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German Pages 424 Year 2010
Edition Ethik Herausgegeben von Reiner Anselm und Ulrich H. J. Körtner
Band 5
Matthias Neugebauer Konzepte des »Bios« Leben im Spannungsfeld von Organismus, Metaphysik, Molekularbiologie und Theologie
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
Die Umschlagabbildung zeigt das Gemälde «Die Schule von Athen» (La scuola di Atene), Raffael, 1510–11, Stanza della Segnatura, © Vatikanische Museen.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2010 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehrund Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Das Werk ist zugleich als eBook erhältlich, DOI 10.2364/7263749558. Satz: Matthias Neugebauer Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: buch bücher dd-ag, Birkach ISBN: 978-3-7675-7131-0
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Herbstsemester 2008 von der Theologischen Fakultät der Universität Zürich als Habilitationsschrift angenommen. Prof. Dr. Johannes Fischer (Zürich) und Prof. Dr. Reiner Anselm (Göttingen) haben das Erstund Zweitgutachten erstellt. Für den Druck wurde der Text auf ihren wertvollen Rat hin noch einmal überarbeitet. Diese Untersuchung stellt den Versuch dar, den prima vista notorisch opaken und hyperkomplexen, aber auch faszinierenden und in seiner endlichen Unendlichkeit und unendlichen Endlichkeit herausfordernden Untersuchungsgegenstand Leben aus verschiedenen für zentral erachteten Perspektiven zu beleuchten, um im interdisziplinären Gespräch von Organismik, Metaphysik, Molekularbiologie und Theologie diejenigen Momente herauszuarbeiten, die einer theologischen Thematisierung des Lebens am meisten konvergieren. Im Hintergrund steht dabei die Grundüberzeugung, dass im weitesten Sinne ideale Dimensionen des Lebendigen empirisch erhebbaren Eigenschaften des Lebens nicht nur nicht absolut entgegenstehen, sondern immer auch mit diesen zusammen bestehen und in ein Gespräch und Verhältnis miteinander gebracht werden können und müssen. Den Entstehungsprozess dieses Buches haben viele Menschen mitbegleitet. Zu Danken ist an dieser Stelle Prof. Dr. Ulrich Barth (Halle/Saale), der entscheidende Impulse für die Arbeit an dieser Untersuchung gegeben hat und in der Endphase die Gelegenheit eröffnete, vor dem Forum seines Doktoranden- und Habilitandenkolloquiums in Halle (Saale) Methoden und Thesen zu diskutieren. Ihm weiß ich mich in tiefer Dankbarkeit verbunden. Prof. Dr. Johannes Fischer (Zürich) gebührt ebenso mein tiefempfundener Dank. Nicht nur als Direktor des Instituts für Sozialethik und Leiter des EthikZentrums der Universität Zürich hat er das Projekt mit großem Wohlwollen wie kritischem Nachfragen begleitet, sondern darüberhinaus mit seinem Doktorandenund Habilitandenkolloquium ein dauerhaftes Gefäß verantwortet, das mit konstruktiven und kritischen Beiträgen in das Entstehen des Textes miteingegriffen hat. Seiner undogmatischen und kreativen Verarbeitung verschiedenster Denkansätze verdanke ich wertvollste Anstöße. Zu Danken für ihre wertvollen Hinweise und ihr kritisches Lesen im Zürcher Kolloquium ist dabei weiter v.a. Dr. Christoph Ammann (Zürich), PD Dr. Stefan Grotefeld (Zürich), Pfr. Stefan Gruden (Elgg/ZH), lic. theol. Esther Imhoff (Zürich), Pfr. Joachim Koenig (Zürich), lic. theol. Christoph Reutlinger (Zürich) und Dr. Jean-Daniel Strub (Zürich). Den Mitarbeiterinnen im Sekretariat am Institut für Sozialethik Barbara Cugini (i.R.), Alexandra Koch und Jana Holeckova möchte ich ebenfalls meinen Dank für so manche Entlastung aussprechen. Ein herzliches merci vielmals gebührt auch allen denen, die in Form von Gespräch und verbessernder Lektüre das Werden des Buches unterstützt haben. Es seien hier genannt Lektor Thomas Hübner (Halle/Saale), Prof. Dr. Markus
Huppenbauer (Zürich), Dr. Ludwig Junker (Leipzig), Dr. Rebekka Klein (Heidelberg), Pastor Enrico Leicht (Charlotte, NC, USA), meine Eltern Sup. Pfr. i.R. Ernst und Birgit Neugebauer (Barby/Elbe), meine Brüder Dr. Georg Neugebauer (Halle/Saale) und Pfr. Dr. Johannes Neugebauer (Horsmar/Thür.), meine Schwester stud. med. dent. Anna Neugebauer (Berlin), mein Cousin dipl. inf. Markus Neugebauer, mein Freund Pfr. Detlef Noffke (Ormalingen/BL), Prof. Dr. Dr. Nils Ole Oermann (Lüneburg), Dr. Hartmut v. Sass (Zürich), Eva Scherz (dipl. Übersetzerin DOZ, Zürich), Dr. Stephan Schleissing (München), Dr. Brigitte Stump (Zürich) und lic. theol. Christian Walti (Zürich). Zu Danken ist auch Prof. Dr. Reiner Anselm und Prof Dr. Ulrich H.J. Körtner (Wien) für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Edition Ethik. Herzlich Danken möchte ich auch der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Sursee, die meine wissenschaftlichen Ambitionen befürwortet und unterstützt; stellvertretend sei hier genannt Herr Präsident Dr. Hanspeter Marder (Sempach). Gedankt sei schließlich für einen namhaften Beitrag der Emil Brunner-Stiftung in Verbindung mit der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich sowie der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Luzern, die das Buch mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt hat.
Beromünster/Gunzwil, d. 22.04.2010
Matthias Neugebauer
»Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden« Goethe
Meiner Frau Damaris Jaggi Neugebauer
Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................. 5 Einleitung .............................................................................................. 15 A. I. II. II.1 II.2 II.3 II.4
IV.3 IV.4 IV.5 V.
Der organismische Lebensbegriff .............................................. 21 Einführung ........................................................................................ 21 Die teleologische Organismuskonzeption Kants ................................. 24 Einführung ........................................................................................ 24 Der Begriff des Naturzwecks .............................................................. 26 Das Zentrum der Organismuskonzeption ........................................... 29 Praktische Autonomie als Realisationsform endlich vernünftigen Lebens.............................................................. 35 Schlussfolgerungen ........................................................................... 39 Hegels geistphilosophische Verankerung des Organismusgedankens . 42 Einführung ........................................................................................ 42 Der reflexionslogische Lebensbegriff ................................................. 44 Leben als Reflexion im Kontext des Organismuskonzepts................... 46 Organismus und Sittlichkeit .............................................................. 60 Resümee ........................................................................................... 64 Lotze und der Wert des Lebens .......................................................... 67 Einleitung ......................................................................................... 67 Die Kritik an Hegel, am Vitalismus und an der älteren Naturphilosophie ............................................................................... 69 Lotzes positive Theorie des Lebens .................................................... 78 Ethische Implikationen: Der Wert des Lebens .................................... 89 Ausblick ............................................................................................ 91 Überleitung zum Metaphysischen Lebensbegriff ................................ 92
B. I. II. II.1. II.2 II.3 III. III.1 III.2
Der Metaphysische Lebensbegriff .............................................. 95 Zugangsfragen................................................................................... 95 Der metaphysische Lebensbegriff des frühen Nietzsche.................... 103 Die ›Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ ........................ 103 Die ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ ............................................... 115 Der Lebensbegriff des frühen Nietzsche – Resümee ......................... 129 Leben im Œvre des mittleren Nietzsche ........................................... 135 Zur Frage nach einem mittleren Nietzsche....................................... 135 ›Menschliches, Allzumenschliches‹ .................................................. 138
II.5 III. III.1 III.2 III.3 III.4 III.5 IV. IV.1 IV.2
12
III.3 III.4 IV. IV.1 IV.2 IV.3 V. VI. C. I. II. II.1 II.2 III. III.1 III.2 IV. IV.1 IV.2 V.
D. I. II. II.1 II.2 II.3 II.4 III. III.1 III.2 III.3 IV.
Inhaltsverzeichnis
Der Lebensbegriff in der ›Morgenröthe‹ und in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹................................................................ 152 Zusammenfassung: Der Lebensbegriff des mittleren Nietzsche ........ 164 Der Lebensbegriff im Spätwerk Nietzsches ....................................... 165 ›Also sprach Zarathustra‹ ................................................................. 167 ›Jenseits von Gut und Böse‹, ›Genealogie der Moral‹ und ›Götzen-Dämmerung‹ ...................................................................... 176 Der Nachlass ................................................................................... 191 Resümee: Nietzsches Lebensbegriff und die Ethik des Lebens .......... 195 Überleitung zum Molekularbiologischen Lebensbegriff .................... 198 Der Molekularbiologische Lebensbegriff .................................. 201 Einleitung ....................................................................................... 201 ›Was ist Leben?‹ – Der Lebensbegriff Erwin Schrödingers ................ 206 Leben als Quantensprung ................................................................ 206 Wirkung und ethische Implikationen: Ethik des Quantensprungs ..... 214 Zufall und Notwendigkeit: Jacques Monods Theorie des Lebens ....... 220 Invarianz und Teleonomie ............................................................... 220 Würdigung und ethische Implikationen: Ethik der Erkenntnis .......... 228 Der molekulardarwinistische Ansatz – Manfred Eigen ...................... 233 Leben als Information und Hyperzyklus ........................................... 233 Würdigung und ethische Implikationen: Ethik des geno-morphen Vernunft-Humanismus .................................................................... 241 Resümee zum molekularbiologischen Lebensbegriff – Überleitung zum theologischen Lebensbegriff.................................. 245 Der Theologische Lebensbegriff .............................................. 253 Einführung ...................................................................................... 253 Leben und Ehrfurcht: Albert Schweitzer .......................................... 258 Albert Schweitzer – Exponent eines theologischen Lebensbegriffs? .. 258 Kulturktitik, Weltanschauung und Mystik ........................................ 261 Der Lebensbegriff, die Ehrfurcht vor dem Leben, Ethik und theologische Mystik .......................................................................... 269 Resümee ......................................................................................... 277 Dietrich Bonhoeffers theologischer Lebensbegriff ............................ 283 Der Lebensbegriff in Bonhoeffers ›Ethik‹ ......................................... 285 Ethische Implikationen.................................................................... 292 Würdigung ...................................................................................... 299 Der Lebensbegriff Paul Tillichs ........................................................ 301
Inhaltsverzeichnis
IV.1 IV.2 IV.3 IV.4 V. V.1 V.2 V.3
13
Philosophie und Theologie ............................................................... 304 Leben in der frühen ›Systematischen Theologie‹ (1913) .................. 306 Der Lebensbegriff in der späten ›Systematischen Theologie‹ ............ 316 Moralische Implikationen und Einschätzung .................................... 329 Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs .............................. 335 Zur Diskussion um einen theologischen Lebensbegriff ..................... 335 Motivationen eines theologischen Lebensbegriff .............................. 349 Grundlinien eines theologischen Lebensbegriff ................................ 356
Anhang ............................................................................................. 381 Abkürzungsverzeichnis ................................................................................... 381 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 383 Namensregister ............................................................................................... 407 Sachregister .................................................................................................... 413
Einleitung Konzepte des Bios sind Herangehensweisen, die sich dem Gegenstand Leben aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen stellen. Von Konzepten des Bios ist zu sprechen, weil mit Blick auf das Leben gilt: Leben ist unendlich in seiner Endlichkeit und endlich in seiner Unendlichkeit. Das Leben als Thema des Denkens repräsentiert in seinen verschiedenen Konzepten des Bios einen hochgradig kontroversen und problematischen Gegenstand. Phänomenologische Vielgestaltigkeit, logische und semantische Uneindeutigkeit, die damit verbundene Unmöglichkeit einer erschöpfenden Definition, Ubiquität und Inflation seines Gebrauchs, eine erkenntnistheoretische Unschärfe, seine ausufernde positive wie negative Illustrationsfunktion und die Disparatheit der Theorieentwicklungen sind allesamt nur Problemandeutungen, die im Versuch einer Aufarbeitung des Lebensbegriffes als Konzept hervortreten. V.a. mit einem einheitlichen Lebensbegriff kann keinesfalls gerechnet werden, wohl aber mit differenten Perspektiven, die den Problemhorizont jeweils mit unterschiedlichem Interesse abzuschreiten versuchen. Bei der Bearbeitung dieses per se unendlichen Problemhorizonts Leben ist ein theorie- und problemgeschichtlicher Weg eingeschlagen worden. Leitend ist das Interesse, Konzepte des Bios in den Blick zu nehmen, die sich ob ihrer Kreativität, Durchdachtheit, Paradigmatizität und Wirkmächtigkeit als Meilensteine des Ringens um das Verstehen des Lebens sedimentiert haben. Nur gilt dabei, dass es im Leben wie im denkenden Bemühen um dasselbe nie wirklich Sediment gibt, sondern dass auch das Sedimentierte immer neuen Boden hervorbringt, Leben und anderes wie neues Verständnis des Lebens gedeihen zu lassen. Desweiteren werden nicht nur paradigmatische Konzeptualisierungsanstrengungen des Lebendigen in theoretischer Hinsicht aufgearbeitet, sondern es werden auch jeweils deren ethische Implikationen mitberücksichtigt. Leben ist eben immer beides: θεορία und πράξις, Theorie und Praxis. Herangezogen wurden im Kontext dieser Untersuchung ganz verschiedene Konzepte des Bios: Konzepte, die sich unter den Titularen eines organismischen, metaphysischen, molekularbiologischen und theologischen Lebensbegriffes zusammenfassen lassen.1 Über diese Auswahl und die jeweils unter ihr versammelten Prota1
Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass das Stichwort theologischer Lebensbegriff unter Konzepten des Bios subsummiert wird, ist doch im Neuen Testament das Grundwort für Leben nicht βίος, sondern ζωή: »Im Neuen Testament wird Leben vor allem mit ζωή […] wiedergegeben, auffälligerweise aber kaum mit βίος, dem in der klassischen Gräzität üblichen Begriff für Leben als geschichtliches Dasein« (Hübner, Lebensbegriff der Bibel, 57). Allerdings kann ζωή im Neuen Testament durchaus auch als βίος ausgesagt werden, so z.B. Lk 814, 1 Tim 22, 2 Tim 24 oder 1 Joh 216 (vgl. Bultmann, Lebensbegriff des Neuen Testaments, 864). Etymologisch gehören βίος und ζωή ohnehin zusammen (vgl. Walde/Pokorny, I, 668ff., vgl. auch Bultmann, ζωή im griechischen Sprachgebrauch, 836). Eine Differenz in der Trennunschärfe zwischen βίος und ζωή kann folgendermassen ausgemacht werden: »ζωή (ζῆν) bezeichnet im Griechischen die physikalische Leben-
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Einleitung
gonisten lässt sich sicher streiten. Sie wird jeweils einzeln gerechtfertigt und erhebt in keinster Weise Anspruch auf Vollständigkeit, die, wie der oben in Ansatz gebrachte Satz – Leben ist unendlich in seiner Endlichkeit und endlich in seiner Unendlichkeit – impliziert, unmöglich ist. Nur soviel sei an dieser Stelle voraus geschickt: Die am Organismusgedanken orientierten Theorien des Lebendigen werden anhand der Konzeptionen Kants, Hegels und Lotzes erarbeitet, die durchaus als Paradigmata der großen Erschließungskraft, aber auch der sich eröffnenden Probleme eines organismischen Lebensbegriffs rekonstruiert und interpretiert werden. Als das gedankliche Zentrum der diskutierten Theorien figuriert der Begriff des Zwecks (und zwar durchgängig in einer betont nicht vitalistischen Interpretation), der in die Grundbestimmung des Organismus einfließt, nämlich etwas zu sein, was in sich gleichzeitig Zweck und Mittel ist. So fungiert der Zweck im Kontext der Theorie Kants als regulatives Schema der Erklärung organisierter Lebewesen,2 für Hegel ist er Ausdruck der Selbsterhaltung der reflexionslogischen Struktur Leben, die zwar am Orte des Organismus erkannt, aber nicht vollständig begrifflich einge3 holt werden kann, und für Lotze ist der Zweck schließlich Ausdruck einer spezifischen Agglomeration zweckhaft verfassten Resultanten mechanischer Prozesse, die sich in prinzipiell offenen Systemen realisiert und einer werttheoretischen In4 terpretation zugänglich ist. Die jeweiligen ethischen Implikationen konvergieren in der Einsicht, dass im strengen Sinne ethisch valables Leben nicht in der einfachen Performierung von Zweckstrukturen besteht, sondern immer mit einer Ge5 stalt praktischer Autonomie resp. Freiheit zusammen zu denken ist. Der metaphysische Lebensbegriff wird hauptsächlich anhand der Philosophie Nietzsches erarbeitet. Die Formulierung metaphysischer Lebensbegriff zeigt dabei an, dass es um eine Konzeptualisierungskultur des Lebendigen zu tun ist, die markant andere Akzente setzt als die organismischen Ansätze. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihre Einsichten in Bezug auf das Leben eben nicht in der bewusstseinsphilosophischen Reflexion auf das Gebiet des Organischen generieren, sondern dass sie im spekulativen oder induktivem Zugehen auf die psychologischen Zuständlichkeiten oder den Erlebnisgehalt des Lebens weit reichende Parameter entwickeln, was dann insbesondere auch für das Verständnis der Lebenserschei-
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digkeit der organischen Wesen, der Tiere und Menschen, aber auch der Tiere und Pflanzen. Leben ist nicht als ein Ding, sondern als die Lebendigkeit verstanden, als das Wie, das alle Lebewesen als solche charakterisiert. […]. βίος bezeichnet die Lebensweise, den Charakter, und ist mit ἦθος nahe verwandt« (Bultmann, ζωή im griechischen Sprachgebrauch, 833 u. 836 [i. Orig. z.T. gesperrt]). Im Sprachgebrauch des Neuen Testaments meint ζωή zunächst auch das natürliche und endliche menschliche Leben. Darüber hinaus kennt das Neue Testament auch ein wahres und ewiges Leben, das begründet ist in der Auferstehung Jesu von den Toten und an dem Menschen im Glauben partizipieren können (vgl. Hübner, Lebensbegriff der Bibel, 57; Bultmann, Lebensbegriff des Neuen Testaments, 864ff.). Vgl. dazu unter A.II.3. Vgl. dazu unter A.III.3. Vgl. dazu unter A.IV.3. und A.IV.4. Vgl. dazu unter A.II.4., A.III.4. und A.IV.4.
