten, wenn auch die ganze Welt hinter ihnen zusammenbricht […]. Diese wahrhaft Großen der Geschichte sind auch keine unmittelbaren Kulturträger, sie sind Menschen, die in schweren Zeiten den Mut behalten, weiterzuleben und ihre Arbeit zu tun […].“ Dieser relativ späte Text von 1911 zeigt die ungebrochene Bedeutung der Carlyleschen Persönlichkeitsideals auch nach Boussets Hinwendung zum Neufriesianismus. 149 Explizit neue Gehalte werden also nicht gebildet, vgl. KC 74: „Als wenn es auf das Neue und Unerhörte in der Religion ankäme! Als wenn es nicht ankäme auf das Uralte, irgendwie, wenn auch verborgen, im Keime Vorhandene, d. h. das Ewige und Allgemeingültige und vor allem auf die Deutlichkeit und die Klarheit, die Geschlossenheit und Vollständigkeit, mit der dieses Ewige von neuem aufleuchtet und zum Bewußtsein kommt […].“ Auch für Johannes Weiß ist die „rationalistische[] Neigung, die Bedeutung Jesu in der Neuheit der von ihm vorgetragenen Gedanken und Lehren zu suchen“ (Weiß, Predigt vom Reich Gottes, 34; zitiert bei Theißen, Kriterienfrage, 56), letztlich in die Irre führend, da die religionsgeschichtliche Bedeutung der Person Jesu so gerade nicht erfasst werden könnte. 150 S. o. Anm. 144. 151 Vgl. dazu Lang, Prophet 178–181. Der Virtuose versucht sich durch bestimmte Übungen in den Besitz des Geheimnisses zu bringen, das sich dem Propheten unwillkürlich erschlossen hat. Diese homines religiosi verkennen den Grundvollzug der Religion, indem sie meinten, durch Übung und Askese sich dieses Geheimnisses habhaft zu machen, vgl. dazu WdR 179. 152 Vgl. Bousset, Carlyle, 251f. 153 Vgl. RK 30; diese Gesellschaftsdiagnose entspricht Bossets Referat von Carlyles Beobachtungen der englischen Gesellschaft in der industriellen Revolution – sie ist die Folge einer



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Mensch als heilig verstehen lehrt, konnten sie also nur durch die großen Persönlichkeiten erlangen: Und so giebt es für denn auch für die übrige Masse nichts Heiligeres und Besseres als Heldenverehrung. Die Menge kann auf keine andre Weise weiter kommen, als indem sie mit hingebender Treue ihrem Helden folgt, auf dunkeln Bahnen, die sie selbst nicht zu finden weiß, in eine höhere Welt, die sich ihrem blöden Auge von selbst nicht erschließt. […] Das ist die Grundbeziehung, die zwischen den Menschen in ihrer gegenseitigen Gemeinschaft herrscht: Helden und Heldenverehrung.154

Bousset erklärt sich die gerade in den Religionen erkennbare Grundbeziehung155 zwischen einem Helden und dessen Verehrern also als ein Konstitutivum gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem die heiligen interpersonalen Beziehungen von orientierender Kraft sind. Bisweilen wurde in der Forschung dieser Anschluss Boussets an die Sozialphilosophie Carlyles mit der Hypothek belegt, dass sie den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts Vorschub geleistet habe. Mit Klaus Berger wird man allerdings hier wesentlich zurückhaltender optieren können.156 Liest man Boussets und Carlyles Ruf nach starken Führern im Volk, so bedeutet dies im Kontext des industrialisierten England in der Mitte des 19. Jahrhunderts wie auch in Boussets Gegenwart, dass zunächst dem schrankenlosen, libertinistischen ‚LaissezFaire‘-Liberalismus das Prinzip der Verantwortlichkeit gegenübergestellt werden sollte. Den aristokratischen Führern oblag es, den Arbeitermassen Orientierung abseits von Nutzenoptimierungsstrategien zu stiften und den Blick auf die heilige Dimension der personalen Beziehung zu lenken. Wenngleich Bousset auch um die Ambivalenz jener Sozialphilosophie wusste, so meinte er despotische Potenziale dieser Sozialphilosophie durch den Rekurs auf Gewissen und Gott einhegen zu können. Für die historische Theologie ist die Persönlichkeit ferner eine heuristische Kategorie, anhand der Geschichte rekonstruiert werden kann, ohne dabei das theologische Interesse an der religiösen Bedeutung der Person Jesu aufgeben zu müssen.157 Neben der religionstheoretischen Bedeutung eignet dem von Carlyle entlehnten Persönlichkeitsbegriff ein geschichtstheoretisches Potenzial, das auch Bousset Kategorien an die Hand gab, anhand derer er dem Geschichtslauf eine Struktur geben „‚Schweinephilosophie‘“ (Bousset, Carlyle 326), wie Bousset Carlyle zitiert, die sich an Nutzen und Wohlstandsvermehrung orientiert. Dies liegt nach Bousset zuerst an der verzögerten Industrialisierung im Wilhelminischen Deutschland (vgl. ebd.). 154 Bousset, Carlyle, 299. 155 Auf diesem Prinzip sollten sich letztlich alle „Formen menschlichen Gemeinschaftslebens“ bilden (Bousset, Carlyle, 299). 156 Vgl. Berger, Exegese, 110f; dort auch der Hinweis auf Friedrich Naumann, in dem Bousset eine solche Hoffnungsgestalt sah, vgl. auch Kap. 1.1. 157 Vgl. hierzu die treffende Polemik von Kalthoff: „Nachdem die liberale Theologie nicht mehr den Mut hat, sich zu dem dogmatischen Glauben zu bekennen, soll der Heros Jesus im Bewußtsein der Kirche dieselbe Stelle einnehmen wie einst der Gottmensch“ (zitiert bei Theißen, Kriterienfrage, 50).

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konnte. Wenngleich Carlyles Sozialphilosophie noch mehr Eindruck auf Bousset machte,158 so benutzt er insbesondere dessen geschichtstheoretische Kategorien in seinen frühen Publikationen zum historischen Jesus und in seiner Religionsschrift. Bousset stand damit nicht allein. Wie Heinrich Kahlert zeigen konnte, fand die protestantische Exegese insgesamt in Carlyles großen geschichtsmächtigen Männern einen Schlüssel zum Verständnis der biblischen Schriften.159 Wenngleich Carlyles Modell schon früh als historisch unterkomplex kritisiert wurde160, büßte dennoch der Grundgedanke nichts an unmittelbarer Überzeugungskraft ein.161 Insbesondere die Lehrergeneration der Religionsgeschichtlichen Schule stand im Bann des Carlyleschen Denkens. Zunächst kommt hier der für die Prophetendeutung der Religionsgeschichtlichen Schule schwerlich zu überschätzende Basler Professor Bernhard Duhm, den Bousset aus seiner Göttinger Zeit auch persönlich gekannt haben wird,162 in Betracht. Analog seiner Religionstheorie, die Religion als das unableitbar sich einstellende, schlechthin unbegreifliche Geheimnis verstehen will, kommt seine Prophetendeutung in der Hochschätzung der großen altisraelitischen Persönlichkeiten zum Stehen.163 Aber auch Julius Wellhausen wandelt in diesen Bahnen, deren Ausdruck dann die antijudaistische Propheten-Anschluss-Theorie ist.164 Hat Bousset von Duhm die stärksten Anregungen hinsichtlich seiner ProphetenDeutung erfahren, so sucht er darüber hinaus den expliziten Anschluss an Thomas Carlyle.165 Dieser ermöglicht Bousset schon in seinem 1892 erschienen ersten Jesusbuch die Differenz Jesu zum ‚Spätjudentum‘ gegenüber Johannes Weiß’ Auflösungsversuchen von Jesu Predigt in der jüdische Apokalyptik deutlich zu konturieren. Mit Carlyles Theorem der großen geschichtsmächtigen Männer konnte Bousset Jesus als geniale religiöse Persönlichkeit beschreiben, die – ohne den Rahmen der jüdischen Religion zu verlassen – jene von innen überwunden hat. Damit konnte 158 Vgl. Kap. 4; Bousset, Carlyle, 324f. 159 Vgl. Kahlert, Held, 137.163; Theißen, Kriterienfrage, 53; zur Kritik von Carlyles Geschichtsbildes vgl. Berger, Exegese, 107–109. 160 Vgl. schon Boussets Appell selbständig weiterzuarbeiten an Carlyle – vieles könne nicht unbesehen übernommen werden (ders., Carlyle, 327). 161 Vgl. Kahlert, Held, 167: „Und auch hier in der Theologie wirkte Carlyles Sicht der Geschichte als die Geschichte großer Männer wie eine pathetische Bekräftigung längst verbreiteter Meinung.“ 162 Vor allem Troeltsch hat sich mit Duhms Religionstheorie in Kritik und Aneignung eingehender auseinandergesetzt, vgl. Troeltsch, Lage, insbesondere 696; zur Bedeutung der großen religiösen Persönlichkeiten vgl. ebd. 698. Bousset stimmt, wie oben gezeigt, mit Troeltsch darin überein, dass Religion nicht einfach als eine „zusammenhangslose Willküroffenbarung“ (ebd. 703), wie Troeltsch sich ausdrückt, erlebt werden kann, sondern dass immer schon „bestimmte Anschauungen […] vom Inhalt des religiösen Erlebnisses“ (ebd.) in denselben mitenthalten sein müssen. Wie in Abschnitt 2.1.3 gezeigt werde konnte, hält auch Bousset Duhms Geringschätzung der Theologie für problematisch und einseitig. 163 Zu Duhm vgl. jetzt Rudnig, Duhm; zu Duhms Göttinger Zeit vgl. ebd. 118f. 164 Vgl. hierzu wiederum Kahlert, Held, 213–220. 165 Dies hat auch Bernhard Lang beobachtet, der Boussets Prophetendeutung in WdR rekonstruiert hat vgl. ders, Prophet, 169ff.



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Bousset dem historischen Tatbestand Rechnung tragen, dass der historische Jesus formal den ‚spätjüdischen‘ Partikularismus, wie Bousset das zwischentestamentarische Judentum charakterisierte, bestehen ließ, dies zeigte hingegen vielmehr die uneinholbare Freiheit, die Jesus durch sein unverrückbares Gottesverhältnis besaß. Die historiographischen Folgelasten sind freilich immens, denn gemäß des Carlyleschen Theorems ging der schöpferischen Persönlichkeit ein Zeitalter voraus, das gerade jene Persönlichkeiten entbehrte; es ist ein Zeitalter „wilder Gährung“166, wie Bousset Krisenzustände, u. a. auch seiner Gegenwart, zu beschreiben pflegt. Angewendet auf das ‚Spätjudentum‘ zu Jesu Lebzeiten bedeutet dies, dass es trotz der vielerorts feststellbaren, universalistischen Tendenzen167, niemand in Sicht war, der die unverbundenen Stränge hätte zusammenbinden können – das ‚Spätjudentum‘ blieb also auf halber Strecke stehen.168 Unableitbar tritt nun das Genie in den Geschichtslauf und verdichtet die überkommenen Formen inklusive der universalistischen Tendenzen des religiösen Lebens vermittels der Zusammenfassung und der Reduktion169 in neue sinnstiftenden Formen.170 Bedeutet das Auftreten einer großen Persönlichkeit für die Jesus vorausgegangene Stufe im religiösen Leben notwendig die Zuschreibung des Krisenhaften und Chaotischen, so hat gleichsam nach vorne die Deutung Jesu als einzigartiger religiöser Heros die Konsequenz, dass auch das Urchristentum in eine Differenz zu Jesus treten muss. Jenes ist der Träger der neuen religiösen Wirklichkeitsdeutung und steht doch in einem graduell untergeordneten Verhältnis zu seinem Herrn, den es gemäß Carlyles Sozialphilosophie im Medium der Heldenverehrung zu seinem Führer im religiösen Leben171 erhebt. Klaus Berger macht zurecht darauf aufmerksam, dass Carlyles Reformulierung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft „selbst säkularisierte Christologie“ ist: „[…] das Christliche ist das wahrhaft Menschliche“172. In der Tat erklärt sich Bousset so die Entstehung der urchristlichen

166 Bousset, Carlyle, 267; die Antithese setzt ferner in der Gegenüberstellung von ‚spätjüdischem‘ Synkretismus und reinem Evangelium fort, vgl. Kippenberg, Entdeckung, 168. 167 Dazu s. u. Kap. 2.1.5. 168 Zu Bousset latentem Antijudaismus, der trotz seines Bemühens um historische Gerechtigkeit und seines Willens, sich auch selbst in seinem Bild vom Judentum zu korrigieren, bei Bousset allein schon durch seine Geschichtstheorie gegeben ist, vgl. Theißen, Kriterienfrage, 53f; Berger, Exegese, 97.112; hierzu allgemein Doering, Religion. Vgl. schon Troeltschs Kritik in einem Brief an Boussets vom 1. Oktober 1892; dokumentiert bei Claussen, Jesus-Deutung, 91. Entgegen des großbürgerlichen Antijudaismus schreibt Bousset jedoch explizit gegen den antisemitischen Rassegedanken, vgl. nur ders., Erneuerung, 89–91; vgl. auch Ruddies, Troeltsch, 191 mit Anm. 24. 169 Boussets Jesusbild hat in dieser Hinsicht eine große Nähe zu Harnack; vgl. Kap. 4.1. 170 Theißen, Kriterienfrage, 58 stellt hier zurecht eine sachliche Kontinuität zum Differenzkriterium her. Die Unableitbarkeit aus dem Vorangehenden ist ein Charakteristikum der großen Persönlichkeit. 171 Vgl. RuG 39. 172 Berger, Exegese, 113.

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Christologie und ihrer religionsgeschichtlichen Analogien.173 Allerdings versucht Bousset dennoch dieser bedenklichen Aufhebungslogik einen Riegel vorzuschieben, indem er die Person Jesu hinsichtlich ihrer Einzigartigkeit dahingehend zu beschreiben versucht, dass sie nicht verlustfrei in einen bloß sozialpsychologisch erklärlichen Vorgang aufgelöst werden kann.174 Ist bis hierher gezeigt worden, dass in Boussets Adaption der Geschichtstheorie Thomas Carlyles den religiösen Persönlichkeiten eine kaum zu überschätzende Bedeutung zukommt, so verschiebt sich dies in Boussets Spätzeit. Galt zuvor, dass die großen Persönlichkeiten den Fortschritt in der Geschichte bestimmen, den Bousset vermittels seiner historischen Methode auch nachvollziehen zu können meint, dass beispielsweise mit dem historischen Jesus wirklich eine schöpferische Persönlichkeit auftrat, die dann dem Geschichtslauf eine neue Richtung gab, so wird ihm die Bedeutung der Persönlichkeiten nur mehr ein geschichtsphilosophisches Interpretament. Mit Boussets einsetzender Skepsis gegenüber der Möglichkeit, vermittels der historischen Methode einen validen Zugang zur Person Jesu zu gewinnen175, schwindet gleichzeitig die Bedeutung der großen Persönlichkeiten. An ihre Stelle tritt das Gemeindekollektiv, das nun als Schöpfer der urchristlichen Symbolwelten in Stellung gebracht wird. Allerdings gilt dies nur, wie häufig übersehen wird, für die historische Rekonstruktion der Urchristentumsgeschichte. Bousset stellt also von einer idealistischen, an den großen Männern interessierten Geschichtsschreibung um auf eine ‚formgeschichtlich‘ orientierte Exegese. Anders als beispielsweise Otto176 schwindet Bousset also die historische Basis, anhand derer noch ein Bild vom historischen Jesus vermittels der historischen Methode gewonnen werden könnte, das als historisch wahrscheinlich gelten darf. Mit Boussets formgeschichtlicher Wende sind die Persönlichkeiten in historischkritischer Hinsicht von sekundärer Bedeutung; sie entziehen sich gleichsam eines historischen Zugriffs. Allerdings gilt diese Relativierung der Bedeutung der Persönlichkeiten durch die gleichzeitige Hervorhebung der religionstheoretischen Bedeutung des Gemeindekollektivs nur im Hinblick auf die Reichweite der historischen Methode.177 Geschichtsphilosophisch gilt für Bousset unbenommen, dass die 173 Vgl. nur MPT Seeberg, 415: „Die Herrschaft, die Jesus über die Seelen der Jünger ausübt, steht, und wenn wir den Abstand noch so weit nehmen, in Analogie mit der Wirkung führender Persönlichkeiten auf allen Gebieten geistigen Lebens.“ 174 Dass es nun ferner eine Eigentümlichkeit liberaler Theologe sei, sich „über den Gebrauch von Philosophie in der Exegese ein biblisches Fundament [zu schaffen]“ (Berger, Exegese, 113), ist freilich eine Übertreibung, die die Spannung von Historismus und Rationalismus im Werk Boussets einseitig auflöst. 175 Vgl. Kap. 3.1. 176 Dazu vgl. Laube, Otto, 225.; Kahlert, Held, 44f. 177 Diese Relativierung der Persönlichkeit durch den formgeschichtlichen Zugang lässt Bousset allerdings – entgegen der formgeschichtlichen Konsequenz, den Zugang zur Persönlichkeit aufzugeben – umgekehrt besser die Eigentümlichkeiten der Person Jesu sehen lernen (vgl. den Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 186). Allerdings hat er hier das Gebiet der historischen Methode verlassen. Möglicherweise erklärt dies, weswegen er in seiner Spätzeit keine



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großen Persönlichkeiten Geschichte machen.178 In Jesus der Herr meint Bousset sogar auf der Ebene der historischen Methode zeigen zu können, dass eingedenk aller Schwierigkeiten einer historischen Validierung letztlich doch der historische Jesus bzw. dessen Geist das Geschick der Urchristentumsgeschichte bestimmt hat.179 Das theologische Anliegen Boussets, das hinter der Formgeschichte steht, ist allerdings analog dem Interesse der historischen Theologie am Individuum, dass nun ein für allemal auf historischem Weg das Eigentümliche der Person Jesu nicht erreicht und damit auch nicht abgeleitet werden kann. Die Einzigartigkeit der Persönlichkeit bleibt uneinholbar; die Bedeutung des Individuums als letzter Bastion vor der historischen Methode und ihrer Analogiebildungen für den Glauben wird damit aufrechterhalten.

2.1.5 Welche Typen entwickelt Religion in der Religionsgeschichte? Da Bousset die Religion analog zu Troeltsch180, wie gezeigt, von einem allgemeinen idealistischen Standpunkt aus betrachtet und das religiöse Leben dabei als eine in sich zusammenhängende Einheit181 begreift – zugleich allerdings innerhalb dieser Einheit graduell differenzieren will –, sollen hier kurz die Stufen skizziert werden, auf deren Hintergrund das Christentum als die höchste Religion konstruiert wird. Die Religionsgeschichte setzt sich aus den einzelnen ‚Stufen‘ der sich entwickelnden Religion zusammen, die allesamt – wie oben schon gezeigt – ein bestimmtes Verhältnis von Furcht und Hingerissenwerden in der kollektiven religiösen Erfahrung der Religionsgemeinschaft aufweisen:

weiteren exegetischen Untersuchungen zum historischen Jesus unternahm, sondern nur mehr in einem explizit andern Kontext, einer Vorlesung im Neuen Testament, dem Jesus-Kolleg, noch meinte sich umfangreich zum historischen Jesus äußern zu können. Allerdings hat Bousset wohl später wieder versucht, durch Untersuchungen zur Stabilität mündlicher Überlieferungen den hermeneutischen Abstand zum historischen Jesus wieder zu verringern (dazu vgl. Beyer, Historie). 178 Vgl. BPJG 16: „Die große religiöse Persönlichkeit wirkt als Ganzes in der Gesamtheit ihres Personenlebens weiter.“ 179 Vgl. JdH 92f. 180 Vgl. Troeltsch, Selbständigkeit, 420. 181 Vgl. dazu Gunkel, Bousset, 17: Bousset habe „trotz aller Verschiedenheiten [die] innere Einheit [sc. der Religionen]“ erkannt. „Das war ja einer der Grundgedanken der religionsgeschichtlichen Schule, daß alles religiöse Leben auf Erden eine großartige Einheit ist.“ Vgl. auch MuR 12: „In allem ruht das Geheimnis jedes wirklichen und lebendigen Glaubens, nur daß dieses innerste Wesen aller Religionen nicht immer überall gleich deutlich zur Erscheinung kommt, vielmehr bald verborgen und fast unkennbar in fremden Formen schlummert.“

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Zwischen beiden Polen: der oft bis zur wahnsinnigen Angst gesteigerten Empfindung der Fremdheit göttlichen Wesens und andererseits dem bisweilen die Ehrfurcht und den Respekt hintenanstellenden Gefühl des Naheseins flutete zu allen Zeiten das religiöse Leben der Völker. Bald war die eine, bald die andere Seite mehr betont.182

Demnach unterscheiden sich die einzelnen Stufen in ihrem je verschieden bestimmten Verhältnis innerhalb der Doppelstruktur religiöser Erfahrung. Die Religionsgeschichte wird also offensichtlich nach religionspsychologischen Beobachtungen skaliert; Konstruktionsprinzip ist dabei nicht zuerst der reflektierte Gottesgedanke, sondern das auf jeder Stufe sich unterschiedlich darstellende Gottesverhältnis. Auf den „untersten Stufen des religiösen Lebens“ dominiere das Erfahrungsmoment der Furcht; und da die Gottheit vor allem als unnahbar und lebensfeindlich erlebt werde183, hat sich gerade auf eben diesen Stufen religiösen Lebens eine umfassende Opferpraxis entwickelt.184 Das Vertrauen in die andere, unbekannte Wirklichkeit war noch ganz vage, sodass ein ökonomisch-zweckrationales Denken im Sinne des altrömischen ‚do – ut des‘ das Verhältnis zur Gottheit bzw. zu den verehrten Geistern des Animismus bestimmte.185 Ein tieferes Vertrauensverhältnis musste sich erst entwickeln und ist demgemäß erst ein vergleichsweise spätes Phänomen der Religionsgeschichte.186 Dass sich nun in der Religionsgeschichte religiöse Neubildungen ereignen, in denen das Verhältnis zwischen Furcht und Hingerissenwerden neu bestimmt wird, ist für Bousset ein unableitbares Geschehen, das höchstens im sekundären Nach182 UG 12. Vgl. auch WdR 21. 183 Im Animismus werden die Gottheit bzw. die Götter sogar bezüglich des Menschen als hochgradig desinteressiert empfunden, so dass der Mensch sich der Verehrung der mit Geistern belebten Naturobjekte und dem Ahnenkult („den Fetisch- und Ahnengeistern“) verschreibt (WdR 36). 184 UG 12f. 185 Vgl. WdR 24. 186 Zwar findet Bousset schon im alten Babylonien die theologische Spekulation, die den theologischen Schöpfungsgedanken auszubilden beginnt, doch bleibt diese eine reine Reflexionsleistung, ohne ein vitales Vertrauensverhältnis tatsächlich ausgebildet zu haben, vgl. WdR 86: „So entsteht in der babylonischen Religion der Weltschöpfungsgedanke. Obwohl ein Erzeugnis weitgehender Reflexion und deshalb in der Religionsgeschichte verhältnismäßig spät auftauchend, ist dieser Glaube an Gott den Schöpfer von allerhöchstem Wert. Mit ganz besonderem Vertrauen befiehlt sich der Mensch dem Gott, aus dessen Tat und Willen alles Sein und Leben stammt.“ Dieses neue Vertrauensverhältnis kann Bousset durchaus würdigen, allerdings beschreibt er es nur relativ zu den niedrigeren Stufen der Religionsgeschichte. Faktisch ist diese theologische Spekulation nie praktisch geworden. Zu den Bedingtheiten der Stufe der Nationalreligionen und damit der babylonischen Religion vgl. ferner WdR 90ff. Trotz dieser Reflexionsleistung dominiere auf dieser Stufe nach Bousset immer noch das Moment der Furcht in der religiösen Erfahrung, vgl. WdR 91f. Damit nun aber diese Reflexionsleistung, die die fremde Wirklichkeit als Schöpfer der Welt zu begreifen begann, praktisch werden konnte – und erst dann erhielt sie auch eine religiöse Bedeutung –, mussten erst die Propheten in der Religionsgeschichte aufstehen. Entsprechend erkannte Bousset in dem Fehlen von prophetischen Persönlichkeiten auf dieser Stufe der Nationalreligionen ein Defizit.



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vollzug einer Entwicklungslogik folgte.187 Denn die Eigendynamik der Religionsgeschichte, der Wechsel unterschiedlicher Religionsformationen, entspringt letztlich dem Geheimnis der einzelnen Persönlichkeiten, die, wie gezeigt, stets am Anfang einer neuen geschichtlichen Religionsbildung stehen: Religionen werden „aus der Tiefe der schöpferischen, gotterleuchteten Seele des Propheten und des Religionsstifters [geboren].“188 Die prophetische Persönlichkeit erschafft durch das Wagnis, in der fremden Wirklichkeit die Heil spendende Gottheit zu erkennen, vollständig neue Grundlagen der religiösen Selbst- und Weltdeutung – eine neue Religion entsteht und schafft sich neue Formen zur religiösen Wirklichkeitserschließung durch die Umkodierung des symbolischen Traditionsgutes der religiösen Umwelt. Dies geschah immer dann, wenn eine Religion im Niedergang begriffen waren, da entweder eine synkretistische Mischform von Religionstypen das religiöse Leben zu hemmen drohte189 oder aber die Religion – insbesondere auf der Stufe der Nationalreligion – in bestimmte Funktionen im Sozialverband aufgelöst zu werden drohte. Entsprechend traten die israelitischen Propheten auf, als das „Bündnis zwischen Religion und Nation“ zu eng wurde und somit das „vorwärtstreibende, kritische, revolutionäre Element“190, das die Religion gegenüber aller Kulturbildung aufweise, aufzuheben drohte. War Religion also auf der niedrigeren Stufe der Nationalreligion eng mit den soziologischen Größen Volk und Nation verbunden, so rückt nun mit dem Auftreten der Propheten das Individuum deutlicher in den Bezugsrahmen der Religion ein – einerseits als Initiator einer neuen Stufe der Religion, anderseits als moralisch unvertretbares Individuum vor Gott.191 Mit dieser graduell höherstehenden Stufe, dem „prophetische[n] Zeitalter“, wächst der Religionsgeschichte „ein[] neue[r] Trieb“192 zu, mit welchem die Religion sich weiter entfalten konnte, indem sie durch

187 Vgl. nur WdR 258: In der Religionsgeschichte zeige sich ein „in großen Zügen begreifbares Geschehen, soweit überhaupt solches Geschehen, in dem ja immer das Rätsel des Persönlichen, Individuellen steckt, begriffen werden kann.“ 188 MuR 15. 189 MuR 15. Die Geschichte lehre nach Bousset, dass die „traurigsten, unwirksamsten und unlebendigsten Zeiten immer und überall diejenigen gewesen [seien], in denen die konkreten Religionsgestaltungen sich derart vermengten und vermischten, daß sie dabei ihre eigentümliche Gestalt verwischten und ihr Zentrum verloren.“ 190 WdR 98: „Religion und Güter des nationalen Lebens liegen ganz in eins.“ Sie erfüllt damit also nur noch eine bestimmte konservierende Funktion im Staatswesen als „Stütze des Bestehenden“. 191 Zwar nehme diese religionsgeschichtliche Entwicklung schon auf der Stufe der Nationalreligion ihren Anfang, denn sobald das jenseitige Vergelten nach seinem Tun in der Reflexion ausgebildet wird – wenngleich dieses auch noch auf sehr unvollständige Weise geschehe –, richte sich die Religion auf den Einzelnen, vgl. WdR 80ff.100. Doch erst durch die großen Propheten Israels wurde das Individuum mit der Religion fest verbunden, was für die Selbsterfassung der sich in der Geschichte entfaltenden Religion von größter Bedeutung war. 192 WdR 102.

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die einzelnen prophetischen Persönlichkeiten ein „neues Fundament“193 erhielt. Auf dieser Stufe wirkten die Propheten Israels, aber auch Platon, Buddha, Zarathustra und einige mehr194. Sie gleichen sich darin, dass sie die Religion von allen „natürlichen“195 Verbindungen loslösen wollten, indem sie zwischen der äußeren kultischen Verzerrung der Religion und dem eigentlichen Kern der Religion unterschieden,196 der für sie eben nicht mehr an äußerliche rituelle Vollzugsformen der Religionsgemeinschaften gebunden war: „Mit der Erfassung der Religion als eines innerlich-einheitlichen Lebensganzen geht nun endlich ihre Befreiung von allem äußeren Wesen und Unwesen, das Zerbrechen der Fesseln der Sitte und des Herkommens, des Kultus und der Zeremonie Hand in Hand.“197 Die Religion der Propheten ist also für Bousset zuerst Gewissensreligion198, die in reiner Gottunmittelbarkeit keiner vermittelnden Formen mehr bedarf. Sie wird aus den funktionalen Reduktionsmodellen der Nationalreligion herausgelöst und als ein den Einzelnen unbedingt bestimmendes ‚Lebensganzes‘ erfahren. Diese Totalitätsdimension der Religion sei in der „[...] einheitliche[n], in sich geschlossene[n] Überzeugung vom Inhalt und Wesen des Lebens, seinen tiefsten Fundamenten und seinen höchsten Zielen“199 verankert. Analog dazu empfinden sich die prophetische Persönlichkeiten als von der göttlichen Wirklichkeit in den Dienst berufen und vermögen so – gemäß ihrer einheitlichen Überzeugung vom Leben und seinen moralischen Idealen200 –, die religiösen Symbolwelten der Nationalreligionen umzuformen und dadurch dem religiösen Glauben ein neues Fundament zu geben. Dies ist insofern eine Neubildung, da die Propheten die göttliche fremde Wirklichkeit nunmehr als absolut geschichtsmächtig und damit universaler zu erfassen begannen, 193 WdR 122. 194 Vgl. WdR 102f. 195 WdR 114.119. 196 Vgl. WdR 104. 197 WdR 111. Zur Kultkritik der Propheten vgl. auch WdR 120. 198 Die Propheten ließen „nichts gelten, als was sich ihnen in der eignen Überzeugung, vor dem eigenen Gewissen bewährt hat“ (WdR 104). Hieran müssen sich fortan alle gottesdienstlichen Vollzüge messen lassen und hier auf der Stufe der prophetischen Religion tritt dann auch das Begriffspaar Glaube/Überzeugung in den religiösen Sprachgebrauch ein (vgl. WdR 103–106). 199 WdR 107. Als Leser Boussets hat auch Weber die „einheitliche sinnhafte Stellungnahme“ der Propheten zum Leben als ein religionsgeschichtliches Alleinstellungsmerkmal erkannt (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 272). Dazu vgl. Lang, Prophet, 187, der auf dieses Abhängigkeitsverhältnis hinweist. Dass Bousset gerade die Geschlossenheit der Überzeugung vom Inhalt und Wesen des Lebens als eine für die Religion eminent bedeutsame Entwicklung versteht, zeigt eine gewisse strukturelle Nähe zur Lebensphilosophie und zeitgenössischen Kulturtheorie auf. Zur Wert- bzw. Lebensphilosophie vgl. Hartung, Lebensphilosophie. Dies ist zumal durch den Rekurs auf Goethe gedeckt, auf den auch Lang (ebd.) hinweist. 200 Vgl. WdR 118: „Es ist über sie gekommen, die Gewißheit von oben hat sie erfaßt.“ Aus diesem gedeuteten Offenbarungserlebnis heraus – „[w]ie eine fremde Macht ist es über sie gekommen“ (WdR 105) – wuchs den Propheten ihre ihnen eigentümliche „Macht der Persönlichkeit“ (WdR 106) zu, durch die sie ihre Wirkung mit einer bis dahin nicht gesehenen Wucht entfalten konnten.



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als es noch auf der Stufe der Nationalreligionen gedacht wurde. In der Vorstellung der israelitischen Propheten zeigte sich diese Neubildung für Bousset darin, dass die Großmächte Assur und Babylon nunmehr nicht mehr als Repräsentationen mächtiger Götter gedacht wurden, sondern als Jahwes Zuchtrute für sein halsstarriges Volk.201 Diese geschichtstheologische Ausdeutung ihrer religiösen Erfahrung symbolisiert sich auf der Stufe der prophetischen Religion sodann in der religiösen Vorstellung vom Schöpfer und Regenten der ganzen Welt.202 Wie Bousset am Beispiel Babylons gezeigt hat203, ist der Gottesgedanke aber auch schon auf niedrigeren Stufen der Religionsgeschichte zu Vorstellungen vom Schöpfer und Regenten der Welt durch Spekulation ausgebildet worden. Die religionsgeschichtliche Innovation der Propheten besteht nun demgegenüber gerade darin, dass sie in der immer machtvoller erfahrenen Wirklichkeit ihren Gott erkannten, von dem sie alles empfangen wollten. Dies beruhte wiederum auf einem Wagnis, da alle geschichtliche Erfahrung gegen diese religiöse Intuition stand. Hier, in dem Prädikationsvorgang, die fremde Wirklichkeit als „unser Gott“204 symbolisch zu deuten, bestand nach Bousset ihre eigentlich „für die Geschichte des Glaubens in Betracht kommende Tat“205, dem „großen ‚Und dennoch‘ des Glaubens“206 als vertrauensvollen Sprung in den Abgrund der fremden Wirklichkeit. Woher diese „geistigen Kräfte“207 in Israel rührten, die die Propheten als Wirken Gottes an ihnen deuteten, ist freilich für Bousset wissenschaftlich nicht evaluierbar. Im Umkehrschluss gelte aber für Bousset auch a posteriori, dass Israel ohne diese Kräfte in der amorphen Masse der besiegten und annektierten altorientalischen Nationalreligionen untergegangen wäre.208 Dieses Gottesverhältnis wird nun wiederum mit einem Symbol gedeutet, das schon auf der Stufe der altisraelitischen Nationalreligion in die religiöse Vorstellung sich herausbildete: die Erwählungstheologie, die aber auf der Stufe der Nationalreligion immer nur eine Nebenlinie zur Vorstellung der gleichsam naturgegebenen Notwendigkeit des Verhältnisses zwischen Jahwe und seinem Volk war.209 Die Propheten modifizieren nun das Symbol des Bundes insofern, als sie nun das Verhältnis zwischen Jahwe und seinem Volk in ein vollständig moralisches überführen, das keine äußeren Vermittlungsträger mehr kennt: „Wer ihm [sc. Jahwe] dienen will, 201 Vgl. WdR 117. 202 WdR 119. 203 Dazu s. u. Seite 90f. 204 WdR 117. 205 WdR 117. 206 WdR 117. 207 WdR 116. 208 WdR 116. 209 WdR 114. Bousset fasst diese Reflexion über das Gottesverhältnis auf der Stufe der Nationalreligionen in dem axiomatischen Satz zusammen: „Aber alle leben des unerschütterten Vertrauens auf Jahwe: er kann sein Volk nicht verlassen, er müßte denn sich selber aufgeben“ (WdR 116).

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soll ihm dienen mit seinem Gewissen, mit gehorsamen Willen, mit seinem ganzen Personleben.“210 Durch die Einsicht in die ihnen geoffenbarten Ideale des Menschseins haben die Propheten den Einzelnen vor die unbedingte moralische Inanspruchnahme der göttlichen Wirklichkeit gestellt. Der Gottesgedanke wurde nun mit der Vorstellung der Heiligkeit verbunden, für das Individuum bedeutet dies, dass nun der ganze Mensch als moralischer Akteur beansprucht und in die Verantwortung vor der Gottheit gestellt ist. Auf der Stufe der prophetischen Religion hat sich die Religion also zu einem ‚einheitlichen Lebensganzen‘ entwickelt, das den ganzen Menschen zu einem Selbst- und Weltverständnis führt. Auf dieser Höhe kommt nun die neu ordnende und lebenspraktische Kraft der Religion zum Durchbruch, die zuvor durch vielfältige sinnliche Gebundenheiten gehemmt war. Ein solcher religiöser und moralischer Totalitätsanspruch ist freilich „seinem innersten Wesen nach“ nur als eine universale Kategorie denkbar. Die Propheten haben also mit ihren religiösen Vorstellungswelten prinzipiell ihrer Religion eine universalistische Struktur zu implementieren versucht, „[...] wenn auch die Konsequenz nicht gleich gezogen [wurde]“211 und die prophetische Religion zunächst faktisch an das Volk gebunden blieb. In Boussets Propheten-Deutung212 vollziehen sich auf der Stufe der prophetischen Religion also zwei religionsgeschichtlich bedeutsame Entwicklungen: Einerseits rückt das Individuum in das Gottesverhältnis ein, aus dem gleichzeitig eine die ganze Person unmittelbar angehende moralische Inanspruchnahme abgeleitet wird, andererseits besteht nun die nicht ableitbare religiöse Tat insbesondere der israelitischen Propheten darin, angesichts des drohenden Untergangs des Nord- und Südreiches in dieser sich machtvoll offenbarenden Wirklichkeit ihren Gott zu erkennen und selbst das Unheil von ihm empfangen zu wollen. Die fremde göttliche Wirklichkeit wurde in der religiösen Vorstellung in zwar traditionellen, nun aber mit neuem Sinngehalt angereicherten Symbolen ausgedeutet, dem ,Weltschöpfer‘ und – religionsgeschichtlich und religiös wohl noch bedeutsamer – dem ‚Herrscher über die Geschichte‘. In diesen neuen Symbolen artikuliert sich die Tendenz zum Monotheismus auf dieser religionsgeschichtlichen Stufe, die die Propheten – auch die Propheten, die abseits der israelitischen Religionen wirkten – in den Gottesgedanken legten, sodass Bousset konstatieren kann: „[D]er Prophetismus [ist] der Boden

210 WdR 120. 211 WdR 108. 212 Einige Aspekte hinsichtlich der Konvergenzen und Unterschiede von Boussets ProphetenDeutung mit der Prophetenforschung seiner Zeit bietet Bernhard Lang (Lang, Prophet) im Modus der Frage nach Webers Rezeption der Propheten-Deutung Boussets. Die Prophetenforschung, auf die Bousset seine Propheten-Deutung aufbaut, führt er in WdR 276 auf. Wellhausen und Duhm scheinen insgesamt vielfältige Anregungen gegeben zu haben, die Bousset allerdings nicht unmodifiziert übernahm, vgl. Lang, Prophet, 184; dort findet sich auch eine Kurzcharakteristik der Propheten-Deutung Boussets.



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für den Monotheismus geworden.“213 Diesen großen Fortschritt in der Symbolwelt der Religion markiert Bousset aber sogleich als einen nur relativen. Denn einerseits blieben die Propheten Israels bei ihrer Unheilserwartung stehen – erst die späteren Propheten wie der Zweite Jesaja vermögen wieder eine vage Hoffnung zu empfinden.214 Die religiöse Erfahrung der Allmacht der göttlichen Wirklichkeit über die Geschichte wurde also noch nicht mit aller Konsequenz in der Kategorie der Heilsgewissheit gedeutet. Andererseits sind es eben auch nur Tendenzen zum Monotheismus, keineswegs ein luzide reflektierter monotheistischer Gottesgedanke, der als alleiniges Prinzip Schöpfer und Erhalter der Welt ist. Vielmehr handelt es sich – zumindest bei den Propheten Israels – noch um die Anschauungsform, die Bousset mit dem von Wellhausen eingeführten Begriff der Monolatrie beschreiben kann, der bekanntlich die Existenz anderer Götter nicht leugnet.215 Dass Boussets Theorie der religionsgeschichtlichen Entwicklung nicht einem naiven Aufstiegsmodell verpflichtet ist, zeigen die sich an die Stufe der prophetischen Religion anschließende Religionen der Observanz216. Denn ist einerseits mit der Stufe der prophetischen Religion und ihrer Predigt vom religiösen Individualismus schon ein relativer Höhepunkt in der Entwicklung des religiösen Lebens erreicht, so fordert Boussets „Logik religiöser Lebenssysteme“217 andererseits, dass auf das Auftreten der Propheten ein, wie der für die Religionsgeschichtliche Schule prägende Alttestamentler Bernhard Duhm formuliert, „epigonenhaftes Zeitalter“218 folgt, das die religionsgeschichtliche Stufe der individuell erlebten und einer neuen Selbst- und Weltdeutung zugeführten prophetischen Religion wieder verlässt. Die-

213 WdR 108. 214 WdR 121: „Die Predigt der Propheten schließt mit einem großen Fragezeichen. Was sie vor Augen sahen, war Dunkelheit und Vernichtung bis auf den letzten Rest. Leise, ganz leise regen sich daneben die Hoffnungsgedanken. Vielleicht, daß das Wunderbare noch wirklich wird!“ 215 Vgl. WdR 113. 216 Als Observanzreligion bezeichnet Bousset die Religionsstufe, für die ‚religiöser Brauch‘ und ‚Zeremonienwesen‘ von elementarer Wichtigkeit ist, vgl. WdR 124–126. Unter die Religionen der Observanz lassen sich der Islam, die nachzarathustrische Religion des Parsismus und zuvorderst das antike Judentum subsumieren. Aber auch in der griechisch-orthodoxen, wie auch in der römisch-katholischen Kirche findet Bousset Züge einer Religion der Observanz, ja sogar der Protestantismus sei nicht ganz frei von diesbezüglichen Tendenzen (vgl. WdR 127). Eine umfassende Beschreibung von Boussets Deutung des antiken Judentums, das als eine der klassischen Observanzreligionen eingeführt wird, bietet Waubke, Pharisäer, 257–280, der den hier in Rede stehenden Abschnitt aus Boussets Wesensschrift – 5. Vortrag (WdR 123–157) – ganz treffend als eine „komprimierte Fassung des in Rel [sc. Boussets Monographie von 1903 ‚Die Religion des Judentums‘] entfalteten Bildes des Judentums und der Pharisäer“ würdigt (Waubke, ebd. 259). Zu Boussets sich wandelnden Bild vom Judentum von einer einheitlichen zu einer in sich pluralen Größe vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 92 Anm. 145. 217 Lang, Prophet, 187. Bousset scheint auch mit seiner Bildung von Religionsstufen und deren jeweiligen inhaltlichen Zuschreibungen in seiner Wesensschrift auf Max Webers Systematik religiöser Typen gewirkt zu haben (vgl. ebd.). 218 Duhm, Reich Gottes, 8.

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ses Verhängnis sei durch die „Aneignung der Masse“219 bedingt, durch die die universalistische Predigt der Propheten dem im Judentum energisch festgehalten Monotheismus wieder verloren ging220 – ein großer, für Bousset „unverträglicher Widerspruch“221, der sich durch alle Religionen dieser Stufe zieht. Im Rahmen der religiösen Kommunikationsprozesse der ‚religiösen Masse‘ werden die Vorstellungswelten der prophetischen Persönlichkeit zwar rezipiert, allerdings nur in einer spezifischen, kulturell vermittelten Gebrochenheit internalisiert. Bousset versucht dieses Phänomen der Religionsgeschichte mit dem Begriff der ‚Übergangsform‘ angemessen zu beschreiben.222 So ist die sich an die prophetische Religion anschließende religionsgeschichtliche Stufe dadurch gekennzeichnet, dass sie einen Kompromiss zwischen einer höheren geistigen Frömmigkeit und der Volksfrömmigkeit223 darstellt. Denn obwohl die Propheten die Religion – so Boussets Konstruktion – zu einer rein innerlichen und damit praktisch kultlosen Frömmigkeit befreit haben, gesteht die Volksfrömmigkeit den exkludierenden Faktoren „Tradition, Herkommen und Sitte“ – und damit auch dem Kult – noch unbenommen eine elementare Bedeutung in ihrer Mitte zu.224 Und das offenkundig nicht nur hinsichtlich ihrer identitätsbildenden Funktion, sondern vor allem auch im Hinblick auf die hinter dem unmittelbaren Gottesverhältnis der Propheten zurückstehenden, noch einer Vermittlung bedürftigen Volksfrömmigkeit. So gleicht es gewissermaßen einer sozialpsychologischen Notwendigkeit, dass der religiöse Individualismus der prophetischen Persönlichkeiten, wenn er denn zum „Gemeingut weiterer Kreise“225 werden soll, immer nur gebrochen rezipiert werden kann. Das retardierende Element ist dabei ganz offensichtlich eine unterschiedlich ausgebildete Religiosität im Volk, die hinter der individualistischen Religiosität der Propheten zurücksteht und somit auch die Symbole, die die Propheten 219 WdR 123 220 WdR 128. 221 WdR 128. Dieser Widerspruch sollte sich sodann in der Wesensbestimmung des Judentums niederschlagen, vgl. Waubke, Pharisäismus, 279: „Die[] trotz der religionsgeschichtlichen Per­ spektive in Boussets Entwurf beibehaltenen theologischen Wurzeln bewirken eine Wesensbestimmung des Judentums als halbfertiges und widersprüchliches Phänomen.“ Später sollte Bousset seine Darstellung insofern revozieren, als er die Kontinuitäten des Christentums zum ‚Spätjudentum‘ deutlich hervorgehoben wissen wollte, vgl. Bousset, Literatur, 122, dazu Waubke, Pharisäismus, 275. 222 Zu diesen „Übergangsformen“ vgl. WdR 123. 223 Vgl. WdR 123f. 224 WdR 124. Dies hatte zur Folge, dass die Religion wieder drohte, auf eine reine Funktion innerhalb der Gesellschaft reduziert zu werden: „[...] die Zeremonie [hält] die Religion auf der nationalen Höhenlage fest, denn in dem religiösen Brauch lebt, wie wir sahen, die nationale Sitte fort“ (WdR 142). In Boussets Religion des Judentums wird der Übergang zur Observanzreligion erst mit den Kämpfen in der Makkabäerzeit markiert (vgl. RdJ 64), wenngleich die Stufe der Nationalreligion weiterhin in bestimmten jüdischen Kreisen in Geltung blieb. Das ‚Spätjudentum‘ war also von zwei unterschiedlichen religionsgeschichtlichen Stufen bestimmt, vgl. dazu grundlegend Waubke, Pharisäer, 264. 225 WdR 123.



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schufen, sich nur durch einen Vermittlungsvorgang mit der allgemeinen Religiosität und den zeitgenössisch in Geltung stehenden kulturellen Bindekräften aneignen kann. Diese Adaptionsleistungen führt notwendig dazu, dass erst einmal das „Bewusstsein der unmittelbaren Lebensbeziehung zu Gott, das Gefühl der unbedingten moralischen Verpflichtung“226, in welchem die Propheten lebten, in breiten Schichten des Volkes sich zuerst nicht durchsetzen kann und diese neuen Ideen einen Kompromiss mit den gewohnheitsmäßigen, kulturellen Lebensvollzügen der Gemeinschaft eingehen müssen. Für Bousset entwickeln sich also einmal gefasste religiöse Vorstellungen in der Religionsgeschichte nur „im stetigen Kampf “227 mit anderen Lebensgebieten, denen die religiösen Vorstellungen und die religiöse Praxis zuallererst Tribut zollen muss. Nur so ist ihm erklärlich, dass der einmal erreichte Universalismus der prophetischen Predigt wieder in den Partikularismus der Religionen der Observanz umschlagen konnte. So sinken die Religionen der Observanz wieder hinter das Erreichte, einer „Religion im Geist und in der Wahrheit“228 auf der Stufe der Propheten, zurück, da sie nun, wie das Beispiel des jüdischen Pharisäismus zeigt, einen Katalog zeremonieller Vorschriften als Vermittlungsinstanz zwischen dem inzwischen monotheistisch gedachten Gott und dem Frommen setzte. Das Gottesverhältnis fiel damit auf die Stufe eines bestimmten kasuistischen Rechtsverhältnisses zwischen Gott und Individuum zurück.229 Dies hemmte das Leben der Frommen in einer für Bousset unerträglichen Weise230; es droht eine „Verholzung“231 des vitalen Kerns der Religion. Vermittelt durch den Drang nach religiöser Identitätsbildung forcierten die partikular gesinnten Religionen der Observanz die Kodifizierung von Rechtssätzen und den für die geschichtlichen Religionen eminent wichtigen Kanon heiliger Schriften 226 WdR 142. 227 MuR 11. Bousset beschreibt hier die „niedere[], widerstrebende[] menschliche[] Natur und deren sinnlichen Egoismus“ als hemmende Faktoren, die eine lineare Entwicklung der Religionsgeschichte unmöglich machen. Der ‚sinnliche Egoismus‘ erschwert die Entwicklung zu einer reinen innerlichen und geistigen Frömmigkeit enorm. Bousset fasst diese hemmenden Faktoren theologisch unter dem Begriff der Sünde (MuR 11). 228 WdR 111. 229 Religion und Recht schließen auf dieser Stufe „ein enges Bündnis“, sodass die Religion droht in einem „Kontraktverhältnis zwischen Gott und Mensch“ (WdR 143) aufzugehen. 230 Vgl. nur WdR 140: Mit dem Phärisäismus gehe die religiöse Entwicklung sogar „einen Schritt rückwärts“. Zu Boussets ambivalenter Pharisäismus-Deutung, die zwar gegenüber der älteren Theologengeneration um Julius Wellhausen und Emil Schürer ein scheinbar ausgewogeneres Urteil bietet – das aber nicht weniger normative Prämissen in sich trägt –, vgl. Waubke, Pharisäismus, 278f. Bousset hebt ausdrücklich die religionsgeschichtlich bedeutsamen Innovationen der Religionen der Observanz und damit auch des Judentums hervor, dazu s. u. Dass nach Bousset unter den äußeren Faktoren der Auflösung nationaler Grenzen, aber auch im Hinblick auf die Kommikationsprozesse innerhalb einer Religion, ein ‚kirchlicher‘ Religionstyp sich bilden musste, belegt sodann schon die dritte von Boussets Promotionsthesen: „Der Pharisäismus ist kein Abfall, sondern eine mit der Zerstörung der Volkskraft Israels notwendig gegebene Entwicklung seiner Religion“ (Bousset, Thesen, 297). 231 Vgl. RdJ 116.

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als „Zeugnisse aus der klassischen Vergangenheit“, denen als weiteres „Bindemittel“ der Frömmigkeit absolute Autorität zukam.232 Gemeinsam mit dieser Entwicklung der Observanzreligionen zu Religionen, die ihrer Geschichte – und den darin bezeugten Religionsstiftern – eine normative Bedeutung zumessen, entsteht ein „neuer Stand von Führern und Leitern des religiösen Lebens“233: die schriftgelehrten Theologen.234 Doch kann Bousset in seiner Deutung der Religionen der Observanz durchaus differenzieren. Denn ihm ist klar, dass eine Popularisierung der Ideale der prophetischen Religion – die an sich unbedingt einen Fortschritt gegenüber der Stufe der Nationalreligion bedeute235 – sich nicht anders vollziehen kann als in den oben beschrieben Brechungen. Die Wucht der prophetischen Ideen bricht sich eben erst allmählich Bahn. So schwindet die Bedeutung des Kultus auch in den Observanzreligionen sukzessive, ohne formal aufgehoben zu werden. Wenngleich diese Lücke auch durch Rechtscodices und ein ausgedehntes Zeremonienwesen kompensiert wurde, so sieht Bousset beispielsweise doch deutliche Tendenzen des Diasporajudentums zu einer universalistischen Predigt ausgeprägt, was sich durch die Vielzahl von Proselyten im Gottesdienst der Synagoge gut belegen ließe.236 Diese „neue Art des Kultus“237 ist wieder stärker dem prophetischen Ideal einer innerlichen und geistigen Frömmigkeit verpflichtet, sodass Bousset geradezu emphatisch den synagogalen Gottesdienst als universal ausgelegte Religionspraxis würdigen kann. Allerdings ist der Gottesdienst des Diasporajudentums nur ein Repräsentant einer innerhalb der Observanzreligionen sich allgemein ausbildenden Tendenz zum Universalismus, denn „[d]ie Zeit war reif für den universalen Monotheismus.“238 Wie kam es nun zur Öffnung der partikularistischen Observanzreligionen, zumal ihnen in Boussets Geschichtsbild die schöpferischen Persönlichkeiten, wie sie noch die Stufe der prophetischen Religion zur Voraussetzung hatte, rundweg fehlten? Zwei geschichtsmächtige Faktoren kann Bousset namhaft machen, die katalytisch auf die religionsgeschichtliche Entwicklung innerhalb der Stufe der Observanzreligionen wirkten: Als äußeren Faktor bringt Bousset das alle nationale Autonomie auflösende Alexanderreich in Anschlag, dessen universaler Horizont

232 WdR 146ff. 233 WdR 147. 234 WdR 148. Zur ambivalenten Deutung der Funktion des Theologen in den geschichtlichen Religionen vgl. Kap. 2.1.3. 235 Vgl. WdR 123. 236 Vgl. WdR 129. 237 Vgl. WdR 150. Der neue Kult hat das Opfer aber nur durch die Observanz ersetzt, sodass der Opfergedanke sich subkutan auch noch in den nachfolgenden Religionen hielt, z. B. im paulinisch geprägten Christentum und im katholischen Meßopfer (vgl. WdR 138). 238 WdR 130, vgl. auch WdR 129f: Auch bei den noch prinzipiell polytheistisch verfassten Religionen beobachtet Bousset eine „[...] die komplizierte Götterwelt vereinfachende Tendenz, sie [sc. die Oberservanzreligionen] überschreiten alle die Grenzen der Nation und heißen jedermann ohne Ansehen des Standes und der Nation willkommen.“



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die Loslösung der Religion von der Nation und damit verbunden eine Tendenz der Frömmigkeit zum Universalismus zeitigt. Sodann rückt die von den Propheten inaugurierte Idee des religiösen Individualismus – gleichsam als innerer Faktor239 – wieder in den Fokus der Religionspraxis, da nun in den observanten Religionen analog zur universalistischen Predigt der Gerichtsgedanke ausgebildet wurde. Hierin zeigt sich der individualistische Zug der Religionen der Observanz, der seine ganze religiös-ethische Kraft in der Inanspruchnahme des Einzelnen bündelt und somit eine „ungeheure Bedeutung für das religiöse Leben besitzt“, da er diesem eine „konzentrierte Einheitlichkeit“240 gibt, sodass die Religion wieder eine lebensbestimmende Macht wird. In diesem Glauben an eine eschatologische Vergeltung rücken die beiden „aufeinander angewiesenen Lebensmächte Religion und Moral“ wieder auf das engste zusammen.241 Die Höhe der prophetischen Religion scheint also fast wieder erreicht und wird gleichzeitig darin überboten, dass die prophetischen Ideen nach dem Durchlauf durch das religiöse Leben des Volkes nunmehr zum Besitz der Volksfrömmigkeit wurden. Trotz der Adaption der prophetischen Ideen in den observanten Religionsgemeinschaften gilt für Bousset allerdings unbenommen, dass durch die Observanz bestimmter Rechtssätze eine rein innerliche und geistige Frömmigkeit auch den vermeintlich fortschrittlichsten Strömungen innerhalb der Observanzreligionen, wie dem Diasporajudentum, prinzipiell verwehrt sei. Bousset diagnostiziert ein beständiges „Hängenbleiben“ an partikularistischen Elementen, die wieder in die observanten Religionssysteme einsickerten.242 Hierin finden die universalistischen Strömungen der Observanzreligionen ihre zeitgebundene Grenze – und bleiben damit Repräsentanten einer Religionsstufe des Überganges, in denen sich die prophetischen Ideen zwar relativ breit rezipiert, aber nicht in entschlossener Konsequenz in die Religionspraxis überführt wurden. Die ambivalenten Spannungen innerhalb dieser Religionsstufe ließen Bousset, exemplarisch bezogen auf das

239 Vgl. WdR 151f. 240 WdR 153. 241 WdR 143. 242 Bousset markiert hier eine religionssoziologisch eminent wichtige Entwicklung: Der entschlossene Universalismus der Observanzreligionen bringt den Kirchentypus hervor, der durch ein gemeinsames Bekenntnis gekennzeichnet ist und dessen Zugang nun nicht mehr durch die Nationalität, sondern durch die persönliche Überzeugung – der Glaubensbegriff, der schon bei den Propheten Verwendung fand, tritt jetzt in das Zentrum der kirchlichen Religion – reglementiert ist. Die Menschheit ist jetzt nicht mehr in unterschiedliche Nationalitäten unterschieden, sondern in Fromme und Heiden (vgl. WdR 145). Diese neue soziologische Form der Religion ist aber in den Oberservanzreligionen eben gleichzeitig durch eine partikularistische Struktur gekennzeichnet – diese spannungsvolle Doppelstruktur kennzeichnet den Kirchentypus –, sodass beispielsweise das Judentum in neutestamentlicher Zeit auf die religionssoziologische Größe einer partikularistischen Sekte herabsinkt. Dazu vgl. Waubke, Pharisäismus, 276; Claussen, Jesus-Deutung, 92 Anm. 145. Auch der Kirchentyp des Christentums ist notwendig von partikularistischen Strukturen bestimmt.

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Judentum, zu dem Schluss kommen, dass die Observanzreligionen insgesamt auf halbem Weg zum wirklichen Universalismus stehen geblieben seien.243 Auf der Stufe der prophetischen Religionen bildet sich noch ein zweiter, mit der Moralität unverbundener Gehalt der Religion aus, der zwar auch schon immer latent vorhanden, nun aber – unableitbar – durch die prophetische Persönlichkeit zur Welt gebracht wird: der Erlösungsgedanke als „Glaube an ein höheres Leben.“244 Er bildet den Angelpunkt der Erlösungsreligiosität, die Bousset an das Ende seiner Skalierung der Religionsgeschichte stellt.245 Ist in diesem Religionstyp auch die religionstheoretisch fruchtbare Distanz der Religion von der Kultur zuerst religionsgeschichtlich in Erscheinung getreten, so eignet dem Typus der Erlösungsreligion doch eine verheerende Einseitigkeit, indem sie den Eigenwert der Kultur für die Religion vollständig unterminiert, wie Bousset an Buddhismus und Hinduismus, aber auch für die hellenistische Religion beobachtet. Das Christentum als bisher höchste Gestalt der Religionsgeschichte benötigt also innerhalb dieser Religionstypologie das prophetische Element, das im „Bewusstsein[s] der unmittelbaren Lebensbeziehung zu Gott“ sowie im „Gefühl der unbedingten moralischen Verpflichtung“246 zur Darstellung kommt, um die Einseitigkeiten einer Erlösungsreligion, die sich schon in der frühsten Christentumsgeschichte anbahnen – insbesondere bei Paulus247 –, zu vermeiden. Als ethische Erlösungsreligion vermag das Christentum den Aufgaben einer Persönlichkeitsreligion, die die Persönlichkeit vor materialistischen Reduktionsmodellen schützt, am besten gerecht zu werden. Boussets Typenbildung kennt also neben der primitiven Natur- und Stammesreligion, die Typen der Nationalreligion, der prophetischen Religion und der Gesetzesreligion; der höchste Typus ist die Erlösungsreligion. Wurde die Religion noch auf der Stufe der Nationalreligion vor allem für die Konservierung der Macht und der bestehenden Verhältnisse funktionalisiert, so wird sie durch die Propheten erstmals auf das Individuum bezogen. Die Religion wird zu einem ‚Lebensganzen‘, das Gefühl der unmittelbaren Lebensbeziehung zu Gott sowie der unbedingten moralischen Inanspruchnahme bestimmt nun die Religionstypen des Prophetismus, aber auch den sich an diese anschließenden Typ der Oberservanzreligion. Der in der prophetischen Religion angelegte Universalismus wird hier freilich wieder durch bestimmte Partikularismen unterminiert. Erst aber die Erlösungsreligionen lösen die Religion aus allen diesseitigen Funktionalisierungen heraus. Diesem Typ ist auch das Christentum zuzuordnen, wobei das Christentum zu gleichen Teilen das

243 Vgl. RdJ 99. 244 WdR 24. 245 Zur Begriffsgeschichte vgl. Kap. 4.1. 246 WdR 142. 247 Dazu vgl. Kap. 3.2.



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prophetische Element der Moral in sein Wesen aufnahm und daher den eigenständigen Typ der ethischen Erlösungsreligion bildet.248

2.1.6 Boussets Hinwendung zur neufriesianischen Religionsphilosophie Ist Boussets Religionstheorie bis hierher als ein Programm beschrieben worden, das wesentliche Anliegen der Religionsgeschichtlichen Schule aufnahm, so nimmt sie ab 1909 eine eigentümliche Wendung. Zielte Boussets Religionstheorie zuvor allein auf die Sicherung der Selbständigkeit der Religion vermittels religionspsychologischer und religionsgeschichtlicher Beobachtungen, so intendiert Bousset nun die Geltungssicherung der Religion über den Aufweis ihrer Vernunftnotwendigkeit. Mit einigem Recht wird man Boussets religionstheoretische Überlegungen also, wie es häufig geschieht, in zwei Phasen aufteilen können.249 Dabei bleiben freilich Boussets religionspsychologische Beobachtungen unbenommen in Geltung, sodass jegliche ‚Wende‘-Semantik sicherlich an einer sachgerechten Beschreibung der Entwicklung des religionstheoretischen Denkens Boussets vorbeiführt, zumal sie dessen Selbsteinschätzung geradewegs entgegensteht.250 Eine Abkehr von seiner frühen Religionstheorie inhäriert seine Hinwendung zur Geltungsfrage jedenfalls nicht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Bousset die bisherige religionspsychologische Perspektive lediglich um die geltungstheoretische Fragestellung erweitert. Dadurch schärft sich freilich umgekehrt wieder sein religionspsychologisches Beobachtungsraster. Allerdings bedingte diese Ausweitung der Frageperspektive gleichzeitig auch die Ausdehnung des epistemologischen Explikationsrahmens. Verblieben Boussets religionstheoretischen Einsichten vor 1908/09 noch nahezu vollständig im Rahmen der historischen Methode, so fragt er nun vermittels der Transzendentalphilosophie Jakob Friedrich Fries’251 nach der „vernunfttheoretischen Grundlegung der Religion.“252 Denn nur von einer Religionsphilosophie als Letztbegründungswissenschaft erwartet sich Bousset eine tragfähige Lösung der in die Krise geratenen evangelischen Theologie – zum Wohl für das religiöse Leben der Gegenwart. Bousset ist dabei Teil eines Göttinger Unternehmens, das sich um den jungen Philosophen Leonhard Nelson gruppierte – die neue Fries-Schule. Mit seinem Freund Rudolf Otto zusammen beabsichtigte Bousset den Mehrwert der kantischfries’schen Erkenntniskritik für die Theologie fruchtbar zu machen. Neben der 248 Zur Wesensbestimmung des Christentums vgl. Kap 4.1. 249 Vgl. Einleitung. 250 Vgl. exemplarisch den Brief an Paul Wernle vom 19. Oktober 1910 (Özen 181); zur Einteilung des Bousset’schen Oeuvres in zwei Phasen vgl. Einleitung. 251 Zum Jenaer Transzendentalphilosophen und Mathematikprofessor Fries – gestorben 1843 – und dessen Rezeption durch Otto vgl. die in jeder Hinsicht glänzende Darstellung von Dietrich Korsch (ders., Aufnahme). 252 Pfleiderer, Theologie, 108.

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Neuherausgabe der Schriften Fries’253 schlug sich das Engagement der beiden befreundeten Göttinger Theologen für den Neufriesianismus zunächst in Ottos Monographie Kantisch-fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie aus dem Jahr 1909 nieder.254 Bousset würdigte diese Programmschrift in einer Rezension in der Theologischen Rundschau prompt mit emphatischer Zustimmung,255 die wiederum nicht unwidersprochen blieb.256 Aus dieser Rezension und aus den sich anschließenden Vorträgen, die in den Jahren 1910 bis 1912 das Problem ‚Glaube und Geschichte‘ unter Zuhilfenahme des neufriesianischen Philosophie zu sistieren versuchten, lassen sich die wesentlichen Anliegen Boussets rekonstruieren, die die Emphase, mit der er der evangelischen Theologie seiner Zeit die neufriesianische Religionsphilosophie anempfiehlt, verstehen lassen.257 Jene evangelische Theologie sieht Bousset nämlich – hierbei auf die Krisendiagnose Ernst Troeltschs zurückgreifend258 – tief in die Krise geraten. Ihr ‚liberaler‘ 253 Bousset besorgte 1910 die Neuherausgabe des philosophischen Romans Julius und Evagoras; vgl. zur programmatischen Neuherausgabe der Schriften Fries’ Weiß, Schule, 729. 254 Zum persönlichen Verhältnis zwischen Otto und Bousset vgl. bündig Laube, Otto, 221. 255 Vgl. nur KFR 487: „Ich will aber als persönliches Bekenntnis hinzufügen, dass ich nicht vielen Menschen begegnet bin, die mir […] so an Herz und Gewissen gerührt haben, wie Jakob Friedrich Fries.“ Zur Rekonstruktion von Boussets Darstellung der neufriesianischen Religionsphilosophie wird die Untersuchung daher vermehrt auch auf Ottos Buch zurückgreifen müssen. 256 Zu der sich an KFR anschließende Kontroverse mit dem neukantianischer Privatdozenten der Systematischen Theologie Karl Bornhausen, die sich vor allem um die rechte Kant- und Friesinterpretation rankte, vgl. Laube, Otto, 221–223; Chapman, Apologetics, 504–508. Bornhausen spricht Fries ab, sich ein Schüler Kants nennen zu dürfen, vielmehr sei er ein „philosophische[r] Epigone[]“ (Bornhausen Neufriesianismus, 347), dessen Kritizismus bei Licht betrachtet ein bloßer Psychologismus sei (vgl. ebd. 351). Bornhausen hält das Ansinnen einer „Repristination“ des Fries’schen Systems für schlichtweg „gefährlich“ (ebd. 347). Allerdings verwahren sich Otto und Bousset gegen den Vorwurf, eine bloße Repristination anzustreben, vgl. Weiß, Schule, 729 und den Brief Boussets an Paul Wernle vom 19. Oktober 1910 (Ms 151 Nr. 18; noch unediert): „An Fries [sic!] eigener Religionsphilosophie wie auch an seiner Ethik habe ich mancherlei auszusetzen. Grundlegend ist für mich nur seine Erkenntnistheorie. […] Darüber hinaus gehe ich dann meinen eigenen Weg.“ 257 In einem Brief an Paul Wernle vom 6. Juni 1909 (Ms 151 Nr. 15; noch unediert) listet Bousset das Innovationspotenzial der Fries’schen Philosophie auf: „die Überwindung des fatalen Dualismus in der Kant’schen Philosophie zwischen reiner und praktischer Vernunft; der Nachweis des Rechtes der religiösen Ideen als eines notwendigen und wesenhaften Bestandes der allgemeinen Vernunft; die Loslösung der Religion aus der Abhängigkeit von der Moral, in der sie bei Kant stand, und die Umkehr des Verhältnisses beider Faktoren, so daß die Religion Grundlage der Moral wird; der Nachweis, daß die an sich abstrakten religiösen Ideen gegenständlich greifbar werden auf dem Gebiet der Ahnungen und des Symbolischen im Gefühl (Vermengung von Kant und Schleiermacher). – Über dem allen das energische Festhalten an dem (Kantischen) subjektiven Dualismus der Betrachtungsweise – natürliche Betrachtungsweise und Betrachtung der Wirklichkeit unter Ideen – wodurch der Religion ihre volle Überweltlichkeit gewahrt bleibt. Von hieraus die Möglichkeit des unbedingten Festhaltens am theistischen Gottesglauben, an der transzendentalen Freiheit, am Ewigkeitsglauben.“ 258 Vgl. KFR 427f, wo Bousset in seiner Historismuskritik auf Troeltschs Aufsatz Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft rekurriert.



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Flügel zerteilt sich in Boussets Optik, der sich dabei auf Troeltschs Gegenwartsdiagnosen stützt, in zwei Strömungen auf. Auf der einen Seite steht die historische Theologie mit ihrem Hang, gerade die „möglichst markanten, ans Pathologische streifenden“259 Phänomene der Christentumsgeschichte zu erforschen, auf der anderen Seite eine Vermittlungstheorie, die keine kritische Distanz mehr zur kirchlichen Form christlicher Religiosität hat. Beiden Richtungen legt Bousset zur Last, dass sie keinen kritischen Zugriff mehr auf das gegenwärtige religiöse Leben besitzen, das sich nicht weniger, wie unten schon gezeigt, durch die Anstürme von Materialismus und genetischer Religionskritik in der Krise befindet. Die Vermittlungstheologie ist durch ihren kirchlich-offenbarungstheologischen Supranaturalismus den gebildeten Frommen höchst unplausibel geworden und die historische Theologie droht gemäß der zwei Ausgänge des Historismus auf Ebene der Frömmigkeit entweder in Skepsis oder in Konservatismus, in einen übertriebenen Respekt vor der Überlieferung, umzuschlagen. Die Theologie bleibt letztlich in ‚Historismus und Psychologismus‘ stecken:260

[...] Historie und Psychologie sind für den modernen religiösen Liberalismus Labyrinthe geworden, in denen er sich zu verirren droht, und der Ariadnefaden, der uns herausführen könnte, scheint den meisten verloren gegangen zu sein. Die Gefahr eines Versinkens in Historismus und Psychologismus ist merklich nahe gerückt.261

Als alleiniges „Heilmittel“262 jener Krisenkonstellation sieht Bousset eine Theologie, die nun endlich ihre historistische Nischenexistenz aufgibt und im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Analyse des menschlichen Geistes die Religion als „ursprüngliches Vermögen des Menschen“263 ausweist – Religionsphilosophie also statt supranaturalistischer Absolutheitskonstruktion oder historistischem Skeptizismus. Bousset stimmt neben der Krisendiagnose also auch hinsichtlich des Therapeutikums mit Troeltsch überein. Denn beiden steht deutlich vor Augen, dass eine Besserung des „chaotischen Zustand[es]“264 im religiösen Leben der Moderne nur über den Umweg über den erneuten Rekurs auf das Denken des deutschen Idealismus gelingen kann. Nur auf dessen Grundlage vermag die Theologie wieder normative 259 RL 22. 260 Vgl. Bousset, Einleitung, XXV. Dieser Historismus hat zu einer „einseitigen Überschätzung der Historie“ geführt, „[...] die auf vielen Gebieten der Wissenschaft, dem der Jurisprudenz, der Theologie, der Staatswissenschaft, wie des praktischen Lebens in Staat und Kirche eine so unheilvolle Rolle gespielt hat.“ Jene Überschätzung hat eben in ihrem Gefolge einen „starken Konservatismus“ oder eine „müde[], alles in Relativitäten auflösende[] Skepsis.“ 261 RL 22. 262 RuG 27. 263 RuG 11. Bousset meint auch hierbei Troeltsch auf seiner Seite zu wissen, denn dieser habe gegenüber dem kirchlichen Supranaturalismus und den naturwissenschaftlichen Naturalismen immer wieder „die Erfassung der Religion als einer einheitlichen Erscheinung des menschlichen Geisteslebens“ (KFR 436) in Anschlag gebracht. 264 KFR 420.

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Kulturwissenschaft zu sein, indem sie qua Bewusstseinsanalyse Normen generiert, die dann wieder auf das religiöse Leben ihre Anwendung finden. Mit Troeltsch erstrebt Bousset also einen „Neubau unseres geistigen Gesamtdaseins“265, dessen Fundament ein Rationalismus bildet, denn weder Naturwissenschaft noch die Historie sind hinsichtlich der Geltungsfrage kompetent. Von Troeltschs Programm eines „immanenten Rationalismus“266 grenzt sich Bousset allerdings wiederum deutlich ab, denn er hält es einerseits für einen „sehr gefährliche[n] Rat“, aus der Geschichte „allmählich die allgemeingültigen apriorischen Elemente herauszuschälen“267 – es könnten ja wesentliche Elemente des religiösen Lebens verloren gehen. Andererseits hält er, indem er Kaftans methodologische Kritik aktualisiert268, diesen Weg für wenig aussichtsreich, denn Troeltschs Zugang ist wieder mit „starken historisch- und psychologisch-empirischen Elementen durchsetzt“269 und wird sich kaum zur Auffindung „absoluter Normen“270 eignen. Troeltschs immanenten Rationalismus führt Bousset genetisch auf dessen philosophische Gewährsmänner zurück. Neigt dieser der idealistischen Rezeptionslinie „Fichte, Schleiermacher und die Romantiker, Hegel, Schelling“271 zu, ohne dabei die Bedeutung Kants in Abrede zu stellen, so meint Bousset sich mit Otto und dessen „Parole Kant-Fries […] in den Bahnen des reineren echt-kantischen Kritizismus [zu bewegen].“272 Damit hat sich Bousset hinsichtlich seiner Idealismus-Rezeption auf eine eigentümliche Linie festgelegt, die ferner für sich reklamiert, die empfundenen Fehlstellen der kantischen Philosophie schließen zu können. Kants Transzendentalismus leidet schließlich nach Bousset und Otto an „beträchtlichen Mängeln“273. Zuerst kommen diese Mängel darin zu stehen, dass Kant die religiösen Ideen von Gott, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit274 im Rahmen seiner Vernunftkritik nur mehr als regulative Ideen, als Grenzbegriffe der praktischen Vernunft begreifen konnte – ihr erkenntnistheoretischer Status ist „prekär“275. Mehr noch als die Ausweisung der religiösen Ideen an der reinen Vernunft bzw. deren Randständigkeit in der praktischen Vernunft irritiert Bousset und Otto der „Dualismus im Kantischen

265 KFR 419f. 266 Zu Boussets Kritik von Troeltschs immanenten Rationalismus s. u. 267 KFR 433. 268 Hinsichtlich der Kontroverse über Geschichte und Metaphysik zwischen Julius Kaftan und Troeltsch bemerkt Bousset, dass dieser „für viele doch den unbefriedigenden Eindruck hinterlassen hat, er habe keine von den beiden streitenden Parteien definitiv Recht behalten“ (KFR 430). 269 KFR 436. 270 KFR 432. 271 KFR 420. 272 KFR 420. 273 KFR 471f. 274 Vgl. KFR 473; ders., Einleitung, XXI. 275 KFR 472.



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System zwischen theoretischer und praktischer Vernunft“276, da er einerseits zur Folge hat, dass die religiösen Ideen als bloße Postulate nicht dieselbe Gewissheit wie die apriorischen Verstandeskategorien besitzen können und andererseits die Religion in eine schlechte Abhängigkeit von der Moral gerät.277 Dagegen erheben beide mit Fries einen vernunfttheoretischen Einwand; nämlich dass die Vernunft ungeteilt sei278 und den religiösen Ideen dieselbe erkenntnistheoretische Apriorität zukommen muss wie den Verstandeskategorien. Da nun aber auch die von Kant faktisch vorgefundenen religiösen Ideen die Bedingungen aller möglichen Erfahrung übersteigen, verwies sie Kant aus dem Zuständigkeitsbereich der theoretischen Vernunft in den Bereich der praktischen Vernunft. Kant ist jedoch – so Bousset und Otto – ein „Zirkelschluss“279 unterlaufen. Denn Kants Unternehmen, einen „Beweis für eine objektive Realität“280 der apriorischen Verstandeskategorien zu erbringen, gilt für Bousset als gescheitert, immerhin ist die Feststellung der Kategorien als Ursache aller möglichen Erfahrung doch letztlich auch nur eine „psychologische Tatsache, die ihrerseits wieder möglich wird durch Anschauung und Begriff a priori“281 – sie reicht also nicht aus, um den Kategorien Realität zuzuschreiben. Hinsichtlich der Organisation des Verstandes kommt ihnen also derselbe Status zu, wie den religiösen Ideen – ob den reinen Formen der Anschauung Realität zukommt, ist auf der Ebene des Wissens ebensowenig auszumachen, wie auch hinsichtlich der Wirklichkeit jenseits der religiösen Ideen nichts gewusst werden kann. Bousset hält gegen den Vorwurf eines „falschen Realismus“282 fest: „Wir bleiben in unsern Wahrnehmungen ganz in der Immanenz unseres Bewusstseins. […] So stehen denn die Ideen […] in ihrer Realität und Selbstgewissheit nicht schlechter da als die Sinnesempfindungen und die reinen Formen unserer Anschauung und unseres Denkens.“283 276 KFR 472; vgl. ebd. 477; Bousset wie Otto halten den kantischen Dualismus als Quell der als krisenhaft diagnostizierten Lage in der Theologie; sie berufen sich dabei auf Troeltschs Kant-Studie. 277 Zum „Moralismus Kants“, den Fries nach Bousset „geradezu in das Gegenteil“ hinsichtlich des Verhältnisses von Moral und Religion überführt, vgl. KFR 481; nach Otto wird eine an Kants angelehnte Religionsphilosophie dasjenige „töten […], worüber sie philosophieren will.“ Otto, Religionsphilosophie, 5. 278 Vgl. KFR 472. 279 KFR 474; vgl. Otto, Religionsphilosophie, 36; zu diesem – von Bousset als „Jacobischen Einwand“ apostrophierten Gedanken vgl. ders., Sachen, 148. 280 KFR 474; Kant steht nach Boussets Dafürhalten an dieser Stelle am „Standpunkt eines naiven Realismus“, indem er dem „Kausalitätsgedanken auf das Ding an sich […] reale Geltung [gibt], während er doch in seinem System nur ideale Gültigkeit besitzt“ (Bousset, Neofriesianismus, 148). 281 KFR 474. 282 Bousset, Sachen, 144. 283 KFR 474; vgl. auch ders., Einleitung, XXI (durch den Aufweis desselben „Gültigkeitswert[es]“ der Ideen „wie unserer Sinnesempfindungen und Formen unseres Denkens […] erlöst uns die Betrachtung Fries’ aus diesem Widerspruch [sc.dass die Ideen in der praktischen Vernunft, aber nicht in der „spekulativen Vernunft“ gelten]); vgl. hierzu auch Lehmkühler, Kultus, 68 Anm. 54.

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Fries ist demnach für die neue Fries-Schule der kritischere Transzendentalphilosoph; er führt gewissermaßen das kritizistische Unternehmen der kantischen Vernunftkritik zu einem vorläufigen Ende.284 Mit dem Beharren auf der unüberwindlichen Bewusstseinsimmanenz ist allerdings das eigentliche theologische Anliegen, das hinter der Rezeption der Erkenntnistheorie Fries’ steht, noch nicht vollständig beschrieben.285 Denn das Anziehende an Fries’ Philosophie war ja, dass sie versprach, die religiösen Ideen als notwendige Bestandteile der Vernunft verstehen zu lernen.286 Allererst Fries habe die von Kant lediglich als psychologische Tatsachen „aufgefundenen“ apriorischen Elemente im Rahmen der „quaestio iuris“287 als notwendige Konstituenten der Vernunft ausgewiesen. Auf „sicherere[m] Weg“288 als Kant habe Fries so die in der Vernunft bereitliegenden apriorischen Denkformen, aber auch die religiösen Ideen zu deduzieren vermocht; und zwar eben nicht im oben beschriebenen, zirkulären Sinn wie Kant, sondern durch den mittels psychologischer Selbstbeobachtung ermöglichten Rekurs auf die anthropologische Verfasstheit der menschlichen Geistes, dem „die Grundvorstellung des vernünftigen Geistes von der allgemeinen Einheit und Notwendigkeit“289 eigen ist. Ob die Neufriesianer und Fries selbst noch innerhalb des kantischen Unternehmens der Auffindung der Grenzen der Vernunft geblieben sind, oder jenes Anliegen durch den einfachen Rekurs auf die psychologische Tatsache jener Grundvorstellung von einer Einheitlichkeit des Geistes schon verlassen haben, wurde vielfach in Frage gestellt, wie im Psychologismus-Vorwurf Bornhausens zum Ausdruck kommt.290 Sie selbst nehmen jedenfalls für sich und Fries in Anspruch, dass ihre Vernunftkritik „auf dem ganzen Gebiete derselben [sc. kritizistischen] Methode [folgt]“ , damit „überall immanent“291 bleibt und über die quaesti facti, worauf sich der Psychologismus-Vorwurf bezieht, immer die quaestio iuris stellt.

284 Vgl. Korsch, Aufnahme, 304. Korsch konzediert: „[...] die Absicht, das kritizistische Anliegen nicht spekulativ zu verraten, vermag als ernsthaftes Motiv [sc. der Fries’schen Philosophie] Anerkennung finden.“ 285 Dass der Friesianismus auch in einer bloß ‚positivistischen‘ Lesart rezipiert werden konnte, die vor allem auf die ‚ontologiekritische‘ Bewusstseinsimmanenz zielte, also auf die reine Subjektivität des Verstandes, erläutert Korsch, Aufnahme, 300f. 286 Vgl. nur KFR 472: „Will man kurz das Verdienst bezeichnen, das Fries vor allem für die Theologie hat oder haben könnte, so kann man sagen dass er den Zwiespalt zwischen theoretischer und praktischer Vernunft wieder aufgehoben und die religiösen Ideen als notwendigen Bestandteil der einen und gleichen Vernunft erwiesen hat.“ 287 Otto, Religionsphilosophie, 6. 288 Bousset, Einleitung, XXI. 289 Otto, Religionsphilosophie, 33; vgl. Bousset, Einleitung XXV; zum anthropologischen Ausgangspunkt der Philosophie Fries’ vgl. Korsch, Aufnahme, 298f. 290 Vgl. Bousset, Sachen, 151. 291 Bousset, Sachen, 152; in dieselbe Richtung zielt auch Lehmkühler, Kultus, 64.



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Die im Interesse der Religion schlechterdings unhintergehbare Frage,292 ob nun ferner „der Grundvorstellung unserer Vernunft objektive Gültigkeit“293, also ein Ding-an-sich-Sein, zugeschrieben werden kann, ist für Bousset und Otto auf Ebene des Wissens auch nicht zufriedenstellend zu beantworten. Denn dass den apriorischen Anschauungsformen, aber auch den religiösen Ideen ebenfalls eine Wirklichkeit korrespondiere, kann doch letztlich nur durch das Selbstvertrauen der Vernunft zu sich selber beantwortet werden.294 Mit dem nachdrücklichen Einschwenken auf Fries’ Kritizismus zeigt sich hier noch einmal das antispekulative und damit antihegelianische Anliegen Boussets.295 Denn durch Rückgriff auf die Fries’sche Erkenntnistheorie will Bousset die Gefahren für das religiöse Leben, die der Vorstellung einer rationalistischen Beweisbarkeit der Wirklichkeit, auf die sich die religiösen Ideen beziehen, inhärieren, unterlaufen.296 Dies wäre bloß ein philosophischer Dogmatismus, der in der Tat das religiöse Leben autoritär verengen würde. Um dieser Gefahr vorzubeugen, rekurriert Bousset auf die neufriesianische Unterscheidung zwischen ‚Beweisen‘ und ‚Aufweisen‘. Mit der Unterscheidung zwischen dem ‚transzendentalphilosophischen‘ Aufweis und dem spekulativen Beweis will Bousset vermeiden, dass sein Rekurs auf die religiösen Ideen in eine „logizistischen Sinn“297 missverstanden werden kann. Die Wahrheit der Religion, deren Beweis gemäß Boussets theologiegeschichtlicher Konstruktion das Hauptanliegen des alten Rationalismus darstellte, kann jedoch nicht über den andemonstrierenden ‚logizistischen‘298 Beweis einsichtig gemacht werden. Dies würde zunächst mit der Selbstbeschreibung der Religion in Spannung treten, deren Eigentümlichkeit schließlich gerade auch für Bousset in der Uneinholbarkeit und Unableitbarkeit des religiösen Erlebens besteht. Jenes sich irrational einstellende Erleben muss sich dementsprechend spröde gegenüber einem idealistischen Beweisverfahren verhalten. Letztlich würde es sogar durch die Reduktion der Religion auf bestimmte unveränderliche metaphysische Wahrheiten zur Aufhebung der Religion führen. Die vernunftkritische Aufweisung der religiö292 Vgl. Otto, Religionsphilosophie, 5. 293 Bousset, Sachen, 144. 294 Vgl. Bousset, Sachen, 149; KFR 474. 295 Zur antihegelianischen Stoßrichtung von Boussets Programm vgl. ders., Einleitung, XXII– XXV. 296 Vgl. Bousset, Sachen, 145: „Die Fries-Nelson-Ottoschen Ausführungen gehen ja gerade darauf hinaus, die Beweisbarkeit der apriorischen Elemente der menschlichen Vernunft zu leugnen und überhaupt das rationalistische Vorurteil der Allmacht des Beweises zu beseitigen.“ 297 BPJG 12; vgl. auch ders., Sachen, 151, wo sich Bousset gegen den Vorwurf, die neue FriesSchule ginge „in der Ideenlehre den Weg eines Idealismus, dem es doch letztlich auf Ding-an-sichErkenntnis ankomme“, verwahrt. 298 Vgl. KFR 478f. Deswegen liegt es nach Bousset eben nicht in der Absicht des Neufriesianismus, eine „Vernunftreligion“ zu konstruieren, „die dann in der Weise des alten aufklärerischen Rationalismus, der positiven Religion als besseren Ersatz“ nur mehr gegenüberzustellen sei. Vielmehr soll auf diesem Weg die Bedeutung der Geschichte für die Religion eingeholt werden, vgl. hierzu Kap. 2.2.2.

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sen Ideen zielt laut Bousset bescheidener auf die Vernünftigkeit der Religion als notwendigen Bestandteil der Vernunft, weniger auf deren spekulativen Wahrheitsbeweis.299 Das spekulative Verfahren Hegels einer Ableitung des Endlichen aus dem Unendlichen muss laut Bousset scheitern, da es die unhintergehbare Immanenz des Bewusstseins unbeachtet lässt.300 Der Verstand vermag allein durch eine „doppelte Verneinung der Aufhebung der Schranken unserer Erkenntnis“301 gewahr werden, dass es eine Wirklichkeit des Dinges an sich gibt, die die empirische Wirklichkeit zu einer Erscheinung niederer Ordnung degradiert.302 Über die genaue Beschaffenheit dieser transzendenten Wirklichkeit kann freilich nichts gewusst werden. Der Weg in das „sturmfreie[] Gebiet“303, anhand dessen sich der Fromme – im Ansturm von atheistischen Naturalismus und relativistischen Historismus – der Vernünftigkeit seines religiösen Erlebens vergewissern kann, führt nach Bousset also nicht über den endlich verfassten Verstand, der an die Kategorien gebunden bleibt, hinaus; das Unendliche kann auf diesem Weg somit gar nicht erfasst werden, wie Bousset in antimystischer Stoßrichtung formuliert.304 299 Diese Unterscheidung blieb nicht unwidersprochen. Insbesondere Georg Wobbermin unterzog die „unhaltbare Unterscheidung“ (ders., Geschichte, 68) zwischen ‚Beweisen‘ und ‚Aufweisen‘ einer eingehenden Kritik (ebd. 64–68). Wenngleich Wobbermin das Anliegen Boussets anerkennt, dass der Neufriesianismus eine Alternative zur bloßen Rationalisierung der Religion des ‚alten Rationalismus‘ sein will, hält er sodann die obige Unterscheidung für nicht tragfähig. Dies hängt zuerst damit zusammen, dass durch Boussets Beharren auf der Notwendigkeit der religiösen Ideen als Grundtatsachen der Vernunft letztlich doch ein „rationalistischer Charakter“ in Boussets System einzieht, den er entgegen seiner eigentlichen Intention nicht vermeiden kann. Der rationalistische Charakter führt aber zum einen zur „Vergewaltigung“ der Selbständigkeit der Religion, zum anderen in letzter Konsequenz zu ihrer Aufhebung: „Denn die Religion rationalisieren heißt sie aufzuheben“ (ebd. 64). Dann aber kann die „empirisch-psychologische“ (ebd. 67) Bewusstseinsanalyse – Wobbermin nennt sie auch transzendentalpsychologische Analyse – zwar bestimmte Konstituenten aufweisen, aber ihr fehlt „schlechterdings jeder Notwendigkeitscharakter“ (ebd. 67). 300 Vgl. KFR 482. 301 KFR 480. 302 Die „in Raum und Zeit unter Gesetzen stehende[] Wirklichkeit“ wird als „Erscheinung einer tieferen Wirklichkeit [erfasst], die dem Grunddatum unserer Vernunft, dem Gesetz der Einheit und Notwendigkeit, äquivalent ist“ (KFR 476; vgl. auch RL 32). 303 KFR 429. 304 Die Philosophie Fries’ besitzt ihr Charakteristikum laut Bousset gerade darin, dass sie jeden „Mystizismus“ (Bousset, Sachen, 153) ausgeschlossen wissen will. Dies setzt Boussets Programm wiederum in Distanz zu Troeltsch, wie er in seiner Rezension zu Ottos Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie (vgl. KFR 484f) bemerkt. Troeltschs Frage – wie sie Bousset versteht –, „wie sich von der Grundlage der kritisch-idealistischen Philosophie aus die durchgehende Bewusstseinsimanenz aufheben und überwinden lasse, d. h. wie man sich das Hineinragen göttlichen Lebens in das menschliche Diesseits denkmässig gegenständlich machen könne“, bedeutet für Bousset letztlich ein Zurückfallen „hinter den gesamten kritischen Ertrag der Kantisch-Friesschen Philosophie“, denn die „feine Grenzlinie zwischen Wissen und Glauben“ (ebd. 485) wird so wieder verwischt. Neben diesen erkenntnistheoretischen Bedenken führt Bousset darüber hinaus noch ein religiöses Argument an: Gott wird nicht unmittelbar erfahren – hierfür ruft Bousset 1Kor 13 als „beste[] Tradition“ des Christentums auf –, sondern nur mittelbar in seinen Wirkungen, vermittels



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Mit der produktiven Weiterführung der kantischen Antinomienlehre hat Fries allerdings nach Bousset aufgezeigt, wie die Vernunft eine „doppelte Betrachtungsweise“305 inhäriert. Neben der „empirische[n] Organisation“306 durch die theoretische Vernunft ist der menschlichen „Gesamtvernunft“307 eben auch die „Tendenz auf Einheit und Notwendigkeit in der Erfassung der gesamten Wirklichkeit“308 eingeschrieben. Dieser vorreflexive Wirklichkeitszugang überschreitet sodann die sinnenfällig restringierte Erkenntnisform des Wissens. Jenes irrtumsunfähige Vernunftsvermögen ist darin „unmittelbare Erkenntnis“309, da es sich nur „dunkel“310 bezeugt; es ist eine Erkenntnis „ohne Begriff “311 – und kann daher zunächst nicht bewusst gemacht werden.312 Dieses intuitionistische Moment der Vernunft schließt aber – wie schon gezeigt – die „Erkenntnis von der Einheit und Notwendigkeit im Wesen der Dinge“313 in sich. Mit Georg Pfleiderer wird man also hinter jenem „basale[n] Intuitionsvermögen der Vernunft“ faktisch einen „ontologischen Impetus“314 vermuten dürfen, der allerdings immer noch an das Selbstvertrauen der Vernunft, dass dem unmittelbaren Erkennen auch eine Realität korrespondiere, zurückgebunden bleibt – das kritizistische Anliegen soll also aufrecht erhalten werden.315 Über die Welt des Ding an sich bleibt weiter ein Schleier gelegt, allerdings stellt sich vermittels dieser unmittelbaren Erkenntnis

der Erscheinungen, die aus ihm hervorgehen. Dazu ist Bousset die religiöse Praxis einer mystischen Frömmigkeit mit ihren „Verstiegenheiten […] und seinem aufgeregten Wesen“ (RL 28) hochgradig suspekt, die doch bei näherem Hinsehen nur „pathologisch zu nehmen sind“ (KFR 487). 305 KFR 482; zur Rezeption der kantischen Antinomienlehre durch Fries vgl. ebd. 475; während Kants Haltung gegenüber der Möglichkeit eines Erkennens angesichts der antinomischen Verfasstheit der Vernunft eine „skeptische“ gewesen sei, habe Fries diese vermeintliche Widersprüchlichkeit aufgelöst (vgl. ebd.). 306 KFR 476. 307 BPJG 13. 308 KFR 476; den Aufweis dieses unbewussten Vermögens der Vernunft ist „das wichtigste Geschäft der Philosophie“ (Otto, Religionsphilosophie, 42); darin ist Fries „Kant’s Fortbildner“ geworden, „indem er nur den geheimen Pol deutlicher macht, um den Kant’s denken [sic!] selber ruhelos kreist“ (ebd. 45). 309 Otto, Religionsphilosophie, 6; Otto spricht hier auch vom „Wahrheitsgefühl“ (ebd. 42; zum neufriesianischen Gefühlsbegriff allgemein vgl. Matern, Gefühlsbegriff, 130–132). 310 Otto, Religionsphilosophie, 63. 311 Otto Religionsphilosophie, 94. 312 Zur antithetischen Gegenüberstellung von Reflexion und unmittelbare Erkenntnis als zwei zu unterscheidende Modi des vernünftigen Erkennens vgl. Bousset, Sachen, 152f. 313 Otto, Religionsphilosophie, 61; vgl. KFR 476. 314 Pfleiderer, Theologie, 109 mit Bezug auf Otto, Religionsphilosophie, 50; vgl. ebd. 36: „Jene selbstverständlichen Wahrheiten, die jedes Kind einsieht, jene ersten metaphysischen Gesetze gelten der Vernunft schlechterdings als Gesetze für die objektive Welt selber. Sie sieht in ihnen ein, was wirklich so ist, und könnte diese Ueberzeugung nur aufgeben, wenn sie sich selber aufgeben würde.“ 315 Vgl. Otto, Religionsphilosophie, 60f; zu dieser Ambivalenz in Fries’ System vgl. Korsch, Aufnahme, 300f.

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der „synthetischen Einheit“316 alles Seins – im Verbund mit der Reflexion auf die Schranken des Naturerkennens – die Überzeugung ein, „dass ein solcher Schleier über dem Gegenstand unserer Erkenntnis liegt.“317 Die Grenzen des restringierten Wissens scheinen durch den vernunfttheoretischen ‚Aufweis‘ dieser intuitiven Realitätsgewissheit transzendiert.318 An dieser Stelle kommt sodann der zweite Erkenntnismodus ins Spiel, der den Fries’schen Kritizismus von Kants Transzendentalphilosophie charakteristisch unterscheidet – der Glaube. Mit der vernunfttheoretischen Begründung des Glaubens als eines universalen Vollzugsmoments vernünftiger Subjektivität ist der Gedanke beschrieben, der Fries’ Vernunftkritik so ungeheuer bedeutsam für Bousset und Otto werden ließ.319 Denn nun meinten beide, jenes religiöse Apriori aufgefunden zu haben, das weder Kants Postulatenlehre noch Troeltschs immanenter Rationalismus einzuholen vermochte. Dieses Vernunftsapriori ist im Glauben nun in distinkt voneinander geschiedene Ideen aufgegliedert, in denen sich nun „klar und deutlich und mit Bewußtsein [ausspricht], was in unmittelbarer Erkenntnis dunkel angelegt ist.“320 Dies vollzieht sich – gleichsam als Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein – vernunftsimmanent durch den „‚idealen Schematismus‘“321, indem die apriorischen Kategorien nun unter dem „Grundsatz der Vollendung“322 betrachtet werden und so von ihrer raumzeitlichen Restriktion entschränkt werden. Die „‚eigentlich metaphysischen‘ Kategorien des dritten Momentes, der Relation“323 der kantischen Kategorientafel werden dabei, wie es bei Otto genauer dargestellt ist, von der Vernunft unter dem Grundsatz der Vollendung zu eben jenen religiösen Ideen ausgestaltet. Unwillkürlich stellt sich so „der Gedanke einer letzten Einheit [ein], in der die Vielheit und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen mit einer über unsere Begriffe hinausgehenden wesenhaften Notwendigkeit begründet wird (Gottesidee).“324 Hiermit ist sodann das Verheißungsvolle an der Einholung der Gottesidee über die Fries’sche Ideenlehre beschrieben, das Bousset wie Otto in der antimonistischen Ausrichtung der Fries’schen Ideenlehre erblicken, die den theistischen Gottesgedanken auch gegenüber allem Pantheismus verteidigen zu können scheint.325 316 Otto, Religionsphilosophie, 62. 317 KFR 476; Hervorhebung JH; vgl. auch Otto, Religionsphilosophie, 82: „Positives über das Ansich der ewigen Dinge auszusagen ist uns verschlossen.“ 318 Vgl. Otto, Religionsphilosophie, 50. 319 Vgl. nur KFR 478: „So erbaut sich für Fries über der Welt des reflektierenden Verstandes die ewige Welt der Vernunft mit ihren Ideen, über der Welt des Wissens die Welt des ‚Glaubens‘.“ 320 Otto, Religionsphilosophie, 63. 321 Otto, Religionsphilosophie, 64; vgl. hierzu grundlegend die Darstellung in Gudrun Beyers Dissertation (dies., Streitpunkt, 224–227). 322 Otto, Religionsphilosophie, 63; Otto demonstriert ebd. 63–73 die Schematisierung anhand der für das religiöse Leben fundamentalen Ideen Seele, Freiheit, Gott. 323 Otto, Religionsphilosophie, 65. 324 KFR 478. 325 Nach Otto ist ein pantheistisches Weltbild letztlich ein „unklarer und verschwommener Ausdruck der eigentlichen Grunderkenntnis der Vernunft“ (Religionsphilosophie, 71f), denn die



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Mit Fries’ ‚idealen Schematismus‘ gelingt nach Bousset sodann auch der „Fortschritt über Schleiermacher hinaus“326, dessen Gottesidee laut Bousset stets der „Gefahr des Pantheismus“ unterstand, von dem Bousset und Otto den Gottesgedanken aber befreit wissen wollen. Hier verläuft also eine weitere theologiegeschichtliche Frontstellung des Neufriesianismus, deren Schwächen Bousset durch den erneuten Rückgriff auf Fries überwunden sieht. Indem nämlich nach Bousset Schleiermacher Religion ausschließlich im diffusen Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit verortet, versäumt er „dem Gefühl in den religiösen Ideen die rechte Stütze und die bestimmte Haltung zu geben.“327 Wenngleich Bousset auch, wie unten noch genauer zu zeigen sein wird, Schleiermachers Verortung der Religion im Gefühl und der Ästhetik auch prinzipiell teilt, so erkennt er die Schwachstelle seines Gefühlsbegriffs darin, dass er die für das religiöse Bewusstsein eigentümliche Bestimmtheit durch klar voneinander zu unterscheidende religiöse Überzeugungen – die je für sich an die einzelnen schematisierten religiösen Ideen rückgebunden sind – nicht vernunfttheoretisch plausibel machen kann, sondern nur mehr – gleichsam als Nebenfolge seiner Identitätsphilosophie – über den Umweg über die Geschichte einzuholen vermag.328 Schleiermacher wurde so kaum zufällig zum Wegbereiter und Ahnherr einer „Vermittlungs- und Kompromisstheologie“329, der es im Gegenüber zum Neufriesianismus an der theoretischen Anlage ermangelt, vermittels der vernünftigen religiösen Ideen dem gegenwärtigen religiösen Leben ein normierendes Korrektiv gegenüberzustellen. Die Folge ist die nach Boussets Dafürhalten zu große Nähe zur positiv gegeben, kirchlichen Religion.330 Die Neufriesianer Bousset und Otto bilden daher innerhalb des in sich vielgestaltigen theologischen Bewegung der ‚Scheiermacher-Renaissance‘331 am Anfang des 20. Jahrhunderts eine Nebenlinie, die zwar in vielem an Schleiermachers Programm anschließen will332, an entscheidenden Punkten aber meint, über ihn hinausgehen zu müssen. Die so entworfenen religiösen Ideen, die die Welt des Glaubens konstituieren, sind freilich nach Bousset für das eigentliche religiöse Leben auf den ersten Blick Vernunft fordert die „schlechterdings ‚transzendente‘ überweltlich-wesende Ursache“ (ebd. 72); zu Boussets Hochschätzung der Fries’schen Ideenlehre aufgrund deren Sicherung der theistischen Gottesidee vgl. oben Anm. 257. Zur apologetischen Frontstellung gegenüber monistischen Weltanschauungskonzepten der an Kant anschließenden Religionsphilosophien vgl. Chapman, Apologetics, 470f. 326 BPJG 11. 327 KFR 483. 328 Vgl. BPJG 11: einzelne Persönlichkeiten gestalten bei Schleiermacher gemäß Boussets Darstellung das unbestimmte Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit; eine ähnliche Kritik Schleiermachers findet sich bei Otto, Religionsphilosophie, 117. 329 KFR 483. 330 Vgl. Kap. 2.1.3. 331 Vgl. hierzu Pfleiderer, Theologie, 16f mit Anm. 71. 332 Troeltschs „Parole ‚zurück zu Schleiermacher‘“ muss für Bousset vielmehr durch eine „ganz energische Kritik der Position Schleiermachers“ (KFR 484) ergänzt werden.

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noch wenig von Bedeutung.333 Denn sie sind durch ihren „negativen Charakter[]“334 abstrakt und es mangelt ihnen an Anschaulichkeit. Anschaulich lebendig werden die Ideen allererst durch einen weiteren, eigentümlich friesianischen Erkenntnismodus: das Ahnungsvermögen. Im Rückgriff auf jenen „Mittelpunkt und Höhepunkt“335 der Fries’schen Philosophie zeigt sich ein weiteres Anliegen der neuen Fries-Schule neben dem vernunfttheoretischen Geltungsnachweis der Religion: Die Religion entspringt zwar in der Vernunft selbst; dadurch aber, dass sie ihr Leben in „Tat“ und „Gefühl“336 hat, entzieht sie sich aber stetig einem rationalen Zugriff.337 Die uneinholbare Vorgängigkeit der Religion, die immer schon da ist, ehe sich die Reflexion ihrer zu bemächtigen versucht, soll also gerade nicht durch die Neubelebung des Fries’schen Rationalismus sistiert werden.338 Denn, wie schon gezeigt, wird die Religion in Fries’ System außerhalb des „Gebietes des verstandesgemäßen, wissenschaftlichen Beweises“339 gestellt. Die Welt des Wissens und die Welt des Glaubens scheinen so im Fries’schen Denken unvermittelt auseinanderzufallen. Die saubere Trennung beider Bereiche ist auch durchaus für Bousset wissenschaftstheoretisch von großem Interesse. Umgekehrt gilt allerdings auch, dass die Attraktivität der Fries’schen Philosophie in ihrer Geschlossenheit der Weltanschauung besteht, in der Wissen und Religion durchaus koexistieren können. Die Welt der höchsten Ideen und die Welt des theoretischen Erkennens fallen eben doch nicht auseinander; in der Ahnungslehre werden sie vielmehr produktiv aufeinander bezogen. Für Bousset ist Fries’ Ahnungslehre gleichsam die „Brücke“340, die die Vernunft zwischen der Welt des Wissens und der Welt des Glaubens geschlagen hat. Er beschreibt den Bewusstseinsvorgang der Ahnung folgendermaßen: „In der Ahndung 333 Vgl. nur RL 32: Es eignet „jene[n] religiösen Ideen (Gott, Freiheit, ewiges Leben) […] nicht so leicht zu erreichen [zu sein], ja dass sie ganz und gar ausserhalb und jenseits der Welt des erkennenden Verstandes liegen“ und daher eben nicht „wie mathematisch naturwissenschaftliche Sätze [bewiesen werden können].“ Sie können eben lediglich aufgewiesen werden als ein notwendiger Bestandteil der Vernunft. Zur Funktion der religionsphilosophisch eingeholten religiösen Ideen als Mittel der reflexiven Vergewisserung vgl. Kap. 2.2.5. 334 Weiß, Schule, 731; vgl. auch KFR 478.482. 335 KFR 481. 336 KFR 480; vgl. auch Otto, Religionsphilosophie, 73: „Die in unmittelbarer Erkenntnis der Vernunft gründende Ueberzeugung, die sich in solchen Ideen ausspricht, ist selber durchaus nicht Religion, sondern kalte und formale Metaphysik, während Religion im Gegensatz zu Metaphysik in Gemüt und Willen ihr Leben hat.“ 337 KFR 482: „Die Brücke über die Kluft zwischen dem Ewigen und dem Endlichen vermag nur die Ahndung zu schlagen in nicht mehr auf Begriffe zu bringenden und auseinander zu wickelnden Gefühlen. In der Ahnung beziehen wir das Ewige auf das Endliche, sehen im Endlichen gebrochene Strahlen des Ewigen. Der zutappenden, zugreifenden Erkenntnis zerrinnt der Inhalt dieser Ahnungen notwendig wieder und wieder unter den Händen, im Gefühl aber wahren wir sie sicher und halten sie lebendig.“ Zu dieser Charakteristik vgl. schon Weiß, Schule, 731f. 338 Vgl. BPJG 12. 339 BPJG 12. 340 Bousset, Einleitung, XXVII.



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und im Gefühl beziehen wir diese endliche Welt auf die ewige, sehen durch die Hülle ihrer Erscheinungen jene höhere Welt hindurchleuchten und umkleiden so die Ideen ewiger Wahrheit mit konkreter Wirklichkeit, so daß sie uns im Bilde faßbar und greifbar werden.“341 Die aus dem idealen Schematismus hervorgegangen abstrakten religiösen Ideen zeigen sich allererst, indem sie sich in nicht weiter begrifflich auflösbare Gefühlen artikulieren.342 Psychologisch lassen sich jene ganz eigenartigen Gefühle auch leicht von nichtreligiösen Gefühlen unterscheiden, denn jene können begrifflich eingeholt werden. Das ahnende, religiöse Gefühl ist damit ein ästhetisches Urteil, denn diese entziehen sich einer begrifflichen Einholung.343 Fries nimmt laut Bousset und Otto hier in produktiver Weiterführung Kants „tiefste[] und schönste[] Erkenntnisse“344 aus dessen Kritik der Urteilskraft auf. Bousset rückt also – stärker noch als in seinen früheren Schriften – Religion und Ästhetik zusammen und verleiht der Religion damit die Struktur der Deutung.345 In diesem Deutungsakt wird nun das Unendliche, das Reich der Ideen, im Endlichen auf freilich nicht genauer artikulierbare Weise geahnt, indem eine Idee im Subjekt, da sie sich „immer schon ‚schematisiert‘ hat, sich mit den großen ‚praktischen‘ Inhalten [sc. des Geistes] [belebt]“346, die so ein Analogon zum ewigen Gehalt bilden. Dies ist das religiöse Erlebnis in nuce – Erleben des Unendlichen im Endlichen. Das Ahnungsvermögen vollzieht sich vor allem in den begrifflich nicht weiter aufschlüsselbaren Gefühlen des Schönen und Erhabenen. Jene Gefühle entzünden sich wiederum an „konkreten Einzelgegenständen“347 der empirischen Welt, deren alleiniges Strukturmerkmal die „Form der Einheit“348 ist, prinzipiell sind sie jedoch an allen erfahrbaren 341 Bousset, Einleitung, XXVII. 342 Bousset scheint zwischen religiösen Gefühlen und dem Ahnungsvermögen nicht weiter zu differenzieren. Vgl. nur RL 33„Wir müssen irgendwie imstande sein, jene Welt des Ewigen im Endlichen lebendig und gegenwärtig zu greifen und zu fassen. Das aber tun wir mit der religiösen Phantasie, die im Gefühl und in den Ahnungen des frommen Lebens in uns lebendig wird. Die religiöse Phantasie lebt aber vom Bilde und vom Gleichnis.“ Zur genauen Unterscheidung bei Otto vgl. Matern, Gefühlsbegriff, 133–138. 343 Vgl. Otto, Religionsphilosophie, 112f. 344 KFR 481; hierzu vgl. Beyer, Streitfall, 230–236. 345 Vgl. BPJG 14. Zu Religion und Ästhetik vgl. Barth, Theoriedimension, 40–50. Gegenüber dem Vorwurf, Fries „ästhetisiere“ die Religion, verwahren sich die Neufriesianer, vielmehr muss gelten, dass Fries die Ästhetik „religionisiere“ (Otto, Religionsphilosophie, 113), denn sie bildet die Tiefendimension einer sich recht verstehenden Ästhetik. 346 Otto, Religionsphilosophie, 75; vgl. ebd. 115. Für Otto kommt der Vorgang der Ahnung letztlich mit der platonischen Amnamnis zur Deckung (vgl. ebd. 114f: „Durch eine zufällige oder auch innerlich begründete Aehnlichkeit oder Analogie eines Dinges oder Vorganges zu einer Idee wird an diese ‚erinnert‘, wird diese […] wachgerufen und damit zugleich die Gemütsregung, die ihr entspricht“). 347 Otto, Religionsphilosophie, 112. 348 Otto, Religionsphilosophie, 118; vgl. auch BPJG 14: „Einheit und Abgeschlossenheit“ zeichnen die Erscheinungen aus, die unter dem idealen Transzendentalismus die Welt des Ewigen ahnen lassen.

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Erscheinungen möglich. Bousset liefert konkrete Beispiele wie die Schönheit einer Blüte oder das erhabene Tosen des Meeres, anhand denen Gehalte jener religiösen Erlebnisse wie der Freiheit bzw. absoluten Allmacht sich besonders nachhaltig einstellen.349 Ist das Ahnungsvermögen somit einmal die Verbindung der beiden Welten des Wissens und des Glaubens, so kommt ihr sodann noch die Funktion der Reformulierung einer objektiven Teleologie zu. Scheidet nämlich aufgrund der Ablehnung einer ‚logizistischen‘ Ableitung des Endlichen aus dem Unendlichen, wie oben dargestellt, eine erkenntnismäßige Einsicht in die Teleologie der Welt aus, so vermag Fries’ Lehre von der Ahnung laut Bousset gerade die Sinndimension der Gesamtwirklichkeit auch gegenüber einer teleologielosen Natur- und Geschichtswissenschaft festzuhalten. Boussets programmatischer Antihegelianismus wendet sich mit Fries gegen alle Versuche, „wissenschaftlich die Güte und Weisheit der Vorsehung in der Natur nachzuweisen“ oder „durch die Behauptung von Evolutionen und stufenmäßiger Entwicklung“350 den Weg der Geschichte vorauszuwissen. Mit Fries’ System lässt sich nach Bousset also weder eine Natur- noch eine Geschichtsphilosophie konstruieren. Sinn und Zweck lassen sich nicht begrifflich einholen, denn die Wirklichkeit, auf die sich die Religion bezieht, bleibt dem Verstand verborgen, sie deutet sich im Gefühl nur „auf unaussprechliche Weise“351 an. Gerade für die vom auf Dauer gestellten Sinnverlust bedrohte Moderne mit ihren zahlreichen Versuchen der Wiedergewinnung eines Sinns stellt Fries’ ästhetische Reformulierung der Teleologie des persönlichen und des überindividuellen Lebens nach Bousset eine ungemeine Chance dar, Sinn wiedergewinnen zu können. Mit dem Rekurs auf den Gefühlsbegriff verbindet sich über die Wiedergewinnung einer intuitiven Teleologie sodann der Anspruch einer unmittelbaren Wahrheitserkenntnis.352 Wenngleich Bousset sich diesbezüglich jeglichen Vorwurf hinsichtlich eines einfachen Realismus, wie oben gezeigt, unter dem Hinweis auf das unhintergehbare Selbstvertrauen der Vernunft entschlägt, so ist für ihn ebenso unstrittig, dass im religiösen Gefühl gleichursprünglich die „unmittelbare 349 Vgl. BPJG 14. Gegenüber bestimmten Natursymboliken teilen sich die religiösen Ideen eindrücklicher über Symbole aus dem Leben des Geistes – im Zentrum steht hier die Persönlichkeit. Wie noch weiter unten gezeigt werden soll, ist diese graduelle Zuordnung des Schönen und Erhabenen Bousset ein Ordnungsprinzip für die Wertabstufung innerhalb der Religionsgeschichte. Vgl. KFR 477: „[...] wir erleben in der Einheit unseres persönlichen Wesens etwas über die Zeit Erhabenes. Wenn wir uns auch allerdings ohne zeitliche Betrachtung keine konkrete Vorstellung davon machen können.“ 350 Bousset, Einleitung, XXIIf. 351 Otto, Religionsphilosophie, 105. 352 Vgl. Matern, Gefühlsbegriff, 133: „Die Pointe der Inanspruchnahme des Ahnungsvermögens für die Religionstheorie Ottos liegt darin, die in Verbindung mit dem Gefühlsbegriff formulierte intentionale Struktur als ein Entsprechungsverhältnis von Intention und intentionalem Gehalt auszuweisen – d. h., sicherzustellen, dass die im Gefühl appräsentierten nicht-begrifflichen Gehalte, obschon sie nicht rational-erkenntnisförmig sind, dennoch als wahrheitsfähig ausweisbar seien.“



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Gewissheit“353 seiner Wahrheit beschlossen liegt. Angesichts des Scheiterns des Historismus354 hinsichtlich der Geltungs- und Wahrheitsfrage bietet ihm der vernunfttheoretische Aufweis der Tiefendimension der Vernunft den Schlüssel zu jener ‚sturmfreien‘ Welt, die die sinnenfällige Wirklichkeit zur bloßen Erscheinung herabsetzt. Das Ahnungsvermögen ist damit in der Tat für die Neufriesianer eine „Steigerungsform des Wissens“355, denn gegenüber der irrtumfähigen theoretischen Vernunft ist das in der Ahnung sich vollziehende Erlebnis von der unmittelbaren Gewissheit getragen, dass „wirklich wahr ist, was wir glauben“356.