Einleitung
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nungen fruchtbar gemacht wird. Nietzsche bietet sich an dieser Stelle an, weil er eben noch nicht für eine bestimmte Kanalisierung im Verständnis des Lebens steht, wie sie dann für die unterschiedlichen Anläufe der Lebensphilosophie im engeren Sinne typisch ist, sondern wie Max Scheler hervorgehoben hat zwar »die Philosophie des Lebens noch nicht [besaß] [u]nd [...] doch über den modernen Ver6 suchen wie ein verborgener Schutzgeist« schwebt. Nietzsches Lebensbegriff, wie er durch seine Schaffensperioden hindurch rekonstruiert wird, erweist sich als äußerst schillernd und facettenreich. In der Zusammenschau wird deutlich, dass Nietzsche v.a. Interesse an einem hat: Dies ist die essentielle Energie des Vitalen, die er einerseits im Gefolge falsch verstandener metaphysischer, theologischer und moralischer Überbauungen ins Abseits manövriert und andererseits in artifiziellen Verzerrungen interniert sieht. Im Gegenüber des ihm gegenwärtigen geistigen Klimas erscheinen ihm die Quellen des Lebens zugeschüttet. Kraftvoll versucht Nietzsche deshalb in unterschiedlichen Frontstellungen die essentiellen Wurzeln des Lebens wieder freizulegen. Diese findet er schließlich in einem Willen zur Macht, der im Verständnis und Nachvollzug am intuitionskonformen Erlebnis eines urwüchsigen Lebenswillens anknüpfen kann.7 Die komplementär entwickelte Ethik des Lebens kann in einem Dreischritt thematisiert werden. In der ersten Phase kommt sie im vergleichsweise undurchdachten Imperativ des Lebens zum Stehen, der lautet: Sei Leben! und sich in geschichtlicher Hinsicht konkretisiert zu einem selbstmächtigen und stolzen So soll es sein! Flankiert wird er durch eine Tugendlehre, die v.a. Ehrlichkeit, Tüchtigkeit 8 und Wahrhaftigkeit umgreift. Die kritische Periode steht im Zeichen einer Ausarbeitung genau dieser Tugendlehre. Der Zentralimperativ Sei Leben! erscheint mutiert zum Aufruf zu selbstmächtiger Gestaltung der ewigen Lebendigkeit. Der Imperativ lautet nun: Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden! Und dieser Imperativ ist korreliert mit einer Tugend-Lehre des Lebens, die nun modifiziert Redlichkeit, Tapferkeit, Großmut und Höflichkeit umfasst. Diese Tugenden sollen dazu dienen, dass sich das Individuum zum adäquaten Gestalter jenes ewig drängenden Lebenstriebes macht und ihnen ist nachgeschaltet der Gedanke einer ewigen Wiederkunft des Lebens, der als letzte Kontrolle der Realisierung des ewigen Lebens fungiert.9 Das Spätwerk steht ganz im Schatten monistischer Tendenzen und die entsprechende Ethik des Lebens zeigt sich als Handlungskomplementarität von Nietzsches basalem Lebensparameter Willen zur Macht. Dies führt zur ethischen Integralbildung, die nicht nur Tugenden, sondern 10 auch Asketik und Wertsetzung als Themata verhandelt. 6 7 8 9 10
Scheler, Philosophie des Lebens, 314. Zur Frage, inwieweit Nietzsche der Lebensphilosophie resp. der Existenzphilosophie zuzurechnen sei, vgl. Meyer, Ästhetik der Historie, 110–115. Vgl. dazu unter B.II.-BIV. Vgl. dazu unter B.II.3. Vgl. dazu unter B.III.4. Vgl. dazu unter B.IV. und B.V.
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Einleitung
In Bezug auf den Lebensbegriff der Molekularbiologie ist es primär das Anliegen, basale Formatierungen des molekularbiologischen Lebensbegriffes zu untersuchen und zum organismischen und metaphysischen Lebensbegriff konstruktiv in Beziehung zu setzen. Vor allem wird darauf gesehen, wie die Wahrnehmung des Lebendigen in der Molekularbiologie konzeptionell mutiert ist und wie die aus der Perspektive der Molekularbiologie abgeleiteten ethischen Folgerungen in einer ersten Einschätzung zu bewerten sind. Klar ist dabei, dass sich einerseits der jeweilige Transfer vom entwickelten molekularbiologischen Lebensbegriff zu ethischen Einsichten nicht immer als unproblematisch erweist und andererseits die generierten Imperative und ethischen Theorieansätze bei weitem nicht an die theoretische Weite, Komplexion und Formatierung heranreichen, wie sie im Horizont des organismischen und metaphysischen Lebensbegriffes diskutiert werden. Als einschlägig werden hier die Ansätze Erwin Schrödingers, Jacques Monods und Manfred Eigens erachtet. Die Auswahl begründet sich v.a. darin, dass die hier behandelten Ansätze erstens auf ihre Weise wichtige Wegmarken bei der zunehmenden molekularbiologischen Erschließung des Lebens darstellen,11 zweitens die interdisziplinäre Schnittmenge der Molekularbiologie repräsentiert wird, drittens in unterschiedlichem Maße auch die Grenzen ihrer Erschließungskompetenz hinsichtlich des Lebendigen mitreflektiert sind und viertens bereits – auch jeweils mit verschiedener Gewichtung – weltanschauliche und ethische Implikationen resp. Probleme mit im Blick sind. Analysiert und diskutiert werden dabei die vor dem Hintergrund der Quantentheorie wahrscheinlich gemachte Einsicht, dass Leben thermodynamisch betrachtet einen höchst unwahrscheinlichen Zustand repräsentiert (Schrödinger)12 und 13 das Leben im Ineinander von Zufall und Notwendigkeit (Monod) resp. Notwen14 digkeit und Zufall (Eigen) . In ethischer Hinsicht rücken dabei den Kerntheorien korrespondierende Implikationen in Gestalt einer Ethik des Quantensprungs (Er15 16 win Schrödinger) , einer materialistischen Ethik der Erkenntnis (Jaques Monod) 17 und eines geno-morphen Vernunft-Humanismus (Manfred Eigen) in den Blick. Der theologische Lebensbegriff bildet den längsten Abschnitt der vorliegenden Untersuchung. Natürlich steht ein theologischer Lebensbegriff keinesfalls für eine Lösung der im Zuge von Analyse und Diskussion angetroffenen Problemhorizonte. Wenn der theologische Lebensbegriff als letzte Konzeptualisierungsgestalt in der bearbeiteten Kompilation erscheint, dann nicht deshalb, weil er das letzte Wort in dieser Sache sprechen würde. Ein letztes Wort im gedanklichen Ringen mit und 11 12 13 14 15 16 17
Alle drei Genannten sind Nobelpreisträger: Erwin Schrödinger 1933 für Physik, Jacques Monod 1965 für Physiologie oder Medizin und Manfred Eigen 1967 für Chemie. Vgl. dazu unter C.II.1. Vgl. dazu unter C.III.1. Vgl. dazu unter C.IV.1. Vgl. dazu unter C II.2. Vgl. dazu unter C III.2. Vgl. dazu unter C IV.2.
Einleitung
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um das Leben gibt es nicht. Eine Folgerung ist an dieser Stelle, dass Lebenswissenschaft immer nur interdisziplinär sein kann und die analogen Lebensbegriffe Ba18 19 lancebegriffe repräsentieren. Kants Überschwenglichkeit des Lebens, Hegels 20 21 negatives wie treibendes Ergebnis, Lotzes offenes System, Nietzsches diony22 23 sisch-treibender Urgrund, Schrödingers qua via summa patet, Monods Zufall 24 25 und Offenbarung und Eigens Vision der Vollendung müssen hier noch als Stichworte ausreichen. Dass der theologische Lebensbegriff als letzte theoretische Formatierung des Lebendigen hier thematisch wird, steht allein für die primäre Perspektive des Theologen und der im Hintergrund stehenden Theologie, aus der die Studie entworfen ist und nicht für allfällige und auch von anderwärts her be26 kannte Abschließbarkeits- und Überwissenschaftsphantasien. Das hat Konsequenzen: Zunächst ist es – wie angedeutet – nicht so, dass der theologische Lebensbegriff in strenger Konkurrenz und als problementzerrende Überbietung zu den aufgearbeiteten Vorstellungskreisen des organismischen, metaphysischen und molekularbiologischen Lebensbegriffs etabliert werden kann und soll. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass es einerseits auch den einen theologischen Lebensbegriff nicht gibt, dass dies andererseits jedoch nicht bedeutet, theologische Fokussierungen des Lebendigen würden keine alternierenden Akzente setzen. Vielmehr steht der am Ende dieser Untersuchung vorgeschlagene Versuch der Entwicklung von Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffes für die Einsicht, dass eine theologische Perspektive auf das Leben einen Zugang nicht über oder anstatt, sondern neben den in den ersten drei Kapiteln diskutierten Modellen repräsentiert. Um dies zu erarbeiten werden zunächst die Ansätze Albert Schweitzers27, Dietrich Bonhoeffers28 und Paul Tillichs29 rekonstruiert und analysiert. 30 Im Anschluss daran wird ein Blick auf zeitgenössische Zugänge und Anläufe gewor31 fen, um schließlich Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs zu entwerfen, die sich als Vorschlag innerhalb einer pluralen Diskussion verstehen und keinesfalls ein Schlusswort in Bezug auf die Aufarbeitung des Lebens sein wollen. 18 19 20 21 22 23 24 25 26
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Vgl. dazu unter D.V.2. Vgl. unter A. II.3. Vgl. unter A. III.5. Vgl. unter A. IV.2.3. Vgl. v.a. unter B IV.1.1. Vgl. unter C. II.2. Vgl. unter C. III.1. Vgl. unter C. IV.2. Vgl. dazu Markschies, Ist Theologie eine Lebenswissenschaft?, 34. Demnach ist es »bislang weder der Theologie noch der Medizin oder einer anderen Naturwissenschaft gelungen [...], diese Zugänge als eine Art ›Überwissenschaft‹ wirklich zu synthetisieren; die Synthese blieb These«. Vgl. unter D.II. Vgl. unter D.III. Vgl. unter D.IV. Vgl. dazu unter D.V.1. Vgl. unter D.V.3.
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Einleitung
Damit ist der Aufbau der Arbeit bereits erkennbar. Ein erstes Kapitel (A) wird den organismischen Lebensbegriff aufarbeiten, das zweite Kapitel (B) sich dem metaphysischen Lebenskonzept zuwenden, eine drittes (C) Theorieanläufe der Molekularbiologie analysieren und auswerten und ein viertes und letztes (D) theologischen Ansätze thematisieren und Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffes vorschlagen. Methodisch wird dabei so vorgegangen, dass die exponierten Vertreter des organismischen Lebensbegriffs (Kant, Hegel, Lotze), des metaphysischen Lebensbegriffs (v.a. Nietzsche), des molekularbiologischen Lebensbegriffs (Schrödinger, Monod, Eigen) und des theologischen Lebensbegriffs (Schweitzer, Bonhoeffer, Tillich) zunächst in einer gerichteten Rekonstruktion auf das Thema Leben hin konzentriert werden, um in einem zweiten Schritt auf die jeweiligen ethischen Implikationen aufmerksam zu machen. D.h. jede Aufarbeitungs- und Interpretationseinheit performiert sich im Zweischritt von θεορία und πράξις. Der Schluss, der Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs entwirft, die in einer Matrix von Kontingenz-, Transzendenz-, Endlichkeits-, Aktions- und Wertaspekt zum Stehen kommt, verdankt sich dem Ineinander von Induktion und systematischer Zusammenschau, die dem Lebensbegriff in theologischer Hinsicht gerecht werden soll als das, was er im hier vorgestellten Sinne ist: ein Balancebegriff, was sich wieder aus der bereits benannten Einsicht speist: Leben ist unendlich in seiner Endlichkeit und endlich in seiner Unendlichkeit.
A. Der organismische Lebensbegriff I.
Einführung
Organismen haben Menschen von jeher fasziniert. Die fundamentale Differenz zwischen dem nachmalig Organischen und dem Nicht- oder Unorganischen, die sachlich komplementär verläuft zu Unterscheidungsversuchen zwischen dem Lebendigen und dem Nicht- resp. Unlebendigen, ist bereits im antiken Denken Ge1 genstand der v.a. philosophischen Reflexion gewesen. Allerdings gilt es dabei zu beachten, dass es ein klassisches griechisches Wort ὀργανισμός zunächst nicht gibt, wohl aber den adjektivischen Ausdruck ὀργανικός, was etwa bedeutet »durch 2 3 Instrumente ausgeübt« resp. »maschinenmäßig« , oder den Begriff des »ὄργανον« , der für Werkzeug, Instrument oder Gerät steht, in biologischen Kontexten aber auch biologisches Organ meinen kann. Beides leitet sich ab vom griechischen Substantiv ἔργον, das primär das Werk im Sinne von Tat, Handlung oder Unterneh4 5 mung bedeutet. Aristoteles, der als »der erste biologische Systematiker« ange6 sprochen werden kann, kennt zwar den Begriff des »σῶμα ὄργανικό[ν]« – und das sind für ihn beseelte Wesenheiten (Pflanzen, Tiere, Menschen) –, die neben einer 7 immanenten Teleologie (ἐντελέχεια) qua Seele dadurch ausgezeichnet sind, dass sie eben über Organe im oben angesprochenen biologischen Sinne verfügen. Allerdings ist für ihn das Typische derartiger Entitäten nicht allein das Vorliegen von Organen im biologischen Verständnis, sondern vielmehr die mit der Seele in Ver8 bindung gebrachte Entelechie, die als eine Art Ganzheitskausalität aufzufassen ist. Damit ist bereits für das aristotelische Verständnis des Lebendigen der Zweckge-
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Vgl. dazu Ewers, Philosophie des Organismus, passim. Menge-Güthling, 496. Zum Begriff und zur Begriffsgeschichte des Terminus Organ vgl. Ballauff, Organ, 1317ff. Vgl. Ballauff, Organ, 1317. Das griechische Substantiv ἐργὸν (ursprünglich mit Digamma (ϝ) geschrieben) ist dabei urverwandt mit dem deutschen Wort Werk. Goethe war der Überzeugung, dass sich das Wort vom griechischen Ausdruck ὀργή (Trieb, Zorn oder Erregung) herleitet (vgl. Ryan/Seifert, Organisch, 1329). Ewers, Philosophie des Organismus, 13. Aristoteles, De anima, 412b5f.: »εἰ δή τι κοινὸν ἐπὶ πάσης ψυχῆς δεῖ λέγειν εἴη ἂν ἐντελέχεια ἡ πρώτη σώματος φυσικοῦ οργανικοῦ«. Mit dieser Diktion folgt Aristoteles seinem Lehrer Platon. Vgl. dazu Ballauf, Organ, 1318. Dieser Ausdruck stammt von der Wortverbindung ἐν τέλει ἔχειν, was soviel heißt, wie ein Ziel haben. Zum Entelechiegedanken bei Aristoteles vgl. Ewers, Philosophie des Lebendigen, 11f. und Fäh, Biologie und Philosophie, 7f. Der Entelechiegedanke ist dann v.a. bei Leibniz wieder in der Vordergrund gerückt: Vgl. Leibniz, Monadologie, §70, 56: »On voit par là, que chaque corps vivant a une Entélechie dominante qui est l´Âme dans l´ animal; mais les membres de ce corps vivant sont pleins d´autres vivants, plantes, animaux, dont chacun a encore son Entélechie, ou son âme dominante« (Hervorhebungen v. Vf.).