2.1.7 Zusammenfassung Boussets Rückgriff auf Fries’ Erkenntnistheorie in der Trias Wissen, Glaube und Ahnung ist, wie gezeigt werden konnte, von vielfältigen Anliegen geleitet. Neben der wahrheitstheoretischen Funktion des Gefühlsbegriffs und dem engen Zusammenrücken von Religion und Ästhetik ist für Boussets Religionstheorie die transzendental-philosophische Einholung der Geltungsfrage von kaum zu überschätzender Bedeutung. Denn der nach Bousset erfolgreiche Nachweis der Vernunftsnotwendigkeit der Religion, den Fries erbrachte, wies eben jene als ein Grundvermögen es Menschen aus, ohne das er sich selbst nicht verstehen kann. Insgesamt lässt sich Boussets Werben für den Neufriesianismus so in das apologetische Unternehmen einer vernunfttheoretischen Plausibilisierung der Religion angesichts der – insbesondere unter den Gebildeten – allgemeinen Hinwendung zu naturalistischen Weltanschauungen einzeichnen, wie es für einen bedeutenden Flügel der protestantischen Theologie am Anfang des 20. Jahrhunderts insgesamt kennzeichnend gewesen ist.357 Anders als die Ritschlsche Schule mit ihrem Supranaturalismus, die Religion und Wissenschaft in zwei unvermittelbare Bereiche auseinanderfallen lässt, erhofft sich Bousset mit seinem Eintreten für den Neufriesianismus eine Aussöhnung von Wissenschaft und Religion zu erreichen, indem beiden ihre gleichberechtigten Kompetenzbereiche zugewiesen werden. Supranaturalismus der Offenbarungsreligion und Immanenzdenken der Wissenschaft muss der Fromme in ihrer Spannung nicht mehr vermitteln. Beide sind die Lebens353 KFR 478. 354 Vgl. KFR 431. 355 Matern, Gefühlsbegriff, 134. 356 Otto, Religionsphilosophie, 81. 357 „Es gibt keine mächtigere Waffe gegen die Meinung des Naturalismus, daß man mit den Mitteln der Wissenschaft der gesamten Wirklichkeit Herr werden könne, und daß nichts existiere, als was diese beglaubigte habe – als diese Sätze der friesschen Philosophie, welche der Naturwissenschaft in ihrer Eigenart und ihrem vollen Recht stehen läßt und sie schließlich vor den letzten Aufgaben zusammenfassender Weltanschauung zur Resignation und zur Abdankung zwingt“ (Bousset, Einleitung, XXV). Zur Frontstellung der zeitgenössischen protestantischen Religionsphilosophie vgl. Chapman, Apologetics, 470–472.

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formen zu je einer Erkenntnisweise der einen Vernunft, die im Erkenntnismodus des Wissens die Immanenz niemals durchbrechen kann. Der Neufriesianismus bietet daher eine Einheitsweltanschauung, die nach Bousset gerade in der hinsichtlich ihrer Deutungshoheit scharf umkämpften Moderne neue Kräfte generieren kann, die dem Chaos wieder eine Struktur geben können. Troeltschs Modell einer „wachsenden Gesamterkenntnis“358 lehnt Bousset hinsichtlich der Geltungsfrage entschieden ab, wenngleich beide auch mit ihrem Rückgang auf den deutschen Idealismus wesentlich Gemeinsamkeiten besitzen. Bousset meint nun mit Fries’ Erkenntnistheorie einen Weg gefunden zu haben, der jenseits von Historismus und Supranaturalismus verläuft und doch nicht dieselben Schwächen inhäriert wie der ältere Rationalismus der Aufklärung. Denn, so Bousset, die Feststellung der Geltung der Religion als notwendiger Bestandteil der Vernunft rührt an der Tiefendimension der Vernunft, sodass der Geschichte – so Boussets Anspruch – noch eine ausgesprochen hohe Bedeutung zukommt. Wirklich fruchtbar wird der Neufriesianismus für die Theologie allerdings vor allem durch die Bereitstellung von festen Normen in den religiösen Ideen359, die es vor allem ermöglicht, die Geschichte wieder einzuhegen, wie Kap. 2.2 noch zeigen wird. Mit den religiösen Ideen hält nun die Religionsphilosophie ein kritisches Korrektiv für das religiöse Leben in den Händen, das in der Folge sowohl jenes von der übertriebenen Ehrfurcht vor der Überlieferung befreit, als auch gegenwärtige neureligiöse Bewegungen nicht kritiklos gegenübersteht.

2.2. Glaube und Geschichte Als entschlossener Anhänger der Anwendung der historischen Methode in der Theologie war Bousset schon frühzeitig mit dem Problem ‚Glaube und Geschichte‘ bzw. mit dessen Variante ‚Religion und Geschichte‘ konfrontiert. Im Bewusstsein über die eng gesteckten Grenzen der wesensmäßig relativ bleibenden historischen Methode hinsichtlich der Erfassung und der Förderung religiöser Sinnwelten billigte er schon 1892 der historischen Rekonstruktion nur eine mehr sekundäre Funktion für den Glauben als „Rechenschaft“ bzw. als „notwendige Unterlage“360 für den schon geweckten Glauben zu. Dennoch meinte Bousset in seiner frühen Phase durch sein Programm einer „Vergöttlichung der gesamten Religionsgeschichte“361 den Folgeproblemen noch entgehen zu können, indem er im Durchgang durch die Religionsgeschichte versuchte, die Höchstgeltung der letztlich auf die Person Jesu von Nazareth als Anfangspunkt und Prinzip zurückgehenden

358 KFR 433. 359 Vgl. KFR 480. 360 JPGJ 8 Anm. 1. 361 Murrmann-Kahl, Heilsgeschichte, 418.



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christlichen Religion zu erweisen.362 Spätestens ab 1907 änderte sich jedoch sein Zutrauen in die Möglichkeit einer gewissmachenden Rechenschaft auf Grundlage einer historischen Rekonstruktion der Anfänge des Christentums und damit seine Bestimmung des Verhältnisses von Glaube und Geschichte in erheblicher Weise.363 Der Fragenkomplex, der seit dem Aufkommen der historischen Kritik und dann verstärkt seit Beginn der 1910er Jahre einen bedeutenden Teil der gesamten evangelischen Theologie unter der Chiffre ‚Glaube und Geschichte‘ in den Bann zog, war ihm im Wesentlichen durch zwei Faktoren zum Problem geworden.364 Zum einen war es die Einsicht in die Abgründigkeit des historischen Bewusstseins, die Bousset die Unmöglichkeit der Generierung von Geltungsansprüchen auf Grundlage der historischen Methode vor Augen führte.365 Bousset rekurriert hier auf das paradigmatische Auseinandertreten von historisch-genetischer Beschreibung und normativem Gestaltungsinteresse. Der historische Zugang zur Erscheinungswelt der Religion hat nämlich zunächst die Folge, dass die geschichtlichen Religionen zu höchst relativen Erscheinungen werden, was freilich in eine Spannung mit der je eigenen religiösen Überzeugung treten muss. Zum anderen war es die von Arthur Drews 1909 veröffentlichte Schrift Die Christusmythe, die eine ungeahnt populäre Breitenwirkung entfaltete, und so auch Bousset zwang, sich zu dieser Schrift zu verhalten.366 Ihre Anliegen sollen daher 362 Vgl. Kap. 2.1.5. 363 Vgl. MuR 18 Anm. 1. Mit der zunehmenden Skepsis gegenüber einem historisch aufhellbaren Bild von der Person Jesu nimmt Bousset gleichzeitig von der Idee eines „religionswissenschaftlichen Beweis[es]“ der Höchstgeltung des Christentums Abstand. Diese Selbstkritik spitzt sich ferner darin zu, dass Bousset die Notwendigkeit eines wissenschaftlich verantworteten Beweises in MuR in Abrede stellt (vgl. ebd. 20 und Kap. 4.1). Wie noch zu zeigen sein wird (dazu s. u. Kap. 2.2.5), lässt Bousset auch der einfachen Frömmigkeit ihre ‚naive Absolutheit‘; nur demjenigen, den es nach ‚intellektueller Gewissheit‘ verlangt, will er mit seiner neufriesianischen Religionsphilosophie einen Anhalt für die Vernunft der Religion liefern (vgl. Kap. 2.2.5). 364 Zur Einordnung des von diesem Fragekomplex und anderen spezifisch neuzeitlichen Problemkonstellationen bewegten Adressatenkreises vgl. Troeltsch, Weltanschauung, 324f: „Freilich ist der Kreis, der sich für solche Probleme interessiert, vielleicht nicht allzu groß. Den Männern kirchlicher Macht und Ordnung, den politisch interessierten Benützern kirchlicher Ordnungsmächte, den massiv und leidenschaftlich Gläubigen und den routinierten Gewohnheitsmenschen sind sie gleichgültig. Sie berühren nur unsere religiös suchende Bildungsschicht und insbesondere die Theologen, die durch Gymnasium und Universität in diese Probleme hineingestoßen werden.“ 365 Vgl. hierzu nur RL 22–24. 366 Vgl. Schweitzer, Geschichte, 502 (auch Bousset erkennt die Popularität von Drews’ Thesen an, die „in weite Kreise hinausgetragen“ wurden und diese „in lebhafte Unruhe und Bewegung versetzt hat“ [BPJG 3]). Zwar hatte Drews auch seine Vorläufer wie Bruno Bauer oder Kalthoff, dennoch ist erst ihm eine gewisse Breitenwirkung beschieden gewesen. Bezogen auf die protestantische Theologie und polemisch gegen Drews gewendet fährt Schweitzer fort: „Seit mehreren Jahren bereitet diese Erkenntnis [sc. des religionsphilosophischen Problems ‚Glaube und Geschichte‘] sich vor. Eine ernste Diskussion war im Begriff in Gang zu kommen. Drews hat das Verdienst, sie hyperaktuell gemacht und als Volksaufführung inszeniert zu haben [...]“ (ebd. 507); zu Drews allgemein vgl. ebd. 506–508; dort auch eine explizite Würdigung Drews’ als „wirklich ein[em] Denker, der dem Problem der Historisierung der Religion nachgeht“ (ebd. 506). Auch Bousset

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nachfolgend kurz skizziert werden. Drews leugnet darin die Historizität der Person Jesu von Nazareth bzw. postuliert deren Bedeutungslosigkeit für die „wesentlichen Grundgedanken“367 christlicher Religion und verknüpft diese mit dem Vorwurf368, dass die Theologen dem Problem durch Sistierung des historischen Bewusstseins vermittels unhaltbarer ‚historisierender‘ Absolutheitskonstruktionen entgehen wollten. Drews hingegen meinte, an der „christlichen Erlösungslehre“ festhalten zu können „[...] unabhängig von der Annahme eines historischen Jesus“369. Zum einen will er so die Strömung eines liberalen Protestantismus überwinden – der er auch Bousset zuordnet370 –, die „mit der Leugnung der historischen Persönlichkeit Jesu ins Herz getroffen [wäre]“371, weil dessen Signum eben gerade in der „Vergeschichtlichung des Erlösungsprinzips“372 bestehe. Sein theologisches Anliegen ist es nun, im Interesse einer „monistischen Religion“373 die „zufälligen Verhältnisse“374 der Anfänge der christlichen Religion abzustreifen und eine „metaphysische Erlösungslehre in einer dem heutigen Bewußtsein entsprechenden Weise näher durchzubilden.“375 Durch seinen Vorstoß nötigte Drews laut Albert Schweitzer nun tatsächlich die evangelische Theologie, ihre durch den Rückzug auf die Geschichte bedingte, vermeintliche „Bedürfnislosigkeit“ aufzugeben, durch die sie, so Schweitzers Kritik, „den Zusammenhang mit der allgemeinen Weltanschauung ihrer Zeit verloren hatte und bei allem edlen und lauteren Wollen die, auf die sie zu wirken suchte, nicht mehr verstand und von ihnen nicht mehr verstanden wurde.“376 Schweitzers Krisendiagnose setzt den Fokus also auf das die ‚freisinnige‘ liberale Theologie kennzeichnende Übermaß an Geschichtsbezogenheit, das sodann zuerst „in einem armen Begriff der Religion“377 mündet und ferner wissenschaftstheoretisch

erkennt in der „Utopie [...] der radikalen Bestreitung der Geschichtlichkeit Jesu von Nazareth“ von einigen holländischen Gelehrten, dem Bremer Pastor Kalthoff und dann Drews selbst, die „äußerliche[] Veranlassung“, die „prinzipielle Frage über Religion und Geschichte in lebendigen Fluss [gebracht zu haben]“ (RuG 7; Hervorhebung JH). 367 Drews, Christusmythe, 233. 368 Vgl. Schweitzer, Geschichte, 502, wo Schweitzer die übliche Theologenschelte jener auf „billige Sensation“ abstellenden Populärschriften aufführt. Dort auch der Verweis auf den von Ernst Haeckel initiierten Monistenbund, der der Herausgeber eines einschlägigen Sammelbandes zum Thema gewesen ist (vgl. ebd. 503 Anm. 2). 369 Drews, Christusmythe, 230, vgl. ferner ebd. XIII: „Diese Schrift [sc. Die Christusmythe] sucht den Nachweis zu erbringen, daß so ziemlich alle Züge des historischen Jesusbildes, wenigstens alle wichtigen, religiös bedeutsamen, einen rein mythischen Charakter tragen.“ 370 Drews, Christusmythe, 231. 371 Drews, Christusmythe, 233. 372 Drews, Christusmythe, 231. 373 Drews, Christusmythe, 238; vgl. ferner ebd. XIII. 374 Drews, Christusmythe, 233. 375 Drews, Christusmythe, 234. 376 Schweitzer, Geschichte, 506; dies entspricht Boussets Rekonstruktion der Debatte um das Problem ‚Glaube und Geschichte‘. 377 Schweitzer, Geschichte, 506.



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durch den alleinigen Rekurs auf die Geschichte in einen in sich abgeschlossenen paradigmatischen Antirationalismus umschlägt.378 Auch Bousset erkennt im Antirationalismus ein entscheidendes Merkmal jener höchst bedeutsamen Strömung der zeitgenössischen protestantischen Theologie – der Ritschlschen Schule und deren Umkreis –, das zugleich deren ausdrückliche Schwäche markiert. Gilt noch für die „sog. positive (orthodoxe) Theologie“, dass sie zwar unter dem Beweis der Nichtexistenz Jesu zusammenbrechen würde – beruht sie doch rein auf der „Realität des Gottmenschen und des Erlösers“ bzw. den „Daten des Todes und der Auferstehung“379 –, jedoch ist sie gegenüber der Fragestellung hinsichtlich einer genaueren Erfassung der Person Jesu prinzipiell immun: „[...] wie wenig oder wie viel wir von dem Leben des historischen Jesus wissen“380, ist für sie letztlich ohne Belang. Doch genau diese Fragestellung und der damit verknüpfte „gegenwärtige[] Gang historischer Forschung“381, die den historischen Jesus hinter der ‚Gemeindedogmatik der urchristlichen Gemeinden zu verlieren droht, trifft hingegen mit immenser Wucht die Ritschlsche Schule. Diese Entwicklung ist für Bousset von zusätzlicher Brisanz, da die Ritschlsche Schule als „weithin herrschende Form der liberalen, modernen Theologie“382 gleichzeitig in der öffentlichen Wahrnehmung den „eigentlichen Hauptstrom der deutschen Theologie“383 bildet. Boussets Beitrag zur Debatte ist also offenkundig von dem Gefühl getragen, dass die in der Öffentlichkeit hauptsächlich wahrgenommene Richtung der evangelischen Theologie gegenüber den Agitationen der Akteure im Umkreis des Monis-

378 Zum antirationalistischen Impetus der protestantischen Theologie im Gefolge Ritschls, wie ihn Schweitzer wahrnimmt, vgl. ders., Geschichte, 509ff: „Von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an war fort und fort mit Rationalismus und Intellektualismus aufgeräumt worden. Seit dem Untergang der großen deutschen spekulativen Philosophie hatte die freisinnige Religiosität in gesteigertem Maße den Zusammenhang mit dem allgemeinen Denken verloren und schritt in der Folge dazu fort, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie fand es vorteilhaft, die Berührungsund damit auch die Reibungsflächen mit der Philosophie zu verringern und sich in die vorgebliche besondere Provinz der Religion zurückzuziehen, um dort des äußeren und des inneren Friedens teilhaftig zu werden. […] Über die elementarsten Grundfragen religiösen Denkens schwieg sie sich aus.“ Zu Schweitzers höchst kritischen Deutung Ritschls, der von Schweitzer zum Ahnherr dieser Strömung innerhalb der protestantischen Theologie gemacht wurde, vgl. ferner ebd. 114; ebd. 115 findet sich auch sein emphatischer Appell, die „freisinnige“ Theologie müsse nun endlich „die schwächliche Scheu vor Rationalismus und Intellektualismus überwinden […], historisch forschen und denken, aber nicht in der Geschichte steckenbleiben, die Religion auf dem Geist gründen und dies dann von der Überlieferung ergreifen lassen.“ 379 BPJG 4. 380 BPJG 4. 381 BPJG 5. 382 BPJG 4. 383 RuG 3. Seine Ahnherren besitzt diese Strömung laut Bousset im „Schleiermacher der Glaubenslehre“ (ebd.) und eben in Albrecht Ritschl; freilich mit dem Unterschied, dass jene Strömung den „Immanenzstandpunkt jenes großen Theologen [sc. Schleiermachers] mehr oder minder entschieden, [...] zugunsten einer supranaturalen Auffassung verlassen hat.“

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tenbundes384 weder nach innen noch nach außen mehr handlungsfähig ist, da ihr programmatischer Antirationalismus an den Anfragen, die sich nun der Theologie stellten, vorbeiging. Da Bousset selbst Schüler Ritschls gewesen ist385, sodann sein frühes theologisches Programm weithin – zumindest in der Außenperspektive – dem näheren Umfeld jener Schule zugeordnet werden kann, ist es für die Rekonstruktion seiner Theologie aufschlussreich, die Selbstunterscheidungen, die Bousset zum Zweck der eigenen Positionierung einführt, näher zu beschreiben. In seinem Berliner Vortrag anlässlich des ‚Fünften Weltkongresses für freies Christentum und religiösen Fortschritt‘386 im Jahr 1910 markiert Bousset das ‚liberale‘ Anliegen an einer „‚historischen‘ Fundamentierung der Religion“387 als übergreifendes Interesse jener Strömung moderner protestantischer Theologie, das auch im ausdrücklichen Gegensatz zur „einseitigen Rationalisierung“388 der Aufklärungszeit seine Kontur gewinnt. Und hierin erblickt Bousset eine Folge der „allgemeinen Geistesentwicklung des 19. Jahrhunderts“, das sich eben insgesamt als „Zeitalter der Historie“389 charakterisieren lasse:

Man sucht und findet im Historischen die fundamentale Grundlage, wie für alle höheren geistigen Anliegen der Menschheit, so für die Religion. [...] Geschichte solle als das Fundament religiösen Lebens gelten.390

Die konstitutive Bedeutungszuschreibung der Geschichte für den menschlichen Geist, die nach Bousset für jene Schulrichtung stilbildend wurde, ist damit hinlänglich beschrieben. Die Historisierung der gesamten Lebenswelt zieht sich laut Bousset in jener eigentümlich ‚modernen Denkweise‘ durch alle Lebensbereiche wie „Rechts- und Staatswissenschaft, die Nationalökonomie, die allgemeine Religionsgeschichte“, die ihren Ausdruck vor allem in der Ablehnung des Naturrechts bzw. in der Vermeidung „jeder Rechtsphilosophie“391 findet. Gegen die damit gegebene „Herrschaft der Skepsis, des Relativismus, des Agnostizismus [...]“ und dem „Zusammenbruch beherrschender Weltanschauungssysteme“392 versuchte sich die ‚liberale‘ Theologie in Boussets Urteil weitestgehend zu immunisieren, indem sie sich 384 Dazu s. o. Anm. 368. 385 Vgl. nur den Brief an Paul Wernle vom 30.12.1910 (Özen 183): „Ich bin Schüler Ritschls gewesen.“ 386 Zum Kontext des Kongresses vgl. Hübinger, Kulturprotestantismus, 251–262. 387 RuG 3. 388 RuG 3. 389 BPJG 6; zur Charakterisierung des 19. Jahrhunderts als Zeitalter der Historie und eines neuen Konfessionalismus vgl. Troeltsch, Grundlagen, 545–556, dem Bousset wesentliche Einsichten entnimmt (vgl. WdR 286). 390 BPJG 5. 391 BPJG 5. Die Anklänge an Troeltschs Gegenwartsdiagnosen, die Bousset in seiner Wesensschrift (vgl. WdR 285f) sich ausdrücklich aneignet, sind hier offenkundig. 392 BPJG 5; vgl. auch RuG 3, wo Bousset moniert: „Der Mut zum System ist vielfach zusammengebrochen, ein historisierendes, eklektisches Verfahren an die Stelle getreten. Kein Wunder,



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„[...] eigentlich nur für ein[en] einzige[n] Punkt interessiert, nämlich die eine historische Erscheinung der Person Jesu und ihrer Geltung und Bedeutung für den Glauben.“393 Bousset erkennt hier offenkundig einen Rückfall hinter die eigene Prämisse, in der gesamten Geschichte die beständige Möglichkeit eines schöpferischen Neuanfangs zu postulieren. Und so sieht Bousset bestimmte „künstliche Scheidewände“394 in die Religionsgeschichte eingezogen, die zwar durch den Gedanken einer „geschichtlichen Offenbarung in der Person Jesu von Nazareth“395 abgesichert sein sollen, aber nun s. E. genau gegenläufig die eigentliche Idee geschichtlicher Offenbarung wieder unterlaufen, indem jenes supranaturale Offenbarungshandeln Gottes nur auf eine bestimmte Religion eingeengt wird und andere Religionen zur Illusion herabgesetzt würden. Das Programm einer allgemeinen Religionsgeschichte, dem sich ja auch Bousset immer noch zugehörig empfindet, wird dementsprechend von dieser liberalen Schulrichtung abgelehnt, wie es prominent in Harnacks Rektoratsrede ausgeführt wurde.396 Das „vermeintliche Interesse an der Geschichte“ ist für Bousset letztlich nur ein „Sprungbrett, um ein anderes Ziel zu erreichen“397, das in der absolutheitstheoretischen Exemtion der Person Jesu aus den Relativitäten der Geschichte liegt. Verbunden mit dieser offenbarungstheologischen Absolutheitskonstruktion ist gemäß der Darstellung Boussets ferner eine entschlossen supranaturale Weltanschauung, die, wie gezeigt, stets mit „neuen Anfängen“ im Sinne eines göttlichen Offenbarungshandelns rechnet und so auch die „Religion des Alten und Neuen Testaments und speziell das in und mit der Person gegebene Evangelium“ als eine „auf göttlicher Offenbarung beruhende Neuschöpfung“398 qualifiziert. Dass freilich für Bousset der wissenschaftlich geltende Geschichtsbegriff damit ausgehöhlt ist – da er jene Wertunterschiede nicht kennen darf –, ergibt sich von selbst: „Was man dass auch die Theologie in diese Strömung [sc. die Historisierung der Wissenschaften] hineingerissen wurde.“ 393 RuG 4. Dass Bousset ungeachtet dieses in seiner Pauschalisierung problematischen Allgemeinbegriffs von ‚der‘ Ritschlschen Schule hiermit eine selbst in den eigenen Reihen gebräuchliche Charakterisierung getroffen hat, zeigt u. a. ein Aufsatz von Max Reischle (vgl. ders., Streit, 171–177). Zur Debatte in der Ritschlschen Schule vgl. Slenczka, Geschichtlichkeit, 263–268. Zu den „schulbildenden Momente[n]“ der Ritschlschen Schule vgl. Weinhardt, Stellung, 32–37. Weinhardt kommt in seiner Analyse zu einer nahezu deckungsgleichen Bestimmung der Charakteristika der Ritschlschen Schule, die in der „Konzentration auf die Tatsache der Offenbarung“ gegenüber der an Schleiermacher anschließenden ‚Bewusstseinstheologien‘, der „Zurückdrängung des spekulativen Zugangs zum Gegenstand der Theologie zugunsten des geschichtlichen“ (ebd. 34) mit stetiger Orientierung an der geschichtlich erkennbaren Person Jesu“ (Kattenbusch, Selbstdarstellung, 16f; zitiert bei Weinhardt, ebd. 35) zu stehen kommen. 394 RuG 4. 395 RuG 4. 396 Eine Anspielung findet sich in RuG 6; Harnack spricht in seiner Rektoratsrede pointiert von der christlichen Religion als der Religion selbst und erweist sich darin als ein Anhänger der Ritschlschen Schule (vgl. Harnack, Aufgabe, 6; hierzu vgl. Gemeinhardt, Patristik, 78–84). 397 RuG 5. 398 BPJG 5; Hervorhebung JH.

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hier also als geschichtliche Fundamentierung des christlichen Glaubens bezeichnet, das ist im Grunde das Gegenteil von Geschichte im strengen Sinn des Wortes.“399 Die Einführung eines supranaturalen Faktors in die Geschichte lässt jene Schulrichtung unter das Troeltsch-Verdikt einer ‚dogmatischen Methode‘ fallen. Die „[...] Zerreissung des einheitlichen Gewebes, als welches der Historiker Geschichte verstehen und fassen muss“400, lässt nur noch die Aufteilung in eine Heils- und eine Unheilsgeschichte übrig. Mit dieser Konstruktion der Urgeschichte der christlichen Religion fällt zusammen, dass jene Theologie „sich besonders spröde“ zur Idee einer „Fortentwicklung der Offenbarung“401 verhält, die gerade für Boussets Christentumsverständnis schlechthin grundlegend ist.402 Die Anfänge werden demnach in einer Weise normierend in Anschlag gebracht, dass die Leistung der Christentumsgeschichte für das christliche Selbstverständnis nicht mehr angemessen gewürdigt werden kann. Mit dem Antirationalismus und dem supranaturalen Geschichtsverständnis hat nun Bousset zwei Anliegen markiert, die er als wesentliche Hemmnisse aufseiten der Theologie erkennt, um der ‚nervösen‘ gegenwärtigen religiösen Lage neue Impulse geben zu können und gesprächsfähig zu bleiben. Als weiteres Charakteristikum jener antirationalistischen Theologie arbeitet Bousset das theologische Interesse heraus, sich der eigenen Unabhängigkeit von der historisch-kritisch operierenden Geschichtswissenschaft zu versichern. In seinen Vorträgen ist es Bousset nun zuerst darum zu tun, jenes nach seinem Dafürhalten völlig legitime und richtige Postulat einer Unabhängigkeit von der Geschichtsforschung403 auf seine inneren Aporien im Rahmen jener ‚historischen Fundamentierung der Religion‘, die laut Bousset für die Ritschlsche Schule repräsentativ sei, freizulegen.404 Denn die Unabhängigkeit von der Geschichtswissenschaft bleibt letztlich eine postulierte, die sich aber nach Bousset faktisch als nicht sonderlich lebenskräftig erweist. In Boussets Rekonstruktion der Theologie der Ritschlschen Schule nimmt nämlich ein bedeutender Teil jener Strömung, hierbei offenkundig auf Martin Kähler zurückgreifend405, Zuflucht beim neutestamentlichen „Glaubensbild“406 von der Person Jesu, um so einer Abhängigkeit „von der Unsicherheit und Relativität historischer Ergebnisse“407 zu vermeiden. Zwar entgeht man laut Bousset so tatsächlich einer für die Gewissheit des Glaubens nicht erstrebenswerten Abhängig399 RuG 6. 400 RuG 6. 401 RuG 4. 402 Dazu s. Kap. 4.1. 403 Als prominenter Gegner dieser Position nimmt Ernst Troeltsch ein Jahr später zu den Thesen von Boussets Berliner Vortrag Stellung. Dazu siehe unten Kap. 2.2.6. 404 Vgl. BPJG 6: „Es soll vor allem gezeigt werden, wie die durch die intensive historische Arbeit verschärfte Situation der gegenwärtigen theologischen Lage gerade diese weitverbreitete Grundauffassung mit unerträglichen Schwierigkeiten belastet.“ 405 Vgl. Kähler, Jesus. 406 RuG 4. 407 RuG 4.



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keit von der wesensmäßig relativen historischen Forschung – Bousset bewertet dies auch als eine durchaus zulässige Operation408 –, nur ist dann auch zuzugeben, dass man die „Geschichte im engeren Sinn des Wortes“409 verlassen habe und es sich vielmehr um ein religiös gedeutetes Bild der tatsächlichen Ereignisse handelt, ohne das der Glaube, wie unten noch zu zeigen sein wird, auch für Bousset nicht auskommt. Methodisch ist die exakte Geschichtswissenschaft jedoch gehalten, stets hinter die Deutung der Tatsachen zu gelangen – die historische ‚Fundamentierung‘ der Religion ist also vermittels des apostolischen Glaubensbildes unmöglich, da das Glaubensbild selbst als Deutung des vorausgehenden Faktums ‚übergeschichtliche‘ Züge trägt. Was aber an diesem Glaubensbild Zutat des „symbolisierende[n], dichtende[n] Schaffens der Gemeinde“410 ist und was zur Person Jesu von Nazareth als „objektiven Tatbestand“411 gehört, wird man nach Bousset kaum methodisch reflektiert unterscheiden können. Hier setzt Bousset die Forschungen Wellhausens und Wredes erneut in Geltung – beide hat Bousset rezensiert412 –, die mit ihrer Evangelienkritik das „oft unlösliche Gewebe von Gemeindetradition und eventuell echten Worten des Meisters“413 aufgewiesen haben, sodass beispielsweise über die ‚objektive Tatsache‘ des Selbstbewusstseins Jesu schlicht keine sichere Aussage zu treffen ist: „wir […] können hier keinen Schritt machen, ohne ins Ungewisse zu geraten.“414 Die durch den Umweg über das Glaubensbild erhoffte Unabhängigkeit von der historischen Forschung ist für Bousset also letztlich ein Trugschluss, denn der Rekurs auf das Glaubensbild vermag nicht die Infragestellung der Überlieferung durch die historische Forschung dauerhaft zu unterlaufen. Die Frage, in welchem Verhältnis das Christusbild zum historischen Jesus steht, kann so nicht umgangen werden, sodass auch diese hermeneutische Operation von eigentümlichen Schwierigkeiten belastet ist. Unterminiert nun die historische Forschung den Rückgang auf das apostolische Glaubensbild, indem sie durch Aufdeckung des kerygmatischen Charakters der neutestamentlichen Schriften die Historizität des Jesusbildes desavouiert, so trifft die historische Kritik ferner jene theologischen Konzepte, die im „persönliche[n] Innenleben Jesu“415 den festen Grund des christlichen Glaubens als ‚geschichtliche Offenbarung‘ suchen. Die erhoffte Unabhängigkeit von der historischen Kritik ist für Bousset freilich auch auf diesem Weg nicht zu erreichen, denn indem der histo408 BPJG 8. Dass es letztlich nicht auf den „rein historischen Jesus ankomme, sondern auf das Glaubensbild, das sich die Gemeinde und der Einzelne erst schaffe [...], enthält etwas durchaus Richtiges.“ In welcher Weise Bousset dies produktiv aufnehmen kann, soll unten gezeigt werden, s. u. Kap. 2.2.6. 409 RuG 6. 410 RuG 5. 411 RuG 5. 412 Vgl. Bousset, Evangelienkritik; ders., Messiasgeheimnis. 413 BPJG 4. 414 BPJG 8. 415 BPJG 8.

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rische Jesus unzugänglich hinter dem Kerygma verschwindet, kann auch kein Bild von seinem Innenleben bzw. seinem Selbstbewusstsein entworfen werden. Bousset hat hier offenkundig Wilhelm Herrmanns Beharren auf der historischen ‚Tatsache Christus‘ bzw. dem „Bild des inneren Leben Jesu“416 vor Augen. Aber auch hinsichtlich Herrmanns Versuch einer offenbarungstheologischen Immunisierung einzelner Züge der Jesusgestalt gilt nach Bousset, dass die historische Kritik diese Position in ihrem Anspruch, durch die Sondererkenntnis des Glaubens die geschichtliche Wirklichkeit allererst sehen zu können, enorm erschwert.417 Denn auch der Sprung von der historischen auf eine ‚theologische‘ Methode kann nicht dem Trend der Forschung entgehen, dessen Tendenz formgeschichtlich gewendet immer mehr die Grundlage für eine Fixierung des Selbstbewusstseins Jesu, um das es Herrmann ja zuletzt geht, ausdünnt.418 Die intendierte Unabhängigkeit von der historischen Forschung bleibt also Fiktion; jedenfalls kann nach Bousset auch das Insistieren auf der offenbarungstheologischen Exemtion der Person Jesu aus der Religionsgeschichte den Gang der Forschung und die Folgelasten der historischen Methode nicht ignorieren. Gleichzeitig gilt aber neben diesen historischen Bedenken in Bezug auf einen validen Zugang zur Person Jesu auch – und dies ist für Boussets Empfinden ungleich problematischer –, dass „dieser Ausweg bedeute, die Religion auf eine fremde, unnachprüfbare Autorität zu stellen“419, nämlich entweder auf das Christusbild, das das Neue Testament bezeugt oder auf den historischen Jesus, der diesem unaufweisbar vorausliegt. Dass man sich nun, um dem Verdacht zu entgehen, einen Autoritätsglauben, der das apostolische Christusbild beinhaltet, zu repristinieren, sich auf die „Hauptzüge des Christusbildes“420 reduziert, kann über das Pro416 Herrmann, Christus, 171.173.176–178. Vgl. zu Boussets generellen Einschätzung der Christologie Herrmanns den Brief Boussets an Paul Wernle vom 19.10.1910 (Özen 180): „Du weißt […], daß ich mich mit der ‚pietistischen‘ Christologie von Herrmann nie habe vertragen können. […] Und dies, daß man die dogmatische Form der Christologie aufgibt, mit der sie m. E. steht und fällt, die Sache aber unter einem gewissen Aufwand von unkontrollierbarer Gefühligkeit festhält, das bezeichne ich als pietistischen Einschlag […].“ Hinter Boussets Verdikt einer ‚pietistischen‘ Christologie stecken wiederum Boussets eigenes christologisches Anliegen, die offenbar darauf zielen, auf Ebene der Theologie den offenbarungstheologischen ‚Christozentrismus‘ wie auch das persönliche Erleben des geschichtlichen Christus fallen zu lassen. Eine moderne christliche Frömmigkeit kommt ohne dieses persönliche religiöse Wendeerlebnis aus, vgl. dazu Kap. 4.2. 417 Dieselbe Reserve gegenüber einer exklusiven Geschichtserkenntnis aus der Perspektive des Glaubens bei Herrmann und Wobbermin hat auch Troeltsch, vgl. Troeltsch, Glaubenslehre 106– 108. „Es ist unmöglich durch den Glauben Geschichtstatsachen festzustellen“ (ebd. 107). 418 Vgl. Troeltsch, Glaubenslehre, 106f. Troeltsch räumt damit die Abhängigkeit des Glaubens von der exegetischen Wissenschaft ein (vgl. ebd. 106); Bousset will dies freilich unterlaufen, und grenzt sich daher in doppelter Weise ab: Gegenüber Herrmann kritisiert er die exklusive Glaubenserkenntnis (vgl. Herrmann, Christus, 173) und gegenüber Troeltsch die Abhängigkeit des Glaubens von der Wissenschaft. 419 RuG 5. 420 RuG 5; Bousset mag hier Georg Wobbermin oder Wilhelm Herrmanns vor Augen haben, vgl. exemplarisch Wobbermin, Geschichte, 23–25.



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blem nicht hinwegtäuschen. Denn „[das] vom Glauben zu ergreifende[] Christusbild, das sich der eine Forscher so und der andre anders konstruiert [...]“421, behält seinen externen Autoritätsanspruch, der auch nicht durch die – notorisch pluralen – Forschermeinungen nachprüfbar wird und so wieder eingehegt werden könnte. Zudem ist es religiös unbrauchbar, da es nur mehr ein „ganz vages und ungreifbares Schemen“422 darstellt und so kaum das fromme Subjekt zur religiösen Produktion bzw. zur religiösen Selbstdarstellung anzuregen vermag. Jene Aufdeckung der Aporien einer sich nur auf das geschichtliche Individuum Jesus von Nazareth gründen wollenden Theologie, die sich aber zugleich als unabhängig vom Verlauf der historischen Forschung verstehen will, führt Bousset nun an einigen Varianten jener Beziehung auf die Person Jesu durch. Allesamt scheitern sie am nicht durchhaltbaren Postulat einer Unabhängigkeit von der historischen Forschung. Dies zeigt er zunächst, indem er in Bezug auf den Einsatz bei der Lehre Jesu als Fundament evangelischen Glaubens, den er Albrecht Ritschl zuordnet, auf die methodischen Mängel innerhalb des historistischen Paradigmas hinweist: Ritschls Eklektizismus in der Auswahl der geltenden Inhalte der Verkündigung Jesu führt einen Maßstab ein, den die historische Methode nicht kennen darf: „man sieht nicht recht ein, welches Recht man haben sollte, diese Dinge [sc. v. a. die eschatologische Orientierung von Jesu Predigt neben dem von Ritschl erkannten immanenten Reichgottesgedanken], die einen so breiten Raum in der urchristlichen Überzeugung einnehmen, einfach abzusetzen.“423 Bousset rekurriert ferner – dabei implizit auf Johannes Weiß’ Büchlein zur eschatologischen Ausrichtung der Predigt Jesu Bezug nehmend – auf die Fremdheit der Predigt Jesu gegenüber der Gegenwart. Dazu ruft er Schweitzers Projektionsthese auf, um die Möglichkeit einer wissenschaftlich belastbaren Herausschälung eines Geltung beanspruchenden Kerns von dessen kontingenten Verschalungen als bloße „Konstruktion“424 ad absurdum zu führen. Überzeugender ist dann hingegen der Einsatz bei der an sich undefinierbar bleibenden Person Jesu, wie oben am Beispiel Herrmanns gezeigt wurde. Denn jene Beziehung auf die Person Jesu hat den Vorteil gegenüber der ersteren Variante, dass man sich nicht auf bestimmte isolierte Lehrsätze zurückziehen muss, nichtsdestotrotz ist aber auch jene Variante letztlich von der „auftauchenden Möglichkeit, daß wir vielleicht sehr wenig vom Personenleben Jesu wissen, so wenig, daß es zu einem eindrucksvollen Bilde nicht reicht, [...] auf das ernstlichste bedroht.“425 Die letzte Variante versucht sich auf einen religiösen Impuls durch Jesus, von dem ausgehend sich dann die christliche Gedankenwelt ausbildet, zurückzuziehen. Bousset deckt dies als bloßen historischen Satz auf, „den vorsichtige Geschichtsforschung

421 RuG 5. 422 RuG 5. 423 BPJG 6. 424 BPJG 7. 425 BPJG 8.

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kaum wird bestreiten können.“426 Nur hat dieser mit dem frommen Bewusstsein und dessen Beziehung auf bestimmte Geschichtsdaten wenig zu tun – und gerade darum ist es ja dem Problem von ‚Glaube und Geschichte‘ zu tun. Es lässt sich also zusammenfassend sagen, dass für Bousset die dargestellte, ausschließliche Verankerung der christlichen Religion in der Geschichte eine höchst problematische Position ist. Mit der Aufdeckung der Aporien, die nach seinem Dafürhalten unhintergehbar in den Versuchen stecken, das Problem ,Glaube und Geschichte‘ in den engen Grenzen der Geschichte zu einem Ausgleich zu bringen, führt Bousset also die postulierte Unabhängigkeit jener Entwürfe ad absurdum. Indem er jene ‚künstlichen Scheidewände‘ einerseits als methodisch unzulässig erweist, anderseits aber auch die sich auf das neutestamentliche Glaubensbild zurückziehenden Entwürfe am gegenwärtigen Befund der historisch-kritischen Forschung misst, die immer mehr den historischen Jesus und seine Predigt in „ihrer weiten Entfernung“427 von der religiösen Gegenwart zu sehen lehrt, zeigt er die Anfälligkeit jener Positionen für den Gang der Forschung auf.428 Die Fremdheit der Person Jesu, wie sie gewissermaßen als Hauptertrag der neueren kritischen Bibelforschung um Wrede und Wellhausen von Bousset markiert wird, ist der Fallstrick jeder antirationalistisch-historisierenden Richtung in der Theologie, die religiös an den historischen Jesus, an die Tatsache ‚Christus‘, anschließen will. Sodann erhebt er starke methodische Bedenken, bestimmte normative Elemente, deren Existenz Bousset gar nicht in Zweifel zieht, aus dem geschichtlichen Individuum Jesus von Nazareth herauszulösen, andere hingegen als kontingent und zeitgebunden relativ zu setzen: „[...] dem Historismus [sc. der historischen Methode] fehlt es, um es noch einmal zusammenzufassen, an Maßstab und Mittel, dieses Ewige überzeugend herauszuarbeiten.“429 Unter das Verdikt eines Antirationalismus fallen nach Bousset aber auch die geltungstheoretischen Versuche Ernst Troeltschs, dass „die Sicherheit und Gewißheit der christlichen Religion auf der Gesamtheit der Offenbarungswirkung beruhe, die sich in der Geschichte des Christentums in ihrer Totalität darstelle.“430 Zwar erkennt er hinter dieser Theologie das Anliegen – das sich wiederum durch das Unbehagen aufgrund der immer mehr voranschreitenden historisch-kritischen For-

426 BPJG 9. 427 BPJG 7. 428 Entsprechend hebt Bousset gegenüber Georg Wobbermin hervor, dass dessen begriffliche Distinktion zwischen Historie und Geschichte (vgl. Wobbermin, Geschichte, 15) nicht durchzuhalten ist, denn die größeren Überlieferungskomplexe mit ihrer breiten Wirkungsgeschichte sind kaum von den unsicheren Einzeltatsachen zu trennen, wie es Wobbermin vorschwebt (vgl. ebd. 72–86). Vielmehr hat sich gezeigt, dass „Geschichtsforschung schon so manche Überlieferung, an welcher die Gegenwart mit ganzem Herzen hing, zerstört, oder doch der Revision unterzogen hat“ (RuG 8 Anm. 1). 429 BPJG 8. 430 BPJG 9.



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schung speiste –, „daß man eine breitere Basis als Fundament der Religion suchen müsse.“431 Und insofern ist diese Richtung, der sich Bousset in seiner frühen Phase auch als zugehörig empfunden hat und zu der er auch immer noch in der Gesamtheit seiner Theologie eine große Nähe besitzt, auch durch dasselbe Problembewusstsein gekennzeichnet: Einzelne geschichtliche Geschehnisse können zumindest wissenschaftlich überprüfbar keine Geltung aus sich heraussetzen. Vielmehr will diese Richtung, so Boussets Darstellung, aus der „Offenbarungstotalität“ der Christentumsgeschichte „[...] Grundwesen und Grundgesetze in einer über das Ganze gehenden Betrachtung allmählich [erkennen und festlegen]“432, sodass nach dieser Operation die einzelnen geschichtlichen Individualitäten dem so gewonnenen Wesensbegriff unterstellt werden können – für Bousset eine „unabgeschlossene Sysiphusarbeit, eine unendliche Aufgabe“433. Dass diese Richtung ihrem Selbstzeugnis gemäß sodann eminent abhängig ist vom Verlauf der Forschung und dem Entscheid über die Möglichkeit eines „erkenntnisgemäßen“434 Zugangs zur Person Jesu als „prinzipiellen Anfangspunkt“435 der christlichen Lebenswelt, zeigt der von Bousset zitierte, emphatische Aufruf Ernst Troeltschs an die historische Theologie, nun endlich Gewissheit hinsichtlich der Person Jesu zu schaffen. Für Bousset stellt dies freilich einen „Appell“ dar, „[...] der leider nicht so unbedingt erfüllbar ist.“436 Alle vermeintlich historische Erkenntnis über die Person Jesu ist für Bousset mit einer nicht aufhebbaren Unsicherheit behaftet, die damit als nachgängige Begründung für den Glauben ausscheidet, da dieser sich mit der methodisch bedingten Relativität gerade nicht Rechenschaft über sein frommes Erleben geben kann. Über die methodischen Bedenken hinaus steht dem Rekurs auf den historischen Jesus aber auch der zeitgenössische Trend der neutestamentlichen Exegese entgegen, der, wie schon gezeigt, die Person Jesu hinter dem Kerygma unerreichbar verschwinden sieht. Die evangelische Theologie im Umkreis der Ritschlschen Schule war also letztlich gemäß Boussets Urteil so verfasst, dass sie nicht nur unter dem Erweis der vermeintlichen Nichtexistenz des historischen Jesus zusammenbrechen würde. Schon allein durch die zeitgenössische Tendenz der seriösen neutestamentlichen Forschung und der Einsicht in die methodische Unmöglichkeit, ein klar umrissenes Bild des historischen Jesus zu erhalten, war die antirationalistische Theologie hinreichend erschüttert worden. Als verhängnisvoll erweist sich dieser Antirationalismus ferner darin, dass er, wie oben schon angedeutet, den allgemeinen Überdruss am Historismus in der frühen Moderne – den, wie dargestellt, auch Troeltsch diagnostiziert – unreflektiert lässt und damit gemäß dem obigen Zitat Albert 431 BPJG 9. 432 BPJG 9. 433 RuG 9. 434 BPJG 10. 435 BPJG 10. 436 BPJG 10.

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Schweitzers den Zusammenhang mit der allgemeinen Weltanschauung verloren hat – nicht wie die christliche Welt geworden ist, interessiert die noch christlichreligiös Ansprechbaren, sondern wie sie sein soll.437

2.2.1 Boussets Debattenbeitrag Die Infragestellung der Existenz Jesu von Nazareth, die dann in Drews’ Christusmythe breitenwirksam gipfelte, nötigte die akademische Theologie, sich nunmehr explizit gegenüber diesem latent schon länger schwelenden Problem von ‚Glaube und Geschichte‘ zu positionieren,438 wenn dies auch im Urteil Albert Schweitzers zumeist nicht im leidenschaftslos-sachorientierten Rahmen akademischer Kommunikation geschah.439 Die evangelischen Theologen, die auf Drews’ Christusmythe reagierten, zielten gemäß der Darstellung Albert Schweitzers meistens auf eine rein historische Widerlegung – auf das Wahrscheinlichmachen der Existenz Jesu –, worin dieser zugleich ein Defizit markiert440, denn jene rein historischen Gegenschriften sparten den eigentlich virulenten Problemhorizont aus, der letztlich als „religionsphilosophische Frage“441 nach der Bedeutung der Geschichte für die Religion im Hintergrund der Debatte stehe. Den Problemhorizont, in welchen das Verhältnis von Glaube und Geschichte gestellt ist, umreißt Ernst Troeltsch in seinem RGG-Artikel Glaube und Geschichte. Dieser soll hinsichtlich einer ersten Annäherung an das Thema zunächst kurz skizziert werden, ehe vor diesem Hintergrund Boussets theologische Anliegen dargestellt werden sollen. Dass Bousset Troeltsch für einen ausgewiesenen Fachmann für jene Fragestellung hält, wird allein schon darin deutlich, dass er in ihm „de[n] energischste[n] und vielseitigste[n] Gegner aller rein historischen Begründung des Glaubens“442 erblickt, der ihm Schützenhilfe in der Auseinandersetzung mit der 437 Vgl. nur RL 24. 438 Dass dieses Problem schon länger gewissermaßen subkutan die evangelische Theologie bewegte, deutet Bousset in BPJG 3 an. 439 Vgl. Schweitzer, Geschichte, 504: Die protestantische Theologie, selbst mancher „freisinnige[] Theologe[]“, gerierte sich als „Ketzerbekämpferin […] und verfiel zuweilen ins Pathetische.“ Bousset bildet da keine Ausnahme. Auch er setzt offenkundig Drews und Kalthoff als „Dilettanten und Schreier auf dem Markt“ (BGJG 4) herab. Drews selbst klagt in seiner Christusmythe, dass in seinem Programm nur ein destruktives Anliegen erkannt wurde und nicht sein eigentliches theologisches Interesse (vgl. Christusmythe, XVIIf). 440 Vgl. Schweitzer, Geschichte, 511f. 441 Schweitzer, Geschichte, 515, vgl. auch ebd. 505. 442 RuG 35. Zu Troeltschs Kritik an der Ritschlschen Schule, die sich verglichen mit Boussets oben dargestellten Kritik aus ganz ähnlichen theologischen Vorbehalten zusammensetzt, vgl. exemplarisch ders., Selbständigkeit, 375–378. Gegenüber dem Anspruch der Ritschlschen Schule, den christlichen Glauben durch die „ausschließliche Begründung auf das Eine [sic!] Geschichtsfaktum [sc. der Person Jesu]“ als göttliche Mitteilung auszuweisen, wendet Troeltsch ein, dass „[d]as isolierte Einzelne sich niemals als unbedingte wissenschaftliche Wahrheit bezeugen [kann];



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historisierenden Ritschlschen Schultheologie gewähren kann, auch wenn er – wie unten noch zu zeigen sein wird – in einer „Spezialfrage“443 mit ihm im Dissens steht. Troeltsch entwirft in seinem Lexikonartikel eine ebenso luzide wie breit angelegte Skizze unseres Problems. Zunächst macht er vom „rein religionspsychologische[n] Standpunkt“444 einige Beobachtungen hinsichtlich der auf „innere[r] psychologische[n] Notwendigkeiten des G[laubens]“445 zurückgehenden Bezogenheit desselben auf die Geschichte. Troeltsch setzt damit ein, dass der „konkrete Gedankeninhalt“, auf den sich der Glaube in Troeltschs Fassung stets beziehen muss, etwas ist, das der subjektive Glaube „nicht bloß aus sich selbst hervorbringt“, sondern das vielmehr „an ihn mit einer überlegenen Kraft herantritt“446. Als „religiösen Eindruck“ empfängt der Glaube jenen geschichtlichen Inhalt, der „das gemeinschaftliche Werk großer Bildungsepochen und ganzer Generationen oder bei deren Grundlegung das Werk überragender Persönlichkeiten [ist].“447 Dies gelte allenthalben für einen „jede[n] starke[n] und inhaltsreiche[n] Glauben“ der höheren Religionen, der aufgrund der Fülle der Inhalte dem Subjekt „[...] für eigene Produktion nur geringen Raum übrig läßt.“448 Hierin erblickt Troeltsch nun gleichsam die das einzelne Subjekt übersteigende und dadurch erlösend wirkende Bedeutung des Geschichtsbezugs für den Glauben, denn jene qua Überlieferung „herangebrachten Kräfte“ befähigen den Glauben, „dem Subjekt über die Schranken seines Selbst [hinauszuhelfen].“449 Und nur so könne es erst zu einer „wahrhaft volle[n] und lebendige[n] Berührung mit dem göttlichen Leben“450 kommen. Dem Glauben sei es ferner wesensmäßig, bestimmte historische Größen wie Jesus, Kirche und Bibel aus der Geschichte herauszulösen und sie auf einen übergeschichtlichen Ursprung zu beziehen.451 Noch ganz im Rahmen der religionspsychologischen Beschreibung fährt Troeltsch fort, dass es jenem Glauben ein „Bedürfnis“ sei, „sich diese ganze Gedankenwelt in ihrem Ausgangspunkt und in einem Urbild zu sammeln und zu verkörpern, um sich daran stets neu berichtigen und beleben zu können.“452 Jenes am allerwenigsten, wenn man auf die Wunderbeglaubigung verzichtet“ (ebd. 375). Der damit intendierte „Zusammenhang mit der rein ,wissenschaftlich-historischen‘ Methode“ seitens der Ritschlschen Schule ist für Troeltsch angesichts der „künstlichen Verabsolutierung des HistorischPositiven“ (ebd.) freilich auch hinfällig. 443 RuG 35. Dazu s. u. 140. 444 Troeltsch, Glaube, 1450. 445 Troeltsch, Glaube, 1448. Zum Ganzen vgl. auch ders., Glaubenslehre § 6. 446 Troeltsch, Glaube, 1448. 447 Troeltsch, Glaube, 1448. 448 Troeltsch, Glaube, 1452. 449 Troeltsch, Glaube, 1452. 450 Troeltsch, Glaube, 1452. 451 Vgl. Troeltsch, Glaube, 1450: „Wo er [sc. der Glaube] an Geschichtstatsachen sich gehalten hat, da hat er diese umgewandelt in gerade nicht-geschichtliche Realitäten, in Wunder, welche die ewigen Absichten Gottes kund geben.“ 452 Troeltsch, Glaube, 1448.

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Bedürfnis, das sich sodann im Kultus realisiert, wird Troeltsch wenig später in seinem Aarauer Vortrag ein „sozialpsychologisches Gesetz“453 nennen. Der Geschichtsbezug ist also funktional bestimmt, da er zur Berichtigung und zur Belebung, wie auch allererst zur Erregung, Veranschaulichung und Verbürgung454 des subjektiven Glaubens anhält. Nach der Darstellung jener ‚psychologischen Tatsachen‘ kommt Troeltsch zu dem Schluss: „Aus all diesen Gründen folgt die wesentliche und unablösbare Beziehung des G[laubens] auf die Geschichte und die Notwendigkeit eines religiösen Geschichtsbildes.“455 Hat Troeltsch damit gleichsam die konstitutive Bedeutung der Geschichte für den Glauben nachgezeichnet, so schreitet er nun zur Problemexposition voran, indem er auf die „prinzipiellen Bedenken“456 des modernen Empfindens hinsichtlich jener Beziehung des Glaubens auf die Geschichte abhebt. Denn jene wundersamen Apotheosen Jesu, der Kirche und der Bibel, die zum Grundvollzug des Glaubens gehören, sind unter den Bedingungen der modernen Bibelkritik457 kaum zu halten, denn jene „nicht-geschichtliche Realitäten“458 werden nunmehr – in „einem kritisch-wissenschaftlichen Zeitalter“459 – „in ihrer allem Geschichtlichen gleichartigen Relativität und Bedingtheit erkannt.“460 Sogar die „Leugnung der vorgeblichen Tatsachen“461 liegt in der Fluchtlinie jenes historischen Denkens, wie Troeltsch in Bezug auf die Kontroverse um Arthur Drews vermerkt. Sodann steht das „allgemeine Bewußtsein“462 gegen jene exklusivistischen Verabsolutierungen bestimmter geschichtlicher Tatsachen. Denn mit jenem allgemein gewordenen historischen Bewusstsein ist auch der neuzeitliche Toleranzgedanke in Geltung gesetzt, in dem „ebenfalls die Neigung zur Emanzipation von der Geschichte [liegt].“463 Troeltsch hebt nun im Rahmen seiner Skizze zu einer Analyse des modernen Geistes an, dem die lähmende Historisierung der gesamten Lebenswelt immer mehr zu Bewusstsein kommt, in dem sich sodann „das Verlangen nach Freiheit von der Geschichte“464 regt. Seine Gegenwartsdiagnose mündet entsprechend in der Beobachtung, dass alle bisher skizzierten Schwierigkeiten des religiösen Bezugs auf die Geschichte „mit einer allgemeinen Stimmung des Druckes der Geschichte und der Geschichtsgelehrsamkeit [zusammentreffen], die uns nicht zu unmittelba-

453 Troeltsch, Bedeutung, 837. 454 Vgl. Troeltsch, Glaube, 1456. 455 Troeltsch, Glaube, 1449. 456 Troeltsch, Glaube, 1450. 457 Vgl. Troeltsch, Glaube, 1450f. 458 Troeltsch, Glaube, 1450. 459 Troeltsch, Glaube, 1454. 460 Troeltsch, Glaube, 1451. 461 Troeltsch, Glaube, 1451. 462 Troeltsch, Glaube, 1451. 463 Troeltsch, Glaube, 1451. 464 Troeltsch, Glaube, 1452; vgl. auch RuT 35, wo Bousset ein „Zeitalter einer neuen christlichen Gnosis“ in der Moderne aufziehen sieht.



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rer, naiver und lebendiger Produktion kommen lässt, sondern alles schon im Werden durch historische Vergleiche und Beziehungen erstickt.“465 Neben jener ‚allgemeinen Stimmung‘ markiert Troeltsch jedoch das neuzeitliche Autonomiestreben als letztlich prägendstes Merkmal eines „wissenschaftliche[n] Zeitalters“466, als dessen Ausdruck das Streben nach persönlicher, autonomer religiöser Überzeugung, das sich vom „formell unwürdige[n] Autoritätsglauben“467 emanzipieren will, gelten darf. Nur die individuelle Autonomie ist in der Moderne das „Mittel der Gewißwerdung“ religiöser Überzeugungen; bloße, als relativ erkannte historische Tatsachen müssen dem Autonomiestreben erst einmal fremd bleiben. Autorität können sie aus sich selbst sodann nicht mehr beanspruchen. Soll nun eine „autonome Zustimmung“468 des Glaubens zu einem bestimmten Glaubensinhalt möglich sein, so muss jener Inhalt im „Wesen der Vernunft selbst angelegt sein.“469 Ungeachtet dessen bleibt der konstitutive Bezug der Geschichte. Dies gilt zumal für die in der Autonomie allererst gipfelnde religiöse Erziehung. Denn nur die Geschichte bringt die Inhalte hervor, die sich das Subjekt dann nach „autonomer Einsicht“ neu anverwandeln kann. Dies gelte für das gesamte Geistesleben, nur eben für das religiöse Denken „in gesteigertem Maße“, da die großen Offenbarungen hier selten sind und die religiöse Subjektivität zumeist zersplittert und schwach. Da jenes moderne, auf Autonomie hinstrebende Denken sich also nicht abseits geschichtlicher Inhalte vollziehen kann, kann sich die neue Stellung zur Geschichte nur auf die „Form der Aneignung“470 beziehen. Diese wird im kritisch gewordenen modernen Zeitalter Überlieferungen nicht mehr als äußere Autorität ansehen, sondern jene eben im Modus der Aneignung der „Kritik und Weiterbildung“ unterziehen, sodass die Inhalte nun als eigene Überzeugung mit dem Postulat der Allgemeingültigkeit als autonom ausgewiesen werden können.471 Die Darstellung der Verhältnisbestimmung von Glaube und Geschichte bei Troeltsch hat gezeigt, dass trotz des Insistierens Troeltschs auf den religionspsychologischen beobachtbaren Bedürfnissen des Glaubens kein Zweifel aufkommen kann, dass „[h]ier [sc. in dem Problem ‚Glaube und Geschichte‘] ein wirklich ernstes und schwieriges Problem des modernen Lebens [vorliegt], das [...] auf vielfache Umgestaltung unseres religiösen Denkens hinarbeitet. Die alte Stellung zur Geschichte ist nicht zu behaupten.“472 Um nun die psychologischen Bedürfnisse mit dem neuzeitlich-modernen Autonomiestreben vermitteln zu können, kommt also 465 Troeltsch, Glaube, 1452. 466 Troeltsch, Glaube, 1450. 467 Troeltsch, Glaube, 1450. 468 Troeltsch, Glaube, 1450. 469 Troeltsch, Glaube, 1450. 470 Troeltsch, Glaube, 1453. 471 Vgl. Troeltsch, Glaube, 1453. 472 Troeltsch, Glaube, 1452; vgl. ders., Glaubenslehre, 83: „Aus all diesen Gründen ist das Problem der Geschichte für den Glauben fast schwerer als das der Metaphysik und Naturwissenschaft.“

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alles auf die „richtige Anschauung von dem Verhältnis des Allgemeingültigen zu dem Geschichtlich-Psychologisch-Relativen“473 an. Diesen Gesprächsfaden nimmt Bousset auf. Sein Berliner Vortrag, den er im Rahmen des ‚5. Weltkongresses für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt‘, also vor der versammelten theologischen Öffentlichkeit liberaler Prägung, hielt, weist ihn als einen für religiöse Gegenwartsfragen sensiblen Theologen aus. So erkennt Bousset in der von Drews auf die Tagesordnung gesetzten Frage nach der Existenz eines historischen Individuums Jesus von Nazareth und dessen Bedeutung für die Entstehung des frühen Christentums den mit Nachdruck lancierten Hinweis auf das „Zentralproblem“474 der zeitgenössischen protestantischen Theologie, vor allem jenes „Schleiermacher-Ritschl-Herrmannschen Vermittlungstypus“475, wie Troeltsch ihn nennt – nämlich „die Bedeutung der Person Jesu für den Glauben“476 und jene oben dargestellte Belastung der religiösen Bedeutsamkeit Jesu durch die historische Forschung. Im Medium jenes Zentralproblems der protestantischen Theologie liberaler Prägung ist für Bousset ferner die dadurch „indirekt berührte“477 ‚religionsphilosophische Frage‘ nach dem Verhältnis von Religion und Geschichte, wie sie auch Schweitzer – wie oben gezeigt – freigelegt hat, enthalten, sodass nun die enggeführte, christentumsspezifische Fragestellung nach Jesu historischer Existenz und seiner Bedeutung für das christlich-religiöse Bewusstsein auf das allgemeine Verhältnis von Religion und Geschichte entschränkt wird. Bousset fasst die Problemstellung also gemäß Schweitzers Postulat einer sich breiter aufstellenden Theologie, die sich nicht scheut, auch jenseits der bloßen geschichtlichen Erfahrung auf die religiöse Praxis zu reflektieren, als eine Frage auf, deren Lösung über die enge historische Rekonstruktion der Urchristentumsgeschichte und der historischen Bedeutsamkeit der Person Jesu für dessen Genese hinausweist. Bousset positioniert sich hiermit in bewusster Distanz zur antirationalistisch orientierten Theologie des 19. Jahrhunderts und ihrer gegenwärtigen Repräsentanten, v. a. der Ritschlschen Schule.478 Der „Ernst des Problems“ lässt sich jedenfalls keinesfalls auf dem Weg historischer Rekonstruktion, die die Existenz Jesu von Nazareth und dessen Bedeutung für die Entstehung des Christentums womöglich historisch wahrscheinlich machen kann, sistieren – denn „ein solcher Versuch [sc. der Beweisführung der Nichtexistenz der Person Jesu] [könnte] einmal mit noch stärkeren Mitteln wiederholt werden.“479 Der Beweis der Nichtexistenz Jesu liegt eben immer und unaufhebbar als Möglichkeit in 473 Troeltsch, Glaube, 1453. 474 BPJG 3. 475 Troeltsch, Bedeutung, 832. Auch Bousset sieht diesen Typ der Theologie durch die Anfechtung der historischen Existenz Jesu eminent gefährdet, vgl. BPJG 4 („weite Kreise auch der liberalen Theologie“). 476 BPJG 3. 477 BPJG 3. 478 Vgl. RuG 3: „Deutlicher und deutlicher macht sich hier ein Umschlag der Stimmung und ein Rückschlag gegen bisher herrschende geistige Strömungen geltend.“ 479 BPJG 3.



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der historischen Methode. Zwar konnte – so Bousset – bisher durch unverdächtige und besonnene Forscher stets die Historizität der Person Jesu wahrscheinlicher gemacht werden als die gegenteilige Annahme, doch zeige eben schon „eine besonnenere Fragestellung“480, die nicht die Historizität Jesu hinterfragt, sondern vielmehr auf eine seriöse und sichere Erkennbarkeit der religiös bedeutsamen Züge der Person Jesu abhebt, „das Problematische der Art, wie man in weiten Kreisen auch der liberalen Theologie die Religion des Christentums auf die geschichtliche Erscheinung Jesu von Nazareth gründet.“481 Denn um nun die Gewissheit des christlichen Glaubens „in der weithin ausgeübten Weise auf die geschichtliche Erscheinung Jesu von Nazareth [zu gründen]“482, muss letztlich eine „Wiedereroberung des unbedingten Zutrauens zur evangelischen Tradition“483 erreicht werden, die die neutestamentliche Literatur und zuerst die Evangelien als ungefilterten Ausdruck des Eindrucks des Erlösers Jesus Christus ausweisen kann. Dass Bousset jedoch bezüglich der historischen Verifizierbarkeit des Jesusbildes inzwischen aufgrund der projektiven Elemente des neutestamentlichen Zeugnisses von großer Skepsis erfüllt war, wurde bereits oben gezeigt. Eine wirkliche Bewältigung jenes skizzierten Problems des Verhältnisses von Religion und Geschichte, das in der Frage nach der Historizität Jesu chiffriert ist, liegt also nicht in den Möglichkeiten der historischen Theologie, sie ist Aufgabe der Systematischen Theologie und der Religionsphilosophie.484 Dazu passt nach Bousset, dass das Problem eben keineswegs gewissermaßen kontingent durch die Publikationen der Jesus-Leugner über die Theologie hereingebrochen ist, sondern es „[...] besteht in sich selbst [...]“485 und ist wesentlicher Teil der theologischen Aufgabe. Selbst wenn nun diese „zur Mode gewordene Tagesfrage“486 nach der Historizität Jesu von Nazareth, wie Bousset die Thesen der Jesus-Leugner abschätzig beschreibt, einmal abgetan sein wird – was eben vermittels historischer Arbeit nie garantiert werden kann –, das Problem, das Drews damit der evangelischen Theologie wieder ins Bewusstsein gerufen hat, bleibt bestehen. Jene religionsphilosophische Frage als eine theologische Aufgabe von eminenter Bedeutung einmal gestellt zu haben, ist also in Boussets Rekonstruktion der Debatte gleichsam das indirekte Verdienst von Drews’ Thesen, die historisch für Bousset freilich auf Sand gebaut sind. Bousset will also der methodischen Relativität der bloß historisch argumentierenden Widerlegungen von Drews’ Thesen entkommen und macht entschlossen 480 BPJG 3. 481 BPJG 4. 482 BPJG 4. 483 BPJG 4. 484 Vgl. nur den Aufruf Boussets, die Systematische Theologie möge die notorisch unsichere historische Theologie in ein „sturmfreies Gebiet der Sicherheit und Gewißheit [führen]“ (BPJG 10); das sachidentische Desiderat findet sich auch in KFR 478. 485 RuG 8. 486 BPJG 3.

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einen Schritt nach vorne. Die Debatte um Drews’ Christusmythe hat ihm hinlänglich bewusst gemacht, dass die ausschließlich religiöse Orientierung an der geschichtlichen Ursprungsgestalt der christlichen Religion den Glauben in eine ungebührliche Abhängigkeit von der Geschichte mit ihrem notorischen Relativismusproblem bringe. Diese durch die historische Theologie initiierte und auf Dauer gestellte Anfechtungserfahrung kann nur ausgehalten werden, wenn Religion und Theologie sich auf eine „breitere Basis“487 stellen und so den methodischen Relativismus der historischen Theologie ertragen können. Dies bedeutet freilich bezüglich des Selbstverständnisses der vormals von Bousset als antirationalistisch desavouierten ‚liberalen‘ Theologie – zu der er sich dessen ungeachtet auch immer noch zählt –, „daß wir hier [sc. bezüglich des Problems ‚Religion und Geschichte‘] vor der Notwendigkeit einer gewissen Revision unserer Grundanschauungen stehen.“488 Die engen Grenzen einer metaphysikscheuen, bloß geschichtlich orientierten Theologie müssen überschritten werden. Damit stellt sich nun automatisch die Frage nach der Rationalität des religiösen Lebens. Denn nur die Frage nach der Vernunft führt nach Bousset die Theologie aus der miterlittenen Krise des Historismus heraus, der letztlich kein Sensorium für die Frage nach einer Letztbegründung der Religion besitzt. Die „fundamentale Begründung unserer Religion“489 darf schon allein im Interesse des sich reflexiv vergewissern wollenden Glaubens nicht vom Verlauf der „hin und her wogenden historischen Forschung“490 abhängig sein. Bousset will hier keineswegs einer Intellektualisierung der Religion, die nur noch von ihren religiösen Ideen lebt, das Wort reden. Und so gesteht er auch dem „naive[n], unbewusste[n] Fromme[n]“ zu, dass seine Religiosität sich durchaus mit „den gegebenen Formen der Überlieferung“491 bescheiden kann. Dies gelingt jedoch nicht mehr, wenn einmal „die Frage nach der Notwendigkeit dieses Phänomens Religion [...] im menschlichen Geistesleben [erwacht].“492 Vor dem Hintergrund der genetischen Religionskritik, die Religion als Epiphänomen des Geistes493 aufweisen will, aber auch materialistischer Weltanschauungen stellt sich die Frage nach der Vernünftigkeit der Religion insbesondere in den gebildeten Schichten mit großem Nachdruck, sodass Bousset mit seinem Abheben auf die Frage nach der Notwendigkeit und Geltung der Religion durchweg eine im Schwange befindliche Grundstimmung einfängt. Denn ist diese Frage nun einmal gestellt, „so wird sie sich niemals zur Ruhe bringen lassen durch den Hinweis auf das historisch Tatsächliche“494.

487 BPJG 3 (Aufnahme eines Zitats von Johannes Weiß). 488 BPJG 3. 489 BPJG 4. 490 BPJG 4. 491 RuG 25. 492 RuG 25. 493 Vgl. RuG 27. 494 RuG 25.



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2.2.2 Die Frage nach der Geltung der Religion Wird diese Frage nach der Notwendigkeit der Religion im menschlichen Geistesleben als irrelevant ausgewiesen und übergangen, so fürchtet Bousset – sich dabei ein viel zitiertes Diktum Schleiermachers aneignend –, dass „hier eine religionslose Bildungsschicht zu stehen komme und dort religiöse Barbarei.“495 Denn wenn die Theologie sich jener Frage entzieht, dann bleibt nach Bousset für die gelebte Religion – das 19. Jahrhundert als ‚Jahrhundert der Historie‘ mit seiner ausgeprägten Konfessionalisierung nennt er als mahnendes Beispiel496 – nur der Rückzug auf die autoritären „Mächte des Herkommens, des Dogmas und des Kultus.“497 Die Religion gerät in den Selbstwiderspruch, dass sie in ein dogmatisch festgefügtes Heilssystem zur Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse aufgelöst wird. Dass damit angesichts jener Ghettoisierungstendenzen, die Bousset sah, der Bezug zum allgemeinen Wahrheitsbewusstsein in Religion und Theologie aufgekündigt wird, zeigt die von Bousset ebenfalls gefürchtete Nebenfolge einer säkularisierten Bildungsschicht, die, obwohl sie prinzipiell auf Religion ansprechbar ist, von der ‚liberalen‘ Theologie aufgrund deren Selbstbeschränkung auf ‚Historismus und Psychologismus‘ nicht mehr erreicht wird. Einen Ausweg aus jener Krisenkonstellation sieht Bousset, wie gezeigt, nur vermittels einer Theologie, die ihre historistische Nischenexistenz aufgibt und im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Analyse des menschlichen Geistes die Religion als „ursprüngliches Vermögen des Menschen“498 ausweist – Religionsphilosophie also statt historisierender Absolutheitskonstruktion. Religion muss also gemäß Boussets Zugang als ein immanenter Bewusstseinsvorgang verstanden werden, der nicht „von oben durch Offenbarung [hineingeworfen ist]“, sich also keinem supranaturalen Geschehen verdankt, sondern die Bewusstwerdung des „zentrale[n] Grundgesetz[es] deines Lebens“499 bedeutet, sodass die Religion geltungstheoretisch als Konstitutivum menschlichen Seins eingeholt ist. Jenes Grundgesetz ist in klar beschreibbare und distinkt voneinander geschiedene Ideen gegliedert, sodass das religiöse Bewusstsein anhand jener Ideen zu „klarer Selbsterfassung und Selbstbestimmung“500 gelangt. Mit dem Kantschüler Jakob Friedrich Fries will Bousset die religiösen Ideen nun – „über Kant hinaus“501 – als Bestandteile der „reinen Vernunft [...], wie die Kategorien des reinen Verstandes und wie die Aussagen 495 RuG 27; vgl. Schleiermacher, Sendschreiben, 347. 496 Den Umschlag in einen neu vordringenden „Konservativismus“, und damit verbunden das „erneute Anschwellen der Macht und der Autorität der kirchlichen Gebilde“ (BPJG 5) erkennt Bousset eben in dem Rückzug der Theologie auf die Geschichte. 497 RuG 27. 498 RuG 11. 499 BPJG 10. 500 BPJG 11. 501 BPJG 11. Die Differenz jener Erkenntnistheorie zu Kant markiert Murrmann-Kahl, Heilsgeschichte, 417.

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der unmittelbaren Wahrnehmung“502 verstanden wissen. Entgegen der vom Kausalitätsprinzip ausgehenden empirischen Wissenschaften, die „uns eine prinzipiell unabgeschlossene, im Unendlichen sich dehnende Welt in Zeit und Raum [...], in Zahl und Maß [zeigen]“503, beziehen sich die religiösen Ideen auf teleologische Kategorien wie „Sinn, Wert, Zweck [...]“, auf eine „einheitliche Abgeschlossenheit“504 der Wirklichkeit, wie auch in antideterministischer Stoßrichtung auf die „letzte schöpferische Ursächlichkeit der Freiheit“505. Bousset will, wie gezeigt506, jene Ideen ferner nicht analog zu dem alten Rationalismus und sich an diesen anschließenden idealistischen Systemen in „das Gebiet des verstandesgemäßen, wissenschaftlichen Beweises [stellen]“, sondern er sieht hier allein die Möglichkeit, die religiösen Ideen als notwendig aufzuweisen507. Denn als „letzte Wahrheiten“508 liegen sie in der Tiefe der Vernunft. Dies ist für die Frage nach der Geltung der religiösen Ideen – und darum ist es ja Bousset vor dem Hintergrund des Problems ‚Religion und Geschichte‘ auch zu tun – von immenser Bedeutung, denn eine „rein intellektualistische Auffassung“, die die Vernunft und somit auch die religiösen Ideen mit der „Summe aller durch den Beweis zu demonstrierenden Wahrheiten“509 identifiziert, gerät doch letztlich wieder in eine Abhängigkeit von der Geschichte. Der zweistämmig verfasste Verstand ist nämlich auch in Boussets transzendentalphilosophischer Bewusstseinstheorie so gefasst, dass er von Erfahrung abhängig und allein zur Bearbeitung eben dieser fähig ist. Seinen Gegenstand kann er nicht selbst aus sich heraussetzen. Um dieser Abhängigkeit zu entgehen, bringt Bousset einen breiter gefassten Vernunftbegriff, eben die Tiefe der Vernunft bzw. die Gesamt-Vernunft, in Anschlag, „nämlich den gesamten Umfang der notwendigen Grundtatsachen des menschlichen Geisteslebens“, die sich eben nicht nur „[...] nach der Seite des Intellekts (Wissenschaft in Natur und Geschichte, Wahrheitsstreben in Philosophie), sondern auch nach der Seite des Willens (Moralgesetz) und der des Gefühls resp. der Ahnung für das Schöne (Kunst) und das Heilige (Religion)“510 zusammensetzen. Unterscheidet sich Boussets Rationalismus vom älteren Rationalismus511 Kants und der Aufklärung hinsichtlich der Bedeutung der Geschichte bis hierher kaum – denn die religiösen Ideen „[...] bedürfen der Autorität der Geschichte nicht“512 –, so 502 BPJG 11. 503 BPJG 13. 504 BPJG 12. 505 BPJG 13. 506 Vgl. Kap. 2.1.6. 507 Vgl. BPJG 12. 508 BPJG 12. 509 RuG 8. 510 RuG 9; Hervorhebung JH. 511 Zur Kennzeichnung des Rationalismus der Aufklärung als eines „alten Rationalismus“ vgl. BPJG 12. 512 BPJG 11.



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erfährt die Geschichte, so lässt sich zumindest Boussets Anliegen beschreiben, in dessen neufriesianischem System doch einen Bedeutungszuwachs gegenüber dem alten ungeschichtlichen Rationalismus. Zwar gelte weiterhin, dass „die Geschichte der Ratio in dem von uns festgelegten Sinn untergeordnet, und diese letztere [...] ständig Norm und Masstab [sic!] alles Geschehens in der Geschichte [ist]“513, dennoch kommt ihr eine eminent wichtige Funktion zu, die sie über den Status einer „Krücke, mit der man sich zu den Ideen erhebe“, hinaushebt. Denn wie schon gezeigt, sind die religiösen Ideen „etwas an sich vollkommen Dunkles, im Unterbewusstsein liegendes Ungeformtes.“514 An dieser Stelle kommt nun der Geschichte die Funktion zu, das Medium zu bilden, vermöge dessen der Mensch jene noch unanschaulichen Ideen „zu heller und klarer Überzeugung“515 ausgestalten kann. Geschichte ist also, so postuliert zumindest Bousset, nicht nur Illustration, sondern ein „wirkliche[r] Fortschritt“; sie ist „Tat“516 und „wirkliche Arbeit“517, die es erst ermöglicht, jene „Tiefe [sc. der Vernunft] zu ergreifen und zu bejahen.“518 Da aber nun alles menschliche Erkennen an Erfahrung gebunden und somit geschichtlich verfasst ist, ist eben die Geschichte, also die „gesamte Erfahrung des Menschengeschlechts“519, das Medium, anhand dessen sich der Mensch seines „eigensten innersten Wesens [bemächtigt].“520 Durch die an Erfahrung gebundene reflexive Arbeit ist gleichsam ein infiniter Regress als unendliche Annäherung an jene geltenden Ideen anzunehmen.521 Eine Philosophie zu inaugurieren, die sich als abgeschlossen versteht und so zum Dogma wird, liegt also gerade nicht in Boussets Absicht; auch nicht eine Reduktion auf die „Erfahrung der Gegenwart“522, die zwar in Boussets System eine hervorragende Bedeutung bekommt und trotzdem der Erweiterung und Bereicherung „durch die Erfahrung der Jahrhunderte und Generationen“523 bedarf. Dennoch – und hierin soll ja gerade der Vorzug und gleichzeitig das Hauptanliegen von Boussets neufriesianischem Idealismus liegen – muss „ein Abschluss im Bereich der Denkbarkeit“524 liegen, denn die Geschichte hat eben keine schöpferische Kraft 513 RuG 17. 514 RuG 19; vgl. auch RL 32: Die religiösen Ideen liegen „[...] ausserhalb und jenseits des erkennenden Verstandes […].“ Es handelt sich nicht um Ideen, „die von selbst den Menschen in der Anschauung zugänglich werden, es sind Ideen, die erst allmählich im Laufe der Geschichte bei genügender Entfaltung des religiösen Lebens vor dem Bewusstsein auftauchen“ (ebd. 11). 515 RuG 19. 516 BPJG 11. 517 RuG 19. 518 BPJG 11. 519 RuG 20. 520 RuG 19. 521 Vgl. RL 38: Es kann „immer nur eine möglichste Annäherung des Bildes an die Wahrheit erstrebt werden.“ 522 RuG 18. 523 RuG 20. 524 RuG 21.

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mehr – dann würde die Vernunft auch der Geschichte nur „mühsam [nachfolgen]“ –, sondern „entfaltet“525 nur, was im Menschen angelegt ist. Der Fortschritt im Geistesleben ist also kein unendlicher, sondern vielmehr ein „Oscellieren[] um gewisse [...] Höhenlagen“526, die in der Religionsgeschichte erreicht wurden. Bousset rechnet also hinsichtlich der ‚Zukunftsreligion‘ nicht mit einer Ablösung vom Christentum, denn zum einen sind eben jene Höhenlagen im religiösen Leben ausgesprochen selten, zum anderen hängt die moderne Kultur noch in vielem mit dem Christentum zusammen.527 Deswegen ist er optimistisch, dass das religiöse Leben auf unbestimmte Zeit, zumindest solange der europäisch-angloamerikanische Kulturkreis fortbesteht, der an das Christussymbol gebunden bleibt.528 Die Vorteile, die Bousset sich durch die Rückwendung zu Fries erhofft, zeigen sich vor allem im Umgang mit der historischen Forschung. So liegt es in der Möglichkeit dieser rein „immanente[n] Auffassung“ von der Religion mit dem „alles menschliche Denken und Sein beherrschende[n] Kausalitätsgedanke[n]“529, wie er auch in der historischen Methode zum Ausdruck kommt, koexistieren zu können.530 In Boussets neuem Rationalismus ist also kein Kompetenzgerangel über die rechte Rekonstruktion der Geschichte zwischen theologischer und philologischer Geschichtswissenschaft zu befürchten, denn absolut neue Anfänge in der menschlichen Kulturgeschichte, wie sie noch die Ritschlsche Offenbarungstheologie beanspruchte, müssen nicht mehr zur Geltungssicherung der Religion identifiziert werden. Boussets Anliegen zielt also auf die Ermöglichung einer Koexistenz zwischen einem wissenschaftlichen Zugang zu den geschichtlichen Lebensäußerungen der Religion, der methodisch ohne die Geltungsfrage auskommen muss – dort herrscht 525 RuG 21. 526 RuG 21. 527 Vgl. WdR 2: Die Moderne erscheint als eine „Loslösung zahlreicher Schichten von der Religion.“ Blickt man aber auf die Gesamterscheinung der modernen Kultur, so gilt nach Bousset, dass „[d]ie moderne europäisch-amerikanische Menschheit und Kultur mit tausend und abertausend Banden an die Religion gefesselt [bleibt].“ Besteht also der europäisch-angloamerikanische Kulturkreis fort, so wird auch das Christentum weiter seine Bedeutung behalten. Dies ist aber wissenschaftlich nicht einholbar und fällt in den Zuständigkeitsbereich des Glaubens, vgl. ebd. 260: „Zwingt uns die alles in Fluß setzende Geschichtsforschung nicht zur Anerkennung, daß auch die christliche Religion nur eine vorübergehende überbietbare Form der Religion sei, auf der notwendig eine höhere Stufe folgen muß? Ich glaube nicht.“ 528 Vgl. den imperialistischen Impetus in BPJG 16: „Und zum Symbol wurde er [sc. die Person Jesu] für die Religion der Völker und Kulturen, die mit ihrem Wesen den Erdball zu beherrschen beginnen.“ 529 RuG 16. 530 Auch Bousset will vermittels dieser Unterscheidung „Friede zwischen Naturwissenschaft und Theologie“ herstellen können (MPT Kaftan, 336). Nach Bousset müsse allerdings „[...] im Interesse einer idealistischen und frommen Weltanschauung von der Naturwissenschaft die Anerkennung verlangt [werden], dass sie mit ihrer Arbeitsmethode nicht die gesamte Weltwirklichkeit umspannt, dass es jenseits der Sphäre, die wir Natur nennen, eine höhere Welt des Geistes und der Persönlichkeit [gibt], die ihr auf ewig verschlossen bleiben, und dass in dieser Welt ihre Gesetzmässigkeiten nicht [herrschen]“ (ebd.).



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die dem Kausalitätsgedanken verpflichtete historische Methode –, und einem geltungstheoretischen Zugang, der in den Aufgabenbereich der Philosophie bzw. eben der Systematischen Theologie fällt. Denn auf die „letzte philosophische Frage, wie dieses ganze Werden [sc. das anhand des Paradigmas des Kausalitätsgedankens beschrieben werden kann] aufzufassen sei, sind Naturforscher und Naturbeobachter nicht kompetent.“531 Die kausative Betrachtung der Wirklichkeit durch den teleologielosen Entwicklungsgedanken der darwinistischen Naturwissenschaft und der strengen Geschichtswissenschaft, die für sich genommen völlig legitim ist, ja im Gefälle der Selbstaufklärung des mündig gewordenen und sich sukzessive von aller fremder Autorität befreienden Menschen liegt, muss also nach Bousset nun durch die geltungstheoretische Perspektive ergänzt werden – „ohne dass irgendwie ein Konflikt mit der Naturwissenschaft zu befürchten stände.“532 Nach Bousset ist es zwar durchaus fraglich, „ob diese Kausalitätsbetrachtung der letzten Wirklichkeit tatsächlich adäquat ist und bis in die Tiefen [sc. der Wirklichkeit] fasst.“533 Für den Glauben ist dies freilich ein reduktiver Wirklichkeitszugang, ungeachtet dessen bleibt sie unangefochten das Leitparadigma der empirischen Erfassung der Wirklichkeit, da sie die „Tendenz unsres Erkennens“534, das stets darin begriffen ist, Kausalzusammenhänge zu konstruieren, am trefflichsten aufnimmt. Ein evolutiver Geschichtsbegriff, der mit supranatural-neuschöpferischen Anfängen in der Geschichte rechnet, steht hingegen vor einer „unüberwindbaren erkenntnistheoretischen Schwierigkeit“, wie Bousset auch gegen Troeltsch einwendet.535 Denn da der methodisch geforderte Kausalzusammenhang prinzipiell „keine Lücke und keinen Sprung“536 durch den Einbruch einer anderen Welt anerkennen kann, mag die faktische Unableitbarkeit einer historischen Individualität zwar für das Geschichtsbild des Glaubens angemessen sein, methodisch ist es jedenfalls aufzugeben. Denn für Bousset ist es dem menschlichen Erkenntnisvermögen eigentümlich, dass dieses schlechterdings „nicht anders begreifen und Wissenschaft treiben [kann], als in dieser Form.“537 Die neufriesianisch reformulierte Geschichtstheorie mit ihrem Theorem der Entfaltung bestimmter humaner Anlagen kann also

531 RuG 14. 532 RuG 14. 533 RuG 10. 534 RuG 10. 535 RuG 10; zum Entwicklungsgedanken bei Troeltsch vgl. ders., Absolutheit, 147–154, der insbesondere in der Unableitbarkeit der historischen Einzelerscheinung gipfelt, vgl. Claussen, JesusDeutung, 40–43. Noch 1907 vertritt Bousset ein geschichtstheoretisches Konzept, das die jeweilige historische Einzelerscheinung nicht einfach aus dem Gegebenen ableiten will, sondern immer einen letzten „Rest“ (MuR 9) annimmt, der sich nicht einfach kausal aufschlüsseln lässt. Auf das Umstellen auf die neufriesianische Religionsphilosophie folgte also offenkundig eine Modifikation der historischen Methode, die diese Frage weitestgehend unberücksichtigt lässt. 536 RuG 10. 537 RuG 10.

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nach Bousset mit dem erkenntnistheoretisch an die „Immanenz gebundene[n] menschliche[n] Denken“ deutlich besser zusammenbestehen als ein evolutiver Geschichtsbegriff. Dessen Schwierigkeit meint Bousset nun mit seinem im Rücken seines neuen Rationalismus gebildeten Geschichtsbegriff umgehen zu können. Denn mit der Rede von einer Entfaltung „von innen heraus wirkenden Kräften und Bestimmtheiten“538, deren Aufweis in den Bereich der Philosophie fällt, wird s. E. eine rein am Kausalitätsgedanken ausgerichtete Beschreibung der geschichtlichen Wirklichkeit allererst ermöglicht. Boussets modifizierte historische Methode zeichnet sich also s. E. durch eine erhöhte Methodenstrenge aus, die noch dazu besser dem menschlichen immanentkausativen Erkenntnisvermögen entspricht. Den Versuchen der Ritschlschen Schule, die Geltungsfrage durch historisch rückgebundene Absolutheitskonstruktionen einzuholen, erteilt Bousset demnach auch auf wissenschaftstheoretischer Ebene eine Absage. Denn nur eine transzendentalphilosophisch begründete Theologie kann einerseits mit den für Bousset geltenden Methoden der kausal-empirischen Wissenschaften koexistieren, andererseits aber trotzdem nach der Geltung der Religion fragen; eine Theologie, die jener Perspektive ermangelt, muss hingegen notwendig mit jenen kausal-empirischen Methoden in Konflikt geraten, wie Troeltsch und Bousset selbst anhand der Absolutheitsprätentionen der Ritschlschen Schule gezeigt haben, denn hier werden Fragestellungen miteinander kombiniert, die epistemologisch zu trennen sind. Bousset meint also durch sein neufriesianisches Programm eine für das moderne Bewusstsein eminent wichtige Ermöglichung der Koexistenz zwischen dem beschreibenden kausalitätsorientierten Paradigma der Natur- und Geschichtswissenschaft und jener für den Glauben im Rahmen einer „nachträglichen intellektuellen Vergewisserung“539 virulenten Frage nach der Geltung der Religion gestiftet zu haben. Indem Bousset beides voneinander trennt, nimmt er – dies ist gewissermaßen sein praktisches Interesse – gleichzeitig auch dem Glauben die bedrückende Last, auf Grundlage der Geschichte, die freilich nicht ohne Bezugnahme auf die relativen Ergebnisse der Geschichtswissenschaft zu haben ist, zur Gewisswerdung seiner Existenz zu gelangen. Denn nun kann der Glaube die Resultate der kausalen Wissenschaften hinnehmen – zumal er auch ein eigenes projektives Bild von seinen Anfängen entwirft540 –, seine reflexive Gewissheit liegt in den nun von der Theologie aufzuweisenden Ideen der „Gesamt-Vernunft“541. Für Bousset ist die Theologie also diejenige Wissenschaft, die die nur für das ahnende religiöse Subjekt zugängliche Tiefe der Wirklichkeit, das „Urvermögen 538 RuG 14. 539 Brief an Paul Wernle vom 19.10.1910 (Ms 151, Nr. 18). 540 Jene Geschichtsdeutung des Glaubens, die letztlich mit der Frage nach dem Wesen des Christentums identisch ist, fällt in das „Gebiet der poetischen Schau, des glaubensmässigen Ahnens und Fühlens“ (RuG 13). 541 BPJG 13.



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und tiefste Empfinden unserer Gesamtvernunft“542 allererst freilegt. Dass nun „für den, der Wissenschaft und Erkenntnis der Welt-Wirklichkeit in eins setzt, Religion überhaupt nicht [gilt] und nicht gelten [kann]“543, gesteht Bousset bereitwillig zu – im ‚Kampf der Weltanschauungen‘ zwischen Materialismus und Idealismus behält die Theologie zuerst also eine eminent wichtige Funktion für die Religion selbst. Denn das reduktionistische Wirklichkeitsverständnis jeglicher Naturalismen muss die Theologie nun im Verbund mit der neufriesianischen Philosophie aufbrechen und dem Glauben eine erkenntnistheoretisch verbürgte Gewissheit durch den Geltungsnachweis seiner religiösen Ideen verleihen. Hierin kommt dann gleichzeitig die Funktion der Theologie für den Glauben zu stehen. Jene Funktion der Theologie besteht nicht nur in der Irritation vermeintlicher Gewissheiten des Glaubens durch Überlieferungskritik, sondern auch in der Bereitstellung einer erkenntnistheoretisch fundierten Vergewisserung jenes „ursprüngliche[n] Vermögens“544 ‚Religion‘ – und wirkt so erbaulich für den reflexiv gewordenen Glauben, indem sie ihm ein „anderes Fundament“545 gibt als bestimmte geschichtliche Geschehnisse, in Bezug auf jene die Geschichtswissenschaft „dauernd dahin [geht], unsere Kenntnis der gesetzlichen ordnungsgemässen Zusammenhänge zu erweitern, das Unbegreifbare und im Zusammenhang Unverständliche nach Möglichkeit einzuengen“546, um so das vermeintlich unableitbar Individuelle in die Kausalkette wieder einzufügen. Die Geschichte ist nun, wie gezeigt, innerhalb der Geltungsfrage ihrer Bedeutung für den Glauben enthoben. Damit ist nach Bousset auch endlich die Gefahr einer Abhängigkeit des Glaubens von der Geschichte dauerhaft vermieden. Im Rücken jener geltungstheoretischen Fragestellung ändert sich nun aber auch die Funktion von Geschichte. Sie ist nicht mehr Schauplatz neuer Offenbarungen, die es nur festzustellen gelte, sondern sie dient allein der Entfaltung und zur Selbsterfassung der religiösen Anlage im Medium der Reflexion: „Aus [...] aufgespeicherten Erfahrungen des Gesamtgeschlechts erwächst der Menschheit das Bewusstsein, was sie im tiefsten Wesen sei und wolle. [...] So kommt dem gesamten geschichtlichen Leben der Menschheit die Aufgabe und der Endzweck der Auffindung der letzten Grundwahrheiten und Fundamente menschlichen Lebens zu.“547 Damit ist aber gleichzeitig gegenüber dem Altrationalismus sogar eine „andere und höhere Bedeutung“548 der Geschichte behauptet – sie ist damit doch „nicht bloß ein Spiel und ein gleichgültiges Geschehen [...], denn Religion liegt in der Tiefe menschlichen Bewusstseins, und diese Tiefe bewußt zu ergreifen und zu bejahen,

542 BPJG 13. 543 BPJG 13. 544 BPJG 10. 545 BPJG 10. 546 RuG 10f. 547 RuG 20; Hervorhebung JH. 548 RuG 19.

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ist harte, saure Arbeit, die in der Geschichte getan wird.“549 Geschichte dient also – so Boussets Anliegen – gerade nicht nur zur Illustration, sondern in ihr vollzieht sich durch Arbeit ein wirklicher, wiederum prinzipiell nicht unendlicher Fortschritt zur Bewusstwerdung des Wesens des Menschen.550 Geschichte kann damit eben „[...] nicht einfach als Vergangenheit [beiseitegesetzt werden]“551, sondern hat für die Selbstdeutung des religiösen Subjekts eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Und dennoch ändert sich mit dem Neufriesianismus nachhaltig die „Stellung zur Geschichte“552. Zwar gesteht nach Boussets Dafürhalten sein neuer Rationalismus, wie gezeigt, gerade der Geschichte „ihr Eigenleben“553 zu. Allerdings hält Bousset zugleich fest, dass die neufriesianischen religiösen Ideen den „Besitz fester Normen gegenüber aller Empirie“554 verbürgen, sodass der Geschichte vor dem Hintergrund der Geltungsfrage keine prinzipiell schöpferische Bedeutung mehr zukommt. Bousset stellt sich hiermit entschlossen gegen Troeltschs Programm einer sukzessiven Annäherung an das religiöse Apriori.555

2.2.3 Die praktische Bedeutung der Geschichte Der Funktionswandel der Geschichte von der Begründung des Glaubens, wie Bousset sie in seiner holzschnittartigen Darstellung der Theologie der Ritschlschen Schule erblickt, zum Medium der Reflexion und Selbstaufklärung über sein Wesen wird von Bousset anhand der Frage „[W]ie wird Religion praktisch lebendig?“556 verdeutlicht. Erst mit jener Frage nähern wir uns der Bedeutung, die Bousset der Geschichte für den gegenwärtigen Glaubensvollzug zuweist. Zunächst gilt jedoch, dass der Glaube schon angesichts der „schweren subjektiven Erfaßbarkeit der religiösen Ideen“557 weder qua religionsphilosophischem Beweisverfahren andemons­ triert werden könne, noch dass er aufgrund einer „Betrachtung eines auch noch so hehr uns vor Augen gestellten Christusbildes“558, das die Theologie besorgt, geweckt 549 BPJG 11. 550 Vgl. RuG 19. 551 RuG 19. 552 RL 35. 553 KFR 480. 554 Ebd.; vgl. hierzu Laube, Otto, 223: „Ihm [sc. Bousset] ist gerade nicht daran gelegen, den Fries’schen Rationalismus für die Geschichte aufzuschließen. Vielmehr würdigt er Fries gerade deshalb, weil dieser die Geschichte einzuhegen verspricht“ 555 Vgl. Chapman, Apologetics. Will Bousset also nicht vollständig mit dem Programm der Religionsgeschichtlichen Schule einer in der Geschichte sich vollziehenden Offenbarung brechen (vgl. Kap. 1.5), so muss er es sich differenzierter anverwandeln, indem er jenes geschichtliche Offenbarungshandeln Gottes als „Herausarbeitung dessen, was ursprünglich im Menschen angelegt ist“ (RL 36), auffasst. 556 BPJG 13. 557 BPJG 13. 558 RuG 41; vgl. auch UG 62.



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würde. Vielmehr gelte, dass Religiosität erlernt werde und im Rahmen der religiösen Sozialisation „auch eine viel kleinere gegenwärtige religiöse Persönlichkeit stärker und intensiver auf unser Leben wirken wird, als die grösste einer fernen Vergangenheit.“559 Religiosität kann also nur im Rahmen gegenwärtiger Kommunikation unter Personen geweckt werden – durch die „Berührung von Seele und Seele.“560 Freilich ist dies nach Bousset kein geschichtsloser Raum, vielmehr ist die interpersonale Kommunikation schon durch vielfältige Symbole präformiert. In der religiösen Selbstbeschreibung bleibt das freilich ein vorreflexives, sich unableitbar einstellendes Erlebnis. Zeigt sich hier gleichsam die für Boussets Religionstheorie charakteristische Betonung der Unverfügbarkeit und Uneinholbarkeit des religiösen Erlebens, das sich zunächst eben ohne den expliziten Rekurs auf christliches Überlieferungsgut, wie dem neutestamentlichen Christusbild, einstellt, so wird der Funktionswandel der Geschichte im Folgenden deutlich. Ist der Glaube einmal als gegenwärtige „Kraft“561 ins Bewusstsein gehoben, so wird im Rahmen der Glaubenspraxis in Kult und Gemeinschaft die Geschichte nun höchst bedeutsam, da der individuelle und der überindividuelle Glaube einer Glaubensgemeinschaft eben faktisch nur durch die „Beziehung auf die Vergangenheit gekräftigt und gefördert werden.“562 Die primäre Funktion der Geschichte besteht also in der Inkraftsetzung und Förderung des gegenwärtigen religiösen Lebens. Wie Troeltsch betont Bousset hier die konstitutive Bedeutung der geschichtlichen Überlieferungen einer Glaubensgemeinschaft für das fromme Subjekt. Gegen alle neureligiösen Bewegungen, die sich in der frühen Moderne von jeglichen Geschichtsbezügen emanzipieren wollen, hält Bousset den Geschichtsbezug für den christlichen Glauben als unaufkündbar fest. Dem religiösen Eskapismus jener Gruppen versuchen Troeltsch wie Bousset zu wehren, indem beide auf die oben dargestellte religionspsychologische Bedürfnisstruktur verweisen.563 Der subjektive Glaube soll so davon entlastet werden, sich nur auf die eigene Produktion reduzieren zu müssen. Hierin ist für Bousset der Grund zu suchen, weshalb Generationen von Christen immer wieder zu den einmal von den großen religiösen Genies „erreichten Höhen“ zurückkehren, deren „Gestaltungen“564 vom frommen Subjekt nur noch zur religiösen Selbstdeutung autonom angeeignet werden müssen.565 Die ge559 RuG 41. „Es kommt eben alles und alles auf den frei und stark flutenden Strom gegenwärtigen frommen Lebens an. Wo der nicht ist, hilft alle Geschichte nichts“ (ebd.). 560 RuG 41. 561 RuG 40f. 562 RuG 41; Hervorhebung JH. 563 Auch Bousset spricht von einer „psychologische[n] Beziehung auf die Vergangenheit“ (RuG 41). 564 BPJG 15; Gegenüber der ‚äußeren Kultur‘ in Wissenschaft und Technik, für die Geschichte vergangen und ohne Bedeutung ist – hier gibt es nur linearen Fortschritt –, ist auf dem Gebiet der Religion – und auch der Kunst – die „Vergangenheit [...] gegenwärtig, lebendig für die Gegenwart“ (ebd.). 565 Zur Selbstaufklärung des religiösen Lebens vgl. RK 28; BPJG 11.

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schichtlichen Mächte der Überlieferung dienen so dem Glauben, sich über sich selbst aufzuklären und bestimmte Gehalte bewusst zu machen. Damit treten jene überlieferten Symbolbestände dem frommen Subjekt nun nicht mehr mit einem Autoritätsanspruch entgegen, sondern müssen sich vielmehr allererst im religiösen Vollzug bewähren, indem sie durch den Filter der Autonomie zu einer religiösen Überzeugung566 werden können, um die es nach Bousset den höheren Religionen stets zu tun ist. Eine wirkliche Bedeutung hat die Geschichte für den Glauben also zunächst nur, indem sie ihm Bilder und Symbole an die Hand gibt, anhand derer der Glaube, der ja in Boussets Religionstheorie zuerst „vom Bild und Symbol [lebt]“567, sich lebendig hält. Bousset stellt sich hier in eine bedeutende neuprotestantische Traditionslinie, die spätestens mit Kants Religionsschrift anhebt. Der Symbolbegriff hat dabei die Funktion, der „metaphysischen Selbstbegrenzung“568 einer neuprotestantischen Frömmigkeit Ausdruck zu verschaffen, indem er immer die Unterschiedenheit zwischen Symbolgestalt und der im Symbol transparent werdenden Wirklichkeit präsent hält und gleichzeitig das religionspsychologische Bedürfnis symbolischer Kommunikation einschärft.569 Schöpfer jener Symbole sind, wie gezeigt, die religiösen Persönlichkeiten, die neue geschichtliche Religionen stiften bzw. sie weiterentwickeln. Als religiös Begabte symbolisieren sie ihre tiefere Wahrnehmung der Wirklichkeit in bestimmten Gedanken und Vorstellungen, die fortan die Symbolbestände der Religionsgemeinschaft bilden.570 Die gegenwärtige Wirkmächtigkeit der großen Persönlichkeiten liegt also allein in den Symbolen, die sie einstmals stifteten bzw. „[...] die sich die

566 Vgl. nur RuG 30. 567 BPJG 14. 568 Claussen, Jesus-Deutung, 262. 569 Wobbermin optiert hier in direkter Auseinandersetzung mit Boussets Programm anders. Zwar dient freilich auch ihm die Geschichte „nicht zur Demonstration der Wahrheit“, aber sie ist eben auch nicht bloße symbolische Illustration des religiösen Empfindens. Vielmehr muss der Rekurs des Glaubens auf die Geschichte als „Invention der religiösen Wahrheit“ (Wobbermin, Geschichte, 70) verstanden werden; so ist für Wobbermin das Christusbild nicht das höchste Symbol der Religionsgeschichte, sondern der „schöpferische Urquell“ bzw. die „Entstehungsursache“ (ebd. 7; vgl. die direkte Antithese Boussets in RuG 41) des christlichen Glaubens. Die als Offenbarung Gottes erlebte christliche Urgeschichte ist für den Glauben allererst der Zugang zur „religiösen Wahrheit“ und dient nicht bloß der Selbstauslegung des Glaubens; diese Perspektive des Glaubens muss sich sodann auch die „Religionswissenschaft“ zu eigen machen, wenn sie wirklich die unverkürzte Reflexion auf die Frömmigkeitspraxis sein will. Wenngleich für Bousset demgegenüber auch feststeht, dass der Gedanke einer Offenbarung Gottes in der Geschichte für die geschichtlichen Religionen unaufgebbar (vgl. BPJG 14) und für die ‚naive‘ Frömmigkeit auch hinreichend ist, so ist er für eine moderne Theologie wie auch für einen reflexiv gewordenen Glauben zumindest nicht mehr in einem exklusivistischen Sinn haltbar. 570 BPJG 15: „Träger der Entfaltung des religiösen Lebens sind die großen religiösen Persönlichkeiten. Sie leuchten mit ihrer Fackel dem Menschen in die tiefsten Tiefen seines Wesens hinein, ziehen ihm auf dem Weg, der zur Eroberung dieser Tiefen führt, voraus.“ Dazu vgl. Kap. 2.1.5.



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Andacht wählt.“571 Gegenüber eines objektiven Gegebenseins eines religiösen Symbols betont Bousset also die Beteiligung ‚der Andacht‘, also der Frömmigkeit, an der Gestaltung der Symbole. Bousset schärft hier noch einmal die Priorität der gegenwärtig erlebten Religion vor aller „bewussten Besinnung auf die geschichtliche Vergangenheit“572 ein. Geschichte besitzt also auch bei Bousset – analog zu Troeltsch – nur mehr eine symbolische und pädagogische Funktion für den gegenwärtigen Glaubensvollzug. Damit ist freilich zunächst auch eine Relativierung der Bedeutung der einzelnen Persönlichkeiten und ihrer Symbole gegeben, die immer nur im Verbund mit der im frommen Subjekt ausgelösten „Resonanz [...], die sie in den Tiefen des uranfänglich bestimmten Menschenwesens besitzt“573, ihre Wirkung entfalten können. Der Glaube, der im Rahmen seiner Frömmigkeitspraxis mit den Symbolbeständen der jeweiligen Religionsgemeinschaft vertraut ist, ist also nicht bloß rezeptiv verfasst, sondern bearbeitet die Symbolbestände selektiv und hält sie so beweglich. Dabei formt der Glaube die Symbole unbewusst um. Als Maßstab für die Bearbeitung der Symbole dient dabei nach Bousset der unbewusste Rekurs auf die vernunftsimmanenten religiösen Ideen, an denen sich die Symbole ausrichten sollen. Nur unter dieser Prämisse lässt sich nach Bousset nämlich behaupten, dass die sich in Symbolen organisierende „Formung und Gestaltung des religiösen Lebens nicht ein wechselndes Spiel und ein reines Erzeugnis unberechenbarer Individualität, an deren Schöpfungen wir gebunden wären [...], [ist].“574 Dies wäre freilich wieder ein Abhängigkeitsverhältnis von der Geschichte, das für die nachgängige Reflexion unüberprüfbar bleibt. Boussets theologisches Anliegen, das sich hinter seiner Offenlegung der Produktionsbedingungen der Symbole des Glaubens verbirgt, zielt also darauf, wiederum den Glauben „von der rein tatsächlichen Gebundenheit an das Konkrete und Individuelle zu befreien“575. Beispielhaft führt Bousset dies für die christliche Religion anhand des Evangeliums bzw. des damit verbundenen Personenbildes Jesu durch. Unter den Bedingungen des historischen Bewusstsein gelte, dass es „schlechterdings unmöglich [ist], dass dieses [sc. die Erscheinung des Evangeliums] (als Ganzes genommen) in allem möglichen zeitlich bedingte Gebilde, diese reine Tatsächlichkeit eine Norm für das was sein soll, abgeben kann.“576 Denn bezogen auf die „Gültigkeitsfrage“ ist es doch offenkundig so – wie Boussets anhand einiger systematischer Entwürfe eines Christusbildes beobachtet577 –, dass hier „eine Menge von

571 BPJG 15. 572 RuG 40. 573 RuG 21. 574 RuG 31. 575 RuG 31. 576 RuG 32. 577 Beispielsweise erkennt er bei Wilhelm Herrmanns Bild vom inneren Leben Jesu eine bestimmte religionsphilosophische Kriteriologie – eine „allgemeine Theorie vom Wesen der Religion“ (RuG 34) –, die es Herrmann erlaubt, zwischen Genese und Geltung, zwischen historischem

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Einzelheiten [...] stillschweigend [beiseite gestellt werden] [...]“578, die in einer historischen Betrachtung nicht begründet auszuscheiden sind. Die historische Größe ‚Evangelium Jesu‘ kann also nicht ungebrochen gelten. Eine bloße Jesulogie liegt aber dennoch nicht in der Flucht von Boussets theologischem Programm, vielmehr scheint es, als ob Bousset durch die Fruchtbarmachung des Symbolbegriffs die Beziehung zum historischen Jesus immer mehr lockern kann.579 Jene Beobachtung führt ihn sogleich zur Frage der Rechtmäßigkeit, der „quaestio juris“580, jener geltungstheoretischen Operation einer Unterscheidung zwischen dem Wesen und der historischen Erscheinung des Evangeliums – die Frage nach der Rechtmäßigkeit ergibt sich vor dem Hintergrund der in Geltung stehenden historischen Methode, innerhalb der diese normierende Unterscheidungsleistung freilich hinfällig bleiben muss. Für Bousset ergibt sich die Rechtmäßigkeit jener Unterscheidung letztlich aus einer nicht einmal notwendig reflektierten „Grundüberzeugung von dem Wesen und dem Gültigen im religiösen Leben überhaupt [...], die nun als konstitutiver Massstab bei der Gewinnung jenes Christusbildes mitwirkt.“581 Intuitiv nimmt also das fromme Subjekt jene Unterscheidungen anhand eines Maßstabs vor, der ihm wesensmäßig als anthropologisches Universale eignet. In den höheren Geistesreligionen ist gemäß Boussets Religionstheorie jener Maßstab sukzessive im Rahmen der religiösen Kommunikation in den Religionsgemeinschaften derart ins Bewusstsein getreten, dass nunmehr eine „in mehr oder minder klare[] und vollständige[] Sätze[] zusammengefasste[] religiöse[] Überzeugung“582 das Verhältnis zu den einzelnen historischen Tatsachen bestimmt und gleichzeitig so „in den Stand [setzt], aus dem geschichtlich Tatsächlichen abzuschneiden“583 und so bewusst oder unbewusst normative Elemente von Kontingentem zu unterscheiden. Jene religiöse Überzeugung ist somit das Organisationszentrum der anverwandelnden Rezeption geschichtlicher Symbolbestände, die nun im Rahmen der Aneignung mittels allgemeingültiger Maßstäbe „immer adäquater und transparenter werden für die in ihnen zum Ausdruck kommenden ewigen Wahrheiten.“584

Jesus und dem Bild vom inneren Leben Jesu, in der historischen Individualität Jesus von Nazareth zu unterscheiden. 578 RuG 30; vgl. auch BPJG 7f. 579 Vgl. nur den Brief vom 6. Juni 1909 an Paul Wernle (Özen 177): „Ich [...] glaube allerdings, daß in den modernen Angriffen gegen die Absolutierung der Person Jesu von Seiten der historischen Leben-Jesu-Forschung manches Körnchen Wahrheit steckt. Im Punkt ‚Christologie‘ werde ich überhaupt immer unerbittlicher und radikaler.“ Zur veränderten Stellung zu Jesus vgl. Kap. 4.1. 580 RuG 34. 581 RuG 34. 582 RuG 30. 583 RuG 31. 584 RuG 31.



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Der Vorgang der Produktion der religiösen Symbolbestände auf Seiten des frommen Subjekts und des Gemeindebewusstseins, wie Bousset ihn auf Grundlage seiner Religionstheorie konstruiert, lässt sich am deutlichsten anhand der Genese und der Entwicklung des neutestamentlichen Christusbildes, das der christlichen Religion erst ihr eigentümliches Gepräge verleiht, nachzeichnen. Auch bei diesem, gegenwärtig im religiösen Vollzug stehenden Christusbild – dem größten Symbol, das bisher die Religionsgeschichte hervorbrachte585 – gilt nach Bousset, dass wir es hier nicht mit historischer Wirklichkeit in einem „engeren Sinn“586 zu tun haben, sondern dass das neutestamentliche Christusbild, aber auch das gegenwärtig in den Glaubensgemeinschaften im Gebrauch stehende Christusbild ein unbestimmbares Maß der Produktion in sich schließt. Denn in das überlieferte Bild von der Person Jesu werden doch immer bestimmte gegenwärtige Geltungsinteressen hineinprojiziert, sodass das Christusbild in historischer Hinsicht notwendig zu jenem „unentwirrbaren Gebilde“587 aus der historischen Individualität Jesus von Nazareth und der Gemeindedogmatik werden musste. Jene religionstheoretische Einsicht, dass der Glaube an seinen Symbolen, die er aus den Traditionsbeständen seiner Religionsgemeinschaft empfängt, unbewusst oder bewusst mitarbeitet, führt ferner zu einer ganz anderen Funktion des überlieferten Christusbildes, das nun nicht mehr als fremde, in sich feststehende Autorität den Glauben bedrückt, sondern dem Glauben vielmehr „Mittel“588 ist für die persönliche subjektive Frömmigkeit sich darzustellen.589 Explizit schreibt Bousset davon in seinem Aufsatz Noch einmal Jesus und Paulus, in welchem er – entgegen der paulinischen ‚Tatsachen-Theologie‘ (vgl. Kap. 3) – seine Auffassung der religiösen Funktion der Bezogenheit des Glaubens auf die geschichtliche Gestalt des Bildes Jesu zur Sprache bringt: „Immer wird die Gemeinde Jesu ihren geistigen Besitz in dem Symbol dieses [sc. Jesu] Personenlebens sich anschaulich und lebendig machen.“590 Bousset rekurriert also schon in dem Aufsatz von 1908 auf die bloße Funktion des Christusbildes im Rahmen der Beziehung des christlichen Glaubens auf seinen mythisch-geschichtlichen Ursprung. Damit ist freilich die Frage nach dem historischen Individuum Jesus von Nazareth für den sich selbst darstellen wollenden Glauben erst einmal von nachrangiger Bedeutung. Entsprechend fährt Bousset auch fort: „[...] wobei die Frage dann erst in zweiter Linie steht, wie viel an diesem Symbol historische Wirklichkeit im engeren Sinn ist, wie viel erst auf die 585 Vgl. BPJG 14; vgl. auch den Brief an Paul Wernle im Dezember 1909 (Özen 179). 586 S. u. Anm. 409. 587 BPJG 8. 588 RuG 39; vgl. dazu Kap. 2.2.6. 589 Dies hat freilich auch Folgen für die Theorie vom christlichen Gottesdienst. Jener kann eben unter jenen erkenntnistheoretischen Bedingungen „nicht mehr wirklich persönlicher Verkehr mit Christus [sein], [...] nicht mehr sakramentales Heilsgeschehen, sondern gemeinsame Erinnerung und Sammlung oder geistiges Aufrichten an der Persönlichkeit Jesu, an Jesus als ‚Symbol Gottes‘“ (Lehmkühler, Bedeutung, 216 mit Verweis auf Troeltschs Aarauer Vortrag). 590 NJP 241.

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Rechnung der frommen Phantasie der Gemeinde kommt.“591 Mit Troeltsch betont Bousset jedoch, dass jenes in sich bewegliche Christusbild dem frommen Subjekt von außen als Teil des christlichen Traditionsgutes gegenübertritt und die eigene religiöse Produktion so allererst anregt, sich autonom seinen geistlichen Besitz zu veranschaulichen, indem der Glaube selbst – natürlich nicht isoliert von der im Kult zusammenkommenden Religionsgemeinschaft – sein eigenes Christusbild entwirft,592 das nun freilich den „Gesetzen“ der Produktion des Glaubens unterliegt:

Mit leiser Hand beseitigt das nachfolgende Menschengeschlecht [...] die Bedingtheiten und Verkehrtheiten, die Einseitigkeiten und Herbheiten, das allzu Individuelle an ihr [sc. der großen führenden Persönlichkeit]; sie unterstreicht hier und setzt dort hinzu, streicht dort ab und lässt ganz verschwinden nach Massstäben und Gesetzen, die ihr ureigen sind.593

Die historisch feststellbare Veränderung der Symbole hat also ihr organisierendes Zentrum im Subjekt bzw. im Gemeindebewusstsein. Hier wird das irreduzibel Individuelle an der Symbolgestalt, das auf die Person Jesu selbst zurückgeht, immer mehr abgebaut und so dem Wesen der Religion angenähert, indem es transparenter für die tiefere Wirklichkeit und ihre religiösen Ideen wird – Bousset denkt dies tatsächlich als einen infiniten Regress.594 Angewendet auf das Christusbild bedeutet dies, dass jenes Bild zu immer größerer Klarheit für den nach Selbstaufklärung strebenden Glauben gelangt, in dem Maß, in dem es sich von der historischen Individualität ‚Jesus von Nazareth‘ entfernt. Erst durch die verklärende, auf Allgemeingültigkeit hinstrebende Gestaltung durch den Glauben wird das Symbol eben „immer adäquater und transparenter werden für die in ihnen zum Ausdruck kommenden ewigen Wahrheiten.“595 Das Christusbild wird so, wie auch Troeltsch beobachtet hat, notwendig ein übergeschichtliches Produkt aus einer „Wechselwirkung von Gegenwart und Vergangenheit.“596 Nicht umsonst schreibt Bousset ja dem Christusbild des Johannesevangeliums eine religiös produktive Bedeutung zu, denn gerade jenes religiös verklärte Bild des vierten Evangeliums ist als „Dichtung und Wahrheit“597 des Gemeindeglaubens aufgrund seines von allem allzu Individuellen 591 NJP 241. 592 „Zuletzt kommt es doch wieder darauf hinaus, dass [...] jede Generation sich ihr Christusbild erzeugt.“ (RuG 42; Hervorhebung JH); vgl. auch KC 75: Dieses „Schauspiel der Schöpfung des vom Glauben gezeichneten Jesusbildes wird sich vom Standpunkt eines reineren, universaleren, allgemeingültigeren Glaubens wiederholen, ja es wiederholt sich eigentlich unendlich oft im Lauf der christlichen Geschichte.“ 593 RuG 21. 594 Vgl. RuG 40: „Aber freilich, da alle menschliche Erkenntnis nur im Werden und niemals abgeschlossen vor uns liegt, da diese überdies das Tatsächliche niemals aus sich erzeugt, sondern nur das vorhandene Tatsächliche bearbeiten kann, so werden wir niemals ganz frei werden vom Geschichtlichen und sollen es auch nicht.“ 595 S. o. Anm. 584. 596 RuG 41. 597 BPJG 16.



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absehenden Bildes des Lebens Jesu religiös enorm anschlussfähig, um dann freilich in der subjektiven Aneignung der Religion der Gegenwart doch wieder umgearbeitet zu werden.598 Das Christusbild ist also gemäß Boussets Theorie der Genese religiöser Symbole ein „durch die Frömmigkeit geschaffenes Symbol, ein Gewebe und Symbol, an dem lebendige Frömmigkeit in allen Jahrhunderten weiter webt und wirkt.“599 Damit soll wiederum nicht gesagt sein, dass jenes Christusbild sich in seiner Genese vom historischen Jesus dauerhaft lösen könnte – das überlieferte Jesusgut ist immer Teil dieses Bildes –, und doch will er gerade die Eigendynamik jener Weiterentwicklung des Christusbildes betonen, die sich immer mehr von der geschichtlichen Individualität Jesus von Nazareth entfernt und so sukzessive das Allgemeingültige im Christusbild – gemäß der apriorischen Struktur des religiösen Bewusstseins – in den Vordergrund treten lässt.600 Im Medium des je neu zu erschaffenden Christusbildes stellt sich nun der Glaube selbst dar, sodass Bousset zu dem geschichtsphilosophischen Satz gelangt, dass sich „[...] klarer und klarer im Lauf der Geschichte das wahre Wesen der Religion [enthüllt].“601 Bousset betont also zunächst die Dynamik der Symbolproduktion des frommen Subjekts und der Gemeinde. Die Funktion des Rückgriffs auf den Symbolbegriff besteht nun in theologischer Hinsicht darin, dass nach Boussets Urteil nur über die ‚Auflösung‘ des historischen Jesus in ein Symbol eine wirkliche, auf Dauer gestellte Unabhängigkeit des Glaubens von den unabsehbaren Ergebnissen der Geschichtswissenschaft durchhalten kann. Zwar weiß Bousset um die Schwächen des Symbolbegriffs, die er zuerst in der symboltheoretisch nicht einholbaren Wahrheitsfrage erblickt.602 Sodann unterläuft der Symbolbegriff auch die Geltungsfrage, denn wenn sich nun ein überliefertes Symbol, wie gezeigt, aus zwei Quellen – der Vergangenheit, die irgendwie auf die historische Individualität der Person Jesu zurückgeht, und dem religiösen Gegenwartsinteresse der Gemeinde – speist, dann ist eben nicht klar auszumachen, wie sich das Symbol anteilig zusammensetzt und was davon nun gelten soll. Ein Symbol kann jedenfalls per definitionem keine normierende Funktion besitzen. Aber Bousset erkennt im Symbolbegriff den seinem theologischen Anliegen näherstehenden und von ihm daher höher bewerteten Vorzug der Ermöglichung einer wissenschaftlich belastbaren Unabhängigkeit des Glaubens

598 Vgl. BPJG 16. 599 RuG 42. 600 „Denn dieser Glaube fragt nicht nach der geschichtlichen Wirklichkeit im engeren Sinn, sondern nach dem Religiösen und sittlich Brauchbaren, er bleibt bewußt oder unbewußt beim Bilde stehen“ (BPJG 17). Mit dem ‚Religiösen und sittlich Brauchbaren‘ sind die Gestaltungsprinzipien genannt, anhand denen der Glaube sein Christusbild formt. 601 RuG 31. 602 Vgl. BPJG 16: Der Glaube artikuliert sich in Symbolen – „Symbole und Bilder, aber nicht die letzte Wahrheit selbst.“ Solange man sich stets vergegenwärtige, dass das überlieferte Jesusbild nur ein Symbol sei, „dürfen [wir] dann ruhig mit Bezug auf die Person Jesu […] von Gegenwart und Nähe Gottes und Bild Gottes sprechen.

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von der Geschichte, wie das emphatische Schlusswort seines Berliner Vortrags belegt: Dafür aber überhebt uns diese symbolische Auffassung auch aller Schwierigkeiten, welche bei den oben charakterisierten Auffassungen der Person Jesu gerade von Seiten der exakten Geschichtsforschung sich ergaben. Die Frage nach der Existenz und nach der historischen Erreichbarkeit spielt hier keine alles beherrschende Rolle mehr, denn wir brauchen zunächst nun nicht mehr ängstlich abzugrenzen, was etwa an dem Bild Jesu Zutat und Schöpfung der Gemeinde sei, und was Wirklichkeit im engeren Sinn [sc. der historische Jesus]. Wir brauchen das mögliche Resultat historischer Forschung, daß uns diese Wirklichkeit im engeren Sinn an vielen Punkten unerkennbar, unrettbar verloren bleibt, nicht mehr zu fürchten. Es kommt auf das Symbol und das Bild selbst an. […] Das Symbol dient zur Illustration, nicht zur Demonstration.603

Mit der erneuten Ratifikation des variierten Kant-Wortes bezeugt Bousset noch einmal sein theologisches Interesse am Symbolbegriff, der als bloße Illustration der geltenden religiösen Ideen gar nicht in die Verlegenheit kommen kann, durch die exakte Geschichtsforschung an Überzeugungskraft zu verlieren. Damit sieht Bousset das mit der Ritschlschen Schule geteilte Anliegen einer Unabhängigkeit des Glaubens von der kritischen Geschichtswissenschaft durch den Rekurs auf den Symbolbegriff erreicht. Dass für Bousset dieses Anliegen einer Immunisierung gegen die Aporien des Historismus von eminenter Bedeutung ist, zeigt eine Passage in seinem Groninger Vortrag, in der er sich explizit mit Ernst Troeltschs Unterscheidung zwischen einem ‚wirklichen‘ und einem ‚bloßen‘ Symbol auseinandersetzt. Sie soll daher nachfolgend kurz skizziert werden. Mit dieser Unterscheidung ist es Troeltsch laut Bousset darum zu tun, sicherzustellen, dass „hinter diesem [sc. dem von der Gemeinde geschaffenen Christus-] Symbol die greifbare Gestalt des Stifters selbst stehn [sic!] [müsse].“604 Im Hintergrund steht dabei die Frage, ob das Zentralsymbol der christlichen Religion ein bloßer Mythos ohne historischen Anhalt sein kann. Und in der Tat will Troeltsch im Interesse des frommen Subjekts daran festhalten, dass unter vielerlei Brechung und Umdeutung tatsächlich hinter dem Bild Jesu der historische Jesus steht, „das ‚Symbol Christus‘ muss also einen „festen und inneren Grund in der ‚Tatsache Jesus‘ haben.“605 Dies ist von Troeltsch auch wieder individualpsychologisch begründet, indem er auf den „Ueberzeugungs- und Gewißheitshunger“ des Einzelnen abhebt:

So wie ihm Gott nicht Gedanke und Möglichkeit, sondern heilige Realität ist, so will er mit diesem seinen Symbol Gottes auch auf dem festen Grunde wirklichen Lebens stehen. […] Es ist für ihn von wahrer Bedeutung, daß ein wirklicher Mensch so gelebt,

603 BPJG 16f. Zu den ‚oben charakterisierten Auffassungen der Person Jesu‘ s. o. die Rekons­ truktion der Selbstunterscheidung Boussets von der Ritschlschen Schule Seite 116–128. 604 RuG 36. 605 Troeltsch, Bedeutung, 841.



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gekämpft, geglaubt und gesiegt hat und daß von diesem wirklichen Leben her ein Strom der Kraft und der Gewißheit sich bis auf ihn ergießt.606

Aber über die psychologische Begründung hinaus verbindet Troeltsch, wie Johann Hinrich Claussen ausgeführt hat607, seine Unterscheidung zwischen bloßem und wirklichem Symbol mit der geschichtsphilosophischen Reflexion, dass im JesusBild Gehalte überliefert werden, die gleichsam als „diakritisches Prinzip“608 fungieren und die pluralen Deutungszugänge einer Norm unterstellen. Nur so ist für Troeltsch gleichsam die „Christlichkeit der Religion“ gesichert, denn ohne den Anhalt des Jesus-Symbols in jenem gelebten Leben ist das Jesus-Bild bloß „ein vorübergehender Zufall, der die rationalen Wahrheiten mit der Person Jesu verknüpft“609, wie Troeltsch gegen Boussets neufriesianische Position schon in einem Brief 1909 einwendet. Die für ihn unbedingt zu vermeidende Folgelast der Position Troeltschs erblickt Bousset freilich wieder darin, dass nun „doch wieder das rein Historische in einem eigentümlichen Sinn und Zusammenhang das unentbehrliche Fundament der Religion [ist].“610 Und in der Tat ist dies ein elementares Unterscheidungsmerkmal zum Programm Troeltschs, der diese von Bousset diagnostizierte Folge offen zugesteht: „Unter diesen Umständen ist dann freilich ein Absehen von der historischkritischen Forschung nicht möglich.“611 Troeltsch fährt fort, indem er die von Bousset ebenfalls gefürchtete Konsequenz einräumt, die dieser mit seinem Symbolbegriff eigentlich unterlaufen wollte, dass wenn die Existenz Jesu von Nazareth tatsächlich einmal – so unwahrscheinlich es gegenwärtig anmutet – als bloßer Mythos von der historisch-kritischen Forschung aufgedeckt würde, dies „in der Tat der Anfang vom Ende des Christussymbols in den Schichten des wissenschaftlich gebildeten

606 Troeltsch, Bedeutung, 840; vgl. ebd.: „Das Symbol ist ihm wirkliches Symbol nur dadurch, daß hinter ihm die Größe eines überlegenen wirklichen religiösen Propheten steht, an dem er sich Gott nicht nur veranschaulicht, sondern an dem er sich auch in eigener Unsicherheit aufrichten und stärken kann […]. Das ist das Berechtigte an der Herrmannschen Rede von der ‚Tatsache Christus‘.“ 607 Vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 266. 608 Claussen, Jesus-Deutung, 270. Zu den inhaltlichen Bestimmungen des Jesus-Bildes Troeltschs vgl. ebd. 269. 609 Brief an Wilhelm Bousset vom 14. Dezember 1909 (Dinkler-von Schubert, 46). In einem späteren Brief vom 2. Februar 1912 (Graf 502) präzisiert Troeltsch „Unsere Unterschiede beziehen sich auf den immanenten Rationalismus u[nd] sein Verhältnis zur Geschichte, das ich sehr viel komplizirter [sic!] fasse als Du u[nd] wo ich von Geschichtspositivismus durchaus nicht frei bin […].“ Claussen ist wiederum zuzustimmen, wenn er Troeltschs Symbolbegriff eine „eigentümliche Verknüpfung von historischer Objektivität und religiöser Subjektivität, von Wissen und Phantasie“ (ders., Jesus-Deutung, 266) attestiert. Ebd. 267 zitiert er aus Troeltschs Glaubenslehre (Troeltsch, Glaubenslehre, 93): „Wir beziehen uns auf den Sinn des Faktums, der aber nie vom Faktum selbst abzulösen ist.“ 610 RuG 36. 611 Troeltsch, Bedeutung, 840.

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Volkes“612 bedeute. Und so hält Troeltsch es auch nur – entgegen Boussets Immunisierungsstrategien – für eine „bloße Redensart, wenn man sagt, der schlichte Glaube dürfe nicht von Gelehrten und Professoren abhängig gemacht werden.“613 Freilich ist Troeltsch dabei bewusst, dass viele Details nicht mehr rekonstruierbar sind; was er sich jedoch von der historisch-kritischen Exegese erhofft, ist ein „Gefühl historischer Zuverlässigkeit“614, das lediglich die Hauptzüge der ‚Tatsache Jesus‘ feststellt,615 die dann wiederum einer vielgestaltigen Deutung zugänglich sind:

Die Geschichtsbeziehung des [Glaubens] wird sich dann nur mehr an die Hauptpunkte halten, an die religiöse Persönlichkeit Jesu und Pauli, Augustins und Luthers, und alles übrige der Kritik und Gelehrsamkeit überlassen; jenen Hauptpunkt aber wird sie dabei stets in einer Allgemeinheit vor sich haben, die es dem G[lauben] erlaubt, heute wie früher an die Persönlichkeit Jesu alles anzuknüpfen, was ihm heilig und teuer ist, und den weiteren geschichtlichen Erwerb in sie hineinzudenken. Es handelt sich um das Geschichtliche eben ja nur insofern, als es beständig neu in Gegenwärtiges verwandelt werden kann. Es bleibt für die freie Deutung Jesu immer ein letzter geschichtlicher Halt in seiner Predigt und Persönlichkeit. Mehr ist nicht nötig und nicht von der Kritik zu verlangen.616

Aber gerade dies hält Bousset – im Rahmen des historistischen Paradigmas – methodisch begründet für nicht möglich. Zweifelsohne enthält das Evangelium „im Kern Ewiges“617, das aber eben nicht methodisch reflektiert von Kontingentem unterschieden werden könnte. Historisch ist Bousset zwar gar nicht so weit entfernt von Troeltsch,618 nur erwartet er für die reflexive Vergewisserung des Glaubens keine Hilfe von der Geschichtswissenschaft – zum einen aus methodischen Bedenken angesichts des der Geschichtswissenschaft inhärierenden Relativismus, zum anderen weil er die Tendenz seines Faches ahnt, das kaum noch Gesichertes über die Person Jesu sagen kann, was eine klar umrissene Verbindung zwischen der historischen Individualität und dem Christussymbol wissenschaftlich belastbar nahelegte. All das theologisch Verheißungsvolle, das der Symbolbegriff für das Problem ‚Glaube und Geschichte‘ verspricht, sieht Bousset also letztlich durch Troeltschs Rekurrieren auf die Rückbindung des Symboles an die Geschichte gefährdet. Vielmehr lässt ihn die durch den Rückgriff auf den Symbolbegriff gewonnene Unab-

612 Troeltsch, Bedeutung, 841. 613 Troeltsch, Bedeutung, 841. 614 Troeltsch, Bedeutung, 841. 615 Vgl. Troeltsch, Bedeutung, 841: „Es handelt sich nicht um Einzelheiten, aber um die Tatsächlichkeit der ganzen Erscheinung Jesu und um die Grundzüge seiner Predigt und seiner religiösen Persönlichkeit.“ Dies als unmöglich abzutun, hält er für eine überzogene ‚Hyperkritik‘, vgl. ders., Glaubenslehren, 96; vgl. auch ders., Glaube, 1454. 616 Troeltsch, Glaube, 1454. 617 BPJG 7. 618 Dazu vgl. Kap. 4.1.



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hängigkeit des Glaubens von der Geschichte die oben skizzierten Schwächen des Symbolbegriffs ertragen.619 Im Rücken dieser Entlastungsstrategie gewinnt nun also das Symbol selbst an Bedeutung und ist für Boussets Religionshermeneutik von immenser Bedeutung. Zwar ist der Symbolbegriff nach Bousset, wie gezeigt, für theologische Absolutheitskonstruktionen unbrauchbar. Es lässt sich jedoch innerhalb der Symbolbestände einer Religionsgemeinschaft vergleichen, welches Symbol über die größte religiöse Brauchbarkeit verfügt und so die jeweilige geschichtliche Religion als die relativ Höchste ausweist.620 Das Christentum teilt mit anderen höheren, geschichtlichen Religionen prinzipiell die kultische Vergegenwärtigung ihrer Geschichte, die sich wiederum in Symbolen organisiert, die die großen Persönlichkeiten geschaffen haben.621 Diese Symbole können ganz unterschiedlich sein. Das „höchste Symbol“ aber wird in der christlichen Lebenswelt überliefert: die „einzelne menschliche Persönlichkeit.“622 Das Symbol einer großen Persönlichkeit wird allerdings auch in den gegenüber niedrigeren Religionsstufen mit ihren aus dem Bereich der Natur entnommenen Symbolen „hervorragenderen, den höchsten Religionen“, den personalistischen Erlösungsreligionen, überliefert – auch sie konstituieren sich in der „Anerkennung eines Führers“623 im religiösen Leben. Als Beispiele für diese für Bousset mutmaßlich letzte Wendung in der Religionsgeschichte führt er die Gestalt des Moses für das Judentum, Zarathustra für die persische Religion und Buddha für den Buddhismus an. Ihnen ist gemeinsam, dass nicht nur der Religionsstifter die Symbole der jeweiligen Religion stiftet, sondern dass die große religiöse Persönlichkeit „einer gläubigen Gemeinde selbst zum Symbol [wird]“624, in dem sich, wie oben

619 Dies gesteht auch Troeltsch zu: „Das gibt natürlich eine von der Historie unabhängige Position und ist insofern sehr verlockend“ (Brief an Wilhelm Bousset vom 14.12.1909 [Dinkler-von Schubert, 46]). 620 Vgl. den Brief Boussets an Paul Wernle vom 19.10.1910: nach Bousset gibt es in der Religionsgeschichte „Symbole, die andere an Wert überragen, […].“ Eine bündige, evolutive Wertabstufung im Hinblick auf die geschichtsmächtigen religiösen Persönlichkeiten bietet Bousset in BPJG 16: „Und wiederum welche unbegreifliche Fülle der Entwicklung! Vom Zauber, Fetisch- und Medizinmann zum Priester, Wahrsager und Seher, zum Gesetzgeber und Propheten, und schließlich zum Religions-Stifter.“ Diese graduelle Stufenfolge beschreibt grob den teleologischen Verlauf der Religionsgeschichte vom Animismus zur Nationalreligion, von dort zum Prophetismus, der in den Gesetzesreligionen mündet. Am Ende steht die Erlösungsreligion, die auf einen Religionsstifter zurückgeht; hiernach ist auch die Kapitelfolge in WdR strukturiert. 621 Vgl. RuG 39: Dass jede religiöse Gemeinschaft, „welche die Generationen miteinander verbindet und über die Zeiten hinüber zu einer Einheit zusammenschliesst, sich in ihrem Kultus um ihre Geschichte sammelt, das heisst, um die Höhepunkte ihrer geschichtlichen Vergangenheit, ist ebenfalls notwendig.“ 622 BPJG 14. 623 RuG 39. 624 BPJG 16.

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anhand des Christusbildes gezeigt wurde, der religiöse Besitz des Einzelnen und der Gemeinschaft darstellen. Der religionspsychologische Vorzug, den das Christusbild laut Bousset gegenüber den anderen Bildern der Religionsstifter besitzt, ist ein doppelter. Bedeutsam ist zunächst, dass es sich in den Evangelien um das phantasievoll ausgestaltete Bild eines gelebten Lebens handelt. Es sind eben nicht nur die einzelnen Symbole – seine Gleichnisse, seine Reich-Gottes-Verkündigung –, die die religiöse Bedeutsamkeit des Christusbildes ausmachen, sondern deren Rückbindung an ein Leben eines konkreten Individuums. Dieses „menschlich-sittliche Personenleben Jesu“625 als Totaleindruck einer individuellen Lebensgeschichte ist einerseits unendlich konkret und hat so eine besondere religiöse Bedeutung im Sinne einer Kräftigung der gegenwärtigen Frömmigkeit. In der symbolischen Veranschaulichung einer ebenso konkreten wie unausschöpflichen Einheit eines persönlichen Lebens besteht die ungeheure religiöse Imaginationskraft des Christussymbols.626 Andererseits ist es als das Bild aufgrund ebenjener Unausschöpflichkeit eines gelebten Lebens gleichzeitig unendlich vieldeutig. Das Christussymbol ist so einer vielfältigen Deutung zugänglich und ist damit der Ermöglichungsgrund eines Christentumsverständnisses, das Pluralität in sich schließt. Damit steht für Bousset freilich auch fest, dass das Christusbild nicht verobjektivierbar ist, sondern stets eine individuelle Deutungsleistung voraussetzt. Die plurale Aneignung des Christusbildes bzw. dessen irreduzible Pluralität erblickt Bousset schon in den vier Evangelien selbst vorgebildet, deren Christusbilder sich insbesondere zwischen den Synoptikern und dem Johannesevangelium, wie Bousset in Kyrios Christos zeigen wird,627 bedeutend voneinander unterscheiden, ohne freilich vollständig miteinander unvermittelbar zu sein. Diese Vielfalt der Christusbilder sei ferner enorm fruchtbar für den praktischen religiösen Vollzug, da die verschiedenen Christusbilder sich korrigieren konnten, sodass sich kein Aspekt des Christusbildes – weder das synoptische Bild vom Menschen Jesus, noch das verklärte Bild des Gottessohnes des Johannesevangeliums – verabsolutieren konnte. Die religiöse Leistungsfähigkeit des Christussymbols ist für Bousset also letztlich der Grund für die relative ‚Höchstgeltung‘ der christlichen Religion.628 Und so ist es für Bousset auch in genetischer Hinsicht ein wesentlicher Faktor für die Entstehung 625 Bousset, Paulus, 1293. 626 Diesen Vorzug markiert auch Troeltsch, Bedeutung, 837: „In den Geistesreligionen sind es die Propheten und Stifterpersönlichkeiten, die als Urbilder, Autoritäten, Kraftquellen, Sammelpunkte dienen und als Bilder persönlich konkreten Lebens jener unendlich beweglichen und anpassenden Deutung fähig sind, die keine bloße Lehre und kein bloßes Dogma hat, die zugleich eine Anschaulichkeit und Plastik besitzen, welche sich nicht an Theorie und Verstand, sondern an Phantasie und Gefühl wendet.“ Vgl. auch WdR 211. 627 Dazu s. u. Kap. 3.3. 628 Vgl. BPJG 16: „Um eines Hauptes Länge und mehr noch ragt seine Gestalt [sc. das Bild Jesu] über allen Großen, die auf dem Wege der Religion das Menschengeschlecht aufwärts geführt haben.“



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des Christentums, dass „gleich in den ersten Anfängen in unsern Evangelien ein Personenbild Jesu von Nazareth gezeichnet, seine Worte und Parabeln gesammelt wurden.“629 Diese Plastizität bei gleichzeitiger Variabilität des in den Evangelien entworfenen Lebensbildes der Person Jesu hat das Christentum zur „siegenden Religion“630 gemacht, da es sich in diesem unerschöpflichen Bild viele fremde Stoffe ‚amalgamieren‘ konnte.631 An dieser Stelle hat dann auch die historisch-kritische Forschung einen theologischen Mehrwert jenseits der bloßen, auf historisches Begreifen des eigenen Standortes zielenden Rekonstruktion der Christentumsgeschichte. Zwar verbleibt sie prinzipiell in Distanz zur Selbstgewissheit des Glaubens – sie vermag ihn weder zu stützen noch anzufechten –, aber ihr kommt eine produktive Funktion in der Bearbeitung der Symbolbestände zu.632 Denn durch die Überlieferungskritik arbeitet sie sich am tradierten Christussymbol ab und legt dieses auf das ihm eigentümliche persönliche Leben der Person Jesu frei – ohne freilich dabei an ein Ende gelangen zu können, noch den historischen Jesus hinter der Gemeindedogmatik sicher erreichen zu können. Der historische Jesus wird also nicht als solcher wiedergewonnen, aber das Bild vom persönlichen Leben Jesu wird durch die Überlieferungskritik immer mehr von der dogmatischen Überformung befreit. Die produktive Funktion der historisch-kritischen Exegese hält sich demnach in engen Grenzen. Sie bildet aber die propädeutische Voraussetzung, auf Grundlage derer am Symbol weitergearbeitet werden kann. Ausgeführt findet man dieses Anliegen beispielsweise in Boussets kleineren Schriften Jesus und Was wissen wir von Jesus?. Bousset konturiert hier – dabei die historische Forschung voraussetzend – das Symbol der Person Jesu so, wie es ihm vor dem Hintergrund der historischen Kritik möglich erscheint. Neben dem Symbol eines persönlichen Lebens sind es aber noch konkrete Inhalte, die nach Bousset das Christussymbol aus den religiösen Symbolwelten aussondert. Denn die Verbindung des ethischen Anspruchs mit der Überweltlichkeit der Erlösungsreligionen, die im Bild Jesu repräsentiert wird, lässt sich in der Religionsgeschichte andernorts nicht antreffen. Erst sie qualifiziert das Symbol von Leben der Person Jesu als höchstes Symbol der Religionsgeschichte. Nicht dass Bousset meint, methodisch valide zuordnen zu können, ob diese inhaltliche Bestimmtheit des Symbols auf den historischen Jesus – womit er, wie oben gezeigt, in der Nähe Troeltschs stünde – oder auf die das Christusbild produzierende Gemeinde zurückgeht. Auf diese historische Unterscheidungsleistung verzichten zu können, ist ja gerade Boussets theologisches Motiv hinsichtlich seines Rückgriffs auf den Symbolbegriff. Dass im Christusbild bestimmte ‚Ewigkeitswerte‘ enthalten sind, ist für ihn 629 JdH 92. 630 JdH 93. 631 Vgl. hierzu Kap. 4.1. 632 Vgl. Berger, Exegese, 121: „Die Erforschung des Letzteren [sc. des Symbols] ist die Aufgabe der religionsgeschichtlichen Forschung.“

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ebenso unstrittig wie für Troeltsch, nur verzichtet Bousset auf eine historische Rückbindung, die ihm in methodischer Hinsicht immer weniger sicher erscheint. In einen bloßen Subjektivismus löst Bousset das Christusbild allerdings auch nicht auf. Vielmehr gilt in ‚geschichtsphilosophischer‘ Hinsicht, dass mit der großen religiösen Persönlichkeit Jesus von Nazareth bestimmte Gehalte in das Zentrum der Religion gerückt wurden, die nun bei der Bearbeitung des Christusbildes durch den Glauben bewusst oder unbewusst den Maßstab bilden633; historisch sind die Geltung beanspruchenden Gehalte wiederum nicht von den zeitgebundenen Vorstellungen zu isolieren.634 Das historisch-geschichtsphilosophische Element, wie es beispielhaft in Boussets Wesensbestimmung des Christentums zum Ausdruck kommt,635 besteht eher darin, dass die Generationen der Gläubigen bis in die Gegenwart aus dem Christusbild immer mehr die ewigen Gehalte aus der historischen Individualität der Person Jesu herausholen, sodass das Allgemeingültige immer mehr ins Zentrum des Christusbildes rückt.

2.2.4 Zwischenfazit Mit seiner neufriesianischen Reformulierung des für die höheren Religionen konstitutiven Geschichtsbezugs meint Bousset bestimmte theologische Anliegen besser einholen zu können als andere ‚liberale‘ Theologien – mit denen er ja jene Anliegen prinzipiell teilt –, die den religionsphilosophischen Rekurs auf selbstgewisse religiöse Ideen ablehnen. Durch den Rückgriff auf den Symbolbegriff erhofft sich Bousset nun eine epistemologisch belastbare Unabhängigkeit vom Verlauf der Geschichtsforschung. Hierin unterscheidet er sich wiederum von Troeltsch, der die Unabhängigkeit von der historischen Forschung für eine theologische Immunisierungsfigur hält, die letztlich schon aus der Perspektive des Glaubens hinfällig ist, denn der Glaube will wissen, ob das Bild seiner Entstehung einen Anhalt in einem gelebten Leben hat. Diesen Weg geht Bousset, wie gezeigt, nicht mit, da er unter allen Umständen die Unabhängigkeit des Glaubens vom Gang der Wissenschaft festhalten will. Dass dann die Existenz des Religionsstifters Jesus von Nazareth nicht wirksam gegen einen Mythos-Verdacht geschützt werden kann, nimmt Bousset billigend in Kauf. Auch dass es womöglich ein nicht weiter aufhellbarer, histori633 Vgl. RuG 33: „Vielleicht gewannen wir diese allgemeinen Maßstäbe am Evangelium Jesu und der Berührung mit seiner Person, das heisst, wir wurden durch jene empirische Beobachtung [sc. des Evangeliums] auf sie zurückgeführt. Nun gelten sie in sich, nicht auf Grund der Autorität der historischen Erscheinung, an der wir sie gewannen.“ Vgl. auch ebd. 22: „Ja, oft können wir beobachten, dass sie in ihrer individuellen historischen Einzelerscheinungen an Massen und Massstäben gemessen werden, die sie [sc. die großen religiösen Persönlichkeiten] selbst in unbewusster Intuition geschaffen, und die nun das nachfolgende Menschengeschlecht in bewusster Klarheit sich aneignet.“ 634 Vgl. RuG 33. 635 Vgl. Kap. 4.



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scher Zufall war, dass sich das Christussymbol bilden konnte – ein direkter Zusammenhang mit dem historischen Jesus ist ja exakt-historisch nicht mehr rekonstruierbar –, stellt für Bousset die Verwendung des Symbolbegriffs nicht in Frage. Denn hinsichtlich der religiösen Bedeutung kommt es ohnehin allein auf das Symbol selbst an. Religionshermeneutisch lässt sich nach Bousset das Christussymbol als höchstes Symbol feststellen. Denn diesem eignet dadurch, dass es ein persönliches Leben symbolisiert, einerseits eine unendliche Konkretheit und andererseits eine unendliche Vieldeutigkeit, sodass es plurale Inanspruchnahmen christlich-religiöser Praxis ermöglicht. Dass dies wiederum nicht in Beliebigkeit umschlägt, versucht Bousset mit seinem historisch-geschichtsphilosophischen Gedanken einzuhegen, dass der Glaube die religiös geltenden Bestandteile des Christussymbols intuitiv identifiziert und sie zu einem neuen Christusbild synthetisiert. Als Medium der Selbstdeutung erschließt dieses aktualisierte Christusbild die erlebte Wirklichkeit des Glaubens besser als überkommene dogmatisch fixierte Christusbilder. Bousset löst also das Christussymbol vom historischen Jesus ab.636 Mit einigem Recht weist Albert Schweitzer in seiner bündigen Darstellung von Boussets Vortrag auf gewisse Nähen zwischen dessen Theorieanlage und Drews’ theologischem Programm einer Depotenzierung der Person Jesu hin.637 In der Tat finden sich Aussagen in seinem Briefwechsel mit Paul Wernle, die diese Konsequenz offen bezeugen.638 Und letztlich lagen jene auch in der Fluchtlinie seines neu636 Auch Jan Rohls lässt Boussets Programm in dem Auseinandertreten von Symbol und historischem Jesus gipfeln, das in Rohls theologiegeschichtlicher Konstruktion dann gleichzeitig mit Troeltschs sozialpsychologischer Reformulierung den Endpunkt der christologischen Debatten des 19. Jahrhunderts um das Verhältnis von christlichem Prinzip und Person Jesu markiert (vgl. Rohls, Vorbild, 240f). Boussets christologisches Denken lässt sich ferner gemäß Folkert Wittekinds Darstellung der Problemgeschichte der Christologie zwanglos an die Seite der antihistorischen Entkoppelung der Christologie vom historischen Jesus am Anfang des 20. Jahrhunderts stellen, vgl. ders., Christologie, 23: „Nicht die Geschichte in der Form eines bestimmten historischen Gehalts, sondern die Selbsterkenntnis des Glaubens, selbst eine geschichtliche Bewegung zu sein, begründet den bleibenden Bezug auf den Stifter. Das bedeutet, die Funktion des Bezugs auf den geschichtlichen Jesus verändert sich. Er ist nicht mehr geschichtlicher Grund des Glaubens, sondern Bild der Geschichtlichkeit des Glaubens. […] Nicht vom historischen Jesus aus gibt es einen Zugang zu Gott, sondern der christliche Gottesglaube enthält in sich ein Bild seiner eigenen Geschichte, das sich notwendig auf Jesus Christus bezieht.“ 637 Vgl. Schweitzer, Geschichte, 523 Anm. 19. Bousset sehe nicht, dass er mit seiner Aufhebung des historischen Jesus in ein Symbol „von der ‚Persönlichkeit‘ so gut wie nichts behält“, denn: „[s]ymbolische Schöpfungen haben keine Persönlichkeit.“ 638 Vgl. den Brief an Paul Wernle vom 19.10.1910 (Özen 181): „Ich habe aber schon in dem Buch [sc. Unser Gottesglaube] mit starker Absichtlichkeit die Beziehung auf die Person Jesu ganz in den Hintergrund treten lassen. Ich kann in diesem Buch so ziemlich alles noch heute unterschreiben. Ich würde manches anders begründen, aber das ganze doch noch ebenso sagen.“ Wernle zeigt schon früh ein Gespür für Boussets geltungstheoretische Abkehr von der Person Jesu: „Aber wenn ich dich recht verstehe, willst du dann die schönen Sachen, welche sich um diesen Kult gruppierten, möglichst loslösen von der Person Jesu und führtst [sic!] die Ablehnung der ganzen Christologie bis zu dem Punkt durch, daß Du die Religion der Gegenwart überhaupt möglichst von der Person Jesu loslösen und auf sich selbst stellen willst. [...] Es steht, so viel ich sehe,

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friesianischen Programms, mit welchem er schließlich den Glauben aus allen geschichtlichen Abhängigkeitsverhältnissen einschließlich der Person Jesu herausführen wollte. Allerdings bedeutet dies nicht – wie Kap. 4 noch zeigen wird –, dass Bousset die Person Jesu als historisches Individuum unbeachtet lässt, vielmehr findet die praktische Auseinandersetzung mit der Rückfrage nach dem historischen Jesus nun in der geschichtsphilosophischen Disziplin der Wesensbestimmung des Christentums statt; für die Geltungsfrage hat der Rekurs auf den historischen Jesus unter den Bedingungen des modernen Denkens jedoch jegliche Plausibilität verloren. Die Beziehung des Glaubens auf seine Geschichte wird also von Bousset religionspsychologisch begründet. Die Überlieferung der Religionsgemeinschaft vertieft das religiöse Erleben und hilft, sich selber als christlicher Glaube zu verstehen, sodass am Ende eine autonome Überzeugung das Verhältnis zur Geschichte bestimmt. Geschichte hat damit nur mehr „eine symbolisch pädagogische, aber keine prinzipiell grundlegende Bedeutung für jene Überzeugungen.“639

2.2.5 ‚Praktische‘ und ‚intellektuelle‘ Gewissheit Bousset hat also den Geschichtsbezug des Glaubens, den Troeltsch in seinem RGGArtikel in die Signatur des christlichen Glaubens einschreibt, für die Auflösung des Problems ‚Glaube und Geschichte‘ ebenfalls als unhintergehbar markiert. Nur hat er offenbar – verglichen mit Troeltsch – nachdrücklicher das Problem empfunden, dass ein aufgeklärter religiöser Glaube, der um die Abgründigkeit des historischen Bewusstseins weiß und an dessen wesensmäßigem Relativismus und Skeptizismus in vollem Umfang partizipiert, durch den bloßen Rekurs auf die Geschichte seine Gewissheit in einem sekundären Reflexionsgang nicht mehr wird stabilisieren können. So schreibt er 1910 an Paul Wernle: Der Hauptpunkt unseres Streites bleibt die Frage nach der Gewissheit und der Vergewisserung unseres Glaubens. Und hier finde ich, haben wir nicht genügend unterschieden zwischen intellektueller und praktischer Gewissheit. Die Fragen: wie werde ich meines Glaubens praktisch gewiss – und wie komme ich über den in mir vorhandenen Glauben zur intellektuellen Klarheit – sind völlig von einander zu trennen. [...] Mir handelt es sich hier um die Frage der nachträglichen intellektuellen Vergewisserung. Du magst sagen, dass Dich diese Frage herzlich kalt lässt. Aber ich meine, dass wenn man sich einmal auf diese einlässt, man sie dann auf dem Wege des Wissens behandeln muss, und nicht wieder anfängt zu predigen.640 bei Dir alles in einem inneren Zusammenhang: die immer stärkere Geringschätzung der Geschichte in ihrem Wert für die Religion und das Suchen nach einer festen rel[igions]phil[osophischen] Begründung“ (Brief Wernles an Bousset vom 5. September 1909 [Özen 178]). 639 RuG 8 Anm. 1. 640 Brief an Paul Wernle vom 19.10.1910 (Ms 151; Nr. 18); diese Passage blieb in der Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Paul Wernle und Wilhelm Bousset durch Alf Özen unediert. Wernle kann in Boussets religionsphilosophischem Denken nur den Ausdruck einer „verarmte[n]



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Bousset führt also eine theologische Unterscheidung ein, anhand derer er meint, einerseits den Problemen des Historismus entgehen, andererseits die religionspsychologische Bedürfnisstruktur des Glaubens berücksichtigen zu können. Sodann erlaubt ihm die Unterscheidung, zuerst die Bedeutung wie auch den engen Anwendungsbereich der neufriesianischen Religionsphilosophie ausweisen zu können. Denn jener Anwendungsbereich bezieht sich nach Bousset allein auf die Geltungsfrage, ob Religion dem menschlichen Bewusstsein notwendig zu eigen sei.641 Die Geltungsfrage kann wiederum angesichts des in der Moderne unentrinnbaren historischen Bewusstseins nur mehr aufgrund einer erkenntnistheoretischen Bewusstseinsanalyse einer Klärung zugeführt werden, nur hier und eben nicht mehr durch den Rekurs auf eine historische Individualität ist noch Gewissheit zu erlangen. Und gerade jenes Verlangen nach Gewissheit ist nach Bousset konstitutiv für den Glauben, wenn er ‚nachträglich‘ nach seinem Grund fragt. Die neufriesianische Religionsphilosophie hat also nur in diesem eng begrenzten Rahmen ihren Anwendungsbereich, der freilich unter den Bedingungen der Moderne der alleinige Weg ist, jene sekundäre Vergewisserung zu erlangen. „[D]ass es viele Leute giebt, welche die letztere Frage [sc. die geltungstheoretische Frage nach intellektueller Gewissheit] gar nicht interessiert“642, da deren naive Frömmigkeit noch vollständig aus dem tradierten Jesus-Narrativ Gewissheit generieren kann, ist für Bousset damit nicht angetastet. Eine religionsphilosophisch reflektierte Gelehrtenreligion zur allein gültigen Gestalt christlicher Religiosität in der Moderne zu erklären, wie Wernle ihm mit seinem oben zitierten Rationalismus-Verdikt unterzuschieben scheint, will Bousset jedoch gerade nicht. Bousset präzisiert sein Anliegen daher erneut, indem er auf den engen Anwendungsbereich seiner Religionsphilosophie hinweist: „[...] was uns scheidet, [ist] also eine Frage der systematischen Technik, nicht eine Glaubensfrage.“643 Wie Troeltsch meint also auch Bousset, dass sich Frömmigkeit unter den Bedingungen der Moderne nicht – gleich einem Eskapismus – den Anfragen des historischen Bewusstseins entziehen kann. Denn auch in Boussets Gegenwartsdiagnose dominiert der Historismus nicht nur als wissenschaftstheoretisches Leitparadigma, sondern ist die Grundsignatur modernen Denkens schlechthin.644 Eine christliche Frömmigkeit, die keinen Sprung im Wahrheitsbewusstsein als notwendig gegeben hinnehmen möchte, kann also gar nicht anders, als sich auf einen historisch-kritischen Zugang zur eigenen Überlieferung einzulassen. Nur vermag Bousset – anders als Troeltsch – nicht, den gebildeten Christen, die diesen überlieferungskritischen Frömmigkeit“ der Epigonen des Rationalismus erkennen, die meint, ohne Bezug auf die Person Jesu auszukommen. 641 Mit der neufriesianischen Erkenntnistheorie meint Bousset lediglich „den festen Punkt“ gefunden zu haben, von dem aus nun „unsere theologischen Bemühungen um einen festeren Aufriss der Systematik einzusetzen haben“ (ebd.). 642 Brief an Paul Wernle vom 19.10.1910 (Ms 151; Nr. 18). 643 Brief an Paul Wernle vom 19.10.10 (Ms 151; Nr. 18). 644 Vgl. nur BPJG 5f.

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Zugang der modernen Theologie durchaus wahrnehmen,645 diese auf Dauer gestellte Irritation durch die historische Forschung zuzumuten. Zum einen meint er, dass der Glaube diese methodisch indizierte Unsicherheit in den Urteilen historisch-kritischer Forschung nicht ertragen kann, da es dem Glauben stets um Gewissheit, insbesondere in der nachgängigen Reflexion, zu tun ist. Zum anderen erkennt Bousset – ebenfalls anders als Troeltsch – die nach seinem Dafürhalten nicht mehr sistierbare Unsicherheit hinsichtlich der Rekonstruktion der religiösen Persönlichkeit Jesu, die vollständig hinter der Gemeindedogmatik verschwindet, da sie nicht mehr methodisch kontrolliert erreichbar scheint. Ist also die für den Glauben konstitutive Frage nach der intellektuellen Rechenschaft über den Grund der christlichen Gewissheit einmal erwacht, so muss sie eben auch ‚auf dem Wege des Wissens‘, also unter den Bedingungen modernen Denkens, ihre Antwort finden. Da nun eine historische Rechenschaft über den Grund des Glaubens nicht über ein Wahrscheinlichkeitsurteil hinauskommen kann, bleibt nur noch die als Aufgabe der Theologie markierte Begründung der Religion im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Bewusstseinsanalyse. Denn die Pointe jener Unterscheidung zwischen ‚intellektueller‘ und ‚praktischer‘ Gewissheit besteht ja gerade darin, dass sie der neufriesianischen Religionsphilosophie eben nur das Vermögen einer reflexiven Vergewisserung des Glaubens zubilligt. Der Glaube muss sich vielmehr schon zuvor unverfügbar im Rahmen religiöser Sozialisation eingestellt haben – durch den bewusstseinstheoretischen Aufweis der religiösen Ideen in der ‚Gesamt-Vernunft‘ ist er jedenfalls nicht ‚andemonstrierbar‘646. Geweckt wird der Glaube vielmehr vor aller Reflexion durch den Eindruck besonderer Persönlichkeiten der religiösen Gegenwart, deren Religiosität freilich durch bestimmte tradierte Symbolbestände geprägt ist – für jene ‚praktische Gewissheit‘ ist die Geschichte also von immenser Bedeutung und für den individuellen und überindividuellen religiösen Vollzug kaum aufhebbar: „Will ich mich praktisch meines Glaubens vergewissern, so weiss ich natürlich, dass mir alles Besinnen auf Jdeen [sic!] gar nicht viel nützt, und dass lebendiges Leben nur von lebendigen Personen überfliesst. Und hier hat dann auch die Person Jesu ihre Stellung.“647 Mit dem Begriff einer ‚praktischen Gewissheit‘ holt Bousset also die religionspsychologisch erkannte Bedürfnisstruktur des Glaubens ein; ohne die in der Geschichte geprägten und weiterentwickelten Symbole kann der Glaube sich weder über sich selbst aufklären, noch eine feste religiöse Lebensposition gewinnen. Insbesondere das große Symbol vom Leben der Person Jesu vermag dem Glauben eine religiöse Stellung zur Wirklichkeit zu vermitteln, die weltindifferente Erlösungsgewissheit mit unbedingtem Anspruch zur Weltgestaltung in sich schließt. In dem Begriffspaar ‚praktische und intellektuelle Gewissheit‘ zeigt sich kaleidoskopartig die theologische Entwicklung, die Bousset seit seiner Hinwendung zum Neufriesi645 Vgl. RuG 8 Anm. 1. 646 Vgl. BPJG 12. 647 Brief an Paul Wernle vom 19.10.1910 (Ms 151; Nr. 18).



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anismus nahm. Meinte Bousset in seiner Anfangszeit noch den ‚religionswissenschaftlichen Beweis‘648 für die reflexive Vergewisserung fruchtbar machen zu können, so wird er – analog zur voranschreitenden historischen Kritik an der Erreichbarkeit des historischen Jesus – hinsichtlich dieser Funktion der Geschichte für den Glauben immer zurückhaltender und zieht sich ungefähr bis 1909 auf die praktische Gewissheit bzw. die „naive Absolutheit“649, wie Troeltsch sich ausdrückt, zurück, die keines sekundär herbeigeführten Beweises bedarf.650 Dass seit seinem Bekanntwerden mit der neufriesianischen Religionsphilosophie Bousset endlich, wie er gegenüber Paul Wernle gesteht651, ein Instrument gefunden zu haben meint, das dem Glauben abseits der Geschichte seinen Grund geben kann, zeigt, dass Bousset es schon immer als eine Kernaufgabe der Theologie aufgefasst hat, dem Glauben Gründe für seine Existenz an die Hand zu geben, die auch unter den Bedingungen der Moderne ihre Überzeugungskraft nicht verlieren. Mit dem Neufriesianismus hat er nun endlich das religionsphilosophische Paradigma gefunden, aufgrund dessen der Glaube sich ohne Rückgriff auf die Geschichte selbst Gewissheit geben kann, weder Epiphänomen des menschlichen Geistes noch bloße Illusion zu sein.

2.2.6 Rationales und Irrationales in der christlichen Religion – die Kontroverse mit Ernst Troeltsch um die Bedeutung des Kultes für die christliche Religion Als Bousset 1912 in Groningen den Vortrag Religion und Geschichte hielt, lag schon eine längere Phase eines intensiven Austauschs mit seinem Studienfreund Ernst Troeltsch zu jenem Problemkomplex ‚Religion und Geschichte‘ hinter ihm. Sowohl Troeltsch, dessen Vortag vor der Aarauer Studentenkonferenz 1911 ganz offensichtlich eine „enge Verbindung“652 zu Boussets Berliner Vortrag von 1910 aufweist, als auch Bousset nehmen in ihren jeweiligen Publikationen zum Thema direkt oder indirekt aufeinander Bezug. Bousset bezieht sich sogar ganz explizit auf Troeltsch, indem er dessen Programm eines immanenten Rationalismus einer eingehenden Kritik unterzieht,653 was ja gleichzeitig auch Selbstkritik impliziert654, denn ehe sich 648 Vgl. nur PJGJ 8 Anm. 1. 649 Vgl. Troeltsch, Absolutheit, 212. 650 Vgl. Kap. 1.5. 651 Brief an Paul Wernle vom 19.10.1910 (Ms 151, Nr. 18). 652 Rendtorff, Bericht, 815. 653 Dazu s. o. Seite 98f. 654 Zur nicht weiter von Bousset markierten Selbstkritik vgl. Murrmann-Kahl, Heilsgeschichte, 421: „Während Troeltsch und Bousset zunächst davon ausgingen, daß die Gegenwartsgeltung des Christentums durch historische Rekonstruktion garantiert werden könnte, zeichnet sich mit der Auflösung Jesu ins Symbol um 1910 die Erkenntnis ab, daß die Geschichte keineswegs die erhoffte Geltung verbürgen könnte.“

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Bousset dem Neufriesianismus zuwandte, fühlte er sich Troeltschs theologischem Programm als Ganzem noch zugehörig.655 Auch Troeltsch zeichnet, ohne dies explizit zu kennzeichnen, Boussets Position in das Tableau moderner Lösungsstrategien des Problems ‚Glaube und Geschichte‘ ein. Bousset habe mit der an die Aufklärung anschließenden neuprotestantischen Tradition, insbesondere der linken „Hegel’schen Schule“, nur mehr „eine rein historisch-faktische und eine pädagogisch-symbolische Bedeutung“656 der Person Jesu von Nazareth zugestehen können. Als Grundüberzeugung jenes neuprotestantischen Lösungsweges kann laut Troeltsch markiert werden, dass „[…] der religiöse Glaube zwar aus der Geschichte erwächst, aber nicht in seiner inneren Wahrheit und Geltung auf sie begründet ist.“657 Und in der Tat trifft Troeltsch hier, wie aus der obigen Rekonstruktion seiner Position hervorgeht, einige wesentliche Anliegen der Theologie Wilhelm Boussets. Eine, wie Troeltsch weiter formuliert, „im Wesen der christlichen Idee unabänderlich und ewig eingeschlossene“658 Beziehung des christlichen Glaubens auf die Person Jesu, wie Bousset und Troeltsch sie in der Ritschlschen Schule bzw. dem ‚Schleiermacher-Ritschl-Herrmannschen Vermittlungstypus‘ eingelöst sahen, liegt also zumindest in der theologischen Reflexion kaum in der Fluchtrichtung jener theologiegeschichtlich gewichtigen Sistierungsversuche des Zentralproblems ‚Glaube und Geschichte‘, denen Troeltsch eben auch Boussets oben rekonstruierten Ansatz und offenkundig auch sich selbst zuordnet.659 Beide, insbesondere Bousset, entwickeln ihre Verhältnisbestimmung von Religion und Geschichte durch Abarbeiten an der Position des anderen und durch Offenlegen der darin enthaltenen Aporien einer ‚historischen‘ Bewältigung jenes zeitgenössisch virulenten Problems. Stellt man nun beide Positionen zur wechselseitigen Konturierung einander gegenüber, so gerät zunächst das gemeinsame Selbstunterscheidungsbestreben vom Ritschlianismus ihrer Lehrer als gemeinsames theologiepolitisches Ansinnen in den Blick, das in der Überzeugung zu stehen kommt, dass jene neuprotestantische ‚Mischform‘ mit Voraussetzungen arbeitet, die für den modernen Menschen „nichts weniger als einleuchtend und selbstverständlich [sind].“660 Zwar wird durchaus von 655 Vgl. nur das Ende von Boussets Wellhausen-Rezension (ders., Evangelienkritik, 50f). 656 Troeltsch, Bedeutung, 834. 657 Troeltsch, Bedeutung, 826. 658 Troeltsch, Bedeutung, 832. 659 Vgl. nur den Brief Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 2. Februar 1912 (Graf 501): „Ein esoterisches Christentum meine ich damit nicht zu lehren, da ich mein eigenes nur als Spiritualisierung u[nd] Sublimierung der historischen Gemeinschaftskräfte denke u[nd] auch selbst den Anschluß an sie bedarf. Ein bischen [sic!] esoterisch ist übrigens jeder gebildete u[nd] selbständige Mensch.“ 660 Troeltsch, Bedeutung, 829. Allerdings bekennt sich Troeltsch offen zu den elementaren Schnittmengen mit der Ritschlschen Schule. Innerhalb der vielgestaltigen Strömungen der protestantischen Theologie am Anfang des 20. Jahrhunderts wollen Troeltsch, aber auch Bousset bestimmte Nähen zum Ritschlianismus gerade nicht in Abrede stellen, damit diese liberale Strömung in theologiepolitischer Hinsicht, u. a. hinsichtlich der Lehrstuhlbesetzung, nicht noch mehr an Bedeutung verliert. Dass es Schnittmengen gibt, ist „mehr als Schein. Es ist wirklich so. Die



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beiden, Troeltsch wie Bousset, gewürdigt, dass jener ‚Vermittlungstyp‘ die Einsicht in den „Grundwandel, den das Christentum in der modernen Welt vollzogen hat, die Verwandelung des in einem geschichtlichen Akt bewirkten realen Erlösungswunders in die immer neue Erlösung durch die Glaubenserkenntnis Gottes“661, teilt; nichtsdestotrotz kann eben der Versuch einer – wie Bousset es nennt – ‚Fundamentierung der Religion in der Geschichte‘, wie sie oben dargestellt wurde, und der damit verknüpfte Optimismus, „daß die religiöse Persönlichkeit des geschichtlichen Jesus zu einer vollen, klaren Erkennbarkeit und zu einer unmittelbaren Wirkung gebracht werden kann, wie der unmittelbare ergreifende Einfluß von Mensch zu Mensch“662, als gescheitert gelten. Denn laut Bousset und Troeltsch kann er weder mit dem modernen Denken koexistieren noch die Hypothesen der kritischen Bibelwissenschaft ertragen, die jene ‚Unmittelbarkeit‘ unmöglich macht. Denn die ritschlianische Lehre von der Person Jesu Christi, dem Christozentrismus und der Unkräftigkeit des außerchristlichen religiösen Lebens – als „Ablassung des alten Erbsünden- und des alten Erlösungsgedankens“663 –, wird von Troeltsch wie auch von Bousset als „innere[r] Widerspruch“664 zum modernen Denken angesehen; dies sei recht eigentlich „das dem ganzen heutigen Denken Unerträgliche.“665 Dass man so zwar gewisse „Annährungsmöglichkeiten an die alte Lehre [sc. der Reformatoren]“666 hatte, wird von beiden zugestanden und erklärt zumindest den Popularitätsgrad der Ritschlschen Schule innerhalb der evangelischen Theologie. Allerdings zeige die spiritualistische „Gegenströmung“ gerade der „Laien- und Nicht-Theologen“667 vor allem in den gebildeten Schichten, dass diese Vereinnahmung der biblischen Offenbarungsgeschichte bis hin zur „Verabsolutierung unseres zufälligen Lebenskreises“668 den Menschen unter den Bedingungen der Moderne kaum mehr plausibel ist. Troeltsch hat wohl auch u. a. Boussets neufriesianische Position vor Augen, wenn er jenen ‚antihistorischen‘ Eskapismus, zu dem der Ergebnisse für die praktische Verkündigung sind einigermaßen ähnlich. Und auch der wichtige Gedanke eines Haltes für die religiöse Subjektivität an der noch spürbaren religiösen Größe und Kraft einer wirklichen Persönlichkeit ist von hier aus in seiner vollen Bedeutung erkannt“ (ebd. 845). 661 Troeltsch, Bedeutung, 827. Dass Bousset die Ritschlsche Schule und deren Umkreis und die Traditionslinie, in der sie steht, als Umfomungsversuch der christlichen Religion angesichts der sich verändernden Bedingungen von Neuzeit und Moderne begreift, geht aus BPJG hinreichend hervor und ist allein schon vor dem Hintergrund plausibel, dass Bousset sich selbst in jungen Jahren in einem hohen Maße jener Schultheologie verpflichtet gefühlt hat. 662 Troeltsch, Bedeutung, 829; die Beziehung zu Jesus sei doch „keine Berührung von Mensch zu Mensch und [es] muß gerade sehr viel Fremdartiges überwunden werden.“ 663 Troeltsch, Bedeutung, 834; vgl. RuG 6. 664 Troeltsch, Bedeutung, 834. 665 Troeltsch, Bedeutung, 834. 666 Troeltsch, Bedeutung, 834; vgl. BPJG 6. 667 Troeltsch, Bedeutung, 830. Zum Personenkreis, den Troeltsch hier vor Augen haben mag, vgl. Einleitung, Seite 26ff. 668 Troeltsch, Bedeutung, 830.

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Ritschlianismus keinen Zugriff mehr erhält, dahingehend beschreibt, dass dieser zwar den historischen Jesus als Symbol des christlichen Glaubens gelten lässt, „[...] aber eine begrifflich notwendige Beziehung der christlichen Idee auf die Persönlichkeit Jesu bei Unzähligen nicht mehr stattfindet.“669 So steht zu befürchten, dass gerade das deutsche Bildungsbürgertum immer mehr in Distanz zum kirchlich verfassten Christentum tritt, das eben als religiöse Gemeinschaft jene geschichtlichen Symbolbestände überliefert. Dieser Tendenz eines atomistischen religiösen Individualismus bzw. einer neureligiösen Konventikelfrömmigkeit wollen freilich beide durch ihre Neubestimmung des Verhältnisses von Glaube und Geschichte entgegenwirken. So verwahrt sich Bousset nachdrücklich in einem Aufsatz zum religiösen Liberalismus und dessen theologiepolitischen Anliegen dagegen, dass es eben jenem darum zu tun sei, das religiöse Subjekt in die Zersplitterung und die Vereinzelung zu führen.670 Maßgeblich für jene modernekritische Zeitdiagnose beider Theologen ist die religionspsychologische wie religionsgeschichtliche Einsicht, „[...] daß das Wesentliche in aller Religion nicht Dogma und Idee, sondern Kultus und Gemeinschaft ist.“671 Sobald Religion sich als Sozialgestalt realisiert, ist sie nur durch eine gemeinsame Kulthandlung lebensfähig. Denn nur wenn ein solcher orientierender „Mittelpunkt“672 gegeben ist, können sich jene pluralistisch verfassten Religionsgemeinschaften zu einer wirklichen, lebenskräftigen Gemeinschaft zusammenschließen. Dass eine Gemeinschaft über einen irgendwie gestalteten Kult miteinander kommunizieren muss, steht also für beide unhinterfragt in Geltung – für Bousset ist dies ein rational einholbarer Bestandteil religiösen Lebens,673 für Troeltsch ein „sozialpsychologisches Gesetz“674. In der Kulthandlung produziert das kommunizierende Subjekt seine symbolischen Vorstellungswelten im Verbund mit dem ‚objektiven Geist‘ der religiösen Überlieferungsgemeinschaft. Der Kultgemeinschaft kommt also die entlastende Funktion zu, das fromme Subjekt davor zu bewahren, alles aus sich selbst heraussetzen zu müssen, wie Troeltsch und Bousset in Abgrenzung zum modernen religiösen Individualismus betonen.675 Zeitdiagnostisch gilt also für beide, dass die – wie Troeltsch formuliert – „Gemeinschafts- und Kultlosigkeit die eigentliche Krankheit des modernen Christentums und der modernen Religiosität überhaupt [ist].“676 669 Troeltsch, Bedeutung, 831. 670 Vgl. RL 37. 671 Vgl. Troeltsch, Bedeutung, 836. 672 S. u. Anm. 692. 673 Vgl. nur RL 37. 674 S. o. Anm. 453. 675 Für Bousset vgl. WdR 268; für Troeltsch, Glaube, passim; ders., Bedeutung, 836: „Die persönliche einsame Andacht und Meditation, die anarchische und zufällige Aeußerung persönlicher Enthusiasmen oder mehr oder minder verstandesmäßige religiöse Lehrvorträge“ bestimmen jene geschichts- und damit kultlosen religiösen Vergemeinschaftungstypen. 676 Troeltsch, Bedeutung, 836.



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Für Bousset wie für Troeltsch steht es umgekehrt also völlig außer Frage, dass auch die Frömmigkeit, die unter den Bedingungen der Moderne praktiziert wird, eines kultischen Mittelpunktes bedarf.677 Damit werden zunächst von beiden die Ergebnisse der rein philologisch ausgerichteten vergleichenden Religionswissenschaft678, auf Grundlage derer Bousset wie Troeltsch die heuristische Perspektive ihrer materialhistorischen Schriften gewannen, nun auch für die Religion der Moderne in Geltung gesetzt. Religion und Kult sind nicht voneinander zu trennen. Freilich nicht in dem Sinn eines „falschen Konservativismus“679 – wie Bousset jenen Ausweg aus der historistischen Geltungskrise bezeichnet –, dass jene bloß religionsgeschichtlich-religionspsychologischen Erkenntnisse als Archaisierung unbesehen Normativitätsansprüche entwickeln, die ihr als historische Individualitäten nicht eignen dürfen.680 Gerade Bousset ist hier ein rationaler Zugriff auf das Phänomen ‚Kult‘ wichtig. Und dies hat Folgen für das Kultverständnis. Denn unter den Bedingungen modernen Denkens, das ja zuerst unter dem Paradigma des Historismus bzw. des Entwicklungsgedankens steht, kann kein Geschehen aus dem Geschichtslauf ausgesondert werden, das, als Höhepunkt der göttlichen Heilsgeschichte einmal geschehen, dann sakramental-dinglich im kultischen Vollzug vermittelt und aktualisiert werde. Dies hat bekanntlich Troeltsch in seiner frühen Programmschrift Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie681 der Religionsgeschichtlichen Schule ins Stammbuch geschrieben, und es steht auch in Boussets neufriesianischer Phase in Geltung, der im Gegenzug gerade jenen supranaturalen Realismus der neutestamentlichen Kulthandlungen – sie wirkten ‚ex opere operato‘ – im Gefolge Heitmüllers682 als konstitutiv für das hellenistische Urchristentum herausgearbeitet hatte.683 Dieses urchristliche Sakramentsverständnis musste einer modernen Frömmigkeit eigentümlich fremd bleiben. Gegen die reli677 Zu Troeltschs Programm eines „kultisch verankerten Spiritualismus“ vgl. Lehmkühler, Bedeutung, 213f, hier kursiv; vgl. auch ebd. 215. Troeltschs religionssoziologische Einsicht in die „Notwendigkeit einer Organisation und eines […] Kultus“ für ein gegenwärtig noch an einem Übermaß des Individualismus leidendes freies Christentum (Troeltsch, Zukunftsmöglichkeiten, 858f) führte letztlich zu seiner „Neubewertung“ des Kultus (vgl. Barth, Mythos, hier 693). 678 Vgl. nur Usener, Mythologie, 20. Zur anglo-amerikanischen Religionsforschung um William Robertson Smith, die Troeltsch, aber auch Bousset bekannt gewesen ist, vgl. kurz Barth, Mythos, 688.691. 679 RL 30. 680 Zu Troeltschs Vorbehalten gegen eine „positivistisch-naturalistischen Denkmustern“ verpflichteten empirisch-psychologische Religionsforschung, die überlieferte Kulthandlungen und deren begründende Mythen „unter der Hand normativ“ setzt, vgl. Barth, Mythos, 691. In diesem entwicklungsgeschichtlichen Modell hebe sich die Religion selber auf, da sie unter den Bedingungen der Moderne unplausibel und archaisch wirke (vgl. ebd. 691 mit Hinweis auf Troeltsch, Religionsphilosophie, 466; vgl. dazu auch Drescher, Troeltsch, 315f). 681 Troeltsch, Methode, passim. 682 Vgl. Heitmüller, Taufe, 69; hierzu vgl. Lehmkühler, Kultus, 238–243. 683 Troeltsch scheint hier doch hinsichtlich des Kulthandelns im Urchristentum deutlich zu differenzieren. Dazu s. u.

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gionswissenschaftliche These der Animismusforschung, dass Religion immer an ein bestimmtes ritualisiertes Handeln gebunden sei und ohne dieses nicht existent sei, wendet Troeltsch wiederum ein, dass „auf dem Boden einer geistig-ethischen Religion ja nicht Riten und Zauber“684 das kultische Geschehen bestimmen. Dies markiert dann – zumindest für Bousset – gleichsam den Abstand zum Urchristentum, denn gerade dieses unterlaufe ja in seiner Rekonstruktion – zumindest in der Masse – den Kult der höheren Geist- und Persönlichkeitsreligionen, deren Wesen gerade darin bestand, zuerst auf alle „materiellen Dinge in der Religion“685 verzichten zu können, durch die das einmalige Heilsgeschehen aktualisiert wird. Das Kultverständnis muss sich also auf den höheren Stufen der Religionsgeschichte ändern. Im Hintergrund steht hierbei die Beobachtung der oben beschriebenen fundamentalen Umwandlung der christlichen Soteriologie von einem heilsgeschichtlichen Verständnis der Erlösung zu einem Erlösungsverständnis, das Erlösung je von neuem im Glauben an Gott begreiflich machen will.686 Jenes tief gewandelte neuzeitliche Christentum praktiziert freilich keine kultische Vergegenwärtigung bestimmter Heilsereignisse mittels ‚Riten und Zauber‘, sondern nur eine „Vergegenwärtigung eines geistigen Besitzes.“687 Sind bis hier die Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Notwendigkeit und der Umwandlung des Kultus für die christliche Religion in der Moderne zwischen Bousset und Troeltsch beschrieben, so brechen an dieser Stelle gleichzeitig auch bedeutende theologische Unterschiede auf, die Bousset dazu nötigen, in seinem Groninger Vortrag in Auseinandersetzung mit Troeltschs Thesen einer „Spezialfrage“688 des Pro­ blemkomplexes ‚Glaube und Geschichte‘ nachzugehen, die beide theologische Entwürfe pointiert unterscheidet. Denn waren sich Bousset und Troeltsch noch hinsichtlich der unhintergehbaren Faktizität des Kultus für jede geschichtliche Religion einig, so gingen sie hinsichtlich der konkreten Form des Kultes ihrer neuprotestantischen Frömmigkeit unterschiedliche Wege. In dem kurzen Referat von Troeltschs Aarauer Vortrag führt Bousset dessen Position als eine bewusste Alternative zu den bisherigen Versuchen der Ritschlschen Schule ein, eine „Geltung der Person Jesu“ auf Grundlage einer „rein historisierenden Begründung“689 einzuholen. Demgegenüber versuche Troeltsch auf „neue eigentümliche Weise“, eine geltungstheoretische Reformulierung der Bedeutung der 684 Troeltsch, Bedeutung, 835. Diese Beobachtung geht auf den Aufsatz von Roderich Barth zurück (Mythos und Kultus, 688f), der auf die „methodische[] Aufwertung der Rituale“ (ebd. 688) in der Religionswissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts hinweist. Barth verweist hier auf die Forschungen William Robertson Smiths, James George Frazer und Jane Ellen Harrison (ebd.). 685 WdR 221. 686 Für Bousset vgl. nur UG 48. 687 Troeltsch, Bedeutung, 835f; vgl. ders., Glaubenslehre, 82. 688 RuG 35. Dieser Beobachtung, „[...] daß die beiden Freunde in der Beurteilung des Kultus und seiner historischen Grundlage getrennte Wege gehen würden“, geht auch Lehmkühler in seinem Aufsatz nach (ders., Bedeutung, 216f). 689 RuG 35.



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Person Jesu für die christliche Religion zu gewinnen, die über die „bloss tatsächliche historische und symbolisch pädagogische“690 hinausweist. Denn gegenüber einer solchen von Troeltsch selbst klassifizierten, dezidiert neuprotestantischen Fassung des Problems ‚Glaube und Geschichte‘, will dieser sich nach Bousset ferner darin unterscheiden, dass er die Beziehung einer Religionsgemeinschaft auf die eigene Geschichte als eine Notwendigkeit begreift. Jenes sozialpsychologische Gesetz ist laut Troeltsch nämlich dadurch gekennzeichnet, dass es eine „Eigentümlichkeit des Menschentums“691 ist. Nach Troeltsch ist also ein anthropologisches Universale, dass „nirgends auf Dauer lediglich parallel empfindende und denkende Individuen […], ohne Wechselwirkung und Zusammenhang nebeneinander bestehen können, sondern daß sich aus den tausendfachen Beziehungen überall Gemeinschaftskreise mit Ueber- und Unterordnungen erzeugen, die sämtlich eines konkreten Mittelpunktes bedürfen.“692 Troeltsch erkennt in diesem Grundvollzug im Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft sogar letztlich das eigentliche „Motiv“693 für die christologische Zentrierung des ‚Schleiermacher-Ritschl-Herrmannschen Vermittlungstypus‘. Darin sind Troeltsch und die Ritschlianer also gar nicht weit voneinander entfernt. Dass dann die „dogmatische Begründung“694 mit einigen Schwierigkeiten belastet ist, ist oben gezeigt worden. Bousset ist das hingegen zu wenig. Das Argument, es gäbe ein sozialpsychologisches Gesetz, dass das „rätselhafte[] Verhältnis von Einzelwesen und Gemeinschaft“695 als anthropologisch gegeben begründet, klassifiziert er als ein letztlich empirisches Argument696, das daher geltungstheoretisch auch nicht verfängt. Und in der Tat konzediert Troeltsch, dass jene sozialpsychologisch begründete „Verbindung der christlichen Idee mit der Zentralstellung Christi in Kult und Lehre [...] keine begriffliche aus dem Begriff des Heils folgende Notwendigkeit [ist]“.697 Sie ist eben rein funktional bestimmt. Auch hinsichtlich des „Stärkungsbedürfnis der durchschnittlichen Frömmigkeit“, dem religionspsychologischen Argument – dem Troeltsch und Bousset hinsichtlich der Verhältnisbestimmung des Problems ‚Glaube und Geschichte‘ eine erhöhte Bedeutung beimessen –, schränkt Troeltsch ein, dass dazu die Person Jesu nicht gebraucht werde, da mit dieser – erschwert durch die historische Forschung – „[...] ein wirklicher Verkehr ja gar nicht möglich ist“698. Sie ist allein sozialpsychologisch „[…] unentbehrlich, und das mag genügen, 690 RuG 35. 691 Troeltsch, Bedeutung, 845; vgl. auch ebd.: „ein allgemeines Gesetz menschlichen Geisteslebens.“ 692 Troeltsch, Bedeutung, 837. 693 Troeltsch, Bedeutung, 847. 694 Troeltsch, Bedeutung, 847. 695 Troeltsch, Bedeutung, 845. 696 Vgl. RuG 36. 697 Troeltsch, Bedeutung, 839. 698 Troeltsch, Bedeutung, 839; vgl. auch ebd. 822: Angesichts der hermeneutischen Versuche eines „‚richtigen‘ Verständnisses Jesu gegenüber dem einfachen Wortlaut [sc. des Neuen Testa-

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um die Verbindung zu rechtfertigen und zu behaupten.“699 Auf eine Plausibilisierung am Religionsbegriff verzichtet Troeltsch also bewusst. Bousset geht hier einen anderen Weg. Ihm ist es insbesondere darum zu tun, über Troeltsch hinaus den Vergemeinschaftungsdrang religiöser Gemeinschaften als für das Wesen des religiösen Lebens konstitutiv einzuholen. Damit ist für Bousset sodann der „apriorische Satz“ gegeben, dass Religion im Unterschied zu Moral und Kunst einen gemeinsamen Kult ausbilden muss,700 in dem sich die geschichtliche Religion „um ihre Geschichte sammelt.“701 Bis hierher lässt sich also wiederum eine große gemeinsame Schnittmenge zwischen Troeltsch und Bousset nachweisen, die nur um die Akzentverschiebung zu ergänzen ist, dass Troeltsch die Sozialität von Religion und deren Kultpraxis nur mehr sozialpsychologisch zu begründen vermag, während Bousset diese gleichsam als rational herleitbare „Wesensnotwendigkeit“702 der Religion verstanden wissen will. Nachdem sich Bousset in seinem Referat der sozialpsychologisch begründeten Thesen Troeltschs nun der gemeinsamen theologischen Anliegen versichert hat, kommt er sodann zur Kritik eben jener Position, die trotz der geteilten Grundannahmen doch in scheinbar völlig verschiedenen Folgerungen mündet. So sieht Bousset nämlich in der Fluchtlinie der sozialpsychologischen Aufstellungen, die Troeltsch in seinem Aarauer Vortrag vornahm, die konstitutive Verehrung des Stifters im Rahmen des gemeinschaftsstiftenden Kultgeschehens. Und in der Tat lassen sich Belege beibringen, in denen Troeltsch explizit vom Christuskult spricht.703 Wie in den Naturreligionen bestimmte Objekte auf Grundlage von Opfer und Riten verehrt wurden, so sind, so Troeltsch, in den Geistreligionen Propheten und Stifter Gegenstände dieses Kultes – dies habe die Religionsgeschichte hinlänglich gezeigt. Dass nun freilich den Stifterpersönlichkeiten eine besondere Bedeutung innerhalb der gemeinsamen Kulthandlung zukommt, kann Bousset ebenfalls in seine Religionstheorie integrieren, immerhin stiften sie die zentralen Symbole einer Religionsgemeinschaft. Dass sich in den „höheren Religionen […] das religiöse Leben in der Anerkennung eines Führers konzentriert“704, ist also auch nicht Gegenstand der Selbstunterscheidung Boussets von seinem Freund und theologiepolitischen Weggefährten Troeltsch. Dass Troeltsch jedoch, so Boussets Darstellung, meint, aus jements] […] schien ein einfaches religiöses Verhältnis zu ihm [sc. Jesus] kaum mehr möglich […].“ Eine „Berührung von Mensch zu Mensch“ (ebd. 69) scheidet also für Troeltsch schon aufgrund der Fremdheit der Person und der Predigt Jesu aus. 699 Troeltsch, Bedeutung, 839. 700 RuG 38. 701 RuG 39. 702 RuG 38. 703 Bousset scheint sich auf Spitzensätze zu beziehen, wie jenen: „Daher sind alle großen Geist­ religionen religiöse Verehrung ihrer Stifter und Propheten, wie das schon für die religiösen Philosophenschulen des Platonismus, der Stoa und dann später für die christlichen Orden und Sekten gilt“ (Bedeutung, 78). 704 RuG 39.



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nem sozialpsychologischen Beobachtungen einen Geltungsanspruch für zukünftige Gestalten christlicher Frömmigkeit ziehen zu können, überzeugt Bousset keineswegs. Denn es sei doch ein „merkwürdige[s] Ergebnis“, dass dem laut Bousset rein empirischen Argument eines Stifterkultes, das Troeltsch durch die Religionsgeschichte belegt sehe, „eine konstitutive Geltung zukomme [...]“, die „[...] sich aus seiner allgemeinen Betrachtung, also mit apriorischer Notwendigkeit nicht ergibt.“705 Bousset formuliert also einen geltungstheoretischen Einwand gegenüber Troeltschs religionsgeschichtlichen Beobachtungen, die er freilich auch für nicht sonderlich belastbar hält: „Hier aber gewinnt es den Anschein, als kapituliere T[roeltsch] vor der einfachen Tatsächlichkeit eines sozialpsychologischen Gesetzes, ohne auch nur den Versuch zu machen, dieses rational zu behandeln und zu durchdringen.“706 Zwar spricht Troeltsch selbst von einer „inneren Logik der Sache“707 hinsichtlich der kultischen Verehrung Jesu Christi – sie scheint also ohne weiteres nicht einfach aufgegeben werden zu können –, doch reicht das Bousset s. E. nicht aus, um explizit einen Christuskult für die moderne christliche Religion zu repristinieren. Dass nun aber auch ein Christentum unter den Bedingungen der Moderne nur in der „Form des Christuskultus“708 existieren könnte, wie Bousset Troeltschs Entwurf einer christlichen Zukunftsreligion liest, behagt Bousset überhaupt nicht, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass Bousset Troeltschs These einer Christusverehrung nur im Sinne einer gegenständlichen Verehrung eines neuen Gottes zu rezipieren vermag.709 Und tatsächlich: Troeltschs These eines Stifterkultus bleibt hier, wie Karsten Lehmkühler richtig konstatiert, „merkwürdig zweideutig.“710 Es sind Spitzensätze von der „kultischen Zentralstellung Christi“, an die das Christentum gebunden sei, „[e]s wird sein oder es wird nicht sein“711, die Boussets offenkundige Irritation auslösten. Dabei halten sich solcherlei Missverständnisse provozierende Aussagen durchaus die Waage mit präzisierenden Bestimmungen des Kultbegriffs, die Troeltsch von Anwürfen exkulpieren, dass er eine stark objektbezogene Kulthandlung auch als Konstitutivum des Christentums der Moderne anstrebte. Denn Troeltsch ist es freilich nicht darum zu tun, die „Bereicherung eines Pantheons“712 705 RuG 36. 706 RuG 36. Das ältere Christentum „steht mit der kultischen Verehrung seines Stifters fast gänzlich in der Isolierung“ (RuG 37). Zu Boussets historischem Einwand vgl. den Brief Troeltschs an Bousset vom 2. Februar 1912 (Graf 501): „Der Stifterkult ist eine Besonderheit des Christentums? Ich {ziehe} nehme hier den Begriff des Kultus ziemlich weit. Unter ihn fällt alle Apotheose u[nd] ein gut Teil Herrenverehrung, die Heiligenverehrung u[nd] der Heiligenkult, schließlich überhaupt die Bedeutung eines Stifters für seine Worte u[nd] Gesetze für den Kult. Ich glaube, daß hier nicht so genau zu scheiden ist.“ 707 Troeltsch, Bedeutung, 837. 708 RuG 35. 709 Vgl. RuG 37f. 710 Lehmkühler, Bedeutung, 221. 711 Troeltsch, Bedeutung, 438; referiert in RuG 35. 712 Troeltsch, Bedeutung, 438.

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des modernen Christentums zu forcieren. Vielmehr will er als Inhalt jenes sozialpsychologischen Gesetzes nur festhalten, dass „[d]ie Vergegenwärtigung der Propheten, auf dem Gipfel ihrer göttlichen Verehrung als Ausdruck der allgemeinen göttlichen Wahrheit […] überall für Gemeinschaft und Kultus grundlegend [ist].“713 Und so ist die Person Jesu dann streng genommen nur mehr das „Einigungs- und Veranschaulichungsmittel“ der christlichen Frömmigkeit und der Kult scheinbar doch nur die ‚Vergegenwärtigung eines geistigen Besitzes‘, der sich zwar in einem „maßgebenden Urbild“714 darstellen muss – mehr ist hier aber nicht gesagt. Dieses begriffliche Schwanken Troeltschs ist dann auch Gegenstand der Briefkorrespondenz der beiden Freunde geworden. In einem verloren gegangenen Brief muss Bousset Troeltsch um Aufklärung gebeten haben. Und jener entgegnete in einem Brief im Februar 1912, also unmittelbar vor Boussets Vortrag in Groningen: Ob nicht Stifterkult u[nd] Stifterbeziehung zu unterscheiden ist? Gewiß. Da habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Ich verstehe unter dem Kult, den wir meinen können, lediglich die kultische Vergegenwärtigung in Predigt u[nd] Andacht, nicht eine reale Anbetung u[nd] glaube bloß, daß die Motive der Sache heute ähnlich sind wie damals, wenn auch die Wirkungen verschieden sind. Christentum dh. Glaube an die erlösende Persönlichkeitsreligion im Zusammenhang mit der christlichen Geschichte wird es allerdings m. E. ohne solche Zentralstellung Christi nicht geben.715

Diesen weit gefassten Kultbegriff kann Troeltsch nun für das neuzeitlich-moderne Christentum in Anschlag bringen. Es steht hier in einer Kontinuitätslinie mit dem Urchristentum, dessen ‚Motiv‘ einer Ausbildung eines Christuskultes ‚ähnlich‘ dem des modernen Christentums gewesen ist, nämlich das sozialpsychologische Bedürfnis, einen Mittelpunkt der Gemeinschaft auszubilden. Entsprechend identifiziert Troeltsch nun auf dem Hintergrund seines weiten Kultbegriffs im Urchristentum eine Jesusverehrung, die freilich nicht „die Verehrung eines neuen Gottes, sondern die Verehrung des alten Gottes Israels und aller Vernunft in seiner lebendigen und konkreten Höchstoffenbarung [ist].“716 Dies rief freilich Boussets lebhaften Widerspruch hervor. Dieser bereitete in den Jahren 1911 bis 1912 nämlich die Veröffentlichung seines exegetischen Hauptwerkes Kyrios Christos vor, dessen Hauptthese darin bestand, den Christuskult als die Verehrung eines neuen Gottes als Hauptzug des urchristlichen Gottesdienstes wahrscheinlich zu machen, um so dessen Genese verständlich zu machen (s. u. Kap. 3). Dieses Ergebnis nimmt er nun schon für die Kritik der Position Troeltschs vorweg. Troeltsch idealisiere nach Bousset das Urchristentum in einer Weise, die am Tatsachenbestand vorbeigeht.717 713 Troeltsch, Bedeutung, 438. 714 Troeltsch, Bedeutung, 436. 715 Brief an Bousset vom 12. Februar 1912 (Graf 502). 716 Troeltsch, Bedeutung, 837. 717 Vgl. den Brief Troeltschs an Boussets vom 2. Februar 1912 (Graf 501): „Ob ich nicht den Glauben des Urchristentums idealisire? Ich suche ihn zunächst nur zu verstehen u[nd] kann mir



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Man darf hier nichts abschwächen und vergeistigen. Es handelt sich hier nicht um ‚Anbetung Gottes in Christo‘ oder gar um Vergegenwärtigung Gottes in dem sittlichreligiösen Christusbild, es handelt sich bei dem, was die Masse – auf die kommt es T[roeltsch] ja gerade an – instinktiv und impulsiv bewegte, um die Verehrung des neuen Gottes Jesus Christus.718

Nicht dass Bousset die Existenz des Christussymbols für die Rekonstruktion der Entstehung des Christentums unbeachtet ließe719, doch der Veränderungsschub, den das Christentum spätestens durch den Übertritt in den hellenistischen Kulturkreis erfährt – wie es in Kapitel 3 noch genauer dargestellt werden soll –, formt das Christentum in grundstürzender Weise um, sodass er für ‚die Masse‘, also den durchschnittlich begabten religiösen Subjekten, sowohl den Kult einer neuen Gottheit720 als auch korrelativ dazu eine ‚servile Gesinnung‘721 der Christusgläubigen bedeutet, die kaum zu Troeltschs Darstellung des urchristlichen Christuskultes passen will. Zwar gesteht Troeltsch zu, dass „Mythologie und Mysterien, heidnische und gnostische Analogien“ den vor allem Dogma und Lehre schon einsetzenden Christuskult später „umkleidet“722 hätten – der sozialpsychologisch eingeholte Vorgang bleibt jedoch unbeschadet in Geltung. Für Troeltsch ist der Christuskult in dem oben zitierten Sinn also in nuce ein „von innen heraus wachsender Vorgang der Gemeindebildung“723, der zwar noch einmal durch bestimmte Mythen aus der religiösen Umwelt erklärt, aber nicht erst durch diese initiiert wurde. Offenkundig hat Troeltsch hinsichtlich seiner funktionalen Reformulierung der Christologie einen stärkeren Kontinuitätssinn als Bousset, der hingegen ein klares Empfinden für die Diskontinuität zum alten Christentum artikuliert. Denn trotz der Bedeutung des Christusbildes, das schon ganz zu Anfang der Christentumsgeschichte als Produkt des Gemeindebewusstseins vorhanden ist und – wie gezeigt – eine wichtige religiöse Funktion besitzt, erkennt Bousset im Christuskult ein irrationales Eledie Sache nur erklären aus der Notwendigkeit der Abgrenzung des Christentums als neue eigene Religionsgemeinde durch einen neuen Kult u[nd] vermute, daß dieser neue Kult wohl aus Herrenmahl, Wiederkunftserwartung, Messiaslehre hervorgegangen sein mag. Wie? Das weiß ich nicht. Jedenfalls ist die Sache bei Paulus fertig u[nd] nicht von ihm allein erst gemacht. Ganz deutlich aber ist hier der Christuskult noch ein Mittelding zwischen der Anbetung Gottes u[nd] seines Offenbarungsorgans, keine Verehrung einer neuen Gottheit. Deshalb glaube ich auch nicht an die Dazwischenkunft heidnischer Mysterien u[nd] Kultgottheiten. Ebendeshalb kann ich diesen Kult auch nicht vom Polytheismus herleiten, wenn mir auch der ganze Hergang dunkel ist.“ 718 RuG 38. Dass das sperrige Phänomen einer Verehrung des neuen Gottes Jesus Christus für Bousset nicht mit der Formel ‚Anbetung Gottes in Christo‘ auch für eine neuprotestantische Frömmigkeit aufgeschlossen werden kann, ist die explizite Antithese zu Troeltschs weit gefasstem Verständnis der urchristlichen Verehrung Jesu Christi, die er eben als eine „Verehrung Gottes in Christo“ verstehen kann (ders., Bedeutung, 837). 719 Dazu vgl. Kap. 3.2.2. 720 Vgl. RuG 37f. 721 Vgl. KC 92. 722 RuG 77. 723 Brief Troeltschs an Bousset vom 2. Februar 1912 (Graf 502).

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ment, das eben „zeitgeschichtlich“724 bedingt ist und gerade nicht im Wesen der Religion begründet liegt. Irrational ist dieses Element christlicher Frömmigkeit freilich, weil es „den Stifter und dessen Bild“ nicht mehr nur „Mittel des Kultus“ sein lässt – was Bousset ja, wie gezeigt, als dem religiösen Leben und seinem konstitutiven Geschichtsbezug als wesensmäßig begreifen kann725 –, sondern den Stifter selbst zum „Gegenstand des Kultus“726 erhebt. Dass nun das Christentum seine „Form und Konzentration in der kultischen Verehrung des Kyrios Jesus Christus“727 erhielt, kann Bousset nicht wie Troeltsch aus dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ableiten, vielmehr verhält es sich nach Bousset so, dass diese Form sich dem „religionsgeschichtlichen Milieu verdankt […]“728 und daher als historische Individualität per se keinen Anspruch auf Rationalität haben kann. In Boussets Modell einer teleologischen Entfaltung des Wesens der Religion in der Geschichte sind also bedeutende Umformungen des Christentums integriert, die erst allmählich überkommene Autoritätsstrukturen, wie den Christuskult, abbauen. Der Christuskult kann aber nicht ohne weiteres als zeitgebundener Irrationalismus „[...] mit einemmal abgebrochen werden“729 und die christliche Religion gewissermaßen nur noch Religion des Geistes und der Wahrheit sein. In der Praxis vollziehen sich solcherlei Umformungsprozesse, in die Bousset das neuzeitlich-moderne Christentum auch gegenwärtig verstrickt sieht, nur „allmählich und in allerlei Kompromissen“730, und so diagnostiziert Bousset für das kirchliche Christentum seiner Gegenwart, dass der Christuskult „[...] eine ungeheure Gewalt über die Gemüter gehabt hat und noch haben wird.“731 Dieses irrationale Element, das gleich am Anfang der Christentumsgeschichte die Signatur der christlichen Religion umschrieb, hat für Bousset offenkundig eine Wirkung bis auf die Gegenwart. Und diese ist zuerst in dem Sündenbewusstsein zu sehen, das vermittelt über Augustin und Luther nun immer noch das christliche Bewusstsein prägt und den Christuskult mit seiner hohen Christologie weiterhin am Leben erhält.732 Zwar nimmt Bousset wahr, dass entgegen dem antimodernistischen Katholizismus „in den vorwärtsdrängenden evangelischen Kirchen“ sich immer mehr eine „Zurückstellung des spezifischen Christuskultus“733 im Gottesdienst abzeichne, wie Bousset anhand der sukzessiven Reduktion der Bedeutung der Sakramente zu verdeutlichen versucht, doch rechnet er hier mit einem langwierigen Prozess, der aber keineswegs an ein 724 RuG 37. 725 Jede geschichtliche Religion sammelt sich um ihre Geschichte und vergegenwärtigt sich im Medium der Geschichte ihren religiösen Besitz. Dazu s. o. 726 RuG 39; Hervorhebung im Original. 727 RuG 37. 728 RuG 37. 729 RuG 38. 730 RuG 38. 731 RuG 39. 732 Dazu vgl. WdR, 8. Vortrag und Kap. 4.2. 733 RuG 38.



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Ende gelangen wird – ein ‚drittes Reich des Geistes‘, in dem „[...] in der Religion alle auf sich selber stehen und der Geist völlig frei und isoliert in den Individuen sich entwickelt“734 ist für Bousset in der Zeit also ebenso wenig vorstellbar wie für Troeltsch. In seinem Troeltsch-Referat identifiziert Bousset nun ferner das „merkwürdig gespaltene[] Resultat“, dass Troeltsch neben der kirchlichen Massenfrömmigkeit, die ihr Zentrum im Christuskult hat, auch eine individualistische Frömmigkeit zu kennen scheint „ohne jene Konzentration im Christusbild und Christuskult“735 und diese als legitime Variante christlicher Frömmigkeit unter den Bedingungen der Moderne „als weithin gültig bestehen lässt.“736 Offenkundig führt Bousset diese Beobachtung wiederum zum Zweck der Selbstunterscheidung ein. Es lässt sich bei Troeltsch durchaus eine relative Unausgeglichenheit zwischen seiner Beschreibung der modernen Frömmigkeit mit ihrer völlig neuen, eben spiritualisierenden Stellung zur Geschichte und der religionspsychologischen Einsicht in die Notwendigkeit einer kultischen Praxis konstatieren. Dass Troeltsch nun aber den modernen Spiritualismus, dem er sich, wie gezeigt, – unter Vorbehalt – zuordnet, dem an die Geschichte gebundenen, gemeinschaftsstiftenden Kult einfach unvermittelt gegenüberstellt, stimmt allerdings ebenso wenig mit dem Quellenbefund überein. Die Pointe von Troeltschs Aarauer Vortrag besteht gerade darin, dass ungeachtet der neuen Stellung, die der moderne Spiritualismus zur Geschichte einnimmt, eine vitale Religion auch in der Moderne ohne Kult für Troeltsch kaum denkbar ist. Boussets Analyse steht also eigentümlich quer zum zwar durchaus schwankenden Befund in Troeltschs Schriften,737 die aber später einen durchweg mystikkritischen Richtungssinn aufweisen, wenn Troeltsch die Notwendigkeit des Kultes auch für die moderne Frömmigkeit einschärft. 734 Troeltsch, Bedeutung, 838. Troeltsch selbst erkennt in Henrik Ibsens Drittem Reich freilich auch eine Utopie, die auch der moderne Spiritualismus niemals erreichen kann (zu Ibsen vgl. den knappen Hinweis in ebd. 835 Anm. 16); vgl. für Bousset RuG 40: „[...] so werden wir niemals ganz frei werden vom Geschichtlichen und sollen es auch nicht.“ Claussen weist auf Paul de Lagarde und Georg Simmel als Repräsentanten einer ‚Gegenwartsreligion‘, die auf dem Hintergrund der neuzeitlichen Relativierung des Historischen vollständig die Beziehung zum Ursprung der christlichen Religion aufkündigten (vgl. ders., Jesus-Deutung, 253). 735 RuG 36. 736 RuG 37. 737 Vgl. nur Lehmkühler, Bedeutung, 212f; Claussen, Jesus-Deutung, 261.271. Claussen weist zurecht darauf hin, dass bei Troeltsch die Stellung zur Geschichte eine andere geworden ist: Troeltschs Spiritualismus lasse sich dahingehend charakterisieren, „[…] daß er das freie, je eigene Erleben in den Vordergrund rückt, der aber zugleich einen gewissermaßen konservativen Charakter trägt, insofern er an der Bezugnahme auf geschichtliche Gegenstände und an der Notwendigkeit der Gemeinschaftsbildung festhält“ (ebd. 271). Troeltsch sieht in der Kultbestimmtheit „eine grundsätzliche Charakterisierung auch der christlichen Religion, die es gegenwartspraktisch zu bewähren gilt“ (ebd. 268). Auch das ist zweifelsohne eine Gemeinsamkeit mit Boussets Konzep­ tion, die dieser überraschenderweise ausblenden will – offenkundig weil die Begründung über ein sozialpsychologisches Gesetz ihm unterbestimmt erscheint.

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Dies übergeht Bousset freilich, wenn er in seiner Analyse auf jene vermeintlichen „Inkongruenzen“738 in Troeltschs Position abhebt. Boussets Rekurrieren auf jene spannungsgeladene Unausgeglichenheit von Troeltschs gebrochenem Spiritualismus hat in erster Linie die Funktion, vor diesem Hintergrund gleichsam als Negativfolie seine Vorstellung der gegenwärtigen christlichen Religion und der ‚Zukunftsreligion‘ in Anschlag zu bringen. Bousset will nämlich keineswegs eine spiritualistische Bildungsreligion neben einer sich kirchlich vergemeinschaftenden Frömmigkeit als zwei gleichberechtigte Formen739 moderner Frömmigkeit, wie er sie bei Troeltsch erblickt, gelten lassen: „[W]ir werden an jene individuelle Bildungsreligion von Religions wegen die kategorische Forderung erheben, dass sie sich dem Gemeinschaftsgedanken als eine innere Forderung der Religion unterwirft.“740 Bousset wendet sich also nachdrücklich gegen alle Bestrebungen, die den der Moderne eingeprägten Individualismus zur religiösen Leitkategorie der modernen Frömmigkeit stilisieren wollen. Damit will er freilich nicht den religiösen Individualismus und dessen Unvertretbarkeitsanspruch, den ja auch Bousset als Grundsignatur neuzeitlicher Christentumspraxis anerkennt, wieder unterlaufen. Er lehnt jedoch entschieden die Vorstellung einer der Mystik zuneigenden, christlichen Bildungsreligion ab, die vollständig ohne Kult auszukommen meint, wenn sie auch zeitgenössisch hohe Popularität genoss.741 Hier zeigt sich die antimystische Stoßrichtung von Boussets theologischem Programm. Allerdings bedeutet dies für Bousset im Umkehrschluss wiederum nicht, dass ein sozialpsychologisch verständlicher Vorgang im religiösen Leben – die Verehrung des Religionsstifters im Kult – unbesehen Geltung beanspruchen könnte. Vielmehr gelte doch, dass solcherlei psychologisch einholbare Vollzüge der Frömmigkeit, die sämtlich der empirischen Wirklichkeit angehören, sich auch einer rationalen Bearbeitung nicht verschließen dürfen. Bousset will also einen doppelten Fehlschluss vermeiden. Zum einen will er eine individualistische Bildungsreligion, die sich abseits von Kirche und Kult meint etablieren zu können, als für die zukünftige Gestalt der christlichen Religion unzureichende Form diskreditieren – ein modernes Christentum ohne kultische Vergegenwärtigung des eigenen religiösen Besitzes im Christusbild ist für Bousset also schlechterdings undenkbar –, zum anderen will er aber auch nicht die „Sozialpsychologie der Massenfrömmigkeit“742 als Maßstab setzen. Denn die von Bousset religionsgeschichtlich hergeleitete urchristliche Gestalt der christlichen Religion geht zwar genetisch letztlich auf das von Troeltsch erkannte sozialpsychologische Motiv

738 RuG 37. 739 Vgl. RuG 37. 740 RuG 39. 741 Vgl. Bousset, Stellung, 58. 742 RuG 39.



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zurück. Die zeitgeschichtlich gebundene „Formierung und Ausgestaltung“743 in einem ‚objektiven‘ Kultus Jesu Christi als eines zweiten Gottes ist jedoch das schlechthin irrationale Element der christlichen Religion, das es nun in praktischer Absicht gelte, immer mehr zu reduzieren und ein Kultverständnis im evangelischen Christentum zu etablieren, das auf eine gegenständliche Verehrung des Stifters rundweg verzichtet und dieses als einen zeitgeschichtlich bedingten ‚Tribut‘ an die religiöse Umwelt des Urchristentums hinter sich lässt. Denn die freie christliche Frömmigkeit ist „nicht einfach an das Geschichtliche für alle Zeiten gebunden.“744 Vielmehr gelte es – wie oben gezeigt –, den im Anfang gemachten Fehler einer Umkehrung des „hervorragendsten Mittel[s]“745 des Gottesdienstes, dem Christusbild, in den Gegenstand der Kultpraxis wieder rückgängig zu machen und sich eben jenes ‚hervorragendsten Mittels‘ als Ausdrucks- und Anregungsmittel zu bedienen, ohne dass dabei freilich der Symbolcharakter wieder durch eine dogmatische Fixierung des Christusbildes korrumpiert würde.746 Wie Troeltsch versteht nämlich auch Bousset das im christlichen Gottesdienst überlieferte Personenbild Jesu Christi als höchstes Symbol der Religionsgeschichte, deren Wert gerade darin besteht, dass es in sich beweglich gehalten ist.747 Die Bewusstmachung dessen ist gleichsam die Aufgabe der Theologie für die kirchliche Praxis, um so die mystikaffinen Gebildeten innerhalb der Mauern der Kirche zu behalten. Gleichzeitig kommt hierin insbesondere bei Bousset das persönliche kirchlichpraktische Interesse zum Austrag, seiner Auffassung einer christlichen Frömmigkeit einen Platz innerhalb der protestantischen Kirchen zu erobern. Denn er teilt mit Troeltsch die Hoffnung, dass sich die evangelischen Kirchen „als breite Volkskirchen gestalten lernen, in denen die Vielgestaltigkeit des heutigen protestantischen religiösen Denkens zum Ausdruck kommen darf.“748 Der theologische Ermöglichungsgrund für die pluralistische Gestalt evangelischer Frömmigkeit ist das überlieferte und im Kult vergegenwärtigte Christusbild, das für Bousset als Kultmittelpunkt freilich auch angesichts der pluralen Gestalt evangelischer Frömmigkeit ein Einheitsmoment im Rahmen der binnenchristlichen religiösen Kommunikation in sich schließt. Einer kultlosen Bildungsreligion, die abseits der Religionsgemeinschaft in sich selbst besteht, fehlt dieser Mittelpunkt. Bousset kann ihr keine Zukunft in Aussicht stellen – jedenfalls bringt sie das moderne Christentum nicht aus der diagnostizierten Krise der modernen Frömmigkeit. Denn zu seiner Wesensbestimmung des religiösen Lebens gehört konstitutiv der Gemeinschaftsbezug, der nur im Medium des zum Zweck der Darstellung erfolgten Bezugs auf die 743 RuG 39. 744 RuG 39. 745 RuG 39. 746 Vgl. BPJG 16: „Aber es bleiben Symbole, sobald wir diese wissenschaftlich greifen und erweisen wollen, sobald wir versuchen das Symbol zum Dogma auszugestalten, so wird alles verkehrt und zerrinnt unter den Händen.“ 747 Vgl. Troeltsch, Bedeutung, 836. 748 Troeltsch, Bedeutung, 838.

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Geschichte möglich ist. Das Postulat, dass auch die moderne Bildungsreligion sich im gemeinsamen Kult organisieren soll, ist also gleichsam ein Therapeutikum gegen die Wirren der gegenwärtigen religiösen Lage, die Bousset zeitdiagnostisch, wie oben gezeigt, in der unheilvollen Vereinzelung gerade der religiösen Gebildeten erblickt, die sich nicht mehr oder nur noch eingeschränkt der geschichtlichen Welt des Christentums zugehörig empfinden. Troeltschs sozialpsychologische Reformulierung der christologischen Frage, die für Bousset, wie gezeigt, eine Unterbestimmung des Dranges zur religiösen Gemeinschaftsbildung darstellt, verschärft Bousset dahingehend, indem er nicht nur den Willen zur Vergemeinschaftung als dem Wesen der Religion inhärent markiert, sondern mit seinem Programm kirchlichpraktisch auf die Reintegration der Gebildeten, insbesondere des liberalen Bürgertums, in die evangelische Kirche zielt.749 Einer sich von der Kirche unabhängig wissenden mystischen ‚Bildungsreligion‘750 oder bestimmten nicht-kirchlichen Gemeinschaften751 vermag Bousset keine Zukunft zu prophezeien. Fehlt ihnen einmal die organisatorische Kraft einer Kirche,752 so fehlt ihnen weiter die sittlich-religiöse Erbauung des christlich-religiösen Lebens an dem in den evangelischen Kirchen überlieferten Jesus-Bild.753 749 Vgl. nur Bousset, Stellung, 68: „Religiöses Gemeinschaftsleben wird seine Verkörperung im evangelischen Deutschland nach wie vor in den evangelischen Kirchen finden, es wird so sein, oder überhaupt kaum sein.“ Vgl. hierzu Nipperdey, Religion, 143–153. 750 Vgl. Bousset, Stellung, 60. Die „doch recht matte ‚Bildungsreligion‘“, die eben vor allem vom liberalen Bürgertum getragen wird, wird aber nach Bousset weiter von den evangelischen Kirchen fernbleiben, wenn diese weiterhin politisch dem Konservativismus zuneigt. 751 Konkret hat Bousset folgende außerkirchliche Gemeinschaften vor Augen: „freireligiöse Gemeinden, Moritz von Egidys Bewegung, Gesellschaft der ethischen Kultur, Monistenbund, Übertragung der Heilsarmee-Bewegung von England, der Christian Science aus Amerika“ (Bousset, Stellung, 68). Bousset hat sich mit diesen Bewegungen im Rahmen kleinerer Artikel in der Christlichen Welt auseinandergesetzt, vgl. Bousset, Egidys Bewegung; ders., Gesellschaft. 752 Vgl. nur Bousset, Stellung, 66. Den evangelischen Kirchen ist gegenüber dem „aufgeregten Treiben des Vereins- und Sektenwesens“ trotz ihres Zuges zur Anstaltskirche (vgl. Kap 1.4) zugute zu halten, dass ihre „einheitliche Organisation“, die „in aller Ruhe und Vornehmheit […] stetig und tadellos arbeitete“, das „Band zwischen dem Volksganzen und der Religion durch die religiöse Volkssitte“ aufrechterhielt – dies ist gleichsam ein „Segen der engen Verbindung zwischen Kirche und Staat“ (ebd. 67), die Bousset ansonsten kritisch sieht (vgl. ebd. passim). Mit dem Begriff der „religiöse[n] Volkssitte“ hat Bousset die Kasualhandlungen Taufe, Trauung und Konfirmation im Blick. Dadurch, dass diese Kasualhandlungen eine „volkstümliche Angelegenheit“ (ebd. 66) geblieben sind, hat die Kirche – anders als freireligiöse Gemeinschaften – die Möglichkeit, mit einer gewissen Stetigkeit die religiöse Tiefendimension des Lebens zur Sprache zu bringen. Dass dabei freilich ein Wandel der Formen unvermeidlich ist, wird ebd. 59 deutlich: Die Kirche muss viel mehr als bisher den „neuen Ansätzen […] in der Ordnung und den Formeln des Gottesdienstes und gottesdienstlichen Handlungen, in der Schaffung moderner Gesangbücher, in der Umgestaltung (Katechismen) entschlossen dem modernen Geist und seinen Anforderungen [gerecht werden].“ 753 Vgl. auch UG 63, wo Bousset pointiert den christlichen Glauben an die Gemeinschaft bindet, die das Jesus-Narrativ überliefert: „Unsern Gottesglauben haben und halten wir in der geistigen Gemeinschaft, die von Jesus von Nazareth ausgegangen ist […].“



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2.2.7 Zusammenfassung Das zurückliegende Unterkapitel 2.2 hat Bousset als einen Theologen darstellen wollen, der sich trotz seiner fachlich vermeintlich begrenzten Expertise – Bousset war Professor für das Neue Testament – lebhaft und nachdrücklich zu den virulenten Problemen des modernen Christentums äußerte und so in unterschiedlichen Kontexten am zeitgenössischen öffentlichen Diskurs in Theologie und Kirche partizipierte. Spätestens ab 1910 trat nun immer mehr das theologische Problem ‚Glaube und Geschichte‘ in das öffentliche Bewusstsein von Kirche und Universitätstheologie, das wohl auch Bousset einige persönliche Anfechtungen bereitete. Nur so lassen sich die vielen Anläufe Boussets wie auch dessen Enthusiasmus, nun endlich die Geltungsfrage einer Lösung zugeführt zu haben, erklären.754 Sodann betrachtete er es als elementar wichtige Aufgabe der Theologie für die christliche Praxis, diesem Problem eine Fassung zu geben, die es dem religiösen Subjekt ermöglicht, die eigene Frömmigkeit mit dem modernen Denken auszusöhnen, ohne dass beide dabei unvermittelt auseinanderfallen müssen. Im Rücken jenes Problems stellt sich insbesondere für die kirchlich-theologische Öffentlichkeit liberaler Prägung die Frage nach der Bedeutung der Person Jesu für den christlichen Glauben. Denn vor allem in ‚liberalen‘ Kreisen im erweiterten Dunstkreis des Ritschlianismus war eben jene Person Jesu als historische Individualität der Grund bzw. das Medium reflexiver Vergewisserung des christlichen Glaubens.755 Als Exegeten steht Bousset freilich die Schwierigkeit eines ‚einfachen‘ religiösen Verhältnisses zur Person Jesu – angesichts der historisch-kritischen Forschung – bildhaft vor Augen. Die seit Wredes Messiasgeheimnis stetig voranschreitende Kritik an der historischen Zuverlässigkeit der neutestamentlichen Literatur bzw. die Einsicht in den kerygmatischen Charakter dieser urchristlichen Glaubenszeugnisse zögen nach Bousset einen enorm hohen hermeneutischen Aufwand nach sich, um zum historischen Jesus vorzudringen, der gerade nicht dafür tauglich scheint, dem religionspsychologischen Bedürfnis nach Selbstvergewisserung des Glaubens wirklich belastbare Gründe bereitzustellen. Wie sich nun jene religiöse Beziehung zur Person Jesu unter den Bedingungen der Moderne gestalten kann, ist die Frage, die gleichsam den Hintergrund von Boussets theologischen Überlegungen bildet. Stellt sich diese Frage auch nicht für die ‚naive‘ Frömmigkeit, die weiterhin in der kirchlichen Überlieferung und ihrer heilsgeschichtlichen Erzählung ihre Gewissheit findet, so stellt sie sich für Bousset doch mit Nachdruck im Kreis der Gebildeten, in deren Wahrheitsbewusstsein zutiefst der neuzeitliche Wandel im Natur- und Geschichtsverständnis eingeprägt ist. 754 Vgl. den Brief an Paul Wernle aus dem Dezember 1909 (Özen 179): „Trotz der Schärfe Deines Angriffes vermag ich bis jetzt eine Lücke in meiner Gedankenwelt, der ich mich allerdings innig freue, nicht zu entdecken. Das Wasser, das Du mir in den Wein geschüttet, habe ich mir in Wein verwandelt und an der Stärke des Widerspruchs die Stärke der eigenen Sache erprobt.“ 755 Vgl. Weinhardt, Stellung, 85.

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Die Signatur des modernen Denkens besteht für Bousset aber vor allem in dem Bewusstsein, dass alles einmal geworden ist und in einer evolutiven Kette in Korrelation miteinander steht. Jede historische Erscheinung ist also durch andere historische Individualitäten bedingt und muss prinzipiell – trotz mancher Einschränkung, die Bousset macht – einer rein immanenten Erklärung zugänglich sein. Gesetzmäßigkeit und Kausalitätsgedanke sind gleichsam die unhinterfragten Leitgedanken der modernen Weltdeutung, auf denen alles Fortschrittsdenken aufruht. Schon angesichts des überall bewusst oder unbewusst in Geltung stehenden modernen Entwicklungsdenkens in Natur- und Geschichtswissenschaft würde eine Reformulierung des Verhältnisses von Glaube und Geschichte anders ausfallen müssen als der offenbarungstheologische Christozentrismus der Ritschlschen Schule, gegen den sich Bousset vehement abgrenzt. Denn angesichts der sich unendlich ausdehnenden Menschheitsgeschichte mit einander ablösenden Kulturperioden ist es für Bousset zumindest reflexiv und methodisch begründet kaum einholbar, dass die Religion sich bis in die entfernteste Zukunft an die Person Jesu bindet – was freilich mit der Depotenzierung der dogmatischen Christologie in Boussets Theologie einhergeht. Neben diesen Vorbehalten gegenüber einer supranaturalen Exemtion der Person Jesu aus der Religionsgeschichte hinsichtlich ihrer Denkmöglichkeit rückt ferner in historischer Hinsicht das irreduzibel Fremde die gesamte historische Erscheinung der Person Jesu in einen unüberbrückbaren Abstand zur Gegenwart. Das Einstellen des Christentums in die Religionsgeschichte hat eben das Ergebnis zur Folge, dass der gesamte historische Komplex ‚Urchristentum‘ inklusive der großen urchristlichen Persönlichkeiten, also auch der Person Jesu, mannigfaltig von seiner religiösen Umwelt abhängt und die Entstehung des Christentums nur aus der Korrelation mit ihr begriffen werden kann. Alles Historische ist als irreduzible Individualität nicht fähig einen geltenden Allgemeinbegriff der Religion aus sich heraus zu setzten, der dann als Gewissheit stiftende reflexive Grundlage der Religion der Gegenwart dienen könnte. Angewendet auf die Person Jesus bedeutet dies, dass der historische Jesus unmöglich auf einen einzelnen, religiös anschlussfähigen Bezugspunkt seiner Gesamterscheinung reduziert werden kann – als Ganzer muss er aber der Moderne fremd bleiben. Jesu Fremdheit ist methodisch auch nicht aufhebbar, da das im modernen Wissenschaftsverständnis unhinterfragt geltende historistische Paradigma keinen Maßstab kennt, anhand dessen innerhalb der historischen Individualität Jesus von Nazareth in Kontingentes und religiös Bedeutsames – beispielsweise Jesu Reich-Gottes-Gedanken – methodisch begründet unterschieden werden könnte. Diese Abgründigkeit des historischen Bewusstseins und die Unfähigkeit der historischen Methode, absolute Wertunterschiede vornehmen zu können, nötigten Bousset dazu, die Frage nach der religiösen Bedeutung Jesu über den Umweg der religionsphilosophischen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Geschichte zu beantworten. Denn es war für das neuzeitliche Glaubensverständnis über das persönliche Verhältnis zur Person Jesu hinaus eben die Frage, wie überhaupt ein



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gegenwärtiges, religiöses Erleben sich auf einen geschichtlichen Gegenstand beziehen kann. Dieses religionsphilosophische Problem bildet gleichsam den Hintergrund für Boussets Versuch einer Reformulierung jenes Verhältnisses, das er als ein die moderne Frömmigkeit besonders bedrückendes Problem empfindet. Denn eine religions- wie neuzeittheoretische Grundüberzeugung teilte Bousset mit vielen seiner Zeitgenossen und theologischen Weggefährten: Religiöse Überzeugungen beruhen zuallererst auf einem gegenwärtigen Erleben, das sich durch den Eindruck und Umgang mit Personen der Gegenwart unverfügbar einstellt. Bestimmte historische Überlieferungen haben hier auf den ersten Blick erst einmal keine Bedeutung. Sie einfachhin im Sinne eines bloßen Fürwahrhaltens zu glauben, muss mit dem neuzeitlichen Persönlichkeitsideal der religiösen Autonomie in Konflikt geraten und wäre nur ein „Glaube aus zweiter Hand“756. Dieses aus der kantischen Traditionslinie herrührende Ideal autonomer Überzeugungen ist als Grundsignatur des modernen Geistes gleichsam der Angelpunkt für Boussets Reformulierung des Problems ‚Religion und Geschichte‘. Durch den Filter der Autonomie muss der Einzelne die Historie sich je von neuem anverwandeln und in autonome Überzeugungen überführen – Autonomie ist demnach das Überführen von Fremdartigen in das eigene Leben. Die Stellung zur Geschichte muss sich in diesem Modell neuprotestantischer Frömmigkeit also ändern. Denn historische Tatsachen haben spätestens mit der Aufklärungsphilosophie einen Statuswechsel vollzogen – ein Autoritätsanspruch, der aufseiten des Glaubens ein bloßes Fürwahrhalten einfordert, eignet ihnen unbesehen gerade nicht mehr. Mit der von Kant ausgehenden, neuprotestantischen Traditionslinie begreift Bousset historische Tatsachen nur mehr als symbolische Ausdrucksmittel der autonom zu erschließenden religiösen Überzeugungen. Jene religiösen Überzeugungen sind in klar unterschiedene religiöse Ideen geschieden. Unter Aufnahme der ‚psychologischen‘ Erkenntnistheorie Jakob Friedrich Fries’ will Bousset gleichsam als Überbietung der Transzendentalphilosophie Kants jene rationalistischen religiösen Ideen von Gott, Freiheit und der Unsterblichkeit der Seele als notwendige Bestandteile der menschlichen Vernunft ausweisen. Nur sie können laut Bousset das schlechthin sichere Fundament der modernen Frömmigkeit bilden, die angesichts des gewandelten Verhältnisses zur Geschichte eines anderen Fundamentes jenseits der Geschichte, die wesensmäßig über relative Urteile nicht hinauskam, bedurfte. Boussets Rekurs auf den Neufriesianimus hat also allein die Funktion, den gebildeten Christen eine Theorie des menschlichen Geistes bereitzustellen, anhand derer der gebildete Fromme sich reflexiv Gewissheit über die Vernünftigkeit seines Glaubens verschaffen kann, denn „das religiöse Bewußtsein muss zur Klarheit über sich selbst kommen.“757 Unter den Bedingungen des modernen Denkens, das die Tendenz hat, die Historie in einen lückenlos immanenten Kausalzusammenhang aufgehen zu lassen, ist die subjektivitätstheoretische Reflexion über die Sicherheit 756 JPGJ 8 Anm. 1 757 BPJG 11.