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Der organismische Lebensbegriff 9
danke impliziert. Für Aristoteles repräsentiert die Seele die zwecktätige Ursache körperlicher Formgebung und Bewegung, sie ist die den Leib (σῶμα) eigentlich bewegende und steuernde Kraft. Die Seele ist, wie Aristoteles sagt, die »Entelechie des Leibes«, d.h. die »erste vollendete Wirklichkeit (πρώτη ἐντελέχεια) eines dem Vermögen nach (δυνάμει) lebendigen Naturkörpers und zwar eines solchen, der 10 11 Organe« hat. Der neuzeitliche Ausdruck Organismus kommt in Vermittlung des französischen organisme im 18. Jahrhundert auf und erfährt seit dem eine kaum überblickbare Fülle von Interpretationen, die hier keinesfalls im Einzelnen nachvollzo12 gen werden können. Wenn im Folgenden die drei ausgewählten am Organismusbegriff geleiteten Konzeptualisierungen des Lebendigen Kants, Hegels und Lotzes ins Zentrum des Interesses geschoben werden, dann hat dies eine Reihe von methodischen und systematischen Gründen. Zunächst dürfte es evident sein, dass im Rahmen einer solchen Untersuchung auch nur der Versuch, annähernd einen vollständigen Überblick über die organismischen Konzeptualisierungen des Lebens anzustreben, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Insofern kann nur auf die prominentesten und einschlägigsten Konzepte eingegangen werden. Das meint, dass primär Großtheorien interessant sind, in denen die Fäden der vorhergehenden Entwicklungen zusammenlaufen und konzentriert werden und die in diesem Sinne Paradigmen setzen. Hinzu kommt, dass diese Studie eine erklärt neuzeitliche Perspektive einnehmen möchte. D.h., dass vorneuzeitliche Vorstellungskreise in der Regel allein indirekt und unausdrücklich im Hintergrund stehen. Und endlich ist es so, dass im Rahmen dieser Untersuchung v.a. Ansätze interessant sind, die eine prägende Wirkung v.a. auch auf die theologische Gedankenentwicklung entfaltet haben. Das bedeutet, dass Theorien, wie z.B, der Vitalismus oder Neo-Vitalismus nur von begrenztem Interesse sind und insofern aus dem engeren Blickwinkel auszuklammern sind. 13 Wird dies zusammen genommen, so bietet sich wie von selbst zunächst ein Blick auf den organismischen Lebensbegriff Kants an. Bei Kant laufen in partiellem wie kritischem Rückgriff auf die Aristotelische und ihm unmittelbar vorgängige Tradi14 tion Gedankenlinien zusammen. Und vor dem Hintergrund des transzendental-
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Vgl. Ballauff, Organ, 1317f.. Zit. nach Driesch, Geschichte des Vitalismus, 17. Vgl. dazu auch Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 127. Vgl. dazu Meyer, Organismus, 1330ff. So gilt die Tragkraft des Neovitalismus, als dessen herausragender Exponent Hans Driesch anzusprechen ist, als wenigstens umstritten. Vgl. dazu Ewers, Philosophie des Organismus, 57. In Bezug auf die unmittelbar vorgängigen Positionen ist v.a. an Leibniz zu denken. Leibniz hatte den Sachverhalt der Organisation anhand der perzeptiven Tätigkeit der Monaden aufgezeigt. Indem im Vollzug der Perzeption der Monade Differenz in der Einheit und Einheit in der Differenz vermittelt wird, erweist sie sich als Schnittstelle zwischen Vollzug ihres spezifischen Prinzips und den Bezugspunkten der in ihr dargestellten Körper. Dies bezeichnet Leibniz auch als Organisation. Vgl. Cheung, Organisation des Lebendigen, 52.
Einführung
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philosophischen Ansatzes repräsentiert sein Organismuskonzept ein Paradigma, das sich in den modernen Organismusbegriffen in wesentlichen Aspekten durch15 hält, resp. in der Moderne eine Apotheose erfahren hat. Und endlich ist es für Kant signifikant, dass sein vom Organismusgedanken geleitetes Lebensmodell in ein Konzept praktischer Autonomie mündet, das insbesondere auch auf die theo16 logische Diskussion eingewirkt hat. Letzteres gilt – freilich mit veränderter Akzentsetzung – auch für Hegel. Darüber hinaus ist seine Fassung des Organischen im Kontext dieser Arbeit einschlägig nicht nur, weil sein Einspruch gegen die Philosophie Kants der wohl umfassendste 17 und grundsätzlichste gewesen ist. Hegel ist darüber hinaus von nicht zu unterschätzendem Interesse, weil er viel schärfer noch als Kant vor dem Hintergrund seiner reflexionslogischen Fassung des lebendigen Organismus auf Grenzen einer begrifflichen Konzeptualisierung organismischen Lebens aufmerksam macht.
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Zum Verhältnis Kant und Aristoteles in Bezug auf die gedankliche Erfassung des Organismus vgl. Löw, Philosophie des Lebendigen, 195: »Kant ist sich mit Aristoteles ganz einig: In Organismen geht die Idee des Ganzen seinen Teilen vorher. [...] Wenn wir Kants Fassung vom Organismus und dessen Seinsweise, dem Leben, einmal gegen die von Aristoteles halten, so überrascht die Übereinstimmung. Die Differenz aber ist auch unübersehbar: die Legitimation der teleologischen Beurteilung. Für Aristoteles ist sie zwar im Einzelnen problematisch, generaliter aber konstitutiv für Lebewesen: Organismen sind zweckmäßig gebaut, sie verfolgen diese Zwecke, sie sind in zweckmäßige Lebenszusammenhänge eingebaut; schließlich ist die ganze Natur ein zweckmäßiges Ganzes. Ein solches Urteil ohne voraufgehende Kritik der Urteilskraft wäre für Kant ein Dogmatismus« (Hervorhebungen i. Orig). Löw versucht im Folgenden im Rückgriff v.a. auf das ›opus postumum‹ plausibel zu machen, dass Kant in seiner Spätphase dann ganz zur Position des Aristoteles zurückgekehrt sei. Dagegen wendet sich Michael Ewers, der festhält: »Kant kann nicht als Aristoteliker gedeutet werden, wie sehr er sich auch letzten Endes dem aristotelischen Denken angenähert haben mag. Entscheidend bleibt vielmehr, daß Kants Ansatz sich von dem des Aristoteles grundlegend unterscheidet, wie auch Löw bemerkt, nämlich dadurch, daß ›die Teleologie, als Wissenschaft, [...] zu gar keiner Doktrin, sondern nur zur Kritik, und zwar eines besonderen Erkenntnisvermögens, nämlich der Urteilskraft, [gehört]‹ « (Ewers, Philosophie des Organismus, 16f.) Vgl. Barth, U., Gehirn und Geist, 442. Zur modernen Biologie vgl. etwa Mayr, Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 43; vgl. dazu Weil, Möglichkeiten und Grenzen, 14. Vgl. auch Düsing, Naturteleologie, 156: »Die Lehre Kants, daß die Naturteleologie lediglich eine Maxime der reflektierenden Urteilskraft zur Betrachtung von Organismen ist, steht der heutigen Auffassung der ›Teleonomie‹ eines Lebewesens, die offenbar auch die Molekularbiologie als einen ihrer grundlegenden wissenschaftstheoretischen Begriffe nicht aufgeben kann, n[a]he«. Vgl. dazu nur die Etikettierung Kants als »Philosoph des Protestantismus« durch Friedrich Paulsen und Julius Kaftan (Paulsen, Philosoph des Protestantismus, 1; Kaftan, Philosoph des Protestantismus, 1). Vgl. Horstmann, Kant und der Standpunkt des Sittlichen, 557ff., bes. 557: »Umfassend ist dies [sc. Hegels] Kritik in dem Sinne, daß es keinen Bereich der Kantischen Philosophie gibt, der von Hegel nicht kritisiert worden wäre. [...] Grundsätzlich ist Hegels Kritik, [weil] sie darauf [zielt], den gesamten Kantischen Ansatz in Frage zu stellen. [...] Kant-Kritik ist für Hegel daher Prinzipienkritik, und Prinzipienkritik ist für ihn Kritik an grundsätzlich irreführenden Weisen der philosophischen Weltbetrachtung«.
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Der organismische Lebensbegriff
Auch die Philosophie Lotzes hat große Wirkungen auf die theologische Theorie18 bildung ausgeübt. Dabei kann Lotzes spezifische Herangehensweise an das organisierte Leben nicht nur als eine paradigmatische Auseinandersetzung und Absage mit und an vitalistische Theorien des Lebendigen gelesen werden. Vielmehr übt sich (wie Hegel gegenüber Kant) Lotze in Kritik v.a. an der Naturphilosophie Hegels, so dass seine Theorie als direkte Reaktion auf die Hegelsche Position erscheint, die teilweise wieder Kantische Einsichten fruchtbar machen möchte. Und auch noch in einer weiteren Beziehung bzgl. der Ansätze von Kant und Hegel erweist sich Lotze als einschlägig. Verwahren sich nämlich Kant und Hegel gegen den Eintrag ethischer Qualitäten in die elementare Fassung des Organismusgedankens, so steht Lotze schließlich für den expliziten Eintrag einer Wertdimension am Orte der basalen Fassung des Lebensbegriffes, die insbesondere für eine ethische Bewertung und Diskussion des Lebensbegriffes von Relevanz ist. Die drei genannten Konfigurationen einer am Organismusgedanken orientierten Erfassung des Lebens sollen im Folgenden in der angedeuteten Klimax erarbeitet werden. Dabei wird nicht allein auf die spezifische systematische Konfiguration, sondern auch jeweils auch auf die entsprechenden ethischen Implikationen zu achten sein. Abschließend ist mit einer Zwischenreflexion zum metaphysischen Lebensbegriff überzuleiten.
II. II.1
Die teleologische Organismuskonzeption Kants Einführung
Auf den ersten Blick scheint der Begriff des Lebens innerhalb der Philosophie Kants eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Und tatsächlich: Verglichen mit anderen prominenten wie zentralen termini seiner Philosophie gehört der des Lebens nicht unbedingt zu denjenigen, bei denen man unwillkürlich an Kant erinnert würde. Dies hat einen sachlichen Grund, der aus Kants Wissenschaftsverständnis resultiert und von dem auch die Wissenschaft vom Leben unmittelbar mitbetroffen ist. Für Kant sind das Leben und seine Erscheinungen primär Gegenstand der Naturwissenschaften. Und in Bezug auf diese verfolgt Kant nicht das Interesse, sich an der Erarbeitung materialer Gehalte zu beteiligen, sondern im Hinblick auf die Naturwissenschaften sieht er sein kritisches Geschäft allein in der prinzipiellen Rechtfertigung regulativer Forschungsmaximen. Dies trifft auch für die Wissenschaft vom Lebendigen zu. Allerdings repräsentiert der Bereich des Lebendigen insofern einen exponierten Ort, als sich nach Kant hier differente Erkenntnisweisen überschneiden. Das Gebiet des Lebendigen 18
Vgl. dazu Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, bes. 26ff., 85ff.; 146ff.; 172ff.; 210ff.; 239ff. und 281ff.
Die teleologische Organismuskonzeption Kants
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ist für Kant exemplarisch, um die Möglichkeiten und Grenzen eines theoretisch erkennenden Zugriffs auf die Wirklichkeit aufzuzeigen und um gleichzeitig auf bestimmte Spezifika des menschlichen Verstandes und seiner Erkenntnismöglichkeiten aufmerksam zu machen. In diesem Sinne begegnet eine Auseinandersetzung mit dem Lebendigen als Thema des Denkens. Am ausführlichsten findet sie sich in der ›Kritik der Urteilskraft‹, und die exponierte Stellung der Beschäftigung mit dem Leben verdankt sich nicht unwesentlich der spezifischen Aufgabe der dritten Kritik. In seiner dritten Kritik hatte es Kant unternommen, systematische Lücken zu schließen, wie sie sich aus der bisherigen Exposition eines Gesamtprogramms einer Vernunftkritik ergeben hatten. In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant das theoretische Erkenntnisvermögen einer grundlegenden Kritik unterworfen und in Opposition zur spekulativen Theologie und Metaphysik Grenzen und Möglichkeitsbedingungen eines theoretisch erkennenden Zugriffs auf die phänomenale Wirklichkeit ausgelotet. Die durch Kategorien und Anschauungsformen strukturierte Wahrnehmung erwies sich in sachlicher Nähe zu Newtons axiomata sive leges motus19 als tauglich, ein funktional wesentlich durch Ursache und Wirkung geprägtes Bild der phänomenalen Wirklichkeit zu generieren. In einem quasi analogen Verfahren hat Kant dann in seiner zweiten Kritik das praktische Erkenntnisvermögen behandelt und mit der Exposition der intelligiblen Sphäre der Freiheit, wie sie sich vor dem Hintergrund des Sittengesetzes eröffnet, einen weiteren eigenständigen Bereich des Erkennens abgesteckt. Beide Systemteile sind so konzipiert, dass der theoretisch erkennende Zugriff auf die phänomenale Wirklichkeit nicht in Kollision mit der praktischen Vernunfterkenntnis gerät. Doch haben die beiden ersten Kritiken ein Problem offen gelassen, das die aktuale Verwirklichung der praktischen Vernunft in ihrer Relation zur kausal aufgefassten Sinnenwelt betrifft. Die praktische Vernunft findet ihre Realisationssphäre in der durch die theoretische Vernunft weitgehend kausal strukturierten Sinnenwelt. Also muss sich letztere zumindest ihrer Möglichkeit nach als kompatibel gegenüber der spontanen Aktualisierung der praktischen Vernunft erweisen. Den Nachweis dafür zu erbringen, liegt aber weder in der Kompetenz des theoretischen Verstandes, der ja gerade die apriorischen Prinzipien für eine überwiegend kausale Auffassung des sinnenweltlichen Naturzusammenhangs bereitstellt, noch im Vermögen der praktischen Vernunft, die die apriorischen Grundsätze der Denkbarkeit der intelligiblen Sphäre der Freiheit liefert. Kant weist diese Aufgabe vielmehr der Urteilskraft zu, mit der er sich in seiner dritten Kritik – wiederum analog zum Vorgehen in den vorhergehenden Kritiken – ausführlich auseinandersetzt. Das Gebiet des Lebendigen rückt nun deshalb in den Vordergrund, weil eine spezifische Leistung der Urteilskraft, nämlich die Fähigkeit zur Reflexion der Wirk19
Vgl. Hermann, Kants Teleologie, 61.
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Der organismische Lebensbegriff
lichkeit vor dem Hintergrund von Zweckbegriffen, nicht nur am Orte des Lebendigen demonstriert werden kann, sondern auch und gerade weil diese bestimmte Leistung menschlicher Verstandestätigkeit den einzigen Weg für die wissenschaftliche Erschließung des Lebendigen darstellt, deren systematische Explikation freilich auch wesentliche und wichtige Einsichten für das Verständnis des Lebendigen selbst abwirft. In dieser Beziehung erweist sich Kants Beschäftigung mit dem Bereich der organisch-lebendigen Natur nicht nur als eines der interessanteren, sondern auch als eines der »schwierigsten und auch verrücktesten Problem[e] der Philosophie Kants«20. II.2
Der Begriff des Naturzwecks
Die Leitkategorie, mittels derer Kant sich der Problematik des Lebens nähert, ist 21 die des Naturzwecks. Um diesen für die Kantische Behandlung der Lebensproblematik eminenten Begriff in seiner konstruktiven Stärke, aber auch in seiner inneren Problematizität so präzise wie möglich fassen zu können, erscheint es ratsam, sich diesem Schlüsselbegriff von den in sachlicher Verwandtschaft stehenden Termini des Zweckes und der Zweckmäßigkeit her zu nähern. Sowohl der Zweckbegriff als auch der Begriff der Zweckmäßigkeit bilden das engere semantische Umfeld des Naturzweck-Begriffs, und ohne deren Kenntnisnahme dürfte sein Verständnis nur schwer möglich sein. Ein Zweck wird von Kant gedacht als »der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält«22. Die entscheidende Pointe dieser Definition des Zweckbegriffs erschließt sich am besten durch eine Gegenüberstellung von Zweck- und Allgemeinbegriff. Während Allgemeinbegriffe – indem sie in der Wahrnehmung Gegebenes bestimmen – eine erkenntnisbegründende Funktion einnehmen, ist es die Eigenheit eines Zweckbegriffs, dass er nicht erkenntnis- sondern primär seinsbegründend auftritt. Ein Zweckbegriff stellt den Grund der Möglichkeit seines Gegenstands insofern dar, als im Zweckbegriff die Wirklichkeit des vorgestellten Gegenstands gewissermaßen antizipiert wird. Zweckmäßigkeit hingegen bezeichnet eine formale Indikation der Dinge, die in der »Übereinstimmung eines Dinges mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge, die nur nach Zwecken möglich ist«23, besteht. In Abgrenzung zur Sphäre des theoretischen Erkennens versteht Kant unter Zweckmäßigkeit demnach eine Formalcharakteristik der Dinge, die nicht aus einer kausal strukturierenden Perspektive er-
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Schulte, Immanuel Kant, 108. Vgl. dazu Düsing, Naturteleologie, 142ff., Ewers, Philosophie des Organismus, 16ff. und Neugebauer, M., Lebensbegriff bei Kant, 95ff. KdU, B XXVIII; Vgl. auch a.a.O., B 32: »Zweck [ist] der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser [sc. der Begriff] als die Ursache von jenem [sc. dem Gegenstand] (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird«. KdU, B XXVIII.
Die teleologische Organismuskonzeption Kants
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schlossen werden kann. Methodisch betrachtet bezeichnet Zweckmäßigkeit genau diejenigen Eigenschaften von Dingen, die allein aus der Perspektive eines Zwecks erklärbar sind. Zweckmäßigkeit kann von rein subjektiver Tragweite sein, und als solche behandelt sie Kant in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Die Relevanz eines Zweckbegriffs für ein individuelles Subjekt wird entweder durch das Geschmacksurteil eingeschätzt (formale subjektive Zweckmäßigkeit) oder im Sinnenreiz emp24 funden (materiale subjektive Zweckmäßigkeit). Den Begriff objektiver Zweckmäßigkeit hingegen exponiert Kant in der Analytik der ›Kritik der teleologischen Urteilskraft‹ (§§61–68). Dabei wird – analog zum Vorgehen der Kritik der ästhetischen Urteilskraft – zwischen einer formalen und einer materialen objektiven Zweckmäßigkeit unterschieden. Den Sachverhalt formal-objektiver Zweckmäßigkeit erläutert Kant anhand der Geometrie. Formalobjektive Zweckmäßigkeit eignet geometrischen Figuren, da diese sich im Reich von Geometrie und Mathematik als zweckmäßig für die Auflösung verschiedenster Probleme erweisen, da sie Gebilde darstellen, auf die ein großer Teil geometrischer Figuren und mathematischer Terme reduziert werden kann.25 Diese Art der Zweckmäßigkeit ist jedoch lediglich formal, da sie jeglichen materialen Bezugs zur Existenz der in Frage kommenden Objekte entbehrt. Sie beruht allein auf mathe26 matischer »Proportion« und ist folglich nicht imstande, sich in konkreten Zwecken zu gründen. »Diese intellektuelle Zweckmäßigkeit aber, ob sie gleich objektiv ist (nicht wie die ästhetische subjektiv), lässt sich gleichwohl ihrer Möglichkeit nach als bloß formale (nicht reale), d. i. als Zweckmäßigkeit, ohne daß doch ein 27 Zweck ihr zum Grunde liege […] begreifen« . Objektiv-materiale Zweckmäßigkeit liegt Kant zufolge erst dann vor, wenn die Zweckmäßigkeit in direkter Beziehung zur materialen Existenz des von ihr intendierten Objekts steht, d.h. wenn der Begriff der Zweckmäßigkeit einem realen Ob-
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Zur Analyse der Kritik der ästhetischen Urteilskraft und zur Systematizität der benannten Begriffe vgl. Bauch, Kant, 378–412; Bartuschat, Zum systematischen Ort, 92-168; Teichert, Immanuel Kant Kritik der Urteilskraft, 17–101. Vgl. KdU, B 271: »Alle geometrischen Figuren, die nach einem Prinzip gezeichnet werden, zeigen eine mannigfaltige, oft bewunderte, objektive Zweckmäßigkeit, nämlich die Tauglichkeit zur Auflösung vieler Probleme nach einem einzigen Prinzip, und auch wohl eines jeden derselben auf unendlich verschiedenen Art an sich«. Paradigma ist der Kreis als gewissermaßen zweckmäßigste geometrische Figur: »In einer so einfachen Figur, als der Zirkel ist, liegt der Grund zu einer Auflösung einer Menge von Problemen, deren jedes für sich mancherlei Zurüstung erfordern würde, und die als eine von den unendlich vielen vortrefflichen Eigenschaften dieser Figur sich gleichsam von selbst ergibt« (ebd.). KdU, B 272. KdU, B 274. Vgl. auch a.a.O., B 279 (Anm. *): »Weil in der reinen Mathematik nicht von der Existenz, sondern nur der Möglichkeit der Dinge, nämlich einer ihrem Begriffe korrespondierenden Anschauung, mithin gar nicht von Ursache und Wirkung die Rede sein kann: so muß folglich alle daselbst angemerkte Zweckmäßigkeit bloß als formal, niemals als Naturzweck, betrachtet werden« (Hervorhebung i. Orig.).
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Der organismische Lebensbegriff
jekt zuerkannt werden kann, das den Grund seiner Wirklichkeit allein im Begriff eines konkreten Zweckes hat. Hierbei unterscheidet Kant zwischen einer äußeren 28 und einer inneren objektiv-materialen Zweckmäßigkeit. Äußere oder relative Zweckmäßigkeit ist verstanden als »Nutzbarkeit (für Menschen) oder Zuträglich29 keit (für jedes andere Geschöpf)« . Das heißt, existente Sachverhalte der Sinnenwelt werden im Horizont der teleologischen Urteilskraft auf ihre Zweckmäßigkeit für die Handlungsziele endlich vernünftigen Lebens hin reflektiert (Nutzbarkeit) oder auf ihre zweckhafte Bedeutung im Bereich des unvernünftigen Lebens (Zu30 träglichkeit) hin überprüft. In beiden Fällen ist dennoch nur von einer äußeren resp. relativen objektiv-materialen Zweckmäßigkeit die Rede, da es sich jeweils 31 nicht um eine »objektive Zweckmäßigkeit der Dinge an sich selbst« handelt, die den Dingen im Sinne eines analytischen Urteils eignet, sondern jenen Dingen äu32 ßerlich aufgrund eines entsprechenden Vorverständnisses zugesprochen wird. Das Vorliegen objektiv-materialer Zweckmäßigkeit ist nun für diejenigen Gebilde der Sinnenwelt typisch, die Kant als Naturzwecke bezeichnet. Ein Naturzweck ist exakt gefasst als ein Gebilde, das gleichermaßen Ursache und Wirkung seiner selbst ist: »[E]in Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst (obgleich in zweifachem Sinne) Ursache und Wirkung ist, denn hierin liegt eine Kausalität, dergleichen mit dem bloßen Begriffe einer Natur, ohne ihr einen Zweck unterzulegen, nicht verbunden, aber auch alsdann, zwar ohne Widerspruch, gedacht, aber nicht begriffen werden kann«33. Ein Naturzweck ist also eine natürliche Entität, die eine Beziehung auf einen Zweck enthält, aber nicht in dem Sinne, dass eine externe Instanz diesen Zweck von außen implementiert hätte – in diesem Falle handelte es sich um ein Kunstprodukt –, sondern dergestalt, dass der den Naturzweck konstituierende Zweck gleichermaßen die Ursache des Naturzwecks repräsentiert. Kant bezeichnet diese spezifische Verfasstheit auch als den »eigentümlichen Cha34 rakter der Dinge als Naturzwecke« . 28
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Zu Differenz und Konnex von äußerer und innerer Zweckmäßigkeit sowie zur Problematik der beiden Theoreme im Kontext der Vermittlungsintention der KdU vgl. Hansmann, Unterscheidung und Zusammenhang, 85–105. KdU, B 279f. Mit Recht weist Hansmann in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieser Gedanke seine Präfiguration im dritten Abschnitt der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe der Kritik der reinen Vernunft hat, insofern dort die Strukturierung der Sinnenwelt durch Naturgesetze ebenfalls als eine autarke Leistung der kognitiven Funktionen des Vorstellungsvermögens aufgefasst sind. Vgl.Hansmann, Unterscheidung und Zusammenhang, 87 (Anm. 7). KdU, B 281. Vgl. Bartuschat, Zum systematischen Ort, 177f.; Hansmann, Unterscheidung und Zusammenhang, 87. KdU, B 286 (Hervorhebung im Orig. und Zusatz von B). Kant, KdU, B 284 (Damit ist die Überschrift des i. Orig. gesperrt gedruckten § 64 teilweise wiedergegeben). Kant erläutert diese zentrale These am Beispiel eines Baumes, vgl. Kant, KdU, B 286ff.: Und zwar lässt sich das Ineinander von Ursache und Wirkung am Orte des Naturzwecks in drei Hinsichten erläutern, die die Gattung, das Individuum und die einzelnen Teile eines Individuums betreffen.
Die teleologische Organismuskonzeption Kants
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Diese Fassung des Begriffs des Naturzwecks als wechselseitige Kausalität von Ursache und Wirkung bezeichnet Kant in ihrer tatsächlichen Aktualisierung, z.B. als Baum, als Naturprodukt, und Naturprodukte sind endlich nichts anderes als lebendige Organismen: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles 35 Zweck und wechselseitig auch Mittel ist« . Mit dieser spezifischen Fassung des Begriffs eines organisierten Naturprodukts, nach der eine wechselseitige Kausalstruktur die entscheidende Signatur des Lebendigen repräsentiert, ist die Kantische Erklärung des Lebendigen noch lange nicht erschöpft. Im Gegenteil: Die spezifische Fassung des Organismusgedankens wirft erst ein entscheidendes Problem auf. Denn die Vorstellung einer immanenten wechselseitigen Kausalität impliziert ein Vermögen, dass für Kant die eigentliche Problematizität organisierter Naturprodukte ausmacht, nämlich die Fähigkeit zur Selbstorganisation. II.3
Das Zentrum der Organismuskonzeption
Die Explikation von Selbstorganisation am Orte lebendiger Naturprodukte stellt für Kant eine gewaltige, wenn nicht die größte Schwierigkeit einer theoretisch befriedigenden Einsichtnahme in die Sphäre des Lebendigen dar. Kant spricht denn auch zunächst von der »Unerklärlichkeit eines Naturzwecks«36 resp. dezidiert in Bezug auf das Phänomen der Selbstorganisation von Naturprodukten von einer 37 »unerforschlichen Eigenschaft« . Diese These wird durch ein Ausschlussverfahren präzisiert, indem zwei verschiedene analogisierende Erklärungsmodelle kritisch
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Zuerst macht Kant darauf aufmerksam, dass die gattungsspezifische Reproduktion von Bäumen auf das Hervorbringen von Bäumen derselben Art gerichtet ist. Ein Baum ist immer auch Wirkung der reproduktiven Fähigkeit von Bäumen, deren Ursache auch wiederum nur ein Baum sein kann. Insofern also Bäume auch wieder Bäume hervorbringen, sind sie zugleich Ursache und Wirkung der Gattung Baum. Auch auf ein Individuum der Gattung Bäume gesehen, lässt sich die wechselseitige Kausalität von Ursache und Wirkung erheben. Kant rekurriert an dieser Stelle auf das Wachstum pflanzlicher Organismen. Da nämlich ein Baum aus sich heraus wächst, bildet er sich quasi von sich aus und erscheint als Ursache seiner selbst. Kant übersieht freilich nicht, dass der Baum dabei auf externe Substanzen und Umweltbedingungen angewiesen ist. Aber die Art und Weise, in der diese im Wachstumsprozess geschieden und zusammengesetzt werden, setzen ein spezifisches Bildungsvermögen der Bäume voraus, so dass der Baum qua Wachstum sein eigenes Erzeugnis darstellt. Drittens lässt sich die wechselseitige Relation von Wirkung und Ursache auch am Verhältnis von Teil und Ganzem demonstrieren. Einerseits bilden sich, zwar durch den Baum ernährt, die einzelnen Teile des Baumes auch aus sich selbst heraus. Die einzelnen Teile eines Baumes verfügen demnach, wie der Baum als ganzes über ein spezifisches Bildungsvermögen, so dass sie ebenso als Erzeugnis ihrer selbst erscheinen. Kant illustriert dies mithilfe des Bildes eines Pfropfreises. Andererseits – wieder auf den Baum als Ganzes gesehen – sind diese Bildungen dann als Wirkungen des Baumes betrachtet Ursache für diesen, da sie unverzichtbar für dessen Existenz sind und ihr Fehlen oder Entfernen den Baum abtöten würde. Kant, KdU, B 295f. Kant, KdU, B 329 (Damit ist die Überschrift des i. Orig. gesperrt gedruckten § 74 teilweise wiedergegeben). Kant, KdU, B 293.
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Der organismische Lebensbegriff
auf ihre Erschließungskraft hin abgeklopft werden. Dabei handelt es sich um ein 38 39 »Analogon der Kunst« sowie um ein »Analogon des Lebens« . Um genau zu verstehen, was gemeint ist, erscheint es sinnvoll, sich die von Kant nur äußerst knapp angedeuteten Analogien etwas genauer vor Augen zu halten. Zuerst diskutiert Kant die Möglichkeit, das Phänomen der Selbstorganisation des Lebendigen durch eine Analogie mit der Kunst zu erklären. Die von Kant nicht explizit genannte Analogie dürfte dabei lauten: So, wie sich Kunstwerke zu den sie schaffenden Künstlern verhalten, so verhalten sich organisierte Strukturen zu ihren Hervorbringern. Diese, von Kant gleich vorderhand abgewiesene Analogie, scheitert jedoch daran, dass Kunstprodukte auf eine vernünftige ihnen externe Instanz (den Künstler) verweisen. Da im Gegenteil jedoch bei organisierten Strukturen von einer Selbstorganisation ausgegangen werden muss, ist diese Analogie unzulässig. Der zweite vorgeschlagene Erklärungsversuch schlägt eine Explikation der Selbstorganisiertheit von Organismen in Analogie mit dem Leben vor. Der hierbei im Hintergrund stehende Begriff des Lebens ist nicht ganz einfach zu fassen. Es liegt jedoch nahe, dass Kant an dieser Stelle noch ganz unspezifisch an eine im Grunde allen Lebensformen eignende allgemeine Belebtheit denkt.40 Die auf den ersten Blick weiter reichende Erschließungskraft dieser Analogie besteht darin – und deshalb bezeichnet Kant sie auch als näherführend –, dass nicht mehr ein externer Grund für das Vorliegen von natürlicher Selbstorganisation genannt wird, sondern dieser in den engeren Bereich der Natur hineinverlagert ist. Der Fehler der 41 Analogie der Kunst scheint prima facie vermieden. Kant erörtert in Bezug auf das Analogon des Lebens zwei Varianten: den Hylozoismus und den Theismus. Der Hylozoismus verortet die vorauszusetzende allgemeine Belebtheit in der Materie. Die wiederum nicht eigens ausgewiesene hylozoistische Analogie würde also folgende sein: Das Vorliegen der Selbstorganisation kann analog zum Vorhandensein einer durchgängigen Belebtheit der Materie ausgewiesen werden. Jedoch ist auch diese Analogie problematisch. Denn sie implementiert dem Begriff der Materie unzulässig die Selbstorganisation von Naturprodukten erklärende Belebtheit, was laut Kants auf nichts anderes als einen Widerspruch hinausläuft. Den vitalistischen Gedanken einer in und aus sich belebten Materie hält Kant grundsätzlich für in sich widersprüchlich und nicht haltbar.
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Kant, KdU, B 293. Kant, KdU, B 293. Volkmann-Schluck versucht es, wahrscheinlich zu machen, dass Kant an dieser Stelle bereits einen eingeschränkten Lebensbegriff in Anklang bringt, der nur tierisches und humanes Leben umgreift und pflanzliches Leben schon explizit ausschließt. Dies geht jedoch aus dem Text nicht hervor. Vielmehr legt es die von Kant im § 64 anhand des Beispiels eines Baumes vorgetragene Explikation eines Naturzwecks nahe, dass Kant auch das pflanzliche Leben mit im Blick hat, und somit noch ein äußerst allgemeiner und unspezifischer Lebensbegriff im Hintergrund steht. Kant, KdU, B 293: »Näher tritt man vielleicht dieser unerforschlichen Eigenschaft, wenn man sie ein Analogon des Lebens nennt« (Hervorhebung v. Vf.).