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der religiösen Ideen das alleinige Mittel, das dem sich nachgängig Gewissheit einholenden Glauben zur Verfügung steht. Nur durch den reflexiven Rekurs auf die selbstgewissen, religiösen Ideen kann der moderne Fromme dem Skeptizismus und Relativismus als Negativfolge des Historismus dauerhaft entfliehen, denn die religiösen Ideen bedürfen nicht der Autorisierung durch die Geschichte. Eine Religionsphilosophie indes, die die religiösen Ideen als anthropologisches Universale ausweisen will, setzt notwendig die Geschichte zur Bedeutungslosigkeit herab.758 Diese mögliche Konsequenz hat Bousset auch offen eingeräumt. Bis hierher hebt sich Boussets Reformulierungsversuch also kaum vom Denken des alten Rationalismus der Aufklärungszeit ab. Die Leistung dieser Religionsphilosophie, die Bousset für die aufgeklärte Frömmigkeit im Blick hat, ist nun eine doppelte. Einmal erhofft sich Bousset, dass durch den Rekurs auf die religiösen Ideen als Geltungsgrundlage der Religion nun kein Sprung mehr im allgemeinen Wahrheitsbewusstsein provoziert werde, denn sie kann mit der an gesetzmäßigen Kausalzusammenhängen orientierten Natur- und Geschichtswissenschaft koexistieren – beide verzichten auf einen Supranaturalismus und machen sich die Erkenntnisgegenstände nicht gegenseitig streitig. Geschichte lässt sich eben auch mit den Mitteln der teleologielosen Geschichtswissenschaft beschreiben, ohne dass die geschichtsbildende Kraft der Ideen irgendwie in Frage gestellt werden könnte. Sodann besteht der Vorzug einer Deutung der Geschichte als Illustration aber auch darin, dass Symbole erkenntnistheoretisch eben nicht die Wahrheit selbst sind. Sobald sie zu doktrinären Dogmen umgestaltet werden, haben sie ihre symbolische Verweisungsfunktion auf die ‚Tiefe der Wirklichkeit‘ eingebüßt und werden zu einer mit dem modernen Autonomiestreben unvermittelbaren Autorität. Bestimmte überkommene Überlieferungsgestalten sind nun aber als Symbole zunächst ihres dogmatischen Anspruchs entkleidet und können so keine bedrückende Macht mehr über die autonom gewordenen Gewissen haben. Denn sind bestimmte kirchlich-dogmatische Überlieferungen einmal als Symbole begriffen, dann ist zunächst die geschichtliche Wandelbarkeit und Nichtidentität mit dem Symbolisierten intendiert und sodann die Notwendigkeit einer individuellen Deutungsleistung im Rahmen der anverwandelnden Integration des überlieferten Symbols in den Bestand der religiösen Überzeugungen vorausgesetzt. Im Rücken dieses rationalistischen Modells lösen sich sodann die religiösen Ideen von der zum Symbol herabgesetzten Person Jesu. Damit unterscheidet sich Boussets Ansatz pointiert von zeitgenössischen ‚vermittlungstheologischen‘ Varianten des hier in Rede stehenden Problems, die das gegenwärtige religiöse Erleben dauerhaft an die Person Jesu binden wollen. Denn in diesem rationalistischen Mo758 Und so mündet auch Murrmann-Kahls Urteil in einem gängigen Rationalismus-Verdikt, das gerade das Anliegen Boussets stark verkürzt: „Der Anschluß an die kritischen Ergebnisse der Weiß, Wrede, Schweitzer seit 1909 wird mit einer neuen Religionstheorie kompensiert, in der die Stifterpersönlichkeit Jesu zum Symbol uminterpretiert, die Bedeutung der Geschichte zum Akzidentellen, Illustrativen, verflüchtigt [wird]“ (Heilsgeschichte, 418).



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dell sind bestimmte historische Verkörperungen der Idee bloß zufällig, als prinzipiell überbietbar und ohne Bedeutung für die Idee selbst gedacht. Bousset steht also mit dem Umstellen von der Person Jesu als Gipfel der Religionsgeschichte auf das Begriffspaar ‚Idee und Symbol‘ christologisch in der seit David Friedrich Strauss anhebenden linkshegelianischen Tradition, in der beide Größen auseinanderstreben.759 Christologisch bedeutet dies ferner die Herabsetzung der Person Jesu zu einem der vielen „Anführer“760 im religiösen Leben. Dies sind gleichsam die Folgekosten einer Religionsphilosophie, die ebenjene historische Individualität der Person Jesu in einem unzugänglichen Verhältnis zum neutestamentlichen Christussymbol belässt. Zwar lässt sich qua religionsgeschichtlichem Vergleich entscheiden, welches Symbol religiös am produktivsten ist, aber in welcher Beziehung dies zum historischen Jesus steht, lässt sich im Rahmen der historischen Methode nicht mehr ermitteln. Es ist nur mehr ein geschichtstheoretisches Axiom, dass am Anfang die geniale religiöse Persönlichkeit stehen muss, die die Symbole stiftet – die Eigendynamik, von der die symbolisierende Produktion der Gemeinde im Rahmen der Überlieferung des Christusbildes bestimmt ist, bleibt dabei unterbelichtet und lässt sich historisch nicht mehr nachvollziehen. Bousset nimmt also den Problemhorizont der Christologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nämlich des Verhältnisses von christlicher Idee, Individuum und Geschichte, auf. Seine Reformulierung erfolgt vor dem Hintergrund des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses in Natur- und Geschichtswissenschaft und des gewandelten sittlichen Bewusstseins. Eine supranaturale Offenbarung Gottes in Christo, wie sie seine ritschlianischen Lehrer versuchten zu repristinieren, ist für Bousset unter den genannten Bedingungen modernen Denkens nicht denkbar. Sie würde den Gebildeten kein adäquates Mittel für das reflexive Vergewisserungsstreben zur Verfügung stellen können. Bousset geht es in seinem Neuentwurf des Problems ‚Glaube und Geschichte‘ zuerst also um eine Bereitstellung einer Theorie der Geltung der Religion sowie einer religionsphilosophisch grundierten Geschichtsdeutung, die mit dem modernen Wissenschaftsverständnis in keinen Widerspruch gerät. Bousset kommt es demnach zuerst auf reflexive Klarheit an. Eine vermittlungstheologische Repristination der traditionellen Christologie ist ihm vor dem Ideal der reflexiven Klarheit unmöglich geworden. Ein weiteres Leitmotiv für Boussets Rekurs auf die religiösen Ideen als Geltungsgrundlage der Religion ist die damit erstrebte Unabhängigkeit des Glaubens von der historisch-kritischen Exegese. Denn selbst wenn die Geschichtswissenschaft doch einmal die Person Jesu als bloßen Mythos entlarven sollte – was Bousset für unwahrscheinlich hält, aber methodisch nicht auszuschließen ist –, rührt das die Gewissheit des Glaubens nicht an. Denn der Glaube gründet ja in Boussets Programm gerade nicht mehr wie noch bei Wilhelm Herrmann auf dem Bild vom inneren Leben des historischen Jesus, seinem sittlichen Selbstbewusstsein, das dem 759 Vgl. Rohls, Vorbild, 229–232. 760 RuG 39.

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Glauben dann in einem wechselseitigen Auslegungsvorgang zur geschichtlichen Offenbarung wird. Vielmehr soll die moderne, aufgeklärte Frömmigkeit gerade vermittels der theologischen Reflexion wissen, dass sie es nur mit Symbolen zu tun hat, nicht mit der religiösen Wahrheit selbst.761 Es lässt sich freilich die Frage an Bousset stellen, ob der Glaube sich tatsächlich damit bescheiden kann, nicht sicher zu wissen, ob das Christussymbol einen Anhalt in einem wirklich gelebten Leben hat? Religiös bedeutsam ist für Bousset jedenfalls nur der Gehalt des geschichtlichen Symbols, das in den Religionsgemeinschaften überliefert wird. Bousset kommt es zunächst also nur auf das Symbol selbst, also auf dessen religiöse Brauchbarkeit, an. Und hier zeigt sich die Bedeutung der Geschichte in Boussets neuem Rationalismus, die ihn in Distanz zum einseitigen alten Rationalismus der Aufklärungszeit setzen soll. Denn das allen historistischen Konservativismus aushebelnde neuzeitliche Prinzip der Autonomie ist eben keine Form der religiösen Produktion, sondern lediglich eine neue, kritische Art der Aneignung. Autonomie setzt keine religiöse Vorstellung aus sich selbst heraus. Zudem muss nach Bousset die neufriesianische Bewusstseinstheologie eines tragfähigen Zugriffs auf die religiösen Ideen entbehren. Den Ideen fehlt nämlich die empirische Anschauung und sie bleiben so dem menschlichen Erkennen unzugänglich. Einzig der religiöse Erkenntnismodus der Ahndung lässt das Sein der Ideenwelt als tieferer Wirklichkeit hinter der Erscheinungswelt erahnen. Er bezieht gleichzeitig Idee und Empirie aufeinander und lässt so die endliche Erscheinungswelt transparent für das Unendliche werden. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass eine religiöse Idee nur im Medium eines Symbols zu haben ist, das wiederum aus der Geschichte stammt. Eine religiöse Überzeugung kann sich also nur vermittels geschichtlicher Symbolbestände einstellen, die dann zuerst durchgearbeitet und durch das Autonomieprinzip subjektiv anverwandelt wurden. Die autonome Überzeugung steht also erst am Ende des religiösen Bildungsprozesses. Und gerade in den höheren geschichtlichen Religionen gilt schon allein in religionspsychologischer Hinsicht, dass die subjektive Frömmigkeit eher reproduktiv ist. Denn auf dem Gebiet des Geistes ist kein linearer Fortschritt erkennbar, wie beispielsweise in Wirtschaftsleben und Technisierung der Kulturwelt, wo die Vergangenheit gleichsam nur als „Dünger für die Zukunft“762 dient. Das religiöse Bewusstsein der höheren Persönlichkeitsreligionen hängt hingegen immer an der Urzeit der geschichtlichen Religion, in der durch die großen religiösen Persönlichkeiten die grundlegenden Symbole geschaffen wurden und sucht jene Epoche der besonderen religiösen Erregung und Produktion immer wieder auf. Und so sind auch noch gegenwärtig die vom Neuen Testament überlieferten Symbole, die – wahrscheinlich – der historische Jesus gestiftet hat, für die christliche Religion auch gegenwärtig ungebrochen bedeutsam. 761 Vgl. BPJG 16. 762 RK 15.



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Darüber hinaus besteht das Eigentümliche der höheren Religionen aber vielmehr darin, dass im Zentrum der religiösen Symbolbestände die Stifterpersönlichkeit selbst steht. Dieses Symbol eines gelebten Lebens ist in den Persönlichkeitsreligionen das Höchste, das gleichzeitig alle Symbole an sich zieht. Und so verhält es sich auch mit dem Christussymbol. Das Christussymbol in der christlichen Religion ist allerdings weder dogmatisch fixierbar, noch wird man das Christusbild als geschichtliches Urbild eines gottgefälligen Lebens bzw. als Abbild des inneren Lebens Jesu fassen dürfen. Denn als Symbol ist das Christusbild immer ein Produkt aus Überlieferungsgut und gegenwärtigem religiösen Geltungsinteresse. Bousset hält also an der Unterscheidung von Person und Prinzip fest und schreibt so dem Christusbild eine geschichtliche Variabilität ein, der ‚vermittlungstheologische‘ Ansätze wie Schleiermachers und Herrmanns Christologie nicht Rechnung tragen konnten. Darin geht Bousset sogar noch über Troeltschs ‚wirkliches Symbol‘ hinaus, dessen Insistieren auf der historisch überprüfbaren Rückbindung des Christusbildes an den historischen Jesus über eine bloß psychologische Bedeutung des Geschichtsbezugs hinausweist. Aber auch Bousset will den Geschichtsbezug nicht bloß religionspsychologisch begründet wissen. Gegenüber einer modernen Bildungsreligion, die sich abseits der Kirchen auf das mystische Erleben reduzierte, will er gerade den religionspsychologisch erklärbaren Geschichtsbezug als konstitutiv für die Religion in Anschlag bringen. Gegen Troeltsch, der laut Bousset den mystischen Frömmigkeitstypus als gleichberechtigt gegenüber dem Kirchen-Typus erklärt, schärft Bousset ein, dass eine spiritualistische Konventikel-Frömmigkeit mehr ein pathologischer Zug des religiösen Lebens der Moderne sei, als dass dies eine Frömmigkeitsform sei, die dem modernen Problemdruck standhalten könne. In Boussets Krisendiagnose des religiösen Lebens der Gegenwart bedeutet jene antihistorische Mystik schlicht einen Eskapismus vor den sozialethischen Aufgaben des modernen Christentums, das sich angesichts der seit der Industriellen Revolution voranschreitenden kapitalistischen Ökonomisierung der Lebensverhältnisse immer mehr vor die soziale Frage gestellt sah. Bousset wendet sich also nachdrücklich gegen alle Bestrebungen, die den der Moderne eingeprägten Individualismus zur Leitkategorie der modernen Frömmigkeit stilisieren wollen. Sein neuer Rationalismus hat vielmehr entgegen dem alten einen ausgesprochen antimystischen Richtungssinn, der den potenziell atomistischen Individualismus der Moderne überwinden will. Er begründet dies wiederum religionsphilosophisch mit dem für die Religion konstitutiven Gemeinschaftsbezug. Die Religionsgemeinschaften funktionieren kommunikativ nur durch die Zusammenkunft im Kult. Hier macht sich Bousset die sozialpsychologischen Beobachtungen Troeltschs zu eigen, nur dass er sie rational einzuholen versucht. Religion und Kult dürfen nicht auseinanderfallen, weil Religion nur in der Gemeinschaft eine Bewusstseinsmacht sein kann. Im Kult kommt nun der Geschichte wiederum eine herausgehobene Stellung zu. Denn die Gemeinschaft der nur mehr reproduktiven Frommen sammelt sich um ihre Geschichte, die als symbolischer Erfahrungsschatz der Generationen das Me-

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dium der kultischen Kommunikation bildet. Und hier kommt dem Christusbild eine herausragende Bedeutung als „hervorragendste[s]“763 Kultmittel zu, unter dem die christliche Gemeinschaft zusammentritt und vermittels dessen sie ihre Frömmigkeit symbolisch darstellt – und so freilich wieder ein verändertes Christusbild entwirft. In diesem sich im kultischen Vollzug je von neuem einstellenden Bild vergegenwärtigt sich die Gemeinde ihren religiösen Besitz, sodass das Christusbild immer seiner Individualität entkleidet wird und so transparenter für die in diesem symbolisierten religiösen Ideen wird. Im Rahmen dieses Prozesses der religiösen Selbstaufklärung rückt das Christusbild also immer mehr von der historischen Individualität Jesu von Nazareth ab, mit dem zumindest historisch das Christusbild ja unleugbar in einem Zusammenhang steht, und die allgemeingültigen Züge treten stärker hervor, ohne dass Bousset ein Ende dieses Prozesses für denkbar hielte.764 Für Bousset bedeutet das überlieferte Christusbild jedoch gleichzeitig einen Irrationalismus in der christlichen Religion. Denn seine historischen Studien haben ihm gezeigt, dass der mit dem Christusbild fest verbundene Kult schon in den Anfängen der christlichen Religion durch den Übertritt in den hellenistischen Kulturkreis in einen Kult des Kyrios Christos umschlug. Das Christusbild war dementsprechend das der hohen Christologie, das Jesus und sein Heilswerk auf die Seite Gottes stellte und ihn von allem Menschlichen kategorial unterschied. Zwar hat Bousset die Bedeutung der Persönlichkeiten auch im Rahmen des christlichen Gottesdienstes für seine Religionstheorie nie bestritten, dass die Person Jesu nun aber in einem objektiven Sinn Gegenstand des christlichen Kultus sei, kann er sich gleichsam nur als Reflex auf das religionsgeschichtliche Milieu erklären. Als geschichtliche Individualität ist der Christuskult und das damit verknüpfte Bild Jesu Christi eben ein Irrationalismus, den es im Interesse des auf Allgemeingültigkeit gerichteten Glaubens abzubauen gilt. Irrational ist das überkommene Christusbild ferner, indem es vermittels der kirchlichen Theologie, die korrelativ zum Erlösungsmythos die erbsündige Verderbtheit des gesamten Menschengeschlechts postulierte, auf die Gewissen der Christen wirkte, sodass das Bewusstsein der universalen Sündhaftigkeit die christliche Frömmigkeit zu dominieren begann. Seinen Anfang nahm das Gefühl des totalen Gegensatzes zwischen dem Erlöser und seiner Gemeinde im Kult der Heidenchristen, um dann nicht wieder aufzuhören. Augustin und Luther hätten diese Tendenz der christlichen Frömmigkeit dann durch ihre Sündentheologie dogmatisch noch zusätzlich verhärtet und den empfundenen Gegensatz nachhaltig dem frommen Bewusstsein eingeprägt. Bousset erblickt sogar in diesem Irrationalismus eine derartig große Macht, dass er auch noch in seiner Gegenwart im Christuskult und dem damit verknüpften Sündenbewusstsein das Signum der kirchlichen Frömmigkeit erblickt.

763 RuG 39. 764 Vgl. RuG 31: „Es wird uns nicht gegeben sein, je die letzte religiöse Wahrheit in einer von aller geschichtlichen Tatsächlichkeit freien Form und doch in voller Lebendigkeit zu behaupten.“



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Diese ‚naive‘ Frömmigkeit kann Bousset dennoch gewähren lassen, wenn er sie auch für unfähig halten muss, mit den modernen Lebensbedingungen in eine Koexistenz treten zu können. Erschwerend kommt hinzu, dass er gerade hier das in Neuzeit und Moderne geltende Autonomieprinzip fallengelassen sieht. Für eine christliche Frömmigkeit, die die Kulturwerte der Moderne nicht als Widerspruch, sondern vielmehr als Realisationen des christlichen Persönlichkeitsgedankens ansah765, musste dieser überkommene Irrationalismus sich umgestalten, damit er die neuzeitlich-modernen Persönlichkeitsprinzipien Autonomie und Sittlichkeit nicht unterlief. Das Christusbild musste also zunächst allem dogmatischen Autoritätsanspruch entkleidet werden und wurde – wie gezeigt – von Bousset auf die symbolisierende Vergegenwärtigung der gegenwärtigen religiösen Überzeugungen bzw. als religiöses Anregungsmittel vermittels des Bildes eines gelingenden frommen Lebens reduziert – wenngleich das Bild immer aus rationalen und irrationalen Elementen zusammengesetzt ist. Einer bestimmten Aufhebungslogik, dass das Christusbild nur mehr rationale Selbstdurchsichtigkeitsstrukturen symbolisiert, folgt Bousset also gerade nicht. Es bleibt immer ein irrationaler Rest, der letztlich – auch wenn es mit der historischen Methode nicht nachvollziehbar ist – auf die historische Individualität der Person Jesu zurückgeht. Diese je neu zu vermittelnde Verhältnisbestimmung zwischen dem überlieferten irreduzibel Irrationalen in der christlichen Überlieferung und dessen rationaler Bearbeitung ist der Signatur der christlichen Religion unaufgebbar eingeschrieben. Die christliche Frömmigkeit, selbst in ihrer aufgeklärten Form des Neuprotestantismus, kommt also nicht ohne einen massiven Geschichtsbezug aus. Bousset will nun für seine neuprotestantische Frömmigkeit ein Heimrecht in der evangelischen Kirche erwirken. Dies ist das praktische Leitmotiv seines kirchlichen Engagements als Synodaler der Landeskirche Hannovers. Mit Ernst Troeltsch will Bousset „wahrhafte[] Volkskirchen“, die die wesensmäßig pluralistischen Gestaltungen christlicher Frömmigkeit nebeneinander bestehen lassen können, damit diese sich wechselseitig korrigieren.766 Mit einer sich pluralistisch organisierenden Kirche meinte Bousset den Rahmen bereitzustellen, um die sich von der Kirche immer mehr distanzierenden Gebildeten wieder in dieselbe zurückholen. Ein lebendiges, tatkräftiges Christentum außerhalb der Kultgemeinschaft Kirche ist für Bousset also schlechterdings nicht vorstellbar. Die Mittel zur Reintegration der gebildeten Schichten in der Kirche waren einmal seine populärwissenschaftliche Schriftstellerei, die sich zuerst an die gebildeten Laien richtete, sowie die neufriesianische Reformulierung des Problems ‚Glaube und Geschichte‘, das ja gerade den gebildeten Christen Anfechtungen bereitete. Anhand dieses Programms mit dem Anliegen einer Überführung der Person Jesu in ein Symbol hoffte Bousset, eine theologische Denkfigur bereitzustellen, die sowohl durch den Rekurs auf die religiösen Ideen reflexiv Gewissheit über den Grund des Glaubens stiften als auch mit 765 Vgl. nur UG 45. 766 Bousset, Stellung, 68.

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Boussets Religionstheorie

dem modernen Denken in Natur- und Geschichtswissenschaft nicht in einen Widerspruch geraten kann und damit unabhängig von ihnen bleibt. Die Folgelasten, die sein neuer Rationalismus mit sich bringt, nimmt er dabei in Kauf. Weder die Abwehr einer Auflösung des historischen Jesus in einen Mythos, noch das Interesse des Glaubens, hinter dem Symbol ein wirkliches gelebtes Leben zu wissen, vermag Boussets Neufriesianismus zu leisten. Der oben skizzierte Gewinn für den nach reflexiver Gewissheit strebenden Glauben ist ihm ungleich bedeutender. Bousset will hiermit einen doppelten Fehlschluss vermeiden. Zum einen soll die kirchliche Frömmigkeit nicht auf Dauer an einem geschichtlichen Irrationalismus, dem Christuskult, haften, denn dieser bleibt für Bousset doch letztlich ein Fremdkörper in der Welt des modernen Geistes, der unvermittelbar quer zum modernen Lebensgefühl steht. Die gegenwärtige Christusverehrung in den Kirchen, die womöglich sozialpsychologisch und religionsgeschichtlich erklärlich ist, kann also nicht einfach den normierenden Maßstab bilden. Auch sie muss sich einer rationalen Bearbeitung aussetzen, die dann wieder normativ auf die Praxis zurückwirkt und so das kirchliche Christusbild seines Mythos entkleidet. Bousset bietet hier ferner mit seinen populärwissenschaftlichen Schriften ein modifiziertes Jesusbild, das nun auch innerkirchlich das Christusbild umprägen soll. Zum anderen meint er mit seinem Aufklärungsprogramm die kategorische Forderung an die Gebildeten stellen zu können, die unheilvolle Vereinzelung zu überwinden und im gemeinsamen Kult vermittels des Christusbildes die Religion lebendig zu halten. Und so endet Bousset in seiner Wesensschrift in dem emphatischen Appell:

Nur in der Gemeinschaft wächst die Kraft, die sittlichen Forderungen des Evangeliums hineinzutragen in eine fremde Welt. Diese Gemeinschaft aber finden wir nur, indem wir uns in den gegebenen geschichtlichen Zusammenhang kirchlicher Organisation hineinstellen und, nicht abgeschreckt durch den Schutt alter, schwer zu beseitigender Überlieferung, durch so manche fremde altertümliche Formen, durch die Zäune, Hecken und Mauern kirchlicher Tradition, uns unser Heimatrecht in dieser Gemeinschaft wahren, indem wir die Heimatspflichten gern und mit Eifer auf uns nehmen. Die Frage an die Zukunft des Christentums ist zugleich eine Frage an Herz und Gewissen unsrer modernen Gebildeten, an uns.767

767 WdR 268; vgl. auch RuT 39.

3. Die Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums als Darstellungsmedium von Boussets Christentumsverständnis

3.1 Jesus und die ‚palästinensische‘ Urgemeinde Wurde in den vorangehenden Kapiteln Boussets Religionstheorie mit der Zuspitzung auf das Problem ‚Glaube und Geschichte‘ dargestellt, so soll im Folgenden Boussets Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums untersucht werden. Zunächst weil Bousset freilich die Erforschung der Urchristentumsgeschichte anhand einschlägiger heuristischer Schemata vornimmt, die auf seinen religionstheoretischen Überlegungen basieren.1 Die von ihm rekonstruierte Entwicklung wird daher gleichsam Darstellungsmittel seiner Religions- und Christentumstheorie. Neben dem Bemühen um ein geschichtliches Verstehen der Entwicklung von der weltflüchtigen Jesus-Bewegung zur weltzugewandten und diese beherrschen wollenden Alten Kirche2 stand vor allem der Wille zur Selbstaufklärung der modernen christlichen Frömmigkeit, der für Boussets historischen Studien leitend war. Für Bousset erfolgt diese Selbstaufklärung zuerst über die historische Kritik der Überlieferung, sodass die moderne Frömmigkeit um die Kontingenz und Fremdartigkeit bestimmter urchristlicher Überlieferungsbestände weiß. So zeigen Boussets Studien auf der einen Seite, dass manche Überlieferungskomplexe durchaus pro­ blematische Engführungen der christlichen Erlösungsreligion in sich schließen, an denen insbesondere die Gebildeten in ihrem modernen Lebensgefühl irre wurden.3 Auf der anderen Seite sollen Boussets historische Arbeiten auch eine Kontinuität im Wandel offenlegen. Denn der religionsgeschichtliche Vergleich zielte schließlich zuerst auf ein besseres Verständnis der eigenen Religion. Mit seiner neuen Methode, die konsequent dem Kult das genetische Prä gewährt, will Bousset die gesamte Entwicklung der urchristlichen Religionsgeschichte rekonstruieren. Nur 1 Vgl. Rollmann, Baur, 454. Lehmkühler, dessen Buch das Verhältnis von Dogmatik und Exegese in der Religionsgeschichtlichen Schule insgesamt behandelt, hebt bei Bousset die „idealtypische Verbindung“ (ders., Kultus, 15) dieser beiden schwer vermittelbaren Größen hervor. 2 Zur Problemstellung vgl. Schweitzer, Geschichte, 265: „Ist nämlich Jesu Gedankenwelt rein und ausschließlich eschatologisch, so kann […] auch ein exklusiv eschatologisches Urchristentum daraus entstanden sein. Wie aber aus einem solchen die uneschatologische griechische Theologie hervorgehen konnte, vermochte noch keine Kirchengeschichte und keine Dogmengeschichte nachzuweisen.“ 3 Vgl. Einleitung.

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Die Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums

durch diese methodische Kontrolle meint er die projektiven Elemente in seiner Geschichtskonstruktion zu einem Großteil einhegen zu können.4 Das Leitmotiv dahinter zielt darauf, dem eigentümlichen ‚Geist‘ des Christentums besser auf die Spur zu kommen als es spezifisch reformatorische Deutungen der Urchristentumsgeschichte laut Bousset vermögen. Durch die Rückbindung an diesen methodischen Neueinsatz meinte Bousset angesichts der „Herübernahme“5 fremdreligiöser Stoffe die ‚Originalität‘ des Christentums nachdrücklicher herausarbeiten zu können. Insbesondere der Jesus-Paulus-Debatte wollte Bousset so neue Impulse verleihen, indem er die Problembeschreibung Wredes übernahm, bei dessen Diastase zwischen Jesus und Paulus jedoch nicht stehen blieb.6 Dies bildet sodann die Voraussetzung für Boussets Annäherung an die Frage nach dem Wesen des Christentums, das als Normbegriff in den kirchen- wie theologiepolitischen Kontroversen in Boussets Gegenwart von diesem in Anschlag gebracht wurde. Nach einem skizzenhaften Überblick über Boussets Jesusbild folgt die Rekons­ truktion seiner Paulus- und Johannes-Deutung, innerhalb derer schon fundamentale Grundentscheidung hinsichtlich Boussets Christentumsverständnis ansichtig werden.

3.1.1 Der historische Jesus als Impulsgeber und das Gemeindebewusstsein Der historische Jesus war häufig Gegenstand von Boussets frühen Publikationen. Angefangen mit dem als Gegenschrift zu Johannes Weiß’ Jesusbuch konzipierten Büchlein Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum über einen vor der Versammlung des Protestantenvereins in Bremen gehaltenen Vortrag, aus dem dann die 1904 erschienene Schrift Was wissen wir von Jesus? hervorging, bis hin zum populärwissenschaftlichen Religionsgeschichtlichen Volksbuch Jesus zieht sich die Frage nach einem historisch „‚richtigen‘ Verständnis“7 der Person Jesu wie ein roter Faden durch das theologische Werk Boussets. Die Bedeutung, die Bousset dem historischen Jesus insbesondere in seiner Frühzeit zumaß, ist kaum zu überschätzen.8 Nicht umsonst tritt der gerade promovierte Bousset an die theologische Öffentlichkeit mit einer Entgegnung zu Johannes Weiß’ Jesusdeutung, die Jesu Reich-Gottes-Predigt rein eschatologisch deutet – und dadurch der kulturprotestantischen Reich-GottesIdee ihre historische Rückbindung nahm. Auf Grundlage des religionsgeschichtlichen Vergleichs meint nun Bousset – entgegen Weiß’ eschatologischer Deutung –, 4 Vgl. den Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 186). Siehe auch Anm. 397 mit Seite 248f. 5 S. u. Anm. 399. 6 Gegen Claussen, Jesus-Deutung, 138. 7 Troeltsch, Bedeutung, 822. Boussets frühe Versuche sind exakt diesem Typ historischer Theologie zuzuordnen – sie leiden obendrein an denselben Problemen, die in Kap. 2 zur Darstellung kamen. 8 Vgl. nur JPGJ 77f.



Jesus und die ‚palästinensische‘ Urgemeinde

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das unableitbar Neue an der historischen Individualität ‚Jesus von Nazareth‘ historisch aufhellen zu können, das Jesus als Stifter einer neuen Religion in einen Gegensatz zum ‚Spätjudentum‘ rückt. Allerdings besteht die Funktion des Bildes Jesu, das Bousset vermittels des religionsgeschichtlichen Vergleichs rekonstruieren möchte, schon in dieser Erstlingsschrift nur mehr in der sekundären Rechenschaft des unverfügbar sich einstellenden religiösen Urteils des Glaubens, dass „in Jesu die volle Offenbarung Gottes ist“9. Die Konturierung eines Bildes Jesu, dass vor dem Forum historischer Wahrscheinlichkeitsurteile bestehen kann, hält Bousset zeitlebens für die christliche Frömmigkeitspraxis für unaufgebbar. Von dorther erklärt sich auch Boussets publizistische Tätigkeit für die Religionsgeschichtlichen Volksbücher. Denn die Funktion des in dieser populärwissenschaftlichen Reihe erschienen Jesusbuches, mit dem Bousset betraut wurde, bestand schließlich darin, dem theologischen Laien ein Bild Jesu zu bieten, das einerseits für diesen religiös bedeutsam war, indem es Jesus als exemplarischen Frommen darstellte, und das andererseits vor den historischen Tatsachen bestehen konnte. Wenngleich Bousset auch immer wieder Angleichungen an den aktuellen Forschungsstand in seinem Jesusbild vornimmt – u. a. macht er sich später Weiß’ eschatologische Lesart der jesuanischen Reich-GottesPredigt zu eigen10 –, so bleibt Boussets Jesusbild in seinen Grundzügen erstaunlich stabil.11 Die Konturierung verläuft in etwa folgendermaßen: Der historische Jesus ist der Befreier der Frömmigkeit von allen überkommenen, autoritären Strukturen, wenngleich er sie auch äußerlich in Geltung beließ – worin Bousset das Recht einer historischen Deutung erblickt, Jesus auf dem Hintergrund des ‚Spätjudentums‘ verstehen zu wollen. Gleichzeitig hat er den ‚spätjüdischen‘ Gerichtsgedankens in das Zentrum der neuen Religion gestellt und so den damit verknüpften religiösen Individualismus zum grundlegenden Vollzugsmoment christlicher Frömmigkeit gemacht. Ermöglichungsgrund für die im Gerichtsgedanken sich artikulierende unbedingte sittliche Forderung ist Jesu Gottvaterglaube, in dem die Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit als nah und das menschliche Leben bejahend – im Gegensatz zum ‚spätjüdischen‘ Bild vom fernen Gott – zum Ausdruck kommt. Aus beiden Strukturelementen – des ‚kategorischen Imperativs‘ und dem Gedanken des sündenvergebenden göttlichen Vaters – setzt sich sodann der „einzigartig[e]“12 Erlösungsgedanke Jesu zusammen. Seiner Bedeutung ist Jesus sich abzüglich aller Vorbehalte bewusst, sodass Bousset bis 1906/07 von einem messianischen Selbstbewusstsein Jesu überzeugt ist.13 Eine eingehendere Rekonstruktion von Boussets Jesusbild soll an dieser Stelle unterlassen werden, da es epistemologisch in Boussets Spätzeit eine andere Stellung zugewiesen bekommt. 9 10 11 12 13

JPGJ 8 Anm. 1. Vgl. Bousset, Reich, 437f Anm. 1. Vgl. Beyer, Historie, 167–171. WdR 210. Vgl. Bousset, Jesus, 77; WdR 211.

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Die Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums

Bousset schwindet mit der Zeit nämlich das Zutrauen, überhaupt hinsichtlich des historischen Jesus zu einem validen historischen Wahrscheinlichkeitsurteil gelangen zu können. Das Problem führt Bousset pointiert in seinem Berliner Vortrag vor Augen: [W]as wissen wir historisch Gesichertes von diesem Jesus von Nazareth, seinem Leben, seiner Lehre, seiner Person? Was wir vom pragmatischen Zusammenhang seines Lebens wissen, ist so wenig, daß es auf einem Blättchen Papier Raum fände. Die Predigt oder das Evangelium Jesu ist ein oft unlösliches Gewebe von Gemeindetradition und eventuell echten Worten des Meisters. Was unsere Evangelien von dem eigenartigen Selbstbewußtsein Jesu und dessen Formen, damit auch von dem Innenleben seiner Persönlichkeit überliefern, ist überschattet vom Dogma der Gemeinde.14

Im Rücken dieser Krisendiagnose, die sowohl das Ende der Leben-Jesu-Forschung verkündet als auch gleichzeitig eine nachdrückliche Selbstkorrektur15 bedeutet, verschiebt Bousset die historische Rekonstruktion eines Bildes der Person Jesu in das Umfeld der Frage nach dem Wesen des Christentums. Hat Bousset schon 1892 den Selbstanspruch, „voraussetzungslose Wissenschaft“16 mit seiner historischen Annäherung an die Person Jesu zu treiben, fallen gelassen, so bedeutet die epistemologische Überführung der Frage nach dem historischen Jesus in die Wesensbestimmung des Christentums die konsequente Selbstaufhebung der historischer Wissenschaft, wie Bousset selbst einräumt.17 Der historische Jesus ist also nicht mehr Gegenstand von Boussets historischen Studien, sondern nur mehr im Rah14 BPJG 4; vgl. auch KFR 429, wo Bousset gegen Troeltschs Forderung, endlich Gesichertes in den „Hauptpunkten“ des Lebens Jesu geltend machen zu können, einwendet: „Ich fürchte, dass uns vorläufig im Verlauf der Arbeit das Gefühl der Unsicherheit des Bodens, auf dem wir uns bewegen, noch mehr zum Bewusstsein kommen wird. [...] Ich fürchte, dass ein Systematiker sich kaum mehr der Hoffnung hingeben darf, dass diese Wogen sich in absehbarer Zeit wieder verlaufen werden.“ Die Schwierigkeiten gelten allerdings allein in Hinsicht einer validen historischen Rekonstruktion (vgl. nur den Brief vom 30. Dezember 1910 an Paul Wernle [Özen 184]: „Aber das liegt auf rein historischem Gebiet“). Ohne es historisch aufweisen zu können, würde Bousset sogar Wernle gegenüber „[...] etwas mehr messianisches Bewusstsein konzedieren“ (Brief vom 22. Dezember 1913 an Paul Wernle [Özen 185]; vgl. auch ders., Messiasgeheimnis, 361 Anm. 1: Falls man jede „messianische Selbstoffenbarung“ ausschließt, wird der Glaube der Jünger zu einem „völlig undurchdringliche[n] Wunder“), als es in Kyrios Christos zunächst den Anschein nimmt. Sogar das Jesusbild, das Bousset in Jesus und Was wissen wir von Jesus entwirft, setzt er erneut in Geltung – sie könnten letztlich auch mit der historischen Kritik zusammenbestehen (vgl. wiederum den Brief vom 30. Dezember 1910 [Özen 184]), nur ist es eben nicht mehr vermittels der historischen Methode einholbar. 15 Vgl. MuR 18 Anm. 1: „Ich bekenne gerne, daß ich in diesem Punkt der Bewertung des religionswissenschaftlichen Beweises meine frühere Position verändert habe.“ Vermittels des „theoretischen“ (ebd. 18) religionsgeschichtlichen Vergleichs ist eben keine definitive Gewissheit darüber zu gewinnen, ob der christlichen Religion mit ihren Religionsstifter Jesus von Nazareth die Höchstgeltung unter den Religionen zukomme – diese ist nur mehr auf Grundlage einer „praktischen Lebensüberzeugung“ (ebd. 17) plausibel. 16 JPGJ 9. 17 Vgl. Kap. 4.1.



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men einer reflexiven Standortbestimmung der Anfangspunkt der christlichen Frömmigkeit.18

3.1.2 Verschiebungen im Bild des historischen Jesus Hat Bousset in seinen frühen Arbeiten versucht, die Person Jesu von Nazareth als historische Individualität zu fassen, dessen Frömmigkeit sich mit einiger Genauigkeit beschreiben lässt, so wurde ihm – offenbar im engen Schulterschluß mit William Wrede19 – der historische Zugriff auf den historischen Jesus immer ungewisser.20 Die historische Person Jesu verschwindet nun immer mehr hinter dem Gemeindebewusstsein. Anstelle des authentischen Jesus-Erzählgutes tritt ihm die sekundäre Gemeindetradition, deren projektive Elemente einen validen historischen Zugriff auf die Person Jesu methodisch unmöglich machen. Was Bousset noch zuvor der schöpferischen Persönlichkeit Jesu zuschreiben konnte, ist jetzt das Produkt des Gemeindebewusstseins, das gleichsam einem sozialpsychologischen Gesetz den Religionsstifter aus der Geschichte zu einer übergeschichtlichen Realität stilisiert. Schöpfer der urchristlichen Symbolsprache ist dann eben nicht mehr allein der historische Jesus, sondern das bestimmten, religionspsychologisch beschreibbaren Prozessen unterworfene Gemeindekollektiv. In historischer Hinsicht bedeutet das, dass wir erst „[m]it der Frage nach der Stellung Jesu im Glauben der palästinensischen Urgemeinde auf einem verhältnismäßig gesicherten Boden [stehen].“21 Mag es auch zuvor eine besondere Beziehung zum historischen Jesus innerhalb der Jüngerschar gegeben haben, historisch beschreibbar wird allererst der nachösterliche Glaube der Jünger, dass Jesus lebt.22 Dieser „rein geistige[] Vorgang in den Seelen der Jünger“ wird von Bousset nun nicht als unableitbares „psychologisches Wunder“ angesehen, vielmehr ist im Rahmen einer „wirklich historischen Betrachtung“23 damit zu rechnen, dass hier mehrere Faktoren ineinander griffen. 18 Zu Boussets Wesensbestimmung vgl. Kap 4.1. 19 Vgl. KC 66 Anm. 1; wie auch die beiden Rezensionen zu Wredes Messiasgeheimnis in der Theologischen Rundschau (Bousset, Messiasgeheimnis); vgl. Kahlert, Held, 37f; zu Wredes Jesusund Paulusbild vgl. Merk Persönlichkeit, 34–40. 20 Vgl. Laube, Otto, 225: „Bousset nimmt also das Problem der historischen Kritik so ernst, dass ihm die religiöse Individualität Jesu zunehmend entschwindet. An die Stelle des unableitbar Neuen tritt das religionsgeschichtlich Herleitbare; an die Stelle des Religionsstifters das Gemeindekollektiv.“ 21 KC 1. 22 Es geht Bousset auch in religiöser Hinsicht allein um die „Gewissheit von dem persönlich lebendigen Herrn Jesus“, die die Jünger offenkundig erlebten. Jede sich dran anschließende Deutung ist veränderliche Form, „in die man sich diese Gewissheit vermittelt hat“ (MPT Kaftan, 329). An der Tatsache des Ostererlebnisses der Jünger rüttelt Bousset also auch in seiner historischen Rekonstruktion nicht. 23 KC 17.

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Den „treibende[n] Faktor“ erkennt Bousset dann auch in dem „mit nichts zu vergleichende[n], gewaltige[n] und unzerstörbare[n] Eindruck, den Jesu Persönlichkeit in den Seelen hinterlassen hatte.“24 Worin dieser überwältigende Eindruck bestand, lässt sich historisch nun freilich nicht mehr feststellen. Bousset rechnet aber damit, dass der historische Jesus schon zu Lebzeiten „Hoffnungen“25, wie Bousset nebulös formuliert, in den Jüngern weckte. Hinsichtlich der hochgradig strittigen Frage nach einem messianischen Selbstbewusstsein Jesu wird Bousset also zusehends zurückhaltender.26 Er steht damit außerhalb der ritschlianischen Schulexegese, der es demgegenüber noch zuvörderst um den Aufweis eines vermeintlich messianischen Selbstbewusstseins zu tun war.27 Bousset konnte hier anders optieren, da vom Standpunkt seiner neufriesianischen Reformulierung des Verhältnisses von Glaube und Geschichte nur das Symbol selbst, also das neutestamentliche Christussymbol, religiös bedeutsam ist. In welchem Verhältnis dies wiederum zum historischen Jesus steht, ist laut Bousset, wie gezeigt, weder historisch rekonstruierbar, noch liegt es im unmittelbaren Interesse des Glaubens.28 Wenngleich die Person Jesu auch für Bousset fraglos eine kausative Wirkung auf den Glauben der Jünger besaß, so reicht sie nicht aus, um den konkreten urchristlichen Auferstehungsglauben erklären zu können. Es müssen noch andere Faktoren hinzukommen. Und so greift Bousset zur historischen Erklärung des Osterglaubens auf ein „psychologisches Gesetz“ zurück, dass jäh enttäuschte Hoffnungen immer „den Gegenschlag“29, ein „trotziges Und-Dennoch“30, provozieren. Meint Bousset damit den Osterglauben rein immanent ohne ein analogieloses supranaturales Wirken Gottes erklären zu können, so führt von hier allerdings noch kein Weg zur urchristlichen Christologie. An dieser Stelle gerät für Bousset der Vorgang der Deutung des Erlebnisses in den Blick. Boussets Erklärung des Osterglaubens wird man allerdings nicht als bloßen Erfahrungspositivismus lesen können, der vermittels eines ungeschichtlichen Zwei-Stufen-Modells Erlebnis und Deutung graduell und chronologisch auseinander hält. Man wird vielmehr auch in dieser Hinsicht in 24 KC 17. 25 KC 17. 26 „Daß sich der Messiasgedanke an Jesus sich herangedrängt habe, scheint m. E. als echte Überlieferung festzustehen. Unsicher bleibt die Stellung Jesu dazu“ (KC 18 Anm. 1; dazu vgl. auch JdH 9f, wo Bousset Wernles Versuch einer Rekonstruktion eines messianischen Selbstbewusstseins Jesu referiert). Welche Option man auch wählt, für Bousset ist klar, dass beim Selbstbewusstsein Jesu „das Gebiet der Unsicherheiten und subjektiven Entscheidungen“ (KC 16 Anm. 3) beginnt. Dies bedeutet wiederum eine Selbstkorrektur, da er noch 1904 in seinem Religionsgeschichtlichen Volksbuch Jesus, 82 meinte mit rein historischen Mitteln ein messianisches Selbstbewusstsein Jesu noch wahrscheinlich machen zu können. 27 Vgl. Murrmann-Kahl, Heilsgeschichte, 410; Schweitzer, Geschichte, 219–244; Weinhardt, Stellung, 34. 28 Vgl. dazu die Diskussion mit Troeltsch in Kap. 2.2.6. 29 KC 17. 30 KC 17f.



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Rechnung stellen müssen, dass, wie gezeigt, für Bousset das gemeinsame Leben der Apostel mit ihrem Meister den österlichen Glauben irgendwie präformierte und ihn so gewissermaßen erst ermöglichte. Die Entstehung des Osterglaubens ist also in Boussets Rekonstruktion zunächst ein vorreflexiver Vorgang, der allerdings noch der reflexiven Bearbeitung harrte. Das „unheimliche Rätsel“31 des Leidens und des Todes, das zunächst im Widerspruch zum Ostererlebnis und zu den vorangehenden Erfahrung mit dem historischen Jesus stand, konnte erst durch einen neu hinzutretenden Faktor aufgelöst werden, sodass sich die rätselhafte Erfahrung des Scheiterns Jesu mit dem Ostererlebnis, dass er lebt, verbinden ließ. Hierzu nahm die Urgemeinde laut Bousset das fertige Messiasbild aus der jüdischen Apokalyptik und deutete anhand dessen Jesu Leiden und Sterben. Zwar will Bousset diesen Vorgang innerhalb des Gemeindebewusstseins nicht schon als reife Theologie stilisieren – es sei vielmehr ein „seelisches Ringen“32 –, allerdings ist die Übernahme der tradierten Bilder der jüdischen Apokalyptik wiederum kein reflexionsfreier Vorgang. Denn das Kreuzesgeschehen wurde bewusst auf dem Hintergrund jenes „zusammenhängende[n] und in sich geschlossene[n]“33 Bildes des apokalyptischen Menschensohnes – Bousset kann sogar von einer regelrechten „Menschensohndogmatik“34 sprechen – gedeutet. Vermittels der schon bereitliegenden Menschensohndogmatik konnte nun „eine Brücke“35 zwischen Niedrigkeit und Erhöhung geschlagen werden – das Rätsel wandelte sich in die Einsicht in Gottes Vorsehungshandeln. Jesu Leiden unterliegt einem „göttliche[n] Müssen“36. Die Deutung der Ostererfahrung auf dem Hintergrund der Menschensohndogmatik fällt nun historisch mit den Anfängen des Christusglaubens überhaupt zusammen.37 Für Boussets Rekonstruktion der Entstehung des Christusglaubens, die ja die leitende Fragestellung seines Kyrios Christos ist, bedeutet dies, dass der Christusglaube schon in seinen Anfängen nie ohne historisch gewachsene Überliefe31 KC 18. Noch 1903 markiert Bousset den Kreuzestod als bleibendes Rätsel, das auch nicht durch die Ostererlebnisse eingeholt werden konnte. Dass sich in der Urgemeinde die Bedeutung des Todes Jesu eines rationalisierenden Zugriffs noch entzieht, ist für Bousset theologisch angemessener als ihn in festes System einzufügen, wie es in der paulinischen Theologie vollzogen wurde (vgl. WdR 219–221). 32 KC 18. 33 KC 16. 34 KC 34 passim. Literarkritisch lasse sich der Menschensohntitel vielerorts nicht abheben. Dies sei ein hinreichendes Indiz, dass „der Titel der ältesten und primären Schicht angehört“ (ebd. 8). 35 KC 16. 36 KC 16; vgl. ebd. 17: „Der Messiasglaube konnte sich nach dem Tode Jesu in gar keiner anderen Form gestalten als in der des transzendenten Messiasideals“, denn nur so war der Tod des Meisters integrierbar in das ungefähre Bild vom Leben Jesu, das man in der Urgemeinde möglicherweise noch hatte. 37 Vgl. KC 17: „Sehr bald, nachdem die Jünger Jesu den kühnen Glauben erfassten, Jesus sei trotz Leiden und Tod der verheißene Messias, wird ihr messiansicher Glaube die Form der Menschensohnerwartung angenommen haben“ (Hervorhebung JH).

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rungsbestände verständlich gemacht werden konnte. Dem Problem, dass die zeitgenössische jüdische Literatur keinen leidenden Messias kennt, entschlägt sich Bousset, indem er den Blick auf „merkwürdige Spekulationen“ lenkt, die im hellenistischen Kulturkreis im Umlauf waren, die explizit vom Leiden, Sterben und Auferstehen eines Urmenschen handeln. Bousset rechnet mit der Möglichkeit, dass diese Mythen „indirekt“38 über die Apokalyptik, in der sie keine große Bedeutung besaßen, auf jene urchristliche Menschensohndogmatik gewirkt haben, in der das Leiden des Messias ein wesentliches Charakteristikum darstellte. Mit dem Titel ‚Menschensohn‘ hat die Urgemeinde allerdings auch den gesamten Inhalt jener apokalyptischen Vorstellungen übernommen. Analog der späteren heidenchristlichen Engführungen des Christusglaubens als eines Glaubens an bestimmte heilsgeschichtliche Tatsachen zeigen sich auch schon in der palästinensischen Urgemeinde Tendenzen einer Vergöttlichung Jesu, die eben schon in dem vorchristlichen Mythos vom halbgöttlichen Menschensohn lagen. Für die Urchristentumsgeschichte begreift Bousset dies dann auch als „folgenschwersten Schritt“39, dass Jesus als Menschensohn auch der künftige Weltenrichter wird und „an Gottes Stelle tretend, diesen bereits im Glauben der Urgemeinde aus seiner Position zu verdrängen beginnt.“40 Was später im hellenistischen Kulturkreis durch den im Kult gebrauchten Kyriostitel explizit wird – die Verehrung Jesu als einen neuen Gott –, ist also schon in der Menschensohndogmatik angelegt. Ergänzt wurde die Menschensohndogmatik durch volkstümliche Vorstellungen von der Auferstehung am dritten Tag und vom Hadeskampf, die mutmaßlich ein „unliterarisches Dasein“41 in Palästina führten. Bousset meint so genügend religionsgeschichtliche Analogien beibringen zu können, um wahrscheinlich zu machen, dass auch das älteste Christentum mit diesen Mythen vertraut gewesen ist und auch diese „Krone“42 ihrem Meister noch aufsetzen musste. Es lagen also schon die Mythen bereit, anhand denen der Held in eine übergeschichtliche Größe überführt wurde. Allerdings erblickt Bousset in dieser raschen Entwicklung der Übernahme der Mythen der Umwelt auch eine bestimmte Qualität der christlichen Religion. Denn allein schon die Rasanz der Entwicklung zeige Bousset hinlänglich, dass die christliche Religion eine bezwingende „sieghafte[] Werde- und Werbekraft“ in sich birgt, vor der sich scheinbar auch der Historiker nicht verschließen kann.43 Diese Kraft kommt zunächst darin zu stehen, dass die Übernahme der Mythenstoffe eben keine bloß rezeptive ist, sondern immer schon 38 KC 23. 39 KC 15. 40 KC 15. Bousset konstruiert eine genealogische Reihe, die das neutestamentliche „Dogma vom Weltrichtertum“ (KC 15) erklären soll: erst wird Jesus der Zeuge im Endgerichts, dann richtet er selbst in der Herrlichkeit seines Vaters über seinen Verleugnern und Bekennern, dann wird er der Weltrichter, der jedem vergilt nach seinem Tun (vgl. ebd.). 41 KC 28; zumindest gehörten sie nicht zur „vornehmen Literatur“ (ebd.). 42 KC 18. 43 KC 32.



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eine Anverwandlung des fremden Stoffs, in deren Rahmen die christliche Religion ihren „eigene[n] Besitz dem Mythos hinzugefügt hat“44 – eine bloße Abhängigkeit des Christentums von anderen Religionen kann Bousset also gerade nicht erkennen. Zeigt dies die „charakteristische Originalität der jungen Religion“45, so lässt sich darüber gleichzeitig Boussets theologisches Interesse erschließen, das gerade nicht in der Auflösung des Christentums in einen bloßen Synkretismus liegt. Zwar bedeutet dies, dass die Mythenstoffe der Auferstehung am dritten Tag und die Hadespredigt – trotz ihres nach Bousset zweifellos hohen Alters – nicht zur „Genuität“46 der christlichen Religion gehören; das Eigentümliche der christlichen Religion sei vielmehr darin zu erblicken, dass jene Mythen aus der Umwelt nun eben gemäß „der Kraft und der Originalität des christlichen Geistes“47 umgestaltet werden. So erkennt Bousset beispielsweise in der christlichen Rezeption des in hellenistischen Kreisen zirkulierenden Motivs der Hadespredigt eine Akzentverschiebung innerhalb des Mythos’, die dessen Gehalt nun in eine andere Richtung verändert. Denn die Pointe des Mythos von der Hadespredigt beispielsweise kommt nun in der christlichen Rezeption in der „Idee der Universalität des Heils“48 zu stehen, die eben nach Bousset keine erst paulinische Schöpfung ist. Der Mythos wird also dem christlichen Geist anverwandelt und darin zum Artikulationsmittel des neuen Glaubens. Woher dieser neue universalistische Glaube nun genau kommt und wie er sich präziser beschreiben lässt, bleibt Bousset allerdings zunächst zu beantworten schuldig, wenngleich dies auch für seine Fragestellung – ähnlich der Frage nach Jesu Selbstbewusstsein – entbehrlich ist.49 Festzustehen scheint hingegen für Bousset, dass dieser neue Geist ohne sein mythisches Artikulationsmittel niemals seine daseinsverändernde Wirkung hätte entfalten können. Sodann schreibt Bousset dem Mythos mit seinen grellen Farben auch eine größere religiöse Überzeugungskraft zu als nachgängige Theologumena, die dem Mythos wieder seine Kraft rauben.50 Zuerst ist also der Mythos, der als Bestandteil der Vorstellungswelten des Kulturkreises, anhand denen auch die ersten Christen ihre Erfahrungen machten und ihre Welt deuteten, nun auf seine inhärenten Gehalte freigelegt wird. Diese Gehalte wer44 KC 32. 45 KC 32. 46 KC 32. 47 KC 32. 48 KC 32. 49 Sporadisch schließt Bousset diese Lücke, indem er einen Impuls des historischen Jesus annimmt, was ein „besonnener Historiker auch kaum bestreiten mag“ (BPJG 9). Nur meint er eben auch ohne diesen Impuls die Entstehung der konkreten Formen des Christusglaubens historisch erklären zu können. 50 Vgl. wiederum nur Boussets Ausführungen zur Hadespredigt in KC 28: Das „von des Gedankens Blässe angekränkelte Theologumenon [kann] nicht das Ursprüngliche gewesen sein“, wie Bousset auf Grundlage seiner Religionstheorie postuliert.

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Die Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums

den allerdings so neu arrangiert, dass die religiöse Botschaft nun eine vollständig andere und neue ist. Gemäß Boussets Religionstheorie gilt nun aber, dass in der Religion immer der „Weg vom Mythos zur Idee“51 verläuft, niemals umgekehrt. Dies habe sich nun für Bousset am historischen Tatsachenbestand bewährt. Diese Theorie erlaubt ihm auch allererst, die Urchristentumsgeschichte in der eben dargestellten Weise zu rekonstruieren. Denn die Quellen, auf die sich Bousset beruft, sind oft in einem größeren Abstand zur neutestamentlichen Zeit – wie wiederum das Beispiel von Boussets Rekonstruktion der Entstehung der Hadespredigt52 illustriert –, sodass er stets einen ‚kräftigen‘ Mythos hinter den theologisch überarbeiteten Quellen vermutet, der dann auf der Ebene des Kultes für die Frömmigkeit eine kaum zu überschätzende Rolle hatte. Boussets Rekonstruktion der Entstehung des Glaubens der Urgemeinde in Palästina hat nun in nuce die für Boussets Christentumstheorie eminent wichtige Umgestaltungskraft des christlichen Glaubens veranschaulicht: Und deshalb ist dieser ganze Zusammenhang [sc. der Glaube der Urgemeinde] so wichtig, weil sich hier gleich in den Anfängen so deutlich, wie man nur wünschen kann, die schöpferische Gestaltungskraft des Gemeindeglaubens und dessen Fähigkeit der Umgestaltung geschichtlicher Wirklichkeit zeigt.53

Darin ist der Glaube nämlich schöpferisch, indem er sich ein verklärtes Personenbild vom historischen Jesus entwirft.54 Das Personenbild von der Person Jesu ist nun, wie Boussets historische Studien zeigen, äußerlich beweglich gehalten, indem es die verschiedensten Stoffe an sich heranzog und sich ‚amalgamierte‘.55 Die hohe religiöse Bedeutung des vom Gemeindeglauben produzierten Christusbildes rührt nach Bousset daher, dass es in der Lage ist, geschichtliche Wirklichkeit umzugestalten, wie aus dem obigen Zitat hervorgeht. Darin unterscheidet sich nämlich das Symbol ‚Jesus Christus‘ bzw. ‚Jesus, der Menschensohn‘ von anderen Symbolen der Religionsgeschichte, weil es die größte religiöse Anschlussfähigkeit besitzt. Denn in diesem Personenbild, dessen Eigentümlichkeit gerade darin besteht, dass es nicht in heilsgeschichtlichen Tatsachen aufgeht, kann die christliche Frömmigkeit sich frei darstellen, da es gleichzeitig in sich beweglich gehalten ist und als Bild vom ganzen Leben der Person, von seinem Wirken und seinem Leiden über eine

51 KC 32. 52 Vgl. KC 28–30. 53 JdH 11. 54 Nach Bousset sei dies ein religionsgeschichtlich vielerorts beobachtbarer Vorgang, vgl. bezogen auf die Taufszene KC 44: „Die Gemeinde dichtet die Vorgeschichte des Helden […] nach einem bestimmten Schema […], wie wir ganz ähnlich Schemata von Zaruthustra, Buddha oder Muhammed wiederfinden.“ 55 Vgl. KC 62: „So hat die Gemeinde der Jünger Jesu gedichtet und sein Bild mit Goldglanz des Wunderbaren umgeben. Oder anders ausgedrückt, das Personenbild Jesu beginnt mit magnetartiger Kraft zu wirken und alle möglichen Stoffe und Erzählungen an sich zu ziehen.“



Jesus und die ‚palästinensische‘ Urgemeinde

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hohe Plastizität verfügt.56 Sodann gilt für Bousset gleichermaßen, dass erst durch die Deutung der Person Jesu durch die Gemeinde auf dem Hintergrund der ‚spätjüdischen‘ Menschensohndogmatik das Personenbild „wirksam“57 wurde. Denn nur durch das Einstellen der Person Jesu in eine „große göttliche Heilsgeschichte“58, die die Urgemeinde in der apokalyptischen Predigt vom Menschensohn erkannte, konnte die gläubige Gemeinde sich erst Rechenschaft geben von der neuartigen religiösen Erfahrung, die sie vermittels des Bildes, das sie noch vom Leben Jesu hatten, machten. Bousset beschreibt also einen Prozess im Gemeindebewusstsein der Urgemeinde, der letztlich für ihn ein Strukturmoment des gesamten religiösen Lebens ist. Eine Gemeinde deutet ihre religiösen Erfahrungen, die sie irgendwie in einem Zusammenhang mit den großen Persönlichkeiten der Geschichte ihrer Religion bringen, unter Zuhilfenahme von bestimmten, im jeweiligen Kulturkreis zur Verfügung stehenden Vorstellungen, die die Stiftergestalt dann mit übergeschichtlichen Attributen ausstattet. Diesen Vorgang hat Bousset, wie gezeigt, schon im Rahmen seiner Religionstheorie ausgearbeitet – er bewährt ihn auch am historischen Befund im Rahmen seiner Rekonstruktion des ältesten Christentums. In der christlichen Religion ist es also das Bild der Person Jesu, das nun anhand verschiedener Überlieferungsstoffe gedeutet wird. Die Pointe liegt gleichsam darin, dass nun nicht nur der historische Jesus einen auf Dauer gestellten Impuls am Anfang der Christentumsgeschichte setzt, der dann später nur mythisch ausgestaltet wird, sondern dass bereits die erste christliche Gemeinde einen Mythos aus ihrer Umwelt gebrauchte. Erst durch diese Gestaltung durch das Gemeindebewusstsein, die als „eigentümliche[] Verbindung der historischen Jesusgestalt und der Verkündigung der Gemeinde […] geschaffen wurde“59, konnte der christliche Glaube seine ihm eigene Überzeugungskraft entfalten. Dies bedeutet ferner, dass für Bousset der christliche Glaube eben nicht im bloßen mystischen Erlebnis der heilsamen Gegenwart Jesu aufgeht – um eine lebenspraktische Relevanz zu besitzen, ist es unentbehrlich, sich vermittels eines Deutungsaktes des Erlebnisses auch reflexiv zu bemächtigen. Freilich ist das Jesusbild der Urgemeinde nur mehr in einem mythischen Zeitalter, mit seinem Glauben an „Wunder und Weissagungen, an ein nahes, unerhörtes besonderes Eingreifen Gottes in den Gang von Natur und Geschichte“60, von unmittelbarer Überzeugungskraft. „[E]ine solche Zeit brauchte eben dies Jesusbild“61, damit ihre christlich-religiöse Erfahrung nicht ein mit den übrigen Lebensbereichen unvermittelbares Rätsel bleibt.

56 Vgl. Kap. 2.1.6. 57 KC 75. 58 KC 75. 59 KC 74. 60 KC 75; dort ist Boussets Charakterisierung eines mythischen Zeitalters noch weiter ausgezogen. 61 KC 75; Hervorhebung JH.

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In einem nichtmythischen Zeitalter muss freilich auch das Jesusbild, das sich das Gemeindebewusstsein entwirft, ein anderes werden. Die Bedeutung der Produktionskraft der Gemeinde für das jeweilige Christusbild bleibt also ungebrochen – sie gehört zum Grundvollzug christlicher Frömmigkeit, dass sich die Gemeinde vermittels des im Neuen Testament und in der Christentumsgeschichte überlieferten Jesusbildes ein neues Christusbild entwirft, in dem sich der Glaube seinen religiösen Besitz darstellt: „Dieses Schauspiel der Schöpfung eines vom Glauben gezeichneten Jesusbildes wird sich uns noch einmal vom Standpunkt eines reineren und allgemeingültigeren Glauben wiederholen, ja es wiederholt sich eigentlich unendlich oft im ganzen Lauf der christlichen Geschichte.“62 Dem Personenbild Jesu, das erst die Gemeinde erschaffen hat, kommt nun allerdings noch eine gesonderte Bedeutung zu. Entgegen späteren christentumsgeschichtlichen Entstellungen und soteriologischen Engführungen hat die erste Gemeinde trotz des mythologischen Zugriffs auf die Person Jesu doch letztlich ein Bild Jesu entworfen, dass noch deutlich das Leben Jesu von Nazareth in seinem besonderen Gottesverhältnis im Fokus hat. Gegenüber der hellenistischen Gemeinde, die von der Gesamterscheinung Jesu eigentlich nur seinem Heilswerk eine religiöse Bedeutung zumaß, hat die Urgemeinde nachhaltiger die Bedeutung der gesamten Lebensgeschichte Jesu, seinem „Lebensbild“63, gespürt. Und so hat sie nach Bousset, der hier freilich historisch gesichertes Terrain verlässt – denn was ‚echt‘ und was vom Gemeindekerygma hineingetragen ist, kann nicht mehr sicher unterschieden werden64 –, „ein gutes Stück des echten und ursprünglichen Lebens bewahrt. Sie hat uns die Schönheit und Weisheit der Parabeln erhalten, in ihrer krystallenen Form.“65 Sodann habe sie „so gut wie gar nichts […] abgebrochen“ von den „sittlichen Forderungen“66, die der historische Jesus aus seinem Gottesglauben abgeleitet hatte. An dieses Jesusbild – so wird man Bousset lesen dür­fen – kann freilich auch eine Gemeinde in der Moderne anknüpfen. Freilich nicht ungebrochen – aber über den Umweg der Auslegung kann nun das neutestamentliche, insbesondere das synoptische Jesusbild zum Medium und ‚Kräftigungsmittel‘ einer spezifisch christlichen Erfahrung werden, die im Bild vom Leben Jesu das Bild eines gottgefälligen Lebens erkennt.

62 KC 75. Zur ‚Teleologie‘ der Religionsgeschichte vgl. Kap. 2.2.3. 63 KC 74. 64 Vgl. nur BPJG 4. 65 KC 74. 66 KC 74; Bousset führt die sich in der Verkündigung der Gemeinde kontinuierenden Motive der Predigt Jesu noch weiter aus, vgl. ebd.



Die Paulusdeutung Wilhelm Boussets

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3.2 Die Paulusdeutung67 Wilhelm Boussets In diesem Kapitel gilt es, Boussets Paulusdeutung zu rekonstruieren, um anhand dessen die normativen Elemente seiner historischen Studien offenzulegen. Dabei sei vorausgesetzt, dass im Medium seiner Rekonstruktion der paulinischen Theologie und Frömmigkeit bestimmte Elemente isoliert werden können, die auch für Boussets Christentumsverständnis trotz des Abstandes der Zeiten Geltung beanspruchen können. Es ist ferner zu erwarten, dass sich Boussets theologieinterne, aber auch kirchenpolitische Anliegen im Umgang mit Person und Theologie des Paulus verdichten68 und so – im Medium der Rekonstruktion der paulinischen Frömmigkeit und Theologie – der Ertrag für die Rekonstruktion seines Christentumsverständnisses überaus reich sein wird.69 Grundlage wird abermals Boussets Kyrios Christos sein, das ihm laut Richard Reitzenstein mehr „Bekenntnisbuch“70 als wissenschaftliche Studie gewesen ist.

67 Die leichten Verschiebungen im Paulusbild Boussets, die es unzweifelhaft innerhalb der exegetischen Publikationen Bousset gibt, sind m. E. nur zum Teil auf eine innere Entwicklung Boussets, die immer mehr Elemente eines ‚Antipaulinismus‘ aufweise, zurückzuführen. Zwar kann man spätestens mit der Entdeckung der Bedeutung von Paulus’ pneumatischer Frömmigkeit – dazu s. u. – für seine gesamte Theologie und Frömmigkeit, die vom Rand in früheren Publikationen (vgl. z. B. Noch einmal Jesus und Paulus) immer mehr ins Zentrum seiner Paulusdeutung rückt, eine leichte Binnendifferenzierung im Gesamtbild erkennen, doch von einem wirklichen Bruch in seiner Paulusdeutung wird man nicht ausgehen dürfen – dafür sind die Kontinuitätslinien zu offenkundig. Bousset selbst hebt in Jesus der Herr vielfach hervor (vgl. nur ebd. 92 mit Anm. 1), dass das doch zumeist – wie Bousset selbst einräumt – negativ schattierte, enggeführte Paulusbild, das er im Kyrios Christos oder eben in Jesus der Herr selbst entwirft, auf das engste mit der engen Themenstellung seines Kyrios Christos zusammenhängt. Sie ist nur die „eine Hälfte“ (JdH 92) einer Gesamtdarstellung. So ist der Gegenstand des Kyrios Christos eben nur die genetische Rekonstruktion der Entwicklung des Christusglaubens als eines zentralen Merkmal der urchristlichen Religion; Publikationen hingegen, die stärker eine Gesamtwürdigung der religiösen Persönlichkeit des Paulus im Blick haben – wie der Aufsatz Noch einmal Jesus und Paulus –, weisen ein leicht modifiziertes Paulusbild auf, das Paulus mehr als den Befreier einer formal noch partikularistischen Religion zu fassen versucht, der es zudem verstand, eine kultisch gebundene Frömmigkeit auf das gesamte christliche Leben hin zu entschränken. Zu Boussets Plan einer Gesamtdarstellung der Entstehung des Christentums s. u. Kap. 3.4. 68 Vgl. nur Wrede, Paulus, 104: „Jesus oder Paulus – mit dieser Alternative läßt sich wenigstens teilweise der religiöse und theologische Kampf der Gegenwart kennzeichnen.“ 69 Zu Boussets Reserve gegenüber einer Repristination des Paulinismus, deren Geltungsanspruch es ist, die allein gültige Gestalt christlicher Frömmigkeit zu sein, vgl. nur BPJG 4f: Die „sogenannte positive (orthodoxe) Theologie“ gründet nach Bousset ihren Glauben „auf eine phantasievoll-mythisch-dogmatische Deutung des Lebens Jesu vonseiten des Paulus, eine Deutung, deren Wurzeln durchaus im zeitlich bedingten Vorstellungsmaterial eines vergangenen Zeitalters liegen.“ 70 Reitzenstein, Bousset, 10. Reitzensteins Einschätzung ist freilich etwas überzogen, denn Boussets Anspruch ist es ja gerade durch eine erhöhte Methodenstrenge ein hohes Maß an Wissenschaftlichkeit zu gewährleisten. Dazu s. u.

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3.2.1 Paulus – größter Jünger Jesu und Stifter der christlichen Religion Boussets Paulusdeutung ist von der Voraussetzung bestimmt, dass der Pharisäer Paulus auf ein Christentum des hellenistischen Kulturkreises stieß, in welchem sich schon bestimmte, festere Formen christlich-religiösen Lebens gebildet haben. Zwischen Paulus und Jesus lag also neben der judenchristlichen Urgemeinde auch noch die Gemeinde auf hellenistischem Gebiet, die sich vornehmlich aus konvertierten Heiden zusammensetzte. Dies zu beobachten war freilich in der zeitgenössischen Exegese nicht völlig neu, nur wurde Paulus – ungeachtet dessen – noch näher an die Urgemeinde Palästinas herangerückt71. In Boussets Rekonstruktion der Urchristentumsgeschichte hat sich hingegen im Überschritt der urchristlichen Heidenmission in den hellenistischen Kulturkreis „eine neue Wendung in der Geschichte des urchristlichen Glaubens“72 ereignet; „[k]ein anderes Ereignis kommt dem an Wichtigkeit gleich.“73 Wenngleich Bousset ein gewisses Wechselverhältnis zwischen der jüdischen und der hellenistischen Kultur partiell auch zugestehen kann, so arbeitet seine Rekonstruktion der Urchristentumsgeschichte doch mit einer trennscharfen Unterscheidung zwischen diesen beiden Kulturkreisen. Der Veränderungsschub innerhalb der christlichen Religion, der mit dem Überschritt in den hellenistischen Kulturkreis über die neue Religion kam, verschob die Koordinaten des frühchristliche Religionssystem beträchtlich. Im Folgenden soll dieser Veränderungsschub ausführlicher beschrieben werden, zumal es sich bei der Entdeckung der Bedeutung des Heidenchristentums für die Genese des Christentums um den hermeneutischen Schlüssel für Boussets Rekonstruktion handelt. Sodann soll auf diesem Hintergrund Boussets Deutung der früh71 Vgl. Wernle, Antithesen, 15. Bousset hatte hier durchaus prominente Vorläufer wie Wilhelm Heitmüller, der nach allgemeiner Einschätzung der zeitgenössischen Forschung als Erster die historische Größe des Heidenchristentums in seine Rekonstruktion der Urchristentumsgeschichte und des Paulinismus mit hinzuzog (vgl. ebd. 2). Auch der methodische Neueinsatz beim Kult als Wiege der neutestamentlichen Frömmigkeit findet sich bei Heitmüller, der laut Bousset „erstaunt sei über die ‚prästabilisierende Harmonie‘“ (Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 [Özen 187]), die über Boussets und Heitmüllers Arbeiten waltete. Bousset kam jedoch „der Verdienst“ zu, als Erster dieses heuristische Schema im „Zusammenhang und in voller Konsequenz“ durchgeführt zu haben (Wernle, Anthithesen, 2; so auch Breytenbach, Kyrios, 14, der gleichzeitig auf eine Differenz zwischen Heitmüller und Bousset hinweist: Während bei Heitmüller das Heidenchristentum von Diasporajuden getragen war, so muss Breytenbach hinsichtlich Boussets Konstruktion konstatieren: „[...] the first Greek speaking Jews who became Christians were totally absorbed in Hellenistic syncretism, losing their jewishness“ [ebd. 10]). Heitmüller selbst weist ebenfalls auf „Differenzen“ hin, die „trotz weitestgehender Uebereinstimmung bestehen und die mir wichtig sind“ (Heitmüller, Jesus, 157). Vgl. sodann ebd. 175, wo Heitmüller explizit auf diese Differenz zu sprechen kommt, denn nach Heitmüller fänden sich in der Urgemeinde „Ansätze dessen […], was wir bei Paulus vor uns sehen […].“ Bousset sieht diese Differenz nach seiner „Revision“ in Jesus der Herr als aufgehoben an (JdH 3); seine „Gesamtposition“ und so auch seine Paulus-Deutung verändern sich nach seinem Dafürhalten allerdings dadurch nicht. 72 JdH 30. 73 KC VIII.



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christlichen Persönlichkeit Paulus beschrieben werden, um so einige Hinweise auf normative Elemente von Boussets Christentumsverständnis wie auch seine Auffassung von der religiösen Bedeutung der Persönlichkeit des Paulus für das gegenwärtige christliche Leben zu gewinnen.

3.2.1.1 Die heidenchristliche Traditionslinie als Hintergrund paulinischer Theologie Die vormals messianische Jesus-Bewegung, die noch ungebrochen innerhalb des vielgestaltigen, zeitgenössischen Judentums verblieb und eine von vielen jüdischobservanten Denominationen bildete, missionierte. Woher der Impuls ausgerechnet zur Heidenmission kam, ist bei Bousset durchaus nicht deutlich benannt – einerseits ist es der die Grenzen des Judentums verlassene Missionseifer der Synagoge, des von Bousset geschätzten Diasporajudentums74, innerhalb dessen sich die junge Religion ausbreiteten konnte, andererseits aber auch der Impuls des universalistischen Evangeliums Jesu.75 Im Universalismus sieht Bousset historisch nicht weiter aufhellbare Kontinuitätslinien, die Jesus, der sich dem Bibelbefund nach nur an Israel gesandt wusste, mit seiner Gemeinde verbanden.76 Nicht erst Paulus musste der christlichen Religion eine universale Ausrichtung implementieren, die missionarische Expansionskraft war der jungen Religion vielmehr schon „von Anfang an“ eingestiftet und erreichte eine neue Qualität mit dem Überschritt in den hellenistischen Kulturkreis, denn hier, beispielsweise in der „universalen Gemeinde Antiochia“77, aber auch in Rom, war die Mission über die Grenzen des Judentum hinaus längst gute Praxis. Paulus ist also keineswegs der Schöpfer des christlichen Universalismus, allenfalls sein theologischer „Vollender“78, denn „[d]er volle Strom der neuen universalen Religionsbewegung flutete bereits […]“79, ehe Paulus auftrat. Um nun das eigentümlich christliche Gepräge der heidenchristlichen Gemeinden zu ermitteln, ist Bousset vor das methodische Problem gestellt, dass „[…] diese ganze Entwicklung [sc. des heidenchristlichen typos] sich fast im Dunkeln […]“

74 Vgl. nur Bousset, Paulus, 1283; JdH 93. 75 Vgl. nur NJP 237: „[…] wo Erfahrung und Umstände es verlangten [...]“, konnte der historische Jesus, dessen Wirken sich nach Bousset ausschließlich innerhalb der Grenzen des Volkes Israel bewegte, durchaus die Grenzen ins Heidentum überschreiten. Den universalen Drang der christlichen Religion erkannte Bousset schon im Judenchristentum, das damit einen Inhalt des jesuanischen Evangeliums fortbildete. 76 Vgl. NJP 238: Zwischen Jesus und Paulus bestehen „verborgene Zusammenhänge“. Dazu s. u. Kap. 3.2.3. 77 NJP 237. 78 NJP 237. 79 KC 76.

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vollziehe; da es auch jedweder genaueren Kenntnis der „persönlichen Kräfte“80, die als Multiplikatoren hinter diesem Entwicklungsgang innerhalb der christlichen Religion stehen, ermangele. All diese methodischen Erschwernisse eingerechnet, können nach Bousset dennoch die authentischen paulinischen Briefe als belastbares Zeugnis, dieser höchst bedeutsamen Epoche in der Entwicklungsgeschichte der jungen christlichen Religion dienen. Anhand dieser Quellen ein entwicklungsgeschichtlich erklärliches Bild81 von der Entwicklung der heidenchristlichen Gemeinde zu zeichnen, stuft auch Bousset selbst als ein methodisch anspruchsvolles Verfahren ein, das mit einigen Unsicherheiten behaftet sei. Allein schon „die Abscheidung des überkommenen und des persönlich-individuellen Elements [sc. des Paulus]“82 birgt große Schwierigkeiten in sich, die Bousset – aufgrund seines „sehr feinen Stilempfindens“83 – aber zu meistern sich im Stande fühlt. Methodisch setzt Bousset dabei mit der religionstheoretischen Annahme ein – die für seine Religionstheorie gleichsam axiomatischen Charakter hat –, dass alle Entwicklung innerhalb einer Religion ihren „Ausgangspunkt“84 in den kultischen Handlungen der jeweiligen Religionsgemeinschaft besitzt. Von dorther lassen sich die christentumsgeschichtlich bedeutsamen Entwicklungen historisch begreifen. So erkennt Bousset in der Prädikation Jesu Christi mit dem gottesdienstlich im Gebrauch stehenden Hoheitstitel kyrios den Ausdruck der christologischen Grundüberzeugung der hellenistischen Gemeinde. In einer „überaus raschen Entwickelung“85 löste dieser den für die Gemeindedogmatik der ‚palästinensischen‘ Traditionslinie immens bedeutsamen Titel ‚Menschensohn‘ ab. Da der Titel trotz seiner sachlicher Eignung86 nach Bousset nicht in den älteren Stücken der Evangelien, vorkommt, folgert er im Umkehrschluss, dass die ‚palästinensische‘ Urgemeinde diesen Titel auch nicht kannte; erst in den jüngeren Schichten des Lukas­ 80 Bousset, Heidenchristentum, 1930f. 81 Bousset spricht hier vorsichtiger von einer „Fläche“ (ders., Heidenchristentum, 1932), d. h., dass eine entwicklungsgeschichtlich-genetische Rekonstruktion der heidenchristlichen Gemeinde unmöglich ist, vielmehr wird man sich in Boussets Urteil mit einem auf einer Fläche aufgetragenen Bild, das bestimmte Strukturmerkmale dieser christentumsgeschichtlichen Epoche markiert, begnügen müssen. 82 KC 77. 83 KC 77. 84 KC VII; dieser methodische Neueinsatz in Boussets Kyrios Christos wird ausdrücklich von Cilliers Breytenbach gewürdigt (ders., Kyrios, 14). Freilich betont Breytenbach zugleich: „Bousset has been corrected on almost every aspect of his construction of the developement of the titles used in early Christology and the concepts associated with these titles.“ Zum Einfluss des Kyrios Christos auf die Forschungsgeschichte vgl. Hurtado, Christology; ders., Kyrios. 85 Vgl. KC 77: „Es ist ein merkwürdiges Schauspiel einer überaus raschen Entwickelung. Hüllen und Kleider, die eben erst um die Gestalt Jesu gewoben waren, werden wieder abgetan, und neue Hüllen und Kleider werden gewoben.“ 86 Auch die Jerusalemer Urgemeinde habe nach Bousset Jesus als gegenwärtige Kraft und Wirklichkeit erfahren, allerdings habe man diese Erfahrung auf dem Hintergrund der jüdischen Apokalyptik gedeutet, sodass Jesus Christus als in den Himmel aufgehoben geglaubt wurde und als der ‚Kommende‘, also als eschatologische Gestalt, erwartet wurde. Dazu s. u.



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evangeliums beginne die „Periode des späteren Sprachgebrauchs.“87 Denn im Gegensatz zum Menschensohn-Titel, den die Gemeinde als „geheimnisvolle, proleptische Selbstoffenbarung“88 dem Jesus der synoptischen Evangelien in den Mund legte, wies der Titel kyrios eine Konnotation auf, die die Gegenwärtigkeit des Herrn in der Gemeinde bedeutete – was nach Boussets Darlegung offenkundig auch der Christologie der Urgemeinde in Jerusalem einen angemessenen Ausdruck verliehen hätte. Nicht dass Bousset, für dessen Deutung der Urchristentumsgeschichte ja die Differenz zwischen ‚palästinensischer‘ und heidenchristlicher Urgemeinde bestimmend ist, diese Unterscheidung in der Christologie praktisch wieder einziehen würde: Mit dem Gebrauch des Titels kyrios ist doch noch eine andere Sache gegeben, die in der palästinischen Urgemeinde so nicht möglich gewesen wäre. Denn der Titel kyrios ist Ausdruck eines „neue[n] eigenartige[n] Verhältnis[ses] der [sc. heidenchristlichen] Gemeinde zu ihrem kyrios“, und damit zugleich Ausdruck des „gemeinchristlichen Bewusstsein[s]“89 der vorpaulinischen Kirche, zu dessen „Charakteristikum [...] überhaupt“90 es gehört, den Namen des Herrn im Gottesdienst anzurufen.91 Der von Bousset vermehrt festgestellte Gebrauch des Titels im Verbund mit dem ‚Namen‘, diesem „gewaltigen Kultmittel“92, mache den heidenchristlichen Gottesdienst als Entstehungskontext dieses genuin heidenchristlichen Hoheitstitels wahrscheinlich. Mit dem Kult als ‚Sitz im Leben‘ des kyrios-Titels ist eben nach Bousset dieses neuartige religiöse Verhältnis der Christen zu ihrem kyrios als neuer Sachgehalt christlich-religiöser Praxis gegeben, der sich bis hierhin folgendermaßen beschreiben lässt: Während der auferstandene Jesus noch im Osterglauben der ersten Jünger als gegenwärtig erfahren wurde, so wurde er im Glauben der Jünger kurz darauf in den Himmel bis zu seiner Wiederkunft aufgehoben; die religiöse Grundstimmung der Urgemeinde war demgemäß „die inbrünstige Erwar-

87 KC 80. 88 KC 81. Freilich erkennt auch Bousset Entwicklungen der palästinensischen Gemeindedogmatik, die beispielsweise mit dem ‚Exzorismus im Namen Jesu‘ gegeben seien, die „eine gewisse Gegenwart [sc. des Herrn] und eine gewisse kultische Beziehung“ (KC 91) voraussetzten. In JdH 24f gesteht er sogar einen „Mangel in meinem Kyrios“, denn mit der „Beobachtung, daß hier [sc. in der Jerusalemer Urgemeinde] die Kyriosformel fehlt, ist die Sache selbst noch nicht entschieden.“ Bousset ist angesichts der Kritik Wernles geneigt, auch schon in Palästina die ersten zaghaften Anfänge einer kultischen Verehrung des gegenwärtigen Christus zu vermuten. Bis zur paulinischen Christusmystik sei es jedoch trotz „gleitender Übergänge“ (ebd. 88) ein weiter Weg (vgl. ebd. 24f.88): „Wie unbestimmt und dehnbar ist doch zunächst der Titel kyrios! Wie gewinnt er erst seinen Inhalt durch die Praxis, die vorerst gar nicht auf Formeln gebracht wird“ (ebd. 89). Selbst wenn der Gebrauch des Titels für Palästina nachgewiesen werden könnte, so steht er dennoch sachlich weit von der heidenchristliche Kultpraxis, die im kyrios-Titel ihren Ausdruck fand, ab. 89 KC 84. 90 KC 85. 91 Vgl. 1Kor 1,2. Bousset erkennt darin eine „geprägte und weithin gebrauchte Formel“ (KC 85), die für die Selbstbeschreibung des hellenistischen Christentums konstitutiv war. 92 KC 87.

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tung seines Kommens.“93 Das bisherige eschatologisch bestimmte, religiöse Verhältnis zu Jesus als dem ‚Kommenden‘ veränderte sich nun in den heidenchristlichen Gemeinden in fundamentaler Weise. Der kyrios Jesus wird als eine gegenwärtige Entität im gottesdienstlichen Leben der jungen Gemeinde erlebt – „eine Weiterentwicklung von einer ungeheuren Tragweite.“94 Jesus Christus ist nun eine „greifbare Wirklichkeit“95, die im Vollzug des Christuskultes in Erlebnissen, die die erregte Schar der Christusgläubigen überkam, erfahren und erlebt wurde. Diese grundlegende Verschiebung, die sich innerhalb der christlichen Religionsgeschichte vollzog, lässt sich nach Bousset als ein Verschwimmen und Ineinanderlaufen der „Grenzlinien von Gegenwart und Zukunft“96 beschreiben. Die vornehmlich eschatologische Stimmung der Jerusalemer Urgemeinde wird in der zumindest formal noch eschatologisch orientierten, heidenchristlichen Gemeinde in „ein Vorausnehmen der Seligkeiten, welche das Ende bringt [...]“97, überführt. Der Geist des Herrn schenkt der Gemeinde die Charismen, die allesamt als Erstlingsgaben und Unterpfand den Christusgläubigen schon jetzt an der noch ausstehenden Seligkeit partizipieren lassen. Das Heil und seine Aneignung wird also in Boussets Deutung im Heidenchristentum als schon jetzt gegenwärtig erlebt und vorgestellt bei Aufrechterhaltung des eschatologischen Vorbehaltes, denn auch sie kannten die Überlieferung, dass Jesus Christus am Tag des Herrn wiederkehren wurde. Die heidenchristliche Gemeinde schart sich sodann im Kult – ganz analog den vielen orientalisch-hellenistischen Mysterienreligionen – um ihr Haupt, den „Kultheros“98 Jesus Christus, und feierte im Herrenmahl die „Gemeinschaft mit Leib und Blut des (erhöhten und gegenwärtig empfundenen) Herrn, die, durch Speise vermittelt, nicht rein geistig ist, sondern eben bis in den Leib hineinwirkt, und doch wiederum auch geistige Gemeinschaft ist.“99 Diese geistige Gemeinschaft ist eben dadurch gekennzeichnet, dass sie eine kultisch vermittelte Beziehung zum gegenwärtig erfahrenen Kyrios Christos unterhält. Als Herr und Haupt der versammelten Gemeinde waltet Jesus Christus über dem gottesdienstlichen Leben der christlichen Gemeinschaft, das Bousset in plastischen Farben beschreiben kann:

93 KC 103. 94 KC 102. 95 KC 107. 96 KC 103. 97 KC 103; Hier wendet sich Bousset auch gegen Weinel, der nach Bousset auch für die ,palästinensische‘ Urgemeinde den „Besitz des Geistes“ als Charakteristikum ausmacht. Bousset wendet demgegenüber ein: „Die Auffassung, daß Geistesbesitz allgemeines Charakteristikum des Christenstandes sei und die dem entsprechende legendarische Ausgestaltung der Anfänge der urchristlichen Gemeinde im Pfingstbericht ist m. E. erst denkbar auf der Grundlage der paulinischen Theorie vom Geist (Bousset, Theologie, 328). 98 KC 86. 99 KC 86.



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Im Gottesdienst „[...] erwuchs den Christusgläubigen das Bewusstsein ihrer Einheit und einzigartigen soziologischen Geschlossenheit. Tags über zerstreut im Beruf des alltäglichen Lebens, in der Vereinzelung, innerhalb einer fremden Welt dem Spott und der Verachtung anheimgegeben, sammelten sie sich Abends, wohl so oft wie möglich, zur gemeinsamen heiligen Weihemahlzeit. Da erlebten sie die Wunder der Gemeinschaft, die Glut der Begeisterung eines gemeinsamen Glaubens und einer gemeinsamen Hoffnung […]; ein unerhört neues Leben durchpulst die Schar der Christen.100

Wie erklärt sich nun Bousset diese ‚überaus rasche Entwicklung‘, die derartige „fundamentale“101 Verschiebungen im christlichen Religionssystem nach sich zog? Zunächst hängt für Bousset dieser Veränderungsschub, wie gezeigt, mit dem Wechsel des geographischen Schwerpunktes der christlichen Religion in den hellenistischen Kulturkreis zusammen.102 Hier war der religiöse Gebrauch des kyrios-Titels gemäß Boussets Analyse des religionsgeschichtlichen Materials allgegenwärtig; einerseits im antiken Herrscherkult103, andererseits – und hier liegt für Bousset der ungleich wichtigere Vergleichspunkt – im „[…] allgemeinen religiösen Gebrauch[], die Götter kyrioi zu nennen.“104 Gerade für das „Gebiet der syrischen 100 KC 89. Eine vertiefende Charakterisierung des urchristlichen Gottesdienstes ausgedehnt bis in die nachapostolische Zeit findet sich in Boussets RGG-Artikel (Heidenchristentum, 1936ff.) 101 KC 78. 102 Vgl. Boussets Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 186): „Du wirfst mir vor, dass ich die großen Hauptveränderungen in der Struktur des Chistentums aus einer ‚geographischen‘ [!] und überhaupt Milieuverschiebung ableite. – Ja allerdings, für mich ist es eine ganz wesentliche und ungeheuer wichtige Tatsache, dass das Christentum in seinen Anfängen sein Schwergewicht von Jerusalem nach Antiochia und Rom aus der Umgebung des palästinensischen Judentums in die der römisch-hellenistischen Kulturwelt verlegt.“ Diesen geographischen Überschritt in einen neuen Kulturraum kann Bousset auch als „Übertritt von der semitischen zur indogermanischen Rasse“ (JdH 94; WdR 216) beschreiben, der sich als „fast apriorisch begreiflicher Tatbestand“ (ebd.) für die Verschiebung innerhalb des urchristlichen Religionssystems verantwortlich zeichnet. 103 Der antike Herrscherkult weist eine „starke Analogie zu der Formation des christlichen Kyriosglaubens“ (KC 93) auf. Aber auch hier gilt, eine bloße Abhängigkeit der christlichen Religion von diesen Entwicklungen, in denen Bousset geradezu den „Mittelpunkt der Religion der Spätantike“ (ebd. 92) erblickt, kann Bousset nicht erkennen (vgl. ebd. 94: „Es wäre aber nach alledem [...] ein verfehltes und vorschnelles Urteil, wenn wir den christlichen Kyrioskultus und seine Entstehung in unmittelbare Verbindung mit dem Zäsarenkult bringen wollten“). Die Berührung mit dem Kaiserkult hat man sich nach Bousset unter Adaption – z. B. den Titel ‚Soter‘ – und Abgrenzung vorzustellen (vgl. ders., Heidenchristentum, 1951f). Bousset würdigt sodann diese Entwicklung des religiösen Lebens außerhalb der christlichen Religion ausdrücklich; jedenfalls darf sie nicht als „Byzantinismus und servile Gesinnung“ abgetan werden; hinter dieser Praxis stecke ein „wirkliches Aufbrechen religiöser Sehnsucht“ (ebd. 92). Es gelte überhaupt, dass „die Geschichte des Christentums dadurch nicht größer [wird], daß man die entgegenstehenden Mächte zum Popanz macht“ (JdH 65 Anm. 1). Hier zeigt sich Boussets kritische Reserve gegenüber allen christlichen Absolutheitstheorien, vielmehr soll das Christentum eben im Rahmen des allgemeinen religiösen Lebens begriffen und andere geschichtliche Religionen nicht willkürlich herabsetzen werden. 104 KC 96; vgl. auch JdH 38.

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Religionsmischung“105, auf welchem die wichtigsten frühchristlichen Gemeinden wie beispielsweise in Antiochia entstanden, meint Bousset den Gebrauch des kyrios-Titels für die „hellenistisch-römische Religion“106 im ersten Jahrhundert sicher belegen zu können, insbesondere für die Gottheiten, die „im Mittelpunkt des Kultes der betreffenden Gemeinschaft standen.“107 Diese hellenistisch-römische Religion ist freilich wiederum ein Synkretismus, da sie ihre Kultpraxis von den orientalischen Mysterienreligion ägyptischer und syrischer Provenienz ererbt hatten. Die religiöse Umwelt der jungen christlichen Religion war in Boussets Deutung überhaupt weitestgehend durch die kultische Praxis bestimmt.108 „In diesem Milieu hat sich die junge christliche Religion als Christus-Kult gestaltet und aus dieser Umgebung hat man dann auch […] die zusammenfassende Formel kyrios herübergenommen“109 – die dahinterstehende Kultpraxis hat sodann das Christentum in grundlegender Weise verändert, indem sie einen anderen Modus des religiösen Erlebens in die junge christliche Religion hineintrug. Man wird hierin nach Bousset allerdings nicht ein bloßes ‚Dekadenzphänomen‘ erblicken dürfen, vielmehr ist es Bousset daran gelegen, auch die Kyriosverehrung als eine sachgerechte Weiterentwicklung des Evangeliums Jesu zu deuten. So schreibt er in einem Brief an Paul Wernle, dass „[...] die Gegenwartsstimmung des Kyrios- und Sa­ kramentkultus, so weit er vom Geist Jesu absteht, zu den einfachen Grundwahrheiten seines Evangeliums beinahe besser passt als jüdische Eschatologie und Menschensohndogmatik.“110 Zeigt dieses Zitat einerseits, dass er auch trotz der formgeschichtlichen Vorbehalte ein relativ stabiles Bild vom historischen Jesus besitzt, so zeigt es andererseits, dass die christentumsgeschichtlichen Weiterentwicklungen nicht per se Depravationen darstellen, sondern vielmehr bestimmte Gehalte der christlichen Religion noch besser zum Ausdruck bringen als vorangehende Gestalten christlicher Frömmigkeit. Diese Frage berührt allerdings schon die geschichtsphilosophische Frage nach dem Wesen des Christentums, die Bousset in Kyrios Christos ausspart. Da andere genetische Herleitungen, wie beispielsweise der jüdische Engelkult111, aufgrund der Eigenart der religiösen Kyriosverehrung ausschieden – denn im Gegensatz zur gelegentlichen Verehrung bestimmter Mittlerwesen ist der kyrios eine im Gottesdienst gegenwärtig erlebte Macht, die das Leben der Gemeinde bestimmt –, ist

105 KC 97. 106 KC 98. 107 KC 98. 108 Lehmkühler, Kultus, 112f weist auf das ambivalente bis negative Verhältnis Boussets zum Kult als religiöses Vollzugsmoment hin. Im Kult werden die sittlichen Forderungen gemeinhin unterlaufen – allerdings kommt es hier allein auf die Form des kultischen Vollzugs an. Vgl. dazu Kap. 2.2.6. 109 KC 99. 110 Brief an Wernle vom 22.12.1913 (Özen 186; Hervorhebung vom JH). 111 Vgl. KC 100.



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diese „Form“112 für Bousset nur auf griechischem Boden erklärlich und verständlich. Überhaupt sei diese Umgestaltung, die die christliche Religion in ihren frühsten Anfängen erfahren hat, kein Produkt theologischer Reflexion. Die Umgestaltung der christlichen Religion in den ‚Christuskult‘ war in Boussets Deutung gerade kein bewusster Akt eines Theologen: „Derartige Vorgänge vollziehen sich im Unterbewußten, in der unkontrollierbaren Tiefe der Gesamtpyche einer Gemeinde.“113 Das eigentliche Leben der geschichtlichen Religionen liegt eben abseits der Theologie in den Irrationalismen des Kultes.114 Hier vollziehen sich auch die die Gestalt einer Religion transformierenden Weiterbildungen ganz von selbst. Das Motiv der Unverfügbarkeit und der Vorgängigkeit des religiösen Lebens ist also offenkundig eine Figur, die für die Rekonstruktion von Boussets Christentumsverständnis außerordentlich bedeutsam ist, wenngleich er mit Wrede auf die trennscharfe Unterscheidung von Religion und Theologie weitestgehend verzichtet.115 In seiner Rekonstruktion der Genese des Christentums rechnet Bousset also mit dem Umstand, dass die paganen Konvertiten ihre bisherige religiöse Vorstellungswelt und religiöse Praxis nicht so schnell ablegt haben. Denn wenngleich formal der alttestamentliche Monotheismus gewahrt blieb, dadurch dass Jesus in der Würdestellung des kyrios gehoben würde, wurde er auch zum „Objekt des christlichen Glaubens“116. Es kam in diesem von einer hohen Eigendynamik geprägten Prozess zu einer „merkwürdigen Verdoppelung des Objektes der gottesdienstlichen Verehrung“117. Über diese innere Paradoxie im doch eigentlich monotheistischen Christentum ging man nach Bousset jedoch einfach hinweg, ohne dass sie Gegenstand theologischer Reflexion wurde.118 Ein solcher Vorgang im inneren Leben der christlichen Religion kann sich nach Bousset nur dort ereignen, wo der strenge Monotheismus, wie Bousset ihn in Palästina noch vorzufinden glaubte, durchlässig für bestimmte Mittler-Spekulationen und Kyrioskult wurde – im hellenistischen Kulturraum.

112 KC 103. 113 KC 99; vgl. auch JdH 88f. 114 Allerdings bildet selbst diese frühe Form der christlichen Religion rasch eine rudimentäre Form der Theologie aus, nämlich den Weissagungsbeweis bzw. die Deutung des Kyrios Christos auf dem Hintergrund der Septuaginta. Schon in der vorpaulinischen heidenchristlichen Gemeinde wurden so christologische Attribute auf Jesus Christus übertragen, die wiederum die Kyriosverehrung noch steigerten (vgl. KC 101). Zur Bedeutung der Theologie für die Religion allgemein, vgl. Kap 2.1.3. 115 Was Hans Rollmann für Wrede konstatiert, wird man hinsichtlich der Problemexposition also auch für Bousset in Anschlag bringen dürfen: „[...] the liberal distinction between ‚theology‘ and ‚religion‘ lost much of its harmonizing qualities. […] In doing so, liberal theology was challenged to come to grips with the inseparability of religion from theology and with the alien character of Paul’s theology“ (ders, Paulus, 27). 116 KC 102. 117 KC 100. 118 Vgl. Bousset, Heidenchristentum, 1951f.

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Trotz dieser Belastung des einfachen Gottesglaubens durch die Verdopplung des Kultobjektes verstand das hellenistische Christentum sich aber durchaus nicht als Teil der hellenistischen Religionswelt. Vielmehr drang man auf die Selbstunterscheidung vom antiken Polytheismus. So wurden die alten religiösen Vorstellungen im Bannkreis des Evangeliums sich neu anverwandelt und der Kyrios-Titel so einer Neubestimmung unterzogen. Diese Neubestimmung erblickt Bousset in der „ungeheuer große[n] religiöse[n] Tat“119 der hellenistischen Gemeinde, den einen kyrios den vielen hellenistischen kyrioi gegenüberzustellen: „Hier dringt der Geist des alttestamentlichen Monotheismus in den Kyriosglauben der Antike ein; und das ist zugleich der Geist ethischer Willensstärke [...]“120, die Bousset ansonsten ja nur mit großer Zurückhaltung in seine Beschreibung kultisch geprägter Frömmigkeit aufnehmen kann. Aus dieser Integrationsleistung der christlichen Religion, nämlich den Kyrioskult mit dem Geist des alttestamentlichen Monotheismus zu verbinden, rührt nach Bousset die „grandiose Wucht und Geschlossenheit der jungen Religion und ihre eigenartige Kraft.“121 Und dennoch bleibt in der jungen christlichen Religion die Spannung, die durch die Übernahme des Kyrioskultes dieser Form der christlichen Religion immanent war, eingestiftet. Sie drohte immer wieder aus der geistigen Gemeinschaft mit ihren Herrn im Gottesdienst in eine sakramentaldingliche Beziehung, die mechanisch steuerbare, „kultisch sakramentale Verwachsenheit“122 mit Jesus Christus, herabzusinken bzw. den alttestamentlichen, im Evangelium Jesu ratifizierten Monotheismus aufzuweichen und Jesus Christus als Objekt des Glaubens anzubeten. Diese latente Gefahr des Polytheismus und Sakramentalismus schwebt nun nach Boussets beständig über der jungen christlichen Religion und ihrer Kyriosverehrung, sodass jene droht, im Religionsvergleich wieder auf eine niedrigere Stufe des religiösen Lebens, die doch im Evangelium überwunden war, wieder herabzusinken.

3.2.1.2 Paulus’ ‚Persönlichkeit‘ und seine Bedeutung für die Fortentwicklung der christlichen Religion Paulus fand also schon eine relativ „fest geformte Tradition“123 vor, und auch wenn er sich als Pneumatiker gab, der nur aus der Autorität „selbsterlebter, in Extase erfahrener Offenbarung“ spreche, seine Entwicklung zum christlichen Missionar und zum „erste[n] christliche[n] Theologen“124 vollzog sich faktisch auf Grundlage der Tradition der hellenistischen Gemeinden. Wenn er sich im pneumatischen Überle119 JdH 39; vgl. KC 99. Für Bousset ist diese ‚religiöse Tat‘ der heidenchristlichen Urgemeinde nicht „aus dem Milieu heraus abzuleiten und zu erklären [...]“ (ebd. 103). 120 JdH 39. 121 KC 103. 122 KC 107. 123 KC 76. 124 Bousset, Paulus, 1284.



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genheitsgestus gegen ‚Fleisch und Blut‘ wandte, dann sind damit nach Bousset stets die Jerusalemer Säulen gemeint – also die judenchristliche Traditionslinie –, denen Paulus seine Selbständigkeit erst abtrotzen musste; die Zugehörigkeit zur hellenistischen Traditionslinie zu leugnen, käme ihm, so Bousset, hingegen nicht in den Sinn.125 Diese faktische Einbettung in die urchristliche Überlieferung macht es für Bousset hochgradig unplausibel, dass die „speziellen Formen paulinischen Christusglaubens [...] mit seinem Erlebnis von Damaskus so einfach gegeben [wären].“126 Es ist also die heidenchristliche Traditionslinie, die für Paulus’ Aneignung der christlichen Religion gleichsam den Untergrund bildet. Schließlich waren die Beziehungen zur Jerusalemer Tradition nach Bousset auf das Ganze gesehen „höchst dürftiger Natur“127, ohne dass er dabei leugnen würde, dass Paulus bei seinem ersten Aufenthalt in Jerusalem „Mitteilungen, [...] über das Leben und die Person des Herrn“128 durch Petrus überliefert bekam, nur kommt diesen hinsichtlich der Ausbildung der spezifischen Gestalt paulinischer Frömmigkeit kaum eine Bedeutung zu. Paulus’ Damaskuserlebnis bleibt jedoch psychologisch unverständlich, wenn Paulus nicht den messianischen Glauben der Jerusalemer Christusgläubigen „in seiner Sicherheit und seinem Trotz“129 angesichts der innerjüdischen Verfolgungen kennengelernt hätte, der unterbewusst von Paulus affirmiert wurde. Hier vermutet Bousset eine bedeutende innerchristliche Kontinuitätslinie130, durch die die Jerusalemer Traditionslinie vermittelt auch auf die heidenchristliche Tradition einwirkte, die eben letztlich nur einen anderen typos der urchristlichen Lehre darstellte, der zwar massive Differenzen vom typos der ‚palästinensischen‘ Tradition aufweist, und dennoch halten sich bestimmte Momente der Frömmigkeit der palästinensischen Urgemeinde durch.131 Ungeachtet dessen taugt diese lose Berührung mit der Jerusalemer Traditionslinie kaum, um die Eigenart des paulinischen Christentums132 angemessen fassen zu können. 125 Vgl. KC 76. 126 JdH 33; verläuft bei Troeltsch noch, wie Johann Hinrich Claussen gezeigt hat, die Entstehung des Christuskultes über den Christusglauben (ders., Jesus-Deutung, 141f mit Anm. 367; vgl. auch Kap. 2.2.6), so konstruiert Bousset dies genau umgekehrt: Aus dem Kult entsteht der Glaube an den gegenwärtigen Pneuma-Christus. Troeltsch macht hier mehr Anleihen bei Adolf Deissmann, vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 139. Zu Boussets ‚soziologischem‘ Erfahrungsbegriff vgl. Auwärter, Spiritualität, 22: „Festzuhalten bleibt vielmehr, daß die Begriffe ‚Erfahrung‘, ‚Vorstellung‘ und ‚Theologie‘ bei Bousset nicht individualistisch gemeint sind [...]. Gewiß nimmt er eine ‚Prävalenz der Erfahrung‘ an. Jedoch […] muß eine positivistische Sichtweise dieses Begriffes relativiert werden und die schlichte Umkehrung eines Paradigmas vermieden werden. Bemerkenswert ist gerade, daß Bousset zu seinen Einsichten über die Pneumatologie kommt, ohne psychologistisch zu argumentieren. Er war einer der ersten, der die ausschließlich psychologische Deutung des Damaskusgeschehens und die Ableitung der ‚Christus-Mystik‘ aus diesem Erlebnis ausschloß.“ 127 KC 75. 128 JdH 31. 129 KC 76. 130 Vgl. nur NJP. 131 Vgl. KC 76. 132 Vgl. Bousset, Paulus, 1279: Die unmittelbaren Jünger Jesu „[...] waren Juden geblieben, Paulus hört auf Phärisäer zu sein, als er Christ wurde.“

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Lässt sich das paulinische Christentum also einerseits nicht ohne Umwege aus dem Damaskuserlebnis ableiten,133 lässt es sich aber andererseits auch nicht aus dem spärlichen Bekanntsein des Paulus mit der Jerusalem Traditionslinie ableiten, so bleibt nur noch die hellenistische Gemeinde als entscheidender Faktor für die Genese des paulinischen Christentums. Boussets Paulusdeutung geht also mehr von einem „stillen und langsamen Reifen des paulinischen christlichen Überzeugung im Milieu der hellenistischen Gemeinde Antiochia“134 aus als von einem unableitbaren Geschehen, das völlig unvermittelt über den Heidenapostel kam – wenn Paulus es freilich auch so erlebt haben mag135 –, aus dem dann die Welt des paulinischen Christentum sich unmittelbar erschloss. Paulus formte sodann sein Christsein über rund anderthalb Jahrzehnte in der Gemeinde von Antiochia auf Grundlage ihrer Überlieferungen, ehe er als Heidenmissionar in die Öffentlichkeit trat. Aber es war laut Bousset kein Traditionszwang, keine Abhängigkeit im pejorativen Sinn von einer autoritären Tradition, die Paulus’ religiöse Entwicklung einzwängte, vielmehr eine „lebendige Berührung“136 mit der antiochenischen Traditionslinie. Und gerade durch das ‚Meistern‘137 der Tradition wird Paulus zu einer bedeutenden christlichen Persönlichkeit. Bousset ist sich sicher, dass Paulus gerade in dieser Deutungsperspektive nichts an seiner Bedeutung für das Werden aber auch für die gegenwärtige Gestalt der christlichen Religion einbüßen wird, wie es vielfach nach dem Erscheinen des Kyrios Christos moniert wurde.138 Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der paulinischen Frömmigkeit – und auf ihr liegt abseits der paulinischen Theologie Boussets eigentliches Interesse139 – ist 133 Vgl. JdH 33: Die Überzeugung, dass Jesus der Messias „trotz Kreuzestod Recht habe und lebe [...] galt dem Paulus als eine auf Grund inneren Erlebnisses gewonnene [...]“; die lange „im unbewußten Personleben“ vorbereitete Bekehrungsstunde ist „[...] aus der Tiefe des Unbewußten plötzlich und mit elementarer Wucht in das bewusste Leben eingebrochen“ (ders., Paulus, 1279). Aber „geprägte[] Inhalte, konkrete Sätze“ (JdH 34) ließen sich nach Bousset nicht daraus ableiten, diese kommen nur auf dem Hintergrund der vorpaulinischen Tradition zu stehen. Trotz dieser Historisierung der paulinischen Bekehrungsstunde sei es einer „frommen Betrachtung“ jedoch unbenommen – aufgrund des „Gewirre von Antrieben“, das keine exakte genetische Ableitung ermögliche –, Paulus’ Damaskuserlebnis als Ausdruck von „Gottes Fügung und Führung“ (ders., Paulus, 1279) zu deuten. 134 JdH 34. 135 Vgl. Bousset, Paulus, 1279. 136 JdH 33. 137 Vgl. NJP 244. 138 Vgl. KC 107; vgl. auch JdH 44: „Mir ist immer noch der Genius schließlich größer geworden, wenn ich ihn ganz und gar aus seinem Milieu zu begreifen suchte.“ 139 Vgl. nur Bousset, Paulus, 1289: hier will Bousset v. a. die „fromme Erfahrung“ des Paulus darstellen, die freilich nur im Verbund mit seinem theologischen Denken dargestellt werden kann, da beide „sehr ineinander [liegen]“ (ebd.). Das primäre Erkenntnisinteresse liegt also auf Paulus’ religiösem Erleben. Religionspsychologisch beschreibt Bousset die Frömmigkeit des Paulus folgendermaßen: Ganz wie die Person Jesu – Bousset legt diese Kontinuität entgegen Paulus’ Selbstzeugnis offen – ist seine Frömmigkeit von der „Fähigkeit des Sich-Hingebens“ (vgl. ders., Paulus,



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ganz gemäß seinem methodischen Postulat wiederum der Kyrioskult der heidenchristlichen Gemeinde, in dessen Rahmen sich Paulus als Teil des Leibes Christi erfahren habe: „[H]ier hörte der Einzelne auf zu sein, verschmolz im großen Ganzen [...], hier rauschte vom Haupte her die neue selige Lebenskraft durch die Glieder.“140 Dieses neue christliche Gemeinschaftsideal, das sich die hellenistische Gemeinde gab, war für Bousset die urbildliche egalitäre Gestalt des christlichen Gottesdienstes, in welchem die mit jeweils gleichen geistlichen Rechten ausgestatteten Gemeindemitglieder zusammentraten. Diese neue soziologische Form einer Kirche, die Bousset auch schon im Judentum der Diaspora erkannte – auch dieses war ohne Tempel und abseits der Nation letztlich kirchlich verfasst –, übte eine gewaltige Faszination auf ihn aus und stellt einen Angelpunkt seines Christentumsverständnisses dar.141 Denn erst im egalitären Gottesdienst „in Geist und Wahrheit“142, in dem noch keine – zumindest keine theologisch reflektierte – Unterscheidung zwischen Laien und Priestern hinsichtlich des Weihegrads eingeführt war, kann sich – so wird man Bousset lesen dürfen – die christliche Frömmigkeit des Einzelnen mit seinen Gaben darstellen und so erst zur religiös produktiven Entfaltung bringen.

3.2.1.3 Die Christusmystik als Zentrum der paulinischen Frömmigkeit Im urchristlichen Gottesdienst ist nach Bousset auch der Entstehungskontext der Kult- bzw. der Gemeindemystik, die der hellenistische Typ der christlichen Religion mit den Mysterienreligionen seiner Umwelt teilte, zu lokalisieren. Paulus hat sich im Rahmen dieses Types christlicher Frömmigkeit in sein Christsein eingeübt und auf dessen Hintergrund seine eigentümlichen Formen christlich-religiösen Lebens ausgebildet. Denn analog zu den prophetischen Persönlichkeiten des Alten Testamentes zeichnet sich Paulus’ religiöser „Genius“143 dadurch aus, dass er dem christlich-religiösen Leben eine neue Gestalt zu verleihen vermag. Er beherrscht die Überlieferung und bewegt sich souverän in ihr – dies macht auch Paulus zu einer religiösen Persönlichkeit, die in Boussets Religionstheorie für den Entwicklungsgang des religiösen Lebens so ungeheuer wichtig ist. Paulus’ religiöse Tat in der Fortentwicklung der christlichen Religion lag nach Bousset sodann darin, „jene Kult- und Gemeindemystik in der Glut des Erlebens zu individueller Mystik [umzugestalten], [zu ethisieren] und aus dem Kult in das gesamte persönliche Leben [zu überführen].“144 Aus dem im Kult gegenwärtigen kyrios wurde der „das gesamte 1284) bestimmt, die sich im „alles ausschließenden Abhängigkeitsgefühl von Gott [zusammenfasst].“ 140 KC 107. 141 Vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 92 Anm. 145; Reitzenstein, Bousset, 10f. 142 JdH 93. 143 JdH 48. 144 KC 107. Bousset will Paulus als den „gewaltigen Vergeistiger der Frömmigkeit der Masse“ vor Augen stellen können, vgl. Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 186).

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Leben regierende Herr“145 als bestimmende Kraft des neuen christlichen Lebens. In der Beschreibung dieser Umarbeitung der kultischen Erfahrung und Praxis der heidenchristlichen Gemeinde wird die Bewegung von der Kult- zur persönlichen Mystik greifbar, ein in Boussets Urteil überaus „bedeutsamer Vorgang“146 für das religiöse Leben. Genetisch rekonstruiert Bousset die paulinische Christusmystik also entgegen einer klassisch reformatorischen Deutung147 „nahezu umgekehrt“148 aus der Kultpraxis, die ein solches mystisches Element schon in sich trägt. Paulus löst es dann im Gestus des religiösen Genies aus diesem Kontext heraus und dehnt es auf das gesamte christliche Leben aus. Daraus erwächst ferner die ebenso folgenreiche paulinischen Umarbeitung der urchristlichen Geistvorstellung. Ist das pneuma im kultischen Vollzug eine rein supranaturale Größe – „der göttliche Faktor im Christenleben im Sinn des strengen Supranaturalismus“149 –, die sogar noch unterschieden in an einen Animismus erinnernde pneumata und ihre Gaben, den Geistwirkungen, erfahren werden konnte, so formte Paulus die kultisch vermittelte, pneumatische Erfahrung in den „ständigen Besitz des Christen“ um: Der Geist wird zur „großen Grundtatsache christlichen Lebens.“150 Der Pneuma-Christus – Bousset konstatiert, dass beide Größen bei Paulus nahezu identisch sind151 – wurde nun nicht mehr als rein supranaturale Kraft, die sich eklektisch im kultischen Geschehen auf den Einzelnen oder die Gemeinde niederlässt, empfunden, sondern als „Element des gesamten neuen christlichen Lebens, [...] in seiner gesamten ethischen und religiösen Haltung“152. Das gesamte neue Leben wurde in paulinische Deutung als etwas „schlechthin neues und Wunderbares“153 erfahren, das nicht aus dem Alten hervorging; insofern bleibt die supranaturale Deutung der heidenchristlichen Erfahrung des Neugesetztseins weiterhin auch für Paulus in Geltung.

145 KC 110. 146 KC 107. Im weiteren Entwicklungsgang wird die johanneische Frömmigkeit die paulinische Christusmystik in eine Gottesmystik überführen (vgl. ebd. 119; JdH 47), die Bousset auch als gegenwärtig bedeutsame Ausdrucksgestalt christlicher Frömmigkeit in Anschlag bringt. 147 Vgl. JdH 46: Wernle steht hier in Boussets Darstellung für viele, die die paulinische Christusmystik analog zum „klassische[n] Schema reformatorischer Frömmigkeit“ rekonstruieren: „Also: Scheitern des gesetzlichen Moralismus, Christusglaube, Christusgemeinschaft mystischer Art, so lautet die Rekonstruktion paulinischer Frömmigkeit.“ Boussets Widerspruch macht auf gewisse Nähen zur Paulusdeutung der New Perspective on Paul aufmerksam, die er mit Wrede teilt (vgl. ders., Paulus, 83). 148 JdH 46. 149 JdH 70. Bousset nimmt hier die Forschungen Gunkels zum Geistverständnis des Neuen Testaments produktiv auf, die sich ausdrücklich gegen eine Abschwächung des paulinischen Supranaturalismus wendet (vgl. Gunkel, Wirkungen). Dazu Regner, Paulus, 148. 150 KC 112. 151 Vgl. KC 112f. 152 KC 112. 153 Bousset, Paulus, 1289.



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Jeder Christ ist im paulinischen Christentum Geistträger und wandelt auch abseits des kultischen Vollzuges ständig im Geist – das hat Paulus aus seiner persönlichen Erfahrung auf die christliche Gemeinde übertragen und „[...] stand ihm fast dogmatisch [fest].“154 Diesen Vorgang der Umarbeitung des populären Geistverständnisses kann Bousset nicht anders als eine „metabasis eis allo genos“155, als radikale Umformung des alten Geistempfindens, begreifen. Denn nun sind es nicht mehr nur dem Kult entlehnte Phänomene wie Glossolalie, deren prophetische Deutung und enthusiastische religiöse Rede, die als Wirkungen des Geistes gedeutet werden – auch diese sind unvermindert Teil der paulinischen Vorstellungswelt –, sondern auch die sittliche Tugenden seiner Paränesen und diesen übergeordnet das „große Gnadengeschenk christlicher Freiheit“ werden durch Paulus als „Lebensäußerungen des Geistes“156 verstehen gelehrt. Die Umarbeitung des gemeinchristlichen Geistverständnisses durch Paulus lässt sich mit Bousset wieder als tiefgreifende Weiterbidldung durch eine genialische Persönlichkeit lesen, die wiederum selbst innerhalb dieses kultisch geprägten religiösen Lebens steht und jene Umarbeitungsprozesse auch nur innerhalb dieses Rahmens vollbringen kann. Entsprechend resümiert Bousset, dass obwohl Paulus „[...] selbst zum Teil noch mitten in ihnen [sc. den populären Anschauungen des Geistes] lebt, [...] wächst er weit über diese Vorstellungen herüber.“157 Überhaupt charakterisiert es die Persönlichkeit des Paulus in Boussets Urteil insgesamt, dass Paulus an den gelebten Frömmigkeitsformen der heidenchristlichen Gemeinde, die er zweifelsohne als eine völlig legitime Inanspruchnahme des Evangeliums deutete, in vollem Umfang partizipiert hat, ohne dabei den diesen immanenten Gefährdungspotentialen in Form des Sakramentalismus und Polytheismus zu erliegen. Für Bousset ist gerade Paulus’ persönliche Aneignung dieser Form christlicher Frömmigkeit eine frömmigkeitspraktische Vertiefung und Verinnerlichung in den Gottesglauben des Evangeliums. Das paulinische Christentum bildet so für Bousset eine christentumsgeschichtlich höchst bedeutsame Etappe im Rahmen der Kommunikations- und Aneignungspraxis des Evangeliums: „Dies merkwürdige Ineinander von Abstraktion und Persönlichem, diese Verbindung eines religiösen Prinzips mit einer Person, die eben doch hier auf Erden gewandelt und hier den Tod erlitten hat, ist eine Erscheinung von eigenartiger Originalität.“158

154 Bousset, Paulus, 1290. 155 KC 112. 156 KC 112. 157 KC 112. 158 KC113. Gerade in der paulinische Verknüpfung der gegenwärtig erlebten, den Christen vollständig bestimmenden Wirklichkeit des Kyrios Christos – dies meint Bousset offenbar mit der Rede von einem neuen religiösen Prinzip – mit Leben und Geschick Jesu von Nazareth kommt für Bousset die eigentliche Umarbeitung der heidenchristlichen Kultmystik zu stehen. Diese mache letztlich auch die „Stoßkraft“ der paulinischen Mission aus, da nun die Gottheit anschaulich wurde, „wie dies bisher unerhört war“ (ebd.).

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Neben der Verbindung von Prinzip und Person – die bei Paulus jedoch nicht ohne Engführung ist –, die der christlichen Religion als besondere Ausgestaltung des religiösen Lebens seither ihr eigentümliches Gepräge gibt, hebt Bousset aber noch auf den in der Christusmystik intendierten Gottesgedanken ab. Im Rahmen eines religionsgeschichtlichen Vergleiches ließe sich schnell zeigen, dass in der paganen Mysterienpraxis kategorial verschiedene Gottesgedanken und Erlösungsvorstellungen zur paulinischen Umarbeitung der heidenchristlichen Kultmystik liegen. Während die Mysterienkulte die Identität mit der Gottheit, also letztlich die Vergottung im Rahmen der unio mystica zum Ziel ihrer Praxis erklären,159 hat die Christusmystik des Paulus ein vollständig anderes Erlösungsverständnis. Er schrecke vielmehr „instinktmäßig“160 vor einer Identitätsaussage mit dem PneumaChristus zurück, die ja angesichts seines pneumatischen Enthusiasmus, den Paulus auch kannte und den Bousset für seine Paulusdeutung auch eine große Bedeutung einräumt, vermeintlich nicht so fern lag. Denn in der Übertragung der Christusmystik auf das gesamte christliche Leben liegt doch eher, so Boussets Deutung, trotz der auf Dauer gestellten Bezogenheit auf den Pneuma-Christus die bleibende Unterschiedenheit von Gott und Mensch. Bousset ist also daran gelegen, Paulus als christliche Persönlichkeit in Anschlag zu bringen, deren christlich-religiöses Empfinden darin bestand, innigste Beziehung bei bleibender Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf in das christlich-religiöse Erleben zu implantieren; dieser Erlebnisform verlieh Paulus mit seiner Formel des Seins in Christus einen frommen Ausdruck. Die christliche Religion ist also weder von einer Identität noch von einer Nichtidentität mit der Gottheit, die nur punktuell im Kult überbrückbar erscheint, bestimmt, vielmehr ist sie als ein „Leben in der Gottheit“161 gestaltet, die als das höhere pneumatische Lebenselement des Christen nicht in die menschliche Sphäre herabgezogen und damit verendlicht wird. Paulus hat also in Boussets Rekonstruktion gerade durch Umarbeitung der mysterienreligiösen Formen den monotheistischen Geist des Evangeliums bewahrt.

3.2.1.4 Das paulinische Christentum als neue Sozialgestalt – Paulus als Organisator Das paulinische Christentum war, wie oben schon gezeigt, in soziologischer Hinsicht ein bis dahin im religiösen Leben nicht gekannter Ort, dem ein „Gemeinschaftsgefühl von einer unerhörten Kräftigkeit und Intensität“162 eignete. Verglichen 159 Vgl. KC 113; ebd. 115: „Wie erschreckend in dieser ganzen Frömmigkeit jegliche Grenzscheide zwischen Göttlichem und Menschlichem verwischt erscheint.“ 160 KC 115. 161 KC 113. 162 KC 116.



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mit den antiken Mysterienweihen, die letztlich bei aller Hochschätzung des Vergemeinschaftungsideals doch auf das Endziel der „individualistisch eudämonistische[n] Vergottung“163 des Einzelnen hindrängten und eine durchweg hierarchische Struktur aufweisen, zeige sich in dem neuen Korrelat zum Kultheros Christus, nämlich der Gemeinde, das „Bewusstsein ihrer [sc. der Christusgläubigen] Einheit und einzigartigen soziologischen Geschlossenheit.“164 Dieses Bewusstsein der egalitären Einheit, das ja, wie Bousset vermerkt, schon im außerchristlichen religiösen Leben der Antike aufkam, wurde nun – wohl schon in der vorpaulinischen Gemeinde kräftig vorbereitet – durch Paulus zum Prinzip erhoben, sodass dieses Gemeinschaftsideal zum allgemeinen Signum christlicher Religiosität werden sollte. Entsprechend wird dieses Vergemeinschaftungsideal von Bousset für seinen Reformulierungsversuche christlicher Religiosität unter den Bedingungen der Moderne in Anschlag gebracht, denn ein atomistischer religiöser Individualismus ist in Boussets Urteil eben kein Merkmal einer christlichen Frömmigkeitspraxis. Im Aufgehen des Individuums im „triumphierenden Bewußtsein des Einbeschlossenseins in eine [...] sich bahnbrechende Macht“, in einen „weltumspannenden Willen“165, dem die paulinische Christusmystik den Ausdruck gibt, erkennt Bousset sodann ein weiteres Unterscheidungsmerkmal der christlichen Religion zum in Boussets Deutung sittlich unwirksamen Kult der Mysterienreligionen – das 163 KC 117. Allerdings gelte im Rahmen einer religionsgeschichtlichen Rekonstruktion, dass man die „[...] hier zutage tretenden Gegensätze nicht überspannen [darf]. Die verschiedenen Welten berühren sich und die Fäden laufen hinüber und herüber“ (ebd.). Entsprechend erkennt Bousset auch bei Paulus die latente Gefahr, dass dieser gleich den aristokratischen Mystagogen drohe, aus einem pneumatischen Überlegenheitsbewusstsein seine Gemeinden zu leiten. Er nähere sich dem „Hochgefühl des theios anthropos“ (ebd. 118). Auch Paulus’ Christsein ist offenkundig im Werden begriffen und ständig bedroht, alte durch die Praxis des Kyrioskult vermittelte, religiöse Verhaltensmuster der Umwelt zu konservieren, so bleibt es bei einer „gewissen[n] Verwandtschaft zwischen der paulinischen Christus-Mystik und jener [...] Mysterienfrömmigkeit“ (ebd. 119; in JdH 85 Anm. 1 revoziert Bousset jedoch das Verdikt einer „absolut individualistischeudämonistische[n] Frömmigkeit des Mysterienwesens“). Bousset erkennt im Pneumatiker eine höchst ambivalente Erscheinung in der Religionsgeschichte („in aller seiner Großartigkeit und mit allen seinen Gefahren“ [ebd.]). Seine Großartigkeit findet ihren Ausdruck im autoritativen Bewusstsein, aus selbsterlebter Offenbarung heraus zu reden; nur so war beispielsweise Paulus „in den Stand gesetzt, die Fesseln, die den Siegeszug der jungen zum Universalismus strebenden Religion noch hemmten, zu sprengen“ (ebd. 118). Doch ist die Gefahr, die Bousset im pneumatischen Reden erkennt, kaum geringer. Diese artikuliere sich beispielsweise im „[h]ochgespannte[n] Bewußtsein der Vollkommenheit seines gegenwärtigen Christenstandes“ (ebd. 118); so empfindet Paulus die Sünde in seinem Leben nur noch als „Ausnahmezustand“ (ebd. 118; vgl. ebd. 119 Anm. 1: „Paränesen sind für Pauli christliches Bewusstsein nicht charakteristisch“). Sodann bedrohe natürlich ferner ein „Subjektivismus voll von neuen und unerhörten Offenbarungen“ (ebd. 118) die Form einer sich bildenden Kirche. Und eine kirchlich verfasste Religion ist in Boussets Auffassung unfähig, einen absoluten Subjektivismus integrieren zu können, da er die Grundlage der Auslegungsgemeinschaft – die kirchliche Tradition – zu unterminieren drohe. Faktisch vermied Paulus jedoch die Gefahren des Pneumatikers, dies zeige seine Organisation der Gemeinde. 164 KC 89. 165 KC 117.

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aber erst im paulinischen Christentum zu Bewusstsein gebracht wurde. Die große religiöse Tat der religiösen Persönlichkeit des Paulus ist also nicht zuerst die wiederholte Inkraftsetzung des religiösen Individualismus, wie das Evangelium Jesu ihn fasste. Zwar gelte dieser auch für Paulus in der Frage des Gottesverhältnisses unvermindert – jeder ist gleichermaßen unmittelbar zu Gott –, jedoch vermochte erst die paulinische Fortbildung des Evangeliums die „individualistischen Irrwege“166, in die sich das religiöse Leben nach dem Zusammenbruch der Nationalreligionen zu verirren drohte, zu vermeiden. Denn jenseits der bloßen Kultpraxis war nun auch das „Vertrauen auf Zweck und Sinn der eigenen Arbeit“167 geweckt. Und gerade im Hinausgehen über ein kultisches Handeln und in der „Betonung des Ethos, der moralischen Verpflichtung“168 liegt in Boussets Urteil das tragende Fundament der paulinischen Weiterbildung, das auch hier wieder ein implizites Element des Evangeliums Jesu zur Explikation bringt und der Selbstbeschreibung christlicher Identität unaufhebbar einschreibt. Neben diesen ethischen Vergeistigungsprozessen der kultischen Praxis durch die Christusmystik bringt Bousset Paulus aber noch als „Begründer“ und „Organisator“169 des neuen christlich-religiösen Lebens in Stellung. Durch die Befreiung des religiösen Lebens aus den Fesseln der observanten Religion hat Paulus „eine Welt aus den Angeln gehoben und dem Lauf der Geschichte eine andere Wendung gegeben […].“170 Das Gesetz ist für das neue christliche Leben abgetan. Wenngleich die universalistische Predigt des paulinischen Christentums ihre Vorläufer hatte,171 so kommt Paulus das Verdienst zu, die „den von allem Partikularismus freien Monotheismus und die von allen Zeremonien gelöste, reine Geistigkeit des Evangeliums zu klarem Bewusstsein und die Überzeugungen davon zum Gemeingut der christlichen ‚Kirche‘ gemacht [zu haben]. [...] in Pauli Person kristallisiert sich der große Befreiungsprozeß [sc. des religiösen Lebens].“172 Seine eigentümliche religiöse Strahlkraft rührte nach Bousset also weniger von seiner theologischen Erschließung des Christusgeschehens, sondern vielmehr von seinem praktischen Erfolg, die „neue vom Judentum gelöste Religionsgemeinschaft auf eigene Füße zu stellen“173. Die Selbständigkeit der paulinischen Gemeinden war in Boussets Urteil ein ‚Beweis des Geistes und Kraft‘, der jegliche weitere Legitimierung gegenüber den Jerusalemer Autoritäten überflüssig werden ließ. Also nicht das theologische System des Paulus ist in Boussets Paulus-Deutung die lineare Fortentwicklung der christlichen Reli166 KC 117. 167 KC 117. 168 KC 117. 169 Bousset, Paulus, 1283 hier gesperrt. 170 Bousset, Paulus, 1283. 171 Zur Bedeutung des Stephanus und Barnabas als Repräsentanten eines zum Universalismus hinstrebenden Heidenchristenkirche und den anderen universalistischen, nicht-paulinischen Gründungen in Rom und anderswo vgl. Bousset, Paulus, 1283. 172 Bousset, Paulus, 1283 [Hervorhebung JH]. 173 Bousset, Paulus, 1283.



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gion, sondern die praktische fortlaufende Befreiung des religiösen Lebens von bestimmten observanten und partikularistischen Praxen, wie sie in Boussets Deutung im Judenchristentum noch in Geltung standen.174 Paulus hat vielmehr die „innere Freiheit“ des Evangeliums Jesu und die erkennbare „Tendenz auf Gesetzesfreiheit in der [sc. Jerusalemer] Urgemeinde“ zur allgemeinen äußeren „Thatsache“175 gemacht und damit in die Selbstbeschreibung der christlichen Religion überführt. Organisator des neuen christlichen Lebens war Paulus aber vor allem darin, dass er der christlichen Religion nicht nur ihre „Seele“ als gesetzesfreie Religion gegeben hat, sondern eben auch einen „Leib“176 gebildet hat, indem er die frömmigkeitspraktischen Fragen und Probleme der jungen Gemeinden mit der „Weisheit des Pädagogen“177, die Paulus seiner rabbinischen Ausbildung verdanke, einer stets um Vermittlung bemühten Lösung zuführte. Die Eindämmung eines in den jungen hellenistischen Gemeinden um sich greifenden „überschäumenden Enthusiasmus“178 weise Paulus als den „‚Führer‘ des jungen Christentums“ aus, der es verstand, dem Leben im Geist eine Struktur zu verleihen, die es vor Asketismus schützte, der ja gewissermaßen als immanente Gefahr im pneumatischen Paulinismus schwelte.179 Die paulinische Ethik ist für Bousset geradezu eine „gute Ergänzung der überweltlichen ethischen Art Jesu“180. Gerade dieses antiasketische Organisationstalent, aber auch die weise und abwägende Art der Neugestaltung des christlichen Lebens, die „die gegebenen Formen des Gemeinschaftslebens [wahrte] und nicht revolutionierte [...]“181, schätzt Bousset an Paulus außerordentlich und zeigt hinlänglich, dass er ein ‚mystisches‘ Christentumsverständnis, das sich in der Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung genüge, ohne sich in Tätigwerden auszuwirken, strikt ablehnt. Gleichzeitig eignet es dem Gemeindeorganisator Paulus, dass er auch das andere Extrem, nämlich das eines „überspannten Rigorismus“182, ebenfalls nicht zur allgemeinen christlichen Norm erhob, sondern vielmehr auch hier – und hier zeigt sich eben für Bousset der verständige Pädagoge – vielfältige Vermittlungen anstellte, die so ein je individuelles Wachsen ins Christentum ermöglichten, ohne in Beliebigkeit umzuschlagen.

174 Mit dieser neuprotestantischen Unterscheidung steht Bousset forschungsgeschichtlich in einer Linie mit Julius Holtzmann, der laut Schweitzer (Forschung, 128), zuerst zwischen praktischer Religion und theologischem System unterschied. Dazu vgl. auch Regner, Paulus, 157f. 175 NJP 238. 176 Bousset, Paulus, 1283. 177 Bousset, Paulus, 1283. 178 Bousset, Paulus, 1288. 179 Vgl. dazu nur NJP 245. 180 JdH 93. 181 Bousset, Apostel, 9. 182 Bousset, Paulus, 1289.

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3.2.2 Paulus, der erste christliche Theologe Ist damit die Rekonstruktion der paulinischen Frömmigkeit, wie sie Bousset durchführt, beschrieben, so ist nun zum anderen Pol der Persönlichkeit des Paulus überzugehen: Paulus als Theologe. Eine Trennung zwischen den beiden Polen wäre nach Bousset allein aufgrund der Darstellungspragmatik zulässig, sachlich gehören beide Größen jedoch in Boussets Urteil aufs engste zusammen,183 denn gerade für Paulus ist es doch eigentümlich, dass persönliche Frömmigkeit und theologisches Denken ein polares, sich wechselseitig bedingendes Verhältnis bilden, das nicht einfach aufgehoben werden kann.184 Wenngleich auch die Frömmigkeitsformen der paulinischen Aneignung der christlichen Religion nicht ungebrochen rezipiert werden können, so wird das paulinische Christentum erst mit dem Überschritt zum theologischen Denken zu einem wirklichen Problem. Am theologischen Denken tritt für Bousset die Ambivalenz der „mehrköpfigen Janusgestalt“185 des Paulus am deutlichsten vor Augen. Als in der Diaspora geborener und sozialisierter Jude hat Paulus griechisch gesprochen. Doch nicht nur die Sprache, sondern auch das begrifflich-systematische Denken übernahm Paulus aus dem griechischen Kulturkreis. Dies sei eine durchweg beachtenswerte Tatsache.186 Zwar schuf er darin dem Evangelium ein „so würdiges und kostbares Gewand“187, das eben trotz der Neuheit zunächst dem Evangelium nicht als etwas Fremdes entgegentritt. Aber mit der griechischen Sprache waren auch neue Sachgehalte in den Auslegungshorizont des Evangeliums getreten, die zwar durchaus eine adäquate Fortbildung, allerdings auch, wie noch genauer zu zeigen sein wird, ‚Belastungen‘188 der christlichen Frömmigkeit darstellen konnten. Die Anwendung eines „bestimmten System[s] von Begriffen“189 auf das kultische Erlebnis macht Paulus dann auch zum „erste[n] christliche[n] Theologen.“190 Wenngleich es sich nach Bousset bei Paulus auch vornehmlich um weltanschauliche Gedanken, „hingeworfen wie erratische Blöcke“191, handelt, so kommt die Bedeutung der paulinischen Theologie dennoch darin zu stehen, dass sie über Jahr183 Vgl. Bousset, Paulus, 1299. 184 Entsprechend versucht Bousset auch eine zusammenhängende Darstellung der beiden Pole in seinem RGG-Artikel Paulus (1289f). 185 Vgl. Paulus, 1288. 186 Vgl. Bousset, Apostel, 6; ders., Paulus, 1278: „[...] trotz aller Widersprüche und Inkonsequenzen [arbeitet er] mit einem bestimmten System von Begriffen.“ 187 Bousset, Apostel, 6. 188 Vgl. Bousset, Paulus, 1305. 189 Bousset, Paulus, 1278. 190 Bousset, Paulus, 1284. 191 Bousset, Paulus, 1284. In JdH macht Bousset sogar weitreichende Zugeständnisse gegenüber Wernle und konzediert, dass er zurecht moniere, dass Boussets Rekonstruktion Paulus zu stark in ein System einzwänge. Demgegenüber macht Bousset in JdH die „Inkongruenzen“ (ebd. 67–69) im paulinischen Denken stark. Zugleich betont er mit Nachdruck, dass man bei Inkongruenzen nicht stehen bleiben könne – faktisch hat nämlich auch Wernle eine „Gesamtauffassung, die



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hunderte Ausgangspunkt einer christlichen Weltanschauung und damit „geradezu ein Stück der Geschichte christlichen Geistes“192 gewesen ist. Dass die paulinische Theologie nicht ohne einen erheblichen hermeneutischen Aufwand rezipiert werden kann, ist damit freilich auch gesagt. Wenn Paulus in Boussets Deutung auch nicht eine „geschlossenen Weltanschauung“193 intendiert, so drängt sein theologisches Denken jedoch unweigerlich auf Geschlossenheit – dies liegt gleichsam im Wesen theologischen Denkens, das mit einzelnen Fragmentstücken sich nicht zufrieden geben kann. Paulus hat also „das Recht und die Macht des zusammenfassenden Gedankens“194 in die christliche Religion eingeführt, die bisher durch eklektische Schriftauslegung, die sie mit dem synagogalen Schulbetrieb teilte, und einzelnen, unverbundenen Theologumena eine nur rudimentäre Form der Theologie ausgebildet hatte. Die Genese der paulinischen Theologie führt Bousset letztlich mentalitätsgeschichtlich auf Paulus’ ‚rabbinische‘ Ausbildung zurück, die ihm die „Neigung zur Grübelei und zu spitzfindigem Scharfsinn“ und die „juristische Betrachtungsweise“195 einprägten. Von dorther stammt auch seine Kunst der Schriftauslegung, der Literalexegese und der Allegorese. Den Hang zum System, der die an die Buchstaben gebundene rabbinische Exegese übersteigt, verdankt Paulus aber seiner hellenistischen Sozialisation – sein Denken war strukturell griechisches Denken. Die paulinische Theologie wird also biographisch und hier insbesondere aus der persönlichen Bildungsgeschichte des Pharisäers Paulus in der hellenistischen Diaspora abgeleitet. Bousset erkennt konkret eine Berührung des paulinischen Denkens mit einem „vergröberten und popularisierten Platonismus“, der in „zahlreichen Sekten und in der Schicht der Halbgebildeten“196 das philosophische Referenzsystem bildet. Hier ließen sich große religionsgeschichtliche Analogien in den Denkstrukturen nachweisen, die Paulus, der als Diasporajude mit dieser synkretistischen Frömmigkeit unzweifelhaft bekannt gewesen sein wird,197 als theologischen Deutungsrahmen für den reflexiven Zugriff auf das kultische Erlebnis hinzuzog. Bousset fasst also gemäß seinem methodischen Ansatz die paulinische Theologie als eine Lebensäußerung

den Paulus der reformatorischen Grundauffassung nach Möglichkeit annähert“ (ebd. 68) –, denn freilich gäbe es „Hauptstränge“ im „sehr reflektierten“ (ebd.) paulinischen Denken. 192 Bousset, Paulus, 1284. 193 Bousset Paulus, 1290. 194 Bousset, Paulus, 1284. 195 Bousset, Paulus, 1278. Die teilweise tatsächlich nicht immer ganz leicht nachvollziehbaren Gedankengänge in den paulinischen Briefen führt Bousset sodann auf das Temperament der notorischen Grübelei zurück: „[...] so sehen wir den stillen Grübler und Bohrer, der in der Beweiskette einen Ring an den andern schließt und sich im Labyrinth seiner eigenen Gedanken verirrt, einen Gelehrten, der weltentrückt seine Gedanken spinnt, fast vergißt, daß er einen Brief schreibt, den seine Leser doch verstehen müssen“ (ebd. 1288). 196 Bousset, Paulus, 1291. 197 Vgl. KC XVI, wo Bousset mutmaßt, ob Paulus eventuell mit der „halbgebildeten Literatur“ der Mysterienreligion vertraut gewesen sein mag.

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der Kultfrömmigkeit und versucht sie auf diesem Hintergrund geschichtlich begreifbar zu machen. Die theologische Deutung der kultischen Erfahrung ist also immer an kulturell vermittelte Deutungsmöglichkeiten gebunden. Diese Struktur wird insbesondere in der paulinischen Theologie deutlich. Damit werden diese Formen der christlichen Selbst- und Weltdeutung freilich als kontingent ausgewiesen. Und so muss am einzelnen Theologumenon ermessen werden, ob überhaupt noch Paulus’ theologische und kosmologische Spekulationen einen angemessenen, noch religiös bedeutsamen Ausdruck für das gegenwärtige christlich-religiöse Bewusstsein bilden können. Die religiöse Verwertbarkeit der paulinischen Theologie muss sich also über einen anderen Weg erweisen. Nämlich indem Bousset zeigen kann, dass erst in der Reflexion der kultisch vermittelten Erfahrung die „Kraft und Sicherheit [sc. des Evangeliums Jesu] zum Bewusstsein kam.“198 Und so fragt Bousset dann auch rhetorisch: „Liegt nicht auch etwas von genuiner Weiterentwicklung darin, wenn das Evangelium Jesu sich so schnell mit einem System von Gedanken und Reflexionen verband?“199 Bousset unterläuft also das in der Diagnose seines Freundes William Wrede diastatische Verhältnis200 der jesuanischen und der paulinischen Frömmigkeit, indem er gerade in der theologischen Reflexion der paulinischen Frömmigkeit ein dem Evangelium nicht fremdes Element erblickt, sondern vielmehr eine legitime Weiterbildung, die zur Selbstvergewisserung der erfahrenen Wirklichkeit des lebendigen Herrn hinzukommen muss. Und so lässt sich nach Bousset die paulinische Frömmigkeit dahingehend charakterisieren, dass sie sich – anders als die selbstgewisse, „ohne alle Reflexion“201 in sich ruhende jesuanische Frömmigkeit – Rechenschaft über das Paulus’ gesamtes Leben umgreifende Empfinden der Gegenwart des Herrn Jesus Christus geben will. Die erfahrene Gewissheit des seligen Besitzes der christlichen Heilsgüter, die ihn und die anderen Heidenchristen kennzeichnet, wird von Paulus also um die „ängstlichen Frage“202 erweitert: „woher die Kräfte zum neuen Leben des Gläubigen kommen [...]“203, die in der Reflexion dem notorischen Grübler Paulus – so Bousset – vermeintlich doch nicht mehr so sicher erschienen. In der Frage nach dem ‚Woher‘, nach den „letzten Fundamenten“204 dieser neuen christlichen Gewissheit, artikuliert sich demnach für Bousset Paulus’ beständige Triebfeder für die Ausbildung seines theologischen Denkens. Sie ist die treibende Kraft hinter Paulus’ Versuch, der christlichen Erfahrung eine nachgängige theologische Begründung zu geben, die der im Kult unmittelbar empfundenen Gewissheit erst die praktische Kraft in der Alltagswelt zukommen ließ. Die vermeintlich stabile 198 NJP 246. 199 NJP 239. 200 Vgl. Wrede, Paulus, 92–97. 201 Vgl. NJP 246. 202 NJP 246. 203 NJP 240. 204 NJP 246.



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Unterscheidung zwischen Religion und Theologie, wie sie für eine Theologie liberaler Prägung eigentümlich ist, gerät Bousset also auch in seinen historischen Studien immer mehr ins Wanken.

3.2.2.1 Die theologischen Hauptlinien des Paulinismus Um Boussets Deutung der paulinischen Theologie zu rekonstruieren, gilt es nun zuerst seine Rekonstruktion der paulinischen Theologie zu beschreiben. Mit dem Abheben auf das reziproke Verhältnis von Frömmigkeit und Theologie will Bousset näherhin seine Beobachtung von den teilweise unvermittelbaren Gedanken, den ‚erratischen Blöcken‘, innerhalb der paulinischen Theologie, einer Begründung zuführen: „Es handelt sich [...] um die Herübernahme volkstümlicher, in kultischem Empfinden wurzelnder Gedanken, die er im kühnen Spiel der Phantasie verwendet, ohne sie restlos zu durchdenken.“205 Zunächst würdigt Bousset Paulus’ christologische Spekulationen darin, dass sie die „Unablöslichkeit des christlichen Glaubens von der Person Jesu von Nazareth“ und den „starken Sinn für den Monotheismus“ – beide seien gleichsam der „gesunde Kern“206 der Christus-Spekulationen –, als leitendes Aussageinteresse in sich trügen. Darin also wird Paulus zum christlichen Theologen, indem er die Person Jesu in das Zentrum seiner Überlegungen hineinnimmt. Und so wird auch die paulinische Christologie von Bousset unter Beiseitelassung bestimmter mythologischer Reste als eine durchaus christliche Deutungsperspektive in Anschlag gebracht, da sie trotz der religiösen Zentralstellung der Person Jesu – die freilich, wie unten noch zu zeigen sein wird, kaum mehr etwas mit der ‚Person Jesu‘ zu tun hat207 – am Monotheismus festzuhalten vermag. Wo die Masse nicht mehr zwischen Gott und Christus unterschied und sich somit auch nicht von den kultischen Mysterienvereinen des außerchristlichen religiösen Lebens formal kaum unterschied, da wisse Paulus an den entscheidenden Stellen zwischen beiden noch graduell zu unterscheiden.208 Diese Unterscheidungsleistung trage seiner Christologie freilich eigentümliche „Inkongruenzen“209 ein. Das paulinische Denken stellt für Bousset keineswegs eine Neuschöpfung dar. Vielmehr gilt auch hier, dass Paulus kaum der alleinige Schöpfer der Anfänge christlicher Theologie sei, diese beginne vielmehr schon mit der Deutung der Ostererfahrung in der Jerusalemer Urgemeinde anhand ihrer ‚Menschensohndogma205 NJP 242. 206 NJP 242. 207 Vgl. Bousset, Paulus, 1293: „Viel weiter aber über diese Außenseite des wirklichen und wahrhaftigen Erscheinens in Niedrigkeit, geht die Betrachtung des P[aulus] nicht. Das menschlich-sittliche Personenleben Jesu, das uns die Hauptsache geworden ist, streift er höchstens hier und da ganz zufällig“ [Hervorhebung JH]. 208 Vgl. KC 154. 209 JdH 73.

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tik‘. Treffender sei es nach Bousset, Paulus als „Vollender“210 dieser Entwicklung zu einer christlichen Theologie zu beschreiben. Er hat die ersten Ansätze einer Theologie in der Urgemeinde, die ihre christliche Erfahrung noch auf dem Hintergrund des Alten Testaments und des ‚Spätjudentums‘ auslegte, nahezu zu einem begrifflichen System über Gott, Mensch und Welt ausgestaltet. Die theologischen, anthropologischen und kosmologischen Spekulationen sind von Paulus durchweg mit Begriffen und Vorstellungsweisen gearbeitet, die eine längere Entstehungsgeschichte im Hellenismus und hier vor allem in den Mysterienreligionen und Popularphilosophien vermuten lassen und somit auch neue Gehalte an das Evangelium herantrugen. Wie Bousset nun die Genese der paulinischen Theologie rekonstruiert und welche Bedeutung er ihr für die ‚Weiterentwicklung‘ der christlichen Religion ihr zuschreibt, soll im Folgenden anhand einer Analyse seiner Rekonstruktion der paulinischen Theologie – exemplarisch anhand seiner Anthropologie und Soteriologie – gezeigt werden.211

3.2.2.2 Die paulinische Anthropologie Ausgehend von der erlebten Wirklichkeit des christologisch gedeuteten Geistes212 „errichtete [das paulinische Denken] den kühnen Bau einer großzügigen Gesamtanschauung.“213 Begleitet ist die paulinische Chistus-Spekulation dabei von einer dualistischen Weltanschauung, die die pneumatische von der sarkischen Welt strikt unterscheidet. Das durch die ‚spätjüdische‘ Eschatologie vermittelte weltgeschichtlich-kosmologische Panorama von „‚dieser‘ und ‚jener‘“214 Welt verdichtete sich bei Paulus in der Person des Christen. Hier liegen Geist und Fleisch in bleiben-

210 S. o. Anm. 78. 211 Mit Anthropologie und Erlösungslehre markiert Bousset die paulinischen Lehren, in denen er eine große Umbildung, in ihrer Endgestalt dann mit William Wrede auch regelrechte Neuschöpfungen, gegenüber der ‚palästinensischen‘ Traditionslinie erblickt. Der Glaubensbegriff gehört nach Boussets Dafürhalten jedoch nicht hierher. Denn die Zentrierung des Glaubens im religiösen Leben erkennt Bousset schon im Diasporajudentum, aus dem ja auch Paulus stammt: dies bedeutet „[...] schon hier den teilweisen Sieg des Geistes in der Religion über Sitte und nationale Gebundenheit“ (JdH 44). Als diesbezüglich bedeutende Persönlichkeit führt Bousset sodann Philo ein, den „ersten großen Psychologen des Glaubens“ (ebd.), der allererst den Glauben in das Zentrum der Religion gerückt hat. Dessen ungeachtet bleibt Paulus der Vollender dieser Entwicklung, indem er den Glauben als feste Überzeugung von der Sündenvergebung begreifen lehrt und so „das starke und hinreißende Ethos hineinbringt (ebd. 45). Allerdings markiert Bousset sogleich auch die Grenze des paulinischen Glaubensbegriff, denn der Glaube wird „[...] in eine einseitige Beziehung zu seiner Rechtfertigungslehre hineingestellt und so verengt“ (ebd. 45; zur ‚juridischen‘ Verengung der paulinischen Rechtfertigungslehre und ihrer Bedeutung für dem paulinischen Glaubensbegriff vgl. ders., Paulus, 1302f). 212 „P[aulus] erlebte den ‚Christus‘ in den Wirkungen des Geistes“ (Bousset, Paulus, 1289). 213 Bousset, Paulus, 1290. 214 Bousset, Paulus, 1290.



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der „Wesensverschiedenheit“215 ineinander – mit dieser „Vergeistigung und Vertiefung der jüdischen Eschatologie“216 rückt Paulus nun aber wiederum in deutliche Nähe zur Mysterienfrömmigkeit, die auf Grundlage ihres popularisierten Platonismus217 ebenfalls eine dualistische Weltanschauung ausgebildet habe. Wenngleich aufgrund der Rezeption der jüdisch-urchristlichen Apokalyptik durch Paulus wieder eine Differenz zum ungeschichtlichen kultischen Denken der dualistischen Mysterienfrömmigkeit gegeben ist, so reichen doch die „Parallelen“ bis in die „Einzelheiten der Sprache, in der Paulus seine Gedanken darstellt.“218 Damit sei sogleich eine „Verschärfung“219 gegeben, die in der paulinischen Theologie zur vollständigen Delegitimation alles Sarkisch-Leiblichen führe. Ein Riss geht durch die Lebensgeschichte des paulinischen Christen. Das neue christliche Leben kann aus dem alten, widergöttlichen Leben nicht hervorgegangen sein, sondern stamme ‚von oben‘ und ist der Tod des alten: „Paulus erfährt die Erlösung als ein völliges Neuwerden, das die Kontinuität seines Ichs aufzuheben drohte […].“220 Das Christentum des Paulus ist nach Bousset also schlicht als „Bekehrungschristentum“221 zu verstehen, dem es nun mal eignet, anstelle eines kontinuierlichen Hineinwachsens in das Christentum erst im Rahmen einer radikalen biographischen Wende Christ zu werden. Diese Erfahrung stellt sich in der dualistisch aufgebauten Anthropologie dar, die Paulus mit den Mysterienreligionen, in die man ebenfalls nicht hineingeboren wurde, teilte. Die „Eigenart seines [sc. Pauli] Christentums“ kann man unter den Bedingungen einer noch christlich geprägten Moderne nicht „sklavisch nachahmen.“222 Schließlich stehe diesem Bekehrungschristentum „die Auffassung des Christenlebens als eines ewigen Kampfes“, die Bousset dem „‚lutherischen‘ Typus des Christentums“223 zuschreibt, recht unvermittelt entgegen. Diese Gestalt christlichen Lebens, die von der Idee einer täglichen Wiedergewinnung des Trostes der Sündenvergebung getragen ist, muss der paulinischen 215 Bousset, Paulus, 1290. 216 Bousset, Paulus, 1291. 217 Der Platonismus habe sich mit Elementen orientalischer Frömmigkeit, die eben in solchen Dualismen bestand, verbunden und bildet so eine dualistisch orientierte popularisierte Form des spätantiken Platonismus. Der schroffe anthropologische Dualismus, den Paulus aus seiner kultischen Erfahrung bildete, ist „hier und da“, ohne dass er eine „zur Klarheit sich durchringende Auffassung“ (KC 123) davon gehabt hätte, wieder ‚ermäßigt‘, indem Paulus sich in Röm 7 einer „plantonisierenden Betrachtungsweise“ (ebd.) bedient und eklektisch vom nus im Menschen reden kann. Dass Bousset Röm 7 als eine zur gesamten paulinischen Weltanschauung unvermittelte, singuläre Äußerung des Paulus auslegt, löst bei Wernle, dem Bousset wiederum eine gängige, reformatorisch orientierte und damit normierende Exegese unterstellt (vgl. JdH 71), vehementen Widerspruch aus (vgl. ebd.). 218 Bousset, Paulus, 1291. 219 Bousset, Paulus, 1291. 220 JdH 76. 221 Bousset, Paulus, 1296. 222 Bousset, Paulus, 1296. 223 Bousset, Paulus 1296; vgl. auch KC 129.

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Konzeption dauerhaft fremd bleiben. Denn das paulinische Sündenbewusstsein kennt die Sünde nur als etwas Zurückliegendes, als „Ausnahmezustand“224, der an sich nicht mehr sein kann. Dieser das geschichtliche Individuum aufhebende Dualismus äußert sich ferner im „Doppelbewußtsein des Ekstatikers“225, das die innere Kontinuität der Person endgültig zerreißt. Für eine gegenwärtige Inanspruchnahme bleibt diese Eigentümlichkeit paulinischen Christentums problematisch; man könne diese eben nicht schlicht ‚nachahmen‘, da in der Moderne die Lebens- und Religionspraxis völlig andere geworden sind. Entsprechend erkennt Bousset im lutherischen Typus mit seinem täglichen Glaubenskampf eine der Selbstbeschreibung des gegenwärtigen Christentums relativ „näher“ stehende historische Ausprägung der christlichen Religion als das „Bekehrungschristentum“226 paulinischer Prägung, wie es laut Bousset der Methodismus dann hingegen später aufnahm.227 Da für Bousset und seine Zeitgenossen ungeachtet der diagnostizierten Krise das Christentum die unangefochtene Mehrheitsreligion darstellt, wird kaum noch jemand an einem Punkt der individuellen Lebensgeschichte Christ „werden“, sondern vielmehr im Rahmen der religiösen Sozialisation in einem lebensgeschichtlichen Prozess „ins Christentum hineinwachsen.“228 Überhaupt ist das sich auf Paulus berufende Bekehrungschristentum229 in Boussets Urteil einer Selbsttäuschung aufgesessen, da diese Selbstbeschreibung der absoluten Wende im Leben des Christen eben nicht nur auf der frommen Erfahrung des Paulus beruht,230 sondern vielmehr „[...] auf einem kühnen Glaubenssatz: mit Tod und Auferstehung Christi muß die Vernichtung der alten 224 KC 119 Anm. 1. 225 KC 122. 226 Bousset, Paulus, 1296. 227 Vgl. Bousset, Paulus, 1296. 228 Bousset, Paulus, 1296. 229 Offenbar existierte in der frühen Moderne ein sogenanntes „Pauluschristentum“, auf das sich Bousset hier bezieht, das in Paulus einen Gewährsmann für die eigene Frömmigkeitspraxis sah, die im „Erlebnis Christi“ und in der Repristination der gesamten paulinischen Theologie, dem „Erlösungsdrama“, ihr Zentrum hatte (Baumgarten, Pauluschristentum, 1339f, auf den Bousset zustimmend verweist, vgl. ders., Paulus, 1296). Baumgarten kritisiert – ganz analog der Kritik Boussets an der paulinischen Theologie – am Pauluschristentum, dass die „[...] Schablonierung und Zumutung dieses inneren Stils an alle [...] ebenso unpsycholgisch wie die Einzwängung aller Zeugnisse christlicher Erfahrung, die das NT bietet, in dies Schema ungeschichtlich ist“ (Baumarten, Pauluschristentum, 1341). Nicht nur dass Paulus so um die religiöse Bedeutung seiner Christusmystik, die für Baumgarten eben auch in der Inkraftsetzung der sittlich-religiösen Selbständigkeit besteht, gebracht wird, „vor allem wird durch die Stilisierung der Mannigfaltigkeit religiöser Erfahrung Unzähligen Zwang angetan, und nichts ist verderblicher als die Aufnötigung innerlichster, persönlichster Erlebnisse“ (ebd. 1342). Baumgartens Kritik an der Konterkarierung aller psychologischer Beschreibungsmuster, dazu noch die Unterbestimmung bzw. die reflexiv nicht einholbare Bedeutung der „aktive[n] [...], in rastlosem Streben der Selbstvervollkommnung und Kulturförderung aufgehende[n] Sittlichkeit“ (ebd. 1341) und die uniforme Engführung auf eine bestimmte Gestalt christlicher Frömmigkeit stimmen exakt mit Boussets Paulusdeutung überein. 230 Vgl. JdH 72.



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und die Neugeburt der neuen Welt gegeben sein.“231 Wie unten noch zu zeigen sein wird, ist aber gerade diese Vorstellung von der kosmischen Bedeutung des Todes des Erlösers eine Reflexionsgestalt der paulinischen Frömmigkeit, die eben weniger in der Flucht von deren Wesen liegt, als an der „Eigenart seiner [sc. des paulinischen Christentums] geschichtlichen Lage.“232 Mit diesem genetischen Hinweis auf die religionsgeschichtliche Herkunft der paulinischen Vorstellungswelten, anhand denen dann auch Paulus sein Christsein als etwas unableitbar Neues deutete, weist Bousset zugleich deren kontingente historische Entstehungsbedingungen nach. Neben dem Aufweis der Kontingenz von Paulus’ dualistischer Anthropologie spotte sodann „[...] [s]eine Verkündigung von der gänzlichen Verderbtheit des menschlichen Wesens, von der Notwendigkeit einer vollkommenen Neuschöpfung, ja allerdings eigentlich aller wirklichen Psychologie.“233 Für Boussets Theorie des christlich-religiösen Lebens lässt sich demnach im Umkehrschluss sagen, dass ein anthropologischer Dualismus eben keine allgemeine Beschreibung einer christlich-religiösen Lebensgeschichte bietet. Zwar mag unter bestimmten geschichtlichen Konstellationen das Christsein als etwas aus dem alten Leben nicht Ableitbares erlebt und gedeutet werden, nichtsdestotrotz gilt zum einen für Boussets historischen Zugriff – der methodisch von einer psychologischen Beschreibbarkeit im Rahmen des Entwicklungsparadigmas und damit von der Kontinuität des Subjekts ausgehen muss –, zum anderen für sein Verständnis des christlichen Lebens, dass es absolute Brüche innerhalb einer christlichen Biographie nicht geben kann, auch wenn sie so erlebt werden mögen. Das Alte ist noch vielfältig im Neuen präsent. Vielmehr ist von einem beständigen Wachsen unter Abstoßung und Umdeutung von alten religiösen Verhaltens- und Deutungsmustern im Rahmen einer Konversion auszugehen. Diese Kontinuität im Subjekt sichert für Bousset letztlich der Religionsbegriff, auf den als anthropologisches Universale jeder Mensch zeitlebens ansprechbar ist. Für Bousset ist entsprechend Paulus’ dualistische Deutung des christlich-religiösen Lebens so unbesehen kaum für seine Gegenwart rezipierbar, birgt es doch bestimmte Gefahren in sich, die eine wahrhaft christliche Frömmigkeit wieder zu unterlaufen drohen. Zunächst liegt im dualistischen Menschenbild des Paulus die Gefahr des Exklusivismus der pneumatisch Begabten gegenüber den psychischen Menschen. Diese „kategorische Gegenüberstellung zweier Menschenklassen“234 ist nun in der Rekonstruktion Boussets als theologische Reflexion der pneumatischen Frömmigkeit des Paulinismus die Folgelast der dualistischen Anthropologie, die Bousset mehr und mehr zum Problem wird.235 Denn dem Dualismus inhäriert so231 Bousset, Paulus, 1296. 232 Bousset, Paulus, 1296. 233 JdH 71. 234 JdH 82; vgl. auch KC 133. 235 Dass Paulus jedoch in seiner Funktion als Organisator der heidenchristlichen Gemeinden im Gegenzug genau die heidenchristliche Aufhebung der observanten Praxis, die zuvor den jüdisch-judenchristlichen Exklusivismus sicherte, faktisch ratifizierte, ist dabei für Bousset unbe-

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dann eine für Bousset höchst zweifelhafte Haltung zur christlichen Aufgabe der Weltgestaltung: Auf dem Hintergrund seines anthropologischen Dualismus nähert sich Paulus „[...] hier und da einer nicht auf der Höhe des Evangeliums stehenden asketischen Grundstimmung.“236 Der Folgegedanke des vollkommenen Besitzstandes des christlichen Pneumatikers schließt also notwendig einen asketischen Grundzug237 in der paulinischen Weltanschauung in sich, den Paulus zwar faktisch durch sein Handeln als Missionar und Organisator der paulinischen Gemeindegründungen überwand. Dennoch war die aufgrund seiner dualistischen Weltanschauung immer latent gegebene Gefahren von Quietismus und Asketismus damit nicht dauerhaft aufgehoben. Diese merkwürdige, „nahezu paradoxe“238 Unausgeglichenheit in der paulinischen Predigt zwischen dem auf dem supranaturalen Dualismus aufruhenden Indikativ – die Heilsverkündigung: „‚ihr seid neu geworden‘“239 – und dem zur Gemeindeorganisation notwendigen Imperativ ist zwar, wie Bousset meint, erst in der Eschatologie aufgehoben. Praktisch löse Paulus diese Spannung auch immer wieder auf, indem er die indikativische und imperativische Predigt auf die ‚Innen- und Außenseite‘ des Menschen aufteile, da das notorisch sündigende Fleisch bis zum jüngsten Tag der fortdauernden Unterstellung unter den kategorischen Imperativ bedürfe.240 Hier diagnostiziert Bousset also trotz seiner auf das Paradox abstellenden Deutung der paulinischen Theologie und der paulinischen Frömmigkeit eine „gewisse Vermittlung“241. Und dennoch bleibt trotz der praktischen Zugeständnisse ein „nicht überwindbarer Zwiespalt“ wenigstens in Paulus’ frommen Erleben für Bousset bestehen: „Qualvoll empfindet er die Disharmonie des gegenwärtigen

stritten und gehört zugleich zu den „genuine[n] Weiterbildungen“ (NJP 239) an der christlichen Religion. 236 Bousset, Paulus, 1291: „starke Hinneigung zur Askese“. 237 Bousset, Paulus, 1291; vgl. auch ebd. 1298, wo Bousset resümiert: [D]ie Abtötung des sinnlichen Lebens als solche kann den [sc. paulinischen] Christen seinem ewigen Ziel näher bringen“; entsprechend bestehe nach Bousset die „Aufgabe des Erlösten [...] in der Niederzwingung seiner ihm noch anhaftenden natürlichen Bedingtheit.“ Diese Tendenz zum Asketismus markiert Bousset als höchst problematisch. 238 JdH 76. 239 Bousset, Paulus, 1296. 240 Vgl. dazu Bousset, Paulus, 1296f. 241 Bousset, Paulus, 1296. Diese Vermittlung findet sodann ihren Niederschlag in der höchst eigentümlichen paulinischen Eschatologie, die mit dem Gedanken eines neuen, pneumatischen Leibes „mitten zwischen hellenistischer und jüdisch-orientalischer Hoffnung seinen eigenen Weg [ging]“ (ebd. 1297f). Gegenüber der jüdischen „materialistischen“ (ebd. 1297) Auferstehungshoffnung verneint Paulus die Möglichkeit einer leiblichen Auferstehung, vielmehr ist es ihm eine metaphysische Notwendigkeit, dass der Christ im Eschaton eine „neue[] leibliche[] Organisation“ (ebd. 1298) erfährt, denn der paulinische Dualismus postuliert die völlige Wesensverschiedenheit der beiden Welten (ebd. 1290). Diese leiblich vorgestellte eschatologische Existenz des Christen ist sodann sein Proprium gegenüber einer leibfeindlichen dualistischen Eschatologie des Hellenismus.



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Christenlebens.“242 Und eben jenes fromme Erleben ist für Bousset der Urgrund für den paulinischen Dualismus mit seinen frömmigkeitspraktischen Gefahren.

3.2.2.3 Die paulinische Erlösungslehre Diese dualistisch gebaute Anthropologie ist ferner das Komplement zum paulinischen Erlösungsbewusstsein. Der tief empfundene Bruch, der laut Bousset Paulus’ religiöse Biographie durchzog, leitet sich aber, wie oben schon gezeigt, auch aus dem in der Tradition überlieferten, dogmatischen Satz ab, dass Jesus Christus als Haupt einer neuen Schöpfung, der neuen „pneumatischen Menschheit“243, wirklich Mensch wurde, starb und auferstanden ist und damit „diese niedere Sinnlichkeit [sc. die menschliche Sarx] von sich abgestreift [...] und in den Tod gegeben hat.“244 Diese „entscheidenden Akte[] des Todes und der Auferstehung [...] als Wundertatsachen“ sind in Paulus’ Erlösungstheorie „von allgemeiner Bedeutung“245 sowohl für die paulinischen Christen, als auch für den gesamten Kosmos, denn „durch seinen Tod ist die Gewalt des Fleisches und der Sünde grundsätzlich gebrochen und vernichtet worden; mit seiner Auferstehung ist das neue Leben in all seiner Gewalt und Herrlichkeit verwirklicht (Röm 5,12ff 1Kor 15,45ff).“246 Erlösung bedeutet demgemäß zuerst den Tod des alten adamitischen Wesens und die Neuschöpfung des christlichen Lebens.247 Im paulinischen Christentum erfährt ein Christ die Befreiung von der Sarx, die Jesus Christus selbst erlebte, noch einmal vermittels des Taufsakraments an sich selber.248 Denn indem der Täufling in den „wunderbaren Bannkreis Jesu Christi“249 eintritt, bekommt er – durchaus sakramental-dinglich – vermittelt, was Jesus Christus schon prinzipiell erlebt hatte. Auch er stirbt und wird wieder lebendig. Dem Kreuzesgeschehen kommt hier eine urbildliche Funktion im christlichen Leben zu. Diese Aneignung eines außerhalb des Christen sich ereignet habenden Heilsgeschehens macht laut Bousset die paulinische Erlösungstheorie zu einer „mystische[n] Erlösungslehre“250. Entgegen diesem durch die „Kraft“251 der Erlösungstatsachen sich beständig vollziehenden Erlösungsprozess, der jene eben „keine einmaligen Fakten“252 sein lässt, ist es jedoch für die pauli242 Bousset, Paulus, 1298. 243 Bousset, Paulus, 1294. 244 Bousset, Paulus, 1294. 245 Bousset, Paulus, 1294f. 246 Bousset, Paulus, 1294. 247 Vgl. JdH 74. 248 Vgl. JdH 76; KC 129: „Die supranaturale Erlösung durch Tod und Auferstehung setzt sich im Sakrament fort oder wird im Sakrament angeeignet.“ 249 Bousset, Paulus, 1295. 250 JdH 69. 251 NJP 240. 252 KC 127.

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nische Erlösungstheorie eigentümlich, dass abseits des Aneignungsvorgang im Christen der Heilstod mit der Auferstehung Jesu Christi ein durchweg objektives Geschehen bildet. Diese „ein für allemal vollzogene Tatsache“253 als wundersamer göttlicher Eingriff in das Weltgeschehen bildet den Angelpunkt der mystischen Erlösungstheorie. Zugleich sind die Erlösungstatsachen auch der Inhalt des Erlösungsglaubens des paulinischen Christentums. Dieser Glaube an einmal vollzogene Tatsachen charakterisiere für Bousset den Glauben des paulinischen Christentums schlechthin. Von hieraus ergibt sich für Bousset jedoch das Problem, dass ein so gefasster Erlösungsglaube freilich „die freie Barmherzigkeit Gottes wieder verengt“254, da in ihm aufgrund der Rückbindung des Glaubens an bestimmte Heilstatsachen ein stark normativer Zugang zum christlichen Glauben angelegt ist, der letztlich exklusivistisch wirkt. Durch diesen Tatsachenglaube bekommt die paulinische Frömmigkeit einen „statutarischen Charakter“255, der gewissermaßen vom hingebenden Vertrauen, wie es Bousset in der jesuanischen Frömmigkeit finden will, in ein bloßes Fürwahrhalten bestimmter heilsgeschichtlicher Tatsachen umschlägt. Aufgrund dieser inhaltlichen Verengung des christlichen Erlösungsglaubens kann Bousset die paulinische Erlösungstheorie nicht anders als einen „einseitigen Erlösungsgedanken“256 fassen, der von der bloßen Zueignung des Heils bestimmt ist. Während die jesuanische Frömmigkeit in Boussets Urteil jedem die freie, bedingungslose Gnade Gottes verkündigte, so ist diese freie Gnade Gottes in der paulinischen Gnadentheologie hingegen als „abhängig in irgend einer Weise“257 vom Opfertod des Christus vorgestellt. Ein vollständig „ausgebildetes Satisfaktionsdogma“258 kann Bousset bei Paulus aber nicht erkennen, denn auch Paulus’ Opfervorstellung ist letztlich noch ganz Ausdruck des Enthusiasmus seiner Kultfrömmigkeit, für die die Verbindung von Sühnevorstellung und Jesu Tod schon Bestandteil der Überlieferung war.259 Aber erst dem Theologen Paulus kam es zu, bestimmte kultische Lebensäußerun253 KC 128. 254 NJP 240. 255 NJP 240. Entsprechend gibt es auch – zumindest in der heidenchristlichen Gemeinde – „ein wenn auch nur im Keime vorhandenes Bekenntnis“ (ebd.), was Bousset offenkundig als eine Verengung des Glaubens empfindet. 256 NJP 240. 257 NJP 242. 258 NJP 242. 259 Vgl. WdR 220: Möglicherweise habe der historische Jesus selbst seinen Tod auf dem Hintergrund der antiken Martyriumsvorstellung und deren Bedeutung für ihr Volk gedeutet. Dass jedoch spätestens die heidenchristliche Urgemeinde die Opfervorstellung in die Deutungsvielfalt des Todes Jesu einführte, sei allein schon dadurch wahrscheinlich, da die sühnende Kraft des Opfers in der religiösen Umwelt allenthalben in Geltung stand und somit der frühchristliche „Glaube[] an die sühnende Opferbedeutung des Todes Christi etwas schlechtweg Begreifliches“ ist. Deutungen des „Sinn[s] des Kreuzestodes werden von Anfang an in der christlichen Gemeinde zu haufe gewesen sein“ (Bousset, Paulus, 1307).



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gen auf die Ebene theologischer Reflexion zu heben. Das anfängliche „unheimliche Rätsel“260 des Kreuzestodes wurde nun gemäß Boussets Rekonstruktion immer mehr einem Rationalisierungsprozess unterworfen, den Paulus zwar nicht eingeleitet, aber selbst schon zu einem relativen Abschluss innerhalb seines Systems gebracht hat. Sodann hat seine theologische Reflexion letztlich die Zentralstellung des Sühne stiftenden Opfergedankens innerhalb der christlichen Verkündigung auf den Weg gebracht. Die fromme Spekulation des Sühne schaffenden Opfertodes hat dem paulinischen Erlösungsverständnis so eine Einseitigkeit eingetragen, die späterhin in das „harte Dogma, daß Gott nicht ohne die im Opfertode Christi dargebrachte Sühne verzeihen kann“261, mündete. Zwar hat Paulus, wie gezeigt, nach Bousset die ethischen und theologischen Folgelasten vermeiden können, indem er durch seine ‚Kreuzesmystik‘ des Mitsterbens und Mitauferstehens, die „Härte jener Gedanken wieder [umbog]“262, nichtsdestotrotz war wesentlich durch seine Erlösungsidee ein Problemkomplex, der einseitige Erlösungsgedanke, in das junge Christentum eingezogen, der große Gefahren in sich barg.263 „Das Vertrauen auf eine für uns vollzogene Heilstatsache“264 bestimmt fortan das Christentum und rückt in das Zentrum der Selbstbeschreibung christlicher Frömmigkeit. Paulus’ „‚Tatsachentheologie‘“265 unterläuft jedoch die für Bousset die christliche Religion prägende Verbindung des Erlösungsgedankens mit dem ‚kategorischen Imperativ‘ als „unbedingt verpflichtende sittliche Forderung“266. Denn nach Bousset reduziert sich der christliche Erlösungsgedanke demgemäß auf einen – sakramental zu vermittelnden – Vorgang, der ohne persönliche Beteiligung vollzogen wird, ein „über alles persönliche Zutun des einzelnen vollzogenes Geschehen“267, das nur empfangen werden will. Das „Beste und Höchste“268 muss dem Menschen erst geschenkt werden. Für Bousset ist dies im Gesamt seiner Paulusdeutung letztlich die größte Irritation, dass „der Erlösungsprozeß bei ihm [sc. Paulus] etwas stark Unpersönliches [bekommt].“269 Die Folgekosten dieser Vorstellung sind für Bousset zunächst auf der theologischen Reflexionsebene auch klar zu beschreiben, denn eine derart enggeführte Gnadentheologie wie die der paulinischen Frömmigkeit führe in der

260 WdR 221. 261 WdR 221; zur paulinischen Opfervorstellung vgl. auch Bousset, Paulus, 1301f. 262 WdR 221. 263 Angesichts der für Bousset unwiderleglichen Tatsachen, dass schon die vorpaulinische Tradition Jesu Tod u. a. als Opfer deutete, gilt unbenommen, dass „[d]ie starke Betonung und der entschlossene Ausbau dieser Gedanken seine [sc. Paulus’] Tat gewesen zu sein [scheinen]“ (ders., Paulus, 1308). 264 WdR 221. 265 NJP 242. 266 Bousset, Paulus, 1307. 267 Bousset, Paulus, 1298; vgl. auch ebd. 1307. 268 KC 130. 269 NJP 245.

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Folge, wie oben gezeigt, zu Quietismus. Zwar setzt der „beseligende Trost“, dass diese neuen Kräfte geschenkt seien und das neue Leben schon greifbare Realität sei, bei Paulus faktisch eine „Tatkraft sondergleichen“270 frei, ungeachtet dessen ist jedoch ein weltgestaltender Impuls für ihn kaum noch in der theologischen Reflexion einholbar – es gibt keine ausstehenden sittlichen Aufgaben mehr für den paulinischen Christen.271 Paulus’ Erlösungsgedanke, der Erlösung als ein sich außerhalb und ohne persönliche Beteiligung des religiösen Subjekts sich vollziehendes Geschehen, fasst, ist in Bousset Urteil eine höchst einseitige Verengung des christlichen Erlösungsgedankens, der notwendig in der Folge zu einer „einseitigen Ausprägung des Christentums“272 führen muss. Hier gilt nun der Erlösungsgedanke paulinischer Prägung, wie es Bousset auch für einen Großteil der Christentumsgeschichte bis in seine Gegenwart diagnostiziert.273 Dieser dogmatische Erlösungsgedanke – dass „[sich] in jenen objektiven Tatsachen [sc. des Heilstod und der Auferstehung Jesu Christi]“274 die Erlösung „als ein Handeln gleichsam zwischen Gott und Christus“275 schon geschehen ist – unterschlage doch die Boussets neuprotestantischem Selbstverständnis deutlich näherstehende Erlösungsvorstellung276, dass vielmehr „in dem Erleben der von der Person Jesu unmittelbar ausströmenden religiösen und sittlichen Kraft“277 das schlechthin erlösende Moment christlicher Frömmigkeit stecke. Die christliche Vorstellung von Erlösung wird von Bousset also näherhin als die täglich neu zu erlebende Erfahrung der religiös-sittlichen Inkraftsetzung verstanden. Sie ist damit vielmehr als „Erneuerung“278 des Menschen und nicht als Tod des alten adamitischen Wesens zu deuten, worin hingegen Bousset gerade die Pointe des paulinischen Erlösungsgedanken erkennt. Ein so gefasster Erlösungsgedanke, der Erlösung als tägliche Erneuerung denkt, ist jedoch ohne persönliche Beteiligung kaum denkbar, da er zuerst darauf zielt, den Christen zu befähigen, tätig werden zu können. Erlösung denkt Bousset also zunächst als ein sich im persönlichen Erleben sich je von neuem ereignendes Geschehen, das er sodann durchaus als ein ständiges Wachsen im geistigen Leben, als ein sukzessives Voranschreiten in ‚Kampf und Arbeit‘279, also als Heiligung, fassen kann. Erlösend wirkt Jesus Christus dann vielmehr „kraft des neuen von seiner menschlichen Persönlichkeit ausströmenden Lebens“280 – wie es ein explizit neu270 NJP 240. 271 Vgl. Bousset, Paulus, 1296. 272 NJP 244. 273 Vgl. WdR 252. 274 NJP 245. 275 NJP 245. 276 Zum neuprotestantischen Erlösungsgedanken Boussets vgl. Kap. 2.2.6. 277 NJP 245; vgl. ferner ebd. 240. 278 JdH 76. 279 Vgl. WdR 209. 280 NJP 240.



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protestantisches Erlösungsverständnis postulieren würde – als durch bestimmte, von ihm erworbene Verdienste, die dann kirchlich vermittelt würden. Christliche Erlösung vollzieht sich also gerade nicht über die Köpfe der Menschen hinweg, sondern ist an die Tätigkeit des Einzelnen gebunden. Kommt darin für Bousset gleichsam der subjektive Aspekt des christlichen Erlösungsgedankens zum Tragen, so ist die ‚Objektivität‘ und gleichzeitig das Proprium des christlichen Erlösungsgedankens doch darin zu sehen, dass für die christliche Erlösungsvorstellung das Tätigwerdenkönnen nur im Medium des ‚Personenbildes Jesu‘ erlebbar wird. Urbildlich erkennt Bousset den neuprotestantischen Erlösungsgedanken in der Frömmigkeit Jesu vorgebildet; mit dem Unterschied freilich, dass die christliche Erlösungsvorstellung mit Jesu Personbild verknüpft ist. Entgegen des einseitigen paulinischen Erlösungsgedankens ist der jesuanische Erlösungsgedanken eben nicht durch ein einmaliges, heilsgeschichtliches Geschehen bestimmt. Vielmehr richtet sich der jesuanische Erlösungsgedanke – eben ganz im Unterschied zur paulinischen Erlösungstheorie – „an die religiös-sittliche Selbständigkeit der einzelnen“281. Er konnte dies laut Bousset auch tun, denn die Möglichkeit sittlichen Handels war ihm aufgrund der tief empfundenen Gewissheit der Gegenwart seines sündenvergebenden Gottes selbstverständlich. Im Unterschied zur mystischen Erlösungstheorie paulinischer Prägung, die „geschaffene Werte“282, die außerhalb ihrer selbst erworben wurden, sich aneignen muss, ist das Evangelium Jesu also durch seinen ‚ethischen Erlösungsgedanken‘283 doch deutlich anders gelagert. Außer Zweifel steht für Bousset, dass sich auch bei Paulus Erlösung angesichts der paulinischen Gewissheit, dass „[...] der große Umschwung schon erfolgt sei“284, dennoch erst eschatologisch vollendet. Schließlich ist der eschatologische Vorbehalt mit seiner Fokussierung auf die Vergebung der Sünden das Unterscheidungsmerkmal der pneumatischen Frömmigkeit des Paulus zur ungeschichtlich-dualistischen Mysterienfrömmigkeit der religiösen Umwelt schlechthin. Trotz des eschatologischen Vorbehalts ist jedoch auf das Ganze gesehen die paulinische Frömmigkeit davon bestimmt, dass „[b]is zu einem gewissen Grade das Christenleben schon hier vollkommen [ist].“285 Es bleiben also hier unvermittelbare Spannungen, aufgrund denen die paulinische Theologie gemäß Boussets Rekon­ struktion gerade nicht die infinite sittliche Aufgabe integrieren kann. Jesu Erlösungsgedanke ist hingegen elliptisch gebaut, sodass er zu gleichen Teilen gnädigen Zuspruch und ethischen Anspruch miteinander verbinden kann.286 Diesen Erlösungsgedanken sieht Bousset sich auch faktisch in seiner erlösenden Funktion geschichtlich auswirken.287 Nur wird die erlösende „religiöse[] und sittli281 NJP 240. 282 NJP 245. 283 Vgl. Bousset, Jesus, 74. 284 Bousset, Paulus, 1295. 285 Bousset, Paulus, 1296. 286 Vgl. WdR 208. 287 Vgl. nur WdR 213.

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che[] Kraft“, die den Christen aus der sündigen Unkräftigkeit befreit, „im engen Zusammenschluß mit seinem [sc. Jesu Christi] durch die Gemeinde vermittelten Personenleben gewonnen.“288 Entgegen einer immer mehr vom Glaube an die Erlösungstatsachen bestimmten Frömmigkeit, die ihre Anfänge eben in Boussets Rekonstruktion im Paulinismus hat, vermittelt sich Erlösung gerade nicht durch eine „Lehre“, sondern durch das innerhalb der christlichen Gemeinde tradierte „Personenbild [sc. Jesu].“289 Selbst für das paulinische Christentum muss Bousset postulieren, dass Erlösung sich so vollzieht – eben zuerst durch Anschauung des geschichtlichen Personenbild Jesu und dann erst aufgrund der reflexiven Vergewisserung, dass die Erlösung heilsgeschichtlich schon geschehen sei. Bousset markiert also, indem er die rekonstruierte Frömmigkeit Jesu als Negativfolie der pneumatischen Frömmigkeit des Paulus unterlegt, im paulinischen Erlösungsgedankens eine bedeutende Verschiebung im christlichen Gnadenbewusstsein, wenngleich – wie er gegen Wrede einwendet – der „Gegensatz [sc. der beiden christlichen Frömmigkeitsgestalten] hüben und drüben kein absoluter ist.“290 Denn wenn auch aufgrund der paulinischen Reflexionsfiguren eine andere fromme Grundstimmung291 in den paulinischen Gemeinden einzieht, so wirkt in ihnen dennoch der erlösende sittliche Impuls Jesu im Medium seines Personenbildes.

Exkurs: Boussets historische Herleitung der paulinischen Theologie Die historische Gestalt des paulinischen Christentums, das Bousset auch durchaus im pejorativen Sinn als „pneumatische[] Frömmigkeit“292 beschreiben kann, ist also für Bousset nicht fähig, ein ungebrochen konstruktives Verhältnis zum Christentum moderner Prägung auszubilden. Die janusköpfige Gestalt des Pneumatikers Paulus, der zugleich tatkräftiger Missionar war, hat in eben dieser unabgegoltenen Spannung zwischen theologischer Reflexion und faktischer Praxis ihre Grenze. Eine Erklärung dieser Spannungen hofft Bousset über die Rekonstruktion der Genese der paulinischen Theologie zu erlangen. Die Herkunft des supranaturalistischen Dualismus, auf den Bousset eine Vielzahl von „Lehren und Stimmungen paulinischer Theologie und Frömmigkeit“293 aufgebaut sieht, lokalisiert Bousset ganz analog der bisherigen Darstellung seiner Rekonstruktion der paulinischen Theologie im „Gebiet des Hellenismus“294. Selbst wenn Paulus in bestimmten Theologumena rabbinische Gedanken aufnimmt, so ist doch in den meisten Fällen damit zu rechnen, dass diese wiederum bereits einem 288 NJP 245. 289 WdR 211. 290 NJP 245. 291 Vgl. NJP 244f. 292 JdH 73. 293 Bousset, Paulus, 1291. 294 JdH 80.



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hellenistischen Einfluss ausgesetzt waren und daher von Paulus leichter in sein System übernommen werden konnten.295 Seine Terminologie und die dieser innewohnende metaphysisch reflektierte „völlige Wesensverschiedenheit“296 zwischen dem sarkischen und dem pneumatischen Bereich sind jedenfalls gänzlich unalttestamentarisch – Altes Testament und Evangelium Jesu scheiden so bekanntlich in Boussets Geschichtsrekonstruktion als Quellen der paulinischen Frömmigkeit und Theologie aus.297 Wie oben schon angedeutet, verortet Bousset das diastatische Begriffspaar Fleisch und Geist auch nicht in der hohen platonisierenden Schulphilosophie, da diese einen absoluten Dualismus kaum lehren würde, sondern vielmehr im Milieu der in der platonistischen Popularphilosophie Anleihen machenden, „theosophischen“298 Mysterienreligion, die es vermochte, die dualistische Trennung von Geist und Fleisch durch Kult und Sakrament wieder zu überbrücken. Eine schlagende religionsgeschichtliche Parallele erkennt Bousset beispielsweise in der „sogenannten Mithras-Liturgie“299, die ebenfalls den absoluten Wertunterschied zwischen Fleisch und Geist aufweise, wie er auch für die paulinische Frömmigkeit und Theologie bestimmend ist. Es ist also nach Bousset durchaus möglich, dass Paulus terminologisch „von einem populären griechischen Sprachgebrauch abhängig“ ist. Darüber hinaus gäbe es auch in der Sache – der „Grundanschauung des paulinischen Dualismus und Supranaturalismus, derzufolge das Beste und Höchste im geistigen Besitztum des Menschen [...] als ein dem ursprünglichen Wesen des Menschen fremdes Gnadengeschenk gilt“300 – bedeutende Schnittmengen. Bousset ist also überzeugt, eine volle Analogie zur paulinischen Theologie und zum Paulinismus gefunden zu haben. Auch hier versteht sich die Analogizität der paulinischen Theologie nicht als ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis in dem Sinn, dass Paulus seine Theologumena irgendwo ‚abgeschrieben hätte‘301, vielmehr bedeute die aufgewiesene Analogie, dass die paulinische Theologie mit den Mysterienreligionen den „gemeinsamen Boden der Frömmigkeit“302 teilt, auf dem bestimmte Deutungsmuster aber auch bestimmte Erfahrungsmodi unhinterfragt in Geltung standen.

295 Vgl. nur JdH 79. 296 Bousset, Paulus, 1290. Der ursprünglich von Paulus erlernte „jüdische Dualismus“ (ebd.) ist durch die metaphysische Reflexion in seiner axiomatischen Stellung für die paulinische Frömmigkeit noch verstärkt. Er hat damit definitiv den Rahmen einer jüdischen Weltanschauung verlassen und sich dem absoluten Dualismus der Mysterienreligionen angenähert. 297 Vgl. nur den Brief Boussets an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 187): „[...] weil für mich und mein Stil-Empfinden Kyrioskult, Sakramente, Pneuma-Sarx-Theologie (der Sache, nicht so sehr dem Wort nach) eine fremde Welt gegenüber Altem Testament, Jesus und der Urgemeinde der synoptischen Evangelien bedeuten.“ 298 JdH 82. 299 JdH 80. 300 JdH 82; Hervorhebung JH. 301 Vgl. KC XIII. 302 KC 132 Anm. 3.

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Dieses Milieu lässt sich ferner genauer konturieren. An Philo zeigt Bousset die Signatur der „hellenistischen Gnosis“, wie Bousset das religionsgeschichtliche Phänomen einer „eigentümlichen Mischung von Theologie und Philosophie, von Mysterienreligion und geistiger Reflexion“303 bezeichnet, mit der Paulus offenbar, so Bousset, irgendwie vertraut gewesen sein musste. Da Bousset eine literarische Abhängigkeit auszuschließen geneigt ist, ist diese Vertrautheit mit der halbphilosophischen Weltanschauung der Mysterienreligionen vielmehr auf den Umstand zu beziehen, dass Paulus mit diesen Strömungen des antiken religiösen Lebens in einen „große[n] geistigen[n] Zusammenhang“304 steht, der beide Gestalten des religiösen Lebens umfasst. Analog zum paulinischen System erkennt Bousset auch bei Philo den Exklusivismus pneumatischer Frömmigkeit mit all ihren partikularistischen Folgelasten.305 Sodann erkennt er in der philonischen Frömmigkeit ein „ungemein starkes mystisch-ekstatisches Element“306, aus welchem dann seine umfangreichen Spekulationen erwachsen. Diese ekstatische Frömmigkeit zieht sich ebenfalls durch alle Formen der hellenistischen Gnosis hindurch, mit der Philo und Paulus den gesamten religiösen Besitz einer Erlösungsreligion teilten. Hierin zeigt sich nach Bousset noch einmal der Gegensatz zum platonischen Idealismus, der trotz aller im Rahmen der platonistischen Schulbildung vollzogenen Umbildungen und Hinwendung zu einem anthropologischen Pessimismus immer von einer religiösen Selbständigkeit des Menschen, die die göttliche Wirklichkeit in keinem absoluten Gegensatz zum Geschöpf belässt, ausgeht.307 Diese „Kluft“308 zwischen Schulphilosophie und der religiösen Popularphilosophie – „jenen Mischbildungen“309, denen Bousset eben auch Philo zuordnet und die er unter der Chiffre der Gnosis zusammenfassen kann – zeigt ihm, dass auch ein Element in den Hellenismus eingeflossen sein muss, das diesen in der Frömmigkeitspraxis immer stärker in einen Dualismus umbildete. Genetisch leitet er dieses für den plato303 JdH 82; zur Rezeption von Boussets Gnosisforschung vgl. Reitzenstein, Bousset, 9: „Einer seltsam gehässigen, Boussets klare Darlegung seines Ziels ignorierende Polemik von theologischer Seite trat denn auch bald die ruhige Benutzung und Anerkennung durch orientalistische Fachmänner entgegen.“ 304 KC XIII. 305 Vgl. nur KC 132. Dass Wernle Philo deutlich platonistischer lesen kann, führt Bousset auf die religionsgeschichtliche Beobachtung zurück, dass bei Philo noch „[...] unverdautes Altes und Neues [...] wunderlich ineinander [liegen]“ (JdH 84). Nichtsdestotrotz steht im Hinblick auf die Gesamtdeutung der philonischen Frömmigkeit und Theologie für Bousset fest, dass „[...] etwas verhältnismäßig Neues lebendig [wird]“ (KC 131), nämlich die Übernahme dualistischer Elemente der Religionen des Orients in die hellenistische Religion. 306 JdH 84. 307 Vgl. KC 131. 308 KC 130; diese Unterscheidung von genuiner Philosophie und einer „vom Orient und My­ sterienwesen her bestimmten theosophischen Reflexion“ stellt für Bousset eine schlechthin „fundamentale[] Erkenntnis für die Entwicklung des späteren Hellenismus“ (JdH 82) dar, die für das historische Verstehen desselben von eminenter Bedeutung sei. 309 KC 130



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nischen Idealismus eigentlich unvermittelbare, neue Element aus orientalischen Mysterienreligionen ab, das nun im hellenistischen Gewand die hellenistischen Mysterienreligionen bestimmen sollte. Gemeinsam ist diesen frommen Konventikeln mit der griechischen Schulphilosophie nur die „bohrende Reflexion“, die „das religiöse und sittliche Leben unter zusammenfassende[] gedankliche[] Kategorien“310 zwingen; die Deutungsmuster und Erfahrungsmodi entstammen nach Bousset hingegen aus einem anderen Kulturkreis, dem Orient, und sind in einem längeren Prozess in den Hellenismus eingesickert. Mit diesem in Boussets Urteil religionsgeschichtlich bedeutsamen Milieu des antiken religiösen Lebens teilt die paulinische Theologie aber nicht nur grundsätzlich den Denk- und Empfindungsrahmen, sondern zudem einen bestimmten Mythos vom leidenden, sterbenden und auferstehenden Gottheiland, der innerhalb der Mysterienzirkel überliefert wurde.311 Im Rahmen dieser Überlieferungsgeschichte innerhalb der frommen Kreise wurde der Mythos mit der Zeit immer mehr zum Gegenstand der Reflexion: „[...] der Mythos wird zur religiösen Spekulation.“312 Denn die Kultpraxis musste erklärt werden und dies geschah durch die Rationalisierung des Mythos – ein für Bousset nicht unproblematischer Prozess im religiösen Leben.313 Auf Grundlage dieser religiösen Spekulation entwarf Paulus nun seine christliche Weltanschauung. In dieser „geistige[n] Atmosphäre“314 formte also Paulus sein theologisches System. Nun gilt laut Bousset allerdings zugleich, dass Paulus hier keineswegs der Schöpfer dieser spezifisch heidenchristlichen Deutung des Geschicks Jesu ist. Denn die „hellenistische Frömmigkeit“315 mit ihrem Mythos vom sterbenden und auferstehenden Gott und der Idee der Teilhabe am Geschick der Gottheit im Rahmen einer „eigentümliche[n] Unio mystica“316 – dem Mitsterben und Mitauferstehen – bestimmt eben auch schon die Frömmigkeit der hellenstischen Gemeinde, in die Paulus erst hineinwuchs.317 Die Adaption des Mythos und die Verknüpfung desselben mit dem Leben des Einzelnen sind für Bousset also zweifelsohne schon vorpau-

310 KC 130. 311 Mit diesem Mythos, den auch Wrede als vorchristlichen Stoff ansieht, diesen aber wieder aus der jüdischen Apokalyptik begreifen will (vgl. ders., Paulus, 86f), ist auch der „alten Mythos“ vom Urmenschen „verschmolzen“ (KC 137), den Paulus nach Bousset in seine Adam-ChristusTypologie umformt. Zur Rezeption dieses Mythoskonstruktes in der Religionsgeschichtlichen Schule vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 131f. 312 KC 136. 313 Vgl. oben, wo Bousset gerade den religiösen Mehrwert des Mythos gegenüber der rationalisierenden Spekulation hervorhebt. Zur Bedeutung des Mythos für die Religionsgeschichtliche Schule vgl. kurz Merk, Mythos, 45f. 314 KC 139. 315 KC 135. 316 KC 138; vgl. auch ders., Paulus, 1294. 317 Dazu vgl. JdH 66.

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linische Tradition.318 Paulus hat nun in seiner Funktion des ‚Vollenders‘ der ersten Anfänge frühchristlicher Theologiebildung diese noch ganz kultisch gebundenen Gedanken in ein kosmologisches System gebracht, in welchem dem Sterben und Auferstehen des Christus eine vor- aber auch urbildliche Funktion zukommt319 Der Christus wird wie die Mysteriengottheit zum „Typus für das Geschick des Frommen.“320 Allerdings bedeutet die beigebrachte religionsgeschichtliche Analogie der hellenistischen Frömmigkeit mit ihren Mythen nicht, dass die „eigentümlichen Nüancen“ des paulinischen Systems gegenüber diesem Vergleichspunkt übergangen werden könnten. Denn zunächst erweitert Paulus in Boussets Deutung das Taufsakrament um die Dimension des geistigen Erlebens der Wegnahme von Sünde und Schuld und erweitert es gegenüber dem bloßen Taufmysterium der vorpaulinischen Gemeinden321 um den Raum „persönlich-geistiger Erfahrung“, indem er dem Sakrament eine „prinzipielle Bedeutung“322 für das Leben des Christen zuspricht – wenngleich Bousset diese Tendenzen auch in bestimmten Mysterienzirkeln entdecken kann. Gegenüber diesen macht Bousset jedoch geltend, dass in der Taufe des paulinischen Christentums nicht die Aufhebung der Vergänglichkeit, wie sie laut Bousset in den Mysterienzirkeln erlebt wurde, sondern eben die Überwindung von Sünde und Schuld im Zentrum des paulinischen Taufverständnisses steht. Bousset erblickt auch hier wieder eine merkliche Ethisierung der Sakramentspraxis, die gegen ein bloßes Abhängigkeitsverhältnis Paulus’ „ungleich größere sittlich-religiöse Kraft und die geistige Originalität des Apostels“323 verbürgt: „Durch allen Mysterien318 Vgl. NJP 241f; KC 140. Die Übertragung eines Mythos auf das Geschick Jesu reiche im Kern sogar zu den palästinischen Anfängen der christlichen Religion zurück. Denn auch schon die ‚palästinensische Gemeinde‘ hat Kreuz und Auferstehung zum „Fundament [sc. ihres] christlichen Glaubens“ (NJP 242) gemacht und dieses auf dem Hintergrund eines Christusmythos, der Menschensohndogmatik, gedeutet (ebd. 241). Und auch wenn Paulus „[...] dieselbe Sache bereits in anderen Formeln und Wendungen [...] zum Ausdruck brachte“ (ebd.), die nun hellenistischer Prägung waren, steht Paulus doch mitten in der Entwicklung, die er eben nicht selbst geschaffen hat. 319 Vgl. JdH 66. 320 KC 138. 321 Dass Tauf- und Abendmahlsverständnis im Heidenchristentum keineswegs als „Symbol“, also als Symbolhandlung, ausgelegt werden dürften (vgl. NJP 243; Beispiele wie Julius Holtzmann nennt Schweitzer, Forschung, 128f) – was offenkundig einem ‚modernen‘ Taufverständnis entgegenkommen würde –, sondern vielmehr als im Vollsinn kultische Vollzüge, die Geistiges und Naturhaftes, wie es bei Bousset heißt, eigentümlich vermengen und die Erlösung gewissermaßen ‚ex opere operato‘ bewirken, steht für Bousset unwiderleglich fest. In JdH 25f äußert er zudem seine Unsicherheit, ob es überhaupt außerhalb der heidenchristlichen Gemeinde eine Taufpraxis vollzogen wurde. Kultisch im engeren Sinn wird sie jedenfalls erst unter Hinzunahme des „gewaltige[n] Kultmittel[s]“, dem Namen Jesu. Zu Bousset Deutung der Abendmahlsworte Jesu als einer „Bundesmahlzeit“, die nicht zwingend der Wiederholung durch die Gemeinde bedurfte vgl. ebd. 26–28; NVJ 383. 322 KC 140. 323 KC 140.



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glauben und mysteriöse Spekulation hindurch meldet sich das Ethos des Evangeliums zum Wort.“324 Dass in den paulinischen Briefen überhaupt eine Sakramentspraxis vorherrscht, die zwar nicht vollständig „unter Ausschluß persönlichen Zutuns“ vollzogen wird, aber doch „ex opere operato wirke“325, ist freilich für Bousset ein Rückfall hinter eine im Vollsinn christliche Frömmigkeit, die sich von dieser „an Dingen und äußeren Vorgängen hängende[n] Frömmigkeit“326 durch ihre Hochschätzung von Freiheit und sittlicher Persönlichkeit unterscheide. Sodann verbindet Paulus – nach Bousset im schneidenden Gegensatz zu den Mythen der Umwelt – den Christusmythos mit der Geschichte. Denn der Christus ist für Paulus „wirklich Mensch geworden“327 und lebte in irdischer Niedrigkeit im Fleisch bis er durch den Kreuzestod wieder befreit wurde.328 Dieser ‚antignostische‘ Zug329, der gemäß Boussets Rekonstruktion Paulus’ Christologie durchaus zu eigen ist, wird jedoch von Paulus nicht weiter ausgezogen. Denn Paulus ist, wie oben gezeigt, an der Person Jesu von Nazareth kaum interessiert. Dementsprechend ist der Gedanke der wirklichen Menschwerdung „ihm im wesentlichen nur das unerlässliche Mittel [...], damit die Befreiung und Erlösung vollzogen werden kann.“330 Das ganze irdische Leben Jesu ist damit entwertet, was Bousset nicht anders als einen fatalen christologischen Reduktionismus begreifen kann. Denn dieses reduktionistische Christusbild unterliegt der ständigen Gefahr, dass es in eine rein „supranaturale Christologie“331 umschlägt, die wiederum die christologische Bedeutung der Person Jesu von Nazareth bzw. des Bildes jener Person, das innerhalb der Gemeinde überliefert wird, nicht zur Geltung bringen könnte. Den Grund für diesen 324 KC 140; vgl. auch JdH 67: Paulus ist der „Vergeistiger eines viel stärkeren sakramentalen Realismus.“ 325 NJP 243. Gerade die mechanische „völlig neubildende und umfassende“ (JdH 64) Wirkung des Sakraments ist ein Wesenszug der Gemeindefrömmigkeit, der sich faktisch auch im Paulinismus fortsetzte, wenngleich Paulus hier mehr ‚eindämmte‘, als dass er die Praxis förderte, die nach Bousset fraglos ein wichtiges Element seiner Frömmigkeit ist. Der Sakramentsglaube bildet wiederum „unbewußt“ den Hintergrund, auf dem die junge christliche Religion gemeinsam mit der religiösen Umwelt ihre religiöse Praxis vollzog. Das für Bousset bleibend Widerständige an der heidenchristlichen Sakramentspraxis ist die Überzeugung, dass „in der heiligen dinglichen Handlung mehr geboten werde, als persönliches Handeln allein erzielen könne“ (ders., Paulus, 1298); das Sakrament wurde eben als ein „magisch-mechanisches“ (WdR 222) Geschehen aufgefasst. Die paulinische Kreuzesmystik mit ihrer Ausweitung des Taufsakraments auf das gesamte Leben wurde genau deswegen, so Bousset, kaum im Paulinismus rezipiert, dabei bringe sie das „allerintimste der paulinischen Frömmigkeit zum Ausdruck“ (JdH 64). Zum kirchlich „temperierten“ Paulinismus des nachapostolischen Zeitalters vgl. ebd. 326 NJP 243. 327 Bousset, Paulus, 1292 328 Vgl. dazu Bousset, Paulus, 1292f. 329 Vgl. JdH 75. Diese antignostische Ausrichtung der Christologie, dass der Gottessohn mit „dem Schmutz des menschlichen sarkischen Wesens umkleidet wurde“, bleibt aber dem Theologen Paulus eine „ungeheure Paradoxie“ (ebd.). 330 Bousset, Paulus, 1293; Hervorhebung JH. 331 NJP 241.

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drohenden Umschlag in eine bloße ‚Christologie von oben‘, die eben umgekehrt nur an den erlösenden „Wundertatsachen des Todes, der Auferweckung und der Erhöhung“332 interessiert ist, erkennt Bousset darin, dass Paulus nur sehr fragmentarisch mit dem überlieferten Leben Jesu und seiner Person vertraut war: „Während die Urgemeinde an dem lebendigen Bilde der historischen Person Jesu von Nazareth eine beständige Korrektur ihrer christologischen Spekulation hatte, hat Paulus den irdischen Jesus nicht gekannt.“333 Auch die Jerusalemer Urgemeinde hat, wie gezeigt, nur mehr ein Bild von der historischen Person Jesu. Allerdings gilt für diese Bilder, dass sie doch eine nicht weiter konkretisierbare Beziehung zum historischen Jesus besitzen, und sich darin einer Selbstkorrektur unterziehen. Diese Korrekturfunktion des Bildes der historischen Person Jesu kann Bousset in der paulinischen Christologie nicht mehr finden. Selbst wenn Paulus auch mit einigen Jesus-Überlieferungen vertraut gewesen sein mag, so lässt er sie für seine Christologie nicht gelten, da die irdische Existenz des Christus, sein wahrhaftes Menschsein, in der Paulusdeutung Boussets eben für Paulus nichts anderes bedeuten konnte, als die reale und vollgültige Teilhabe des Christus an der vollständig korrumpierten irdischen Existenz unter dem Joch der Sünde, die somit in toto keine Heilsbedeutung beanspruchen konnte. Ungeachtet jedoch dieser Relativierung der paulinischen Christologie hält Bousset im Rahmen des religionsgeschichtlichen Vergleichs fest, dass Paulus mit der Verbindung des Mythos mit der Geschichte eine eigentümliche Zäsur markiert, die ihn nicht vorschnell im Synkretismus der ungeschichtlichen Mysterienreligionen aufgehen lässt. Ein weiteres Proprium der paulinischen Christus-Spekulation, in der Bousset ausdrückliche Anleihen bei dem Mythos vom Urmenschen nachweisen zu können meint,334 lässt sich in seiner kosmologischen Spekulation über die Welt- und Menschheitsgeschichte erblicken, die die Menschheit in „zwei Perioden“335 einteilt. Nur verteilt Paulus hier gegenüber dem alten Mythos vom Urmenschen336 das Erlösungsdrama auf zwei Akteure, den adamitischen und den pneumatischen Menschen, auf; zudem stellt er den pneumatischen Mensch Jesus Christus an das Ende der Geschichte und verknüpft so beide miteinander.337 Trotz dieser paulinischen Eigentümlichkeiten in der Mythosrezeption ist damit für Bousset dennoch zu einem hohen Grad wahrscheinlich gemacht worden, dass Paulus die traditionelle „Lehre“338 vom Urmenschen schon vorgelegen hat, auf deren Grundlage er seine 332 Bousset, Paulus, 1295. 333 NJP 241; vgl. auch Bousset, Paulus, 1306. 334 Vgl. KC 141. Paulus soll laut Bousset mit einer „Lehre“ vom Urmenschen vertraut gewesen sein, die er dann auf das Christusgeschehen angewendet habe. 335 Bousset, Paulus, 1293. 336 Vgl. KC 141; dort sind auch die Probleme hinsichtlich der komplexen Überlieferungsgeschichte dieses für Bousset nur schwer greifbaren Mythos aufgeführt. Hierzu vgl. Colpe, Schule. 337 Zu den paulinischen Eigentümlichkeiten gegenüber dem Mythos vgl. KC 141f. 338 Dass Paulus diese kosmologische Spekulation der zwei Menschenklassen aus Gen 2 entnommen haben soll, hält Bousset also für unwahrscheinlich: „Man kann sich in der Tat kaum



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christologisch vermittelte Äonen-Lehre als Ausdruck seiner ekstatischen Frömmigkeitserfahrung entwickeln konnte. Mit der Abfolge von materieller und pneumatischer Schöpfung ist für Bousset auch die Faktizität der Sünde im paulinischen System nun nicht mehr im Rahmen einer vermeintlich schon bei Paulus vorliegenden Urstands- und Restitutionsstheorie zu rekonstruieren: Es ist der Pneumatiker Paulus, der über die prinzipielle, nicht nur zufällig gewordene Verderbtheit der menschlichen Natur urteilt. Es ist der Christ, der von der beseligenden Erfahrungen der völligen Neuheit seines Lebens seine Theorie von der Erlösung gestaltet und nicht daran denkt, in ihr nur eine Rückkehr zu dem vor dem Sündenfall vorhandenen adamitischen Wesen zu sehen.339

Das Faktum der notorischen Sündhaftigkeit des Menschen erklärt sich Paulus nach Bousset also gerade nicht, indem er die Sünde als eine irgendwie geschichtlich gewordene fasst, die sich nur mehr innerhalb des menschlichen Gesamtlebens geschichtlich-sozial vermittelt. Sünde würde dann entgegen des Aussageinteresses des paulinischen Dualismus letztlich kontingent zur guten Schöpfung des Menschen hinzukommen. Die Rezeption und Umarbeitung des Mythos zeigt laut Bousset jedoch, dass Paulus die Sünde in den unergründlichen Schöpferwillen zurückverlegt und sie so als ontologisch zum Menschsein zugehörig ausweist. Bousset grenzt sich hier gegenüber einer Rekonstruktion ab, die die paulinische Sündenlehre in ihrer ontologischen Dimension nicht ernst genug nimmt. Gleichzeitig markiert Bousset in diesem Kontext aber auch die Gefahr, die Paulus mit dieser dualistischen Lehre von den zwei Perioden innerhalb des Welt- und Menschheitsgeschichte an spätere christliche Kosmologien heranträgt, die Anleihen bei Paulus’ supranaturaler Christologie machen: Schöpfung und Erlösung können so nicht mehr aufeinander bezogen gedacht werden.340

vorstellen, wie Paulus diese kühne Idee aus Gen. 2 so einfach herausgesponnen haben könnte, wenn ihm nicht die Lehre von einem Geist- und Gotteswesen Anthropos bereits vorgelegen und er diese in das Bibelwort hätte hineindeuten können“ (KC 141). 339 JdH 72; Hervorhebung JH. 340 Vgl. KC 144. Erst Irenäus entwirft im zweiten Jahrhundert „durchweg antignostisch orientiert“ eine kirchliche „Rekapitulationstheorie“. Sie markiert nach Bousset den Typus einer kirchlichen Theologie, dessen Signum in der „Einheit des Erlöser- und des Schöpfergottes“ (ebd. 348) besteht. Die großen Paradoxien des Paulinismus konnte eine kirchliche Theologie nicht mehr integrieren. Dies fand erstmals einen theologischen Ausdruck in der Theologie des Irenäus, der zwar Paulus „[…] zu einem anerkannten Theologen gemacht [hat], um den Preis, daß er in einer grandiosen Weise die echten paulinischen Gedanken umgebogen und des Wesentlichen entkleidet hat“ (KC 356). Irenäus kommt dann auch in Boussets Deutung als „der Theologe“ zu stehen, „der die zukünftige Gestaltung der Dinge in einer Weise, wie kein anderer neben ihm und unmittelbar nach ihm, darstellt“ (KC 348). Einen „Unterschied im Fundament“ erblickt Bousset jedoch in der divergierenden „Grundstimmung zwischen dem supranaturalistischen Optimismus des Kirchenvaters [sc. Irenäus] und dem radikalen Pessimismus des Apostels“ (ebd. 358). Eine Kirche,

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Insgesamt hat sich also in der für Bousset offenkundigen Adaption eines antiken Mythos auf das Christusgeschehen eine „gewaltige Umbildung“341 ereignet, die aber wiederum nur im Horizont des religionsgeschichtlichen Vergleichs verständlich wird. Der Vergleich zeigt zudem hinlänglich – und dies ist gleichzeitig ein wichtiges Anliegen Boussets, das er insgesamt mit der Religionsgeschichtlichen Schule teilt342 –, dass Paulus als religiöse Persönlichkeit sich souverän im Rahmen der Überlieferung bewegt und diese in charakteristischer Weise umgestaltet. Der theologische Hauptertrag des religionsgeschichtlichen Vergleichs ist für Bousset jedoch eben auch der Aufweis, dass die „Gleichheiten hüben und drüben“343 – trotz des bestimmten Profils der paulinischen Theologie – zwischen derselben und der Spekulation der Mysterienreligionen nicht ignoriert werden dürfen. Bousset zeigt damit auf, dass gerade Paulus’ kosmologische Christus-Spekulationen unter kontingenten Entstehungsbedingungen entstanden sind und offenbar nur mehr höchst auslegungsbedürftige Ausdrucksformen christlicher Frömmigkeit sind, die nicht einfachhin für die gegenwärtige Rechenschaft des christlichen Glaubens repristiniert werden können.

3.2.3 Jesus und Paulus – die religiöse Bedeutung der paulinischen Theologie für die christliche Frömmigkeit Anhand des religionsgeschichtlichen Vergleichs hat Bousset, wie oben gezeigt, die Analogien zu den hellenistischen Mysterienreligionen offengelegt, die die Genese des Paulinismus veranschaulichen und das vielfach diagnostizierte Fremdartige in deren Weltanschauung begreiflich machen sollen. Diese Fremdartigkeit der paulinischen Frömmigkeit und deren religiösen Vorstellungswelten kommt für Bousset gerade in der Verhältnisbestimmung zur jesuanischen Frömmigkeit zu stehen, die, wie unten noch zu zeigen sein wird,344 in Boussets Christentumsverständnis einen hohen Grad an Normativität für die christliche Frömmigkeit beanspruchen darf. Einerseits will er im Medium des Vergleichs die Verschiebungen innerhalb der die die Welt gestalten wollte, konnte Paulus’ anthropologischen Pessimismus nicht aufrechterhalten. 341 KC 142. 342 Vgl. Merk, Persönlichkeit, 33; mit der Konturierung der urchristlichen Persönlichkeiten auf dem Hintergrund des religionsgeschichtlichen Milieus, die die großen religiösen Persönlichkeiten der Urchristentumsgeschichte nicht mehr zum Schöpfer eines Gedankens macht, sondern diese mitten in den Traditionsstrom hineinstellt, unterscheiden sich Bousset und die Religionsgeschichtliche Schule mitunter deutlich von einer ‚liberalen‘ Deutung, die die Persönlichkeit mehr aus sich selbst meinten verstehen zu können, vgl. ebd. 35: „Die religionsgeschichtliche Einordnung und Erklärung des frühen Christentums ist unter anderem darin ein Gegensatz zum liberalen theologischen Verstehen, daß sie gerade nicht wie jene leichthin von ‚Persönlichkeit(en)‘ sprechen kann.“ 343 KC 140. 344 Vgl. Kap. 4.1.



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frühchristlichen Religion deutlicher fassen können, andererseits will er aber auch die Kontinuitätslinien beschreiben können, die die paulinische Frömmigkeit als legitime christliche Weiterbildung der Stifterreligion ausweisen. Freilich verlässt Bousset an dieser Stelle den methodischen Rahmen, den er sich in seinem Kyrios Christos gegeben hat. Denn mit der Frage nach den Kontinuitäten in der christlichen Religionsgeschichte berührt er die Frage nach dem Wesen des Christentums. Seine ‚kultgeschichtliche‘ Methode mit ihrer formgeschichtlichen Hinwendung zum Gemeindebewusstsein bildet dabei gewissermaßen die Voraussetzung, auf deren Hintergrund Bousset nun jene Verhältnisbestimmung vornimmt. Boussets RGG-Artikel von 1913 über Paulus zeigt ferner, dass Bousset diese historische Frage nach dem Verhältnis von Jesus und Paulus keineswegs für illegitim hält, wenngleich sie die begrenzte Reichweite der historischen Methode übersteigen muss. Boussets Verhältnisbestimmung erfolgt auf dem forschungsgeschichtlichen Hintergrund, den William Wrede durch sein Volksbuch Paulus maßgeblich geprägt hat.345 Entgegen dem diastatischen Auseinanderfallen beider Frömmigkeitstypen, dem jesuanischen und dem paulinischen, bei Wrede ist es für Bousset doch ein Anliegen, zu betonen, dass „unstreitig mehr Linien von Jesus zu Paulus [hinüberführen], als Wrede sah.“346 Trotz des exegetischen Konsenses hinsichtlich der von Wrede und auch von Bousset selbst markierten Differenz zwischen Jesu und Paulus’ Frömmigkeit fehlt in Boussets Rekonstruktion „de[r] Zusammenhang und die Einheit“347 beider Größen also durchaus nicht. Zunächst erkennt Bousset formal eine große Gemeinsamkeit in der eschatologischen Weltanschauung. Neu gegenüber der ‚spätjüdischen‘ Eschatologie sei dabei bei beiden christlichen Frömmigkeitstypen die „ausschließlich religiöse Gestaltung dieser Hoffnung“348. Losgelöst von politischen Umsturzphantasien bildet die eschatologische Hoffnung bei beiden die „lebendige Empfindung von der Realität des

345 Ein offenkundiger Bezug auf Wrede findet sich in Boussets RGG-Artikel (ders., Paulus, 1303): „In der Behandlung dieser Frage [sc. nach dem Verhältnis von Jesus und Paulus] sind die Verschiedenheiten neuerdings so stark betont worden, daß dann zum Schluß die Frage auftauchte, ob P[aulus] nicht als eigentlicher Schöpfer dessen, was wir Christentum nennen, zu betrachten sei.“ Bousset markiert ferner das Desiderat, dass Wredes Rekonstruktionsversuche der Urchristentumsgeschichte der „Ergänzung“ bedürften, andernfalls bliebe die „Geschichte des Urchristentums ein Rätsel“ (Bousset, Vorwort, IX). Überhaupt habe Wrede mit seiner These vom zweiten Stifter der christlichen Religion „uns hier gänzlich vor der Frage und vor den Problemen [stehen gelassen]“ (NJP 236). Bousset will also das diastatische „Entweder-Oder“ (Bousset, Vorwort, IX) Wredes überwinden und so die Urchristentumsgeschichte allererst historisch begreifbar machen und dies gelingt nach Boussets Dafürhalten eben nur auf Grundlage eines geschlossenen Entwicklungsganzen. Zu Wredes Diagnose einer sachlichen Differenz zwischen Jesus und Paulus vgl. Rollmann, Paulus; Wiefel, Würdigung. 346 Bousset, Vorwort, IX. 347 Bousset, Paulus, 1303. 348 Bousset, Paulus, 1304; im Original gesperrt.

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schon gegenwärtigen Gottes“349 aus. Auf Ebene der Frömmigkeit führt dies zu „froher Gewißheit“, die näherhin als ein Gefühl „tiefernste[r], selige[r] Stimmung“350 von Bousset bestimmt wird. Entsprechend ist auch der Gerichtsgedanke als unvertretbare moralische Inanspruchnahme des Einzelnen in Boussets Rekonstruktion ein wesentlicher Inhalt beider Frömmigkeitstypen. Für Paulus zeige sich diese göttliche Gegenwart zwar in einem bestimmten heilsgeschichtlichen Geschehen – also „[...] vielfältig anders [...] vermittelt [...]“351 als im Evangelium Jesu –, dennoch gilt unbenommen, dass die „religiöse Gewißheit“ als „frohe und sichere Gegenwartsstimmung“, wie sie Bousset in Jesu Frömmigkeit im Medium seiner eschatologischen Predigt trotz eschatologischem Weltbild faktisch ‚umgesetzt‘352 zu finden meint, „auch für die paulinische Frömmigkeit grundlegend [ist].“353 Für Boussets Kontinuitätskonstruktion ist also die ihm auf religionspsychologischem Weg zugänglich gewordene „fromme Stimmung“354 das entscheidende Vergleichsmoment, das offenkundig auch diametral auseinanderliegende Unterschiede in der Ausgestaltung der religiösen Weltanschauung zu neutralisieren vermag. In beiden ist – wie in jeder religiösen Lebensäußerung – ein eigentümliches Ineinander von Hoffnung, Vertrauen, Ernst und Furcht, das in Boussets Deutung in beiden Frömmigkeitstypen in ein bestimmtes Verhältnis gebracht ist, das Bousset als religiöse Gewissheit bzw. als absolutes „Abhängigkeitsgefühl von Gott“355 begreift, das dann späterhin durch die personale Vermittlung im Medium des „Personenbildes Jesu“356 ihr eigentümlich christliches Profil erlangt. Auch Paulus muss nach Bousset im Rahmen eines durch die Geschichtswissenschaft „niemals ganz zu zergliedernden persönlich geheimnisvollen Vorgang[s]“357 mit jener religiösen Gewissheit Jesu in Berührung gekommen sein und konnte so eine Frömmigkeit ausprägen, die zunächst – analog der jesuanischen Frömmigkeit – „rein religiös-sittlich“358 „auf sich selbst [stand].“359 Diese sittliche wie religiöse Selbständigkeit wird explizit in der Loslösung von Gesetz und Nation und schließt dementsprechend schon einen religiösen Universalismus in sich, der keine partikularistischen Zugangsbeschränkungen zur christlichen Religionsgemeinschaft mehr kennt. Diese neu gestaltete Frömmigkeit ist in 349 Bousset, Paulus, 1304. 350 Bousset, Paulus, 1304. 351 NJP 236. 352 Vgl. Bousset, Paulus, 1304 353 NJP 236. Diese Form religiöser Gewissheit ist ein direkter „Nachhall des ‚Evangeliums‘“ (Bousset, Paulus, 1304). 354 NJP 236. 355 Bousset, Paulus, 1284. 356 JdH 92. 357 NJP 235 (zustimmendes Referat des Wrede Schülers Weidel).Vgl. auch ders., Paulus, 1304: „Sie [sc. die religiöse Gewissheit bzw. die daraus resultierende ‚innere Freiheit‘] muß auch irgendwie, durch irgendwelche Vermittlungen und Kanäle die Seele des Apostels berührt haben.“ 358 Bousset, Paulus, 1304. 359 NJP 238.



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Boussets Deutung der Religionsgeschichte ein unabbleitbares „Novum“, ein „schöpferischer Akt im Leben der Religion“360. Schon in Jesu Reich-Gottes-Verkündigung ist zwar implizit unter der äußerlichen Aufrechterhaltung der partikularistischen Frömmigkeitsformen des ‚Spätjudentums‘, aber dennoch prinzipiell ein religiöser Universalismus angelegt. Die partikularistischen Formen haben ihre Bedeutung verloren und sind innerlich überwunden.361 Paulus kommt nun die Funktion zu, die implizite fromme Stimmung Jesu explizit zu machen: „Was Jesu Stimmung unausgesprochen, ja unbewußt zugrunde lag, das finden wir im paulinischen Universalismus zur hellen Erkenntnis und auf die klare Formel gebracht.“362 Paulus ist in solch einer Rekonstruktion vielmehr Empfangender, als dass er im „Kern“363 seiner Frömmigkeit – seiner religiösen Gewissheit und der empfundenen moralischen Inanspruchnahme – schöpferisch tätig gewesen wäre. Entsprechend fasst Bousset auch das Verhältnis der Frömmigkeitsgestalten als das „von ursprünglicher und abgeleiteter Frömmigkeit“364, das auch in der vielfach bemühten Typologie von Jesus als dem Schöpfer der evangelischen Frömmigkeit und Paulus als dem Vollender bildhaft wird.365 Paulus gilt Bousset zunächst als der Vollender der Frömmigkeit des Evangeliums, weil er die latenten Gehalte der evangelischen Frömmigkeit explizit machte und so in die Selbstbeschreibung christlicher Religiosität überführte. Erst hierdurch wurde die christliche Religionsgemeinschaft in ihrer Selbstunterscheidung von partikularistischen Religionspraxen erkennbar. Nun zeigt es sich – wie Bousset formuliert –, „daß das Heiden-Evangelium des Apostel Paulus die recht eigentliche Fortsetzung des Werkes Jesu war, daß Paulus den Herrn im Innersten seines Wesens besser und klarer verstanden hatte, als die meisten der unmittelbaren Jünger Jesu.“366

360 NJP 237. 361 Vgl. Kap. 4.1.1. 362 Bousset, Paulus, 1304. Einen belastbaren Beweis kann Bousset zwar nicht beibringen, schließlich „handelt es sich im Evangelium um Keimansätze, die noch unbewusst schlummern“ (ebd.). Dessen ungeachtet steht für Bousset außer Zweifel, dass eben schon für die vorpaulinische Tradition „ein Drängen zum Universalismus“ (ebd.) prägend gewesen ist, sodass Bousset einen „Anstoß“ (ebd.) in Richtung des Universalismus, wie er dann bei Paulus explizit wird, schon für das Evangelium Jesu postulieren kann, vgl. nur NJP 237. Eine Rekonstruktion der Urchristentumsgeschichte, die bloß Paulus’ Universalismus dem vermeintlichen Partikularismus Jesu gegenüberstellt, rechnet zu Unrecht nicht „mit unmeßbaren und Nachwirkungen“ (ebd.), die eben personal vermittelt sind und nicht immer nachweisbar sein müssen. Dennoch müssen sie – allein schon um eine geschlossene Entwicklung zu erhalten – in eine historische Rekonstruktion mit eingebunden werden: „Wir dürfen vielmehr hier verborgene Zusammenhänge postulieren“ (NJP 238). Die Frage nach einem „geschichtlichen Zusammenhang“ zwischen Jesus und Paulus ist folglich „[…] unabhängig von der anderen, ob dieser Zusammenhang im Bewusstsein des Paulus vorhanden war oder nicht.“ 363 Bousset, Paulus, 1304. 364 NJP 246. 365 Vgl. NJP 238 und passim. 366 Bousset, Apostel, 11.

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Im Freilegen des prinzipiellen Universalismus markiert Bousset also ein prägnantes Kontinuitätsmoment der paulinischen Frömmigkeit zum ‚Geiste Jesu‘. Die darin enthaltene ekklesiologische Dimension zeigt sich für Bousset darin, dass die paulinische Frömmigkeit trotz bestimmter exklusivistischer Tendenzen, wie sie an sich strukturell einer kirchlich verfassten Religionsgemeinschaft aufgrund ihrer Traditionsgebundenheit eignen,367 nicht bei diesen stehen bleibt, sondern diese kirchlichen Strukturen immer wieder unterläuft und so gegenstandslos werden lassen kann. Entsprechend erkennt Bousset in der pneumatischen Frömmigkeit des Paulinismus ein „überschäumendes, über alle Grenzen strömendes Streben und Drängen zum Universalismus des Heils. […]. ‚Von ihm, durch ihn zu ihm sind alle Dinge.‘ Das ist Geist vom Geiste Jesu.“368 Es ist dieser alles überwindende „Missionsenthusiasmus“369, den Bousset an Paulus’ pneumatische Frömmigkeit überaus beachtenswert findet und der gleichsam der Ausdruck für die prinzipielle Freiheit von der Autorität der Tradition ist. Der Universalismus speist sich nach Bousset zuerst aus der kultisch vermittelten Erfahrung der Gegenwart des kyrios. Dass freilich dennoch durch Taufe und Bekenntnis ein „statutarischer Charakter“370 selbst in die paulinische Frömmigkeit eindringt, kann Bousset zwar als Notwendigkeit im Rahmen kirchlich vermittelter religiösen Kommunikation begreifen, dies ist jedoch zu unterscheiden von der religiösen Erfahrung des „freien Gnadenwirkens Gottes“371 in Jesus Christus, die Paulus so stark empfand, dass sie das Wesen seiner universalistischen Frömmigkeit grundlegend bestimmte. Entgegen der späteren johanneischen Frömmigkeit vermeidet die paulinische Frömmigkeit es also, bei den „geschaffenen Gegensätzen ‚Kirche und Welt‘“372 stehen bleiben zu müssen. Vielmehr vermag sie es nach Bousset, immer wieder bestimmte ‚statutarische‘ Elemente, die den paulinischen Kirchengedanken wieder exklusivistisch verengten, zu überschreiten. 367 Die sich immer mehr verkirchlichende christliche Frömmigkeit wird „beschränkter und härter“ (NJP 242), da Tradition und Bekenntnis den christlichen Gedanken der freien Gnade Gottes (vgl. ebd. 242f) durch ihren Geltungsanspruch wieder eigentümlich verengen – ein kirchlicher Exklusivismus ist die Folge, wie er für die johanneische Frömmigkeit prägend wurde. Aber auch in der pneumatischen Frömmigkeit lagen die Gefahren bestimmter exklusivistischer Elemente, die drohten, hinter den christlichen Heilsuniversalimus wieder zurückzufallen, indem sie die Botschaft von dem „freien Gnadenwirken Gottes“ (ebd. 243) nur an bestimmte pneumatische Konventikel banden – der Prädestinationsgedanke war die Folge. Allerdings ist der von Bousset diagnostizierte Prädestinationsgedanke nur mehr ein theologischer „Hülfsgedanke“ (ebd.) zur Bewältigung der Erfahrung des Unglaubens – der paulinischen Frömmigkeit entsprach diese theologische Konstruktion aber keineswegs. 368 NJP 243. Freilich ist in der pneumatischen Frömmigkeit selbst ein exklusivistisches Element angelegt: die vom Pneumatiker vorgenommene Selbstunterscheidung vom nur psychischen Menschen. Vgl. dazu oben Anm. 163. 369 JdH 86. 370 S. o. Anm. 255. 371 NJP 243. 372 NJP 243.