Die teleologische Organismuskonzeption Kants
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In der Dialektik der teleologischen Urteilskraft findet sich eine Präzision des in der Analytik nur fragmentarisch vorgetragenen Arguments: »Aber die Möglichkeit einer lebenden Materie (deren Begriff einen Widerspruch enthält, weil Leblosigkeit, inertia, den wesentlichen Charakter derselben ausmacht) lässt sich nicht einmal denken; die einer belebten Materie und der gesamten Natur, als eines Tiers, kann nur sofern (zum Behuf einer Hypothese der Zweckmäßigkeit im Grossen der Natur) dürftiger Weise gebraucht werden, als sie uns an der Organisation derselben, im Kleinen, in der Erfahrung offenbart wird, keineswegs aber a priori ihrer Möglichkeit nach eingesehen werden«42. Damit gibt sich Kant klar als Antivitalist zu 43 erkennen. Ebenfalls in der Dialektik der teleologischen Urteilskraft hat Kant auf die zirkuläre Verfasstheit dieser Analogiebildung hingewiesen: »Es muß also ein Zirkel im Erklären begangen werden, wenn man die Zweckmäßigkeit der Natur an organisierten Wesen aus dem Leben der Materie ableiten will, und dieses Leben wiederum nicht anders als in organisierten Wesen kennt, also ohne dergleichen Erfahrung sich keinen Begriff von der Möglichkeit derselben machen kann. Der 44 Hylozoism leistet also das nicht, was er verspricht« . Als wenigstens ebenso schwierig stellt sich die andere Gestalt des Analogons des Lebens dar, die Kant – nicht an dieser Stelle, sondern wiederum erst in der Dialek45 tik – als Theismus kennzeichnet. In diesem Falle würde behauptet, es gäbe nicht eine in sich belebte Materie, sondern ein mit der Materie verbundenes Prinzip im Sinne einer Weltseele. Die spezifische Organisation von lebendigen Naturprodukten würde dann analog zu einer Organisation der Materie durch eine Weltseele erklärt. Die Schwierigkeiten dieser Analogisierung liegen für Kant jedoch klar auf der Hand. Denn entweder müsste bereits organisierte Materie als Werkzeug jener produktiven Weltseele angenommen werden, was einem Rekurs auf den bereits als insuffizient erkannten Hylozoismus gleichkäme, oder aber die Weltseele repräsentierte eine externe Organisationsinstanz, was darauf hinausliefe, dass nicht mehr von Selbstorganisation mithin also auch nicht mehr im strengen Sinne von Natur42
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Kant, KdU, B 328. Vgl. auch Kant, MAdN, A 121: »Also ist alle Materie als solche leblos. Das sagt der Satz der Trägheit, und nichts mehr. Wenn wir die Ursache irgend einer Veränderung der Materie im Leben suchen, so werden wir es auch sofort in einer anderen, von der Materie verschiedenen, obzwar mit ihr verbundenen Substanz zu suchen haben. Denn in der Naturkenntnis ist es nötig, zuvor die Gesetze der Materie als einer solchen zu kennen und sie von dem Beitritte aller anderen wirkenden Ursachen zu läutern, ehe man sie damit verknüpft, um wohl zu unterscheiden, was, und wie jede derselben für sich allein wirke. Auf dem Gesetze der Trägheit (neben dem der Beharrlichkeit der Substanz) beruht die Möglichkeit einer eigentlichen Naturwissenschaft ganz und gar. Das Gegenteil des ersteren, und daher auch der Tod aller Naturphilosophie, wäre der Hylozoism. Aus eben demselben Begriffe der Trägheit, als bloßer Leblosigkeit, fließt von selbst, daß sie nicht ein positives Bestreben, seinen Zustand zu erhalten, bedeute. Nur lebende Wesen werden in diesem letzteren Verstande träg genannt, weil sie eine Vorstellung von einem anderen Zustande haben, den sie verabscheuen, und ihre Kraft dagegen anstrengen«. Vgl. Hesse, Lebensbegriff, 63 u.66. Kant, KdU, B 328. Vgl. Kant, KdU, B 323.
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Der organismische Lebensbegriff
produkten geredet werden könnte. Und so folgert Kant: »Genau zu reden hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität, die wir 46 kennen« . Damit hat Kant ein wesentliches Problem einer theoretischen Aufschlüsselung der Lebenserscheinungen benannt. Es besteht kurz gesagt darin, dass sich die Erscheinungen der organisierten Natur den ansonsten im Bereich der Natur greifenden Bestimmungsleistungen des Verstandes entziehen. Lebendige Wesen repräsentieren exemplarisch Gebilde, die vom theoretischen Verstand nur höchst unzureichend erfasst werden können, und die bereits von sich aus auf eine übergeordnete systematische Einheit verweisen. Insbesondere die das Lebendige kennzeichnende Selbstorganisation sperrt sich in frappanter Weise einer kategorialen Erschließung durch kausal-mechanische Strukturierungsoperationen. Kant nennt dies kurz »die Unmöglichkeit der Erzeugung der organisierten Naturprodukte durch den bloßen Mechanismus der Natur«47. In diesen Kontext gehört denn auch die berühmt gewordenen Metapher vom Newton des Grashalms: »Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger und erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde: sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen«48. Damit ist keineswegs ausgesagt, dass eine kausal-mechanische Einsichtnahme in die Erscheinungen des Lebens gänzlich aussichtslos sei. Im Gegenteil: Kant ist der Meinung, dass der primäre Zugriff auf die Wirklichkeit weiterhin an die weitgehend kausal orientierte Naturbetrachtung gebunden bleibt. Eine alternative Reflexion hat allererst da einzusetzen, wo die kausalorientierte Perspektive ihre problematische Grenze erreicht hat. In der Dialektik der ›Kritik der Urteilskraft‹ hat Kant den am Orte der belebten Natur auftauchenden Problemgehalt auf ein Erkenntnisdilemma konzentriert, das aus der spezifischen Architektur des menschlichen Verstandes resultiert. Das menschliche Erkennen arbeitet nach Kant so, dass mithilfe allgemeiner Verstandesgesetze gemäß den Anschauungsformen erschlossene Sinneseindrücke bestimmt werden. Die Urteilskraft spielt im Zuge des so gedachten Erkenntnisaufbaus eine herausragende Rolle, repräsentiert sie doch als das Vermögen der Urteile diejenige Fähigkeit, »das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen
46 47 48
Kant, KdU, B 294. Kant, KdU, B 317. Kant, KdU, B 338.
Die teleologische Organismuskonzeption Kants
33
49
zu denken« . Sie leistet die eigentliche Bestimmungsarbeit zwischen Verstandesbegriffen und Perzeptionsgehalten und tritt im Kontext der Naturbeschreibung primär als bestimmende Urteilskraft auf. Dies lässt sich anhand eines einfachen Beispiels illustrieren: Angenommen man geht vom Verstandesbegriff der Kausalität aus, so ist es die Aufgabe der bestimmenden Urteilskraft, die Bedingungen anzugeben, die eine Subsumption unter diesen Begriff erlauben. Und dies wäre im Falle der Kausalität allein die sukzessive Bestimmbarkeit von Gegenständen in der Zeit, denn die zeitliche Sukzession ist »das einzige empirische Kriterium der Wirkung«50. Die bestimmende Urteilskraft vermittelt also zwischen Sinneseindrücken und Verstandesbegriffen und in diesem Sinne gibt Kant auch zu verstehen, dass sie 51 »in der Ordnung unserer Erkenntnisvermögen ein Mittelding ausmacht« . Am Orte lebendiger Naturerscheinungen scheitert dieser Funktionalismus der Verstandestätigkeit. Denn für die bestimmende Urteilskraft ist der Begriff eines 52 Dinges als Naturzweck wie Kant sagt »überschwenglich« , d.h. transzendent. Die benannte Überschwenglichkeit besteht kurz gesagt darin, dass die für die Erklärung lebendiger Naturerscheinungen herangezogenen Kategorien des Zweckes und der Zweckmäßigkeit keinen empirischen Anhaltspunkt in der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit finden und der bestimmenden Urteilskraft schlicht ein entscheidendes Relat ihrer Vermittlungsarbeit fehlt. Insofern weist Kant diese Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft zu. Die reflektierende Urteilskraft repräsentiert eine spezifische Gestalt verstandesmäßiger Bestimmungsleistung, die mithilfe der Kategorie der Zweckmäßigkeit ein Konzept systematischer Einheit schafft. Die reflektierende Urteilskraft erweist sich also erst als eine solche, insofern sie die Erscheinungen der belebten Natur nicht aufgrund apriorischer Verstandesgesetze zu bestimmen versucht, sondern vor dem Hintergrund des Zweckgedankens als eines einheitsstiftenden Prinzips reflektiert.53 Bei diesen Bestimmungsleistungen wird die Zweckmäßigkeit den Bestimmungsrelaten nicht in re, also objektiv, zuerkannt. Die reflektierende Urteilskraft arbeitet nicht im konstitutiven Sinne, also als integrativer Bestandteil realer Wissenskonstitution, sondern regulativ im Sinne eines Deutungsschemas. D.h.: Auf den ersten Blick erscheinen ihre Leistungen sowohl willkürlich als auch subjektiv. Bestimmungen der reflektierenden Urteilskraft objektiv aussagen zu wollen, 49
50 51 52 53
Kant, KdU, B XXV. Vgl. dazu auch die Definition in der KrV, B 172: »Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht« (im Orig. z.T. gesperrt). Kant, KrV, B 249. Kant, KdU, B XXI. Kant, KdU, B 331; 342f. Vgl. KdU, B XXVIII: »Denn den Naturprodukten kann man so etwas, als Beziehung der Natur an ihnen auf Zwecke, nicht beilegen, sondern diesen Begriff nur brauchen, um sie in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben ist, zu reflektieren«.
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Der organismische Lebensbegriff
bedeutete nichts anderes als eine Objektivitätserschleichung, von der Kant lapidar 54 feststellt: »Mit einer solchen Behauptung kommen wir nicht durch« . Damit ist gleichzeitig der innere Kern der Problematizität der Kantischen Konzeption des Naturzweckes angezeigt, an dessen Lösung sich Kant im vieldiskutierten §77 der ›Kritik der Urteilskraft‹ versucht, der als eigentlicher Kulminations55 punkt der Argumentation der Dialektik der teleologischen Urteilskraft gilt. Denn die reflektierende Tätigkeit der Urteilskraft erweist sich bei genauerem Hinsehen als keineswegs so subjektiv und willkürlich, wie es prima facie den Eindruck macht. Vielmehr erweist sich die Erklärung organisierter Wesen durch die am Zweckbegriff orientierte Reflexion als notwendig, da sie in letzter Instanz eine zwangsläufige Folge des diskursiven Aufbaus des menschlichen Erkenntnisaggregats darstellt. Mit dem Ausdruck diskursives Erkennen ist zunächst der schon oben angedeutete Sachverhalt angesprochen, dass der menschliche Verstand von allgemeinen Verstandesgesetzen zum Besonderen der Natur fortschreitet, indem er qua Urteilskraft sukzessive das in der Sinnenwahrnehmung Gegebene subsumiert. Humanes Erkennen bewegt sich, wie Kant sagt, allein vom »Analytisch-Allgemeinen«56 zum Besonderen. Dies birgt jedoch das erkenntnistheoretische Problem, dass alle auf diesem Wege erzeugten Erkenntnisse im ontologischen Status der Zufälligkeit verbleiben, da letztlich immer beliebig ist, welche Perzeptionsgehalte wie subsumiert werden: »Diese Zufälligkeit findet sich ganz natürlich in dem Besonderen, welches die Urteilskraft unter das Allgemeine der Verstandesbegriffe bringen soll, denn durch das Allgemeine (unseres Verstandes) ist das Besondere nicht bestimmt; und es ist zufällig, auf wie vielerlei Art unterschiedene Dinge, die doch in einem gemeinsamen Merkmale übereinkommen, unserer Wahrnehmung vorkommen können«57. Um dieses Problem zu lösen, führt Kant den Gedanken eines nicht-diskursiven, intuitiven Verstandes ein, mithilfe dessen das Ineinander von Allgemeinem und Besonderen nicht mehr nur als zufällig, sondern als notwendig vorgestellt werden kann. Ein solcher intuitiver Verstand, über den die Angehörigen der Spezies Mensch nicht verfügen, den sie sich aber vorstellen können, würde im Verfolg seiner Erkenntnisarbeit nicht mehr vom Analytisch-Allgemeinen zum Besonderen schreiten, sondern sein Ausgangspunkt wäre ein Synthetisch-Allgemeines, also ein Allgemeines, in dem das Besondere immer schon systematisch enthalten ist, und dementsprechend immer von einer notwendigen Relation von Allgemeinem und Besonderem auszugehen ist. Ein intuitiver Verstand wäre also auch nicht auf Zweckbegriffe angewiesen, um lebendige Organismen begreiflich zu machen, vielmehr ist davon auszugehen, dass er »auch im Mechanismus der Natur, d.i. einer 54 55 56 57
Kant, KdU, B 337. Vgl. Volkmann-Schluck, Kants transzendentale Metaphysik, 66. Kant, KdU, B 348. Kant, KdU, B 246f. (i. Orig. z.T. gesperrt).
Die teleologische Organismuskonzeption Kants
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Kausalverbindung, zu der nicht ausschließungsweise ein Verstand als Ursache angenommen wird, den Grund der Möglichkeit solcher Produkte der Natur antreffen 58 könne« . Dies bedeutet im Hinblick auf die Erklärung der für lebendige Wesen signifikanten Selbstorganisation: Es ist dem diskursiven menschlichen Verstand nicht – wie einem intuitiven – möglich, das für organisierte Wesen spezifische Verhältnis von Ganzem und Teilen im Sinne einer systematischen Allgemeinheit aufzuschlüsseln. Ein intuitiver Verstand verfügte immer schon über die Vorstellung des Ganzen als dem Grund der Möglichkeit seiner Teile und wäre daher in der Lage, von dort her deren spezifisches Verhältnis notwendig zu bestimmen. Für den diskursiven menschlichen Verstand erscheint das Ganze vielmehr als »Wirkung der konkurrierenden und bewegenden Kräfte der Teile«59, aus deren Explikation jedoch die charakteristische Selbstorganisation lebender Wesen nicht einsichtig wird. Um sich organisierte Produkte der Natur dennoch verständlich machen zu können, muss sich ein diskursiver Verstand analog zur Vorstellung eines intuitiven Verstandes der Vorstellung eines Ganzen, die die Bedingungen der Möglichkeit der Teile enthält, bedienen, um mithilfe dieser die für die Organisation lebender Wesen spezifische Art und Weise des Verhältnisses von Teilen und Ganzem zu erschließen. Bei einer solchen Vorstellung handelt es sich jedoch um nichts anderes als einen Zweck, der, wie bereits oben festgehalten wurde, definiert ist als »der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält«60. Insofern ist es dem menschlichen Verstand als diskursivem Verstand unmöglich, die Erscheinungen des Lebens anders als durch Zweckreflexionen begreiflich zu machen, vielmehr ist im Hinblick auf belebte Strukturen diese Form der Bezug61 nahme nach Kant die einzige dem humanen Erkenntnisvermögen gemäße. II.4
Praktische Autonomie als Realisationsform endlich vernünftigen Lebens
Die mithilfe des Begriffes des Naturzwecks mögliche Erklärung belebter Entitäten bildet jedoch keineswegs den Abschluss der Kantischen Theorie. Mit dem Begriff des Naturzwecks hat Kant allererst eine Reflexion der Urteilskraft exponiert, die 62 primär Erschließungskraft im Reich unvernünftigen Lebens besitzt. Von dort aus 58 59 60 61 62
Kant, KdU, B 346. Kant, KdU, B 349. KdU, B XXVIII. Vgl. Kant, KdU, B 349f. Vgl. Bartuschat, Zum systematischen Ort, 185 Vgl. auch a.a.O., 182: »Die spezifische Struktur des Organismus verweist so auf die reflektierende Urteilskraft als eine Instanz, kraft derer das Subjekt die Möglichkeit dieser Struktur zu beurteilen vermag«. Vgl. dazu auch Hansmann, Unterscheidung und Zusammenhang, 87. Hansmann hält es für geradezu unerlässlich, »die Form der inneren Zweckmäßigkeit als das entscheidende und spekulativste Strukturkriterium des teleologischen Arguments bei Kant interpretatorisch möglichst stark zu akzentuieren«. Vgl. dazu auch Teichert,
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Der organismische Lebensbegriff
führt allerdings auch ein Weg zur Erfassung des vernünftigen Lebens als exponiertester Lebensform überhaupt. Die teleologisch reflektierende Urteilskraft beschränkt sich nämlich beim regulativen Gebrauch ihres apriorischen Prinzips der Zweckmäßigkeit nicht allein auf organisierte Naturgebilde. Kant geht vielmehr davon aus, dass der Begriff des Naturzwecks dazu anleitet, die zweckorientierte Auffassung von Organismen (Naturzwecke) auf die gesamte Natur zu erstrecken. Durch die Inblicknahme des Gedankens des Naturzwecks verfügt das Denken nämlich über einen vergleichsweise sicheren Anhaltspunkt, über die vom theoretischen Verstand konstitutiv erschlossenen Einzelerscheinungen hinauszugehen und zu einem übergreifenden Entwurf systematischer Einheit zu gelangen. In der ab der zweiten Auflage der ›Kritik der Urteilskraft‹ (1793) als Anhang auftauchenden Methodenlehre (§§79–91) gelingt es Kant, den Gedanken einer teleologisch reflektierenden Naturbetrachtung mit der in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ entwickelten moralischen Teleologie in Beziehung zu setzen. Die Methodenlehre repräsentiert die entscheidende Schaltstelle, an der eine adäquate Synthese von natürlicher und moralischer Prozessualität und somit eine kohärente Einzeichnung auch vernünftigen Lebens möglich wird. Wird die Natur als ein System von Zwecken betrachtet (und das ist vor dem Hintergrund des Begriffs des Naturzwecks möglich), so ist damit noch nichts weiter über die letzte Ausrichtung und den letzten Grund dieses Zwecksystems ausgesagt. Das bedeutet, mit der Möglichkeit der Betrachtung der Natur als eines Zwecksystems bricht notwendig auch die Frage nach einer letzten Ursache und einem »letzten Zwecke der Natur«63 auf. Letzter Zweck der Natur ist für Kant der Mensch als endlich vernünftige Lebenserscheinung. Denn endlich vernünftiges Leben steht bereits in gewisser Hinsicht über natürlichem Leben, da es über die Fähigkeit verfügt, sich wiederum eigene 64 Zwecke zu setzen und Zwecksysteme zu konstituieren. Darüber hinaus ist vernünftiges Leben in der Lage, die Natur medial in geschaffene Zweckstrukturen zu integrieren. Der Mensch als endlich vernünftige Lebensform vermag es, wie Kant formuliert, »die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen, 65 als Mittel, zu gebrauchen« . Dieses Vermögen wird von Kant im weitesten Sinne als 66 Kulturfähigkeit interpretiert.