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Aber neben dieser postulierten Kontinuität bezüglich der frommen Stimmung im Paulinismus und dem Evangelium Jesu erkennt Bousset eben auch, wie oben schon beschrieben, bedeutende Verschiebungen innerhalb der paulinischen Frömmigkeit, sodass er in seine Kontinuitätskonstruktion gleichzeitig ein Differenzmoment einbaut. Denn mit Paulus beginnt eben zugleich unweigerlich „die Geschichte der Komplikation des Christentums.“373 Dass Jesu Frömmigkeit gleichsam ‚reflexionslos‘ gewesen sein soll, zeigt nochmals seine besondere Stellung als Stifter des christlich-religiösen Lebens. Damit steht er jedoch in der christlichen Religionsgeschichte allein, denn die meisten der Frommen – und so auch die große urchristliche Persönlichkeit Paulus – fragten eben doch als „ängstliche Gegenfrage“ im Nachgang der erlebten Gegenwart ihres Herren Jesus nach dem Grund der christlichen Gewissheit, die von Jesus in „voller Unmittelbarkeit“374 empfunden wird. Die christliche Theologie ist demgegenüber ein notwendiges Mittel der Vergewisserung, denn allererst in dem „bohrenden nichts mehr gelten- und stehen-lassenden, in die tiefsten Gründe dringenden Fragen erschloß sich wiederum das neue Leben erst recht“375; erst durch die theologische Reflexion also „[kam] die Kraft und Sicherheit [sc. des Evangeliums] zum Bewusstsein.“376 Hat Bousset damit die Notwendigkeit einer theologischen Reflexion des religiösen Erlebnisses markiert – wie er es auch im Rahmen seiner Religionstheorie hervorhebt377 –, so gilt im Umkehrschluss gleichermaßen, dass die paulinische Theologie – wie Boussets Aufweis der historischen Genese die paulinische Theologie gezeigt hat – sich als vielfach „mythologisch bedingt“378 erwiesen hat. Einerseits hat Paulus also in Boussets Urteil trotz seiner insuffizienten Durchführung das religiöse Leben fortentwickelt: mit Paulus zieht also „der Gedanke und die Reflexion mit einer Macht in die Religion ein, wie dies [...] bisher nicht der Fall war.“379 Andererseits ist die paulinische Theologie im Gesamt ein geschichtliches Gebilde, das aufgrund der historischen Bedingtheit auch bestimmte Gefahren für eine freie evangelische Frömmigkeit in sich trägt. Insbesondere die paulinische Christologie ist, wie oben gezeigt, für Bousset eine kontingente Erscheinung, die enorme Rezeptionsschwierigkeiten hinsichtlich der Gegenwartsbedeutung der paulinischen Theologie für die gegenwärtige Gestalt protestantischer Frömmigkeit in sich trägt. Zwar kommt es Paulus als erstem christlichen Theologen zu, den Modus des heidenchristlichen Empfindens der Gegenwart des kyrios in eine reflexive Gestalt gebracht zu haben. Damit hat er sodann die für alle christliche Theologie unaufgebbare Aufgabe formuliert, dass dem Stifter 373 WdR 223. 374 NJP 246. 375 NJP 246. 376 NJP 246; s. o. Anm. 198. 377 Vgl. Kap. 2.1.4. 378 NJP 239. 379 NJP 239.

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bzw. vielmehr dem Bild des Stifters eine zentrale Bedeutung im christlichen Denken zukommen muss. Allerdings ist damit schon der Teil der paulinischen Fortbildung benannt, der eine Vertiefung der evangelischen Frömmigkeit bedeutet. Denn die paulinische Rede vom Pneuma-Christus meint eben nach Bousset keineswegs die Person Jesu von Nazareth noch deren Bild, wie es die Evangelien zeichnen, sondern vielmehr ein „[...] Wesen, das einer schlechthin anderen und höheren Seinsweise angehört.“380 Somit verfehlt eine Auslegung das Aussageinteresse der paulinischen Christusmystik, wenn „bei dem en Christo des Paulus an eine Beziehung zu dem, was wir das sittlich-religiöse Personenbild Jesu von Nazareth nennen [,gedacht wird], sei es, daß man dabei eine Vermittlung dieses Personenbildes durch die christliche palästinensische Urgemeinde annimmt, sei es, daß gar aus II. Kor. 5, 16 eine die nachfolgende Entwicklung irgendwie bedingende persönliche Bekanntschaft des Apostels mit Jesus konstruiert wird.“381 Wenngleich Bousset entgegen dieses Zitats auch faktisch, wie oben gezeigt, von einer unbewussten Berührung zwischen der jesuanischen und der paulinischen Frömmigkeit – vermittelt durch das pluriforme Personenbild in den Urgemeinden – in seiner Rekonstruktion ausgeht, so hebt er hier doch darauf ab, dass die eigentümliche Gestalt paulinischer Christologie letztlich auf seiner pneumatischen Frömmigkeit und auf der reflexiven Deutung dieser Erfahrung, die Paulus mit den Mitteln eines paganen Mythos ausführt, aufbaut. Alle Züge dieser trotz antignostischer Elemente gnostisierenden Christologie stehen im kontrafaktischen Gegensatz zum für Bousset religiös so bedeutsamen Personenbild Jesu der Evangelien. Denn nun stehen Christi Werk und seine supranaturale Herkunft im Fokus des christologischen Denkens: Für einen Grundzug des Personenbildes Jesu, ja eigentlich für dessen Fundament, nämlich seine Frömmigkeit und seinen Gottesglauben, hat Paulus in seiner Evangelienverkündigung überhaupt keinen Platz mehr. [...] Wie will man da noch von einem Personenbild Jesu bei Paulus in unserem Sinne reden?!382

Es kommt also in der urchristlichen Frömmigkeit spätestens mit dem Überschritt in den hellenistischen Kulturraum zu einer verhängnisvollen Verschiebung vom Personenbild Jesu zum Glauben an Jesus Christus. Sie nimmt ihren Anfang in der Menschensohndogmatik der Urgemeinde in Palästina, um dann in die spätestens im heidenchristlichen Kultus identifizierbare Verdopplung des Kultobjekts zu

380 Bousset, Paulus, 1279. 381 KC 105; so auch Heitmüller (vgl. ders., Jesus, 162f), der sich mit Bousset hier von Wernle abgrenzt, der wiederum fest von einer „Uebernahme apostolischer und jerusalemischer Traditionen [sc. von der Person Jesu] bei Paulus“ überzeugt ist (Wernle, Antithesen, 15). Für Heitmüller wie für Bousset stellt dies lediglich eine Möglichkeit dar, die historisch schwer ergründbar ist, wenngleich Bousset hier auch zu gewissen Zugeständnissen („Einzelheiten i[n] d[em] Verhältnis d[es] Paulus z[ur] Urgemeinde“ [Brief an Paul Wernle vom 18. April 1915; Özen 191]) bereit ist. 382 KC 105.



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münden. Diese Verdopplung des Kultobjekts ist gleichsam die „Quintessenz“383 der in Boussets Urteil eben höchst problematischen Entwicklung der christlichen Frömmigkeit, die damit ein „völliges Novum“ gegenüber der israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte und ihrem formal strengen Monotheismus darstellt.384 In der paulinischen Christologie kommt diese Entwicklung vorerst zu einem reflexiven Abschluss, der dann, so Bousset, über Jahrhunderte die Gestalt einer orthodoxkirchlichen Christologie bestimmen wird:385 Der Glaube an einen überweltlichen, vom Menschen „toto genere […] verschiedene[n]“386 Erlöser bildet fortan die prägende Signatur christlich-religiösen Lebens, von der sich Boussets neuprotestantische Frömmigkeit freilich emanzipieren will, da sie ungeheure Schwierigkeiten für das moderne christliche Selbstverständnis in sich trägt. Dieser heilsgeschichtlich orientierte Tatsachenglaube, den Paulus als erster christlicher Theologe in ein relativ geschlossenes System bringt, sorgt aufgrund seiner Autoritätsstruktur nämlich für eine schwerwiegende Belastung und Verengung der freien christlichen Frömmigkeit.387 Der zu glaubende Inhalt der paulinischen Fassung christlichen Glaubens ist dabei die „Beziehung auf die große, in der Vergangenheit liegende Tatsache des Opfertodes [sc. des Christus]“388. Paulus bildet dabei den relativen Abschluss einer Entwicklung, die sich im Unterbewusstsein, in der kultischen Praxis ganz von selbst vollzog. Die kultische Erfahrung, die der religiöse Genius Paulus, wie oben gezeigt, im Medium seiner Christusmystik auf das gesamte christliche Leben entschränkt, wurde als ein vollständiges Neugesetztwerden empfunden. Der theologische Supranaturalismus paulinischer Prägung formte fortan auch die Erlebnisform religiöse Erfahrung, sodass der Dualismus ein fester Bestandteil christlicher Selbstbeschreibung wurde. Das Christentum wurde so in seiner Hauptströmung und später dann in seiner vorerst abgeschlossenen kirchlichen Gestalt zur einseitigen Erlösungsreligion389 – dies stellt gegenüber den Anfängen urchristlicher Frömmigkeit trotz der dorthin strebenden Tendenzen laut Bousset eine „metabasis eis allo genos“390 dar. 383 JdH 90. 384 JdH 91. 385 Vgl. WdR 225. 386 RuG 5. 387 Vgl. auch Bousset, Paulus, 1308: „Die Anschauung [...] vom Kreuzestodes Jesu als dem einzigen Wege zur Sühne [...] und zur Versöhnung Gottes mit der Menschheit läßt sich schlechterdings nicht mit der weiten und freien Verhüllung der unbedingten göttlichen Liebe im Gleichnis vom verlorenen Sohn vereinigen.“ Sie ist „Ballast“ für die christliche Rede von Gottes bedingungsloser Sündenvergebung (ebd. 1305), die an sich auch im Paulinismus im Zentrum steht. 388 JdH 47. 389 Vgl. KC 145: „Und so tritt der Paulinismus in seiner Großartigkeit, mit der Glut und Innigkeit seiner Mystik, aber auch mit allen ihm spezifisch eignenden Gefahren als einseitige Erlösungsreligion neben das Evangelium Jesu.“ 390 JdH 88: „Es handelt sich in der Weiterentwicklung um das allmähliche Einströmen eines neuen Elementes, um eine Entwicklung, die in keinem einzelnen Punkt greifbar wird und doch schließlich zu einer metabasis eis allo genos führt.“

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Alle ‚vermittlungstheologischen‘ Versuche – wie Bousset sie nennt391 –, das Christentum paulinischer Prägung in eine Nähe zur Jerusalemer Urgemeinde zu rücken, verkennen laut Bousset diese epochale Umbildung der christlichen Religion noch in ihren Anfängen. Diese „moderne theologische Umdeutung“392 kann aber die pneumatische Frömmigkeit des Paulus sich kaum begreiflich machen, und muss ihre inneren Paradoxien beständig ausblenden. Darüber hinaus ist der Blick bei einer konventionellen reformatorischen Paulusdeutung – die nur den angefochtenen, an seiner Sündenschuld zerbrechenden Paulus, der dann durch sein Christuserlebnis die sittliche Befreiung erlebt –393 für die in Boussets Urteil eigentliche religiöse Tat dieser bedeutenden urchristlichen Persönlichkeit – nämlich die Vergeistigung und Ethisierung der kultisch gebundenen urchristlichen Frömmigkeit – verstellt. Denn erst die Deutung im Rahmen eines religionsgeschichtlichen Vergleichs, der allererst den entschlossenen Dualismus und Sakramentalismus im paulinischen System verstehen lehrt, führt vor Augen, „wie spröde der Stoff, wie schwer die Materie war, die er [sc. Paulus] zu durchdringen und zu beherrschen verstand.“394 „Aber das sieht man nicht, wenn man nach eigener Methode und auf freie Hand losphantasiert“395, wie Bousset gegen die klassische Paulusdeutung einwendet, die eben aus einem konfessionell bedingten Vorverständnis die paulinische Theologie rekonstruiert. Aber Paulus, den Bousset in seinen Studien, wie gesehen, als tief in seinem Milieu verwurzelt zeichnet, ist selbst als dominante urchristliche Persönlichkeit nicht in einen luftleeren Raum „hineingestellt“, sondern vielmehr „in den Strom der Entwicklung“ der heidenchristlichen Traditionslinie – diese dabei „[...] nur mühsam meisternd.“396 Will man also die ‚wirkliche‘ schöpferisch weiterbildende Kraft einer bedeutsamen Persönlichkeit der Religionsgeschichte jenseits der konventionellen theologischen Inanspruchnahmen erkennen, so ist es eben keinesfalls zureichend, diese rein aus sich selbst verstehen zu wollen: „Des Persönlichen in der Geschichte bemächtigt man sich gerade, indem man über die äußere Form und das Material, mit dem eine Persönlichkeit arbeitet, zum Kern [sc. der Persönlichkeit] vordringt. Fange ich gleich beim Kern an, so wird’s leicht und so oft nur der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“397 Bousset ist offenkundig von der Möglichkeit überzeugt, die notwendig bei der historischen Rekonstruktion sich einstellenden projektiven Elemente der Ge391 Vgl. JdH 91. 392 JdH 90. 393 Vgl. dazu JdH 46, wo Bousset das klassische reformatorisch Auslegungsschema Wernle unterschiebt; dies gilt auch für Deissmanns Paulusinterpretation. Deissmann bietet nach Bousset statt einer sozialpsychologischen doch wieder eine biographische Deutung (vgl. Bousset, Deissmann, 780f; vgl. hierzu Claussen, Jesus-Deutung, 136 Anm. 340). 394 JdH 74. 395 Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 186). 396 NJP 244. 397 Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 186); zur „recht verstandenen Originalität“ der urchristlichen Persönlichkeiten vgl. auch Heitmüller, Jesus 170f, hier 171.



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schichtskonstruktion, wie sie Schweitzer am Beispiel der Leben-Jesu-Forschung aufwies, durch die vollständige Deutung auf dem Hintergrund des religionsgeschichtlichen Materials methodisch kontrollierbar zu machen. Fehlt diese methodische Rückbindung, läuft sie Gefahr, die Bedeutung und Innovationskraft der Persönlichkeit für das gegenwärtige religiöse Leben zu minimieren, indem gerade das Widerständige und die eigene religiöse Position Herausfordernde eliminiert werden.

3.2.4 Zwischenbilanz Paulus hatte sich also als Mitglied der heidenchristlichen Gemeinde von Antiochia schon in eine bestimmte Tradition eingeübt. Die Heidenchristen verehrten ihren kyrios und erlebten seine Gegenwart im Kult, ganz analog den Mysterienreligionen der religiösen Umwelt, die auch ihren Kultheros als gegenwärtige Kraft erlebten. Freilich beeinflusst die Adaption dieser kultischen Form des religiösen Erlebnisses auch das religiöse Erleben selbst nicht unerheblich, denn die kultische Form verändert auch die Sache, sodass nun auch in der christlichen Religion der Religionsstifter Jesus von Nazareth als Kultheros sakramental vermittelt als gegenwärtig erfahren wurde und so im Rahmen der gottesdienstlichen Praxis mit immer würdevolleren Prädikaten ausgestattet wurde. Der in Hymnen gekleidete Enthusiasmus der vorpaulinischen Christen ließ die „Grenzscheide zwischen Gott und seinem Christus“398 immer mehr schwinden, bis sie nicht mehr vor einer Verdopplung des Kultobjekts zurückschreckten. Auch die paulinische Frömmigkeit ist durch die ‚Herübernahme‘399 heidnischer Praktiken beeinflusst. Dass die vorpaulinische Frömmigkeit in Boussets Rekon398 KC 86. Das hymnische Schwelgen in ontologischen Paradoxien ist in Boussets Deutung ein Signum des enthusiastischen Elementes des heidenchristlichen Gottesdienstes. Dass das feierliche Gemeindegebet noch ausschließlich an Gottvater gerichtet war – trotz des überbordenden christozentrischen Enthusiasmus –, erklärt sich Bousset „durch den Einfluß der jüdischen Liturgie“ und deren strengen Monotheismus’, die als „Wortgottesdienst dem Sakramentsgottesdienst [sc. der hellenistischen Gemeinde] gegenübersteht“ (ebd. 298). Dieser ebenfalls kaum zu unterschätzende, originäre Faktor hinsichtlich der ,Originalität‘ der christlichen Religion ist von Bousset in seiner Rekonstruktion der Genese der christlichen Religion im Kyrios Christos nicht immer ausdrücklich gewürdigt. Später fühlte er sich her zu Richtigstellungen genötigt. Der synagogale Gottesdienst barg „die reichen Schätze“ (JdH 93) in sich, in deren Rahmen die freie christliche Frömmigkeit sich darstellen konnte. 399 Zum für die Religionsgeschichtliche Schule elementar wichtigen Begriff der ‚Herübernahme‘ vgl. JdH 65: „Wenn Ausdrücke oder Formeln ‚herübergenommen‘ werden, so setzt das doch irgendwie in dem Erleben oder Empfinden selbst die Möglichkeit der Anknüpfung oder einen gewissen Grad der Analogie oder Verwandtschaft voraus.“ Dies wird nach Bousset in der paulinischen Kreuzesmystik sehr anschaulich (vgl. ebd.). Dieser im Unterbewusstsein der Gemeinde vorbereitete und unreflektiert gebliebene Vorgang der ‚Herübernahme‘ ist die alles verändernde Weiterbildung, die durch den Übertritt in den hellenistischen Kulturkreis bedingt war. Paulus bearbeitet diesen Vorgang nur mit seiner Theologie. Die rezipierten ‚Ausdrücke und Formeln‘ sind eben

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struktion zuvorderst durch den kultisch vermittelten ‚seligen Besitz‘ der Himmelsgüter bestimmt ist, braucht hier nicht gesondert erörtert werden – sie ist das ‚spröde Material‘, mithilfe dessen Paulus seine prinzipiell universalistisch ausgerichtete christliche Frömmigkeit entwickeln und formen musste. Dass Paulus angesichts dieser historischen Gemengelage es vermocht hat, den Traditionsstoff und das kultisch vermittelte religiöse Erleben selbst um dessen ethische Dimension zu erweitern bzw. zu entschränken, ist für Bousset hinlänglicher Beweis für Paulus’ religiösen Genius: „Was der Genius berührt, wird eben zu Gold“400; er ist der „gewaltige[] Vergeistiger der Frömmigkeit der Masse, der aus dem Kyrioserhalt den lebendigen, gegenwärtigen, sittlich-persönlichen kyrios-pneuma macht [...] und das Sakrament ethisiert.“401 Rein logisch führt dabei kein Weg von der kultischen Erlösungsseligkeit zum „kategorischen Imperativ der Mission“402; eine ‚einseitige Erlösungsreligion‘ und das Empfinden, dass der Christ als ganzer moralisch in Anspruch genommen ist, sind reflexiv kaum zu vermitteln. Und dennoch bleibt Paulus beides in einer Person: „Er ist der in der Seligkeit, Sicherheit und Gewißheit seines neuen Lebens ruhende Mystiker und doch der tatkräftige Apostel mit dem kategorischen Imperativ der Mission. Und hier verzichte ich [...] auf alles Systematisieren, das doch nur die eine oder andere Seite abschwächt oder gar verdirbt.“403 Dass hingegen auf Ebene der theologischen Reflexion und hier besonders durch die paulinische ‚Tatsachentheologie‘ schwerwiegende Engführungen einer einseitigen Erlösungsreligion drohen, ist weiter oben gezeigt worden. Paulus habe es aber ungeachtet dessen vermocht, die unbedingte sittliche Forderung, das „tiefe Gefühl der Verantwortung vor der Ewigkeit“404, durch seine Christusmystik nun nicht mehr als von außen kommende, gesetzliche Forderung wie in den Observanzreligion des Judentums, sondern als Entsprechungsverhältnis zur erfahrenen Erlösung und zum permanenten Pneumabesitz in die Signatur der christlichen Religion einzuschreiben. Trotz dieser vorbehaltslosen Anerkennung der gestalterischen Kraft der religiösen Persönlichkeit des Paulus, die die paulinische Weiterbildung als die „mächtigste und gewaltigste“405 in der gesamten Christentumsgeschichte hinsichtlich seiner Wirkungsgeschichte innerhalb der christlichen Kirchen begreift, ist die Rezeptionsgestalt paulinischer Frömmigkeit, der Paulinismus, als einseitige Erlösungsreligion für Bousset eine bleibende Irritation, die – gleich welcher interpreta-

nicht „bloße Redensarten“ (ebd.) – wie Bousset Wernle zitiert –, sondern Ausdrücke des neuen Inhalts der Religion. Bousset weiß diesbezüglich Heitmüller auf seiner Seite, den er zustimmend zitiert (vgl. Heitmüller, Paulus, 127). 400 Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 186). 401 Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 186). 402 JdH 76. 403 JdH 74. 404 JdH 93. 405 WdR 215.



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torische Aufwand betrieben wird – nicht für die gegenwärtige Gestalt christlicher Frömmigkeit auch nur entfernt Geltung beanspruchen kann: Mir ist in der Tat diese Verdoppelung des Glaubensobjekts, die bei Paulus mit seiner lebendigen und starken Verkündigung des Glaubens an Christus zum ersten Mal ins helle Licht tritt, ein starkes und bedrückendes Rätsel. Ich empfinde hier gleich in den Anfängen eine schwer verständliche und ungeheuer folgenreiche Komplizierung des evangelischen Glaubens, die mir alle alte und moderne Theologie von der Zeit der Theologen der ökumenischen Symbole bis zu den neuesten Vermittlungen nicht aus der Welt zu schaffen vermag.406

Boussets Anliegen hinter seiner Rekonstruktion des paulinischen Christentums zielt also letztlich darauf, das Abständige der Formen und gerade nicht mehr Vermittelbare – wozu dann auch insbesondere der Christuskult und die damit verknüpfte Erlösungslehre gehören – aufzuzeigen.407 Trotz Paulus’ unbestreitbaren Verdienstes um die ‚Ethisierung‘ christlicher Frömmigkeit kann Bousset letztlich „[...] aber doch nicht umhin, die Formen, in denen sich das alles geltend macht, problematisch und inadäquat zu finden.“408 Denn es muss doch ferner „die Frage [erhoben werden], ob hier nicht diese Formen auch die Sache getrübt und entstellt habe.“409 Die Sache, die Bousset getrübt sieht, ist die in der freien evangelischen Frömmigkeit angelegte „monotheistische Universalreligion“410, die in Boussets Darstellung eben durch den paulinischen Heilandsglauben, wie gezeigt, erheblich erschwert wurde. Entsprechend fällt Bousset die gängige hermeneutische Operation der Unterscheidung zwischen religiösem Inhalt und kontingenter Form zunehmend schwerer, weil er erkennt, dass die Sache der Form gegenüber nicht immun ist: „Was ist uns trennt von jener Zeit, ist mehr als Form, ist Sache und Art der Empfindung.“411 Dass nun gerade die Christologie in Boussets Paulusdeutung für ihn ein schwer überwindbares Problem bezüglich der Rezeption derselben darstellt, wird schon dadurch ersichtlich, dass er den Christusglauben des alten Christentums zum Gegenstand seines Kyrios Christos gemacht hat.412 Denn das leitende theologie- und 406 JdH 40. 407 Vgl. KC 153 Anm. 3: „[V]ergeistigende Abschwächungen“ taugen nicht, um 2Kor 5,18 („Gott in Christus“) richtig zu deuten. Wichtiger ist für Bousset noch: „Auch Anbetung Gottes in Christo ist eine für das paulinische Christentum falsche Formel: die Kyriosverehrung steht in den paulinischen Gemeinden neben der Gottesverehrung in unausgeglichener Tatsächlichkeit!“ 408 JdH 76. 409 JdH 76. 410 Bousset, Heidenchristentum, 1953. 411 Brief an Paul Wernle vom 19. Oktober 1910 (Özen 182; hier bezogen auf die kirchlichdogmatische Christologie der Reformation). 412 In Boussets RGG-Artikel Heidenchristentum wird ebenfalls der Christusglaube als Merkmal schlechthin des alten Christentums gewürdigt, das darin eine Analogie zum antiken Mysterienwesen besitzt (vgl. Bousset, Heidenchristentum, 1949–1953) und so auch als „neuer Kultverein“ (ebd. 1951) wahrgenommen werden konnte.

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kirchenpolitische Interesse hinter seinen Studien zur Genese des Christusglaubens bezweckt doch ganz offensichtlich den Aufweis seiner Distanz zum Christentum der Moderne. Auf diesem Hintergrund wird sodann auch verständlich, warum Bousset derart verstimmt war über den Streit mit Wernle,413 denn dieser war in seiner Deutung „Wasser auf Mühlen, die nicht nötig haben, besonders gespeist zu werden.“414 Im Feld der theologiepolitischen Akteure konnte sich insbesondere die als „radikal“ verschriene Religionsgeschichtliche Schule, der ja Paul Wernle zumindest nahe stand, jene inneren Kontroversen nur schwer leisten, wie man aus Boussets Kommentar zu Wernles Entschluss, gegen Bousset zu schreiben, unschwer herauslesen kann: „[...] mag’s denn scharf gegen scharf gehen, zur unheimlichen Freude aller Modern-Positiven u[nd] sonstiger Apologeten.“415 Mit dem Rückhalt seiner historischen Studien will Bousset sodann einer freieren Frömmigkeit, die die aporetischen Elemente einer sich auf Paulus berufenden ‚kirchlichen‘ Frömmigkeit vermeidet, einen auch innerkirchlich akzeptierten Platz innerhalb der protestantischen Kirche zuweisen und so diese Form evangelischer Frömmigkeit als eine legitime Variante des christlich-religiösen Lebens ausweisen. Diese neuprotestantische Variante christlicher Frömmigkeit hat ihren Vorzug ferner darin, dass sie mit dem spezifisch modernen Lebensgefühl ‚zusammenbestehen‘ kann, ohne freilich mit diesem identisch sein zu müssen. Spitzt man nun die Analyse der Paulusdeutung Boussets auf ihren geltungstheoretischen Aspekt zu, so kommt man zum Ergebnis, dass die paulinische Theologie in Boussets Urteil zwar gute Keime, wie beispielsweise die Fokussierung der christlichen Gedankenwelt auf Jesus Christus,416 in sich trägt, aber in ihrer Durchführung sich völlig insuffizienter Mittel bedient, die letztlich zu einem „naturhaften und unpersönlichen Einschlag“417 in der paulinischen Gedankenwelt geführt haben. Paulus’ Gedankenwelt kann somit nur die zeitgebundene Ausdrucksform der paulinischen Erfahrung der Gnade Gottes sein. Diese theologischen Figuren, die der längst in Geltung stehenden Praxis der universalistischen Predigt der heidenchristlichen Kirche nachträgliche „Begründung und Verteidigung“418 verleihen sollten, „sind auch nicht die Hauptsache.“419 Sie sind bloß die theologischen Äquivalente einer vorgängigen, noch reflexiv einzuholender Praxis, womit Bousset sich wieder – jetzt im Rah-

413 Vgl. den Brief an Paul Wernle vom 14. Dezember 1914 (Özen 190), in dem Bousset seinem Bedauern über die sachlich kaum überbrückbaren Differenzen zwischen Wernle und ihm Ausdruck verleiht: „Lieb ist es mir natürlich nicht, dass wir uns in gegnerischen Lagern befinden, und nach außen hin wird das einiges Aufsehen erregen. Die Apologeten werden’s trefflich benutzen und ausschlachten.“ 414 JdH 92. 415 Brief an Paul Wernle vom 18. April 1915 (Özen 191). 416 Vgl. Bousset, Paulus, 1288. 417 Bousset, Paulus, 1298. 418 Bousset, Paulus, 1299; zur Vorgängigkeit der Praxis vgl. auch NJP 239. 419 NJP 239.



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men einer geschichtsphilosophischen Wesensbestimmung420 – einer Kern-SchaleHermeneutik bedient – die er umgekehrt historiographisch, wie gezeigt, höchst bedenklich findet –, indem er Religion und Theologie wieder unterscheidet.421 Als „nachträgliche Hilfslinien“422 haben seine theologischen Figuren zwar eine gewisse Bedeutung, letztlich kommt ihnen für die Bestimmung der paulinischen Frömmigkeit aber eine nur mehr sekundäre Bedeutung zu. Anders verhält es sich jedoch bei der paulinischen Frömmigkeit, die eine Verschiebung gegenüber der jesuanischen Frömmigkeit darstellt. Als spezifische Form christlicher Frömmigkeit hat sie ihre eigentümlichen Grenzen in ihrem anthropologischen Dualismus und ihrer Hochschätzung der Sakramente, nichtsdestotrotz ist diese von Gott alles erwartende Frömmigkeit nicht das vollständig Andere zur evangelischen Frömmigkeit. „Diese eigentümlich paulinisch-augustinisch-lutherische Stimmung“ repräsentiert einen Frömmigkeitstyp der christlichen Religion, der „in dem Boden derjenigen religiösen Gewißheit [gewachsen ist], die von Jesus von Nazareth ausgegangen ist.“423 Genau in diesem Aufweis der Zusammengehörigkeit424 der paulinischen und der evangelischen Frömmigkeit als ‚Quelle und Norm‘ derselben ist Boussets theologisches Interesse zu lokalisieren, nur hier lasse sich noch etwas religiös Bedeutsames für die gegenwärtige christliche Religion gewinnen, denn nur hier lässt sich zeigen, dass die christliche Religion eine pluralistische Struktur wesentlich in sich trägt. Zwar unterscheidet sich die paulinische Frömmigkeit durch ihren ‚statutarischen‘ Charakter, der „etwas mühsamen, schwer nachdenkbare Reflexion“425, von der freien Frömmigkeit Jesu. Doch letztlich sind es „Nuancen“ in der Verschiebung gegenüber dem Evangelium, die Bousset religionstheoretisch mit dem Verhältnis von „ursprünglicher und abgeleiteter Frömmigkeit“426 erklären will. Die „religiöse Gewißheit in voller Unmittelbarkeit [...] ohne alle Reflexion“427 ist nur dem Stifter einer neuen Religion möglich. Alle von diesem sich affiziert wissenden religiösen Individuen kommen nicht ohne die vergewissernde Frage nach „den letzten Fundamenten der Gewißheit“428 aus. Paulus hat insofern durch seine Verknüpfung der christlichen Gewissheit mit einer neuen theologischen Selbst- und Weltdeutung eine bedeutende Erweiterung der neuen Religion gestiftet, die es allererst ermöglichte, dass die Innerlichkeit des Evangeli420 Hierzu vgl. Kap. 4.1.1. 421 Hierin unterscheidet sich Bousset wiederum von Wrede, der auf die Nichtunterscheidbarkeit von Religion und Theologie bei Paulus insistierte, dazu vgl. Rollmann, Paulus, 27f; Wiefel, Würdigung, 68. 422 NJP 239. 423 NJP 246. 424 Vgl. NJP 246: Die jesuanische und die paulinische Frömmigkeit sind „zusammengehörige Stimmungen“. 425 NJP 243. 426 S. o. Anm. 364. 427 NJP 246. 428 NJP 246.

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ums in einen praktischen religiösen Vollzug münden konnte – hinsichtlich einzelner Theologumena „wird freilich vieles fallen müssen: Opfertheorie, Stellvertretungsgedanke, Erbsündenlehre, Tatsachentheologie, die eigentümliche paulinische Christusmystik und so manches andere.“429 Es ist dieses Konglomerat theologischer Lehren, das nach Bousset Paulus in die Nähe der Gnosis rückt. Was die Binnenstruktur der christlichen Religion anlangt, hat Paulus also ganz wesentlich an der neuen Religion weitergebildet, sodass er für Bousset mit Recht als „größte[r] Jünger seines Meisters“430 seinen Platz in der urchristlichen Religionsgeschichte zugewiesen bekommt, denn er hat durch seine Theologie die Gehalte des Evangeliums ins Bewusstsein gehoben und somit allererst im Vollsinn in Kraft gesetzt. Darüber hinaus besitzt Paulus aber auch gegenwärtig eine besondere urbildlich-religiöse Strahlkraft. Denn hinsichtlich der „praktischen Haltung unserer Frömmigkeit“431, nämlich sich ständig unter der unbedingten sittlichen Forderung der göttlichen Wirklichkeit gestellt zu wissen, kann Bousset also keine abgeschlossene Dichotomie zwischen den Frömmigkeitstypen erkennen, wie Wrede sie noch diagnostizierte. Vielmehr muss das Verhältnis als eines zweier Pole beschrieben werden, in dem „der negative Pol zum positiven [gehört].“432 Denn wenngleich die beiden christlichen Frömmigkeitstypen nicht zur Deckung zu bringen sind, so unterscheiden sie sich doch lediglich in dem Bedürfnis nach reflexiver Vergewisserung. Die an Jesu Nachfolge orientierte ‚intuitive‘ Frömmigkeit, die „ungestört durch den prinzipiellen Gedanken eignen Unvermögens“433 keiner Reflexion über die Möglichkeit eines Lebens in der Nachfolge bedarf, und die sich auf Paulus berufende434 ‚paulinisch-augustinisch-lutherische Stimmung‘ des „absoluten eignen Unvermögens“, die sich allererst Rechenschaft über Gottes Gnadenhandeln geben muss, bilden die Pole zwischen denen fortan die christliche Religionsgeschichte „ozillieren“435 wird, denn sie entsprechen laut Bousset bestimmten humanen Selbstverhältnissen436. Mit der Entfaltung der im Evangelium angelegten Gehalte kann nun „[...] in den beiden Grundstimmungen die ganze Fülle und Spannungs-

429 NJP 246. 430 Bousset, Paulus, 1308. 431 NJP 247. 432 NJP 246. 433 NJP 247. 434 Notabene: gerade in den späteren Schriften Kyrios Christos und Jesus der Herr zeigt Bousset, dass Paulus in seiner pneumatischen Frömmigkeit keineswegs ein geängstigtes Gewissen hatte. Dass hingegen Paulus’ Wirkung gerade in der Prägung dieser ‚paulinisch-augustinisch-lutherischen‘ Stimmung lag, ist für Bousset nur als Reflex auf seine Gottes gnädiges Handeln reflektierende Tatsachentheologie zurückzuführen. Diese christentumsgeschichtlich höchst bedeutsame Rezeptionsform der paulinischen Theologie bezeichnet Bousset dann später als kirchlich „temperierte[n] Paulinismus“ (JdH 94). 435 NJP 247. 436 Vgl. NJP 247: „Je nach Anlage, Charakter, Lebensführung werden die einen näher bei Jesus, die andern näher bei Paulus stehen.“



Das johanneische Christentum

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energie seines Wesens“437 seine Wirkung in Kraft setzen. Paulus kommt sodann das Verdienst zu, einer reformatorischen Überzeugung einen ersten Ausdruck gegeben zu haben, nämlich den Glauben, [...] daß Gott dieses [sc. Gottes Wohlgefallen] in ureigenster Freiheit dem Menschen schenke. Und damit hat P[aulus] den letzten und tiefsten Grundsatz aller Religion ausgesprochen. Denn alles wahrhaft religiöse Leben ruht auf der Überzeugung, daß Gott alles wirkt und der Mensch nur das von Gott gegebene Werk treibt, daß Gott gibt und der Mensch nimmt. Diese tiefe religiöse Überzeugung steht hinter allen Beweisen, leuchtet aus seiner ganzen Persönlichkeit heraus.438

Dass nun seine Theologie, die geprägten Formen, Denkmöglichkeiten und geschichtlich gebundenen Deutungsmuster, deren man sich – bewusst oder unbewusst – bediente, zu etwaigen Verengungen und Belastungen der „Erfassung er bedingungslosen sündenvergebenden Gnade Gottes“439 führten, die gleichsam das Proprium schlechthin der christlichen Religion bildet, kann nach Bousset erst eine aufgeklärtere Zeit erkennen. Erst mit dem Wissen darum, was Religion ist, was insbesondere christliche Religion ist, kann im Paulinismus unterschieden werden, was frommer Kern, was theologische Schale ist.440

3.3 Das johanneische Christentum als wirkmächtigste Gestaltung christlicher Religiosität Nachdem in den vorausliegenden Abschnitten der Vorgang der „akuten Orientalisierung“441 der christlichen Religion im Rahmen der Darstellung von Boussets Rekonstruktion der paulinischen Theologie beschrieben und die in diesem Medium sich vollziehenden theologischen Selbstverortung Boussets analysiert wurde, soll nun in einem weiteren Schritt dasselbe heuristische Schema auf Boussets Rekonstruktion der johanneischen Frömmigkeit angewendet werden. Dies ist insofern von großem Interesse für eine Bestimmung seines Christentumsverständnisses, weil Bousset insbesondere in seinen religionsphilosophischen Schriften die gesteigerte „religiöse Wirksamkeit“442 des Johannesevangeliums stets hervorhebt. Dies hat nun nach Bousset, wie unten noch genauer darzustellen ist, zuerst damit zu tun, dass sich die johanneische Frömmigkeit ein Bild Jesu entwirft. Damit fragt der christliche Glaube in der Gestalt der johanneischen Frömmigkeit also gerade 437 NJP 247. 438 Bousset, Paulus, 1302; Hervorhebung JH: 439 Bousset, Paulus, 1305. 440 Vgl. RK 28. Letztlich waren für Bousset die „Inkarnationchristologien des Urchristentums [...] anschauliche Symbole des Kultus“ (ders., Heidenchristentum, 1953). „Für eine rein monotheistische Persönlichkeitsreligion war die Zeit noch nicht reif “ (ebd.). 441 KC XV. 442 BPJG 17.

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Die Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums

„[...] nicht nach der geschichtlichen Wirklichkeit im engeren Sinn, sondern nach dem Religiösen und sittlich Brauchbaren [sc. der Jesusüberlieferung], er bleibt bewusst oder unbewusst beim Bilde stehen.“443 Hierin ist die johanneische Frömmigkeit durchaus ein Urbild des Selbstvollzuges des christlichen Glaubens. Boussets Rekonstruktion der Genese der johanneischen Frömmigkeit geht ebenfalls mit derselben heuristischen Perspektive wie bei der paulinischen Frömmigkeit vor. Ausgangspunkt für jede fromme Lebensäußerung ist der Kult der Gemeinde. Die Kultfrömmigkeit bildet gleichsam den Hintergrund der „freieren“444 Frömmigkeit des johanneischen Schriftkreises. Die johanneische Frömmigkeit liegt somit prinzipiell „in der Linie des paulinischen Christentums“445:

Hier wie dort ist die Religion Christusfrömmigkeit geworden [...], hier wie dort ist der Christus eine in jedem Augenblick gegenwärtige, geistig persönliche Macht; das kultisch Sakramentale ist in den Hintergrund gedrängt und vom persönlichen Geistigen überwunden, aber es verschwindet nicht, es bleibt die selbstverständliche Voraussetzung, auf der sich eine freiere Geistigkeit erhebt. Auf dem Fundament des Gemeindekultus hat sich hier wie dort eine geistige, persönliche Religion erhoben.446

‚Geistig, persönliche Religion‘ ist die johanneische Frömmigkeit für Bousset zunächst aufgrund der Fähigkeit, das erfahrene Gottesverhältnis nicht nur eklektisch auf den kultischen Vollzug zu beschränken, sondern es analog der pneumatischen Frömmigkeit des Paulus auf das ganze Christenleben zu entschränken. Der kyrios des Christuskultes wird auch in der johanneischen Frömmigkeit zum religiös-sittlichen Prinzip, das wiederum Grund des ungetrübten Erlösungsbewusstseins des johanneischen Christen ist. Ausdruck jenes auf Dauer gestellten Gottesverhältnisses ist die johanneische Gottesmystik, die Bousset als Fortentwicklung der paulinischen Christusmystik auffasst.447

443 BPJG 17. 444 KC 180. 445 KC 154; vgl. auch ebd 180: „‚Johannes‘“ steht [...] auf den Schultern des ‚Paulus‘“. Zu den „unpaulinisch[en]“ Zügen der johanneischen Frömmigkeit vgl. ebd. 181. 446 KC 180. 447 „In dieser Entwicklung zeigt sich deutlich: die Jesus-Mystik ist der Weg zur Gottesmystik“ (KC 177; vgl. ebd. 120). Jene fromme Selbstdeutungsfigur der Gottesmystik musste notwendig mit der urchristlichen Eschatologie brechen, denn die seligen Güter besitzt der johanneische Christ – trotz formaler Aufrechterhaltung des eschatologischen Vorbehalts – „schon jetzt“, wie Bousset als ein prägnantes Charakteristikum johanneischer Frömmigkeit hervorhebt: „Die religiöse Mystik des Johannes-Evangeliums aber räumt mit der Eschatologie fast restlos auf. [...] Die wenigen Wendungen, welche das Eschatologie noch festhalten, stehen mit der Grundüberzeugung des Evangeliums in keinem organischen Zusammenhang. [...] [d]as Heilsgut wird aus der Zukunft in die Gegenwart verlegt.“ Dies stellt freilich eine „große Umdeutung“ urchristlicher Eschatologie dar (KC 177). Entsprechend wird dann auch der Menschensohntitel umgedeutet; zur „Vergeistigung des Menschensohntitels“ vgl. ebd. 156.



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3.3.1 Das ‚Milieu‘ der johanneischen Frömmigkeit In der „Idee der Vergottung durch Gottesschau“448 erkennt Bousset eine bedeutende Analogie zur hellenistischen Frömmigkeit und ihrer ekstatischen Epoptie, der Gottesschau als Vergottung des Mysten.449 Dies ist das „Milieu“, in dem die johanneische Gottesmystik historisch verständlich wird.450 Zwar ist sie formal „eschatologisch umgestaltet“, doch jenen eschatologischen Vorbehalt meint Bousset auch in den beigebrachten religionsgeschichtlichen Parallelen prinzipiell angelegt zu sehen.451 Hierin unterscheidet sich die johanneische Frömmigkeit also kaum vom religiösen Leben der Antike. Dass freilich das Johannesevangelium die Rede von einer Vergottung des Schauenden dann doch meidet, wie Bousset beobachtet, und anstelle dessen vom Ewigen Leben redet, erklärt sich Bousset ferner mit dem „instinktive[n] Gefühl“452 der bleibenden Unterschiedenheit des johanneischen Frommen von Gott – letztlich seien allerdings ‚Vergottung‘ und ‚Ewiges Leben‘ „Korrelatsbegriffe“453. Ganz analog der paulinischen Christusmystik besteht für Bousset das christliche Proprium jener Gottesmystik in der nicht aufhebbaren Selbstunterscheidung des frommen Subjekts von der göttlichen Wirklichkeit, die die hellenistischen Mysterienreligion auf dem religiösen Höhepunkt ihre Mystik, der Gottesschau, gerade nicht intendierten. Und wie bei der paulinischen Christusmystik führt Bousset jenes ‚instinktive Gefühl‘ der Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf auf einen nicht benennbaren Impuls des monotheistischen Evangeliums Jesu zurück.454 Dieser religionsgeschichtlich beschreibbare Vorgang der ‚Amalgamierung‘, den Bousset beispielsweise in seiner Wesensschrift beschreibt,455 vollzieht sich also auch in der johanneischen Frömmigkeit und lässt sich nach Bousset schon jetzt durchaus als produktive Fortbildung christlicher Frömmigkeit beschreiben. 448 KC 164. 449 Vgl. KC 164. 450 KC 168. Insgesamt erkennt Bousset eine „Abhängigkeit der Sprache des Johannes-Evangeliums von diesem Milieu der hellenistischen Mysterienfrömmigkeit“ (KC 174). Hier ordnet Bousset sodann auch den gnostisierenden „Dualismus“ von Licht und Finsternis wie auch das Begriffspaar ‚Licht und Leben‘ ein (ebd. 175). Auch hier ist wieder kein direktes Abhängigkeitsverhältnis zu erwarten, sondern allein der „gemeinsame Boden der Sprache einer mysteriösen Frömmigkeit“ (ebd. 175), zu der Bousset eben auch die johanneische Frömmigkeit rechnet. Aber ungeachtet dessen gilt für Bousset wieder, dass „[d]amit die Originalität des Evangeliums nicht geschmälert [wird]“ (ebd. 176). Denn erst auf diesem religionsgeschichtlichen Hintergrund lässt sich das „Neue“ der „großartige[n] Konzeption“ (ebd.) begreifen, nämlich die Bindung der Gottesschau an das Jesusbild! 451 Vgl. KC 168; auch bei Paulus seien „Fragmente“ jener Frömmigkeit erkennbar. Bousset verweist auf 2Kor 13. 452 KC 169. 453 KC 169. 454 Vgl. Kap. 3.2.3. 455 Vgl. WdR 219.

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Die Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums

3.3.2 Die Ambivalenzen der johanneischen Gottesmystik Dieser relative Fortschritt gegenüber dem bloßen Sakramentalismus des neuen heidenchristlichen Kultvereins, Boussets ‚Vulgärchristentum‘456, darf jedoch nicht über die Ambivalenzen jener ‚freieren‘ Frömmigkeit hinwegtäuschen. Denn ähnlich Paulus’ pneumatischer Frömmigkeit vermisst Bousset in der johanneischen Frömmigkeit einmal das Sündenbewusstsein, das angesichts des übersteigerten Erlösungsbewusstseins kaum zur Geltung kommt.457 Sodann ist ferner die kultische Gebundenheit der Christusfrömmigkeit und damit auch die im johanneischen Schriftkreis beobachtbare „Verdopplung des Objektes des christlichen Kultus“458 selbst durch die vermeintlich freiere Gottesmystik kaum durchbrochen. Zwar ist das Beharren der johanneischen Frömmigkeit auf der Verehrung Jesu Christi historisch begreiflich vor dem Hintergrund des „bewußte[n] Gegensatz[es] zum Judentum“459, nichtsdestotrotz schließt dies für Bousset dieselben problematischen Folgen in sich, die er auch schon am paulinischen Glaubensverständnis aufwies. Auch der johanneische Glaube hat seine Mitte im „Glaube[n] an ihn [sc. den Sohn Gottes Jesus Christus].“460 Jesus von Nazareth wird als Erlöser empfunden, der „[...] in wunderbarem Wort und Werk über die Erde [wandelt]. Und umflossen ist er von Anfang an von den Wunderströmen des Sakraments.“461 Für Bousset stellt dies freilich ein rundweg unhistorisches Jesusbild dar, denn auch der johanneische Christus hat weder eine persönlich-religiöse Entwicklung noch menschliche Affekte gekannt – „[v]on Anfang an fertig tritt Jesus in die Öffentlichkeit hinaus [...]“462; und entsprechend wird laut Bousset das Rätsel des Kreuzestodes ausgehend von jener Christologie in die Vorstellung der Erhöhung aufgelöst.463 Auch hier erkennt Bousset das Interesse des johanneischen Frommen, Jesus, den Grund seines Erlösungsbewusstseins, „toto genere“464 verschieden zur verderbten Masse zu wis-

456 Vgl. KC 158. 457 Vgl. KC 182: „[D]agegen finden wir die paulinische Behauptung von der Sündlosigkeit des Christenlebens zu einer fast erschreckenden Schroffheit [...] gesteigert: ‚Wer aus Gott geboren ist, sündigt nicht‘.“ Als Reflex des unterbestimmten Sündenbewusstsein ist ferner „[d]das Evangelium von der Sündenvergebung, wie es Jesus verkündete, [...] noch mehr verschwunden; an seine Stelle tritt die Botschaft von der Erlösung und dem Erlöser.“ (ebd. 183). Entsprechend wird Jesu Christi Tod als „Erhöhung und Verherrlichung“ (182) gedeutet, sodass nach Bousset in der johanneischen Frömmigkeit trotz der hohen Christologie der Opfergedanke fast verschwunden ist (vgl. ebd. 182 mit Anm. 2). 458 KC 157. 459 KC 157. 460 KC 157. 461 KC 160. 462 KC 160. 463 Vgl. KC 160: „[S]sein [sc. Jesu Christi] Tod ist Erhöhung, ist Offenbarung seiner Herrlichkeit.“ 464 KC 183.



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sen. Er ist der „Mystagoge“ der Mysterienreligionen, der mit seinem geheimen, göttlichen Wort die Seinen erlöst.465 Jenes erlebte und als solches von den johanneischen Frommen gedeutete Offenbarungshandeln kann für das religiöse Bewusstsein nach Bousset also nur in einer Theorie vom Erlöser münden, die ihn aus dem kreatürlichen Zusammenhang nimmt. Dies ist gleichsam die dogmatische Form orthodoxer Christologie, die Bousset als ausgearbeitete Theorie unmöglich wurde. Auch die Beobachtung, dass sich die Frommen im johanneischen Christentum als philoi, als Freunde des Christus und Gottes, als Gotteskinder verstehen, gewährt zwar Bousset „einen tiefen Einblick in Wesen und Eigenart johanneischer Frömmigkeit“466 – die sich gegenüber der paulinischen Frömmigkeit durch ihre Ruhe467 im Gottes- und Christusverhältnis auszeichnet –, die ontologische Unterscheidung des Erlösers von den Seinen bleibt ungeachtet dessen in der johanneischen Christologie in Geltung. Die Probleme, die sich jene freiere, geistige, sich auf ihrer Christusmystik gründende johanneische Frömmigkeit erwirbt, lassen sich für Bousset sodann in den schon in seiner Paulusdeutung herangezogen Mustern seiner Problembeschreibungen exemplifizieren. Zuerst ist es freilich die Gefahr eines Polytheismus in der doch ursprünglich und wesentlich monotheistisch verfassten christlichen Religion. Jene Gefahr des Polytheismus stellt sich schnell ein, wenn im Rahmen des kultischen Vollzugs, der ja auch im johanneischen Christentum den Mittelpunkt des religiösen Lebens bildete, im hymnischen Enthusiasmus Jesus mit göttlichen Attributen ausgestattet wurde. Dass jene freiere Religiosität im Rahmen ihrer kultischen Vermittlung auch immer wieder den Verengungen eines Sakramentalismus ausgesetzt ist, bildet einen Angelpunkt sowohl in Boussets Religionstheorie und der dort eingeholten Bedeutung des Kultes für das religiöse Leben als auch in seinen religionsgeschichtlichen Beobachtungen. Religion, auch die johanneische, ist demnach immer an den Kultus gebunden und gleichzeitig von diesem in ihrem freien Vollzug bedroht. Als Korrelat zur hohen Christologie erblickt Bousset sodann die für ihn offenkundig höchst problematische Tendenz eines übersteigerten kirchlichen Exklusivismus, der gleichsam zur Signatur der geschichtlichen Erscheinung des johanneischen Christentums gehört. Zum Ausdruck kommt jener, schon im paulinischen Christentum angelegte Dualismus in der johanneischen Selbstbeschreibung anhand des Gegensatzes zwischen erwählter Gemeinde und verstockter Welt. Entgegen der Grundstimmung der paulinischen Frömmigkeit, die immer wieder über jenes exklusivistische Denken hinausdrängt, ist es laut Bousset der johanneischen Frömmigkeit jedoch eigentümlich, „[sich] [...] in einer fast erschreckenden Weise

465 KC 169; vgl. auch KC 170f. 466 KC 155. 467 Vgl. KC 181: „Kam Paulus im Brausen des gewaltigen Sturmes, in vulkanischen Feuer und Erdbeben, so zieht hinter ihm her die stille und erhabene Ruhe des vierten Evangelisten.“

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bei jenen Gegensätzen [sc. von Kirche und Welt] zu beruhigen.“468 Bousset sieht also den Heilsuniversalismus des Evangeliums in diesem christlichen Frömmigkeitstypus faktisch unterminiert. Jenen Bruch in diesem von Bousset an sich hochgeschätzten Typus urchristlicher Frömmigkeit versucht er nun durch den Verweis auf die Genese der johanneischen Frömmigkeit begreiflich zu machen. Genetisch ist der kirchliche Exklusivismus nämlich hinlänglich auf dem Hintergrund des Emanzipationsstrebens der johanneischen Frömmigkeit von der ebenfalls kirchlich-exklusivistisch verfassten Synagoge zu begreifen. Der johanneische Exklusivismus ist also für Bousset eigentlich nur „empirischer Natur“469 und liegt somit eben nicht im Wesen johanneischer Frömmigkeit verankert. Und so erkennt Bousset in der johanneischen Frömmigkeit trotz jenes faktisch härteren „praktischen Dualismus“ zwischen niederer Schöpfung und supranaturaler Erlösung auch immer wieder Motive, die jenen historisch gewachsenen, in der religiösen Gemeinschaftsform ‚Kirche‘ potenziell angelegten Dual wieder unterlaufen. Entgegen dem paulinischen Auseinandertreten von Schöpfung und Erlösung, das Paulus eben theologisch durch seine Pneuma-Sarx-Lehre eingeholt und so allererst jene Trennung dogmatisch fixiert hat, erkennt Bousset bei Johannes wieder – abzüglich aller kontingent gewordener Abgrenzungsmechanismen einer kirchlich verfassten Religionsgemeinschaft – die Tendenz, zuletzt beides wieder in ein enges Verhältnis zu setzen: „[D]ie bei Johannes nur zeitweilig aufklaffende Kluft zwischen Schöpfung und Erlösung [schließt] sich doch wieder zu.“470 Dies zeigt sich bei Johannes zuerst in schöpfungstheologischen Aussagen, die den Kosmos wieder in die gute Schöpfung Gottes eingliedern und ihn nicht als widergöttliches Prinzip stehen lassen. Die johanneische Frömmigkeit meidet also die theologischen Härten des Paulinismus, indem sie auf eine ‚geschlossene‘ theologische Spekulation über das Verhältnis von Schöpfung und Erlösung verzichtet und so – trotz jenes faktischen Dualismus – offenkundig unterbewusst einen Weg finden kann, beide Heilsgrößen doch wieder aufeinander zu beziehen und sie nicht auseinander fallen zu lassen. Den „fortwährenden Stimmungswechsel“471 in den johanneischen Schriften erklärt sich Bousset also letztlich mit der geschichtlichen Einbettung der johanneischen Frömmigkeit wie auch anhand einer bestimmten religionssoziologischen Logik – das Eigentümliche bleibt unangetastet.

468 KC 182. 469 KC 182. 470 KC 183. 471 KC 182.



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3.3.3 Das erlösende Bild Jesu Christi Teilt die johanneische Frömmigkeit also mit dem paulinischen Christentum Ambivalenzen einer hohen Christologie, so erkennt Bousset im Christusbild des johanneischen Schriftkreis doch noch eine bedeutende Abweichung gegenüber dem paulinischen Erlösermythos: „Glaube [sc. an Christus] ist nicht ein Glaube an dies und das, an bestimmte Tatsachen, wie Tod und Auferstehung [...], sondern ein Sichversenken in das Ganze, in die Fülle seines [sc. Jesu Christi] Wesens.“472 Entgegen der paulinischen Adaption des Erlösermythos der Mysterienreligion, die sich laut Bousset noch ganz mit den erlösenden Tatsachen der Geburt, des Todes und der Auferstehung473 bescheiden könne, stellt die johanneische Frömmigkeit ihren Fokus auf die Fülle des Lebens des Erlösers ein, wie es die urchristliche Tradition überlieferte. Sie setzte so jene ‚dogmatische‘ Verkündigung vom „überweltlichen Gottessohn“, die die johanneische Frömmigkeit mit allen heidenchristlichen Gemeinden nach Bousset zur Voraussetzung hat, mit der Jesus-Überlieferung in Beziehung und erreichte so ein in sich geschlossenes Bild, das nunmehr jene heidenchristlich-paulinische Verkündigung von den Heilstatsachen „aus der Ab­ straktion herausgenommen und zur lebendigen Anschauung gebracht [hat].“474 Indem nun das spezifisch dogmatische Interesse der Gemeinde – die Inkarnation des Wortes Gottes475 – bezogen wurde auf die menschlichen Züge Jesu, die die Urgemeinde in ihrer unüberbietbaren Konkretheit überlieferte, konnten sich beide Pole einander korrigieren. Freilich bedeutete dies, dass jene menschlichen Züge am Jesusbild sich stetig verklärten und sich somit von der Person des historischen Jesus immer mehr ablösten. Doch gerade so wurde nach Bousset einerseits das für den subjektiven Glauben und seiner Selbstdeutung Elementare, das „Religiöse und sittliche Brauchbare“476, das in der Jesusüberlieferung tradiert ist, mit der Aura des Heiligen umkleidet. Das überlieferte Jesus-Narrativ wurde vielmehr schon im Lichte des Glaubens an den inkarnierten Gottmenschen gedeutet, was freilich eine Korrektur gegenüber den Synoptiken und ihrer ungleich konkreteren Darstellung von Person und Werk Jesu bedeutete: „[...] der zitternde und zagende Jesus von Gethsemane ist verschwunden [...]; verschwunden ist die heiße Seelennot, mit der Jesus von Nazareth um die Seele seines Volkes ringt“477, nun tritt der fast affektlose Gottessohn auf, der als Werkzeug der Heilsgeschichte allein Einblick in den Plan Gottes hat. Dieses Bild, das für sich in Anspruch nimmt, „Bild[] des historischen

472 KC 171; Hervorhebung JH. 473 Vgl. BPJG 4. 474 KC 162. 475 Vgl. KC 161: „Es soll doch die Position gehalten werden ‚das Wort ward Fleisch‘. Es ist vom Menschlichen gerade so viel übriggelassen, daß es einen gewissen Rahmen abgibt für das Göttliche.“ 476 S. o. Anm. 443. 477 KC 160.

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Jesus“478 zu sein, ist von Bousset freilich als phantastische Dichtung des Gemeindebewusstseins erkannt. Und trotzdem schreibt er diesem Bild eine seinerzeit bisher nicht gekannte religiöse Überzeugungskraft zu. Dies scheint für Bousset nicht zuletzt an jener ‚lebendigen Anschauung‘ gelegen zu haben, die die Gemeinde nun von ihrem Erlöser hatte Ist also einerseits das Menschliche an Jesus Christus im Johannesevangelium im Lichte seines göttlichen Wesens betrachtet – Jesus als der allwissende Mystagoge –, so hat Johannes es andererseits „mit großer Kunst [...] erreicht, daß, auf das Ganze des Bildes gesehen, doch nicht der Eindruck des Zauberhaften und Gespenstischen entsteht.“479 Trotz der eigentümlichen Verklärung jenes Bildes durch die dogmatische Gesamtanschauung der johanneischen Frömmigkeit hat Johannes es verstanden, es zu vermeiden, dass alle menschlichen Züge im Angesicht des Inkarnationsgedankens beseitigt worden wären: „Er hat das Wenige von Menschlichkeit an dem Bilde Jesu, was auf dem Boden dieser Gesamtanschauung [sc. die Inkarnation des Gotteswortes] noch zu halten war, gerettet und gestaltet. Er hat den Mythos mit der Geschichte ausgesöhnt, soweit das überhaupt noch möglich war.“480 Bousset erklärt das apologetische Interesse des Johannesevangeliums historisch mit dem Aufkommen einer der frühsten christlichen Häresien, dem Doketismus, die gemäß Boussets Rekonstruktion eine bedeutende Rolle für die Genese der johanneischen Frömmigkeit spielte. Bousset rechnet mit einer sich „tief in die genuinen christlichen Kreise“481 erstreckenden Ausbreitung des Doketismus, dessen theologisches Interesse Bousset gerade in der „definitive[n] Ablösung der christlichen Religion vom irdischen Leben Jesu von Nazareth“482 erblickte. Die Beziehung des christlichen Glaubens auf ihren Stifter Jesus von Nazareth war also durch die Mythisierung des Ursprungs der christlichen Religion auf Grundlage der Lehre, dass Jesus nicht ‚im Fleische‘ erschienen sei, akut gefährdet. Und so ist es nach Bousset gleichsam Johannes’ historisches Verdienst – ungeachtet der unhistorischen Verklärung, die auch sein Bild von Jesus von Nazareth prägt –, an der Rückbindung des christlichen Glaubens an das überlieferte Leben der Person Jesu festzuhalten – den Glaube also auf seine Geschichte zu beziehen: „Der große Gedanke, den er natürlich nicht mit Bewußtsein, sondern instinktiv erfaßte, war der, Mythos und Dogma in die Geschichte ganz zurückzutragen. [...] nun galt es, die Geschichte ganz im Mythos aufzulösen und für diesen transparent werden zu lassen.“483 Auch im Johannesevangelium erkennt Bousset aus historisch-kritischer Distanz zunächst die allgemeine Tendenz jener Zeit, dass der Mythos vom sich inkarnierenden Logos sukzessive die individuell-geschichtlichen Züge der Person Jesu ver478 KC 158. 479 KC 161. 480 KC 162. 481 KC 159. 482 KC 159. 483 KC 159.



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drängt. Dies liegt nach Bousset gewissermaßen im Wesen des Mythos, dass er, wenn er einmal mit einem geschichtlichen Individuum verbunden wird, letztlich alle individuellen Konturen beseitigt – zum Äußersten ist dies allerdings nur im Doketismus getrieben.484 Bei Johannes ist nach Bousset die theologische Absicht hinter der Aufhebung der Geschichte in den Mythos nochmal eine andere. Denn trotz jenes mythisch geprägten Bildes Jesu ist es doch gerade seine Intention, die Geschichtlichkeit des Erlösers unter keinen Umständen preiszugeben. Johannes lese nun entgegen der Enthistorisierungstendenzen des Doketismus die Ursprungsgeschichte der christlichen Religion im Licht des Mythos. Freilich ist auch dies in Boussets Rekonstruktion wieder ein Vorgang, den Johannes sicher nicht bewusst ausgeführt hat. Für ihn ist zweifelsohne der Gottessohn auf Erden gewandelt – und dies war im Rahmen eines antiken Wirklichkeitsverständnisses gar nicht einmal außergewöhnlich. Unterbewusst hat er aber – wie Bousset auf Grundlage seiner Religionstheorie postuliert – hiermit eine bedeutende Weiterbildung vollzogen, indem er nun die Geschichte für den Mythos ‚transparent‘ macht. Dass damit freilich faktisch die Historie im engeren Sinn verlassen, ja ‚aufgelöst‘ ist, wie Bousset schreibt, gilt wiederum unbenommen. Transparent wird die Geschichte jedoch nun im Hinblick auf die göttliche Wirklichkeit, die gleichsam die Tiefendimension der Geschichte bildet. Indem nun Johannes durch jene Verbindung die Geschichte transparent macht für die sich offenbarende göttliche Wirklichkeit, fixiert er entgegen den antihistorischen Tendenzen seiner Zeit entschlossen die Idee einer geschichtlichen Offenbarung in der christlichen Religion, die laut Bousset jede geschichtliche Religion konstituiert.485 Zwar fällt der Mythos der Inkarnation als Wirklichkeitserklärung freilich für Boussets Gegenwart weg und auch hinsichtlich der dogmatischen Geltungsfrage schränkt er, wie gezeigt, die Bedeutung der mythischen christlichen Urgeschichte nicht unerheblich ein, aber das Konzept einer geschichtlichen Offenbarung als organisierendes Zentrum der geschichtlichen Religionen gibt er damit nicht preis.

3.3.4 Die Funktion des Bildes Jesu für den Glauben Das im Johannesevangelium aus Mythos und Geschichte entworfene Jesusbild hat nun für die johanneische Frömmigkeit eine ganz bestimmte Funktion – in ihm soll Gott geschaut werden:

484 Vgl. KC 159: „Eben erst hat sich aus der Gestalt Jesu von Nazareth der Mythos oder das Dogma ausgestaltet von dem pneuma-kyrios, dem Sohne Gottes [...] – da beginnt der Mythos sich gegen die Historie zu wenden und macht den Versuch, diese ganz zu beseitigen und sich allein auf den Thron zu setzen.“ 485 Vgl. BPJG 14.

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Beides eigentlich, die heilige Gottesschau und sein [sc. Jesu Christi] heiliges Mysterienwort, geben die Augenzeugen seines Lebens nun weiter. [...] Unter diesen Endzweck stellt der Evangelist sein ganzes Evangelium. Die Gemeinde soll diese Gottesschau an dem Jesusbild erleben. [...] vor allem auch soll ihr dies Buch [sc. das Johannesevangelium] dazu helfen.486

Die Funktion der Fixierung des Bildes Jesu im Johannesevangelium besteht also in Boussets Rekonstruktion darin, Glauben zu wecken. Und zwar indem jenes Bild – wohl im Rahmen des gottesdienstlichen Gebrauchs – zum Medium des Glaubens wurde, denn jene „den Menschen vergottende Schau [vollzieht sich] an dem Bilde des auf Erden erschienenen Gottessohnes.“487 Diese bewusste Fixierung eines Bildes von einem gelebten Leben ist dann gleichzeitig die eigentliche Fortentwicklung der christlichen Religion gegenüber der hellenistischen Mysterienfrömmigkeit, die sich im Johannesevangelium zum ersten Mal als eine für die christliche Religion „originale Anschauung“488 bezeugt. Denn jenes Bild setzt sich nicht mehr aus Abstrakta, wie dem gestirnten Himmel, zusammen, sondern will ein Personenleben abbilden, das wirklich in der Zeit gelebt hat – dies ist das eigentlich „Neue“489 gegenüber der Mysterienfrömmigkeit. Durch jene Fixierung eines fest umrissenen Bildes will Johannes eine religiös anschlussfähigere Alternative für die religiösen Bedürfnisse seiner Zeit schaffen, die Bousset eben im Drang nach der Mythisierung der eigenen Ursprungsgeschichte erblickt. Entsprechend erkennt Bousset in der Niederschrift des Johannesevangeliums den Willen, einen „Ersatz“490 zu den Synoptikern zu schaffen, die ihr Jesusbild, wie Bousset mehrfach betont, in unüberbietbarer Konkretheit gezeichnet haben. Johannes bringt in jener Fixierung unbewusst zweierlei zum Ausdruck, das für Boussets Religionstheorie von nicht geringer Bedeutung ist: einmal ist es das von Troeltsch in seinem Aarauer Vortrag prominent herausgestellte ‚sozialpsychologische Gesetz‘, dass sich eine Religionsgemeinschaft um das Bild des Religionsstifters schart. Auch Bousset hält dies, wie gezeigt, für ein wesentliches Vollzugsmoment des religiösen Lebens. Sodann ist es aber auch die Beobachtung, die Bousset ebenfalls bei Johannes gemacht hat, dass jene Gestaltung des Jesusbildes, das die Mitte des kultischen Lebens der christlichen Religion bildet, vom Glauben des Einzelnen bzw. der Gemeinde selbst abhängt.

486 KC 171. 487 KC 168. 488 KC 168. 489 KC 176. 490 KC 162.



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3.3.5 Die Produktionsbedingungen des johanneischen Christusbildes Die synoptische Darstellung des historischen Jesu war, wie gezeigt, für ein „solche[s] Zeitalter“ mit seiner Tendenz zur Auflösung der Geschichte in den Mythos „[...] viel zu irdisch und konkret, viel zu menschlich-jüdisch und beschränkt, viel zu wenig im Wunder und in der Idee aufgelöst.“491 Zwar erkennt Bousset den Versuch, jene stark individuellen Züge der Jesusüberlieferung zu glätten, freilich schon bei den späteren Synoptiker, doch genügte dies der johanneischen Frömmigkeit längst nicht mehr. Das Bedürfnis der Frömmigkeit war also für Bousset der Auslöser für den „großartigen Neubau“492 des Lebens Jesu in seiner Tendenz vom Individuellen zum Allgemeinen. Die Fixierung eines Bildes des Erlösers, „[...] das in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort aufgestrahlt“493, ist, wie oben gezeigt, für Bousset gleichsam das Proprium johanneischer Frömmigkeit. Deutlich markiert dies Bousset in einem prägnanten Zitat: „Mit alledem aber haben wir das, was an dem Christusglauben, namentlich des vierten Evangeliums, das eigentlich Besondere und Eigentümliche ist, noch nicht berührt. Das ist aber das von dem Evangelisten auf Grund seines Glaubens entworfene Jesusbild.“494 Zunächst fällt auf, dass über die Kreise des johanneischen Christentums hinaus Bousset das Personenbild Jesu als das ‚Besondere und Eigentümliche‘ der christlichen Religion im Vergleich mit anderen Ausprägungen des religiösen Lebens bestimmt, das offenkundig in jedem Fall gegeben sein muss, wenn die Christlichkeit der Religion gewahrt werden soll. Sodann zeigt sich, dass sich die Ausgestaltung des johanneischen Jesusbildes sich trotz der unhinterfragten Abhängigkeit von der urchristlichen Überlieferung zuerst dem Glauben der johanneischen Frömmigkeit verdankt. Das „verklärte[] Bild“495, das sich die johanneische Frömmigkeit von ihrem Erlöser entwirft, ist also, wie Bousset es in seiner Programmschrift Religion und Geschichte formuliert, eine „Wechselwirkung von Vergangenheit und Gegenwart“496 und unterliegt damit exakt denselben Produktionsbedingungen, die Bousset eben in jenem Groninger Vortrag für die Symbolbestände des Glauben und hier am Beispiel des Christusbildes markiert hat. Diese Verbindung aus überliefertem Traditionsgut und dem gegenwärtigen Geltungsinteresse des Glaubens lässt – so Boussets religionsphilosophisches Postulat – in der Entfaltung der Religion durch die Religionsgeschichte das Allgemeingültige aus dem Individuellen immer mehr herauswachsen. Dies kann Bousset nun exakt an dem johanneischen Jesusbild exemplifizieren. Denn, wie oben dargestellt wurde, ist das johanneische Jesus491 KC 159. 492 KC 159. 493 KC 171. 494 KC 158; Hervorhebung JH. 495 KC 180. 496 RuG 41.

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bild die Zusammensetzung aus gegenwärtiger religiöser Überzeugung, dass Jesus der Gottessohn ist und den urchristlichen Überlieferungsbeständen des Lebens Jesu. Dieses Geschichtlich-Individuelle wird nun durch die Synthetisierungsleistung des Glaubens transparent für das Allgemeingültige, das im johanneischen Zeitalter freilich noch in mythischer Form firmierte.

3.3.6 Die johanneische Frömmigkeit als exemplarische Ausdrucksgestalt christlicher Frömmigkeit – eine Zwischenbilanz Die johanneische Frömmigkeit bildet in Boussets Rekonstruktion der Urchristentumsgeschichte eine bedeutende Etappe. In jenem Typus christlicher Frömmigkeit kommt nämlich etwas zur Entfaltung, das in Boussets Urteil insgesamt zum Grundvollzug christlicher Frömmigkeit gehört. Dies ist zunächst die Bindung der christlichen Frömmigkeit an ein Bild ihres Religionsstifter Jesus von Nazareth. Dies wird in der johanneischen Frömmigkeit für Bousset zum ersten Mal zum Paradigma des christlich-religiösen Lebens erhoben. Und dies geschieht entgegen den der johanneischen Frömmigkeit vorausgehenden Typen christlicher Religion doch im vollen Bewusstsein, dass der Glaube Bilder braucht, um sich zu entfalten und so allererst lebensbestimmend werden zu können. Dies darf freilich nicht so verstanden werden, als wüsste Johannes in Boussets Rekonstruktion schon um die religionspsychologische Notwendigkeit des religiösen Gebrauchs von Bildern und Symbolen durch den Glauben. Sodann ist in der johanneischen Frömmigkeit eine Bildervielfalt bzw. eine gewisse Variabilität des Jesusbildes nicht vorgesehen, sodass auch die johanneische Bildfrömmigkeit letztlich eine Autoritätsstruktur in sich trägt, die für Boussets an religiöser Autonomie orientiertes Glaubensverständnis ein Rezeptionshindernis darstellt. Ungeachtet dieser normierenden Intention des Johannes verläuft der Aneignungsprozess gemäß Boussets Religionstheorie im frommen Subjekt faktisch individuell je unterschiedlich. Dass für Bousset Johannes also jenes Bedürfnis des Glaubens nach Bildern und Symbole aus der eigenen Tradition in einer wohl nur instinktiv gefassten, unbewussten Ahnung zu ihrem Recht verhilft, ist hier nicht weiter wichtig. Bedeutsam hingegen ist, dass die johanneische Frömmigkeit sich vor die Notwendigkeit gestellt sah, sich selbst ihr eigenes Christusbild zu entwerfen.497 Hier zeigt sich explizit die jeder Generation aufgetragene Aufgabe, sich selbst unter Zuhilfenahme der Tradition ein Bild von Jesus Christus zu entwerfen. In der johanneischen Frömmigkeit ist nun jene von Bousset religionstheoretisch eingeholte und begründete Beobachtung der Bezogenheit des Glaubens auf Symbole und Bilder zum ersten Mal in der Christentumsgeschichte im vollen Bewusstsein ausgeführt.

497 KC 171.



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Den oben skizzierten Überbietungsgestus gegenüber den Synoptikern sieht Bousset freilich kritisch. Denn gerade im Zusammenspiel und Gegeneinanderhalten mit dem synoptischen Jesusbild konnte die noch junge christliche Religion einer Gefahr entgehen, nämlich dass der im kultischen Vollzug bzw. in einer mystischen Gemeinschaftsvorstellung gegenwärtig erlebte Herr und das durch die Synoptiker bezeugte ‚Lebensbilde‘ vom geschichtlichen Individuum Jesus von Nazareth beziehungslos auseinanderfallen. Und gerade dem Johannesevangelium kommt der gleichsam ungewollte Verdienst zu, dieser Gefahr erfolgreich gewehrt zu haben, denn ungefragt in Geltung stand freilich nur der kultisch erlebte Kyrios. Die Frage war laut Bousset in neutestamentlicher Zeit eher, wie sich jener in Kultund Christusmystik erlebte Herr zum überlieferten Bild Jesu von Nazareth verhielt? Die johanneische Frömmigkeit hat diese drohende Kluft wieder geschlossen, indem sie die urchristlichen Überlieferungsbestände auf dem Hintergrund ihrer Christuserfahrung deutete und dies im Christusbild des Johannesevangeliums fixierte. Darin kommt jenem eine ungeheure Bedeutung für die Weiterentwicklung der christlichen Religion zu: So hat das vierte Evangelium nicht nur dies Wenige, das es selbst vom Leben Jesu bewahrte, gerettet, es hat verhindert, daß irgendwie die Diskrepanz zwischen dem synoptischen Lebensbilde Jesu von Nazareth und der altkirchlichen Verkündigung von dem Kyrios Christos sich im Bewußtsein der Christen erhob. Diese Bedeutung des vierten Evangeliums für die Entwicklung der christlichen Religion hat übrigens auch die kirchliche Tradition dunkel gespürt.498

Die synoptischen Überlieferungsstoffe wurden also erst durch das Johannesevangelium für den weiteren gottesdienstlichen Gebrauch im Gemeindeleben von neuem ratifiziert. Dass beides – das urchristliche Zeugnis vom Leben Jesu und das kultische Christuserleben – sich nun gegenseitig auslegen konnte, erhöhte freilich die missionarische Überzeugungskraft der expansiv ausgerichteten christlichen Religion. Aber auch hinsichtlich der religiösen Bedürfnisse in den Gemeinden entsprach nun laut Bousset jenes verklärte johanneische Bild Jesu als Verbindung von Mythos und Geschichte eher den Erwartungen eines mythisch geprägten Zeitalters, das sich von allem bloß Historischen freimachen wollte. Johannes muss, so Bousset, instinktiv gespürt haben, dass jene Tendenz zur Enthistorisierung und zur Auflösung der Person Jesu in den Mythos vom inkarnierten Gottessohn die Anschaulichkeit fehlt, über die das johanneische Bild vom Leben des Gottessohne Jesus von Nazareth noch trotz aller Verklärung verfügt. Jenes Bild Jesu als Produkt des johanneischen Gemeindebewusstseins und dem überlieferten Jesusnarrativ ist für Bousset daher eben nur als ein „großartiger Neubau“499 an der christlichen Frömmigkeit angemessen zu beschreiben. Denn weder die pneumatische Frömmigkeit des Pau498 KC 162. Zu den altkirchlichen Belegstellen, die Bousset vor Augen hat, vgl. ebd. 162 Anm. 2. 499 S. o. Anm. 492.

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Die Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums

lus, noch das hellenistische „Vulgärchristentum“500, das – analog den orthodoxen Strömungen im Christentum501 – mit dem im Sakrament realiter gegenwärtigen Herrn auskommen konnte, haben ein religiös wirkmächtiges Bild Jesu entwickeln müssen. Indem nun aber beide Ausgestaltungen christlicher Frömmigkeit hier vornehmlich bei den Heilstatsachen der Geburt, des Todes und der Auferstehung wie auch deren sakramentalen Vermittlung stehen bleiben, übergehen sie nach Bousset also gerade das Proprium des Christusglaubens502 – und sind daher hinsichtlich ihrer Gegenwartsrelevanz weniger anschlussfähig. Demgegenüber gehört es für Bousset gleichsam zur Grundsignatur johanneischer Frömmigkeit, dass sie „[...] mit einer völlig andern Andacht und Intensität bei dem Bilde des auf Erden erschienenen Jesus [verweilt].“503 Diese Hinwendung zu einer religiösen Betrachtung des ganzen Lebens Jesu ist für Bousset außerordentlich bedeutsam. Denn erst ein Lebensbild vermittelt die Anschaulichkeit, die der christlichen Frömmigkeit allererst ihre überwältigende Kraft – bis heute – verleiht. Nicht mehr einzelne Tatsachen bestimmten das Bild Jesu, sondern das mit vielerlei projektiven Elementen angereicherte Bild eines gotterfüllten Lebens. Und trotz jener Projektion des Glaubens, die aus gegenwärtigem Geltungsinteresse die Person Jesu als übergeschichtliche Realität zeichnet, geht das johanneische Bild darin nicht auf. Und so kommt im Bild des über die Erde wandelnden Gottessohne „immer wieder der Klang: ecce homo“504 zu Ohren. Andersherum wird nun durch die Hinwendung zum Lebensbild Jesu allererst die Geschichte für den Mythos transparent gemacht, d. h. erst jetzt wird die Geschichte in ihrer Bedeutung für die christliche Religion vollständig ins Recht gesetzt. Auch wenn für spätere Gestalten christlicher Frömmigkeit jene mythische Logoschristologie nicht mehr gilt, so hat die johanneische Frömmigkeit sich – und damit zugleich aller christlichen Frömmigkeit – zuerst bewusst die Aufgabe gestellt, sich selbständig ein Bild von Jesus Christus zu entwerfen. Gleichzeitig hat sie in ihrem Bild Jesu, als Ausdruck ihrer Frömmigkeit ein erstes wirkmächtiges Symbol geschaffen, an dem sich alle kommenden Gestalten christlicher Frömmigkeit wie auch die gegenwärtige christliche Frömmigkeit abarbeiten können. Jenes johanneische Glaubensbild mit seinen projektiven Elementen ist dann auch – so beobachtet Bousset – in der Christentumsgeschichte das religiös produktivste Bild gewesen, das das Urchristentum geschaffen hat. 500 S. o. Anm. 456. 501 Vgl. BPJG 4f. 502 Vgl. JdH 92, wo Bousset nochmals die Bedeutung der johanneischen Frömmigkeit für die Christlichkeit der Religion hervorhebt: „Schon in meinem Buch [sc. KC] habe ich hervorgehoben, was es bedeutete, daß Johannes an Stelle der paulinischen Christusmystik, die sich schon fast gänzlich von ihrem Ursprung losgelöst hatte, und doch auf dem Grunde paulinischen Glaubens ein Bild Jesu von Nazareth, des auf Erden wandelnden Logos, zu zeichnen versuchte, so gut er es vermochte.“ 503 KC 180. 504 KC 162.



Der Geist Jesu in der christlichen Religionsgeschichte

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3.4 Der Geist Jesu in der christlichen Religionsgeschichte – Zusammenfassung Die Rekonstruktion der Entstehung des Christusglaubens in Boussets Kyrios Christos ist nur ein Teilbereich der Gesamtdarstellung der Entstehung des frühen Christentums, wie Boussets vielerorts betont.505 Dies wird freilich oft verkannt, wenn Boussets Theorie von der Entstehung der christlichen Religion mit den Hauptthesen seines Kyrios Christos identifiziert wird. Boussets Deutung der Urchristentumsgeschichte erscheint dann zumeist als die Rekonstruktion eines synkretistischen Abfalls vom ‚einfachen‘ Evangelium Jesu. Zwar ist dies, wie Bousset selbst einräumt, tatsächlich die „Quintessenz der Entwicklung“506 von der monotheistischen judenchristlichen Urgemeinde zum hellenistischen Christuskult, doch gibt Bousset gerne zu, dass dies gleichsam „nur die eine Hälfte des Ganzen“507 darstellt. In dieser hat Bousset in der Tat zuerst die Diskontinuität zur Urgemeinde in Palästina betont. Der Christusglaube der hellenistischen Christen wird von Bousset vollständig mit dem kulturellen „Milieu“ verrechnet und erscheint somit nur mehr als ein „Tribut“508 an die hellenistische Umwelt des Neuen Testaments. Der Glaube an den neuen Gott Jesus Christus und dessen kultische Verehrung sind für Bousset also Ausgestaltungen christlicher Frömmigkeit, die vollständig im antiken Synkretismus aufgelöst sind. Allerdings bezieht sich dieses ‚Dekadenzphänomen‘ nur auf das hellenistische ‚Vulgärchristentum‘, auf die Masse, die im kultischen Enthusiasmus, ihren kyrios vergöttlicht und ihn anbetet. Insbesondere Boussets Paulus-Deutung versucht, dieses Vulgärchristentum nur mehr als Voraussetzung der paulinischen Frömmigkeit zu begreifen, die Paulus mit seiner Christusmystik aufbricht und transzendiert. Ist mit diesen für Boussets hochgradig problematischen Entwicklungen also nur die eine Hälfte beschrieben, so soll nachstehend die andere Hälfte kurz skizziert werden, die gleichsam den historischen Bewährungsgrund für Boussets Bekenntnissatz bietet, dass sich im Christentums die „über die Antike siegende Religion durchsetzte“509. Zunächst macht Bousset die Beobachtung, dass die junge Christenheit sich der „reichen Schätze des synagogalen Gottesdienstes“510 des hellenistischen Diasporajudentums bediente. Entgegen den nationalreligiösen Kultpraktiken, die 505 Vgl. nur JdH 92. Zum Plan einer Gesamtdarstellung der Entstehung des Christentums vgl. Reitzenstein, Bousset, 10f bzw. Boussets Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 185f). Diese sollte ein „die Gegner versöhnende[r] und Missverständnisse beseitigende[r] Abschluß seines Schaffens“ (Reitzenstein, Bousset, 12) werden. Er kam nicht mehr zur Ausführung. 506 JdH 90. 507 JdH 92. 508 JdH 92; vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 137: „Harnacks These von der Hellenisierung des Christentums durch die Integration griechischer Philosophie wird kultgeschichtlich reformuliert und radikal vordatiert. Die Hellenisierung ist kein sekundäres Phänomen, das erst mit der Gnosis und der Logos-Theologie einsetzt, sondern bestimmt die Entstehung des Christentums selbst.“ 509 JdH 93. 510 JdH 93.62.

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Die Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums

das Wohlergehen der Nation sichern sollten, ist der Diasporagottesdienst von jeder magischen Handlung befreit. Zwar hatte auch der Diasporagottesdienst immer auch eine Neigung zur Schriftgelehrtenfrömmigkeit bzw. zum Buchstabenglauben,511 ungeachtet dessen gilt nach Bousset, dass sich schon im Diasporajudentum eine „Gottesverehrung in Geist und Wahrheit“512 wenigstens anbahnte. Die schlichten Elemente aus Schriftlesung und deren Auslegung haben laut Bousset auch den christlichen Gottesdienst von Anfang an geprägt und neben dem sakramentalistischen Kyrioskult die christliche Frömmigkeitspraxis bestimmt. Dies sind die Grundvollzüge des gottesdienstlichen Handelns einer personalistischen Erlösungsreligion, in denen die Geschichte des Handelns Gottes aktualisiert wird. Hierher rührt das Selbstverständnis der geschichtlichen Religionen in eine große Offenbarungsgeschichte hineingestellt zu sein. Durch die alttestamentliche Schriftlesung ist aber auch der „prophetische[], kampfesfrohe[] und kampferprobte[] Monotheismus“513 präsent gehalten, der gewissermaßen ein Gegenlager zu den polytheistischen Tendenzen des Christuskultes der hellenistischen Gemeinde bildet. Zumindest hat der monotheistische Geist laut Bousset es vermocht, dass das Gebet zu Jesus bis in die Zeit der Alten Kirche nicht in die kirchliche Liturgie Einzug hielt.514 Ferner will Bousset den bisher in seiner Christentumstheorie nur als Tatsache der paulinischen Mission vorausgesetzten Universalismus stärker als ein Prinzip christlicher Frömmigkeit zur Geltung bringen, das nun nicht eine paulinische Erfindung ist, die er aus seinem heilsgeschichtlichen Erlösungsgedanken folgert. Vielmehr will Bousset zeigen, dass auch neben der paulinischen Mission es mannigfache, vom Heilsuniversalismus des Evangeliums überzeugte Missionsunternehmen gab, die nun auch „ohne das komplizierte paulinische Beweisverfahren“515, wie 511 JdH 62; vgl. Kap. 2.1.5. 512 JdH 93. Ein „Wortgottesdienst“ rahmte somit den „Sakramentsgottesdienst“ (KC 298) des Kyrioskultes. 513 JdH 92. 514 Vgl. JdH 93. 515 JdH 93. Für das nachapostolische Zeitalter denkt Bousset hier an einen Typ christlichen Lebens, den er insbesondere bei Klemens von Rom wiederfindet. Freilich stellt dieser Typus eine „Abstraktion“ dar, da auch in Rom „die treibende[n] und bestimmende[n] Faktoren mehr und mehr Kyrioskult und Sakrament werden“ (KC 303). Dennoch erkennt Bousset darin ein Christentum, das „im engsten Zusammenhang mit jüdisch-alttestamentarischer Frömmigkeit“ und „den Worten Jesu“ (ebd. 297) „[…] sich zur Religion des Monotheismus [entfaltet], des Glaubens an den allmächtigen Schöpfergott, der von aller partikularen Gebundenheit und von allem rituellen Wesen freien geistigen Sittlichkeit, des Glaubens an die Verantwortung und Vergeltung nach dem Tode, der Zuversicht auf die sündenvergebende göttliche Barmherzigkeit des Gottesdienstes in Geist und Wahrheit“ (KC 291). Bousset verhehlt nicht, dass dieses „einfachere[], rationalere[]“ Christentum für ihn gleichzeitig das „gesundere[] religiöse[] Leben“ (ebd. 289) darstellt. Hier habe sich noch deutlicher als in anderen Typen ein starkes Bewusstsein für die Gnade der Sündenvergebung halten können; außerdem konnte sich unter diesen Bedingungen eine hohe Ethik ausbilden. Andere, mehr an den „paulinischen Enthusiasmus“ und der „Betonung der Sakramentsgnade“ anschließende Typen des Christentums haben „das Evangelium von der Sündenvergebung im Allgemeinen gedämpft und zurückgedrängt“ (ebd. 296). Freilich sieht Bousset in diesem Typ die



Der Geist Jesu in der christlichen Religionsgeschichte

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Boussets Paulus’ Theologie abtut, missioniert hat. Auf der paulinischen Frömmigkeit lastet für Bousset offenkundig eine eigentümliche Ambivalenz, die Paulus „in einer solchen Gesamtdarstellung einen etwas bescheideneren Platz“516 einräumen würde. Paulus ist also für Bousset nicht einfach der theologische Ausleger und Fortsetzer Jesu – hierin stimmt Bousset mit Wredes Problemstellung überein –, wie Harnack und Wellhausen noch seine Gestalt deuteten.517 Um Paulus’ ‚eigentliche‘ Bedeutung für die Urchristentumsgeschichte ermessen zu können, wird man ihm nach Bouset nur gerecht, indem man ihn auf dem Hintergrund der kultisch bestimmten Frömmigkeit des Heidenchristentums zu begreifen versucht. Dann erst zeigt sich, dass das paulinische Christentum von einer ausgesprochenen Eigenständigkeit geprägt ist, die zwar nicht mit dem Evangelium Jesu zur Deckung zu bringen ist, die allerdings auch nicht in einen unvermittelbaren Gegensatz mit jenem steht. Vielmehr steht Paulus’ Christusmystik durch ihre ‚Ethisierung‘ und ‚Vergeistigung‘ des Kultes in direkter sachlicher Kontinuität zum Evangelium Jesu. Und so besteht Boussets Anliegen hinter dieser christentumstheoretischen Reduktion der Bedeutung des Paulus – was nicht mit einem schlichten Antipaulinismus zu verwechseln ist – darin, zu zeigen, „wie es eben doch der Geist Jesu und des Evangeliums war, der tatsächlich durch die Weltgeschichte wandelte.“518 Wredes Antithese zwischen dem formal partikularistischen Evangelium Jesu und der universalistischen paulinischen Predigt meinte Bousset also mit einer neuen Vermittlung unterlaufen zu können. Der bedeutendste Faktor für die Entstehung der christlichen Religion besteht für Bousset allerdings in dem „gleich in den ersten Anfängen“ gezeichneten Personenbild Jesu. Denn in dem Personenbild Jesu konnte nun allererst die religiöse Persönlichkeit des Stifters wirksam werden. Dies liegt nach Bousset zunächst daran, dass die Gemeinde nicht nur analog den Mysterienreligionen bloß heilsgeschichtliche Tatsachen überliefert hätten, vielmehr hätte schon die erste Gemeinde begonnen, Jesu „Worte und Parabeln“519 zu sammeln. Das Personenbild bzw. das Christussymbol symbolisiert so ein gelebtes Leben, das jedoch verklärte Züge trägt, da es

Christologie unterbestimmt: Jesus Christus ist der neue Gesetzgeber. Damit ist er aber lediglich „Vorbild[] im Tugendwandel“ (ebd. 301), und nicht, wie Bousset im Kontext seiner Apologetendeutung schreibt, „der Schöpferische Urheber des neuen Lebens in Gott“ (ebd. 330). 516 JdH 94. 517 Vgl. Wrede, Paulus, 90. 518 JdH 93. Auch ist es den „kirchlichen Vermittlungstheologie[n]“ (KC 362) um Irenäus mit ihrem „temperierten Paulinismus“ (ebd. 360) gelungen, dass Paulus „den Gnostikern entrungen [wird]“ (ebd. 360) und sein pneumatischer Enthusiasmus, „[…] der wohl eine alte Welt zu sprengen und zu vernichten imstande war, aber doch keine weltumfassende Gemeinschaft bauen konnte“, nun kirchlich rezipiert werden konnte. Die religiöse Überzeugungskraft der paulinischen Gedankenwelt wurde so gleichsam eingehegt, aber auch so allererst für eine Kirche rezipierbar. Unter der Oberfläche wirkt sie aber weiter: „Der Vulkan hat ausgeglüht, uns seine lodernden Lavamassen sind zum nährenden Fruchtboden einer neuen Welt geworden“ (ebd.). 519 JdH 92.

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Die Rekonstruktion der Entstehung des Urchristentums

immer mehr aller Individualität entkleidet wird. Im Johannesevangelium kommt dieser Vorgang im christlich-religiösen Leben exemplarisch zum Ausdruck. Dieses Christusbild ist für Bousset der hermeneutische Schlüssel, um die Entstehung des Christentums und dessen unerhörten missionarischen Erfolg verständlich machen zu können. Die Besonderheit des Christussymbols kommt laut Bousset sodann darin zu stehen, dass es weder seine Wandlungsfähigkeit verlieren, noch dass durch die Sammlung jener ‚Worte und Parabeln‘ eine Kontinuität zum historischen Jesus verloren gehen kann. Im Rahmen der Wesensbestimmung des Christentums ist das Christusbild als Träger des Geistes Jesu eine geschichtsmächtige Potenz, „die noch immer lebendig, mächtig und kräftig in unser Leben hineinzuwirken vermag.“520 Die Engführungen der christlichen Überlieferung, der „Schutt der Überlieferung“521, können so immer wieder aufgebrochen werden. Denn nach Bousset ist letztlich auch das Personenbild als Träger des Geistes Jesu, mit dem Paulus irgendwie vertraut gewesen sein muss, wie Bousset vermutet, der ausschlaggebende Faktor für den paulinischen Missionseifer. Das Christussymbol in seiner Pluriformität ist also Träger des Geistes Jesu, der wiederum vermittels des Bildes vom Leben Jesu die Christentumsgeschichte bestimmt. Historisch sind diese geschichtsphilosophischen Sätze letztlich nicht einholbar, doch im Medium der Wesensbestimmung christlicher Frömmigkeit stellt Bousset unzweideutig klar, dass das Christusbild der treibende Faktor der Christentumsgeschichte ist.522

520 WdR 213. 521 WdR 213. 522 Vgl. WdR 213.

4. Die Entfaltung des Wesens der christlichen Religion

4.1 Boussets Überlegungen zur Umformung des Christentums im Medium der Frage nach dem Wesen des Christentums Nachdem in den vorangehenden Kapiteln Boussets Religionstheorie, seine Religionsphilosophie sowie die in diesem heuristischen Rahmen durchgeführte historische Rekonstruktion der Entstehung des Christentums dargestellt und analysiert wurde, soll nun seine Bestimmung des Wesens des Christentums ausgearbeitet werden. Denn vermittels der Frage nach dem Wesen des Christentums wird eine Kontinuitätslinie konstruiert, die angesichts der historisch vermittelten Diskontinuitätserfahrungen, wie sie in Kap. 3 herausgearbeitet wurden, ein Anliegen auch der modernen Frömmigkeit darstellt. Zwar scheidet die Wesensbestimmung als Instrument der Geltungssicherung der christlichen Gestalt der Religion aus, denn reflexive Gewissheit ist, wie gezeigt, nur durch den subjektivitätstheoretischen Rekurs auf die dem Bewusstsein immanenten religiösen Ideen zu erlangen. Dagegen verfügt nun aber die Wesensgeschichtsschreibung über die binnenreligiös bedeutende Funktion, dem religiösen Subjekt vermittels eines an den historischen Tatsachen orientierten Bildes der Geschichte des Christentums die Zugehörigkeit der persönlichen Frömmigkeit zur christlichen Lebenswelt geschichtsphilosophisch zu plausibilisieren.1 Die Wesensbestimmung stellt also eine Kontinuitätslinie zu den Anfängen des Christentums her, die im Rahmen der historischen Methode nicht mehr einzuholen ist. Denn in historischer Hinsicht gilt, dass die großen Persönlichkeiten – in ihrer Fremdheit erkannt – erst einmal zur modernen Frömmigkeit in Distanz treten und ferner hinter der von theologischen Interessen geleiteten Überlieferung der Gemeinden zu verschwinden drohen. Die Wesensbestimmung tritt also nicht mit dem Anspruch auf, auf das Individuelle fokussierte historische Einzelwissenschaft gemäß dem historistischen Paradigma zu sein. Sie hat diese vielmehr zur Voraussetzung, da sie dieselben Tatsachen, 1 Vgl. MuR 20 Anm. 1: Die Wesensbestimmung und die Rekonstruktion der graduellen Entwicklung der Religionsgeschichte sind beide eine geschichtsphilosophische Operation, die eine „überzeugende Kraft nur für den hat, der das diesem Versuch zugrunde liegende Werturteil schon teilt.“ Ihr epistemologischer Status wechselt daher von einer historischen Apologie der Höchstgeltung der Christentums vermittels des „religionswissenschaftlichen Beweises“ (MuR 18 Anm. 1), den Bousset auch in seiner Anfangszeit hoch einschätzt – ihn dann aber spätestens ab 1907 in seiner Beweiskraft stark limitiert (vgl. ebd.) –, in eine „nachträgliche Bestätigung für eine bereits gewonnene Überzeugung.“ „Sie wird immer dem schon ergriffenen und gewonnenen Willen ihren guten und hervorragenden Dienst leisten, aber sie steht an zweiter Stelle […]“ (ebd. 20 mit Anm 1).

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Die Entfaltung des Wesens der christlichen Religion

dieselben historischen Individualitäten, zum Gegenstand hat. Die Frage nach dem Wesen des Christentums wird hingegen „nicht vom Standpunkt eines voraussetzungslosen Historikers oder einer voraussetzungslosen reinen Wissenschaft aus“ bearbeitet, „wohl aber vom Standpunkt des von der Realität seines Glaubens überzeugten Theologen und Christen.“2 Die Bestimmung des Wesens ist also vielmehr die religiöse und geschichtsphilosophische Deutung jener ‚Tatsachen‘. Überzeugungskraft kann sie daher nur innerhalb der geschichtlichen Religion besitzen, zu der jener ‚überzeugte Theologe‘ sich selbst als zugehörig empfindet. Sie ist demnach standortgebunden und kann nur innerhalb des jeweiligen Kulturkreises für sich den durchaus normativen Anspruch3 auf Plausibilität hegen.4 Innerhalb des Kulturkreises bzw. der jeweiligen geschichtlichen Religion, der man sich auf Grundlage eines Werturteils5 angeschlossen hat, haben die historiographisch schwer greifbaren Persönlichkeiten eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Frömmigkeit. Gilt dies einmal in religionspsychologischer Hinsicht6, so ist für Bousset darüber hinaus in geschichtsphilosophischer Hinsicht die Bedeutung der religiösen Persönlichkeiten virulent. Denn erst durch sie entfalten sich die religiösen Ideen in der Geschichte und kommen vermittels bestimmter geschichtlicher Symbole zu Bewusstsein.7 Im Unterschied zu Boussets Religionsphilosophie, deren Aufgabe allein in der Geltungssicherung der religiösen Ideen als Konstitutiva der menschlichen Vernunft zu stehen kommt, fragt die Wesensbestimmung nach der Bedeutung der großen religiösen Persönlichkeiten und deren Wirkungsgeschichte für das Wesen und für die veränderlichen Symbolbestände der christlichen Religion.8 Die Wesensbestimmung ist also gegenüber der geltungstheore2 MPT Grützmacher, 13. Das Zitat bezieht sich hier auf die Ausweitung der Induktionsbasis von der biblischen Offenbarungsgeschichte zur allgemeinen Religionsgeschichte. 3 Vgl. WdR 9: „Es gilt in dieser Geschichte [sc. der Religionsgeschichte] zu lesen, die Erscheinungen zu gruppieren und neben und hintereinander zu ordnen, in der Flucht der Erscheinungen das Wesentliche und Bleibende zu greifen, die Gesetze der Entwicklung zu erkennen, von der Vergangenheit endlich auf Gegenwart und Zukunft zu schließen.“ Zeigt sich hier zunächst die begriffliche Konstruktion der Wesensgeschichtsschreibung, so wird ferner das Wesen in seiner normierenden Funktion für die Gestaltung für die christliche Zukunftsreligion als Idealbegriff in Anschlag gebracht. 4 Vgl. MuR 18. 5 Vgl. MuR 17: Dem die Wesensbestimmung durchführenden Religionshistoriker ist die Zugehörigkeit zur christlichen Lebenswelt eine „praktische Lebensüberzeugung“. 6 Dazu vgl. Kap. 2.1.4. 7 Vgl. RK 28. 8 Der religionsphilosophische Allgemeinbegriff der Religion und die Bestimmung des Wesens des Christentums sind für Bousset disziplinär streng zu trennen (zur Spannung zwischen religionsphilosophischem Allgemeinbegriff und selbstreflexiver Wesensbestimmung vgl. Korsch, Religion, 78f). Zielt der religionsphilosophische Allgemeinbegriff tatsächlich nur auf „intellektuelle[] […] Gewissheit“ (Brief Boussets an Paul Wernle vom 19.10.1910 [Ms 151; Nr. 18), die sich reflexiv Rechenschaft über das religiöse Erleben gibt, so setzt die Wesensbestimmung gleichsam bei der praktischen Gewissheit, also der sich unableitbar einstellenden religiösen Überzeugung, an. Ihre Aufgabe ist neben der Identitätsstiftung, indem die Christlichkeit des religiösen Erlebens



Exkurs: Die Frage nach dem Wesen des Christentums

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tisch ausgerichteten Religionsphilosophie eine dezidiert historische Fragestellung. Und auch nur vermittels dieser historischen Standortreflexion kann eine Linie zu den großen Gestalten der Religionsgeschichte gezogen werden. Dies gilt insbesondere für den historischen Jesus, der im Rahmen der historischen Methode eben kaum noch hinter der Gemeindedogmatik zu greifen ist. Das Anliegen der Wesensbestimmung ist hingegen – ungeachtet dieser methodischen Bedenken – genau zu diesem eine Kontinuitätslinie zu konstruieren. Dabei ist das oben angeführte Postulat der historischen Methode leitend, dass es – abzüglich aller Ausgestaltung seiner Gemeinden – zunächst der historische Jesus war, der die Grundlage der christlichen Symbole erschaffen hat. Damit ist das Anliegen der modernen Frömmigkeit eingeholt, dass Jesus eben nicht der Moderne dauerhaft in seiner Fremdheit unvermittelt gegenüber stehenbleibt, sondern dass die moderne Frömmigkeit letztlich aus Jesu Frömmigkeit hervorging. Die Wesensbestimmung und die Konstruktion der Christentumsgeschichte als Auswirkung seines Geistes hegt somit gleichsam die historisch manifeste Diskontinuität zu den Anfängen der christlichen Religion wieder ein. Bousset steht mit seinem Versuch einer Wesensbestimmung des Christentums in einer breiten Tradition neuzeitlicher Reformulierungsversuche christlicher Identitätsbildung, die auf den allgegenwärtigen Wandel in Weltbild und Bewusstsein reagieren. Im Folgenden soll daher in einem kurzen Abriss die Geschichte der Frage nach dem Wesen des Christentums skizziert werden, anhand derer Boussets Beitrag zur protestantischen Wesensbestimmung besser verstanden werden kann.

Exkurs: Die Frage nach dem Wesen des Christentums als Medium neuzeitlich-moderner Selbstvergewisserungsstrategien Die Frage nach dem Wesen des Christentums ist im engeren Sinn ein Produkt des Eintritts des Christentums in die Neuzeit. Wenngleich der Begriff ‚christianismos‘ älter ist – er datiert bis in die Zeit der Apostolischen Väter9 –, so ist die ausdrückliche Frage nach dem, was nun das Christliche sei, eine Frage, die erst unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen ihren eigentlichen Sinn erhält. Dies lässt sich zunächst auf die Karriere des Christentumsbegriffs zurückführen, aus welcher allererst die Frage nach dem Wesen des Christentums erwuchs. Im Begriff ‚Chrisdurch die Wesensbestimmung plausibel gemacht wird, vor allem die Schaffung eines Idealbegriffs. Zur Kritik des theologischen Historismus an Allgemeinbegriffen vgl. nur Harnack, Wesen, 13: „Wir wissen heute, daß Leben sich nicht durch Allgemeinbegriffe umspannen läßt und daß es keinen Religionsbegriff giebt, zu welchem sich die wirklichen Religionen einfach wie eine Spezies verhalten.“ Dass Religion ein menschliches Universale darstellt, ist freilich auch Harnacks tiefe religiöse Überzeugung (beide rekurrieren in diesem Zusammenhang auf ein Goethewort [vgl. ebd. 12; RK 26]) – zur Erfassung des Wesens des Christentums taugt ein Allgemeinbegriff der Religion allerdings gerade nicht (ebd.). 9 Zur bereits in der Spätantike einsetzenden Begriffsgeschichte vgl. Schäfer, Sinn, 329–347.

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Die Entfaltung des Wesens der christlichen Religion

tentum‘ verschafft sich die neuzeitliche Erfahrung Ausdruck, dass die christliche Religion keineswegs mit der kirchlich-dogmatischen Tradition zur Deckung kommt. Er ist also ein ausgesprochener Emanzipationsbegriff, der im Rücken neuzeitlicher Krisenerfahrungen der Theologie seine eigentümliche Wucht und Geltung erlangte. Wer vom Christentum sprach, meinte nicht die Institution Kirche.10 So zeigt sich im Christentumsbegriff verschlüsselt das aufklärerische Auseinandertreten von privater und öffentlicher Religion mit ihren einander widerstreitenden Versuchen, die öffentliche Signatur des Christlichen jeweils eigenständig zu bestimmen. Nicht ohne Grund wird dann auch im Pietismus mit seiner Hinwendung zur frommen Innerlichkeit die Frage nach dem Wesen des Christentum zuerst gestellt und damit auch der Versuch der Unterscheidung zwischen dem ‚eigentlichen‘ Christentum und seinen demgegenüber abfallenden sozialen Gestalten unternommen.11 Für manchen Pietisten und seiner ecclesiola in ecclesia, aber auch für die Neologen um Johann Salomo Semler und ihrer Idee einer natürlichen Religion12 war das Christentum etwas, das zwar im Bezugsrahmen der kirchlichen Institution existierte, aber dennoch strikt von jener äußeren Form zu unterscheiden sei. Neben diesen Versuchen der christlichen Identitätsvergewisserung im Pietismus und in der Neologie wies – historisch betrachtet – die Frage nach dem Christlichen aber auch schon eine eminent wichtige Funktion im Rahmen der Irenik des konfessionellen Zeitalters auf. So meinten einige Ireniker des 16. und 17. Jahrhunderts durch Rückgriff auf eine bestimmte ratio christianissimi (Martin Bucer)13 die konfessionellen Unterscheidungslehren gegenstandslos werden zu lassen und so wieder eine in der Abendmahlsgemeinschaft symbolisierte Einheit in Vielfalt erlangen zu können. Lehrstreitigkeiten der einzelnen Konfessionen sollten fortan als geschichtlich kontingent ausgewiesen und damit zugleich als aufhebbar markiert werden14. Angesichts dieser konfessionellen Pluralitätserfahrungen der Neuzeit, aber auch angesichts des die kirchlich-dogmatische Weltanschauung erschütternden säkularen Wahrheitsbewusstseins in Bildung und Wissenschaft und der Durchsetzung des historischen Bewusstseins als „eigentümlich moderne Denkform“15 verloren alte Gewissheiten nun endgültig ihre Plausibilität und Verbindlichkeit als Identitätsmarker der christlichen Religion. So ist die Frage nach dem Christentum, die ja immer zugleich eine Bestimmung desselben intendiert16, insbesondere unter neu10 Vgl. Troeltsch, Wesen, 392. Das Christentum stellt eine „Fülle von Lebenserscheinungen“ (ebd. 394) dar, die sich nicht auf die Organisationsgestalt Kirche reduzieren lassen. 11 Vgl. Troeltsch, Wesen, 335f. Der Neologismus ‚Wesen des Christentums‘ ist daher eine spezifisch neuzeitliche Wortschöpfung. 12 Vgl. hierzu Korsch, Religion, 74f. 13 Beleg bei Schäfer, Sinn, 333. 14 Zu Bucer, Jacobus Acontius, David Pareus, Georg Calixt, Hugo Grotius, Arndt und Locke vgl. Schäfer, Christentum, 1008–1016, hier 1010f; ders., Sinn, 333f; vgl. auch Köhler, Troeltsch, 72ff. 15 Troeltsch, Krisis, 247. 16 Vgl. Schäfer, Sinn, 330: „[...] wo das Christentum definiert wird, definiert man sein Wesen“.



Exkurs: Die Frage nach dem Wesen des Christentums

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zeitlichem Problemdruck eine höchst virulente. Sie ist gleichermaßen zutiefst umstritten zwischen Supranaturalisten und Rationalisten, Liberalen und Positiven und vielen anderen.17 Sodann ist die Frage nach dem Christentum auch ein Ausdruck der theologischen Zuwendung zur christlichen Lebenswelt und ist damit Symptom und Lösungsversuch der auf Dauer gestellten, neuzeitlich-modernen Krise der Theologie. Denn nachdem die altprotestantische Ontotheologie Kants Erkenntniskritik zum Opfer gefallen und die Schriftlehre in ihrer klassischen Form durch die historischkritische Methode erheblich erschwert worden war, blieb der Theologie – nun ihrer bisherigen Erkenntnisgrundlagen beraubt18 – nur mehr die Bearbeitung der geschichtlichen Welt des Christentums. „[D]ie Grenzen der kirchlich-theologischen Sprachwelt“19 waren so vorerst verlassen. Sie musste also, um dem modernen Wissenschaftsideal entsprechen und sich so in den historisch ausgerichteten Fächerkanon der neuen Universitäten eingliedern zu können, ihre bisherigen Wirklichkeitszugänge auf einen historisch-systematischen Zugang zur Erscheinungswelt des Christentums umstellen. Es galt nun angesichts des sich durchsetzenden historischen Bewusstseins, allererst zu rekonstruieren, was gegenwärtig als Realisierungsgestalt des Christlichen in Anspruch genommen werden darf. Die wichtigste, die neuzeitliche Grundlagenkrise der Theologie produktiv verarbeitende Durchgangsstation der protestantischen Wesensbestimmung ist Schleiermachers Fassung des Wesens des Christentums als organisierendes Prinzip der Theologie.20 Seine Wesensbestimmung sollte ihren Ausgang in der geschichtlichen Erscheinungswelt der christlichen Religion nehmen und aus einer christlichen Binnenperspektive heraus erfolgen. Die Wesensbestimmung durch die Theologie war als positive Wissenschaft eine Funktion der Kirche. Epochal war weiterhin Schleiermachers Einsicht, dass das Wesen einer geschichtlichen Religion, die „religiösen Grundanschauungen“, immer auf das Engste mit dem „Grundfaktum“ des Religionsstifters korreliert.21 Die Relation von Wesen und Ursprung hat er damit für die nachfolgenden Theologengenerationen vorgezeichnet. Unter solch geschichtlichen Rahmenbedingungen, die sich allesamt als theologische Folgelasten des neuzeitliche Freiheitsthematik beschreiben lassen, ergibt die Frage nach dem Wesen des Christentums einen guten Sinn und verschwindet seit der Aufklärung auch nicht mehr aus der theologischen Diskussion. In dieser theologischen Operation ist dabei idealtypisch vorausgesetzt, dass es etwas in der christlichen Religion gibt, das gewissermaßen aller geschichtlichen Realisierung vorausliegt. Damit sind zwei Dinge gesagt: Zuerst impliziert die Frage nach dem Wesen 17 Dazu vgl. Schröder, Identität, 2ff. 18 Der Theologie war ihr Gegenstand also nicht mehr unmittelbar gegeben – die Schrift wurde ein religionsgeschichtliches Dokument, der metaphysische Abschlussgedanke ‚Gott‘ wurde zum Gottesbewusstsein. 19 Rendtorff, Christentum, 772. 20 Dazu vgl. Laube, Wesen. 21 Belege bei Schäfer, Sinn, 338.

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des Christentums den Verzicht darauf, überhaupt eine vollständige Realisation des Wesens in einer bestimmten Konfession zu konstruieren – das Wesen kann nie unter geschichtlichen Bedingungen eingeholt werden.22 Folglich kann es aber umgekehrt auch keine Bestimmung des Wesens ohne Referenz zu den geschichtlichen Erscheinungen geben. Ein Wesen ohne dessen Erscheinungen kann es gemäß der Logik des Begriffs nicht geben. Dem Wesensbegriff ist also die unaufhebbare und beziehungsreiche Dualität von Wesen und Erscheinung immanent; in diesem Sinn ist er also keineswegs ungeschichtlich.23 Dies macht die Wesensfrage zu einer spezifisch protestantischen. Sie reiht sich als Ausdruck multipler neuzeitlicher Krisenerfahrungen der verfassten Theologie, aber auch der individuellen Frömmigkeit organisch in die Verarbeitungsstrategien der anhaltenden Identitätskrise des modernen Protestantismus mit seinen ihm eigentümlichen Momenten der „Selbstreflexion in der Polarität von Kritik und Konstruktion“ und „Selbsthistorisierung in der Spannung von Kontinuität und Diskontinuität“ ein.24 War spätestens seit Schleiermacher die enge Verknüpfung von Wesen und Ursprungsgestalt der christlichen Religion der Theologie aufgeben – ohne dabei in die ahistorischen Aporien des ‚natürlichen‘ Wesensbegriffs der Aufklärer zu geraten25 –, so führte der deutsche Idealismus darüber hinaus, indem er das der Veränderung enthobene Wesen der Neologen als ein sich in der Geschichte entwickelndes Prinzip fasste.26 Damit war die Frage nach dem Wesen des Christentums mit der gesamten Christentumsgeschichte verknüpft. Diesen Faden nahm nun der theologische Historismus auf, zu dessen Grundüberzeugungen die Geschichtlichkeit alles Menschlichen und damit aller positiven Religion gehörte, was sich methodisch im konsequenten Einschwenken auf die historische Methode in der Theologie ausdrückte. Gerade unter solchen epistemologischen Bedingungen musste die Frage nach dem Wesen, d. h. nach den Kontinuitätsmomenten angesichts des geschichtlichen Wandels, umso nachdrücklicher gestellt werden.27 Harnack löste als erster dieses Desiderat ein und veröffentlichte 1900 seine Vorlesungen über das Wesen des Christentums, das er allein auf dem Weg seiner historischen Methode gewinnen wollte. Harnacks Wesensbestimmung ist – wie es den Anschein hat – durch die Invariabilität des Wesens des Christentums gekennzeich-

22 Vgl. dazu Korsch, Religion, 72–82. 23 Zu den Aporien einer ungeschichtlichen Wesensbestimmung auf Grundlage eines aufklärerischen Religionsbegriffs vgl. Korsch, Religion, 75f. 24 Vgl. Barth, Verhältnis, 127. 25 Vgl. Korsch, Religion, 76f. 26 Für Schäfer stellt diese Entwicklung einen bedeutenden „Umschlag“ in der Geschichte der Debatte um das Wesen des Christentums dar, denn wurde zuvor, um zum Allgemeinbegriff des Wesens zu gelangen, etwas von den jeweiligen Erscheinungen ‚abgezogen‘, so galten nun die einzelnen christlichen Realisationsgestalten als Vorstufen für den noch ausstehenden vollgültigen Begriff vom Christentum (vgl. Schäfer, Sinn, 338). 27 Hierzu vgl. Sparn, Frömmigkeit, 125.



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net, das letztlich mit dem Evangelium Jesu deckungsgleich ist.28 Von Ernst Troeltsch als das „symbolische Buch der historischen Theologie“29 gewürdigt, wurde Harnacks Wesensschrift von demselben aber vor allem in einer Großrezension dazu verwendet, die methodischen Probleme und Voraussetzungen einer Wesensbestimmung und ihren impliziten Geltungsansprüchen genauer zu reflektieren. Troeltsch hob damit die Wesensgeschichtsschreibung und ihr methodisches Reflexionsniveau auf ein bis dahin nicht erreichtes Niveau. Sie soll daher an dieser Stelle eingehender skizziert werden, um auf diesem Hintergrund Boussets Wesensbestimmung besser verstehen zu können. Deutlicher als Harnack unterscheidet Troeltsch zwischen strenger historischer Forschung, die dem historistischen Wissenschaftsideal gleichkommt, und der gleichermaßen notwendigen, aber nicht mehr im vollgültigen Sinn wissenschaftlichen Wesensbestimmung.30 Die Wesensbestimmung ist nach Troeltsch eine hermeneutische Operation, die im engen Verbund mit der Geschichtswissenschaft durchgeführt wird,31 letztlich aber der historischen Einzelforschung nicht mehr angehört, sondern in den Bereich der Geschichtsphilosophie hineinragt.32 Allerdings hat sie stets die Einzelforschung zur Voraussetzung, sodass Troeltsch die Wesensbestim28 Vgl. dazu schon Troeltsch, Wesen, 449; ferner Schäfer, Sinn, 339; aber auch Claussen, JesusDeutung, 44: Hiernach sei Harnacks Wesensbegriff „in sich einfach und identisch. Die Christentumsgeschichte ist die Geschichte seiner wechselnden Verschalungen bzw. die Geschichte des Explizitwerdens dessen, was bei Jesus nur implizit angelegt war. Dem Kern selbst wird nichts hinzugefügt.“ Demgegenüber vgl. die präzisierenden Bemerkungen von Claus-Dieter Osthövener, Nachwort, 259–292. Harnack sei „weit entfernt von einer naiven Einstellung, eine gleichsam unberührte Ursprungsgestalt des Christentums herauspräparieren und dann als feststehenden Maßstab der geschichtlichen Entwicklung anwenden zu können.“ Vielmehr bestehe „[d]ie Grundstruktur der Wesensschrift [...] in einer wechselseitigen Beziehung von Ursprung und Geschichte“ (ebd. 282). Auch Bousset hebt dies gegenüber einer allzu groben Verzeichnung von Harnacks Wesensschrift hervor. Er erkennt gegenüber der Dogmengeschichte Harnacks sogar die Akzentverschiebung um eine „Nüance“, die Evangelium und Christentumsgeschichte nicht mehr nur im Modus von „Dekadence und Verfall“ aufeinander zu beziehen vermag (WdC 100). Vielmehr würdige Harnack nun die „positive Arbeit“, die zu einer Entwicklung des Evangeliums durch die Christentumsgeschichte führte. Es wird allerdings noch zu zeigen sein, ob Boussets Wesensbegriff näher bei Harnack oder näher bei Troeltsch steht. 29 Troeltsch, Wesen, 388. Vgl. ferner die explizite Würdigung ebd. 432: Harnacks Wesensschrift verfügt über eine „reiche und tiefe historische Welt“, die entsprechend der Voraussetzungen des Wesensbegriffs eben auch einen Idealbegriff für die zukünftige Gestaltung des Christentums darstellen will. 30 Vgl. Troeltsch, Wesen, 449. 31 Vgl. Troeltsch, Wesen, 394: Die Wesensbestimmung ist die geschichtsphilosophische „Anwendung eines methodischen Grundgedankens“ aus der Historiographie, nämlich die „Entwickelung einer Idee, eines Wertes, eines Gedankenkreises, eines Zweckgedankens“ oder „das organisierende und hervorbringende Prinzip der Fülle der Lebenserscheinungen zu suchen, die wir Christentum nennen.“ Ein einfaches Prinzip, aus dem dann das geschichtliche Leben abzuleiten wäre, lehnt Troeltsch aber ab, vgl. Albrecht, Kulturwissenschaft, 254. 32 Troeltsch, Wesen, 398: „Die Wesensbestimmung wächst aus der Methode und Geist der empirisch-induktiven Geschichtsschreibung heraus, aber sie ist doch eine Aufgabe höherer Ord-

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mung disziplinär im Bereich der historischen Theologie belässt.33 Sie fragt im Unterschied zur aufklärerischen Wesensfrage nicht zuerst nach dem „Ewige[n] und Bleibende[n]“34, sondern vielmehr in Anlehnung an die Geschichtswissenschaft nach den „treibenden und sich entwickelnden Grundgedanken“35 eines historischen Komplexes, einer Kollektivindividualität wie das Christentum. Eine Wesensbestimmung ist daher die „Krone und zugleich die Selbstaufhebung der historischen Theologie“36. Da nun das Wesen nie deckungsgleich mit der historischen Einzelerscheinung sein kann – zumal diese sich für Troeltsch letztlich nicht einfach deduzieren lässt –, muss das Wesen auf dem Weg der Divination aus dem gesamten Komplex der Christentumsgeschichte „herausgefühlt“37 werden. Das Wesen ist also letztlich eine historische Idee. Troeltschs Intention war es ferner, die geschichtsphilosophischen, subjektivitätstheoretischen und ethischen Elemente, kurz: das theologische Geltungsinteresse und dessen Standortgebundenheit bei der Wesensbestimmung aufzuweisen, die unausweichlich jedem Versuch, ein Wesen eines individuellen Erscheinungskomplexes zu konstruieren, zukommt.38 Vier Aspekte schließt demnach die Wesensbestimmung in sich: „Das Wesen ist eine intuitive Abstraktion, eine religiös-ethische Kritik, ein beweglicher Entwicklungsbegriff und das für die gestaltende und neuverknüpfende Arbeit der Zukunft einsetzende Ideal.“39 Zunächst gilt in historiographischer Hinsicht, dass – wie oben schon dargestellt – das Wesen eine Abstraktion ist, die einen historischen Allgemeinbegriff von der geschichtlichen Welt des Christentums entwickelt.40 Der Allgemeinbegriff ist freilich, obwohl er an die Induktionsbasis der Einzelforschung gewiesen bleibt, nicht ohne eine persönliche Stellungnahme zu haben. Darin unterscheidet er sich aber zugleich von bloßer Archäologie41, denn erst der Allgemeinbegriff lässt wirklich die Gegennung; sie liegt an dem Punkt des Uebergangs der empirisch-induktiven Geschichte zur Geschichtsphilosophie.“ 33 Sie stellt das von der Glaubenslehre „zu explizierende Objekt“ dar (Troeltsch, Wesen, 393; vgl. ebd. 449f Anm. 449). 34 Troeltsch, Wesen, 402; vgl. auch ebd. 395. 35 Troeltsch, Wesen, 393. 36 Troeltsch, Wesen, 433. 37 Troeltsch, Wesen, 392: „Aus diesem Komplex die bestimmende und treibende religiöse Idee und Kraft herauszufühlen, das ist die Aufgabe einer Darstellung des Wesens des Christentums.“ Hierzu vgl. die vorzügliche Darstellung von Johann Hinrich Claussen (ders., Jesus-Deutung, 37–62, hier 38). 38 Die Wesensbestimmung schließt nach Troeltsch „eine Reihe wichtigster, schlechthin entscheidender Voraussetzungen“ (ders., Wesen, 394), deren Kenntnis eben auch für das Verständnis von Boussets Wesensbestimmung zwingend ist. 39 Troeltsch, Wesen, 433. 40 Vgl. hierzu grundlegend Barth, Christologie, 261f. 41 Die Wesensbestimmung macht die Historiographie erst „wertvoll“ (Troeltsch, Wesen, 393), indem sie orientiert. Ohne Bezugnahme auf die Gegenwart sind die historischen Individualitäten nur mehr „Antiquitäten“ (ebd. 425). Zur Bedeutung des historischen Allgemeinbegriffs vgl. auch die Vorrede zu Troeltschs Protestantismusschrift (ders., Bedeutung des Protestantismus); dazu



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wart „aus ihrem Gewordensein“42 verstehen. Eine aus der Innenansicht des Christentums gelingende Wesensbestimmung kann daher auch nur von einer Persönlichkeit unternommen werden, für die „Wert und Wahrheit des Christentums“43 noch gilt. Dass die Positionalität sich in der Differenz der Wesensbestimmungen ausdrückt, wird allein schon darin deutlich, dass die modernen Gegenströmungen, die eben auch vermittels einer Wesensbestimmung Moderne und Christentum ins Verhältnis setzen, einen völlig anderen, aus christlich-religiöser Perspektive völlig unhaltbaren Wesensbegriff enthalten, wie Troeltsch am Beispiel Eduard von Hartmanns erläutert.44 Der sich unmittelbar einstellende Subjektivismusverdacht ist aber gleichsam nur ein relativer, denn der divinatorischen, intuitiven45 Konstruktion des Wesens bleibt eben die ‚Objektivität‘ der historischen Tatsache gegenübergestellt. Trotz der subjektiven Deutungsperspektive ist die Wesensbestimmung für Troeltsch unter den Bedingungen historistischen Denkens die einzige Möglichkeit, sich reflexiv der Christlichkeit seiner religiösen Überzeugungen zu versichern und zugleich durch diese subjektiv gefasste Neugestaltung – denn „Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung“46 – auf die zukünftige Form des Christentums wirken zu können. Notwendig ist die Wesensbestimmung, weil nur auf diesem Wege eine religiöse Normorientierung für das Christentum der Moderne möglich sei.47 Das Wesen ist also ein „Idealbegriff “48, der die Wesensbestimmung trotz der Rückbindung an die Einzelforschung nun endgültig als positionelle normative Geschichtsund zu Troeltschs Reserve gegenüber einem positivistischen Wissenschaftsverständnis vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 53. 42 Troeltsch, Wesen, 426f. 43 Troeltsch, Wesen, 426. 44 Auch Walter Sparn (ders., Frömmigkeit, 127) verweist kurz auf die gegenläufigen positionellen Wesensbestimmungen, die gleichzeitig um die Deutungshoheit der Religion in der Moderne rangen. Für Eduard von Hartmann hat sich, laut Troeltsch, der Neuprotestantismus aus dem echten Christentum ‚herausentwickelt‘ und gehört demnach nicht mehr zum Christentum, das in Eduard von Hartmanns Fassung eben wesentlich in der „kirchliche[n] Orthodoxie“ zu stehen kommt (vgl. Troeltsch, Wesen, 442). Die „Hartmannianer“ mit ihrem „pessimistischen Pantheismus (ebd.) empfinden sich als die Fortsetzung des für sie erledigten Christentums; zu Hartmanns Programm vgl. ebd. 443. 45 Zu diesem sich gegen einen reinen Subjektivismus sperrenden Begriff vgl. Claussen, JesusDeutung, 38; vgl. auch Korsch, Religion, 80, der die Ermittlung des Wesensbegriffs bei Troeltsch in einen „hermeneutischen Zirkel“ eingespannt sieht. 46 Troeltsch, Wesen, 431. 47 Vgl. nur Troeltsch, Wesen, 400f.: „Wem die kirchlichen Dogmen zerbrochen sind und wem die Voraussetzungen der modernen Historie selbstverständlich sind, der wird in einem solchen Versuch den einzigen Weg sehen, auf dem wir unser religiöse Überzeugung klären und auf dem wir unserer Christlichkeit gewiß werden können.“ Auch hinsichtlich der Vergemeinschaftung der Angehörigen der christlichen Lebenswelt vermag nur die Wesensbestimmung eine „innere Einigung und Verständigung herbeizuführen […]“ (ebd. 438; dieses Desiderat eingelöst zu haben, attestiert Troeltsch auch Harnacks Buch [ebd.]). 48 Troeltsch, Wesen, 423; vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 51, der zurecht diesen Aspekt der Wesensbestimmung als „Übergang von der Historiographie zur Ethik“ beschreibt. Vgl. ebd. auch Claussens Hinweis auf die „existenzialistische Terminologie“, die Troeltsch im Kontext der Be-

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philosophie auffasst. Denn zum einen verwendet man „die als Ideal vorgestellte Zukunft mit als Induktionsmaterial für die Feststellung des sich entwickelnden Wesens“49, zum anderen versucht man, wie gezeigt, mit dem so generierten Wesensbegriff normativ auf die zukünftige Gestalt des Christentums zu wirken.50 Ein weiterer Aspekt neben dieser normierenden Funktion ist dann auch die Kritik, die immer auch eine Wesensbestimmung einschließt. „[U]nwesentliche Formen“51 lassen sich nun anhand des Wesensbegriffs identifizieren. Damit wird der Wesensbegriff zum geschichtlichen Maßstab.52 Mit Schleiermacher und Harnack betont Troeltsch also die kritische Funktion des Wesens.53 Allerdings spitzt Troeltsch diesen Aspekt der Wesensbestimmung daraufhin zu, dass bestimmte überkommene Erscheinungen der Christentumsgeschichte, die für sich in Anspruch nehmen, christlich zu sein, gerade nicht als zeitgeschichtlich bedingte ‚Schale‘ vom wesentlichen Kern gedeutet werden müssten, sondern vielmehr als wesenswidrig eingestuft werden müssen. So ist für Troeltsch der Katholizismus eben keine legitime Variante christlicher Frömmigkeit, deren Ausformung sich unter den gegebenen historischen Bedingungen exakt so gestalten musste. Vielmehr ist er vom Standpunkt eines protestantischen Theologen bei aller historischen Gerechtigkeit ein absoluter „Bruch“54 mit dem Wesen des Christentums. Eine hegelianische „organische Evolutionstheorie“55, die besagt, dass alles dem Wesen scheinbar Entgegenstehende zur Entwicklung des Wesens notwendig sei, ist nach Troeltsch demnach unmöglich. Sie blende aus, dass der Katholizismus niemals als Voraussetzung des Protestantismus gedacht werden könne. Es muss daher nach Troeltsch ein unversöhnlicher ‚Bruch‘ des Katholizismus mit dem Wesen des Christentums postuliert werden. Der Wesensbegriff schließt demnach neben seiner einenden Funk-

schreibung des Wesensbegriffs als eines Idealbegriffs verwendet. Dieser Dezisionismus soll allerdings gerade nicht die Rückbindung an die Historie unterminieren. 49 Troeltsch, Wesen, 424. 50 Vgl. oben Anm. 48. 51 Troeltsch, Wesen, 396. 52 Der Maßstab ist das Resultat der Messung der „Historie am Historischen“ (Troeltsch, Wesen, 407); die Wesensbestimmung ist also eine „immanente Kritik“ (ebd.), die über keinen absoluten Maßstab verfügt. Um das Willkürliche an der Maßstabsgenerierung zu minimieren, kann eine anschlussfähige Wesensbestimmung auch nur „eine exakt-historisch gebildete und religiösethisch durchgearbeitete Persönlichkeit“ (ebd. 408) vornehmen; es ist „eine Sache historischer Meisterschaft“ (ebd.). Zu Troeltschs Verständnis des Maßstabs vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 40 mit Anm. 97. 53 Zu Schleiermachers und Harnacks kritischen Reduktion vermittels der Wesensbestimmung vgl. Osthövener, Harnack, 301 mit Anm. 24. 54 Troeltsch, Wesen, 404. 55 Troeltsch, Wesen, 404. Jene „Theorie der notwendigen Entwicklung“ geht in der Deutung des Katholizismus gerade darin fehl, dass es „nicht bloß vorübergehende, relative, die Entwickelung bloß vorwärtstreibende Gegensätze [sind], sondern es sind auch innerliche und absolute Gegensätze, die keine Wesensformel zu überwinden vermag und aus deren Verarbeitung keine Wesensformel zu gewinnen ist“ (ebd. 404).



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tion immer auch eine exkludierende in sich, und zieht die „Scheidung des dem Wesen Entsprechenden und des Wesenswidrigen“56 nach sich. Neben diesem Aspekt der Verwerfung des Wesenswidrigen ist jedoch für die Rekonstruktion von Boussets Wesensbestimmung vor allem der Aspekt der entwicklungsgeschichtlichen Struktur des Wesens von Bedeutung. Dies ist zum einen darin begründet, dass der Entwicklungsgedanke ein Schlüsselbegriff des historistischen Denkens ist, der auch für Bousset die unhinterfragte Voraussetzung seines Denkens bildet. Zum anderen stellt Troeltschs Wesensbestimmung eine methodisch komplexe Fassung des Wesens dar, die sich allein deswegen als Vergleichspunkt mit Boussets Erfassung des Wesens des Christentums vorzüglich eignet. Troeltsch selbst hält den Entwicklungsgedanken für ein unbedingt geeignetes Instrument, um jene historische Idee vom Wesen des Christentums sachgerecht einholen zu können.57 Denn er erlaubt ihm, die Identität des Wesens und zugleich die Pluralität der Ausgestaltungen der christlichen Religion denken zu können. Angesichts der faktisch unaufhebbaren Spannungen und Gegensätze innerhalb des Christentums stellt dies freilich besondere Anforderungen an den Wesensbegriff. Troeltsch sperrt sich gegen eine einlinig reduktive Wesensbestimmung, deren Entwicklung ebenfalls wiederum als die Entfaltung eines einfachen Prinzips gedacht wird. Denn jene idealistische Teleologien, die auf einen einfachen Wesensbegriff zurückgehen, widersprechen dem historischen Entwicklungsgedanken, in dem immer auch Antinomien und Spannungen enthalten sind, die die historischen Individualitäten als unableitbar und nicht deduzierbar vor einfachen Ableitungen schützen.58 Demnach kann für einen Wesensbegriff, der auf Grundlage der historischen Methode gewonnen wurde, niemals ein „logisch-notwendiges und konstruierbares dialektisches Gesetz der stufenhaften Hervorbringung des Wesens“59 bestimmend sein. Vielmehr müsse das Wesen einer Großindividualität wie des Christentums als eine „[...] geistige[] Kraft, die an sich von Hause aus mehrere Ideen enthält und nirgends unmittelbar zu einfacher Formulierung bereit liegt, sondern selbst schon die Tendenz zu mehrfacher Formulierung in sich trägt“, verstanden werden.60 Gegenüber Harnacks Wesensbestimmung intendiert Troeltsch mit seiner Fassung des Wesens des Christentums ferner, wie Johann Hinrich Claussen richtig erkannt hat, dieses in eine „echte Entwicklungsgeschichte“61 einzustellen. Denn „[i]ndem es [sc. das Wesen] sich in einer Vielzahl individueller Bildungen realisiert, erfährt es nicht nur äußerliche Verschalungen, sondern auch wesensmäßige

56 Troeltsch, Wesen, 407. 57 Zu Troeltschs ambivalenter Sicht des Entwicklungsgedankens vgl. Claussen, Jesus-Deutung, 41f. 58 Vgl. Troeltsch, Wesen, 421. Das Wesen als Kontinuum „[…] muß geradezu Gegensätze und Spannungen in sich tragen.“ 59 Troeltsch, Wesen, 419. 60 Troeltsch, Wesen, 420. 61 Claussen, Jesus-Deutung, 45.

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Modifikationen.“62 Das Wesen des Christentums kann also nicht einfach aus den Ursprüngen erhoben werden, während die Christengeschichte als eine „einfache Auswickelung des Keimes“63 gedeutet wird. Vielmehr ist das Wesen des Christentums tatsächlichen Veränderungen ausgesetzt, ohne dass es dabei in unvermittelbaren Gegensatz zur Ursprungsgestalt gerückt würde: „Das Wesen kann [...] nicht eine unveränderliche und ein für alle Mal in Jesu Lehre gegebene Idee sein.“64 Heuristisch gilt dabei für Troeltsch wie für die historische Theologie insgesamt der geschichtsphilosophische Satz, dass gerade die Urzeit einer geschichtlichen Religion deren schöpferische Zeit darstellt und daher für die Bestimmung des Wesens von kaum zu überschätzender Bedeutung ist, denn hier liegen die klassischen Offenbarungen einer Religion.65 Allerdings geht das Wesen eben nicht in der Urzeit auf, vielmehr ist dessen sachgerechte Bestimmung an den Gedanken der „Fortentwicklung“66 gebunden. Damit ist gesagt, dass das christliche Prinzip, wenn es als eine historische Idee verstanden sein soll, sich im Verlauf der Geschichte immer mehr wahlverwandte Ideen aneignet, womit sich auch immer wieder legitime Umformungen des Christentums selbst ereignet haben und in die Wesensbestimmung einzubeziehen sind.67 Das eigentümliche Profil von Troeltschs Christentumstheorie zeigt sich dementsprechend in der produktiven Aufnahme von Diskontinuitätsmomenten, die sich, wie dargestellt, aus der Fähigkeit des Christentums ergibt, sich immer wieder umzuformen und dennoch die Bezogenheit auf seinen Ursprung nicht aufzugeben. 62 Claussen, Jesus-Deutung, 45. „Die Differenzen können nicht allein – wie in Harnacks Modell von Kern und Schale – den kontingenten Realisationsbedingungen zugeschrieben werden, sondern sind in die Wesensbestimmung selbst einzurechnen. […] [Das Wesen] kann darum nicht vollständig aus der Ursprungsgestalt abgeleitet werden.“ (ebd.). Dass dieser Reduktionismus wiederum Harnack nicht gerecht wird, zeigt abermals Osthövener, dazu s. o. Anm. 28. 63 Troeltsch, Wesen, 422. 64 Troeltsch, Wesen, 418. 65 Vgl. Troeltsch, Wesen, 413: „Der originale Sinn einer historischen Erscheinung ist in den Ursprüngen am kräftigsten und reinsten enthalten.“ Im Ursprung ist „die ganze Gedankenwelt noch neu […] in der Frische des Saftes und des Schusses, in der von allem Kompromiß freien Reinheit […]“ (ebd. 412). Dies gelte allzumal für die auf von einem Religionsstifter eingesetzten Religionen wie dem Christentum: […] insbesondere gilt dies für das Christentum, das seine Gläubigen strenger als irgend eine Religion an die beständige Nährung ihres religiösen Lebens aus der Berührung des Stifters verweist […]“ (ebd. 413). 66 Troeltsch, Wesen, 414. 67 Vgl. Troeltsch, Wesen, 420: „Die Formel für das sich entwickelnde Ganze wird das Prinzip der Umformungen in sich aufnehmen und weit hinter die jeweilige Ausgestaltung auf den in Bewegung begriffenen Grund zurückgehen müssen […].“ Das Christentum als Kulturfaktor sei nicht denkbar ohne die Verbindung mit „den Wahrheiten des Platonismus und der Stoa“ (ebd. 416). Indes bildet die „Überweltlichkeit“, die das Wesen der Predigt Jesu ausmacht, einen unhintergehbaren Aspekt des Wesens des Christentums, der nie völlig zum Erliegen kommen kann: „Der Keim bleibt immer die einseitig und schroff transzendente Ethik und kann niemals einfach übergehen und sich verwandeln in eine immanente Ethik. Es bleibt in ihm mit seiner Richtung auf das kommende vollkommene Reich, auf das Jenseits der Geschichte, immer ein Ueberschuß, der in aller Entwickelung nicht aufgeht, oder dessen Abstreifung doch die Kontinuität mit dem Christentum aufheben würde“ (ebd. 422).



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Indes liegt das Wesen auch nicht in der neutestamentlichen Urgestalt vor, sondern gleichsam hinter Person und Predigt Jesu, die ebenso historische Individualitäten sind, wie der apostolische Glaube. Allerdings meint Troeltsch, dass über den Umweg über die Wirkungsgeschichte „das, was die historische Persönlichkeit in Wahrheit gewesen ist“68, deutlicher wird. Jesus könne ohne Paulus nicht verstanden werden. Hier bekommt das Wesen des Christentums einen neuen Akzent: Der „Geist Christi“69 kommt so auf andere und neue Weise zur Geltung als in Jesu Predigt. Und so stehen gleich zu Anfang der Christentumsgeschichte zwei nicht aufeinander reduzierbare Gestaltwerdungen jenes Geistes. Während die Reichspredigt Jesu „[...] wesentlich individualistisch und heroisch-ethisch gerichtet, in der Erlösung der Zukunft [lebt]“, lebt die paulinische Predigt „ganz anders in der Gegenwart und im Heilsbesitz.“70 Schon die Ursprungsgestalt ist demnach plural verfasst und enthält „eine Oscillation mehrerer Grundgedanken“71, die überhaupt dem Christentum eigentümlich ist. Die theologisch bedeutsame Folgerung, die Troeltsch aus der historisch beobachtbaren Vielgestaltigkeit des Urchristentums bezieht, besteht gegenüber Harnack72 nun darin, dass die „Schätzung der Urzeit als der maßgebenden Epoche überhaupt recht bedeutsam [einschränkt wird].“73 Auch wenn die Bedeutung der Person Jesu als Stifter des Christentums für die Ermittlung des Wesens des Christentums kaum zu überschätzen ist, das Wesen geht doch nicht in der Person auf, sondern wird vor allem durch die Wirkungsgeschichte, die sich an die Person Jesu anschloss, neu und damit anders zur Geltung gebracht. Die neuen Gehalte, die sich der Geist Christi aneignet, müssen nicht notwendig als zur Ursprungsgestalt im Gegensatz stehend interpretiert werden, sondern können als „in der Urgestalt mit angedeutet […] und als in ihr enthalten betrachtet werden.“74 Mag der historische 68 Troeltsch, Wesen, 415. 69 Troeltsch, Wesen, 415. 70 Troeltsch, Wesen, 415. 71 Troeltsch, Wesen, 416; vgl. auch ebd. 416: „Das Wesen des Christentums hat von Anfang an zwei verschiedene Akzente, wenn nicht geradezu zwei verschiedene Elemente.“ 72 Claussen verweist mit Recht auch auf den frühen Bousset (vgl. ders., Jesus-Deutung, 44 Anm. 110). 73 Troeltsch, Wesen, 416. 74 Troeltsch, Wesen, 417; vgl. hierzu auch Bousset, Evangelienkritik, 50f: „Wir werden den Mut haben müssen, uns zu sagen dass die historische Person Jesu doch nur den Anfangspunkt – wenn auch einen noch so entscheidenden – einer religiösen Geschichte darstellt, dass über diese historisch begrenzte und bedingte Person hinaus eine wirkliche Weiterbildung stattgefunden hat. Wir werden aber diese Weiterbildung auch nicht willkürlich beschränken auf die Zeit der Urgemeinde und des apostolischen Zeitalters. Wir werden mit demselben Recht von einer neuen wenn auch abgeleiteten Offenbarung im Zeitalter der Reformation reden und uns klar machen, dass dieser Strom des Offenbarungsgeschehens niemals zum Stillstand kommt, ja nicht kommen darf, so lange das Christentum etwas lebendiges ist. Damit ergibt sich denn, dass wir bei der Frage nach dem Wesentlichen im Christentum überhaupt keine rein äussere Auktorität zur Verfügung haben, von der man die Beantwortung einfach ablesen könnte, – auch nicht die mehr oder minder deutlich erkennbare historische Person Jesu. Wir werden vielmehr unsern Blick über die ganze Breite und

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Befund auch eher negativ sein, die Wesensbestimmung stellt mit der Urgestalt ein Kontinuum her, das auch Gegensätze und Spannungen enthält. Allerdings gilt nach Troeltsch wiederum auch, dass überall dort, wo mit der Gewissheit gegenwärtiger Überzeugung ein als christlich empfundener religiöser Gehalt als neu gegenüber den vergangenen Gestalten christlicher Frömmigkeit empfunden wird, dieser auch als neues Element christlicher Frömmigkeit bekannt werden darf: „Wo wir gewiß sind, daß uns der Geist Christi durch die Geschichte hindurch ein neues Wort sagt, brauchen wir uns nicht schämen einzugestehen, daß es ein neues Wort ist.“75 Troeltsch markiert hier in aller Deutlichkeit noch einmal die dem Wesensbegriff inhärierenden Entwicklungspotenziale. Als ein sich „entwickelndes, geistiges Keimprinzip“76 ist es dem Wesen des Christentums – wie jeder anderen historischen Idee – eigentümlich, dass sich im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung neue Gedanken in den Wesensbegriff aufgenommen werden. Dabei ist es zunächst zweitrangig, ob man eine historisch ausweisbare Kontinuität zum Ursprung herstellen kann. Das deutende Subjekt erkennt in den neuen Gehalten, die das Christentum sich im Verlauf seiner Geschichte aneignete, den wirkenden Geist Christi. Wesensbestimmungen wie die Harnacks und Troeltschs sollten, so Troeltschs Idee, in der frühen Moderne nach der historistischen Schleifung der kirchlichen Dogmen als legitimes Mittel der Glaubensorientierung dienen. Denn anhand jener können sich die pluralen Zugänge zum Christentum auf eine gemeinsame Grundhaltung zu gesellschaftlichen Fragen verständigen, ohne dass dabei die individuelle Vielfalt der Glaubenspositionen substanziell eingeengt würde. Auf dem Hintergrund dieser Gemengelage hält nun Wilhelm Bousset im Rahmen eines Ferienkurses der Landeskirche Hannovers im Frühjahr 1903 seine Vorträge über das Wesen der Religion, zu deren Vorgängern und Vorbildern Bousset vor allem Harnacks Wesensschrift zählt. Um Boussets methodischen Zugang zur Frage nach dem Wesen des Christentums wie auch die materiale Wesensbestimmung anLänge der Gesamterscheinung des Christentums wandern lassen müssen, werden rückwärts dringen müssen bis zu den Anfängen der christlichen Religion der Person Jesu, die ja freilich ihre überwiegende Bedeutung immer behalten wird, werden wieder von da aus der Entwicklung der Dinge begreifend nachgehen müssen bis in unsre Gegenwart und werden letztlich nicht ohne den Einsatz persönlichster Ueberzeugung auskommen können, wenn wir uns die Frage nach dem Wesen des Christentums beantworten wollen. Bei dieser Gesamtauffassung wird dann auch die Erkenntnis, dass wir vom historischen Leben Jesu so viel weniger Sicheres wissen, als wir möchten, sein Erschreckendes verlieren“ (Hervorhebung JH). 75 Troeltsch, Wesen, 438 (Hervorhebung im Original gesperrt). Ob man mit der Neubestimmung des Wesens die Kontinuität zum Christentum unversehens aufgibt und in eine neue Religion einlenkt, ist nach Troeltsch nicht präventiv auszuschließen, allerdings darf man hoffen, dass der „innere Erfahrungseindruck von der Kraft christlicher Erlösungszuversicht und der Reinheit christlicher Sittlichkeit“ sich weiter bewährt. Die Kontinuität beruht – freilich unter Einbeziehung der historischen Tatsachen – letztlich „in der inneren gewissenhaften persönlichen Überzeugung […], daß man in seiner Auffassung vom Wesen des Christentums dessen echte und wirkliche Gedanken in sich aufgenommen und für die Gegenwart geformt habe.“ 76 Troeltsch, Wesen, 418.



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gemessen rekonstruiert zu können, soll daher im Folgenden vor allem dessen Wesensschrift als Leitfaden dienen. Darüber hinaus sollen einige kleinere Schriften und Rezensionen Boussets hinzugezogen werden, in denen er explizit auf die Wesensfrage eingeht. Hinsichtlich der sich daran anschließenden Abschnitte zur ‚Weiterentwicklung‘ des Wesens des Christentums angesichts der neuzeitlichen Umformungskrise und zur eigentümlichen Kontur der modernen, neuprotestantischen Frömmigkeit wird wiederum die Wesensschrift, aber auch andere populärwissenschaftliche Schriften, insbesondere Boussets Religionsgeschichtliches Volksbuch Unser Gottesglaube, Verwendung finden, die sich mit ihrem kirchlich-praktischen Anliegen für die Frage nach Boussets Fassung einer modernen christlichen Frömmigkeit ausgezeichnet eignen. In Anerkennung der Leistung von Harnacks Wesensschrift würdigt Bousset diese als einen „bleibenden Besitz evangelischen Christentums“77. Wie Harnack will nun auch Bousset das Wesentliche in den wechselnden historischen Formen greifen78. Für Boussets Problemzugang gilt: „Die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Christentums liegt doch auch nicht auf der Hand.“79 Was das Christliche ist, das muss nach Bousset angesichts der Fülle der geschichtlichen Erscheinungen, die für sich in Anspruch nehmen, christlich zu sein, erst ermittelt werden. Auch Bousset will also das Wesen christlich-religiöser Lebensäußerungen auf dem Weg der historischen Methode erhellen. Das Wesen des Christentums ist also auch für Bousset eine historische Idee, die hinter dem Erscheinungskomplex Christentum bzw. derjenigen Phänomene, die für sich in Anspruch nehmen, christlich zu sein, steht und diesen auch bestimmt. Hat Harnack sich hinsichtlich seiner Wesensbestimmung noch auf die Christentumsgeschichte beschränkt80, so will Bousset seine Suchbewegung auf die gesamte Religionsgeschichte ausdehnen, um im Medium der Frage nach dem Wesen der Religion dem Christentum und dessen Höchstgeltung eine noch höhere Plausibilität zu verleihen. Insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der Person Jesu ist nach Bousset der Rekurs auf das nichtchristliche religiöse Leben unerlässlich, um ihn als bis dahin und seitdem nicht mehr erreichte religiöse Persönlichkeit auch angemessen zur Geltung bringen zu können.81 Für die Konstruktion der Religionsgeschichte greift er auf den der historischen Methode immanenten Entwicklungsgedanken zurück. Entgegen einer offenbarungstheologischen Einengung der Religionsgeschichte auf eine bestimmte geschichtliche 77 WdChr 95. 78 Harnack, Wesen, 16f. Zum hermeneutischen Problem der Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem vgl. Barth, Christologie, 256–280. 79 WdR 9. 80 Für Bousset hat Harnack damit einen „neuen Stil der Darstellung geschaffen […], dessen Vorteile und Brauchbarkeit sich unmittelbar aufdrängen“ (WdChr 92). Die Vorteile erkennt Bousset wohl in ihrer erbaulichen Funktion, für den theologisch interessierten Laien eine geschichtsphilosophische Grundlage für die eigene Standortbestimmung bereitzustellen. 81 Hierzu vgl. WdChr 93f.

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Religion will Bousset die Induktionsbasis entschränken,82 indem er synchron, aber auch diachron den Phänomenbestand ausweitet, wie er in einer Rezension von Harnack Wesensschrift für die Theologische Rundschau ausführt. Die Frage nach dem Wesen des Christentums ist also in die Frage nach dem Wesen der Religion eingebettet.83 Zwar liegt in der Logik des religionsgeschichtlichen Vergleichs, dass das Christentum als eine bloß relative Erscheinung in den Blick gerät – das Christentum ist folgerichtig nur mehr die „vollkommenste Spezies des Genus“84 –, für dessen Funktion als nachgängiges Mittel der subjektiven Standortreflexion stellt dies für Bousset allerdings kein Problem dar. Vorgängig ist doch stets die ‚naive Absolutheit‘, die, wie Bousset zunächst mit Troeltsch noch 1907 postulieren zu können meint, „jener Stützen äußerer Gewißheit nicht mehr [bedarf]“85. Das Christentum ist also nicht als ‚absolute Religion‘ abzufassen, sondern es ist die besondere Ausprägung des in sich zusammenhängenden religiösen Lebens. Indem Bousset nun den Umweg für die Bestimmung des Wesens des Christentums über das religiöse Leben der Menschheit in Geschichte und Gegenwart nimmt, löst er ein Desiderat Ernst Troeltschs ein, der ebenfalls gegenüber Harnack

82 Vgl. WdChr 92f; vgl. WdR 7: „Der Theologe, der die Religionsgeschichte von oben nach unten konstruiert, ahnt gar nicht, in welchen Gegensatz er sich damit zu aller Wissenschaft vom menschlichen Geistesleben stellt.“ Zu Boussets religionstheoretischen Prämissen vgl. Kap. 2.1. 83 Zwar konstruiert Bousset 1903, also noch deutlich vor seiner Hinwendung zum Neufriesianismus, in seiner Wesensschrift näherungsweise einen Allgemeinbegriff der Religion, aber dieser ist nicht bewusstseinstheoretisch im Rahmen einer ausgearbeiteten Religionsphilosophie eingeholt, sondern ebenso wie das Wesen des Christentums als historische Idee gedacht, die der Entwicklung des religiösen Lebens unterlegt ist (vgl. nur WdR 9f; insbesondere aber KFR 435: „Die Frage nach dem Wesen des Christentums ist eine in erster Linie historische, immer nur mit einem annährenden Grad der Gewissheit zu lösende. Die Frage nach der Religion aber ist das nicht, hier handelt es sich vielmehr um eine ewig gültige Bewusstseinstatsache“). 84 WdR 8. 85 MuR 19; zu Troeltsch vgl. dessen Absolutheitsschrift, insbesondere das sechste Kapitel (210–244), die auf Bousset, wie er selbst schreibt, außerordentlich prägend gewirkt hat (vgl. WdR 286). Dass die ‚naive Frömmigkeit‘ unabhängig vom wissenschaftlichen Denken sich vollziehen kann, ist für Bousset allein schon mit der religionstheoretischen Unterscheidung von Religion und Theologie gegeben. Allerdings ist dies eine in der Moderne enorm erschwerte Position, denn angesichts des Konkurrierens der gegenläufigen Weltanschauungen um die Deutungshoheit darf die Religion sich nicht von der „wissenschaftliche[n] […] Überlegung“ (ebd. 20) dauerhaft isolieren. Sie bliebe sonst ein Fremdkörper in der modernen Reflexionskultur. Gewissheit lässt sich aber reflexiv nicht über den Rekurs auf die Geschichte sichern. Die christliche Religion ist unter historischen Bedingungen eben eine höchste relative Erscheinung, die sich nur als die gegenwärtig höchste Ausprägung der Religion darstellen lässt. Reflexive Gewissheit will Bousset daher subjektivitätstheoretisch über den Aufweis der Notwendigkeit des Religionshabens der menschlichen Vernunft erreichen. Dies erlaubt ihm allerdings nach seinem Dafürhalten erst der Neufriesianismus, mit dem er ungefähr ab dem Jahr 1908 bekannt wurde. Bis dahin bleibt er bei der Troeltsch’schen Fassung, indem er die naive Absolutheit von der wissenschaftlichen Absolutheit abrückt und der Wesensbestimmung nur mehr den Status einer nachgängigen Rechenschaft zubilligt, die aber ohne die vorausgehende religiöse Überzeugung nicht verfängt.



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die Ausweitung des Phänomenbestandes eingefordert hat86: „Wenn wir hier Wesentliches vom Unwesentlichen in klarer Erkenntnis sondern, in den wechselnden Formen zeitlicher Ausgestaltungen den ewigen bleibenden Grund mit Sicherheit erkennen wollen, so gibt es kein besseres und vorzüglicheres Mittel als die vergleichende Religionsgeschichte.“87 Das Wesen des Christentums könne so „noch besser und eindringlicher“88 erfasst werden als in Harnacks Reduktion der Materialbasis auf die christliche Religionsgeschichte. Zunächst gewährt jener Zugang über die Religionsgeschichte die Bestimmung des Wesens des Christentums im Unterschied zum außerchristlichen religiösen Leben. Indem Bousset bestimmte Typen geschichtlicher Religion konstruiert, gewinnt er ein Vergleichsmoment, anhand dessen er das Wesen des Christentums zunächst typologisch einholen kann.89 Die Stufenfolge der Religionstypen konstruiert Bousset in der Abfolge Stammesreligion, Nationalreligion, prophetische Religion, Gesetzesreligion und Erlösungsreligion.90 Bousset verarbeitet dabei Wellhausens Entdeckung der Spätdatierung des Gesetzes Israels und nimmt produktiv die Hochschätzung der Propheten durch Bernhard Duhm auf.91 War Religion auf der Stufen der Nationalreligion eng mit den soziologischen Größen Volk und Nation verbunden, so rücken nun mit dem Auftreten der Propheten und deren Gerichtsgedanken das Individuum und seine unbedingte moralische Inanspruchnahme deutlicher in den Bezugsrahmen der Religion ein.92 Auf der Stufe der prophetischen Religionen bildet sich allerdings ein 86 Vgl. Troeltsch, Wesen, 397: „Die das Wesen des Christentums ermittelnde Abstraktion bedarf also jedenfalls der vergleichenden Religionsgeschichte und bedarf letztlich der höchsten Abstraktion der Kulturgeschichte überhaupt, um historisch verfahren zu können […].“ Das Christentum muss als „Glied einer religiösen und kulturellen Gesamtentwicklung“ (ebd.) gedacht werden. 87 WdR 9. 88 WdChr 93. 89 Vgl. WdR 158; in religionsgeschichtlicher Perspektive geht es Bousset immer um einen bestimmten „Typus der Religion“. Zum typologischen Vorgehen Boussets vgl. Lang, Prophet, 186f. 90 Hierzu vgl. Kap. 2.1.5. Mit seiner Skalierung der Religionsgeschichte übernimmt Bousset den religiös grundierten idealistischen Entwicklungsgedanken. Anhand der verbreiterten Induktionsbasis meint Bousset nun eine religiöse Geschichtsdeutung gewonnen zu haben – freilich besitzt diese auch nur für sich religiös verstehende Menschen in der Moderne eine Überzeugungskraft (vgl. WdR VIIf) –, die die gesamte Religionsgeschichte in letzter Konsequenz als teleologisch gerichtet erscheinen lässt trotz „wiederholten Stillstandes und mannigfacher Rückbildung“ (WdR 7). Für Bousset ist dabei die Überzeugung leitend„[...] daß alles religiöse Leben des Menschen ein großes Weben und Wirken Gottes sei, durch das er selbst die Menschen aus dem Irrtum zur Wahrheit, aus dem Unvollkommenen zum Vollkommenen, aus dem Egoismus zur Gemeinschaft, aus dem Sinnlichen zum Sittlichen, aus dem Natürlichen zu Geistigen, Persönlichen emporlockt und zieht“ (ebd. 26). 91 Vgl. hierzu Lang, Prophet, 183–185. 92 Zwar nahm laut Bousset diese religionsgeschichtliche Entwicklung schon auf der Stufe der Nationalreligion ihren Anfang, denn sobald das jenseitige Vergelten nach seinem Tun in der Reflexion ausgebildet wurde – wenngleich dieses auch noch auf sehr unvollständige Weise geschah –,

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zweiter, noch mit der Moralität unverbundener Gedanke der Religion aus, der zwar immer latent vorhanden, nun aber durch die prophetische Persönlichkeit zur Welt gebracht wird: der Erlösungsgedanke als „Glaube an ein höheres Leben.“93 In der Religionsgeschichte hat der Erlösungsgedanke jedoch zu verheerenden ‚Einseitigkeiten‘ geführt, die in einer vollständige Weltverneinung, wie im Platonismus und Buddhismus, mündeten.94 Offenkundig tritt dies in Spannung zu dem anderen wesentlichen Gehalt der Religion, der unvertretbaren moralischen Inanspruchnahme des Einzelnen. Bousset kommt notwendig zu dem Schluss: „Da wo die beiden Linien sich schneiden, wo eine Religion die Einseitigkeiten der beiden charakteristischen Religionsarten vermeiden und ihre Vorzüge verbinden wird, da wo sich die Erlösungsidee mit dem moralischen Element vereinigt, dürfte die vollkommene Ausgestaltung der Religion liegen.“95 Bousset beschreibt das Christentum also typologisch als „ethische Erlösungsreligion“96. Es führt aus der Welt heraus, radikaler als alle vorangehenden Religionstypen und als andere Erlösungsreligionen, und sie führt in ebenfalls unübertroffener Weise in die Welt mit ihren sittlichen Aufgaben hinein. Das Christentum als ethische Erlösungsreligion ist also wesentlich von einem Dual geprägt, wie ihn schon Troeltsch für seine Wesensbestimmung formulierte.97 Ist hiermit gewissermaßen der Idealtypus98 des Christentums markiert, so soll nachfolgend Boussets inhaltliche Bestimmung des Wesensbegriffs auf Grundlage seiner Deutung der Christentumsgeschichte nachgezeichnet werden. Mit der neuprotestantischen Tradition teilt Bousset die Überzeugung, dass das Wesen einer Religion zuerst in der Ursprungsgestalt, also in Predigt und Leben Jesu, zu finden ist. Allerdings ist das Wesen seiner Erscheinung stets vorgängig, sodass auch die historische Individualität der Predigt Jesu nicht mit dem Wesen identisch ist. Das Evangelium – für Bousset ein Synonym für das Wesen – ist also ein nicht-positivierbares Prinzip, das zwar in Jesu Predigt manifest wird, aber nicht mit ihr zur Deckung kommt.

richtete sich die Religion auf den Einzelnen, vgl. WdR 80ff.100. Doch erst durch die großen Propheten Israels wurde das Individuum mit der Religion fest verbunden, was für die ‚Selbsterfassung‘ der sich in der Geschichte entfaltenden Religion freilich von größter Bedeutung war. 93 WdR 24. Zur Begriffsgeschichte vgl. Kippenberg, Entdeckung, 172f. 94 Vgl. WdR 186–191. 95 WdR 191. 96 WdR 240; vgl. auch ebd. 210. Beide Gedanken, der Gedanke der Weltindifferenz und der Gedanke der Moralität, sind in einer Ellipse verbunden, vgl. ebd. 208. 97 Vgl. Troeltsch, Wesen, 422: „Das Christentum ist Erlösungsethik mit einer Verbindung optimistischer und pessimistischer, transzendenter und immanenter Weltbetrachtung, mit schroffer Entzweiung und innerer Verbindung von Welt und Gott, der prinzipielle und doch in Glaube und Tat immer von neuem aufgehobene Dualismus.“ 98 Bernhard Lang macht auf eine Kontinuität zu Webers späteren Religionssoziologie mit ihren Idealtypen aufmerksam (vgl. Lang, Prophet, 187).



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Als Keimprinzip99 muss das Evangelium stets von neuem in die jeweiligen „geistigen Verhältnisse“100 übersetzt werden.101 Für die Wesensbestimmung gilt ferner, dass sich das Wesen als eine die Großindividualität ‚Christentum‘ bestimmende historische Idee mitentwickelt, sodass die eigentlichen Gehalte des Evangeliums erst unter Hinzunahme der Kirchen- bzw. der Christentumsgeschichte sichtbar werden, aber zugleich auch neu und anders bestimmt werden müssen.102 Die religiösen Grundgedanken gehen dabei nicht im Evangelium Jesu auf, sondern weisen über dieses hinaus. Andernfalls erhielte man nur das Wesen der Predigt Jesu, nicht aber das Wesen des Christentums, das eben mehrere Gedanken in sich einschließt.103 Historisch zeigt sich dies darin, dass schon die Urgestalt für Bousset von zwei vordergründig nicht aufeinander reduzierbaren „Grundstimmungen“104 geprägt ist: auf der einen Seite die eschatologische Jesuspredigt mit ihrem kategorischen Imperativ und auf der anderen Seite Paulus’ heilsgewisse Predigt mit ihrem Indikativ. Beide Stimmungsgehalte stellen gewissermaßen eine Ellipse dar, zwischen deren Brennpunkten sich das christlich-religiöse Leben vollzieht. Daher konstatiert Bousset hinsichtlich der Wesensbestimmung, dass „das Evangelium erst in 99 Das Wesen des Christentums ist, wie Bousset zustimmend in der Rezension von Harnacks Wesensschrift ausführt, eine „lebendige, sich selbst fortentwickelnde Lebensmacht“ (WdChr 92). Ein Beleg für den Keimbegriff findet sich in UG 44. 100 WdR 262. 101 WdR 262. 102 Vgl. WdR 8: „So zeigt auch die Kirchengeschichte eine ganz allmählich immer reinere Erfassung der im Evangelium angelegten Religion des Geistes und der Wahrheit.“ Hier wählt Bousset die wechselseitige Auslegung von Ursprung und Wirkungsgeschichte, die Harnack vorgegeben hat (ders., Wesen, 15); vgl. auch den Brief an Paul Wernle vom 22. Dezember 1913 (Özen 186), wo Bousset beschreibt, wie Paulus „den geistigen Gehalt des Evangeliums Jesu“ in seiner Christusmystik Gestalt werden lässt – die „Gegenwartsstimmung“ dieser Gestalt „[passt] beinahe besser zu den Grundwahrheiten seines Evangeliums als jüdische Eschatologie und Menschensohndogmatik.“ 103 Vgl. WdChr 97f. Bousset moniert hier beispielsweise gegenüber Harnacks Wesensbestimmung und ihrer Frage nach dem Verhältnis von Evangelium und geschichtlich-humaner Welt (vgl. Harnack, Wesen, 51–89), dass die Frage letztlich nicht richtig gestellt ist. Denn erst das Christentum hat sich den „Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens“ angenähert – das Evangelium Jesu verhält sich hier ausschließlich „spröde“; die Verhältnisbestimmung muss daher negativ ausfallen. Fragt man hingegen nach dem Verhältnis von Christentum und Welt, so hat die geschichtliche Weiterbildung (vgl. WdChr 98) hier für eine Aufweichung der Gegensätze gesorgt, sodass die Frage entsprechend erst ausgehend vom Christentum sinnvoll gestellt werden kann, denn das Wesen des Christentums besteht eben gerade nicht in der Indifferenz gegenüber den Gütern der Gemeinschaft, wie es noch im Evangelium den Anschein hat: „Wenn aus der Geschichte des Christentums gezeigt wird, wie hier eine allmähliche Erweichung jener spröden Gegensätze eingetreten ist, wie das Christentum allmählich auch die äusseren Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens seinerseits anerkannt hat und wie doch in der ganzen Entwickelung kein Bruch mit der Vergangenheit vorlag, sondern eine einheitliche, in den ersten Anfängen begründete Tendenz, – so würde, glaube ich, die Darlegung [sc. in Harnacks Wesensschrift] noch überzeugungskräftiger und klarer ausfallen.“ 104 NJP 247.

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den beiden Grundstimmungen die ganze Fülle und Spannungsenergie seines Wesens [entfaltet] […].“105 Ein pluralistisches Moment ist hier also schon der Urgestalt eingeschrieben. Allerdings führt er – anders als Troeltsch – die paulinische Predigt von der Gegenwart des Heils genetisch in ihrem Kern doch wieder auf Jesu Frömmigkeit zurück – eine unvermittelbare „Antinomik“106 beider Grundstimmungen kann Bousset gerade nicht erkennen. Das theologische Interesse, das Bousset mit dieser Konstruktion hegt, kommt darin zu stehen, die von Wrede historiographisch vorgegebene Alternative „Jesus oder Paulus“107 zu unterlaufen und Paulus wieder enger an Jesus zu rücken, ohne dabei unterschlagen zu wollen, dass Paulus eine selbständige Gestalt christlicher Frömmigkeit geprägt hat, wie Boussets historische Studien gezeigt haben. Zum einen will Bousset so die Dignität der Person Jesu festhalten, denn nur Jesus hat dem religiösen Leben vermittels eines „schöpferischen Akt[es]“108 eine neue Wendung gegeben. Zum anderen will Bousset aber auch Paulus’ Bedeutung für das Wesen des Christentums festhalten, denn Paulus hat eben dem Keim, der „in einem niemals ganz zu zergliedernden persönlich geheimnisvollen Vorgang“109 von Jesus über den Umweg der Urgemeinde auf ihn übertragen wurde, eine Ausdrucksgestalt in der Grundstimmung des paulinischen Christentums gegeben, die für Bousset eben auch unlösbar zum Wesen des Christentums gehört. Neben der heilsgewissen Grundstimmung ist die bereits in der Urgemeinde einsetzende „eigentümliche Konzentration des christlichen Glaubens in der Person Jesu“110 ein unaufgebbares Wesensmerkmal christlicher Frömmigkeit, wenngleich die Mythologeme der paulinischen Theologie mit ihrem hamartiologischen Pessimismus freilich als unwesentlich auszuscheiden sind. Das dogmatische Problem, das vor allem das 19. Jahrhundert beschäftigte, ob nun die Person des Stifters oder ein geistiges Prinzip den Angelpunkt christlicher Religiosität bildet111, lässt sich nach Bousset im Rahmen einer Wesensbestimmung verlustfrei übergehen. Denn da vom Wesen als historische Idee zu reden nur im Verbund mit seiner „geschichtlichen Fortwirksamkeit“112 überhaupt erst sinnvoll wird und da sich das christliche 105 NJP 247. Vgl. hierzu Troeltsch, Wesen, 421: „So kann die Formel für das Wesen des Christentums überhaupt nicht ein einfacher Begriff […] sein. Sie kann nur eine komplexe, die besondere christliche Gestalt der in aller Religion vereinigten Grundgedanken von Gott, Welt, Mensch und Erlösung bestimmende Idee sein.“ 106 Claussen, Jesus-Deutung, 46. 107 NJP 246. Der Bezug auf William Wrede ebd. 108 NJP 237. Das Verhältnis Jesu zu Paulus lässt sich daher als „ursprüngliche[] und abgeleitete[] Frömmigkeit“ begreifen (ebd. 246). 109 NJP 235. Zum historisch kaum aufhellbaren, aber für die Aufgabe der Wesensbestimmung unverzichtbaren Verhältnis von Jesus und Paulus vgl. Kap. 3.2.3. Ausgehend von den Beobachtungen Wredes erschließt Bousset das Kontinuum zwischen Jesus und Paulus ‚divinatorisch‘, dabei rekurriert er sporadisch auf historische Tatsachen. 110 NJP 240. Dies enthält für Bousset eine „große Wahrheit“ (WdR 217). 111 Vgl. Rohls, Vorbild, 232–240. 112 WdChr 92.



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Prinzip faktisch nie ohne Bezugnahme auf die Person Jesu realisiert, ist das Prinzip nicht isoliert von diesem gelebten Leben zu haben.113 Geht er auch in seinem religionsphilosophischen Zugriff auf die christliche Religion einen anderen Weg, so rücken in seinem Wesensbegriff vom Christentum das Prinzip und die Person unablösbar zusammen. Blendet man hingegen ab, dass Person und Prinzip sich in der Geschichte wechselseitig auslegen, und reduziert das Wesen auf „ein möglichst photographisch getreues Bild seiner allersten Anfänge“114, geht man laut Bousset notwendig an einer angemessenen Deutung der Person Jesu für die Wesensbestimmung vorbei, denn diese lässt sich eben erst über die sich anschließende Christentumsgeschichte ermessen.115 Dieses Leben ist im „Personenbild“ Jesu symbolisiert, und wann immer sich auch in der Christentumsgeschichte eine „Fortentwicklung“116 des Keimes vollzog, geschah dies nach Bousset stets im Rückgriff auf das Bild Jesu, in dem einerseits die Frömmigkeit „ihren geistigen Besitz [...] anschaulich und lebendig machen [wird]“117 und in dem andererseits bestimmte Gehalte überliefert wurden, die dann die Christlichkeit der religiösen Lebensäußerung ausmachten.118 Die Überwindung des Dualismus zwischen eschatologischer Weltindifferenz der Erlösungsreligion und dem prophetischen Element der unbedingten moralischen Inanspruchnahme des Einzelnen ist im Rahmen der Wirkungsgeschichte des Evangeliums Jesu „nun nicht als Lehre zusammengefasst, sondern konzentriert sich in einem Personenbild von mächtiger Wucht und Entschlossenheit.“119 Dieses Bild vom Leben Jesu und dessen faktischer Überwindung des Dualismus hat allerdings erst die Gemeinde entworfen. Dass Bousset aber sowohl den typologischen Dual von Weltindifferenz und Weltgestaltung, als auch beide Grundstimmungen des Christentums, die Sehnsucht nach Überwindung des Abstandes in der Predigt Jesu und der Gewissheit, dass Gott schon gegenwärtig ist, letztlich wieder auf die Person Jesu zusammenziehen kann, hängt nun freilich an seiner Jesus-Deutung.

4.1.1 Das Evangelium Jesu Seit den prophetischen Persönlichkeiten des alten Israels und der griechischen Klassik erlebt das religiöse Leben gemäß Boussets Rekonstruktion in der Person Jesu wieder eine neue, vorläufig abgeschlossene Weiterbildung. Zwar macht Bousset das Zugeständnis, dass das antike religiöse Leben insgesamt eine deutliche Ten113 Vgl. WdChr 92. Zu Boussets religionsphilosophischer Bestimmung des Verhältnisses von Prinzip und Person vgl. Kap. 2.2. 114 WdChr 92. 115 WdChr 92. 116 WdChr 92. 117 NJP 241; vgl. auch WdChr 92. 118 Wir „begreifen von neuem in diesem Personleben eine Kraft, die noch immer lebendig, mächtig und kräftig in unser Leben hineinzuwirken vermag“ (WdR 213). 119 WdR 211.

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denz zum Universalismus und Individualismus aufweist, doch gilt hier, dass keine der geschichtlichen Religionen vollständig beide Gehalte der Religion in sich aufnehmen konnte. Immer wurde entweder der Universalismus durch partikularistische Interessen oder der Individualismus durch eine bestimmte Observanzpraxis – z. B. die doch nicht vollständig überwundene Herrschaft des Buchstabens und der Gelehrsamkeit im Judentum – unterlaufen. Das „Novum“120, das Jesus brachte, waren aber nicht bestimmte neue Gehalte der Religion, denn diese sieht Bousset allesamt schon in der Religionsgeschichte irgendwo geäußert. Insbesondere die Propheten Israels nahmen, wie Bousset vor dem Hintergrund der in ‚liberalen‘ Kreisen populären Propheten-Anschluss-Theorie121 postuliert, prinzipiell den Universalismus und die unbedingte moralische Inanspruchnahme des Einzelnen vorweg. Jesus ist also darin der „Vollender“122 der Religionsgeschichte, indem er die beiden Entwicklungslinien, den Erlösungsgedanken, der bei den Propheten noch unterbestimmt war, mit dem Gedanken der unbedingten moralischen Inanspruchnahme des religiösen Individualismus der prophetischen Religion, zusammenführte. Abseits der Vollendung der Religionsgeschichte durch die Zusammenführung der beiden Gedankenkreise besteht aber nach Bousset das Eigentümliche der Person Jesu vor allem in der Befreiung der Religion von allem übrigen, was neben diesen prophetischen Ideen zu stehen kommt, und in der Reduktion123 auf einige wenige Grundgedanken, die miteinander unvermittelt in der Religionsgeschichte überliefert werden. Jesus von Nazareth als Initiator eines religiösen Befreiungsprozesses zu deuten, mag auf den ersten Blick einleuchten, allerdings steht ein solcher Zugriff auf die Person Jesu doch – wie Bousset selber einräumt124 – in eigentümlicher Weise quer zum Befund der synoptischen Evangelien, denen Bousset diesbezüglich einen hohen Quellenwert bescheinigt. Wird hier doch gerade ein Jesus gezeichnet, der nicht gekommen ist, das Gesetz aufzulösen, sondern der sich ausschließlich zu den Schafen Israels gesandt weiß. So begreift schon der frühe Bousset den historischen Jesus und Teile seiner Predigt als in vielerlei Hinsicht formal der religiös-kulturellen Identität des jüdischen Volkes angehörig. Das schöpferisch Neue, das eine neue Re120 NJP 237. 121 Dazu Theißen, Kriterienfrage, 53–55; vgl. ebd. 92–98 die vorzügliche Darstellung der Entwicklung von Boussets Jesusbild. 122 MPT Seeberg, 416. 123 Die Parallele zu Harnack ist offenkundig. Zur geschichtsphilosophischen Kategorie der Reduktion vgl. Osthövener, Harnack, 301–303. Gegenüber Harnack macht Bousset geltend, dass gerade die Einstellung der Person Jesu in die Religionsgeschichte, insbesondere der Vergleich mit dem ‚Spätjudentum‘, den Harnack harsch kritisiert hatte (ders., Wesen, 18f), gewährleisten würde, dass vor dem Hintergrund des „gährende[n] Chaos’ der zeitgenössischen jüdischen Religion“ das „einfache und grosse, vorwärts und aufwärts weisende Bild der Person Jesu“ noch eindrücklicher sich gestalten würde (WdChr 93). Einig sind Harnack wie Bousset sich jedoch darin, dass das Evangelium Jesu gerade gegenüber dem ‚Spätjudentum‘ in seiner Einfachheit zu stehen komme (vgl. Harnack, Wesen, 35 mit WdR 196). 124 WdR 198f.



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ligion stiften sollte, sind also weniger die Vorstellungswelten, die Jesus nach Bousset mit seinen jüdischen Volksgenossen teilte – und zugleich die äußere Form seiner Predigt bildeten –, vielmehr ist es seine Frömmigkeit, die das Wesen des Evangeliums ausmacht. Der Befreier der Religion von ihren äußerlichen Funktionen, die eine Folge der Bindung der Religion an das Volk und Nation waren, konnte Jesus aber nur sein, weil sein Glaube von diesen äußeren Formen losgelöst war. Volk, Zeremoniell, Buchstabe, Gelehrsamkeit besaßen für die Frömmigkeit Jesu keine Bedeutung mehr, wenn sie auch formal nicht aufgehoben sind. So lässt sich nach Bousset die religiöse Freiheit Jesu als eine innerliche bestimmen. Aus dieser innerlichen Freiheit folgte, dass nun das Individuum anstelle des Volkes in den Bezugsrahmen der Religion einrückte. So ist „das Evangelium [...] zunächst reiner hochgespannter Individualismus“125, der um seine Freiheit in Religionsdingen, aber damit auch um seine religiöse Unvertretbarkeit weiß. Mehr noch: Die Religion wird in der Frömmigkeit Jesu – ganz analog zu den altisraelitischen Propheten – ein den Einzelnen und sein Leben bestimmendes Lebensganzes126, das das religiöse Individuum nun auch als moralisch unvertretbar vollständig in Anspruch nimmt. Das Gute und nichts anderes soll getan werden. Jesus deutet dafür den apokalyptischen Gerichtsgedanken um, indem er ihn seiner eschatologischen Perspektive entkleidete und so jeden unmittelbar vor das Angesicht Gottes stellt. So ist in Jesu Frömmigkeit die endgültige Verbindung von Religion und Moral – als „Korrelat des geistig-persönlichen Gottesglaubens“127 –, die in der Religionsgeschichte nach Bousset nur lose gekoppelt erschien, auf das Engste verknüpft. Im Zentrum des Evangeliums steht die heilige Beziehung von Mensch zu Mensch als der „innerste[] Kern alles sittlichen Lebens“128. Mehr allerdings zunächst nicht. Jesus predigt die Nächstenliebe, für die Güter der Gemeinschaft hat er keinen Sinn, sie stellen angesichts des nahenden Reich Gottes keinen eigenen sittlichen Wert dar.129 In diesem Zusammenhang insistiert Bousset allerdings darauf – wohl auch um die Annahme einer Antinomie im Wesen des Christentums zu vermeiden –, dass „das Evangelium im innersten Kern seines Wesens keine dem Leben und seiner Arbeit feindliche Tendenz“130 einnimmt. 125 WdR 198. 126 Hierzu vgl. Kap. 2.1. 127 WdR 204. Hier liegt ein Indikativ-Imperativ-Begründungsschema vor, vgl. ebd. 205: „Der Glaube an Gott den Vater ist nicht nur eine Gabe Gottes, durch die der Mensch frei wird von der lastenden Angst des Lebens, sondern eine ernste Verpflichtung.“ 128 WdR 207. 129 Vgl. WdR 208. 130 WdR 207. Diese Deutung der Ethik Jesu hält Bousset trotz der Wandlungen in seinem Jesusbild, die Jesus ab den 1910er Jahren als letztlich gescheiterten eschatologischen Wanderpropheten ohne ein identifizierbares messianisches Selbstbewusstsein zeichnete, bis zu seinem JesusKolleg 1919 durch. Vgl. Beyer, Historie, 163 mit Anm. 14.170f. Anhand des Aufsatzes Das Reich Gottes in der Predigt Jesu in der Theologischen Rundschau lässt sich Boussets konsequent eschato-

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Doch den eigentlichen Sprung gegenüber dem observanten Judentum und seinen nationalen Erlösungsvorstellungen, wie Bousset das Spätjudentum beschreibt, vollzieht Jesu Frömmigkeit, indem sie zuerst den Erlösungsgedanken auf den Einzelnen bezieht131 und ihn sodann auch seinem Inhalt nach umformt. So ist der Erlösungsgedanke des Evangeliums Jesu einerseits von allen nationalen Hoffnungen gelöst und spricht vielmehr vom noch ausstehenden höheren Leben mit Gott. Jesu Predigt ist also zunächst durch „Transzendenz“, aber auch durch „Überweltlichkeit“132 und daraus folgender Weltindifferenz gekennzeichnet. Gegenüber dieser äußeren Form der Reichspredigt kommuniziert Jesus jedoch „etwas von Substanz und Wesen der Religion“133. Jesus habe im Medium seiner eschatologischen Predigt vom Reich Gottes das „gewaltige Sursum Corda“134 gesprochen und damit die christliche Erlösungsreligion zunächst in ihrer Weltindifferenz bestärkt.135 Auch Troeltsch hat gegenüber einem bruchlosen Übergang des Wesens des Christentums in eine weltgestaltende Kulturreligion wie dem Katholizismus immer den „Ueberschuss“136 betont, der als ein Pol des Wesens niemals in der Entwicklung logische Deutung der Predigt Jesu einigermaßen datieren. Dort bezieht er auch deutlich Position für die Deutung von Johannes Weiß (vgl. ebd. 437f Anm. 1), kritisiert allerdings hinsichtlich der Deutung der Ethik Jesu zugleich die „einseitige Würdigung vom eschatologischen Gesichtspunkt“ (ebd. 446 Anm. 1); Troeltschs Deutung der Ethik Jesu findet Bousset hingegen unbedingt anschlussfähig (ebd.). Bousset betont gegenüber Weiß am religiösen Mehrwert der Ethik Jesu auch angesichts der eschatologischen Deutung festhalten zu wollen: „[Die] Ethik Jesu [ist] […] ihrer Grundart nach durchaus und rein eschatologisch gestimmt“. Allerdings lasse sich „das specifisch Eschatologische daran […] als noch zur äusseren Form gehörig abstreifen“ – und dann bleibe der „einseitig religiöse Charakter“ (ebd. 446; Hervorhebung im Original). Dies hat zwar zur Folge, „[...] dass die Ethik des Evangeliums […] uns in unserem […] mit der Kultur so innig verwachsenen Leben nicht bis in die Einzelheiten unseres alltäglichen Durchschnittslebens geleitet, dass sie hier der Ergänzung bedarf.“ Aber sie „bietet […] doch das Höchste, den letzten und festen Orientierungspunkt“, „dass der letzte Sinn des Lebens beim einzelnen liegt und nicht bei dem Gütersystem, das die Menschheit im langen Lauf der Geschichte sich errichtet. Wer diesen Orientierungspunkt seines Handelns gefunden hat, der steht darin fest“ (ebd. 447f). Vgl. hierzu Wilk, Deutung, im Erscheinen. 131 Analog zu diesem neu gefassten Erlösungsgedanken stehe im Fokus des jesuanischen Evangeliums die geistig-sittliche Persönlichkeit und deren eschatologische Vollendung. Auch hier geht das Evangelium über die einseitigen Erlösungsreligionen hinaus, da sie die menschliche Existenz nur als Leid und Erlösung nur als Eingehen in ein unterschiedsloses allgemeines Sein (vgl. WdR, sechster Vortrag) erfassen können. 132 RK 22. 133 RK 22. 134 RK 22. 135 Das „junge Christentum“ war eben auch deswegen zunächst „kulturfeindlich“(WdR 208). 136 Troeltsch, Wesen, 422; vgl. ebd. 422f: „Die Bedeutung der Urzeit bleibt immer die, die Herzen aus aller Kultur und Immanenz immer wieder zu dem zu rufen, was über beiden ist.“ Zum systematisch-theologischen Mehrwert dieser bipolaren Typisierung des Christentums vgl. Kippenberg, Entdeckung, 176–178: „[...] die Erlösungsreligionen, die die Seele mit der Welt entzweiten, legten die Voraussetzung für Subjektivität und Persönlichkeit des einzelnen. Nicht die Kultur allgemein, sondern nur die Religion in ihre sei wirklich imstande, die Subjektivität des Menschen in der Welt, besonders in der mechanisierten Welt, zu gewährleisten. […] Nur Religion kann die



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desselben aufgehen wird. Beiden, Bousset wie Troeltsch, ist es ein Anliegen, den in der eschatologischen Reichspredigt zum Ausdruck kommenden Erlösungsgedanken mit der darin eingeschlossenen, auf Dauer gestellten Distanznahme zur Kultur als einen irreduziblen Teilgedanken des Wesens des Christentum in Anschlag zu bringen. Andererseits wird durch Jesus der drohende Pessimismus der einseitigen Erlösungsreligion unterlaufen, indem er die Erlösung von der von Gott trennenden Sünde im irdischen Leben predigte. Es heißt nun nicht mehr „‚los vom Leben‘ [...], es heißt ‚los von der Sünde‘.“137 Diesem Erlösungsgedanken liege der Glaube zugrunde, „daß, wenn der Mensch sich zu Gott erhebe, ein Altes vergehen, ein ganz Neues lebendig werden muß.“138 Hier artikuliert sich schon die Stimmung der Heilsgegenwart, wie sie später dann bei Paulus manifest wird. Was Paulus in seiner Christusmystik als Heilsgegenwart erfährt, ist also schon in Jesu „einzigartige[n]“139 Erlösungsgedanken mitgesetzt: Auch Jesus ist sich der Gottesgegenwart gewiss. Die Botschaft vom nahenden Gott überträgt sich in die „religiöse Gewißheit von dem bereits gegenwärtigen Gott.“140 Die religionsgeschichtliche Innovation des Evangelium Jesu besteht also – trotz der das Diesseits relativierenden Hoffnung auf das höhere Leben mit Gott – in der Vermeidung der Dualismen des einseitigen Erlösungsgedankens, Welt und Gott auseinander zu reißen. Indem es den „sündenvergebenden Gott“141 verkündigt, der die Trennung aufhebt und ein neues Anfangen ermöglicht, verweist es den Einzelnen in die Welt mit „ihrer irdischen Arbeit“142, die nun aber nie mehr Zweck an sich selbst sein kann; die Spannung zur Kultur ist also unaufhebbar dem Evangelium eingeschrieben. Bei aller Bedeutung der Anfänge der christlichen Religion gilt für Bousset hinsichtlich der Wesensbestimmung: „[...] die Anfänge sind nicht das ganze Christentum.“143 Denn wenngleich auch im Evangelium Jesu prinzipiell beide Grundstimmungen des Christentums schon vorliegen, so wird der eine Pol des Wesens des Christentum, die Gewissheit der Gottesgegenwart und deren Heilsindikativ, allererst bei Paulus manifest. Paulus, der in vielem der „glücklichste Fortsetzer“144 Kultur vor einem dauerhaften Abgleiten in den Materialismus bewahren und die menschliche Persönlichkeit retten“ (ebd. 176). Diese systematische Funktion der Religion bewährte sich an der Urchristentumsgeschichte mit ihren Erscheinungen wie Eschatologie, Apokalyptik, Mystik und Askese. Der Begriff Erlösungsreligion und die auf dieser Typenbildung aufbauenden Skalierung der Religionsgeschichte scheint dabei auf den Religionsphilosophen Paul Siebeck zurückzugehen (vgl. ebd. 176; zu Siebecks „Religionsphilosophie, die Bousset in seiner Wesensschrift als Referenz nennt [WdR 271], vgl. auch Pfleiderer, Wirklichkeitswissenschaft, 27f). 137 WdR 210. 138 WdR 210. 139 WdR 210. 140 NJP 236. 141 WdR 209. 142 WdR 211. 143 WdR 214. 144 WdR 216.

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des Evangeliums Jesu ist, hat den bei Jesus nicht prinzipiell formulierten Gedanken der Gegenwart Gottes zunächst in seiner Christusmystik zutiefst empfunden und darüber hinaus vermittels seiner Theologie auch reflexiv eingeholt. Aus der Gewissheit der Heilsgegenwart heraus hat Paulus eine Ethik der Güter der Gemeinschaft entworfen und damit gleich in den Anfängen das Evangelium mit der Kulturwelt – ohne freilich den ‚Überschuss‘ aufzuheben –, ‚amalgamiert‘145. Über Paulus hinaus zeigt die Christentumsgeschichte insgesamt „eine allmähliche Erweichung jener spröden Gegensätze [sc. von Weltindifferenz und Weltgestaltung]“, „allmählich [werden] auch die äußeren Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens bis zu einem gewissen Grade durchdrungen und die so durchdrungenen Formen seinerseits anerkannt.“146 Bousset schätzt also die „selbständige religiöse[] Weiterbildung der Geschichte“ für die Wesensbestimmung außerordentlich hoch ein. Sie entwickelt allererst die Keime, die als „Tendenz“147 in der Urgestalt aufgespürt werden können. Der christentumsgeschichtliche Vorgang der Aneignung bestimmter immanenter Güterethiken aus der Kulturwelt bildet für Bousset also ein Kontinuum zur Ursprungsgestalt des Wesens. Überhaupt hält Bousset die Fähigkeit des Christentums, sich immer wieder die „[...] wertvolle[n] und großen aus dem Völkerleben ihm entgegengebrachte[n] Gedanken und Stimmungen zu amalgamieren“ für eine große Qualität des Christentums, die die analogielose Wirkungsgeschichte des Christentums und dessen vielgestaltige „Metamorphosen“148 erklärlich machen. Trotz der nicht aufeinander reduzierbaren Gestalten lassen laut Bousset die unterschiedlichen Christentümer letztlich doch wieder ein Einheitsmoment erkennen, das in der Überweltlichkeit bzw. Innerlichkeit des Evangeliums zu stehen kommt, die immer wieder Distanz zur Kultur wahrt: „Seine Innerlichkeit ist überdies so stark gewesen, daß […] in allen Metamorphosen, die es durchmachte, sein innerstes Wesen und seine Triebkraft nicht verloren ging.“149 Die Christentumsgeschichte ist jedoch zugleich die Geschichte der „Komplikation“150 des Evangeliums. Liegt dies freilich schon in der Logik des Wesensbegriffs, der – wie gezeigt – nie identisch mit der historischen Erscheinung zur Deckung kommen kann, so darf allerdings Boussets Konstruktion der Christentumsgeschichte nicht vermittels einer Dekadenztheorie, eines Abfalls gegenüber dem reinen Ursprung, gedeutet werden. Mag Bousset auch vor dem Hintergrund seiner historischen Studien zuerst die Abständigkeit des Urchristentums als neuer christlicher Kultverein im religiösen Leben der Antike markiert haben, so hebt er doch in seinem übrigen theologischen Schrifttum, wie unten noch zu zeigen sein wird, die „positive Arbeit“ 145 Vgl. WdR 215. 146 WdChr 98. 147 WdChr. 98. 148 WdR 215. 149 WdR 215. 150 WdR 232.



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der Geschichte und die „Notwendigkeit der Entwicklung“151 hervor. Vor diesem Hintergrund verfängt es gerade nicht, Boussets Christentumsverständnis als bloßen Jesuanismus zu beschreiben. Auch angesichts seines für die Wesensbestimmung fraglos dominanten Rekurses auf die Person Jesu ist für Bousset die Bedeutung der Geschichte für die rechte Bestimmung des Wesens des Christentums schwer zu überschätzen. So erklärt es sich auch, dass Bousset vielfach die tatsächliche Weiterentwicklung gegenüber den Ursprüngen betont. Ob Bousset dies tatsächlich durchhält oder ob Boussets Wesensbestimmung doch letztlich nur einer „einfache[n] Auswickelung des Keimes“152 im Sinne einer Verschalung des stets sich gleichbleibenden Kerns gleicht, wie Troeltsch Harnacks Deutung der Geschichte im Rahmen seiner Wesensbestimmung kritisierte, wird zu untersuchen sein. Zwar skizziert Bousset die Weiterentwicklung des Evangeliums materialiter in seiner Wesensschrift nur in groben Zügen, sie soll hier dennoch kurz rekonstruiert werden, um zu zeigen, dass gemäß Boussets Zugang zur Frage nach dem Wesen des Christentums die Christentumsgeschichte als Ganze für die Selbsterschließung des christlichen Geistes unverzichtbar bleibt.153 Zunächst ist jedoch mit der unvermeidlichen Komplikation des Evangeliums im Rahmen seiner geschichtlichen Realisierung einzusetzen. Hinsichtlich dieser gilt nach Bousset, dass sie schon bei Paulus einen ersten Höhepunkt erreicht, wobei der akute Prozess der Komplikation sogar schon vorher mit dem Eintritt des Evangeliums in den hellenistischen Kulturkreis einsetzt, wie Boussets historische Studien und hier vor allem sein Kyrios Christos gezeigt haben. Zwar hat Paulus in vielem den „Geist Jesu“154 nachdrücklicher manifest werden lassen, als es die Jerusalemer Urgemeinde vermochte. So realisierte sich nämlich christentumsgeschichtlich erst ab Paulus die innere Freiheit des Evangeliums Jesu – was bei Jesus noch fromme Innerlichkeit und innerliche Freiheit war, wurde mit Paulus’ Kirche zum Bestandteil christlicher Wirklichkeit.155 Und doch lagerten sich zunächst mit dem Über151 WdChr 100. 152 Troeltsch, Wesen, 422. 153 Vgl. Bousset, Evangelienkritik, 50f. – zitiert in Anm. 74 –, wo Bousset explizit die Bedeutung der Christentumsgeschichte für die Erschließung und Weiterentwicklung des Wesens des Christentums betont. 154 Bousset beschreibt diesen historisch schwer aufhellbaren Prozess in Noch einmal Jesus und Paulus. Wie bei Troeltsch kann auch bei Bousset der Geist Jesu nicht ohne die paulinische Auslegung des Christentums verstanden werden. 155 Vgl. WdR 216. Die paulinische Kirche zeichnet sich freilich wiederum gegenüber der frühkatholischen Kirche in ihrer Unbestimmtheit als „eine vorwiegend geistige Größe“ aus, während jene frühkatholische Organisationsform als „festgefügter, feingliedriger Organismus“ verfasst ist: „In einer Sammlung heiliger Schriften, in einem gemeinsamen Bekenntnis und gemeinsamer Glaubensregel hat sie ihre Einheit gewonnen. Zur Schrift ist die Tradition getreten […]“ (ebd. 223). Bousset schränkt hier allerdings gegenüber Harnack und auch Weinel ein, dass auch in der paulinischen Kirche der Geist kirchlich eingehegt wurde, wie es seiner Logik religiöser Lebenssystemen entspricht. Gemäß dieser Logik lässt die religiöse Masse den Enthusiasmus notwendig wie-

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gang der Evangeliums in den hellenistischen Kulturkreis und dann prominent in der ebenfalls von der hellenistischen Kultur- und Geistesgeschichte stark beeinflussten, paulinischen Theologie Elemente an das Evangelium Jesu an, die „bereits wesentliche Veränderungen und Verschiebungen“156 mit sich brachten. Bezogen auf die Christentumsgeschichte waren vor allem der Glaube an Christus157 und der paulinische Erlösungsgedanke solche Elemente, die dem Christentum in der Folge wieder deutliche Strukturanalogien zur observanten Religionsstufe eintrugen.158 Zwar wahrte Paulus selbst noch den Unterschied zwischen Christus und Gott, doch die von ihm aus einsetzende kultisch orientierte Frömmigkeitspraxis hatte für diese Unterscheidungen keinen Sinn mehr. Sodann wurde auch das Gottesverhältnis wieder durch das Sakramentswesen nur mehr ein vermitteltes. Dies ist nach Bousset zwar ein „Charakteristikum der religiösen Decadence“159, aber zugleich auch unvermeidlich, wenn sich eine Religion die soziologische Gestalt einer Kirche gibt. Der religiöse Individualismus der Frömmigkeit Jesu wich also einem kultischen Gottesdienst, der gleichzeitig die Verbindung von Moral und Religion wieder zu lösen begann, da die unbedingte sittliche Forderung nun in ein durch die Kirche vermitteltes Heilssystem abgelöst wurde. Und auch Jesu ‚einzigartiger Erlösungsgedanke‘ vom nahen Gott, der im Horizont des Reiches Gottes immer wieder ein neues Anfangen gewährt, wurde durch „das Vertrauen auf eine für uns vollzogene Heilstatsache“160 – den Kreuzestod Christi – abgelöst, die dann sakramental vermittelt wird. Die Komplikation des Evangeliums erreicht also schon im Paulinismus und dann in der sich an diesen anschließenden kirchlichen Traditionsbildung ihren Höhepunkt.161 der fallen und so trat „für den Durchschnitt an Stelle des Geistes die Tradition, die Nachempfindung und das Mitmachen“ (WdChr 101). 156 WdR 216. Die paulinische Theologie für Bousset eine hoch ambivalente Erscheinung, in der es nicht leicht fällt, wesentlich Christliches, das sich fremde Gedanken amalgamiert und darin eine berechtigte Weiterentwicklung der Evangeliums darstellt, von fremden Gedanken aus dem Hellenismus, die das Evangelium wieder auf eine niedrigere Religionsstufe zurücksinken lassen, zu unterscheiden. Vgl. hierzu Kap. 3.2. 157 Eine „Wahrheit“ jenes Christusglaubens erkennt Bousset zwar darin, dass nun „[d]ie absolute Bedeutung der Person Christi für seine Gemeinde hier auf einen abschließenden Ausdruck [gebracht ist]“ (ebd. 217), allerdings geschieht dies freilich in einer für den modernen religiösen Vollzug gänzlich unvermittelbaren Form. 158 Vgl. nur WdR 224: Priester und Theologen bestimmen nun das Geschick der Kirche – der Unterschied zwischen Priestern und Laien gewinnt wieder – analog Boussets ‚Spätjudentum‘ – an Bedeutung. 159 WdR 222. 160 WdR 221. Bei Paulus sieht Bousset noch den Versuch, den Stellvertretungsgedanken und „die Härten jener Gedanken [...] wieder umzubiegen.“. Die paulinische Tradition bringt erst das „[...] harte Dogma, daß Gott nicht ohne die im Opfertode Christi dargebrachte Sühne verzeihen kann“, auf seinen vollendeten Ausdruck. „[...] das Rätsel des Kreuzestodes Christi [ist] bis auf den Rest rational gelöst“ (ebd.). 161 Vgl. WdR 224: „Überblicken wir die weitere Entfaltung dieser Kirche in den nächsten Jahrhunderten, so sehen wir, wie im großen und ganzen die von Paulus an das Evangelium herange-



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Doch die Christentumsgeschichte bleibt doppeldeutig. Verstetigen sich auf der einen Seite die observanten kirchlichen Strukturen, so erkennt Bousset durchaus eigentümlich christliche Weiterentwicklungen. Wenngleich diese Christentümer nach Bousset für eine protestantische Wesensbestimmung letztlich als „überwundene“162 Stufen der christlichen Religionsgeschichte gelten, so versucht er doch – anders als Troeltsch, der gegenüber dem Katholizismus stets das ‚Wesenswidrige‘ hervorhob – die jeweiligen Gestaltwerdungen des Christentums als ‚notwendige‘ Realisationen unter den gegebenen historischen Herausforderungen zu deuten. Bousset weist also, wie es den Anschein hat, eine deutliche Nähe zur von Troeltsch verworfenen „organische[n] Evolutionstheorie“163 auf. So würdigt er die Doppelgestalt der katholischen Kirche abseits der dogmatisch-sakramentalen Überformung der christlichen Frömmigkeit, da sie zum einen die Distanz zur Welt wahrt und zum anderen als eine „zivilisatorische Macht ersten Ranges“164 Religion und Kultur wieder eng zusammenführt. Hier zeige sich noch der Geist Christi und die damit verbundene Fähigkeit zur Weiterbildung, die laut Bousset der Orthodoxen Kirche hingegen abhandengekommen ist.165 Letztlich kommt Bousset in seiner Katholizismusdeutung mit Troeltsch dahingehend überein, dass die katholische Kirche mit ihrem papalen Herrschaftswillen und der Ausbildung der mittelalterlichen Autoritätskultur, die im Unfehlbarkeitsdogma von 1870 gipfelte, als nicht vermittelbarer Fremdkörper in die Moderne hineinragt.166 Dass freilich auch im Rahmen des obbrachten Elemente weiter ausbildet [werden].“ Dies führt Bousset sogleich zu der praktischen Frage, die zugleich das Zentrum seines kirchenpolitischen Engagement bildet,, ob diese am Ursprung orientierte und eine so mächtige Wirkungsgeschichte freisetzende Form als „Ausdruck des Evangeliums“ Geltung im Sinne der allein bindenden geschichtlichen Ausdrucksgestalt beanspruchen darf: „Aber hier liegt doch eine Weiterbildung und Komplizierung des einfachen Evangeliums vor, denen gegenüber wir die Frage erheben müssen, ob sie das Recht haben, für immer als der klassische Ausdruck des Evangeliums zu gelten“ (WdR 219)? 162 WdR 223. 163 S. o. Anm. 55. Dass allerdings in Boussets Urteil die sich im Rücken dieser kultischen Frömmigkeit bildende „naturhafte[] Auffassung des Erlösungsgedankens“ letztlich die christliche Frömmigkeit „ertötet[]“, weist darauf hin, dass Bousset gerade jenen kirchlichen Erlösungsgedanken als unchristlich bewertet. Der Katholizismus steht also letztlich wieder auf der Stufe mit den Gesetzesreligionen, da auch er die Religion in einen „Rechtskontrakt zwischen Gott und dem Menschen“ (WdR 228) auflöst – die Kirche wird so zum Bußinstitut. 164 WdR 227. In WdChr verweist Bousset weiter auf die „lebendige[], katholische[] Frömmigkeit des Mittelalters mit ihren reichen Nachwirkungen auf die Renaissance“ (ebd. 101). 165 Vgl. WdR 227: Der sich immer mehr verhärtende Dogmatismus und die Auflösung der Religion in ein „System pünktlich zu befolgender, äußerlicher, in sich wirksamer Handlungen und Weihen“, sowie die enge Bindung an den Staatsapparat, die Bousset als ein Charakteristikum einer niedrigen Stufe der Religionsgeschichte, der Stufe der Nationalreligion, deutet (vgl. ebd. 63– 98.228; vgl. hierzu Kap. 2.1.5), haben zur Folge, dass im orthodoxen Christentum „[d]er Geist und die Fortbildungsfähigkeit verwinden.“ Nur in der „russischen Kirche“ erkennt Bousset noch „mannigfaltige Kräfte, ungeahnte Ansätze zur Weiterbildung“ und verweist dabei auf „Tolstois Schilderung russischen Bauernlebens“ (WdR 228). Diesen Aspekt der Deutung der „griechischslavischen Kirche“ betont Bousset auch in WdChr 100f. 166 Vgl. WdR 230f.

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servanten Kirchen-Typus „innige lebendige Frömmigkeit“167 möglich bleibt, liegt für Bousset an den großen Persönlichkeit, wie Augustin168 und Franziskus, die das kirchliche System des Katholizismus immer wieder unterliefen, indem sie Religion und den Einzelnen wieder zusammenbrachten. Insgesamt wird man also Boussets Katholizismusdeutung wohl doch im Sinne einer Verzeichnung des Wesens christlicher Frömmigkeit deuten müssen, demgegenüber nun die „vorerst letzte abgeschlossene“169 Weiterentwicklung nötig wurde: Luthers Reformation. Um nun Boussets eigentümlich protestantische Wesensbestimmung genauer konturieren zu können, soll nachfolgend dessen Deutung der protestantischen Weiterbildung am Wesen des Christentums eingehender rekonstruiert werden. Dazu soll zunächst Boussets Lutherdeutung skizziert werden, sodann soll dessen neuprotestantische Frömmigkeit auf dem Hintergrund des neuzeitlichen Kulturwandels und den damit verbundenen Plausibilitätsverlusten der kirchlichen Lehrbestände profiliert werden, um so zuletzt seinen Idealbegriff christlicher Frömmigkeit unter den Bedingungen der Moderne zu gewinnen.

4.1.2 Reformatorische Weiterbildung am Wesen des Christentums Gemäß der neuprotestantischen Normalerzählung ist für Bousset der junge Luther der Initiator eines wieder einsetzenden Befreiungsprozesses der christlichen Religion. Ähnlich der späteren Holl-Schule170 erkennt auch der Exeget Bousset im jungen Luther das religiöse Genie, das unter Anfechtung des Gewissens wieder ein persönliches Gottesverhältnis finden kann. Der ‚ganze‘ Luther wird also bewusst von Bousset nicht rezipiert.171 Insbesondere die dogmatischen Grundlagen von Luthers Rechtfertigungslehre sind für Bousset ein bleibendes Hemmnis in seiner Lutherrezeption, da sie noch mit dogmatischen Voraussetzungen arbeitet, die für Bousset restlos unter das Verdikt des allgemeinen Plausibilitätsverlustes dogmatischen Denkens in der Moderne fallen. Die reformatorische Christologie stellt noch den Mythos von Christi Erlösungswerk ins Zentrum, der für den modernen Menschen nicht mehr nachvollziehbar ist, wie noch genauer ausgeführt werden soll.172 167 WdR 231. 168 Zur ambivalenten Augustindeutung Boussets vgl. WdR 231. An Paulus anknüpfend hat Augustin den existenziell empfundenen Gegensatz von Sünde und Gnade wieder zur Geltung gebracht. Schöpferisch war er allerdings nur darin, dass er die Sündenvergebung an Gnadenmittel der Kirche band, was freilich bei einer gleichzeitigen Verinnerlichung der Frömmigkeit wiederum zu einer Veräußerlichung führte. 169 WdR 233. 170 Vgl. dazu Claussen, Glück, 208ff; Assel, Aufbruch. 171 Vgl. RL 26. 172 Vgl. den Brief an Paul Wernle vom 19. Oktober 1910 (Özen 182): „Du bist nun dem gegenüber der Meinung, daß eure Christologie einfach die der Reformatoren sei. Das kann ich doch so einfach nicht zugeben. Du gibst selbst zu, daß man bestreiten könne, ob man die Hauptsache in



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Abzüglich der dogmatischen Entstellungen seiner reformatorischen Entdeckung bleibt aber Luthers Grundeinsicht bestehen, dass es nun wieder auf den Einzelnen und sein Gottesverhältnis ankommt – der hochgespannte religiöse Individualismus des Evangeliums ist gleichsam wieder restituiert. Mit dieser Unterscheidungsleistung steht Bousset in einer breiten Traditionslinie neuprotestantischer Lutherdeutungen, deren theologisches Interesse ist – wie prominent am Beispiel Adolf von Harnacks gezeigt werden kann173 –, die lutherische ‚Lehre‘ von der Rechtfertigung auf das ihr vorangehende ‚Erleben‘ freizulegen.174 Luther wird vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung zum Herold neuzeitlicher Subjektivität und Gewissensfreiheit. Das religiöse Genie Luther habe die Unvertretbarkeit des religiösen Subjekts zum Zentrum evangelischer Frömmigkeit gemacht und damit die Religion aus dem starren Heilssystem der katholischen Kirche befreit. Entsprechend gilt gemäß Boussets Deutung der reformatorischen Bewegung insgesamt:

[...] in der Reformation [wurde] das religiöse Ich von neuem entdeckt in seiner gottgeborenen Sicherheit und seiner in der Erfüllung göttlichen Willens wurzelnden Stärke. Nach langem Ringen in schwerer Kerkerhaft erhob sich die einzelne menschliche Seele zur Freiheit des Christenmenschen, und heruntersanken die Bergeslasten, die den Strom persönlichen religiösen Lebens bisher gehemmt hatten.175

Wenngleich die dogmatischen Grundlagen der Rechtfertigungslehre auch nicht mit dem modernen Lebensgefühl vermittelbar sind, so heißt das für Bousset umgekehrt nicht, dass das religiöse Erlebnis, das Paulus und Luther eben mit dem unglücklichen juristischen Begriff176 der Rechtfertigung theologisch einzuholen versuchten, für die moderne christlichen Frömmigkeit bedeutungslos wäre. Das Gegenteil ist der Fall: „[D]as Erlebnis selbst ist dem christlichen Glauben unentbehrlich. Der Gläubige bedarf der allgemeinen Gewißheit, daß trotz aller Widerstände und Hemmungen Gott zu ihm gehört und er zu Gott.“177 der Christologie der Reformation festhalten könne, ohne die mythische respektive dogmatische Form. Und das bestreite ich entschieden.“ 173 Vgl. nur Harnacks Dogmengeschichte (Lehrbuch, 834–347). Claussen macht darauf aufmerksam, dass sich Karl Holl gerade darin von jener neuprotestantischen Normalerzählung, der sich auch Bousset verpflichtet fühlt, unterscheidet, dass er Luther eben nicht „in eine Kontinuität zur neuzeitlich-bürgerlichen Kultur“ rückt, sondern vielmehr ihn als die „große Antithese zur eigenen Epoche“ verstehen lehrt. „Luthers Gegenwartsbedeutung besteht darin, daß er die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten dieser Zeit zerbricht und die moderne Lebensorientierung in die religiöse Krise führt“ (Claussen, Glück, 211). 174 So schon Holl, Rechtfertigungslehre, 553 mit explizitem Bezug auf die Lutherdeutung der Religionsgeschichtlichen Schule. 175 UG 23. 176 Vgl. Bousset, Paulus, 1302: „Und es muß freilich zugestanden werden, daß er [sc. Paulus] hiermit keine besonders glückliche Formulierung […] gefunden hat. […] In die neue Frömmigkeit paßt jene Prozeßformel eigentlich nicht mehr.“ 177 UG 55.

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Die Reformation als historischer Komplex wird in Boussets Deutung der Christentumsgeschichte vor allem eine Befreiung der Frömmigkeit von „einer Unmasse an Außendingen“178 wieder zu sich selbst als personbildendem Ganzen.179 Der damit eingeleitete Prozess hört – so Bousset – bis heute nicht auf, und so sieht auch er sich und seine religionsgeschichtlich orientierte, historisch-kritische Exegese in einer Traditionslinie mit den Befreiungstaten der Reformation. Denn schon Luther habe „im Bunde mit der neuerwachten Universitätswissenschaft und dem wissenschaftlichen Gewissen“180 nur mehr die Bibel als letzte Autorität gelten lassen. Da Luther selbst – entgegen dem späteren Dogma von der Verbalinspiration der Bibel der protestantischen Orthodoxie – auch innerhalb der Schrift graduell zwischen religiös bedeutsamen und bloß historischer Überlieferung unterscheidet, wird seine prinzipielle Stellung gegenüber der Heiligen Schrift zum Urbild des eklektischen Umgangs mit der Schrift im modernen Protestantismus. In Boussets Lutherdeutung ist es gleichsam dessen hermeneutischer Zugang zur Bibel vermittels der humanistischen Wissenschaften, die in den Anfängen des Protestantismus das prinzipielle Recht einer auf die historisch-kritische Bibelerklärung zurückgehenden Auslegung der Bibel für die evangelische Frömmigkeit verbürgt.181 De facto fällt also auch die Bibel unter Luthers „Zerschlagen aller äußerer Autoritäten“182. Markiert dies auch in der retrospektiven Deutung den Anfang der Selbsthistorisierung des evangelischen Christentums, die für Bousset geradezu ein Signum moderner evangelischer Frömmigkeit ist, so ist ihm freilich in historischer Hinsicht bewusst, dass für Luther das supranaturale Heilsgeschehen, von dem die Bibel zeugt, immer noch als Mitte der Schrift unhinterfragt in Geltung steht. Anstelle der überkommenen kirchlichen Autoritäten wird nun mit der Reformation das innere religiöse Erleben zum Ort religiöser Gewissheitsbildung. Boussets Lutherdeutung gipfelt folgerichtig in dem Spitzensatz: „Er [sc. Luther] hat die Religion als Religion wieder entdeckt.“183. Zeigt dies Boussets Missbilligung einer reduktiven Lutherdeutung, die nur dessen Rechtfertigungslehre im Blick hat, so bedient er hiermit zugleich den klassischen Topos neuprotestantischer Lutherdeutung: Abseits der lutherischen Lehrbildung hat Luther vor allem der evangelischen Frömmigkeit ihre irreduzible Subjektivität und Unvertretbarkeit eingeprägt. Die eigent178 WdR 234. 179 Vgl. WdR 235: Frömmigkeit ist ein „Handeln der ganzen lebendigen Person und kein Machen in guten Werken.“ 180 WdR 233; vgl. auch RL 27, wo Bousset sein Programm eines religiösen Liberalismus in eine Linie mit Luthers Reformation stellt, denn dieser führt die Beseitigung der „Überreste des äusserlichen Autoritätensystems“ weiter. 181 Vgl. WdR 234: „Ist er auch selbst mannigfach von diesem Standpunkt abgewichen, so hat er doch mit alledem der modernen Bibelbetrachtung, welche die Schrift als die historische Urkunde von der in Christus gipfelnden Offenbarung ansieht, Heimatrecht in der evangelischen Kirche gegeben.“ 182 WdR 233. 183 WdR 235.



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liche Wirkung der Reformation ist demnach im religiösen Leben selbst zu suchen. Dies macht Bousset mit Troeltsch gegen eine Reformationsdeutung geltend – wie sie beispielsweise Friedrich Loofs durchgeführt hat184 –, die der Reformation eine Kulturbedeutung zuschreibt, die in der Tendenz eine bruchlose Kontinuitätslinie zwischen Reformation und moderner Kultur konstruiert. In vielem ist die Reformation in Boussets Deutung also letztlich wirklich ihrem Selbstanspruch gerecht geworden, nämlich im Sinne einer reformatio sich dem Glauben des Urchristentums in seiner ‚Einfachheit‘185 anzunähern. Allerdings – und das ist für Bousset das schlechthin Entscheidende – erschöpft sich das Wesen reformatorischer Frömmigkeit nicht in der Rückwendung zur urchristlichen Frömmigkeit. Durch das Streben nach Selbstunterscheidung vom mittelalterlichen Katholizismus hat die reformatorische Bewegung den eigentümlichen „Doppelcharakter“186 der katholischen Kirche aus kulturbedeutsamen, weltgestalterischen Impulsen und einer weltflüchtigen Stellung aufgegeben. Die nun erfolgende Weiterbildung des Evangeliums Jesu erblickt Bousset in der „prinzipiell andern Auffassung der Stellung des Christentums zur profanen Welt mit ihrer sittlichen Aufgabe und Arbeit.“187 Hat auch Bousset in seiner Wesensbestimmung des Evangeliums zwar keine asketische Ethik oder gar eine dualistisch motivierte Weltfeindlichkeit ausmachen können, so muss er doch einräumen, dass Jesus und das Urchristentum insgesamt eher indifferent gegenüber der Welt und ihren sittlichen Aufgaben gewesen ist.188 Luther habe nun den Alltag „entprofanisiert“189, so dass das Christentum nunmehr in der Form des Protestantismus eine „fördernde Stellung zum Leben der Menschheit und ihrer Kulturarbeit“190 ausbildet. Die Trennung zwischen den allgemeinen Lebensvollzügen in Wirtschaft, Familie und Gesellschaft und dem religiösen Leben wird von Luther eingezogen. Das Leben in der Welt und deren Güter bekommen nun einen eigenen sittlich-religiösen Wert, den das Evangelium Jesu diesen eben noch nicht zumaß. Im Leben gemäß dem sittlich Guten macht der Protestant seine Gotteserfahrungen und dient Gott mehr als der Priester im Gottesdienst, wie Bousset mit einiger Sympathie notiert.191 Mit dem Protestantismus ist das Christentum endgültig zu sich selber als ethischer Erlösungsreligion gekommen. Ist im Evange184 Vgl. Loofs, Stellung. Zur Bedeutung Luthers und der Reformation bei Troeltsch hinsichtlich „des religiösen Denkens und Fühlens“ in ausdrücklicher Unterscheidung zu einer unmittelbaren kulturellen Wirksamkeit vgl. ders., Bedeutung des Protestantismus, 299. Religion sei eben „mehr gestaltende als erzeugende Kraft“ (ebd.); vgl. dazu Bousset, RK 31: Religion schafft auch in dessen Religionstheorie „nichts Neues“, ihre kulturprägende Funktion reduziert sich auf die Kritik der Kultur. 185 Vgl. WdR 232. 186 WdR 236. 187 WdR 236. 188 Jesu „überweltlicher Idealismus [überspringt] fast alle die Vermittlungen und Bedingtheiten, in denen sich das höhere Leben der Menschen bewegt und entfaltet.“ UG 44. 189 WdR 236; Hervorhebung von mir. 190 WdR 240. 191 Vgl. WdR 236.

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lium hinsichtlich der Güter des Gemeinschaftslebens also gleichsam nur „ein neuer Keim gegeben, der der Entfaltung harrt, und ein erster Anstoß, der selbständige schaffende Weiterbildung fordert“192, so löst nach Bousset die Reformation die der gesamten Christentumsgeschichte eingeprägte Frage nach dem rechten Verhältnis zu den „sittlichen Gütern der Gemeinschaft“193 dahingehend auf, dass Kulturarbeit und religiöse Praxis fortan im evangelischen Christentum streng aufeinander bezogen sind. Die reformatorische Weiterentwicklung wird von Bousset in seine Wesensbestimmung mit einbezogen. Ob nun allerdings das protestantische Christentum nur einen Gehalt expliziert, der schon in den Ursprüngen angelegt ist – also gleichsam nur die oben schon genannte ‚Auswickelung eines Keimes‘ darstellt –, oder ob Bousset die Entprofanisierung des Alltags und die christliche Bearbeitung der „Formen und Ordnungen des menschlichen Gemeinschaftslebens“194 für einen gegenüber der Urgestalt tatsächlichen neuen Gedanken hält, wird hier nicht recht deutlich. Wichtig ist ihm jedenfalls, dass beide Erscheinungsformen christlicher Frömmigkeit sich miteinander vermitteln lassen, sodass der protestantische Wille zur Weltgestaltung jedenfalls kein vollends ‚neues Wort‘195 darstellt. Ist für die Bezogenheit auf die Güter des menschlichen Zusammenlebens als ein Signum christlicher Religiosität nun Luther selbst als bedeutender Gewährsmann von Bousset benannt, so trägt freilich auch Luther bestimmte Züge, die ihn für die Moderne eigentümlich fremd erscheinen lassen. So hat die Reformation, insbesondere Luther, wesentliche Züge mittelalterlicher Frömmigkeit unbesehen innerhalb ihrer konfessionellen Ausgestaltung der christlichen Religion konserviert. Bousset macht sich vermittels dieser Fremdsetzung der reformatorischen Frömmigkeit nochmals die neuprotestantischen Rezeptionshemmnisse und deren Dogmenkritik zu eigen. Wenngleich in Boussets Konstruktion auch erst die altprotestantische Orthodoxie letztlich für die Dogmatisierung der Lehre von der Verbalinspiriation, des christologischen Dogma mit seiner metaphysischen Spekulationen und der unbesehen übernommenen anselmischen Satisfaktionslehre wie auch der augustinischen Sünden- und Gnadenlehre verantwortlich zu machen ist,196 so hat auch die reformatorische Theologie die altkirchlichen Dogmen zur Voraussetzung. Den gegenwärtigen Protestantismus von diesen überkommenen Relikten eines unplausibel gewordenen, supranaturalen Weltbildes zu befreien, ist gemäß Boussets theologischem Programm die bleibende Aufgabe der modernen, undogmatischen Theologie. 192 UG 44. 193 UG 43. In der Tat scheint dies für Bousset eine der Leitfragen zu sein, um die die bewusst oder unbewusst gestellte Frage nach dem Wesen des Christentums zu allen Zeiten kreiste. Entsprechend ist es auch in seiner Wesensbestimmung eine Leitperspektive, unter der er die Christentumsgeschichte auf ihr Wesen hin offenlegen will. 194 UG 44. 195 S. o. Anm. 75. 196 Vgl. WdR 237. Die Orthodoxie ist mit ihrer autoritären Anstaltskirche gleichsam ein „lebensunfähiger Widerspruch in sich selbst“ (RL 27).



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4.1.3 Neuprotestantische Umformungen angesichts des neuzeitlichen Kulturwandels Boussets theologische Anliegen sind getragen von der Einsicht in die Unvermittelbarkeit des modernen Selbstgefühls mit den überkommenen Denkfiguren vorkritizistischen theologischen Denkens und dem diesem zugrunde gelegten vormodernen Lebensgefühl. Dieses neue Selbstgefühl, das gleichermaßen als Signatur der Neuzeit und der Moderne eingeprägt ist, ist in einen diametralen Gegensatz zur vorangehenden mittelalterlichen Einheits- und Autoritätskultur gerückt. Die Reformation als Ganze rückt entsprechend, trotz der vielen Elemente, die die neuzeitliche Subjektivitätskultur gewissermaßen vorwegnehmen, in die mittelalterliche Kultur ein. Das für diesen epochalen Wandel verantwortliche moderne Lebensgefühl zeichnet sich laut Bousset dadurch aus, dass es von einer beständigen Selbstrelativierung getragen ist. Denn die moderne Naturwissenschaft lässt den Menschen in „zwei Unendlichkeiten“197 blicken. Sowohl der Blick durch das Teleskop in die Welt des „Unendlich-Großen“ – der unendlichen Ausdehnung des Raumes – als auch der Blick durch das Mikroskop in die Welt des „Unendlich-Kleinen“ weist auf „Raumund Zeitverhältnisse“ hin, vor denen es dem modernen Menschen „schwindelt“198. War noch für die mittelalterliche und die antike Kultur der Kosmos in Harmonie geordnet mit dem Menschen im Zentrum von Gottes Schöpfung, so zeigt die Naturwissenschaft mit ihrem neuen heliozentrischen Weltbild und der Unendlichkeit des Universums, wie unbedeutend menschliches Leben angesichts dieser beiden Unendlichkeiten zu sein scheint. Den Menschen in der Moderne ist durch den Wandel im Weltbild also ein ethikotheologischer Zugang, der den Kosmos in seiner Ordnung begreifen will und in der Neuzeit durchaus populär war, kaum noch nachvollziehbar. Der Kosmos wird zum Rätsel, in das der Mensch nur stückweise Einblick erhält. Und so wird auch die biblische Schöpfungsidee, dass die Natur zum Nutzen des Menschen geschaffen sei und dieser gleichsam die Mitte der Schöpfung nachhaltig irritiert: „Was wir die freundlichen Sterne nennen, die am Firmament leuchten, in Wahrheit sind es feurige Vulkane, so ungeheuer und entsetzlich, wie keines Menschen Phantasie sich ausmalen kann.“199 Das Grundgefühl, das den Menschen in der Moderne bestimmt, ist demnach das der „Kleinheit, Zwerghaftigkeit und Ohnmacht“200. Vom Zentrum des Kosmos rückt er an dessen unbedeutenden Rand. Gesteigert wird dieses Gefühl laut Bousset zusätzlich durch die Erfahrung der eigenen Kontingenz, die sich in den lebensgeschichtlich erlebten „ungeheure[n] Zweckwidrigkeite[n], tausendfache[n] Vergeu-

197 UG 5. 198 UG 5; vgl. auch WdR 19. 199 UG 4. 200 UG 4.

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dung der Kräfte, sinnwidrige[n] rohe[n] zerstörerisch[e] Geschehnisse[n]“201 manifestiert. Angesichts dieser Erfahrungen stellt sich insbesondere in der Moderne die Frage nach dem Sinn und nach Gottes Vorsehung nachdrücklich.202 Ein höherer Zweck menschlichen Handelns scheint äußerlich zur Fiktion zu werden, denn die empirische Wirklichkeit lässt eine teleologische Gerichtetheit der Geschichte, irgendeine Höherentwicklung vom Niederen zum Höheren, die den sittlichen Willen zur Weltgestaltung überhaupt sinnvoll erscheinen ließe, nicht erkennen. Ferner trägt laut Bousset neben der Naturwissenschaft insbesondere die moderne Geschichtswissenschaft dem modernen Bewusstsein die Folgelast ein, dass nun alles miteinander in Korrelation steht und der Macht der Analogie unterworfen ist. Dies kann freilich für die christliche Vorstellungswelt nicht folgenlos bleiben. So erscheint beispielsweise im Rahmen jener historischen Weltanschauung auf der Ebene der Reflexion die Vorstellung eines wunderhaften Eingreifens Gottes in die Geschichte unmöglich geworden. Das geistig-persönliche Wunder im Rahmen eines Bekehrungserlebnisses203 sei nach Bousset damit zwar nicht bestritten, dennoch ändere sich das Gottesbild unter jenen Denkbedingungen unvermeidlich. Jenes supranaturale Eingreifen Gottes in die von ihm einmal gesetzte Ordnung, die eben als immanentes Geschehen völlig hinreichend beschrieben werden kann, muss – so Bousset – unter den Bedingungen der Moderne höchst unplausibel erscheinen. Neben der durch die Naturwissenschaften heraufgeführten Infragestellung des Menschen erblickt Bousset in dem Gedanken des gesetzmäßigen Ablaufs in Natur und Geschichte auch den Trost, dass Gott seine Schöpfung nicht korrigieren muss, sich vielmehr ihrer bedient um die Mitte seiner Schöpfung, die menschliche Persönlichkeit, auf ihn hin zu bilden: Wir haben gelernt, an einen Gott zu glauben, der ein Gott der Ordnung und nicht der Unordnung ist, an einen Gott, dessen Weltgewebe so fein und sicher ist, daß es niemals der eigenen Korrektur bedarf, an einen Gott, der im gesetzmäßigen Aufstieg in scheinbar erbarmungslosen Kampf ums Dasein die Generationen lebendiger Wesen in die Höhe führt.204

Indem Bousset nun seinen neuprotestantischen Gottesglauben von der Vorstellung des Wunders loslöst, nimmt er die – nach Bousset – unvollendeten emanzipatori201 UG 7. 202 Vgl. nur Bousset, Einleitung einer Vorlesung, 451. 203 Vgl. WdR 257. 204 WdR 255. Bousset versucht, die „Annahme eines unverbrüchlichen gesetzesmäßigen Naturgeschehens“ (WdR 254), in deren Evolution sich der Mensch nur als ein vorübergehendes Glied der Kette einreiht, zu entschärfen, indem er auf das ‚Rätsel des Konkreten‘, des Individuellen, des ‚So-Seins‘ der Wirklichkeit rekurriert. Denn angesichts der konkreten Wirklichkeit ließe sich der Glaube, dass „irgend welche Macht“ diese „einmal gesetzt [hat]“ (UG 6), durchaus durchhalten. Es ist angesichts der sich auftuenden Abgründe gleichsam eine beruhigende, religiös anschlussfähige Vorstellung, dass „dieses Da-Sein und So-Sein selbst das Undurchdringbare, Ewig-Rätselvolle [bleibt]. Es ist nicht mehr verstandesgemäß zu durchdringen“ (ebd.).