63 64
65 66
Immanuel Kant ›Kritik der Urteilskraft‹, 107. Teichert erblickt im Gedanken des Naturzwecks »das Kernstück der Kantischen Teleologiediskussion«. KdU, B 388. KdU, B 383: »[E]r [sc. der Mensch] ist der letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden, weil er das einzige Wesen auf derselben ist, welches sich einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann«. Ebd. Vgl. KdU, B 391. Das bedeutet nun nicht, daß das Ganze der Natur eo ipso ein Aggregat zum Zwecke menschlicher Bedürfnisbefriedigung repräsentierte. Vgl. dazu Teichert, Kant ›Kritik der Urteilskraft‹, 117).
Die teleologische Organismuskonzeption Kants
37
Von der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ her gelesen ist endlich vernünftiges Leben aber nicht nur der Kultur, sondern auch der Moralität fähig. In Gestalt des Sittengesetzes, das durch die praktische Vernunft erkannt wird, verfügt endlich vernünftiges Leben über einen sittlichen Endzweck. Der Begriff Endzweck ist im Kontext der ›Kritik der Urteilskraft‹ kategorial vom Begriff des letzten Zweckes (für Kant der Mensch als endlich vernünftige Lebenserscheinung) unterschieden. Definitorisch erschließt Kant den Begriff des Endzwecks als einen Zweck, »der kei67 nes andern [sc. Zwecks] als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf« . Das heißt, ein Endzweck ist ein Zweck, der nicht wiederum durch andere Zwecke bedingt und somit nicht sowohl Zweck als auch Mittel ist. 68 Diese Bedingung erfüllt nun allein menschliches Leben als moralisches Leben. Eine moralische Lebensform zu sein meint, dass endlich vernünftiges Leben das der reinen praktischen Vernunft resp. dem heiligen Willen der »oberste[n] Intelli69 70 genz« entsprechende »reine Sittengesetz« zum Maßstab seiner Realisierung erhoben hat. Durch die Inblicknahme einer moralischen Lebensform als »dem Endzwecke 71 des Daseins einer Welt, d.i. der Schöpfung selbst« ist dann auch derjenige abschließende Zweckbegriff gefunden, auf dessen Hintergrund es die teleologisch reflektierende Urteilskraft vermag, eine universalteleologische Perspektive zu eröffnen. Mit Hilfe dieses letzten Endzweckes reflektiert die Urteilskraft nun die gesamte Wirklichkeit so, als sei sie auf diesen letzten Zweck hin ausgerichtet, und dies hat wiederum entscheidende Rückwirkungen auf die Betrachtung der Natur als ein teleologisches System im Sinne von Analytik und Dialektik der ›Kritik der 72 teleologischen Urteilskraft‹. Denn hiermit wird die Auffassung der Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke nun dahingehend präzisiert, daß sie durch ihr Ausgerichtetsein auf den letzten Endzweck ausdrücklich als Mittel zur Verwirklichung dieses Endzwecks ansprechbar wird. Der durch den Menschen als moralisches Wesen erkennbare höchste Zweck erweist sich aus dieser Perspektive als ein 73 »Endzweck […], dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist« . Mit der teleologischen Unterordnung des Naturganzen unter den letzten Endzweck ist immer noch nicht der systematische Schlussstein der Kantischen 67 68
69 70 71 72
73
KdU, B 396. KdU, B 398: »Von dem Menschen nun (und so jedem vernünftigen Wesen in der Welt) als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf«. KpV, A57. KpV, A58. KdU, B 396. Vgl. Frost, Teleologie, 305: »Diese regulative Annahme, dass der Mensch der letzte Zweck sei, wird hinterher dadurch befestigt, dass es gelingt, diesen letzten Zweck der Natur zu dem Endzweck in Beziehung zu setzen, den die praktische Philosophie als Moralität bestimmt«. KdU, B 399.
38
Der organismische Lebensbegriff
Teleologiekonzeption eingefügt. Denn es bleibt noch immer ein Problem offen. Dieses betrifft im engeren Sinne die aus der Perspektive des letzten Endzwecks postulierte Zweck-Mittel-Relation von sittlichem Endzweck und physischer Naturentwicklung. Wo ist aber nun die damit behauptete Zusammenstimmung der moralischen Teleologie des Endzwecks mit der empirischen Naturentwicklung verbürgt? Die entsprechenden und die grundlegende Konstruktion abschließenden Begründungsleistungen hat Kant in einem letzten Systemteil erbracht. Den systematischen Ort, an dem die Synthese von moralischem Endzweck und natürlicher Prozessualität ihre abschließende Begründung erfährt, bezeichnet Kant als Ethikotheologie. Was in diesem Kontext unter dem terminus Ethikotheologie zu verstehen ist, führt er im Zuge einer Paralleldefinition von Physikound Ethikotheologie aus: »Die Physikotheologie ist der Versuch der Vernunft, aus den Zwecken der Natur (die nur empirisch erkannt werden können) auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften zu schließen. Eine Moraltheologie (Ethikotheologie) wäre der Versuch, aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur (der a priori erkannt werden kann) auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen«74. Ethikotheologie ist für Kant demnach eine in den Bereich von Ethik und Theologie weisende Theorie, die eine Analyse der am Orte endlich vernünftigen Lebens ablesbaren moralischen Zweckstrukturen zu leisten hat, deren Implikationen für ein umfassendes Verständnis der Natur ausleuchtet und schließlich beide Größen (moralische Zwecke und Naturursachen) ursächlich miteinander vermittelt. Die Physikotheologie ist nun nicht in der Lage, die geforderte Aufgabe zu lösen, da sie durch ihre Beschränkung auf empirisch registrierbare Naturzwecke allenfalls zum Begriff eines letzten Naturzweckes vordringen kann. Sie vermag es aber nicht in Ansätzen, den begründungstechnisch unabdingbaren Begriff eines Endzwecks zu thematisieren.75 Allein die Ethikotheologie ist in der Lage, das beschriebene Problem zu lösen. Die Annahme des moralischen Lebens als letzter Endzweck wird dabei so in Korrelation mit der am Organismus ablesbaren Zweckstrukturierung gesetzt, dass die gleiche Ursächlichkeit, die für die Zweckstrukturierung der Natur verantwortlich ist, auch für die sittliche Zwecksetzung endlich vernünftigen Lebens gilt. Das bedeutet, die oberste Ursache ist »nicht blos als Intelligenz und gesetzgebend für die Natur, sondern auch als gesetzgebendes Oberhaupt in einem moralischen Reiche der Zwe76 cke [zu] denken« . Insofern muß in deren »Willen«– wie Kant dann in der ›Religionsschrift‹ ausgeführt hat – »dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) [sein], was zu77 gleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll« . Dass jener Gedanke eines 74 75
76 77
KdU, B 400 (im Orig. z.T. gesperrt). Vgl. KdU, B 410: »[D]ie Physikotheologie, so weit sie auch getrieben werden mag, kann uns doch nichts von einem Endzweck der Schöpfung eröffnen; denn sie reicht nicht einmal bis zur Frage nach demselben«. KdU, B 413f. Ri, B VI. Vgl. dazu Lenfers, Kants Weg, 114.
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gesetzgebenden Oberhauptes notwendig den Abschluss einer umfassenden Teleologiekonzeption bilden muss, macht Kant mit Hilfe des hier seiner argumentativen Struktur nach nicht in extenso zu diskutierenden »moralischen Beweis[es] des 78 79 Daseins Gottes« deutlich. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass allererst die Exposition des Gottesgedankens den systematischen Abschluss der gesamten am Orte des 80 Organismus aufbrechenden Zweckreflexionen bildet. Das macht darauf aufmerksam, dass nach Kant die dem endlich vernünftigen Leben adäquate Realisationsgestalt in praktischer Autonomie zum Stehen kommt, und dass aber der Versuch deren Selbsterfassung den Ausweich auf übergreifende Sinnhorizonte notwendig werden lässt. II.5
Schlussfolgerungen
Kants Beschäftigung mit dem Reich des Lebendigen knüpft an das wissenschaftstheoretische Konzept des Organismus an, wie es von Aristoteles ausgehend dann – wesentlich durch Leibniz vermittelt – in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. wieder entdeckt und interpretiert wurde. Mit der der Re-Etablierung des am τέλος-Gedanken orientierten Organismuskonzepts wurde die bis dahin verbreitete Binnendifferenzierung der Natur in mineralische, pflanzliche und tierische Entitäten abgelöst und durch die Unterscheidung zwischen organischen (lebendigen) und nicht-organisierten (nicht-lebendigen) Naturerscheinungen ersetzt.81 Kant greift den Organismusbegriff als Leitkategorie für die Erklärung lebendiger Wesen auf, gibt ihr aber eine spezifische Wendung, indem er mithilfe seiner Interpretation der Kategorie der Zweckmäßigkeit ein Erklärungsmuster zur Verfügung stellt, das sich bis heute als wegweisend erweist. Mit seinem Begriff des Naturzwecks hat Kant einen Schlüsselbegriff für die Erforschung des Lebendigen eingebracht, der den Leidfaden für die Erforschung des Lebendigen bis heute abgibt, auch wenn er nicht mehr explizit genannt wird, sondern unter anderen Nomenklaturen auftritt, z.B. als Bauplan, nach welchem die Natur angeblich verfährt.82 Damit hat Kant dem Organismus78 79
80
81 82
KdU, B 418. Eine detaillierte Analyse des sogenannten moralischen Gottesbeweises findet sich bei: Lenfers, Kants Weg, 104–127. Vgl. auch Geisler, Kants moralischer Gottesbeweis, 102ff. Zur Exposition des Kantischen Begriffs des höchsten Guts als Gegenstand der praktischen Vernunft und dem von dort her erschließbaren systematischen Ansatz der Religionsphilosophie vgl. Barth, U., Gegenstand, bes. 269ff. KdU, B 414: »Auf solche Weise ergänzt die moralische Teleologie den Mangel der physischen und gründet allererst eine Theologie«. (im Orig. z.T. gesperrt; Hervorhebung v. Vf.). Vgl. auch Ri, B IXf.: »Moral führt also unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert«. Vgl. auch KpV, A 233: »Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d.i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote«. Vgl. dazu Foucault, Les mots et les choses, 173f. Vgl. Volkmann-Schluck, Transzendentale Metaphysik, 18.
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Der organismische Lebensbegriff
gedanken auf transzendentalphilosophischer Ebene zum Durchbruch verholfen und gleichzeitig entscheidende Weichen für den Übergang von der klassischen Naturgeschichte zur systematischen Wissenschaft vom Leben gestellt. Fast interessanter als Kants spezifische Fassung lebendiger Organismen als in sich zweckmäßig verfasste Entitäten, scheint jedoch seine Einsicht zu sein, dass das Leben einen speziellen kognitiven Zugang verlangt. Die nachhaltige und richtungsweisende Stärke der Konzeption Kants liegt also primär darin, dass sie auf fundamentale wissenschaftstheoretische Probleme in Bezug auf die Wissens- und Erkenntnisbedingungen des Lebendigen hinweist. Zwar war Heidegger der Meinung, dass es Kant grundsätzlich weniger auf Wissenschaftstheorie als auf Metaphysik ankommt, aber es ist kaum zu leugnen, dass Kants Auseinandersetzung mit dem Leben wesentliche wissenschaftstheoretische Implikationen besitzt.83 Dabei verwahrt sich Kant zunächst implizit und explizit gegen mögliche Theorien des Lebens, wie sie immer wieder als Optionen in der Wissenschaft vom Leben auftauchen. Eine strikt vitalistische Ausdeutung des Lebens, die das Gebiet das Lebendigen radikal autonom denkt, ist ihm genauso fremd wie eine biologistischpositivistische Sichtart, die sich entweder in unhaltbaren Setzungen oder in letztlich willkürlichen klassifikatorischen Kompilationen verliert. Leben ist in der Fluchtlinie Kants vielmehr ein Grenzbegriff. Ein Verständnis organisierter Lebewesen ist insofern nicht von deren empirischer Basis her allein möglich, vielmehr erfolgt deren abschließende Erklärung immer »nach einem besonderem Prinzip«84, das seinerseits an die spezifischen Erkenntnisfähigkeiten des menschlichen Verstandes gebunden ist. Dies bedeutet ein Mehrfaches: Einerseits ist damit die restriktive These artikuliert, dass die vom humanen Verstand generierten Einsichten in das Lebendige keine objektiven Erkenntnisse im Vollsinne darstellen. Da sie sich der Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft verdanken, repräsentieren sie Wissensgehalte, die stets im Status des Regulativen verbleiben. Zweitens steht Kants Bearbeitung des Lebensproblems für die Einsicht, dass der wissenschaftliche Zugriff auf das Gebiet des Lebendigen nie einlinear erfolgen kann. Vielmehr verhält es sich so, dass sich im Horizont der Wissenschaft vom Leben immer mehrere Erkenntnishinsichten überlagern. Der Wissensgegenstand Leben erweist sich als Schnittstelle von exakter Naturwissenschaft und transzendentaler Reflexion. Damit hat Kant die innere Spannung aufgezeigt, in der sich im Grunde jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Leben wieder findet, sei es, dass sie in primär metaphysischer Absicht erfolgt, sich strikt naturwissenschaftlich ausnimmt oder in einer Vermittlung beider zu Stehen kommt, wie es letztlich auch in der Intension Kants liegt.
83 84
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, XX. Kant, KdU, 295.