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schen Anliegen der lutherischen Tradition für seine Umformung des überlieferten Gottesbildes in Anspruch: „Was die evangelische Kirche der Vergangenheit bereits halb getan, vollenden wir nur mit unserem Verzicht auf Wunder.“205 Boussets neuprotestantisches Gottesbild versteht sich hier offenkundig als eine genuine Fortschreibung reformatorischer Theologie. Die Funktion der Inanspruchnahme dieser Tradition besteht freilich darin, die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Teilhabe neuprotestantischer Frömmigkeitsformen innerhalb der evangelischen Kirchen in theologie- und kirchenpolitischer Hinsicht zu untermauern. Die modernen Wissenschaften sind in ihrer Bedeutung für die Moderne allerdings ambivalent. Denn bedingt das moderne Empfinden für die Gesetzmäßigkeit in Natur und Geschichte für Bousset einerseits einen notwendigen Wandel im Gottesbild, der in der Form in der kirchlichen Frömmigkeit nicht erkennbar ist206, so bildet das allgemeine Gefühl für den gesetzmäßigen Ablauf des Weltgeschehens andererseits die Grundlage des frühmodernen Wirtschaftslebens. Denn das Gefühl für die Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit in Natur und Geschichte ist letztlich laut Bousset handlungsleitend geworden: „Wir mögen uns in der Theorie vorreden, die Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens sei nur Schein und eine Durchbrechung jener Gesetzmäßigkeiten alle Augenblicke möglich. Aber wir handeln nicht danach.“207 Die kausalgenetische Ableitung allen Geschehens ist laut Bousset insbesondere in den historischen Geisteswissenschaften zwar theoretisch weniger sicher, da alles Individuelle einen letzten Rest besitzt, der unableitbar bleiben muss. Außerdem gilt erkenntnistheoretisch, dass der menschliche Geist diese Gesetzmäßigkeit erst selbst erschafft. Mag dies auch in philosophischer Hinsicht gelten – Bousset selbst ordnet sich diesem Theorierahmen zu –, das Gefühl für die Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit bildet unhintergehbar die Grundlage des modernen Wirtschaftslebens. Auf dieser Grundlage beruht die „äußere Kultur“208 in Wirtschaft und Technik. Ein beständiger Fortschritt ist für Bousset nur aufgrund dieser Annahme zu erwarten. In der Moderne ist der Mensch in Boussets Deutung also von einer tief empfundenen Ambivalenz umfangen. Steht auf der einen Seite der im selben Maße des naturwissenschaftlichen Wissens zunehmende nihilistische Schrecken vor den Abgründen der Wirklichkeit mit ihrer Relativierung des Menschen, so steht auf der anderen Seite das „Grundgefühl, auf dem Boden einer sicheren, berechenbaren Wirklichkeit zu stehen.“209 Als Folge des kolossalen kulturellen Fortschritts auf allen Gebieten, der sich nach Bousset zuerst den Erfolgen der modernen Wissenschaften verdankt, stellt sich in der Moderne das Gefühl der faktischen Beherr205 WdR 256. 206 Die kirchliche Frömmigkeit ist durch den schon seit Paulus christentumsgeschichtlich wirksamen einseitigen Erlösungsgedanken gekennzeichnet, vgl. WdR 247. 207 WdR 254. 208 WdR 254; zur äußeren Kultur vgl. den Exkurs in Kap. 2.1. 209 WdR 255.

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schung der Natur ein. Freilich kann sich dies nur einstellen, wenn – wie gezeigt – die relativistischen Folgen der Resultate der Wissenschaften auf diesen Gebieten abgeblendet bleiben. Dies hat wiederum zur Voraussetzung, dass die Wissenschaften zu einer „praktischen Macht“, einem der bedeutendsten „Mittel im Kampf ums Daseins“210 in der Moderne herangewachsen sind. Dieser ‚Kampf ums Dasein‘ baut auf dem modernen Entwicklungsgedanken auf und lässt die gesamte Kulturarbeit auf allen Gebieten gemäß des aufklärerischen Gedankens eines ‚Aufstieg[s] vom Niederen zum Höheren‘211 als einen infiniten Entwicklungsprozess in ein goldenes Zeitalter, dem Reich der Geister212, erscheinen, an dessen Ende die Natur vollständig beherrscht bzw. vergeistigt ist, sodass die Natur – nun restlos rationalisiert – jedes Schreckens entbehrt.213 All die Errungenschaften auf allen kulturellen Gebieten prägen sich nach Bousset dem modernen Lebensgefühl ein, allererst „am Anfang“214 einer unendlichen Fortschrittsgeschichte zu stehen. Auf dieser zivilisatorischen Fortschrittserzählung beruht gleichzeitig das Gefühl der „relativen Größe des Menschen“215, das insbesondere dem modernen Lebensgefühl zu eigen ist. Sind hiermit die kulturgeschichtlichen Verschiebungen seit der Reformation bis hin zum modernen Lebensgefühl in der Rekonstruktion Boussets beschrieben, so sollen im folgenden Abschnitt die ‚Umformungen‘ dargestellt werden, die Bousset für unumgänglich hält, soll denn die Moderne nicht als ein Verfallsphänomen gelten, dem gegenüber es sich theologisch zu immunisieren gelte. Die „Veränderung des Gesamtlebens der Menschheit seit der Reformation“216, wie sie bis hierhin skizziert wurde, bildet dabei den Hintergrund für den inneren Wandel des Protestantismus.

4.1.4 Die selbständige säkulare Kultur als Umformungsfaktor Boussets religiöse Deutung der Christentumsgeschichte seit der Reformation zielt darauf, dass die neuzeitliche Freiheitsgeschichte entgegen dem äußeren Eindruck letztlich doch in einem genetischen Verhältnis mit der Entdeckung des religiösen Ichs in der Reformation steht. Allerdings untersteht dieses Verhältnis einer Vielzahl 210 Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, 219; so auch Bousset in RK 25. 211 Vgl. für Bousset WdR 7; für Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, 215. 212 Vgl. UG 31. 213 Vgl. RK 24; vgl. auch Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, 219, der ebenfalls von einer „geistigen Naturbeherrschung“ als Resultat des technischen Fortschritts in der Moderne spricht. Hier zeigt sich Boussets idealistischer Hintergrund, vgl. nur Bousset, Carlyle, 327. 214 UG 18. 215 UG 8. 216 WdR 243. Zur Geschichte des Begriffs ‚Umformung des Christlichen‘ vgl. von Scheliha, Umformung, bes. 3–5. Offenbar nimmt der Gebrauch des Begriffs mit Ernst Troeltschs Protestantismusstudien seinen Anfang (ebd. 3f). Bousset gebraucht den Begriff zwar nicht ausdrücklich – der Sache nach ist er freilich im Rahmen seiner Wesensbestimmung allgegenwärtig.



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von Vermittlungen, sodass es historisch kaum zu rekonstruieren ist. In ausdrücklichem Anschluss an Ernst Troeltschs Protestantismusstudien erkennt Bousset die Quellen der modernen Kultur als Gesamtkomplex vielmehr in der Antike217 und billigt dem reformatorischen Christentum in genetischer Hinsicht – bezogen auf die verschiedenen Gebiete der modernen Kultur und ihrer Freiheitsversprechen – eine nur mehr relative Kulturbedeutung zu: Die Reformation Luthers ist äußerlich betrachtet ganz und gar im Mittelalter stecken geblieben, sie hat uns keine neuen Staatsformen gebracht, sie hat uns nicht neue Weisen gesellschaftlichen Zusammenlebens gezeigt, sie hat uns keine neue Blüte des Schönen geschenkt, sie ist auch, was die äußere Gestaltung des religiösen Lebens betrifft, stecken geblieben in den Formen des Mittelalters.218

Historisch wirkmächtiger waren gegenüber dem Luthertum schon eher die späteren Ableger des linken Flügels der Reformation, etwa die Sekten wie Quäker und Puritaner.219 Sie haben in der Tat „mit ihrer Ablehnung jeder äußeren Autorität und ihren radikalen Freiheitsinstinkten“220 die moderne Welt mit heraufgeführt. Luthers Entdeckung des religiösen Ichs hingegen habe kulturgeschichtlich gleichsam nur mehr einen „indirekten Einfluss“221 nehmen können, da insbesondere das Luthertum als Anstaltskirche noch eng mit der in vielen Punkten fortgeschriebenen mittelalterlichen Autoritätskultur zusammenhing und so gerade ein Gegenlager zur Modernisierung bildete. Mit Troeltsch erkennt Bousset also in der Reformation nur mehr einen Vater der Moderne, die auf eben viele Schöpfer zurückweist.222 Kulturgeschichtlich jedenfalls ist ihr Beitrag marginal, sodass diese rein auf dem Gebiet des religiösen Lebens zu suchen ist. Allerdings scheint der Protestantismus eine besondere Affinität, ja eine Wahlverwandtschaft, zur modernen Kultur zu besitzen, immerhin erblickt Bousset eine gewisse Folgerichtigkeit darin, dass sich die moderne Kultur erst in den protestantischen Ländern ausbilden konnte.223 Sodass Bousset trotz allen historischen Problembewusstseins in seiner religiösen Deutung der Christentumsgeschichte letztlich zu der historisch kaum einholbaren Aussage gelangt: „Was aber gesund und zukunftsträchtig ist in dem Leben der modernen Menschheit, steht doch letztlich irgendwie im Zusammenhang mit der in der Reformation vollzogenen Befreiung des religiösen Ich, so sehr anerkannt werden mag,

217 Vgl. RK 24. 218 RK 31. 219 Vgl. RL 27f; zur historischen Bedeutung der Puritaner vgl. auch Bousset, Charlyle, 251. 220 RL 27; vgl. differenzierter RK 32. Hier hebt Bousset hervor, dass diese spiritualistisch orientierten Denominationen letztlich nichts positiv gestaltet haben, vielmehr nur einen „leeren Raum“ geschaffen, in dem dann die moderne Kultur sich in ihrer Selbständigkeit entwickeln konnte. 221 RK 32. 222 Vgl. Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, 297. 223 Vgl. WdR 243.

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daß es mit der bloßen Befreiung noch nicht einfach gegeben war, sondern seine eigne Geschichte hatte.“224 Jenes moderne Leben ist für Bousset also zunächst in seiner Selbständigkeit anzuerkennen. Bousset erkennt in der modernen Kultur den für seine Zeitgenossen unhinterfragt geltenden Hintergrund des je eigenen Selbstverständnisses. Daher muss es notwendig auch im Rahmen der Selbstverortung in der Wesensbestimmung zu einem Wandel der bisherigen Ausformungen christlicher Religiosität kommen. Damit ist die Frage der Umformung des Alt- in den Neuprotestantismus angestoßen, in Boussets Diktion die Frage nach der „Fortentwicklungsfähigkeit“225 der christlichen Religion vor dem Hintergrund des gewandelten modernen Lebensgefühls. Dies gilt zunächst im Hinblick auf das gewandelte Weltbild, das – wie oben gezeigt – auf dem Gedanken der Immanenz und der Geschichtlichkeit der modernen Lebenswelten aufruht.226 Wurden die Folgen für den modernen Gottesgedanken oben bereits skizziert, so liegt für Bousset hinsichtlich der Religion das schlechthin Epochale weniger in dem Wandel der neuzeitlichen Erkenntnisbedingungen, vielmehr kommt das epochemachende Neue gegenüber der christlichen Tradition im tief gewandelten modernen Lebensgefühl zum Ausdruck. Jenes moderne Lebensgefühl zeigt sich darin, dass es ein Selbstwertgefühl entwickelt hat. Dieses Selbstgefühl weist zurück auf das ‚Gefühl für die relative Größe‘, die der Mensch aus seiner Kulturarbeit zieht, die ihm gleichzeitig eine Ahnung verleiht, dass er mehr ist als die ihn umgebende Natur. Darüber hinaus speist sich dieses moderne Selbstwertgefühl aus dem moralischen Bewusstsein, für alles unvertretbar aufkommen zu müssen. Die Selbständigkeit der modernen Kultur zeigt sich für Bousset eben zuerst darin, dass sie autonom Moral ausbilden kann. In der Folge hat sich die moderne Kultur aller überkommenen Autoritätsansprüche entledigt und ruht nun in der Selbstgewissheit des sittlichen Bewusstseins. In Boussets Geschichtskonstruktion sind also alle vormodernen Epochen durch bestimmte Autoritätsstrukturen geprägt, sodass erst in der modernen Kultur die anthropologisch

224 UG 23; vgl. auch RL 31. Historisch sieht Bousset erste Anklänge der modernen Kultur erst deutlich später gegeben: „Als Cromwell das Rumpfparlament von psalmensingenden Puritanern nach Hause jagte, da erst begann die moderne Kultur“ (RK 32). Boussets Hochschätzung des neuen ‚modernen‘ Selbstverständnisses vgl. nur RL 26: „Mit alledem ist diese mit der Aufklärung beginnende moderne Frömmigkeit oder der moderne Liberalismus ein echtes Kind Luthers. Was hier unter Sturm und Drang an’s Tageslicht geboren war, was in Luthers besten und kühnsten Zeiten tatsächlich vorhanden war, was dann aber im Verlauf der ersten Entwicklung der reformatorischen Kirchen wieder untergetaucht war in den Formen mittelalterlichen autoritären Wesens, das kam nunmehr zu dauerndem und klarem Bewusstsein von sich selbst […].“ 225 WdR 242. Wenngleich Troeltsch die neuprotestantische Selbstunterscheidung vom Altprotestantismus für seine Protestantismusdeutung am energischsten fruchtbar machte, hatte er doch seine Vorläufer. Zum Aufkommen und zur Funktion des Begriffs vgl. Albrecht, Kulturwissenschaft, 29–31; zur inhaltlichen Konturierung des Begriffs vgl. ebd. 259–265. 226 Vgl. auch die von Bousset benutzte Selbständigkeitsschrift Troeltschs (ders., Selbständigkeit, 366).



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universale „Tatsache des Sittlichen“227 deutlich zu Bewusstsein kommt. Sie sichert den Wert des persönlichen Lebens gegenüber der Natur, die auf bloßem Zufall basierend keine teleologische Höherentwicklung kennt.228 Mit der kantischen Tradition erklärt Bousset also die Selbstgesetzgebung der Moral, die sich im Bewusstsein als kategorischer Imperativ artikuliert, zum Rückhalt gegen die naturalistische Auflösung der individuellen Persönlichkeit. Die „Macht des selbständig gewordenen moralischen Empfindens“229 lässt den Menschen nun also endgültig in sichere Distanz zur Natur treten. Dies hat Folgen für das moderne Lebensgefühl. Denn dieses kommt zunächst in dem Gefühl zum Ausdruck, dass das Leben schon für sich genommen einen Wert hat, indem es sich beständig vor die Entscheidung gestellt sieht, gemäß der inneren Gesetzgebung zu handeln. Sodann ist das moderne Lebensgefühl dadurch gekennzeichnet, dass es sich allererst am Anfang seiner Kulturarbeit wähnt. Trotz der inneren Widersprüche innerhalb der Signatur der Moderne, auf die weiter unten noch zurückzukommen ist, blickt man doch voller Optimismus in die Zukunft. In der Moderne ist also der kulturelle Fortschrittsoptimismus in dem Gefühl, dass das Leben einen Eigenwert besitzt, allgemein geworden.230 Dazu steht nun die in der Reformation nicht abgestreifte und seitdem im evangelischen Christentum auf Dauer gestellte „Grundstimmung“231 im frommen Bewusstsein in unaufhebbarem Widerspruch. Denn nach Bousset lässt sich die Grundstimmung evangelischer Frömmigkeit auf den Gegensatz von Sünde und Gnade reduzieren. Sie ist gleichsam der Reflex des in der Christentumsgeschichte dominant gewordenen „Erlösungsgedanke[ns] einseitiger Art“232 und seines dogmatischen Ausdrucks, der Stellvertretertheorie. Das in frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht gleichsam Verhängnisvolle besteht nun nach Bousset darin, dass diese fromme Grundstimmung der vollständigen Verderbtheit der menschlichen Natur letztlich in Handlungsunfähigkeit umschlägt. Zwar ist nach Bousset auch in der modernen Kultur sowohl durch die moralische Unvertretbarkeit des Individuums als auch durch die kategorische Maximalforderung an das eigene Handeln das Be-

227 UG 38. 228 UG 37f: „Uns Kindern einer neuen Zeit ist es ein geläufiger Gedanke, daß nirgends der Wert, die Stärke und Dauerhaftigkeit des persönlichen Lebens so gegeben und gesichert ist, wie im sittlich Guten und seinen Forderungen. Hier und hier allein findet das einzelne Leben ein Unbedingtes, seinen letzten Halt […]. In dem Du sollst, das unser Handeln und Tun regiert, besitzen wir eine Mauer und Schutzwehr, die uns in unsrer Eigenart gegenüber allem naturhaften Dasein schützt und schirmt.“ 229 WdR 252. 230 Vgl. WdR 244: Der modernen Kultur sei eben eigentümlich, dass sie „[m]it einem ungeheuren Selbstbewußtsein, in starker, ungebrochener Freude am Leben, auch an seiner sinnlichen Seite, breitspurig, mit beiden Beinen sich auf die Erde stellend, uns [entgegentritt]“. Sie ist eben „in sich selbst wertvoll […].“ 231 WdR 247. 232 WdR 247.

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wusstsein des steten Zurückbleibens233 hinter der sittlichen Forderung durchaus ausgeprägt. Allerdings unterscheidet sich diese Stimmung in Boussets Analyse noch einmal grundlegend von jener ‚altprotestantischen‘ Frömmigkeit, die sich eben auf den in Sünde und Gnade eingeteilten religiösen Erfahrungshorizont zu reduzieren droht. Bousset will jedoch keineswegs den Erfahrungsbezug des christlichen Sündenbewusstseins anzweifeln, vielmehr ist ihm zuerst daran gelegen, dass die „überreizte Stimmung“234, die s. E. in der Neuzeit für die protestantische Frömmigkeit prägend gewesen ist, sodass sie in Boussets Urteil noch gegenwärtig in den evangelischen Kirchen dominiert, sukzessive abgebaut werden kann.235 Denn zum einen bedeute dies die vollständige Infragestellung aller Moralität, da jene Stimmung gleichsam jede Tatkraft unterminiere, zum anderen stehe sie in einem unmittelbaren Gegensatz zum Selbstgefühl des modernen Lebens, sodass Bousset zu dem Schluss kommt: „jene Anschauung aufrecht erhalten, das heißt, dem modernen Leben seine Existenz nehmen, es zum Selbstverzicht zwingen zu wollen.“236 Vor dem Hintergrund dieser tiefgreifenden Verschiebungen müssen sich nun alle theologischen Begriffe restlos umformen. Was in der altprotestantischen Tradition noch metaphysisch-supranaturalistisch gedacht war, muss mit dem modernen Immanenzgedanken koexistieren können. Was als historisch gesichert galt, muss sich zunächst durch die historische Kritik irritieren lassen und auf seinen Symbolcharakter durchsichtig gemacht werden. Dies gilt vor allem für die dogmatische Christologie, sodass an ihr exemplarisch der Wandel der theologischen Begriffe beschrieben werden soll. Ist diese einerseits in der Neuzeit ihrer supranaturalen Voraussetzungen entkleidet, andererseits durch die historische Kritik in Frage gestellt, so hat diese Gestalt der Christologie auch in Christologien, die diese Pro­ blemkonstellation produktiv aufzunehmen versuchen, noch gegenwärtig den „Gedanken, dass Jesus absolut anders sei als wir, er von oben, wir von unten“237, zur Voraussetzung. Ein Fallstrick der dogmatischen Christologie ist für Bousset allerdings nicht zuerst die historische Unerkennbarkeit des historischen Jesus bzw. dessen Selbstbe-

233 Vgl. UG 54 wie auch WdR 249. 234 WdR 248. 235 Vgl. MPT Seeberg, 416: „Ist das wirklich alles, was man von der Menschheit ausserhalb Jesu sagen kann, dass sie rettungslos in der Sünde verstrickt sei? Wir wollen die Tatsache der allgemeinen Sünde in ihrem ganzen Ernste zugestehen, aber gibt es nicht auch eine entgegengesetzte Tendenz im Menschengeschlecht, eine gottgegebene Kraft des Guten, ein Aufwärts und Vorwärts, ein Hinstreben auf das Evangelium und seine Offenbarung.“ 236 WdR 248. Zwar bekräftigt Bousset mehrfach, diese auf dem Gegensatz von Sünde und Gnade beruhende Frömmigkeit der „Altgläubigen“ (ebd. 247f) respektieren zu wollen, allerdings muss diese Gestalt gleich einem Fremdkörper in die Moderne hineinragen. Damit nun Christentum und Moderne nicht unvermittelt nebeneinander stehen, gibt Bousset an, nicht anders zu können, als diese überkommene Frömmigkeit einer systematischen Kritik zu unterziehen (vgl. WdR 250). 237 WdR 250.



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wusstseins, auch nicht der weltanschaulich unplausibel gewordene Christozentrismus angesichts der sich ablösenden und ins Unendliche ausdehnenden Kulturperioden.238 Der Angelpunkt seiner Kritik an einer Christologie, die Jesus als „toto genere [...] verschiede[n]“239 von den der Erbsünde verhafteten Menschen fassen will, um sein Heilswerk aufrichten zu können, liegt anderswo. Gegen den einseitigen Erlösungsgedanken, der ja wesentlich auf dem Stellvertretergedanken beruht, bringt Bousset das gegenwärtige „religiöse Empfinden“240 in Anschlag. Unter neuzeitlichen Bedingungen ist die doktrinäre Theorie einer Übertragbarkeit der eigenen Schuld nämlich kaum noch plausibel, da sie in Widerspruch mit dem „selbständig gewordenen moralischen Empfinden“241 geraten muss. Bousset ruft hier Kant mit einem breiten Strom der protestantischen Theologie als Zeuge und Vordenker der modernen Kultur und ihrer moralischen Selbständigkeit auf.242 Und so wird der kantische Gedanke, dass Schuld eine nicht transmissible Größe ist, zum Allgemeingut des aus der modernen Kultur hervorgehenden Neuprotestantismus. In der Folge müsse nach Bousset nun auch der Erlösungsgedanke des neuzeitlichen Christentums eine „andere Nuance“243 gegenüber der vom einseitigen Erlösungsgedanken dominierten kirchlichen Tradition annehmen. Da nun das moralisch mündig gewordene neuzeitliche Sittlichkeitsbewusstsein sich gegen die Rezeption des von der Satisfaktionstheorie bestimmten Erlösungsgedankens der kirchlichen Tradition sperrt, muss dieser notwendig umgestaltet werden, um wiederum nicht das Autonomieempfinden des religiösen Individuums zu unterlaufen. Der altprotestantische Erlösungsgedanke wird hinsichtlich seiner Einseitigkeit im Sinne eines dem Glauben externen Heilsgeschehens aufgelöst und durch ein Spannungsverhältnis ersetzt. Gegenüber dem traditionellen Erlösungsgedanken und dem damit korrelierten Bewusstsein des Gegensatzes von Sünde und Gnade will Bousset zunächst festhalten, dass der christliche Erlösungsglaube nicht in das bloße Fürwahrhalten eines einmal geschehenen Faktums umschlagen darf. Ist damit freilich einmal die Gefahr eines mit dem neuzeitlichen Autonomieempfinden unvermittelbaren Autoritätsglaubens gegeben, so gilt ferner, dass die dogmatische Fassung dieses Erlösungsgedankens – wie es die historische Erfahrung lehrt –, den Frommen eben jene Grundstimmung eingeprägt hat, von der oben die Rede gewesen ist: Es gibt Christen, denen der Gedanke ihrer Sündhaftigkeit ein und alles geworden zu sein scheint, bei denen man zu dem Eindruck kommen könnte, Christ sein bestände darin, daß man sich für einen schlechten Menschen halte. Es gibt christliche Kreise, bei 238 Vgl. hierzu Kap. 2.2. 239 RuG 5. 240 WdR 253. 241 WdR 252. 242 Zu Kant als Philosophen des Neuprotestantismus vgl. Roderich Barth, Kant. 243 WdR 253.

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denen die Gefahr droht, daß ihnen die Behauptung ihrer Sündhaftigkeit nicht mehr Erfahrung, sondern eine Lehre, ein vorweg aufgestelltes Dogma zu werden droht, zumal wenn sie sich mit unhaltbaren Spekulationen über Wesen und Herkunft der Sünde verbindet […] Demgegenüber wollen wir daran festhalten, daß Religion, Glaube in erster Linie ein frohes Vorwärts und Aufwärts sei.244

Nach Bousset unterläuft der dogmatische Erlösungsgedanke, indem er doktrinär die Sündhaftigkeit des Menschen postulieren zu müssen meint, gerade das schlechthin bedeutende Motiv des christlichen Erlösungsgedankens, der eben in der Befreiung zum Tun des Willen Gottes mündet. Hinsichtlich des Stimmungsgehaltes bedeutet dies auch, dass der christliche Erlösungsgedanke nun nicht prinzipiell das Unvermögen des Menschen betont, sondern dass er allererst „Mut und die Tatkraft des neuen Lebens“245 zu entzünden weiß. Es gelte also vielmehr, den im christlichen Gottesglauben eingeschlossenen Erlösungsgedanken an ein höheres Leben in Gott auf seine befreiende Wirkung für das Leben hin freizulegen. Das befreiende Moment des christlichen Gottesglaubens kommt laut Bousset nun zunächst in dem christlichen Gottesbild zum Ausdruck, demzufolge Gott darin Gott ist, dass er die Sünden in einer freien Tat vergibt. Dies kann sich nach Bousset faktisch nur als ein Bekehrungserlebnis vollziehen. Zwar nicht im Sinne eines „im Nu“246 sich vollziehenden Erlebnisses einer lebensgeschichtlichen Wende; festgehalten werden muss jedoch, dass der Mensch durch das Neuwerden im Glauben „frei werden und loskommen [kann] von dem natürlichen, sinnlich bestimmten Ich.“247 Erlösung reduziert sich also nicht mehr auf einen bestimmten „Punkt“248, wie Bousset in antipietistischer Stoßrichtung meint, sondern sie wird zu einem auf die eigene Lebensgeschichte ausgedehnten Neuverstehen, das indes „mit tiefen Schmerzen verbunden“249 ist, da das vorangehende Dasein nun unter der Macht der Sünde wahrgenommen wird. Durch diese Verschiebung im Erlösungsgedanken bekommt dieser nun einen „frohe[n] und helle[n] Klang“250 und kann so nicht mehr mit der Lehre von der substanziellen Verderbtheit des Menschen verbunden werden. Indes bedeutet Boussets Zurückweisung eines dogmatisch ausgebildeten Sündenbegriffs nicht – wie oben gezeigt –, dass er den Erfahrungsbezug des Sündenbewusstseins in Abrede stellen will. Ihm ist nur daran gelegen, dass sich nicht vermittelt durch den dogmatischen Gedanken der substanziellen Sündhaftigkeit des Menschen das Bewusstsein des totalen Unvermögens im Menschen von vornherein verfestigt. Selbst244 UG 54. 245 UG 54. 246 UG 49. 247 UG 48. 248 UG 48. 249 UG 49; vgl. ebd.: „Gott zu begegnen, zu Gott kommen, bedeutet immer von einen Teil unsres Wesens freikommen.“ 250 UG 48.



Christliche Frömmigkeit in der umstrittenen Moderne

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verständlich ist mit der Inkraftsetzung zum Handeln nach Gottes Willen immer das Gefühl der Überforderung und des eigenen Zurückbleibens hinter den göttlichen Geboten mitgesetzt. Denn der absolute Anspruch, den Gott an seine Geschöpfe stellt, bleibt unvermindert in Geltung. In Boussets religiöser Geschichtsdeutung ist diese Ausprägung des christlichen Erlösungsgedanke nicht erst von Paulus eingeführt worden – dem eher die einseitige Bindung des Erlösungsgedankens an ein heilsgeschichtliches Ereignis zuzuordnen sei –, sondern schon der historische Jesus selbst hatte diesen Erlösungsgedanken fassen können. In geschichtsphilosophischer Hinsicht bedeutet dies ferner, dass in dem auf Jesu Glauben gründenden Gottesverhältnis die Religionsgeschichte schon ihren abschließenden Höhepunkt erreicht hat. Die modernen Selbstauslegungen christlicher Frömmigkeit finden also im elliptischen Erlösungsgedanken Jesu hinsichtlich des für das Christentum grundlegenden Ineinanders von Zuspruch und Anspruch ihr Urbild. Damit sind die Umstellungen benannt, die nach Bousset innerhalb des christlichen Erlösungsgedankens vorgenommen werden müssen. Dieser nun mehr seiner Einseitigkeit entkleidete Erlösungsgedanke steht nicht mehr in einem unvermittelbaren Gegensatz zum selbständigen moralischen Empfinden in der neuzeitlich-modernen Kultur.251

4.2 Christliche Frömmigkeit in der umstrittenen Moderne – der Neuprotestantismus und die christliche Zukunftsreligion Konnte bis hierher gleichsam der moderne Fortschrittsoptimismus beschrieben werden, den auch Troeltsch als Grundsignatur der modernen Lebensführung markiert252 – den Bousset auch durchaus „ehrfurchtsvoll“253 beschreibt –, so birgt die moderne Kultur allerdings eine ihr immanente Gefahr. Hat sie auf der einen Seite Wohlstand für breite Massen zugänglich gemacht, so bedroht sie auf der anderen Seite durch ihre kapitalistischen Eigengesetzlichkeiten die persönliche Freiheit des Individuums wieder, denn sie droht, „den Einzelnen zum bloßen Werkzeug zu erniedrigen, zum Rädchen in der ungeheuren Maschine ihres Betriebes“254, wie Bous251 Dies hat freilich Folgen für die Stellung zum Erlöser selbst: „Unser Glaube hängt nicht an der übermenschlichen andersartigen Wesenheit des Erlösergottes, sondern an dem irdischen Personenleben unseres Herrn, seinem Glauben, den er mit dem Tode besiegelt, seiner Art zu leben, seiner Liebe, mit der er die Sünder umfaßt. Wir verehren in diesem irdischen Menschen den Führer zu Gott für jedermann“ (WdR 251). Hierzu vgl. Kap. 2.2. 252 Vgl. Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, 215. 253 RK 25. 254 UG 35; vgl. auch ders., Carlyle, 325. Zur Karriere des Persönlichkeitsbegriff in der protestantischen Theologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Tanner, Persönlichkeit, 96–98 und Kippenberg, Entdeckung, 176. Zum Problem des Reduktionismus „des großen Singulars“ angesichts faktischer Komplexität jener am Persönlichkeitsbegriff orientierten Theologien vgl. Tanner ebd. 98f.

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set die Industrielle Revolution bildhaft vor Augen stellt. Sie wirkt darin also letztlich „depersonifizierend“, wie auch Troeltsch analysiert.255 Bousset ist sich der Ambivalenz der Moderne also durchaus bewusst. Einen bruchlosen Fortschrittsoptimismus will Bousset für den Gesamtkomplex der modernen Kultur gerade nicht anerkennen. Dieser reduziere sich gewissermaßen auf die ‚äußere Kultur‘ in ihrem Erwerb materieller Güter für den allgemeinen Wohlstand.256 Ohne die Errungenschaften der Moderne zu leugnen – sie sind zu einem gewissen Teil auch der Ermöglichungsgrund des modernen Freiheitsgefühls –, steht Bousset jedoch die Gefahr deutlich vor Augen, dass angesichts dieses unvergleichlichen Fortschritts, der ohne jede religiöse Grundierung auskam, die Religion nur mehr als ein voraufklärerisches Epiphänomen des Geistes gedeutet werden kann. Für jene ‚Gegenströmungen‘ mag Religion in genetischer Hinsicht eine Vehikelfunktion für bestimmte Bewusstseinsvorgänge besessen haben, nun aber ist das moderne Bewusstsein nicht mehr auf sie angewiesen. Am Ende dieser Aufhebungslogik sind die modernen Lebenswelten vollständig säkularisiert und können verlustfrei der Religion entbehren. Nach Bousset sei es signifikant für die Anhänger dieser Säkularisierungsthese, dass sie die erlebte Wirklichkeit und den wissenschaftlichen Zugriff auf diese in eins setzen;257 damit sind sie für Bousset freilich nicht mehr für eine religiöse Deutung der erlebten Wirklichkeit zugänglich. Diese Gegenströmungen, die mit der religiösen Option um die Deutungshoheit der Moderne ringen, stehen für Bousset in der Tradition des „englisch-französischen Positivismus und Materialismus“258. Sie sind gewissermaßen die Fortschreibung jener religionskritischen Weltanschauungen, denen Bousset ein letztlich reduktives Wirklichkeitsverständnis attestiert. Das moderne Leben ist also von Gegensätzen geprägt, die je unterschiedliche Zugänge zur erlebten Wirklichkeit haben und so um die Deutungshoheit in der Moderne konkurrieren. Entgegen der „Geschlossenheit der Kultur des Idealismus“259 besteht die Signatur der Moderne also zunächst in der Strittigkeit ihres Selbstverständnisses, sodass für Bousset angesichts der Erosion überkommener Plausibilitäten auch in gesellschaftstheoretischer Hinsicht gilt: „Die Gesellschaft hat die neuen Formen ihres Lebens noch nicht gefunden.“260 Auf der einen Seite stehen der religiösen Deutungsoption wahlverwandte Erscheinungen, die Bousset zuerst in den philosophischen Strömungen des deutschen Idealismus erkennt. Ihre religiöse Anschlussfähigkeit besteht in ihrer Kulturdeutung, die hier der Religion einen vornehmen Rang zuweist. Diesen religionsaffinen Strömungen stehen ferner nicht notwendig religionsfeindliche Strömungen an der Seite. Ihnen ist nach Bousset ei255 Troeltsch, Wesen, 447. Vgl. auch UG 45, wo Bousset noch einmal auf die Spannung innerhalb der modernen Kulturarbeit rekurriert, die „alle Kräfte derart verzehr[t], daß die Forderungen des individuellen Lebens erstickt zu werden drohen.“ 256 Vgl. den Exkurs in Kap. 2.1. 257 Vgl. BPJG 13. 258 WdR 245. 259 WdR 245. 260 Bousset, Carlyle, 325.



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gentümlich, dass diese einerseits die Wirklichkeit des Geistes zwar nicht materialistisch in der vorfindlichen Wirklichkeit aufgehen lassen wollen, andererseits kann die Welt des Geistes genauso wenig zur Normbildung herangezogen werden. Exemplarisch scheint für Bousset hier der englische Pragmatismus zu sein, der mangels eines idealistischen Zugangs zum Bewusstsein nur mehr den allgemeinen „Nutzen“261 zum Kriterium für die Weltgestaltung unter den Bedingungen der Moderne machte. Eigentümlich ist jenen Strömungen ferner, dass sie versuchen, „auf dem Boden einer rein immanenten Anschauung“262 Normen zur Kulturarbeit zu gewinnen.263 Dies zeige nach Bousset, „wie steuerlos die menschliche Kulturarbeit auf uferlosem Meere aus unbekanntem Woher zu einem unbekannten Wohin [treibt].“264 Und so erblickt Bousset in der Orientierungslosigkeit ein durch den Historismus bedingtes Krisensymptom der frühen Moderne. Das, was sein soll, ist aber nach Bousset nicht durch Rekurs auf das, was nützt, sondern nur durch den Rekurs auf die idealistische Verfasstheit des Geistes zugänglich. Mit dem religionsaffinen Idealismus teilt Bousset die Überzeugung von der Wirklichkeit der bewusstseinsimmanenten „Tatsache des Sittlichen“265. Und so erhofft er sich auch durch einen Rückgriff auf den deutschen Idealismus eine Auflösung der religiösen Krisis der Gegenwart, indem er Religion als eine Tatsache des Bewusstseins verstehen lehrt. Ist das Grundgefühl des Menschen abseits des zivilisatorischen Fortschritts, der – wie gezeigt – auf einer stabilen, berechenbaren Weltwirklichkeit aufbauen muss, von Relativismus und Skepsis266 geprägt, so ist das Gefühl für die Unbedingt261 RK 30; vgl. auch Bousset, Carlyle, 268 et passim. 262 RK 30. 263 Vgl. dazu exemplarisch Boussets Anzeige zur Gesellschaft für ethische Kultur in Die Christliche Welt (ders., Gesellschaft). Eigentümlich sei dieser Form säkularisierter ethischer Theoriebildung, dass sie Religion zur „Privatsache“ machen möchte (ebd. 7; vgl. auch Bousset, Egidy, 365). Für Bousset bedeutet das freilich die Selbstaufgabe der Religion. Allerdings nimmt er gerne das Anliegen der Gesellschaft für eine Ethisierung der Kirchen auf, nur meint er, dass dies erfolgreicher von innen durch den Rekurs auf das je neu zu übersetzende Evangelium durchzuführen sei. 264 RK 30. Obgleich Bousset angesichts der Inkompatibilität der kirchlichen Lehrbestände mit dem modernen Leben den Plausibilitätsverlust leicht begreifen kann, zumal diese dem Neuprotestantismus selbst fremd geworden sind, sieht er den pragmatistisch-eudaimonistischen Rekurs auf den Nutzen als immanenter Norm als sozialethisch verhängnisvoll an – wie er affirmativ in seinem frühen Aufsatz über Thomas Carlyle darstellt –, denn „[m]it den Formen droht der Inhalt, der unter jenen sich barg, verloren zu gehen, mit der Kirche und dem kirchliche Glauben ist auch Gott und der letzte Grund des Weltalls ein ‚Vielleicht‘ geworden. Mit den Formen der menschlichen Gesellschaft sind auch die alten tiefen und heiligen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch verloren gegangen“ (Bousset, Carlyle, 325). 265 S. o. Anm. 227. 266 Vgl. UG 8, wo Bousset fünf mögliche Bewältigungsversuche jenes modernen Gefühls der Marginalisierung des Menschen angesichts des unendlichen Naturzusammenhanges, des „trostlosen Schluß, zu dem die Betrachtung der äußeren Wirklichkeit uns führt“ (ebd.), auflistet: Neben den Materialisten, die „sich an die umgebende Wirklichkeit“ verlieren und die „Tiefe des Dasein“ ignorierten und Nietzsches „ins Übermenschliche gesteigerte Ich“ (ebd. 9), erkennt Bousset die

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heitsdimension, unter der das menschliche Handeln steht, der allen Relativismus unmöglich machende Rückhalt, der gleichzeitig die vorfindliche Wirklichkeit transzendiert und sie zur Vorläufigkeit herabsetzt. Mit dem Idealismus meint Bousset das „Gefühl heiliger Verpflichtung“267 als Grundtatsache des menschlichen Bewusstseins ausweisen zu können. Dem Historiker Bousset steht zwar der Wandel der konkreten „Formen der Sittlichkeit“268 vor Augen, entscheidend sei jedoch – ungeachtet eines sich immer mehr einstellenden „common sense“269 –, dass letztlich für den Menschen doch immer schon das autonome Sittengesetz handlungsleitend ist. Mit der kantischen Tradition führt Bousset den Begriff der „Pflicht“270 in das Zentrum des neuprotestantischen Selbstverständnisses ein. Damit ist jeglichem eudaimonistischen Wirklichkeitszugang der Boden entzogen – essentiell ist nur die unbedingte sittliche Forderung.271 Rezipiert Bousset also hinsichtlich der Autonomie der praktischen Vernunft das idealistische Erbe noch ungebrochen, so überbietet er es, indem er die Ermöglichung des Sittengesetzes an den Gottesgedanken bindet. Denn angesichts der alles relativierenden Wirklichkeitserkenntnis in Natur und Geschichte droht das autonome Sittengesetz ebenfalls unter das Verdikt des Zweifels zu geraten. Gesteigert durch die Erfahrung des täglichen Zurückbleibens hinter den Forderungen der praktischen Vernunft würde das autonome Sittengesetz nur mehr eine „unerträglich zwecklose Last“272 bedeuten. Hier bedarf laut Bousset die Bewusstseinstatsache des Sittengesetzes einer „Ergänzung“273 durch den Gottesglauben der christlichen Persönlichkeitsreligion, deren Eigentümlichkeit darin besteht, dass sie allererst das Sittengesetz als „Ausdruck des Willens dieser [sc. der göttlichen] Wirklichkeit“274 verstehen lehrt. Boussets Kantrezeption vollzieht sich also in den typischen Bahnen des theologischen Kantianismus mit der Umakzentuierung, dass Bousset überzeugt prominentesten Antwortversuche in der Skepsis gegenüber der erlebten Wirklichkeit und ihren Relativismen. Insbesondere Kant zeichnet sich für Bousset dafür verantwortlich, die Wirklichkeit in ihrer Rätselhaftigkeit und Unergründbarkeit in Bewusstsein der Moderne gehoben zu haben, was zur Folge hat, „dass diese Weltwirklichkeit uns tiefer, ernster, unergründlicher geworden ist, dass wir nicht mehr glauben mit unseren Gedanken spazieren gehen können, so wie man zwischen Blumenbeeten wandelt“ (RL 31f). 267 RK 26. 268 RK 26. 269 RK 26. 270 Bousset, Einleitung einer Vorlesung, 450. 271 Bousset steht hier in einer breiten Tradition neuprotestantischer Selbstverortungsstrategien, die im Anschluss an Kant die „Disjunktion von Glück und Religion“ vornehmen (vgl. Claussen, Glück, 209). Vgl. auch Boussets affirmative Darstellung der antieudämonistischen Pflichtenethik Thomas Carlyles (ders., Carlyle, 268.298): „[...] die Pflicht ist etwas dem Glück diametral Entgegengesetztes“ (ebd. 298). Zur theologischen Reserve gegenüber dem kantischen Pflichtenbegriff vgl. Bousset, Einleitung einer Vorlesung, 451. 272 UG 38. 273 UG 38. 274 UG 38.



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ist, die Religion in ihrer Selbständigkeit besser würdigen zu können, indem sie von ihrer bloßen Vehikelfunktion für die Moral gelöst wird und die Moral vielmehr mit Fries in Abhängigkeit zur Religion steht.275 Im Rücken von Boussets theologischen Kantianismus gewinnt nun der von Carlyle herrührende sozialethische Begriff ‚Arbeit‘ eine für die Aufschließung von Boussets normativem Begriff christlicher Frömmigkeit in der Moderne kaum zu überschätzende Bedeutung.276 Die Veränderung der Gesamtformation der Kultur in der Moderne „hat uns wieder ganz anders die Arbeit in und an der Welt und ihren Aufgaben als eine sittliche nahegerückt.“277 Vermittels der Arbeit tut der Protestant seinen Gottesdienst in der entprofanisierten Kulturwelt und erlebt hierin seinen Gott.278 Ist dies gleichsam die Repristination reformatorischer Berufsethik, so bedeutet es darüber hinaus, dass die neologische Idee, Religion sei Privatsache, für Bousset an den Grundüberzeugungen christlicher Frömmigkeit vorbeigeht.279 Ist mit der Reformation die Indifferenz Jesu gegenüber den Gütern der Gemeinschaft eingezogen, so hat sich auf dem Hintergrund der neuzeitlichen „Amalgamierung“ des christlichen Gottesgedankens mit modernen Kulturideen die neuprotestantische Frömmigkeit formiert, die Religion nur in einer unlöslichen Bezogenheit auf die säkulare Kulturarbeit fassen kann. Sind damit also, wie gezeigt, sowohl der Doppelcharakter der katholischen Kirche in ihrer weltflüchtigen und gleichzeitig weltgestaltenden Stellung zur Kultur als auch die Vorstellung des ausschließlich privaten Vollzugs der Frömmigkeit, wie sie ja auch als Variante neuprotestantischer Frömmigkeit in der Neologie in Erscheinung trat, gleichsam überboten, so bedeutet dies für Boussets neuprotestantische Frömmigkeit, dass sie praktisch werden muss. Weltflüchtige Sondergruppen gehören laut Bousset ohnehin nicht zum Kulturtyp der Moderne und stellen für Bousset einen Ausstieg aus der Moderne und ihren Problemen dar. In der Moderne hingegen sind die Probleme, denen sich die Kulturarbeit ausgesetzt sieht, „ins Riesenhafte“280 gestiegen – überall erkennt Bousset die auf dem Prinzip des ‚Kampfes ums Dasein‘ aufbauende allgemeine Kulturarbeit: „Spannungen der internationalen Gegensätze, des internationalen Wettbewerbes und innerhalb des einzelnen Volks“ sind die unvermeidliche Folge. Mit derselben Kulturarbeit ist nun auch jeder Protestant betraut. Da nun jene ‚innere Kultur‘ nach Bousset nur eine Macht über das Bewusstsein gewinnen kann, wenn sie auf eine stabile 275 Vgl. hierzu die Ausführung Roderich Barths zu Wilhelm Hermann, aber auch zu Albrecht Ritschl (Barth, Kant, 122– 129). 276 Dies hat auch Michael Murrmann-Kahl beobachtet (Heilsgeschichte, 417 Anm. 55). 277 Jesus, 75. Zur sozialethischen Kategorie ‚Arbeit‘ vgl. Bousset, Charlyle, 298. 278 Vgl. Bousset, Jesus, 75: „Ganz anders als zu Jesu Zeit ist für uns die übersinnliche Welt Gottes mit ihren ewigen Gedanken und diese zeitliche Weltarbeit in- und miteinander verwachsen. Die Grenzen zwischen Welt und Reich Gottes sind feiner, fließender, unerkennbarer geworden.“ 279 Vgl. Bousset, Gesellschaft, 7. 280 UG 45.

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‚äußere Kultur‘ aufbaut, besteht die Gefahr der Vereinerleiung beider getrennter Sphären.281 In diesem Fall wird die Kulturarbeit des Menschen orientierungs- und ziellos. Sie ist sich selbst Zweck genug und lässt die „Forderungen des individuellen Lebens“282 unberücksichtigt. Allererst der überlieferte, christliche Gottesglaube vermag es, der Ineinssetzung von Sittengesetz und am bloßen Wohlstand orientierter Kulturarbeit zu wehren, indem er jene kategorischen Forderungen zum Schutz der autonomen Persönlichkeit aufrechterhält.283 Die Religion wird so zur „ewigen Unruhe“284 in der Kulturgeschichte, indem sie den Tendenzen der Selbstverabsolutierung der Kulturarbeit durch den Rekurs auf den Gottesgedanken entgegensteuert. Religion gestaltet dabei nichts, sie schafft keine neuen Kulturgüter, sie ist in Boussets kulturtheoretischen Überlegungen eben nur die unentbehrliche „Kritikerin der Religion“285. Die Funktion des Gottesgedankens liegt, wie gezeigt, vielmehr nur in der Verankerung des Sittengesetzes im göttlichen Willen, sodass die Kulturarbeit nie Zweck an sich selbst sein kann, sondern immer nur ein Mittel, anhand dessen sich die Persönlichkeit der Welt sittlich-persönlicher Freiheit annähert: Und endlich, wenn wir in der Arbeit unsres Lebens heranwachsen zur sittlichen Persönlichkeit und zum eignen Selbst, so befreien wir uns […] von den Bedingtheiten der Außenwelt, lernen allmählich alles, was von außen an uns herantritt, als Bausteine und Material verwenden zu dem Bau des eignen Lebens […]; fühlen uns nicht mehr von den Dingen und Begebnissen zwecklos hin- und hergeworfen, sondern erstarken im Bewußtsein eigner Freiheit.286 281 Vgl. UG 44: „Da aber diese Arbeit an der Gestaltung menschlichen Gemeinschaftslebens direkt wiederum zusammenhängt mit den Arbeiten und Errungenschaften der äußeren Kultur, der wissenschaftlichen und technischen Beherrschung der uns umgebenden Wirklichkeit, so ist ständig die Gefahr vorhanden, daß die eigentliche sittliche Arbeit des Menschengeschlechts mit der allgemein kulturellen zusammenfließt und vereinerleit wird.“ 282 UG 45. 283 UG 45: „Er [sc. der christliche Glaube] wird jene ganze Arbeit nicht in ihrer Notwendigkeit leugnen, er wird den Mut sich erwerben, sie bis zu einer bestimmten Grenze freudig anzuerkennen und zu bejahen. Er wird aber nicht müde werden dürfen, das Gewissen des Einzelnen aufwärts und vorwärts zu rufen über das ganze Getriebe hinüber.“ Vgl. auch Boussets Volksbuch Jesus, 75, wo Bousset emphatisch die Persönlichkeit stabilisierende Funktion der christlichen Persönlichkeitsreligion gegenüber der Welt betont. In der Weltarbeit kommt es zuletzt darauf an, „den lebendigen Gott zu finden, daß der einzelne sein Leben führe im ernsten Gefühl der Verantwortung vor den großen Augen Gottes, frei von allen Gedanken äußeren Erfolges und frei von dem Urteil der Menschen, daß der einzelne in dem großen und guten Willen Gottes seinen ewigen Halt finden soll und die Gewähr der Freiheit und Selbständigkeit seiner Persönlichkeit mitten im Weltgetriebe, daß der einzelne hier auf Erden ist, um für die Ewigkeit reif zu werden.“ 284 RK 33. 285 RK 30. Hierzu vgl. Kap. 2.1.3 und den Exkurs: Die Kulturbedeutung der Religion. 286 UG 51; vgl. ebd. 35: „Wer wollte leugnen, daß die Kultur Werte und Güter schafft. Aber diese Werte sind und bleiben unterpersönlich, naturhaft. Alles was die Kultur uns liefert, sind nur Mittel und Materialien zum Aufbau unseres persönlichen Lebens“; wie auch ebd. 45: „[…] der letzte Sinn aller jener Riesenarbeit, die wir Kultur nennen, [besteht] darin, daß der Einzelne und



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Das Sittengesetz wäre jedoch eine Selbsttäuschung angesichts des permanenten Zurückbleibens hinter der kategorischen Forderung, wenn ihm nicht der eschatologische Ausblick auf Vollendung und Erfüllung des Sittengesetzes zur Seite gestellt würde. Dies ist als Postulat gleichsam die einzige christliche Gewissheit, die unter den Bedingungen modernen Denkens noch aufrechtzuerhalten ist.287 Die gesamte Kosmologie wird von Bousset den Naturwissenschaften überantwortet und rückt in die „Peripherie unsres religiösen Lebens“288. Mit den übrigen Lehrbeständen wird auch die traditionelle christliche Eschatologie mit ihren „bunten und phantasievollen Erwartungen“289 nur mehr auf ihren wirklichkeitserschließenden Mehrwert, wie es jedem Symbol zukommt, reduziert. Damit rückt Bousset in die Riege neuprotestantischer Theologen ein, die den Anspruch auf Welterklärung aufgegeben haben. Vor diesem Hintergrund moderner Plausibilitätsverluste eines nahen Weltendes bzw. einer wundersamen Aufhebung des Naturzusammenhangs ist auch Boussets Zögern zu verstehen, die Hoffnung auf ein ewiges Leben, wie die kirchliche Tradition sie ausgestaltet hat, zur Grundsignatur christlicher Frömmigkeit zu erheben.290 Allerdings hat sich in der Christentumsgeschichte stets, auch schon in Jesu Predigt, die Hoffnung auf ein „neues, höheres Leben“291 artikuliert. Die Möglichkeit, auch angesichts des offenkundigen Auseinanderfallens einer szientistischen Welterklärung und der überlieferten christlichen Vorstellungswelten die Idee vom ewigen Lebens weiterhin auch unter den Bedingungen der Moderne durchzuhalten, wird für Bousset allerdings schon „von den Heroen […] unsres modernen Geisteslebens“292 Kant und Goethe eingelöst.293 Wenngleich Bousset auch die kosmologische Einbettung der Eschatologie hinsichtlich ihres Anspruchs auf Welterklärung mit der neuprotestantischen Tradition preisgibt, so billigt er dem eschatologischen Apparat dennoch eine Funktion zur Entbindung sittlicher Kräfte zu.294 Insbesondere der Gerichtsgedanke behält auch unter modernen Bedingungen sein relatives Recht. Anstelle des Kosmos rückt also möglichst viele Einzelne in der bunten und vielfältigen Arbeit ihres Lebens hindurchdringen zur tiefsten Wirklichkeit und sich mit dieser in ihrer Seele berührt.“ 287 Vgl. Troeltsch, Glaubenslehre, 380, der alles, was „das Postulat der Vollendung überschreitet“, nur mehr poetische Anschauung sein lässt. 288 UG 57. 289 UG 57. 290 Vgl. UG 57. 291 UG 48; vgl. ebd.: „Es soll hier keine Forderung und kein Gesetz erhoben werden, hoffen darf niemals gefordert werden.“ Sie ist gleichsam Aufbau auf „die Fundamente des christlichen Glaubens“ (ebd.). Allerdings hat sich in der christentumsgeschichtlichen Ausgestaltung immer das Christentum mit der Vorstellung eines höheren Lebens verbunden. Bousset zögert allerdings, die Eschatologie in die Wesensbestimmung zu übernehmen. 292 UG 57. 293 Vgl. UG 58: „Das Ziel eines vollkommenen, mystisch-quietistischen Aufgehens in Gott ist ihm [sc. dem christlichen Glauben] im wesentlichen fremd geblieben.“ 294 Drehsen, Blikk, 125 mit Hinblick auf Troeltschs personalistisch gewendete Eschatologie: „Die ‚Entmythologisierung‘ der naiv metaphorischen Annahme weltbildlicher Jenseitsvorstellun-

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der Einzelne in den Bezugsrahmen der Eschatologie ein.295 Mit diesem individualisierten Bedeutungsbezug der Eschatologie stellt Bousset sich ebenfalls in die neuprotestantische Tradition, deren Eigentümlichkeit eben darin zu stehen kommt, dass sie das Gespräch mit den Naturwissenschaften letztlich aufkündigt.296 Trotz der neuzeitlichen Bildlosigkeit versucht Bousset im Rahmen subjektivprophetischer Rede die christliche Hoffnung genauer zu konturieren. Es wird laut Bousset ein „ungeheures Abwerfen von Hüllen“297; was diesseits noch das Leben in sittlich-persönlicher Freiheit hemmt, wird dereinst nicht mehr sein. Ob eine „Kontinuität des Selbstbewusstseins“ sein wird, kann freilich nicht letztgültig gesagt werden, allerdings besteht für Bousset darin ein Anhalt, dass das religiöse Bewusstsein sich doch in seinem unendlichen Wert als Baustein des göttlichen Lebens versteht, der nun auch den Fortbestand der Persönlichkeit über den individuellen Tod hinaus verbürgt.298 Für den für die soziale Frage sensibilisierten Bousset hat ferner der Gedanke der eschatologischen Egalität des sozialen Lebens eine enorme Attraktivität – alles, was trennt, wird abfallen, nur das, „wo sich die Seelen im Letzten und Ewigen berührten, wird bleiben.“299

4.3 Zusammenfassung Es konnte gezeigt werden, dass das Christentum für Bousset eine höchst wandlungsfähige historische Erscheinung darstellt, die einerseits von historischer Diskontinuitätserfahrung geprägt ist, andererseits aber vermittels der geschichtsphilosophischen Wesensbestimmung sich immer wieder einer Kontinuität zur Ursprungsgestalt versichern kann. Zwar führt die Wesensbestimmung über das historistische Paradigma hinaus, indem sie durch den Rekurs auf den kritischen Allgemeinbegriff ‚Wesen des Christentums‘ die historische Einzelerscheinung in einen geschichtsphilosophischen Rahmen stellt. Unter den epistemologischen Bedingungen des Historismus ist sie allerdings das schlechthin einzige Mittel, sich aus der christlichen Binnenperspektive heraus historische Rechenschaft – denn die Wesensbestimmung muss eben mit den jeweiligen Einzelergebnissen der Geschichtswissenschaft ‚zusammenbestehen‘ können – über die Christlichkeit der eigenen Frömmigkeit zu geben.

gen dient deren Transformation in transzendent verwurzelte Bestimmungsgründe ethischer Lebensführung.“ 295 Vgl. Drehsen, Blikk, 122. Zum ‚liberalprotestantischen‘ Minimalkonsens eschatologischer Vorstellungen vgl. ebd. 123f. 296 Entsprechend liegt auch der Akzent anstelle der creatio prima auf der Idee der creatio continua. Zur Perspektivendifferenz zwischen Naturwissenschaft und religiöser Weltdeutung vgl. hierzu Barth, Abschied, 424. 297 UG 61. 298 Vgl. UG 58.61. 299 UG 61.

Zusammenfassung

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Die Urgestalt des Christentums bildet dabei für Bousset keineswegs einfachhin den Maßstab für spätere Entwicklungen. Wenngleich Bousset auch im Evangelium Jesu schon vermittels historischer Divination sowohl die weltflüchtige Distanz zur Welt als auch die freudige Gegenwartsstimmung mit ihrer Offenheit für die Weltgestaltung, wie sie bei Paulus historisch allererst erkennbar wird, ausgeprägt sieht, so vergisst er nicht die Bedeutung der Weiterentwicklung hervorzuheben. Und so ist ihm die reformatorische Berufsethik, zumal sie gegenüber der Urgestalt keinen Antagonismus bildet – Jesu Stellung zur Welt ist eben bei genauerem Hinsehen trotz seiner eschatologischen Reichspredigt keineswegs ‚weltfeindlich‘ –, eine legitime Weiterbildung des Wesens des Christentum, die sogar noch einen Keim Gestalt werden lässt, der in der Urgestalt völlig bedeutungslos ist. Insofern ist die reformatorische Hinwendung zur Kulturarbeit durch Aufhebung des Doppelcharakters der katholischen Kirche zwar keine wirkliche Neubestimmung des Wesens, aber ohne jene Weiterbildung bliebe das Evangelium letztlich einzelnen Sekten überlassen, die in ihrer rigoristischen ‚Überweltlichkeit‘ keinerlei Anspruch auf Gestaltung der Kulturwelt hegen. Diese protestantische Fassung des Wesens des Christentums bietet Bousset gleichsam den Ausgangspunkt für den Entwurf einer christlichen ‚Zukunftsreligion‘. Für Boussets Zukunftsreligion bildet der Neuprotestantismus die Folie, auf deren Grundlage nun eine Weiterbildung erfolgen soll, die die persönlichkeitsgefährdenden Ambivalenzen der Moderne produktiv zu bearbeiten vermag. Jener Neuprotestantismus hat sich als Produkt des kulturgeschichtlichen Übergangs des Protestantismus in die Moderne gegenüber dem Altprotestantismus zutiefst gewandelt, ohne dabei freilich aus dem in der geschichtsphilosophischen Selbstbeschreibung hergestellten Kontinuum mit dem protestantischen Wesensbegriff herauszufallen. Vor dem Hintergrund einer selbständig gewordenen modernen Kultur musste sich der Protestantismus, der seine Gestalt noch unter den Bedingungen der vormodernen Autoritätskultur ausprägte, ebenfalls wandeln. Denn im Angesicht einer modernen Kultur, deren allgemeiner Denkrahmen als auch deren moralisches Empfinden sich in tiefgreifender Weise gewandelt hat, besaßen die kirchlichen Lehrbestände kaum noch Überzeugungskraft. Der allgemeine Plausibilitätsverlust traditioneller Bindungen, verursacht durch das historische Bewusstsein, zieht nun die Umformung der evangelischen Lehrbestände nach sich, wie Bousset insbesondere am neuprotestantischen Erlösungsgedanken exemplifiziert. Letztinstanz für die Geltung eines tradierten Gehaltes wird nun die autonome Überzeugung des Einzelnen.300 Der ins moderne Bewusstsein eingeprägte kantische Gedanke, dass Schuld nicht transmissibel ist, unterminiert sowohl den kirchlichen Erlösungsgedanken als auch die diesen voraussetzende dogmatische Christologie. Eigentümlich quer zum modernen Selbstverständnis steht sodann die christentumsgeschichtlich

300 Vgl. RL 26.

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Die Entfaltung des Wesens der christlichen Religion

vorherrschende Grundstimmung unter dem Gegensatz von Sünde und Gnade, die im Rücken jenes Christusmythos sich dem christlichen Bewusstsein eingeprägt hat. Boussets theologisches wie kirchlich-praktisches Anliegen ist es nun nicht, die wirklichkeitserschließende Kraft jener christlichen Grundstimmung in Abrede zu stellen. Er kann sie gelten lassen, obwohl er gleichzeitig die Inkompatibilität jener Grundstimmung mit der Selbständigkeit der modernen Kultur für nicht hintergehbar hält. Zwar ist auch dem modernen moralischen Bewusstsein angesichts der Komplexität des Aufgabenfeldes in der Moderne durchaus die Erfahrung des Zurückbleibens hinter dem Geforderten nicht fremd. Aber eine lehrmäßige Dogmatisierung der substanziellen Unfähigkeit des Menschen lehnt Bousset ab, weil sie die Gewissen knechtet und zudem noch unbiblisch ist. Da nun gerade die evangelischen Kirchen als obrigkeitstreue Anstaltskirchen mehrheitlich streng konservativ verfasst sind, ist es Bousset als Synodalen – insbesondere vermittels seiner populärwissenschaftlichen Publizistik – darum zu tun, die evangelischen Kirchen pluralismusoffener zu gestalten, damit nun auch seine ‚moderne‘ Frömmigkeit innerhalb der Mauern der Kirche praktisch werden kann. Und wie schon die Christentumsgeschichte zwischen den beiden Grundstimmungen oszillierte, so schwebt dies Bousset wohl auch für die gegenwärtige kirchliche Landschaft vor. Hinsichtlich der Zukunftsreligion bringt Bousset jedoch normativ in Anschlag, dass christlicher Glaube in engem Anschluss an die Person Jesu doch zunächst eine Inkraftsetzung zum Handeln ist und keinesfalls in einen reflexiv eingeholten Quietismus, dessen Eigentümlichkeit nach Bousset eben im „prinzipiellen Gedanken eigenen Unvermögens“301 besteht, umschlagen darf, den jene auf den Gegensatz von Sünde und Gnade beruhende Grundstimmung zumindest begünstigt. Wie nun für den Neuprotestantismus die Kulturarbeit zum Kern des religiösen Selbstvollzugs geworden ist, so ist auch für Boussets Idee von der christlichen Zukunftsreligion die Arbeit an den Gütern des höheren Geisteslebens der Grundsignatur christlicher Frömmigkeit unaufkündbar eingeschrieben. Weder die neologische Privatreligion noch die mystische Konventikelfrömmigkeit sind für Bousset ernstlich zu erwägende Optionen, stellen sie doch vielmehr einen Eskapismus vor den virulenten Problemen der Moderne dar, wie sie Bousset unter anderem in der ‚sozialen Frage‘ zusammengefasst findet. In der weltanschaulich umstrittenen Moderne ist die Überzeugung von jener ‚Tatsache des Sittlichen‘ keineswegs selbstverständlich. Denn insbesondere die Naturwissenschaft, die die gesamte Wirklichkeit in einen kausalmechanisch gesteuerten Regelzusammenhang auflöst, unterminiert die Idee der sinnhaften, sittlich-vernünftigen Existenz. Zwar versucht Bousset vermittels eines Rückgriffs auf den deutschen Idealismus Moralität als eine Bewusstseinstatsache transzendentalphilosophisch auszuweisen, dieses apologetische Anliegen findet allerdings darin seine Grenze, dass sie für die religiös nicht mehr ansprechbaren Anhänger einer naturalistischen Weltanschauung nicht mehr verfängt. Der Mensch ist aus dem Zentrum der Schöpfung geschleudert und muss sich 301 NJP 247.

Zusammenfassung

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letztlich innerhalb dieser Weltanschauung als eine zufällige Laune der Evolution verstehen. Da der modernen Frömmigkeit keine andere theoretische Welterklärung zur Verfügung steht, wird ihr die vorfindliche natürliche Wirklichkeit also letztlich zum Rätsel. Ist dieses Rätsel nun auch in der Moderne nicht mehr aufzulösen – es muss vielmehr ausgehalten werden –, so besteht doch für Bousset auch für die moderne Frömmigkeit das Wesen aller Religion in der Konterkarierung des „müden Zweifels“ mit dem „trotzige[n] Und-Dennoch“, dass „[d]iese ungeheure, unverstandene Wirklichkeit, die uns auf den ersten Blick wie ein Chaos umgibt, das uns zu verschlingen droht, einen letzten Sinn [hat].“302 Und erst der Glaube vermag es, das innere Sittengesetz nicht als zwecklose Überforderung anzusehen. Die erfahrene Realität Gottes lässt hier alle Zweifel fallen, so dass sich der Einzelne „dem großen Weltwillen“303 unterstellt und sich nicht mehr an die naturhafte Wirklichkeit verlieren kann. Mit dieser Repristination des theistischen Personalismus meint Bousset die depersonifizierenden Gefahren der Moderne einhegen zu können. Die Christlichkeit der zukünftigen Persönlichkeitsreligion sieht Bousset nun in einer besonderen Stellung zur Wirklichkeit. Denn die ganz andere, tiefere Wirklichkeit wurde nicht nur – wie auf der Stufe der prophetischen Religion – als die unbedingt in Anspruch nehmende Wirklichkeit empfunden, vielmehr wird im Christentum eine „innere Freudigkeit und Gewißheit“ empfunden, die in dem „Ahnen innerster Zugehörigkeit zum tiefsten Kern der Wirklichkeit“304 gipfelt. Seinen höchsten symbolischen Ausdruck findet diese neue religiöse Stellung zur Wirklichkeit in dem Personenbild Jesu und seiner Anrede dieser Wirklichkeit als Vater. Damit wird, wie Bousset mit Harnack betont, der unendliche Wert der Menschenseele305 gegenüber allen naturalistischen Reduktionismen gesichert. Dieses Personenbild Jesu, in seiner Zusammensetzung aus historischer Tatsache und religiöser Deutung, wie es in den Kirchen überliefert wird – wenn auch entstellt von der dogmatischen Tradition –, ermöglicht es nun als höchstes Symbol der Religionsgeschichte306 diese sichere und frohe Stellung zur Wirklichkeit einzunehmen, wie sie urbildlich im Jesusbild zum Ausdruck kommt. Boussets kirchlich-praktisches Anliegen verfolgt daher das Ziel, die noch religiös ansprechbaren Gebildeten wieder für die Welt des Christentums, besser noch für die Kirche, wiederzugewinnen. Entsprechend besteht der Kern der Krisendiagnose Boussets darin, dass eben gerade die Gebildeten angesichts des Plausibilitätsverlusts der kirchlichen Lehrbestände sich abseits der Kirche u. a. in mystischen Konventikeln zusammenfänden, die bewusst den Anschluss an die christliche Überlieferung vermeiden. Religion ist hier „[...] etwas schlechthin Übernatürliches 302 Bousset, Einleitung einer Vorlesung, 451f. 303 Bousset, Einleitung einer Vorlesung, 452. 304 Bousset, Einleitung einer Vorlesung, 451. 305 Vgl. UG 57; Harnack, Wesen, 46. 306 Vgl. Kap. 2.2.

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Die Entfaltung des Wesens der christlichen Religion

[...], das daher nur in der besonderen Erfahrung einzelner, von Gottes Geist direkt Ergriffener und Erleuchteter, kleine Kreise der Erwählten und Bekehrten zum Ausdruck kommt.“307 Boussets Vorstellung einer christlichen Zukunftsreligion zielt hingegen darauf, gerade diesen weltflüchtigen Sektentyp in der Volkskirche aufgehen zu lassen. Die Vorgängigkeit und Uneinholbarkeit des religiösen Erlebnisses soll dabei nicht unterlaufen werden – sie ist auch für die moderne Frömmigkeit ein notwendiges Vollzugsmoment des religiösen Bewusstseins. Allerdings beschränkt sich Religion für Bousset eben nicht auf außergewöhnliche Erlebnisse, sie kommt vielmehr darin zu sich selbst, dass sie sich restlos in die Welt hineinbegibt und gerade die alltäglich Arbeit an den hohen Gütern des geistigen Lebens tut, ohne sie dabei zu verabsolutieren.308 Dass der Einzelne das Gute auch zu tun vermag bzw. beim Zurückbleiben hinter dieser Forderung sich der Möglichkeit eines neuen Anfangens gewiss sein kann, steht für Bousset fest, denn die erlebte Gottesgegenwart befreit von allen Hemmnissen. Und diese Gewißheit vermittelt am besten das überlieferte Jesusbild. Und so gilt für die christliche Zukunftsreligion, dass sie sich trotz der nicht aufhebbaren Rätselhaftigkeit der empirischen Wirklichkeit nicht dauerhaft anfechten lässt, sondern freudig ihre Arbeit tut: Das ist immer die beste Möglichkeit sich in einer rätselhaft gewordenen Wirklichkeit zurechtzufinden, daß wir die Zähne zusammenbeißen und unser Tageswerk tun. Was das für ein Tageswerk sei, ob groß oder klein, ist gleich. Es kommt auf die Gesinnung und den Geist an. Der Bauer der seine Scholle pflügt, der Arbeiter, der sich an seine Maschine stellt, der Staatsmann, der fest das Ruder des Staates in die Hand nimmt: selig ist, wer seine Arbeit hat und tut. Wir grüßen das Wort mit unserer Seele: Arbeiten und nicht verzweifeln.309

Mit diesem theologischen Programm reiht sich Bousset in das kulturprotestantische Unterfangen einer „Versöhnung von Kirche und Kultur“310 ein. Angesichts komplexer Marginalisierungsprozesse des Christentums schärft Bousset die gesamtkulturelle Relevanz der Religion ein und intendiert mit einem doppelten Anliegen gleichzeitig die Kirche für liberalere Formen christlicher Frömmigkeitspraxis, die an einer ‚Zusammenbestehbarkeit‘ (Ernst Troeltsch) – nicht aber an einer 307 RL 27. 308 Wenn Religion nur mehr das Besondere ist, dann hat sie bezogen auf das „Ganze eines Volkslebens“ eine „gemeinschaftszersetzende Tendenz“, denn ein solches Religionsverständnis „[...] zwingt den frommen Kreisen […] den Sonderlingscharakter auf “ (RL 37). Dem Gegenüber schärft Bousset den konstitutiven Bezug der Religion auf das „Volksganze“ (Bousset, Stellung, 66–68) ein. 309 Bousset, Einleitung einer Vorlesung, 450. 310 Julius Websky; zitiert bei Graf, Kulturprotestantismus, 219. Graf zeichnet in seinem Aufsatz die obskure Begriffsgeschichte der anfänglichen Fremdbeschreibung Kulturprotestantismus nach. Wenngleich der Begriff auch erst Mitte der zwanziger Jahre als Selbstbezeichnung affirmiert wurde, so macht es sachlich einigen Sinn, Bousset in dieses theologische Diskursfeld einzuzeichnen; bezeugt wird dies durch Boussets Nähe zum Protestantismusverein, vor dem er einige Vorträge hielt, und zur Christlichen Welt als Sprachrohr des Kulturprotestantismus.

Zusammenfassung

329

kritiklosen Identität – mit dem modernen Leben interessiert ist, zu öffnen und sodann die Kultur nicht in einen ‚Eudaimonismus‘ aufgehen zu lassen, sondern sie fernab von jeglicher ‚Kulturseligkeit‘311 zum Mittel des Einübens in die ewige Welt sittlich-persönlicher Freiheit recht zu gebrauchen. Dabei unterscheidet Bousset sich beispielsweise mit Troeltsch doch wieder von einigen Repräsentanten des Kulturprotestantismus, den Altliberalen des deutschen Protestantenvereins,312 indem er – entgegen des altliberalen Konzepts der relativen Autonomie – die Selbständigkeit der modernen Kultur wahrt, indem er der Religion gerade keine kulturerzeugende Funktion einräumt, was sich freilich auch in völlig verschiedenen kulturgeschichtlichen Neuzeit- und Modernetheorien niederschlägt. Während insbesondere die Anhänger der Ritschlschen Schule die Moderne aus der Reformation hervorgehen sehen, betont Bousset mit Troeltsch die eigenständige Genese der modernen Kultur. Religion wahrt nach Bousset zunächst nur die ‚Forderungen des individuellen Lebens‘313 und besitzt allein eine kritische Funktion gegenüber den zur Selbstverabsolutierung neigenden Kulturwerten. Der von Paul Wernle geäußerte Verdacht, Bousset überführe die christliche Substanz in eine bloße Humanitätsreligion,314 verfängt also gerade nicht, denn die christliche Religion mit ihrem höchsten Symbol, dem Jesusbild, trägt in sich einen Überschuss, der das Christentum niemals in eine bestimmte Kulturformation aufgehen lässt.

311 Zu diesem polemischen Begriff vgl. Graf, Kulturprotestantismus, 233. 312 Dazu vgl. Hübinger, Kulturprotestantismus, 169. 313 S. o. Anm. 282. 314 Vgl. Brief an Bousset vom 5. September 1909 (Özen 179); vgl. schon den frühen Text Boussets in der Christlichen Welt, in dem Bousset die Auflösung des Christentums in den „‚gesunden Menschenverstande‘“ kritisiert. Dies könne keinesfalls verlustfrei geschehen, sodass notwendig das „Evangelium seines konkreten Inhaltes allmählich [entleert wird]“ (Bousset, Egidy, 368).

5. Schluss

Die zurückliegenden Kapitel haben Wilhelm Bousset als einen evangelischen Theologen konturiert, der trotz seiner vermeintlich auf die Welt des Neuen Testaments beschränkten Fachperspektive ein Akteur innerhalb vielfältiger theologischer Diskurse war. Die beiden wichtigsten Diskursfelder bestehen dabei zweifelsohne einerseits in der historischen Frage nach der Entstehung des Urchristentums, andererseits in der geltungstheoretischen Frage nach der Vernünftigkeit der Religion, wobei hinsichtlich der Frage nach Boussets Christentumsverständnis der Primat eindeutig der historischen Rekonstruktion und der sich an diese anschließenden historischen Wesensbestimmung des Christentums zukommt.1 Boussets religionsphilosophisches Anliegen ist mehr darauf gerichtet, Religion und Theologie mit den modernen Lebenswelten in ein Verhältnis der ‚Zusammenbestehbarkeit‘ im Sinne Troeltschs zu rücken. Um Boussets Christentumsverständnis, das immer über die rein genetische Frage nach der Entstehung hinausweist, angemessen verstehen zu können, war allerdings ein Umweg über seine Religionsphilosophie unumgänglich. Denn sie ist für Bousset letztlich von großer praktischer Bedeutung, da sie verspricht, die historistischen Geltungsprobleme, die die Gebildeten seiner Zeit bedrückten, einer Lösung zuzuführen. Boussets neufriesianische Religionsphilosophie bildet also gleichsam den Theorierahmen, innerhalb dessen Bousset dann positiv sein Christentumsverständnis in Form einer historischen Wesensbestimmung – das seine historisch-kritischen Arbeiten zur Voraussetzung hat – ausführen konnte. Boussets Hinwendung zum Neufriesianismus ist, wie gezeigt werden konnte, eine Reaktion auf die von ihm selbst wie von Troeltsch diagnostizierte Krise der Theologie. Denn die zeitgenössische Evangelische Theologie liberaler Prägung verliert sich gemäß Boussets Gegenwartsdiagnose entweder – da sie um Anschlussrationalität an das historistische Leitparadigma bemüht ist – in ‚Historismus und Psychologismus‘, die zwar eine große Erschließungskraft zur Erklärung der Entwicklung des religiösen Lebens besitzen, aber keine Norm begründen können. Oder aber sie sistiert, wie beispielsweise die Ritschlsche Schule, das historische Bewusstsein, indem sie den historischen Kausalzusammenhang offenbarungstheologisch aufbricht. Ein ‚Neubau‘ der Theologie war für Bousset die unausweichliche Konsequenz. Angesichts der religiösen Lage, wie Bousset sie in seiner Gegenwart erlebte und deutete, war es gerade der Theologie darum zu tun, wieder Klarheit zu stiften, was 1 Insofern stellt Boussets theologisches Schaffen eine beachtenswerte Ausnahme hinsichtlich der These Walter Sparns dar, dass die Religionsgeschichtliche Schule die geltungstheoretischen Folgelasten der Systematik überantwortet habe (vgl. Sparn, Erbe, im Erscheinen).

332 Schluss auch gegenwärtig gelten sollte. Denn das moderne religiöse Leben war nach Bousset in sich absolut uneinheitlich geworden. Neben der überkommenen Kirchenfrömmigkeit erkennt Bousset in Anlehnung an Troeltsch einen individualistischen Sekten- und Mystiktyp. Ist einerseits der Kirchentyp mit seinem supranaturalistischen Weltbild nicht mit dem modernen Denken kompatibel, so fehlt es jenen individualistisch-spiritualistischen Frömmigkeitstypen an gemeinschaftsbildender Organisationskraft, um den virulenten Problemen der Moderne – wie der ‚sozialen Frage‘ – mit gestalterischer Kraft begegnen zu können. Insbesondere die mystischen Zirkel werden für Bousset zu einem Problem. Denn jener Frömmigkeitstypus ist in Boussets Gegenwartsdiagnose zugleich eine der populärsten Formen für die Gebildeten, ihre Frömmigkeit abseits der Kirche zu praktizieren. Der Neigung zum Individualismus und zur Immunisierung gegenüber den Problemen der Moderne korrespondiert nach Bousset gleichzeitig der Hang zum Spiritualismus, also zur Loslösung von den geschichtlichen Überlieferungsbeständen der christlichen Religion, wie sie innerhalb der evangelischen Kirchen tradiert werden. Mit dem Neufriesianismus meint Bousset nun ein Instrument gefunden zu haben, den Gebildeten einen neuen Zugang zur Welt des Christentums eröffnen zu können. Denn die neufriesianische Religionsphilosophie partizipiert eben nicht an den Geltungsproblemen des historistischen Paradigmas, sondern führt die Theologie aus der miterlittenen Krise des Historismus heraus. Troeltschs „Verlust des apologetischen Fundamentes“2 meint Bousset also behoben zu haben. Nach Bousset ließ sich nämlich – ausdrücklich in Abgrenzung von Troeltschs Modell der Dauerreflexion – über den Rekurs auf die bewusstseinsimmanenten religiösen Ideen die Geltungsfrage über den Aufweis der Vernünftigkeit der Religion als selbständige ‚Tatsache‘ des Bewusstseins abschließend klären. Boussets Neufriesianismus bildet also gleichsam den Ermöglichungsgrund für ein Zusammenbestehen von Christentum und Moderne. Bousset erblickt im Neufriesianismus also die verheißungsvolle Lösung aller Probleme, an denen die zeitgenössische Theologie sich bisher vergebens abarbeitet; wesentliche Anliegen, die Bousset im Gegensatz zu Troeltsch mit der Ritschlschen Schule teilt, sieht er durch den Neufriesianismus allererst einlösbar. Neben der reflexiven Gewissheit, die sich der gebildete Fromme durch den Rekurs auf die religiösen Ideen verschaffen kann, zielt Boussets Programm v. a. auf die Möglichkeit einer Koexistenz mit der Natur- und Geschichtswissenschaft. Einerseits will Bousset so die Unabhängigkeit des Glaubens von der historischen Forschung festhalten, andererseits will er die Naturwissenschaft in ihrer Reichweite einschränken – die ‚geistige‘ Tiefendimension der Wirklichkeit kann sie mit ihren Mitteln nicht erreichen. Für Bousset ist damit einem naturalistischen Selbstverständnis der Naturwissenschaft endgültig der Abschied gegeben, sollte sie nicht einer groben Selbsttäuschung erliegen.

2 Voigt, Methode, 163.

Schluss 333

Auch dem zeitgenössisch virulenten Problem ‚Glaube und Geschichte‘ meinte Bousset durch die rationalistische Überführung geschichtlicher Individualitäten in Symbole die Spitze abbrechen zu können. Die Person Jesu wird zum Christussymbol und damit prinzipiell unabhängig vom Gang der Forschung. Bousset bezieht damit eine Position, die für ihn offenkundige Vorteile bietet, vermag sie doch scheinbar alle theologischen Anliegen Boussets einzulösen. Seine theologischen Weggefährten – insbesondere Troeltsch und Wobbermin – warfen ihm freilich einen Antihistorismus vor, der schwere Folgekosten in sich trägt. Denn die Verknüpfung rationaler Wahrheiten mit der Person Jesu kann nur als ein prinzipiell überbietbarer Zufall gedacht werden. Das Interesse des christlichen Glaubens zielt aber gerade darauf, die Unüberbietbarkeit der Person Jesu festhalten zu wollen. Bousset löst das Christentum, so die Kritik, also letztlich in eine Vernunftreligion auf. Bousset selbst ist sich dieser Probleme natürlich bewusst. Und so tritt sein neuer Rationalismus gegenüber dem alten Rationalismus mit dem Anspruch auf, die Dimension der Geschichte innerhalb seiner Religionsphilosophie neu und angemessener zur Geltung zu bringen. Entgegen der Herabsetzung der Geschichte zur bloßen Illustration der religiösen Ideen will Boussets neuer Rationalismus ‚Geschichte‘ nämlich als echte Entwicklung verstanden wissen, die eben nicht nur illustrierender Ausdruck der religiösen Ideen, sondern ein wirklicher, unableitbarer Fortschritt ist, der immer an die freie Tat der geschichtlichen Akteure geknüpft ist. Und dennoch – so Boussets geltungstheoretisches Anliegen – darf die Geschichte keine schöpferische Bedeutung mehr haben. Denn nur dann ist der Glaube wirklich unabhängig von der Geschichte. Sie ist eingehegt durch die Ideen der neufriesianischen Religionsphilosophie.3 Dieses kreative Potenzial der Geschichte prinzipiell absprechen zu müssen, ist dann auch der Punkt, der Bousset und Troeltsch voneinander unterscheidet. Die Geschichte in religiöser Perspektive nur mehr als symbolische Illustration der Religion auffassen zu können, eröffnet Bousset die praktische Möglichkeit, den Gebildeten wieder die Bedeutung der geschichtlichen Traditionsbestände des Christentums zu erschließen und sie so für die Welt des Christentums, insbesondere deren kirchliche Ausprägung wiederzugewinnen. Haben die Geschichtstatsachen zuvor aufgrund ihrer notwendig relativistischen Deutung durch die Geschichtsforschung am allgemeinen Plausibilitätsverlust der christlichen Überlieferung voll partizipiert, so geraten sie nun hinsichtlich ihres symbolischen Mehrwertes in den Blick. Es kommt Bousset also allein auf die Funktion des Symbols an, nicht hingegen auf die Frage, ob dem Symbol auch eine historische Individualität entspricht. Damit hat Bousset die nach seinem Dafürhalten theologisch adäquateste Antwort auf die Anfragen der Leugner der Existenz der Person Jesu um Arthur Drews gefunden. Denn in welchem Verhältnis das neutestamentliche Christussymbol zum historischen Je3 Vgl. prägnant KFR 480: Die kantisch-fries’sche Religionsphilosophie lässt „der Geschichte durchaus ihr Eigenleben und ihre Bedeutung; aber was er behauptet, das ist, den Besitz fester Normen gegenüber aller Empirie zu haben.“

334 Schluss sus steht, ist für den Glauben in letzter Konsequenz gleichgültig – allein der Wert des Symbols für die Selbstexplikation des Glaubens ist von Bedeutung. Bousset optiert hier anders als Troeltsch, der sichergestellt wissen will, dass dem übergeschichtlichen Symbol auch ein wirkliches gelebtes Leben voranging – dies müsse dann von der Exegese sichergestellt werden. Gegenüber Troeltsch betont Bousset, dass auf historisch-kritischem Weg keine absolute Sicherheit über das sittlich-religiöse Personenleben Jesu zu erlangen ist. Der historische Jesus verschwindet in historischkritischer Hinsicht hinter dem Gemeindebewusstsein – wenngleich es für Bousset keinen Zweifel leidet, dass auf den großen Religionsstifter Jesus von Nazareth ein Großteil des Symbolgehaltes des Christusbildes zurückgeht. Sodann kann im Rahmen der historischen Methode nicht innerhalb der historischen Individualität der Person und der Predigt Jesu in geltende und kontingente Gehalte unterschieden werden. Jesus gerät also auf historisch-kritischem Weg zunächst in seiner Fremdheit in den Blick; ferner kommt keine Aussage über den historischen Jesus über den Status eines Wahrscheinlichkeitsurteils hinaus. Der reflexiv gewordene Glaube, der sich ‚seines Grundes‘ vergewissern will, strebt aber nach absoluter Gewissheit, die er in einem aufgeklärt-kritischen Zeitalter über den Rekurs auf die Geschichte nicht mehr gewinnen kann. Dies fällt, wie gezeigt, in den Bereich der neufriesianischen Religionsphilosophie, die sich innerhalb des Bousset’schen Systems eben allein auf die Geltungsfrage bezieht. Zwar kann Bousset auf diesem Weg das Christussymbol nicht vor dem Mythosverdacht schützen, wichtiger ist ihm aber, das Christusbild gegenüber der stetig voranschreitenden historischen Kritik zu immunisieren. Bousset will mit seiner Relektüre des Problems ‚Glauben und Geschichte‘ offenkundig zwischen Scylla – Drews’ antihistoristischen Programm einer „monistisch-pantheistische[n] Zukunftsreligion“4 – und Charybdis – Troeltschs Insistieren auf der Bedeutung der Geschichtswissenschaft für den Glauben – hindurch gelangen. Denn weder will Bousset eine Religion ohne Geschichte, noch will er die Religion in Abhängigkeit von der Geschichte wissen. Den religiösen Mehrwert des Christusbildes meint Bousset allerdings durchaus über die Geschichte bestimmten zu können, und zwar vermittels eines religionsgeschichtlichen Vergleichs. Denn das Christussymbol ist für Bousset das höchste Symbol der Religionsgeschichte, das auf diesem Weg dem Christentum seine Höchstgeltung unter den Religionen verleiht. Als Bild eines persönlichen Lebens hat es eine innere Plausibilität für den Frommen – es ist unendlich konkret –, gleichzeitig ist es als Symbol unendlich vieldeutig. Boussets Umstellung vom historischen Jesus auf das Bild Jesu bzw. auf das Christussymbol kommt einer Depotenzierung der Christologie gleich. Der historische Jesus ist nur mehr der Anfangspunkt einer historischen Entwicklung, dessen Anteil an den religiös so bedeutsamen symbolischen Überlieferungsbeständen des Christentums sich nicht wissenschaftlich valide beziffern lässt. Damit ist aber für Bousset keineswegs, wie es in der Forschung häufig anzutreffen ist, der historische Jesus 4 Troeltsch, Wesen, 440f Anm. 31.

Schluss 335

belanglos geworden. Denn trotz mancher Modifikation ist Boussets Jesusbild erstaunlich stabil geblieben. Es ändert lediglich seinen epistemologischen Status. Es taugt eben nicht mehr zur Geltungssicherung protestantischer Frömmigkeit, wie Bousset noch in seiner Frühzeit meinte; für die eigene Standortbestimmung der persönlichen Zugehörigkeit zur christlichen Lebenswelt ist es jedoch für ihn von kaum zu überschätzender Bedeutung. Und so nimmt auch die historisch-geschichtsphilosophische Frage nach dem Wesen des Christentums beim historischen Jesus ihren Ausgang. Die Person Jesu gerät hier als Stifter der christlichen Symbole in den Blick. Insbesondere Jesu Anrede Gottes als des Vaters, die daraus resultierende unbedingte moralische Inanspruchnahme sowie die ‚Überweltlichkeit‘ der Ethik Jesu sind für Bousset von bleibender religiöser Bedeutung – auch für die christliche Frömmigkeit in der Moderne – und bilden eine Art eigentümlich ‚christliche Substanz‘.5 Von der genialen religiösen Persönlichkeit ausgehend entspinnen sich nun die christlichen Symbolwelten, die gemäß Boussets geschichtsphilosophischem Konzept im Verlauf der Christentumsgeschichte immer transparenter werden, indem das historisch-kontingente Moment zugunsten des Allgemeingültigen sukzessive abgebaut wird, ohne je von der geschichtlichen Individualität vollständig abgelöst werden zu können. Bousset betont also in seiner Wesensbestimmung die Weiterentwicklung der christlichen Religion, wie sie beispielsweise im Wandel des Christussymbols plastisch wird. Gegenüber seinem Ursprung wandelt sich das Christentum in tiefgreifender Weise, ohne jedoch alle Kontinuitäten abbrechen zu lassen. Denn trotz der vielfältigen Metamorphosen, die das Christentum – wie Bousset gegenüber Harnack und den Ritschlianern betont – eben schon gleich in den Anfängen, spätestens mit dem Übertritt auf hellenistischen Boden durchlief, weist die Religion des Christentums immer auch Einheitsmomente auf, die auf die Anfänge zurückverweisen. Der Wandel der christlichen Religion perpetuiert sich unaufhörlich und findet angesichts des neuzeitlichen Plausibilitätsverlusts der christlichen Überlieferung einen neuen Höhepunkt. Mit dem zunehmenden Problemdruck durch Natur- und Geschichtswissenschaft wurden alte Gewissheiten erschüttert. Entscheidender war jedoch für Bousset in kulturgeschichtlicher Hinsicht, dass mit der selbständigen modernen Kultur auch ein selbständiges Sittlichkeitsbewusstsein erwachte, das den alten supranaturalen Glauben an Jesu Heilswerk unplausibel werden ließ. Ein neuer gewan5 Wie bei den meisten Religionsgeschichtlern fällt es also auch auf Bousset zurück, dass zwar die „Dekanonisierung der Traditionen des Christentums viel weiter ging als Harnack, dass sie aber an einem dogmatischen Begriff des Christentums festhielt. Vor ‚dem’ Christentum machte die religionsgeschichtliche Historisierung halt“ (Sparn, Erbe, im Erscheinen). „Wie das chiliastische Märchen der geschichtlichen ‚Höherentwicklung’ des Christentums hat sich auch die Illusion eines ‚reinen’ und rein es selber bleibenden Christentums inzwischen, nachdem die damalige ‚Krise der Moderne‘ im ausgehenden 20. Jahrhundert eine erhebliche Verschärfung erfahren hat, eigentlich erledigt. Es darf als allgemein akzeptiert gelten, dass das Christentum nicht nur faktisch stets eine synkretistische Religion war, wenn auch in sehr unterschiedlicher Intensität, sondern dass es dies auch seiner inneren Struktur nach ist“ (ebd.).

336 Schluss delter Protestantismus war das Produkt dieser Entwicklung. In ihm werden Christentum und Bildung vielfach miteinander vermittelt ohne jedoch zur Deckung zu kommen. Als Produkt der kulturgeschichtlichen Umbrüche in Neuzeit und Moderne ragt der Neuprotestantismus nun nicht mehr wie noch der Altprotestantismus als Fremdkörper in die Moderne, vielmehr ist er fähig, mit den Grundüberzeugungen der Moderne zusammenbestehen zu können.6 Am Augenfälligsten wird dies nach Bousset am christlichen Erlösungsgedanken, der sich von einem bloßen Tatsachenglauben in die Überzeugung von Gottes befreiender Gegenwart umformt, die immer eine Distanz zur Welt wahrt, gleichzeitig aber immer auch die Welt gestalten will. Ein Wandel der autoritären Anstaltskirche in eine unterschiedliche Frömmigkeitsstile in sich schließende Volkskirche ist für Bousset ebenfalls unvermeidlich, um beide Größen – Christentum und Bildung – nicht beziehungslos auseinanderfallen zu lassen. Erst wenn sich die Kirchen pluralitätsoffener gestalten – als Synodaler hat Bousset selbst tatkräftig darauf hingearbeitet –, können die Kirche und ihr Kult als Wortgottesdienst wieder zur Stärkung und der Erneuerung auch der modernen Frömmigkeit dienen. Nur so, indem das liberale Bürgertum der Kirche erhalten bleibt, kann diese als Akteur an der Gestaltung hin zu einer humaneren Moderne mitwirken. Boussets Programm zielt also auf eine „Reform von innen“7. Ein für Bousset eminent wichtiges Mittel ist dabei neben der allein auf die Geltungsfrage zielenden Religionsphilosophie die Wesensbestimmung des Christentums, die dem gebildeten Frommen die personalistische Signatur christlicher Frömmigkeit plausibel machen soll. Genau dieses Christentumsverständnis will Bousset durch seine Vorträge über ‚Jesus‘ und verwandte Themen sowie in seinen Volksbüchern – Das Wesen der Religion und Jesus – den religiös ansprechbaren Gebildeten seiner Zeit, die sich immer noch der christlichen Lebenswelt verbunden fühlen, zugänglich machen und sie so innerhalb der Mauern der Kirche halten. Ein typisches Merkmal für die personalistische Erlösungsreligion ist die charakteristische Spannung zwischen kulturkritischen und kulturprägenden Impulsen. Vom historischen Jesus ausgehend ist so dem Christentum eine irreduzible Distanz zur Kultur eingestiftet, die in Boussets Geschichtsdeutung – anders als bei Troeltsch – schon durch Jesus selbst immer wieder unterlaufen wird. Die kulturgestaltende Kraft des Christentums erhält dann in der mittelalterlichen Einheitskultur ihren vorläufigen Höhepunkt, während die Moderne, die Bousset mit Troeltsch nur mehr indirekt und unbeabsichtigt aus dem reformatorischen Christentum hervorgehen lässt, durch die Selbständigkeit der modernen Kultur sich von den vorangehenden Kulturforma6 Troeltschs Frage, ob die „Zersetzung unserer Religion durch die Wissenschaft ein Anzeichen ihrer beginnenden Selbstauflösung“ sei „[…] oder ob diese Zersetzung sich nur auf ihre bisherige Gestalt beziehe, ihr wesentlicher Gehalt aber mit jenem Umschwung verträglich und einer entsprechenden Verjüngung fähig sei“ (Troeltsch, Selbständigkeit, 365), ist also auch Boussets Frage, deren zweiten Teil er nachdrücklich bejaht. 7 RL 40.

Schluss 337

tionen abhebt. Eine Einhegung durch die Religion wäre nach Bousset auch ein Selbstwiderspruch im Selbstverständnis der Moderne. Bousset bereitet die Säkularisierung der modernen Lebenswelten auch keine größere Anfechtung, vielmehr deutet er diese Entwicklung als Teil der Selbstaufklärung der Religion, die eben zunächst keine kulturerzeugende Potenz ist. Hinsichtlich der säkularen Moderne erkennt Bousset allerdings bestimmte Eigengesetzlichkeiten – insbesondere den frühmodernen Kapitalismus –, die die Autonomie der Persönlichkeit gefährden. Die moderne Kultur ist für Bousset also eine durchweg ambivalente Erscheinung, deren antagonistische Prinzipien in der potenziellen Gefährdung der sittlich-autonomen Persönlichkeit erkannt wurden. Mit dem Mainstream der evangelischen Theologie ist die Religion und hier die personalistische Religion des Christentums für Bousset das einzige Widerlager gegen jene depersonifizierenden Tendenzen der modernen Kultur, denn Religion legt jegliche zur Selbstverabsolutierung neigenden Kulturgüter auf ihre Vorläufigkeit frei und bindet die desintegrativen Kräfte der Kultur, indem sie die heiligen Beziehungen von Mensch zu Mensch bewusst hält. Und so intendiert sein theologisches Programm einen religiösen Liberalismus, der sich darin charakteristisch zum von ihm so harsch gescholtenen ‚Laissez-Faire‘-Liberalismus unterscheidet, indem er die religiösen Pflichten und den unveräußerlichen Wert der Persönlichkeit wieder ins Gedächtnis ruft. Religion geht also nicht im Vorfindlichen auf, sondern bewahrt immer einen Überschuss, wie Bousset mit der Religionsgeschichtlichen Schule betont. Und in keiner geschichtlichen Religion wird dies nach Bousset so wirksam vermittelt wie im Christentum mit seinem überlieferten Christusbild, an dem die gesamte Christentumsgeschichte mitgestaltet hat. Der imperialistische Überlegenheitsanspruch des Christentums als höchste Religion ist also auch angesichts einer sich weiter ausdifferenzierenden Religionslandschaft in der Moderne bei Bousset ungebrochen.8 Die Untersuchung hat insgesamt gezeigt, dass für Bousset das Christentum zunächst eine historische Kollektivindividualität ist, die insbesondere in der Gestalt des Protestantismus eine Wahlverwandtschaft mit der modernen Kultur besitzt, keinesfalls aber mit ihr identisch ist. Das Christentum selbst hat sich innerhalb seiner Geschichte tief gewandelt, ohne dabei gegenüber seinen Ursprüngen in eine absolute Diskontinuität zu treten. Denn innerhalb des Christentums wird das 8 Vgl. Graf, Rettung, 115: „[O]bgleich sie die innerhalb des protestantischer Positionenspektrums der Zeit modernste, gegenwartoffenste Positionen zu vertreten beanspruchen, […] von einer generellen Akzeptanz des modernen gesellschaftlichen bzw. kulturellen Pluralismus“ waren die Mitglieder der Religionsgeschichtlichen Schule weit entfernt. Treffend auch Alkier, Hermeneuten, im Erscheinen: „Damit und nicht zuletzt mit der volkspädagogischen Vermittlung ihres Ansatzes wollten sie einen Beitrag zur liberalen Entwicklung der Kultur ihrer eigenen Lebenswelt leisten in der Überzeugung, dass Religion (im Singular) in ihrer diversen Ausprägung verschiedenster Religionen einen unverzichtbaren Beitrag zur Erschließung der einen Wirklichkeit und zur Formierung von Lebenswelten leistet und dass die christliche Religion dabei aufgrund ihrer geistigen Überlegenheit eine Leitrolle spielen sollte.“

338 Schluss Christusbild überliefert, das für Bousset in religiöser und geschichtsphilosophischer Hinsicht die das Wesen des Christentums ausmachenden Gehalte der Weltindifferenz und der Weltgestaltung als Korrelate zum personalistischen Gottesgedanken in sich trägt. Als institutionalisierte Religion steht das kirchliche Christentum jedoch immer in der Gefahr, die Vorgängigkeit und Uneinholbarkeit der Religion durch Dogma und Lehre aufzuheben. Boussets kirchlich-praktisches Anliegen ist es daher die christlichen Traditionsbestände undogmatisch als Symbole aufzufassen, um so den mystikaffinen Gebildeten die Welt des Christentums wieder neu aufzuschließen. Und hier kommt dann auch die historisch-kritische Forschung zu ihrem Recht, die durch ihre Überlieferungskritik die Symbole der christlichen Tradition kritisch bearbeitet und so immer mehr das Allgemeingültige aus dem Individuellen herauslöst, ohne je an ein Ende gelangen zu können, denn das Christentum bleibt, solange es besteht, an die historische Erscheinung der Person Jesu gebunden. Boussets historische Studien, die ja gleichsam sein Kerngeschäft als Neutestamentler darstellen, zeichnen sich durch eine beeindruckende methodische Geschlossenheit aus. Ihren Ausgang nehmen sie beim Kult der Gemeinde, den Boussets Religionstheorie als die Wiege allen religiösen Lebens markiert hat. Die Lehre ist also ein die Praxis rationalisierendes Sekundärphänomen. Von dort aus rekon­ struiert Bousset die Entstehung des Christusglaubens, der das junge Christentum als einen weiteren Kultverein im antiken religiösen Leben einrücken lässt. Das Eigentümliche dieser mit dem Übertritt des Christentums in den hellenistischen Kulturkreis einsetzenden Entwicklung ist für Bousset die Verdopplung des Kultobjekts, die die unbewusste Folge der enthusiastischen Frömmigkeitspraxis war. Jesus wird im Zuge der übersteigerten Kultmystik auf die Seite Gottes gestellt. Löst man auch die Lehre als hellenistische Philosophie ab, so nimmt diese hermeneutische Operation nichts von der Fremdartigkeit des Urchristentums, denn diese liegt tiefer in der eigentümlich kultisch-sakramentalen Frömmigkeit. Auf diesem Hintergrund deutet Bousset sodann Paulus, der es versteht mit seiner Christusmystik aus jenem ‚Vulgärchristentum‘ deutlicher den Geist Jesu herauszuarbeiten, indem er den Geist als den ständigen Besitz des Christen verstehen lehrt, der Freiheit und Universalität des Heils verbürgt. Als Pneumatiker ist Paulus freilich in Boussets Deutung eine höchst ambivalente Gestalt der Christentumsgeschichte, die bestimmte dogmatische Tendenzen durch seine theologischen Rechenschaftsversuche ungewollt verstärkt hat, die den sich an Paulus anschließenden Paulinismus zum bestimmenden Typ der exklusivistischen kirchlichen Frömmigkeit werden ließ. Die Folgekosten dieser urchristlich-hellenistischen Frömmigkeit stehen Bousset freilich bildhaft vor Augen. Die Tradition verfestigte diese Tendenzen, sodass sich eine dogmatische Christologie bildete, die vor allem das Erlösungswerk Jesu betonte, das wiederum zur Folge hatte, dass das Selbstgefühl der Sündhaftigkeit des Menschen in ‚quietistisch‘-übersteigerter Weise sich in das kirchlich-christliche Bewusstsein einprägte. In das Christentum implementierte sich eine Autoritätsstruk-

Schluss 339

tur – deren Ausdruck die dogmatische Christologie ist –, die mit der modernen Kultur und ihren Werten der autonomen Persönlichkeit kaum zusammenbestehen kann. Wie Michael Murrmann-Kahl jüngst völlig zurecht beobachtet hat, ist „die Gegenwartfrage nach der Geltung und Relevanz der im Frühchristentum vorgenommenen ‚vollen Vergottung der Person Jesu von Nazareth‘“9 die Triebfeder von Boussets historischen Studien. Und seine Studien haben gezeigt, dass die Ausgestaltung des Christentums zu einem neuen Kultverein zunächst das Produkt des Eintritts der missionierenden Jesus-Bewegung in die Welt des Hellenismus war. Boussets Gegenwartsinteresse zielt freilich dabei auf ein Aufbrechen des kirchlichen Deutungsprimats über das, was christlich ist. Wer das Christentum nur in dessen historisch gewachsenen, kirchlichen Gestalt mit seiner hohen Christologie gelten lässt, beruft sich eben nach Bousset auf ein höchst kontingentes Gebilde, das im Wesentlichen auf die ‚Herübernahme‘ der Kultpraxis und eines paganen Mythos zurückgeht und sich daher religionspsychologisch und religionsgeschichtlich leicht erklären lässt. Boussets Geltungsinteresse will hingegen den Blick von der fremden urchristlich-paulinischen ‚Tatsachentheologie‘ auf das „Lebensbild“10 der Person Jesu lenken, das nun in seiner Lebensdienlichkeit und religiösen Produktivität neu entdeckt werden kann. Boussets Forschungen mit ihrer methodischen Neuorientierung, vom Kult der Gemeinde die Entstehung des Christentums bis hin zum vorläufigen Abschluss dieser Entwicklung unter Irenäus verständlich machen zu wollen, haben bis heute nichts von ihrem imposanten Eindruck der Geschlossenheit verloren. Insbesondere Boussets heuristische Perspektive, den Kult als Motor des sich verändernden religiösen Lebens und als Ursprung der Christologie zu betrachten, findet noch heute Anhänger.11 Und so konnte Cilliers Breytenbach – auch eingedenk der tiefgreifenden Korrekturen, die Boussets Beobachtungen insbesondere hinsichtlich der christologischen Hoheitstitel erfahren haben – noch jüngst Boussets Kyrios Christos als „benchmark“12 bezeichnen. Wird vonseiten der Exegese der heuristische Mehrwert der Vorgängigkeit des religiösen Erlebens im Rahmen der Kultpraxis vor aller lehrhaften Fixierung geschätzt, so gerät in systematisch-theologischer Perspektive noch ein anderer Aspekt des Bousset’schen Denken in den Blick. Denn obgleich auch Bousset die Uneinholbarkeit der Praxis betont, kommt es ihm gerade nicht in den Sinn, die höheren Religionen wie das Christentum in reine Stimmung der Unmittelbarkeit aufzulösen. Eine Religion ohne Theologie wird nämlich kaum fähig sein, ihr Verhältnis zu 9 Murrmann-Kahl, Kultfrömmigkeit, 112; Zitat stammt aus JdH 40.88. 10 Brief Boussets an Paul Wernle vom 19. Oktober 1910 (Ms 151; Nr. 18). 11 Vgl. Breytenbach, Kyrios, 14: „It is exactly this focus on religious action, on piety and cult as the situation in which religious expressions originate, which still makes Bousset’s book a benchmark.“ 12 S. o. Anm. 11. Auch Michael Murrmann-Kahl hält die ‚kultgeschichtliche Methode‘ im Prinzip für angemessen, um vom Glauben der ersten Christen den „Weg zum christologischen Dogma“ (ders., Kultfrömmigkeit, 119) nachvollziehen zu können.

340 Schluss komplexen Erscheinungen wie Kultur und Bildung der Moderne angemessen zu bestimmen und droht damit zur Sekte zu werden. Dem „religio sui interpres“13 korrespondiert nach Bousset also immer auch die nachgängige theologische Reflexion, die wiederum auf die religiöse Praxis zurückwirkt. Bousset löst also die unaufhebbare Spannung zwischen Religion und Theologie weder nach der einen noch nach der anderen Seite auf. Dies macht ihn in der Tat zu einem „Aufklärer im Rahmen der Religion“14, der auf der einen Seite die Frömmigkeit vor dem normierenden Zugriff des dogmatischen Denkens schützt. Auf der anderen Seite aber auch angesichts der Uneinholbarkeit des frommen Lebens stets einschärft, dass Religion immer auch einen Zug zur Gemeinschaft hat und nicht bei sich selber bleiben kann. Dies ist für Bousset gleichsam die Dialektik in der Aufklärung der Religion, dass mit der Emanzipation der Religion von der Theologie gleichzeitig der religiöse Mehrwert der Theologie deutlich vor Augen tritt. Denn allein die Theologie ist befähigt, eine Sprache zu finden, um die personbildende Kraft der Religion in die Gesellschaft zu tragen.15 Die Untersuchung hat gezeigt, dass Wilhelm Bousset als Mitglied der Religionsgeschichtlichen Schule sich in vielfältigen theologischen, politischen und pädagogischen Diskursen und Kontexten bewegte, um mit den virulenten Problemen seiner Zeit fertig zu werden.16 Dass Boussets Theologie freilich nur über den Umweg einer Historisierung rezipiert werden kann, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fragen, die Bousset und seine Freunde aus der Religionsgeschichtlichen Schule umtrieben, keineswegs erledigt sind, sondern noch heute der Theologie aufgegeben sind. Insofern muss mit Walter Sparn vor einer vorschnellen „Musealisierung der R[eligions]G[eschichtlichen] S[schule]“17 und der Theologie Bousset trotz ihrer Grenzen gewarnt werden.

13 Alkier, Hermeneuten, im Erscheinen. 14 Theißen, Schule, im Erscheinen. 15 Vgl. prägnant RuT 38. 16 Vgl. Reitzensteins Votum im Nachruft auf Bousset, nach dem es geradezu ein Signum eines modernen Christentums sei, dass es sich in verschiedene Kontexte einbringt: „Aus jenem jugendlich bewegten Kreise [sc. die ‚kleine Göttinger Fakultät‘] hat schwerlich ein anderer das Ideal eines ‚modernen Christentums‘, das alle Lebens- und Denkkreise durchdringen […] sollte, so rückhaltslos ergriffen und zu verwirklichen versucht“ (ders., Bousset, 2). 17 Sparn, Erbe, im Erscheinen; vgl. auch ebd.: „Ich behaupte, dass das von der RGS uns hinterlassene Erbe nicht nur in ihrem historischem Interesse und dessen Perspektiven- und Methodeninventar besteht, sondern auch in der systematisch-theologischen Herausforderung, die ihre Methodologie unabweislich nach sich zog und nach wie vor stellt: die Beziehung des im Glauben jeweils unhintergehbar Geltenden auf das geschichtliche Werden der historischen Referenzen eben dieses Glaubens und umgekehrt, die Beziehung des Historischen auf das Kanonische. Die R[eligions]G[eschichtliche] S[chule] hat diese Herausforderung erkannt und auch zu bearbeiten begonnen.“

Literaturverzeichnis

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350 Literaturverzeichnis –, Die historischen Grundlagen der Theologie unseres Jahrhunderts, in: ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hg. von Christian Albrecht, KGA 1, Berlin 2009, 545–556. –, Die Krisis des Historismus (1922), in: Friedemann Voigt (Hg.), Ernst Troeltsch Lesebuch. Ausgewählte Texte, Tübingen 2003, 246–265. –, Zur theologischen Lage (1898), in: ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888‐1902), hg. von Christian Albrecht, KGA 1, Berlin 2009, 683–704. –, Religionsphilosophie, in: Wilhelm Windelband (Hg.), Die Philosophie am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, Heidelberg 1904, 104–162. –, Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, in: ders., Zur religiöse Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Gesammelte Schriften II, Tübingen 21922, 193–226. –, Die Selbständigkeit der Religion (1895–1896), in: ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hg. von Christian Albrecht, KGA 1, Berlin 2009, 359–535. –, Thesen zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde (1891), in: ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hg. von Christian Albrecht, KGA 1, Berlin 2009, 69–71. –, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie (1900), in: Friedemann Voigt (Hg.), Ernst Troeltsch Lesebuch, Tübingen 2003, 3–25. –, Was heißt „Wesen des Christentums“?, in: ders., Zur religiöse Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Gesammelte Schriften II, Tübingen 21922, 386–451. –, Das Wesen des modernen Geistes, in: ders., Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912), hg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Katja Thörner, KGA 6,1, Berlin/ New York, 432–473. –, Zukunftsmöglichkeiten des Christentums im Verhältnis zur modernen Philosophie, in: ders., Zur religiöse Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Gesammelte Schriften II, Tübingen 21922, 837–862. Usener, Hermann, Art. Mythologie, ARW 7, 1904, 6–32. Verheule, Anthonie F., Wilhelm Bousset. Leben und Werk. Ein theologiegeschichtlicher Versuch, Amsterdam 1973. Voigt, Friedemann, Die historische Methode der Theologie. Zu Ernst Troeltschs Programm einer Standortepistemologie, in: „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, hg. von Friedrich Wilhelm Graf und Reiner Anselm, Troeltsch-Studien NF 1, Gütersloh 2006, 155–172. Waubke, Hans-Günther, Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, BHTh 107, Tübingen 1998. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. Von Johannes Winckelmann, Tübingen 51976. Weiss, Georg, Die neufriesische Schule in der Theologie. Rudolf Otto und Wilhelm Bousset, ChW 25, 1911, 729–732. Weinhardt, Joachim, Herrmanns Stellung zur Ritschlschen Schule, BHTh 97, Tübingen 1996. Weiss, Johannes, [Rez.] Wilhelm Heitmüller, „Im Namen Jesu“. Eine sprach- und religionsgeschichtliche Untersuchung zum Neuen Testament, speziell zur altchristlichen Taufe, FRLANT 2, Göttingen 1903, ThR 7, 1904, 185–197. –, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892. Wellhausen, Julius, Skizzen und Vorarbeiten. Heft 6: Prolegomena zur ältesten Geschichte des Islams. Verschiedenes, Berlin 1899. Wernle, Paul, Jesus und Paulus. Antithesen zu Boussets Kyrios Christos, ZThK 25, 1915, 1–92. Wiefel, Wolfgang, Zur Würdigung William Wredes, ZRGG 23, 1971, 60–83. Wilk, Florian, Zur Deutung der Reich-Gottes-Predigt Jesu in der „Religionsgeschichtlichen Schule“, in: Martin Laube/Bernd Schröder (Hg.), Die Religionsgeschichtliche Schule und ihre Wirkungen, im Erscheinen.

Literaturverzeichnis 351 Wittekind, Folkart, Christologie im 20. Jahrhundert, in: Christian Danz/Michael MurrmannKahl (Hg.), Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie in der Moderne, DoMo 1, Tübingen 2010, 13–46. Wobbermin, Georg, Geschichte und Historie in der Religionswissenschaft. Ueber die Notwendigkeit, in der Religionswissenschaft zwischen Geschichte und Historie strenger zu unterscheiden, als gewöhnlich geschieht, Tübingen 1911. Wrede, William, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie (1897), in: Georg Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF 367, Darmstadt 1975, 81–154. –, Das theologische Studium und die Religionsgeschichte, in: ders., Vorträge und Studien, Tübingen 1907, 64–83. –, Paulus, RV I/5.6, Tübingen 21907.

Siglenverzeichnis der Schriften von Wilhelm Bousset BPJG Die Bedeutung der Person Jesu für den Glauben (1910) JdH Jesus der Herr (1916) JPGJ Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum (1892) KC Kyrios Christos (1921) KFR Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie (1909) MPT Grützmacher Modern-Positive Theologie. II.B R[ichard] Grützmachers Studien zur Systematischen Theologie (1907) MPT Kaftan Modern-Positive Theologie. I. Th[eodor] Kaftans „Moderne Theologie des alten Glaubens“ (1906) MPT Seeberg Modern-Positive Theologie. II. A. Reinhold Seebergs Grundwahrheiten der christlichen Religion (1906) MuR Die Mission und die sogenannte Religionsgeschichtliche Schule (1907) MWNT Zur Methodologie der Wissenschaft vom neuen Testament (1899) NJP Noch einmal Jesus und Paulus (1908) NVJ Noch einmal der vorchristliche Jesus (1911) RuG Religion und Geschichte (1912) RdJ Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter (1926) RK Religion als Kulturmacht (1911) RL Der religiöse Liberalismus (1910) RuNT Die Religionsgeschichte und das Neue Testament (1904) RuT Religion und Theologie (1919) UG Unser Gottesglaube (1908) WdChr Das Wesen des Christentums (1901) WdR Das Wesen der Religion dargestellt an ihrer Geschichte (1903)