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Als Drittes ergibt sich, dass, wenn der von Kant vorgeschlagene modus der Entschlüsselung des Lebens sich als notwendige Konzession der Erkenntniskompetenzen des humanen Erkennens erweist, die Annahme eines Lebens an sich nahe liegt, das allerdings nur einem intuitiven Verstand zugänglich ist. Der innere Kern des Lebens bleibt für den menschlichen Verstand so unerkennbar und unverfügbar. Auf diese Weise, so könnte man sagen, hat Kant Momente der Unverfügbarkeit von Leben auch erkenntnistheoretisch sichtbar gemacht. Des Weiteren macht Kant darauf aufmerksam, dass auch mithilfe von Analogien das Leben nur höchst annäherungsweise einsichtig gemacht werden kann, und dass unsere Analogiebildungen in Bezug auf das Leben (Analogie der Ursuppe, Analogie der Schwarzen Raucher oder andere geheimnisvolle Analogien) immer in sich höchst problematisch sind. Auch in ethischer Hinsicht lassen sich bemerkenswerte Folgerungen erheben. Zunächst ist dabei zu beachten, dass bei Kant Leben als zweckmäßiger Organismus betrachtet keinen intrinsischen Eigenwert besitzt. Organisierten Lebewesen qua Lebendigkeit einen ethischen Gehalt zuzusprechen, ist nicht das Interesse Kants. Dem Lebendigen als Lebendigem eine ethische Qualität zuzuerkennen, wäre nach Kant eben unmöglich, da das Leben seinem eigentlichen Kern nach eben nicht einsichtig werden kann. Für das menschliche Erkennen verbleibt im Inneren seiner Einsichtnahme in das Lebendige immer ein blinder Fleck. Allerdings macht dieser blinde Fleck auf eine Tiefendimension des Lebens aufmerksam, die, da wir uns immer als Lebendige dem Lebendigen nähern, gleichzeitig für eine Tiefendimension unseres je eigenen Lebens steht.85 Das wiederum heißt auf der anderen Seite: Die Nichtobjektivierbarkeit und damit Unergründbarkeit der lebendigen Natur ist durch die Lebendigkeit der Erkenntnissubjekte schon vorweg plausibel, auch noch dann, wenn der Begriff Leben durch moderne, systemtheoretisch geprägte Vorstellungen der Selbstorganisation ersetzt wird. Denn die Forschung, die Menschen betreiben, gehört zu ihrer eigenen Selbstorganisation in sozialen Systemen, zu ihrem sozialen Leben. Man kann, um das Leben möglichst objektiv zu erforschen, nie86 mals ganz außerhalb des Lebens stehen. Noch wichtiger ist es jedoch – und dies liegt in der direkten Fluchtlinie von Kants praktischer Philosophie – dass die entscheidende Repräsentationsgestalt endlich vernünftigen Lebens in der Lebensform praktische Autonomie besteht. Leben ist kein sich perpetuierender Selbstzweck, sondern am Orte endlich vernünftigen Lebens kommt alles darauf, »dem Leben durch Handlungen einen Wert 87 zu geben« . Und dazu kommt: Die Konzeptualisierung endlich vernünftigen Lebens als praktische Autonomie erfordert die Zuhilfenahme eines übergreifenden Sinnhorizontes. Endlich vernünftiges Leben realisiert sich nach Kant als endlich vernünftiges Leben immer mit Blick auf ethikotheologische Horizonte. 85 86 87
Dieser Gedanke wird dann auch bei Lotze wieder beschäftigen (vgl. dazu unter III.3.). Vgl. Schulte, Immanuel Kant, 117. Kant, MAdMG, Schlussbemerkung.
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Der organismische Lebensbegriff
Indes: Kants spezifische Fassung eines am Organismusgedanken orientierten Lebensbegriffes verkörpert nur eine von sehr unterschiedlichen aber ebenso wirksamen Formatierungen des Lebendigen. Wie oben angesprochen ist nun auf eine Konfiguration des Organischen zu sehen, die sich dezidiert an Kant abarbeitet und auf diese Weise wertvolle Zusatzeinsichten aber auch Grenzen einer am Organismus orientierten Fassung des Lebendigen aufzeigen kann. Im Folgenden ist der Blick auf Hegel und seine Theorie des Organismus zu lenken. V.a. soll dabei die Theorie aus seiner ›Phänomenologie des Geistes‹ im Vordergrund stehen.
III. Hegels geistphilosophische Verankerung des Organismusgedankens III.1
Einführung
Wenn an dieser Stelle auf Hegel hingewiesen wird und nicht auf andere idealistische Denksysteme wie Fichte oder Schelling, dann primär deshalb, weil – wie bereits gesagt – Hegels Einrede gegen die Philosophie Kants wohl die umfassendste 88 und grundsätzlichste gewesen ist. Hinzu kommt, dass es dabei insbesondere die oben behandelte Kantsche ›Kritik der Urteilskraft‹ gewesen ist, die Hegels Wider89 spruch hervorgerufen hat. Und nicht nur das: Hegel ist überdies in dieser Beziehung auch von grundsätzlichem Interesse, weil er »bekanntlich [...] selbst als Le90 bensphilosoph begann« . Dabei geht Hegel zunächst aus von einem theologisch inspirierten Lebensbegriff, wie er ihn z.B. explizit in den früheren Jenaer Schriften entwickelt und der dort als höchster und vollkommenster Begriff des Seins firmiert, den er aber zu91 nehmend in seine Konzeption einer spekulativen Geistphilosophie integriert. In diesem Sinne hat Hegel seinen Lebensbegriff in der ›Phänomenologie des Geistes‹ dann zu einem ersten thetischen Höhepunkt geführt. Im Zuge seiner Beschreibung der an Komplexität sich permanent steigernden Selbsterfahrungen der Struktur Intelligenz wird der Lebensbegriff an prominenter Stelle eingeführt, nämlich im 88 89
90
91
Vgl. Horstmann, Kant und der Standpunkt des Sittlichen, 557ff., bes. 557. Auf eine ausführliche Diskussion der Auseinandersetzung Hegels mit der ›Kritik der Urteilskraft‹ kann hier nicht eingetreten werden. Vgl. dazu Baum, M., Prinzip der Zweckmäßigkeit, 158ff., Düsing, Naturteleologie, 139ff. und Tuschling, Intuitiver Verstand, 174ff. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 20. Kleffmann beruft sich dabei auf R.-P. Horstmann und dessen Aufsatz Metaphysikkritik bei Hegel und Nietzsche (in: Hegel-Studien 28 [1993], 285– 301). Vgl. Sieb, Phänomenologie des Geistes, 100 und Düsing, Naturteleologie, 147f. Zu denken ist dabei v.a. auch an die immer wieder herausgestellte Differenz, dass Hegels Philosophieren in der Frühzeit eher als existentiell-glaubenshaft, denn als logisch-stringent, wie dann in der ›Wissenschaft der Logik‹, zu bezeichnen ist (vgl. Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 255). Zum Profil des jungen Hegel als Theologe und Universalist vgl. a.a.O., 155ff.
Hegels geistphilosophische Verankerung des Organismusgedankens
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Zusammenhang der Entfaltung der Phänomenalität des Selbstbewusstseins, das zunächst als die Gewissheit seiner selbst vorstellig wird. Diese Entwicklung macht darauf aufmerksam, dass mit einem homogenen Lebensbegriff im Œvre Hegels 92 nicht zu rechnen ist. Dennoch gilt: »Der Begriff des Lebens nimmt im gesamten 93 Hegelschen Denken eine bedeutende Rolle ein« , wenngleich er nicht als ein 94 Grundbegriff bezeichnet werden kann. Im Folgenden soll dabei ein weniger im Zentrum der Diskussion um und mit Hegel stehender passus ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden: das Organismuskapitel aus der ›Phänomenologie des Geistes‹. Dass dieses Kapitel weniger im Fokus der Hegel-Forschung steht, dürfte wenigstens zwei Gründe haben. Zum einen ist es so, dass es (v.a. aufgrund eines primär negativen Ergebnisses) im Aufbau der ›Phänomenologie des Geistes‹ eine eher untergeordnete Funktion innehat. Zum anderen ist Hegels Naturphilosophie – die im Organismuskapitel erstmals in komprimiert-konzentrierter Form aufscheint –, später dann ausführlich v.a. dann in der ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ entfaltet worden. Wenn dennoch im Folgenden das Organismuskapitel der ›Phänomenologie des Geistes‹ im Vordergrund steht, dann nicht nur, weil es zweifellos ein »bemerkenswertes Dokument der Hegelschen Naturphilosophie«95 repräsentiert, sondern v.a. deshalb, weil hier eine systematische Grenze der Theorie des Lebendigen, speziell des Organischen, sichtbar wird, die in den frühen Jenaer Entwürfen kaum er96 kennbar ist und in der Spätkonzeption der ›Enzyklopädie‹ mehr übergangen wird. Im Folgenden soll dabei so vorgegangen werden, dass zunächst die für das Verständnis der Hegelschen Fassung des organismischen Lebensbegriffs zentrale reflexionslogische Grundlegung aus dem Selbstbewusstseinskapitel der ›Phänomenologie des Geistes‹ rekonstruiert, dann dessen Einzeichnung in das Organismuskonzept nachvollzogen wird, um endlich die von Hegel herausgearbeiteten Kalamitäten eines organismischen Lebensbegriffes präzise herausarbeiten zu können. Ein Resümee soll dieses Konzept abschließend gegenüber der Position Kants konturieren, sowie dann zur Theorie Lotzes überleiten.97
92 93 94 95 96 97
Vgl. Sell: Leben, 41: »Der Lebensbegriff wird an vielen Stellen von Hegel mit ganz unterschiedlichen Konnotationen verwendet«. Sell, Leben, 44. »Von einem Grundbegriff im Hegelschen System zu sprechen, wäre sicherlich auch nicht angebracht« (Sell, Leben, 44 [Hervorhebung i. Orig.]). Lefèvre, Schwäche des Begriffs der Natur, 157. Vgl. Lefèvre, Schwäche des Begriffs der Natur, 157. Auf eine Systematisierung der Konnotationen des Lebensbegriffs in der (nach Abschluss des Werkes verfassten) Vorrede der ›Phänomenologie‹ muss an dieser Stelle verzichtet werden. Zu den Konnotationen des Lebensbegriffs in der Vorrede der ›Phänomenologie des Geistes‹ vgl. Sell, Leben, 41ff. Sell unterscheidet eine »gesellschaftliche, allgemein menschliche Dimension«, eine »religionsphilosophische Bedeutung« und »systematische Momente«.
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Der organismische Lebensbegriff
III.2
Der reflexionslogische Lebensbegriff
Das Selbstbewusstseinskapitel der ›Phänomenologie‹ steht am Übergang von noch primär unbewussten zu bewussten Erfahrungen der Struktur Intelligenz, die Hegel 98 umfassend in seinen Erscheinungen beschreiben möchte (Phänomenologien). Und in der Tat ist hier auf dem von Hegel beschriebenen Weg des Bewusstseins eine klare Zäsur zu erkennen. Sie ist markant wie hochkomplex, und ihr soll hier ob ihres hochgradig spekulativen Fortgangs sowie ihrer geistreichen wie weiterführenden Folgerungen in den Konsequenzen zunächst ziselierter nachgegangen werden. Wie immer lohnt bei Hegel der etwas längere Atem. Zeichneten sich die Gewissheits- resp. Wahrheitsdimensionen der Bewusstseinsgestalten von Sinnlichkeit und Wahrnehmung noch dadurch aus, dass im Horizont der Sinnlichkeit die Gewissheit der Perzeptionsgehalte noch an die bezugnehmende Bewegung der Sinne auf externe Dinge geknüpft waren und deshalb nur einfachste raum-zeitliche Verallgemeinerungen generiert werden konnten, und dass im Kontext der Wahrnehmung zwar allgemeine wahre Bestimmungsleistungen mithilfe elementarer Abstraktionsleistungen möglich wurden, die aber allesamt der permanenten Gefahr der Täuschung unterliegen, da Wahrnehmungsgehalte qua Vergleich mit dem Wahrgenommenen unzulässig für wahr gehalten werden können, so ergibt sich hinsichtlich des Selbstbewusstseins – als dem »einheimische[n] Reich der Wahrheit«99 – der Fall, dass es das Gewissheits- oder Wahrheitskriterium nicht mehr extern zu verorten genötigt ist, sondern dieses nunmehr in sich selbst lokalisieren kann. Denn macht ein Bewusstsein als Selbstbewusstsein sich selbst zum Gegenstand, so ist es gleichzeitig Begriff und Gegenstand resp. 100 »Ansichsein und [...] Für-ein-Anderes-Sein« , das sich von Sinnlichkeit und Wahrnehmung markant dadurch unterscheidet, dass die Selbständigkeit vormalig externer Perzeptionsreferenten verlustig ging. Allerdings ist es nun so, dass das Selbstbewusstsein keineswegs nur eine statische Begriff-Gegenstand-Relation darstellt, es ist eben nicht – wie Hegel offensicht101 lich an Fichte adressiert – die »bewegungslose Tautologie des: Ich bin Ich« , sondern, dass es sich als sich selbst auf sich selbst beziehen kann, ist eine Leistung zu der es sich allererst mithilfe des dialektischen Überwindens der Defizitmomente von Sinnlichkeit und Wahrnehmung hindurchgearbeitet hat, womit es sich seinem innersten Wesen nach als dynamische Struktur erweist, die die Strukturmomente von Sinnlichkeit und Wahrnehmung nach wie vor in sich enthält. Insofern bezieht sich das Bewusstsein als Selbstbewusstsein auf sich selbst in einer zweifachen Weise. Einmal – und das ist der bleibende Gewinn der Dialektik von Sinnlichkeit und Wahrnehmung – nimmt es auf sich Bezug im Sinne eines Zugriffs auf Gegenstände 98 99 100 101
Zu den ersten beiden Kapiteln der ›Phänomenologie‹ vgl. Sieb, Phänomenologie, 83-97. Hegel, PhdG, 138. Hegel, PhdG, 137. Hegel, PhdG, 138.
Hegels geistphilosophische Verankerung des Organismusgedankens
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der Sinnenwelt und andererseits bezieht es sich auf sich selbst als auf die Einheit dieser Bezugnahme. Es versteht sich fast von selbst, dass das Selbstbewusstsein im strengen Sinne Selbstbewusstsein nur im zweiten modus der Bezugnahme auf sich selbst sein kann, was bedeutet, dass es permanent auf eine Überwindung der gegenständlichen Selbstvorstelligkeit hin zu einer wesenhaften Einheit mit sich selbst drängt, 102 was Hegel auch mit dem Epitheton der Begierde apostrophieren kann. Diese Begierde ist näher charakterisiert als eine Dauereflexionsbewegung zur Gleichheit mit sich selbst, die Hegel als isomorphes Merkmal der Struktur Subjektivität überhaupt namhaft macht, was gleichbedeutend damit ist, dass das Selbstbewusstsein als Lebendiges erscheint resp. diese reflexive Identitätsstruktur insgesamt als Leben angesprochen werden kann. Hegel notiert: »Es [sc. das Selbstbewusstsein] ist 103 durch diese Reflexion in sich Leben geworden« . Allerdings verhält es nun so, dass diese reflexive Identitätsstruktur auf der einen Seite eine gewisse Selbständigkeit für sich beanspruchen kann, sie sich aber auf der anderen Seite genau wegen dieser identischen Selbständigkeit gegenüber internen und externen Differenzmomenten indifferent verhält. Die Identitätsstruktur Selbstbewusstsein erscheint auf den ersten Blick in ihrer autarken Selbstidentität als Struktur unendlicher und in sich zyklisch verfasster Indifferenz, was Hegel mit 104 der Metapher einer »allgemeine[n] Flüssigkeit« zu veranschaulichen sucht. Die Identitätsstruktur des Selbstbewusstseins ist als diese allgemeine Flüssigkeit unfähig, sich selbst randscharf von anderen Entitäten abzugrenzen und so Dinge als selbständige und von sich unterschiedene zu begreifen. Vielmehr kann es sich selbst und anderes nur als Momente seiner eigenen Reflexionsbewegung (allgemeine Flüssigkeit) erkennen. Das wiederum bedeutet, dass die Identitätsstruktur des Selbstbewusstseins zwar einerseits in gebildeten Seinsformationen (Dinge) Reflexionsstrukturen ausmachen kann, andererseits aber genau dadurch die prinzipielle Selbständigkeit von gegenständlichen Erkenntnisgehalten faktisch unterminiert. Kurz: Indem das Selbstbewusstsein die eigene Bezugnahme auf sich selbst im Sinne von Gegenstandsbewusstsein hin zur reflexiven Selbstidentität übersteigt, verliert es gleichermaßen die Fähigkeit zur differenzierten Gegenstandsperzeption. Damit erweist es sich als gegenstandsinadäquat, und exakt diese Inadäquatheit ist es, die eine neue Dynamik des Selbstbewusstseins evoziert, insofern es in der Dialektik zwischen Auflösung von Gegenständen in die Unendlichkeit der mit sich identischen Selbstreflexivität einerseits und deren nachhaltige Störung eben durch das Abarbeiten an den einzelnen Dingen, die jeweils im modus der Be102 Vgl. Hegel, PhdG, 139. 103 Hegel, PhdG, 139 (Hervorhebung v. Vf.) Vgl. auch ebd.: »Was das Selbstbewußtsein als seiendes von sich unterscheidet, hat auch insofern, als es seiend gesetzt ist, nicht bloß die Weise der sinnlichen Gewißheit und der Wahrnehmung an ihm, sondern es ist in sich reflektiertes Sein, und der Gegenstand der Begierde ist ein Lebendiges« (i. Orig. z.T. hervorgehoben). 104 Vgl. Hegel, PhdG, 140.
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zugnahme auf sie als einzelne Dinge eine Erschütterung der Selbstidentität bedeuten andererseits, zum Stehen kommt. Indem sich das Leben als reflexive Identitätsstruktur in dieser Spannung findet, ist gleichsam seine zyklisch verfasste Indifferenz durchbrochen, das Leben erweist sich als prozessual Lebendiges: »Das Leben in dem allgemeinen flüssigen Medium wird ruhiges Auseinanderlegen der Gestalten wird eben dadurch zur Bewegung 105 derselben oder zum Leben als Prozeß« . Die Prozessualität des Lebens besteht genau darin, dass das Leben als reflexive Identitätsstruktur in der Bezugnahme auf einzelnes Sein seine Selbstidentität durchbricht. Denn insofern es sich auf Einzelnes bezieht, also einzelne Perzeptionsgehalte in sich aufnimmt, trägt es Differenzmomente in sich selbst ein, die prima facie die reflexive Identitätsstruktur auflösen. Aber diese Auflösung bedeutet keineswegs eine Vernichtung der reflexiven Identitätsstruktur, sondern diese konstituiert sich durch die Auflösungsmomente hindurch neu, indem qua Differenzmomente eine interne Strukturierung der reflexiven Identitätsstruktur erfolgt. Das Leben als reflexive Identitätsstruktur löst sich als solche in der Bezugnahme auf einzelnes Sein auf, damit löst es aber gleichzeitig auch seine Inadäquatheit gegenüber dem einzelnen Sein oder gegenüber sich selbst als Gegenstandsbewusstsein auf, und in dieser Auflösung dieses Gegensatzes kann es sich selbst restrukturieren: »Die einfache Substanz des Lebens also ist die Entzweiung ihrer selbst in Gestalten und zugleich die Auflösung dieser bestehenden Unterschiede; und die Auflösung der Entzweiung ist ebenso sehr Entzweien oder ein Gliedern«106. Das Leben als reflexive Identitätsstruktur ist nicht mehr nur sich selbstgleiche Identität, sondern in der Veränderung Sichselbstgleichheit als Individualität. Und dies ist für Hegel Statthalter des Lebendigen resp. des Lebens. Insofern präzisiert Hegel seinen Begriff des Lebens: »Dieser ganze Kreislauf macht das Leben aus; – [...] das sich entwickelnde und in seiner Entwicklung auflösende und in dieser Be107 wegung sich einfach erhaltende Ganze« . III.3 III.3.1
Leben als Reflexion im Kontext des Organismuskonzepts Die idealistische Grundthese und ihre Anwendung
Im Organismuskapitel hat Hegel diese reflexive Grundlegung des Lebensbegriffs mit Blick auf die Phänomenologie des Organismus, wie sie nun aus der Perspektive Vernunft erschlossen werden kann, entfaltet.
105 Hegel, PhdG, 141 (Hervorhebung i. Orig.). 106 Hegel, PhdG, 142. 107 Hegel, PhdG, 142.
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Das Bewusstsein als Vernunft ist »die Gewissheit, alle Realität zu sein« . Diese starke und ausdrücklich als idealistische eingeführte These wird jedoch sofort im Vorlauf des Organismuskapitels dahingehend entschränkt, dass das Bewusstsein als Vernunft freilich nicht allein für sich, sondern auch an sich als Statthalter aller Realität auftreten muss. Diese Synthese kann jedoch vom Bewusstsein als Vernunft nicht schlagartig geleistet werden. Vielmehr muss sie in einem dynamischen Prozess allererst erzeugt werden. Die idealistische Grundthese, dass die Vernunft das Bewusstsein, alle Realität zu sein, ist, erscheint so zunächst als vom Bewusstsein noch nicht begriffene Versicherung. Rückblickend auf den Gang der ›Phänomenologie‹ ist dazu festzuhalten, dass sich das Bewusstsein zwar im Durchgang durch die Zuständlichkeiten von Sinnlichkeit, Meinung und des Verstandes zum Bewusstsein eigener Realitätsmächtigkeit (Vernunft), die hier als Versicherung auftritt, hindurchgearbeitet hat. Allerdings ist Hegel der Überzeugung, dass mit dem Hervortreten der Vernunft und ihrer Realitätsgewissheit vorgängige Gewissheiten eben von Sinnlichkeit, Meinung und Verstand »vergessen«109 wurden resp. durch die starke unmittelbare Realitätsgewissheit quasi als unbegriffene Gewissheitsreste überblendet und ausgeklammert werden. Die Gewissheit, alle Realität zu sein, ist so gesehen zunächst eine Gewissheit, die sich streng genommen nur auf sich bezieht, und in dieser strikten Selbstbezüglichkeit ihre Genese (weil nur sich selbst als Quell' aller Realität begreifend) außen vor lässt. Kurz: Die Vernunft als das Bewusstsein, alle Realität zu sein, kann sich noch nicht als Realität auch des Gewordenseins begreifen. Das bedeutet dann aber, dass die Vernunft in dieser Gestalt der Statuierung ihrer Realitätsgewissheit gleichzeitig auch die vergessenen sinnlichen, wahrgenommenen und vernunfterschlossenen Gewissheiten inexplizit aufbewahrt hat. Und dies hat zur Folge, dass die Gewissheit, alle Realität zu sein, nicht mit dem Anspruch auf Wahrheit auftreten kann, gibt es doch nicht-reflektierte Gewissheiten, über deren Wahrheit (noch) nicht entschieden ist. Die Aufgabe der Vernunft besteht insofern darin, das Wie Ihres Gewordenseins in das Was ihrer Realitätsgewissheit aufzuheben. Dies entspricht dann exakt dem geforderten Reflexionspostulat, nämlich das Für-sich-Sein (als Ausdruck genesevergessener Selbstbezüglichkeit) in ein An-sich-Sein (als Standpunkt gewordenheitsbewusster Realitätsgewissheit) zu überführen. Versetzt sich nun die Vernunft ad hoc in die Position im geforderten Sinne, alle Realität zu sein, macht sie sich zunächst zur allgemeinen alle Realität erschließenden Kategorie. Sie »ist die erste Positivität, welche das Selbstbewußtsein an sich selbst, für sich selbst ist, und Ich daher nur die reine Wesenheit des Seienden oder die einfache Kategorie«110. Damit sprengt Hegel – in Übereinstimmung mit Kants 108 Hegel, PhdG, 181 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. auch a.a.O., 179: »Die Vernunft ist die Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein«. 109 Hegel, PhdG, 180. 110 Hegel, PhdG, 181 (Hervorhebungen i. Orig.).
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berühmten §16 der ersten Kritik und in Opposition zu Aristoteles – die Vorstellung auf, Kategorien seien fundamentalontologische Klassifikationspositionen. Gegen Kant wendet er ein, dass auch das Ich als Produzent von Kategorien nicht der Annahme eines Dinges an sich bedarf. Ein aus dieser Annahme resultierender 112 »schlechter Idealismus« bleibt Hegel zufolge notorisch zurück hinter der geforderten Synthese von Für-sich-Sein und An-sich-Sein zurück, postuliert er doch noch ein außerbewusstes An-sich-Sein. Allerdings birgt gerade vor dem Hintergrund der Kant-Kritik auch das Hegelsche Kategorie-Manöver eine – freilich klar benannte – Schwierigkeit. Und zwar besteht diese darin, dass die Vernunft gewissermaßen als Superkategorie vorab eine Identität von einheitlicher Kategorialität und differenzierter Realität behauptet. Die Vernunft soll zugleich das Wesen der Dinge als auch deren Differenziertheit ausdrücken. Die naheliegende Folgerung an dieser Stelle wäre, zunächst nicht eine Generalkategorie, sondern eine »Vielheit von Kategorien«113 anzunehmen. Diese Vielheit von Kategorien darf nun aber nicht (wie bei Kant) am faktischen Vollzug differenter Urteilstätigkeit abgelesen werden. Vielmehr schwebt es Hegel vor, die 114 Kategorienvielfalt als Ausdruck resp. »Arten der reinen Kategorie« aufzufassen. Einheit und Differenz müssen am Orte der Vernunft integral gedacht werden, soll die These plausibilisiert werden, die Vernunft sei das Bewusstsein aller Realität. Dann aber erhebt sich die Frage, wie aus der behaupteten Einheit des Bewusstseins die geforderte Differenziertheit erwiesen werden kann. Angelpunkt der Hegelschen Argumentation ist die Kategorie der Einzelheit. Wird angenommen, die kategoriale Einheit der Vernunft als Bewusstsein aller Realität (Generalkategorie) enthält in sich eine kategoriale Differenz, entsteht an dieser Stelle eine Zweideutigkeit, die den Einheitscharakter der Kategorien und somit des Bewusstseins anbelangt. Denn auf der einen Seite steht nun die reine Einheit der Oberkategorie und auf der anderen die differente Einheit der Vielheit der Kategorien. Diese Vielheit widerstreitet nun allerdings der reinen Einheit des Bewusstseins, die der starke Idealismus behauptet. Hegels Lösung lautet: Die reine Einheit der Generalkategorie ist vor dem Hintergrund der Annahme kategorialer Vielfalt allein negative Einheit. Damit taucht gleichsam via negationis die angedeutete neue Kategorie auf, nämlich die Einzelheit. Einzelheit bedeutet hier zunächst nicht anderes als negative Einheit, ein – wie Hegel sagt – »ausschließendes Eins«115, oder ein »ausschließendes Bewußtsein, […] 116 daß ein Anderes für es ist« . Damit besitzt das Bewusstsein als Einheit in Gestalt seiner (negativen) Einzelheit ein schematisches Portal zur Realität. Die Kategorie 111 112 113 114 115 116
Vgl. Kant, KrV B 131ff. und Aristoteles, Met. 1089a. Hegel, PhdG, 181. Hegel, PhdG, 182. Hegel, PhdG, 182 (Hervorhebung i. Orig.). Hegel, PhdG, 183. Hegel, PhdG, 183. (Hervorhebung i. Orig.).
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der Einzelheit als Abgrenzung im Für-Bezug enthält ein deiktisches Moment. Sie trägt in der Abgrenzung in sich einen Verweisungsschematismus auf Anderes. Dieses Andere ist jedoch auf der kategorialen Ebene nichts anderes als das Schema des Anderen resp. des reinen Unterschieds und das Schema des Anders-Seins resp. der reinen Wesenheit. Reiner Unterschied und reine Wesenheit sind jedoch ohne weiteres als Momente der reinen Einheit der obersten Kategorie einsehbar. Kurz: Die reine Einheit des Bewusstseins als oberste Kategorie führt demnach notwendig auf Einzelheit, die Einzelheit als negative Kategorie verweist jedoch genauso notwendig wiederum auf die reine Einheit.117 Diese auf den ersten Blick zirkuläre Bewegung des Bewusstseins dient schließlich dem Erweis der starken idealistischen These von der Vernunft als dem Bewusstsein aller Realität. Denn indem das Bewusstsein aus sich in die Einzelheit und von daher auch in die Gegenstände übergehen kann, gleichzeitig aber darin seine ureigenste Einheit zu entdecken vermag, ist es nichts anderes als ein reflexives 118 »[Z]ueignen« von Realität, das exakt der starken idealistischen Ausgangshypothese entspricht. Allerdings erweist sich bei näherem Hinsehen die beobachtete Bewegung des Bewusstseins noch als defizitär. Denn die aufgewiesene idealistische Gewissheit, alle Realität zu sein, stellt sich auf dieser Ebene der Reflexion noch als »leerer Idea119 lismus« dar. Gehaltlos ist dieser Idealismus, weil er gewissermaßen auf der kategorialen Ebene leer läuft. Um eine suffiziente Realitätssättigung zu erhalten, ist das 120 Bewusstsein allerdings noch auf einen »fremden Anstoß[]« von Seiten des sinnlichen Empfindens angewiesen. Methodisch entspricht dem ein »absoluter Empi121 rismus« und dieser läuft notorisch in Gefahr, sich in die »sinnliche Unendlich122 keit« zu verlieren. Der kategorialen Vielheit entspricht demnach die Vorstellung einer empirischen Mannigfaltigkeit und erst am Abarbeiten an dieser sinnlichen Mannigfaltigkeit kann diese in die reine Einheit des Bewusstseins aufgehoben werden. Das bedeutet, dass die Vernunft als das Bewusstsein aller Realität nun noch einmal in die empirische Mannigfaltigkeit eintauchen muss und zwar in dem Wis123 sen, dass diese Berührung Anstoss zur »Erfüllung [ihres] leeren Meins« ist und auch der Anstoss selber noch in die Einheit der Aperzeption zu überführen ist. Hier
117 »Die reine Kategorie verweist auf die Arten, welche in die negative Kategorie oder die Einzelheit übergehen; die letztere aber weist aber auf jene zurück: sie ist selbst reines Bewußtsein, welches in jeder sich diese klare Einheit mit sich bleibt, eine Einheit aber, die ebenso auf ein Anderes hingewiesen wird, das, indem es ist, verschwunden und, indem es verschwunden, auch wieder erzeugt ist« (Hegel, PhdG, 183 [Hervorhebung i. Orig.]). Das ist auch ein tragender Grundgedanke der ›Logik‹ Hegels (vgl. Hegel, Logik I, 82f.). 118 Hegel, PhdG, 183. 119 Hegel, PhdG, 184. 120 Hegel, PhdG, 184. 121 Hegel, PhdG, 184. 122 Hegel, PhdG, 184. 123 Hegel, PhdG, 184.
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Der organismische Lebensbegriff
nun, und damit bewegt sich die Vernunft näher auf den Organismus zu, wird sie zur beobachtenden Vernunft. III.3.2
Die Struktur der Naturbeobachtung
Der Fortschritt einer sich als beobachtend verstehenden Vernunft besteht zunächst darin, dass das Beobachtete nicht mehr (wie im Horizont des sinnlichen Bewusstseins) als ein Fremdes und Anderes in den Blick rückt. Vor dem Hintergrund des Bewusstseins, alle Realität zu sein, ist es die Gewissheit der beobachtenden Vernunft, dass es selbst mit für das beobachtete Andere steht, insofern es sich am Gegenstand profiliert. Die damit erreichte veränderte epistemische Einstellung kann Hegel in ihrem Vollzug auch mit der Differenz von aktiv und passiv umschreiben: »Früher ist es ihm (sc. dem Bewusstsein) geschehen, manches an den Dingen wahrzunehmen und zu erfahren; hier stellt es die Beobachtung und die Erfahrung selbst an«124. Es geht also nun darum, Wahrnehmungsgehalte nicht einfach nur im modus von Wahrnehmen und Meinen zu erfahren, sondern als vernünftig 125 zu begreifen und das bedeutet: »als Begriff zu finden« . Insofern sich die Vernunft als beobachtende Vernunft als Gewissheit aller Realität weiss, begibt sie sich damit nicht nur auf eine weitere Reise in das Reich der Dingenwelt, sondern in erster Linie zu sich selbst: »Sie sucht ihr Anderes, indem sie weiß, daran nichts anderes als 126 sich selbst zu besitzen; sie sucht nur ihre eigene Unendlichkeit« . Die Vernunft, die so beobachtend sich selbst als das tiefere Wesen der Dinge ausmachen möchte, bleibt zunächst jedoch in einer methodischen Kalamität gefangen. Indem sie in der Naturbeobachtung – wie Hegel blumig formuliert – die 127 »Eingeweide der Dinge durchwühlt und ihnen alle Adern öffnet« , verbleibt die Vernunft auf einer sinnlichen Gegenstandsebene. Die Vernunft möchte das tiefere Wesen der Dinge, als das es sich selber weiss, ergründen, tut dies aber im modus einer sinnlich-gegenständlichen Beobachtung. Dies ist insofern methodisch unangemessen resp. ein methodisches Missverständnis, da sich die Vernunft als beobachtende der Sache nach intellektuell unterschreitet oder wie Hegel auch sagen kann sich im Beobachten als Vernunft im strengen Sinne »noch nicht erkannt 128 hat« . Sie vermeint, zu beobachten. Aber in Wahrheit tut die beobachtende Vernunft, das, wozu sie als Vernunft in der Lage ist, indem sie nicht allein im wahrnehmungstechnischen Sinne beobachtet, sondern die dinghafte Realität bereits begrifflich konzeptualisiert. Vor dem Hintergrund dieses Vermeinens erweist sich der eingeschlagene Weg auch als sachlich inadäquat. Denn damit läuft die Vernunft notorisch in Gefahr, das 124 125 126 127 128
Hegel, PhdG, 185 (Hervorhebung i. Orig.). Hegel, PhdG, 186. Hegel, PhdG, 186. Hegel, PhdG, 186. Hegel, PhdG, 187.
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Wesen der Dinge zu verfehlen, müsste es sich doch genau genommen einer Ergründung seiner selbst als wesenhafte Wirklichkeit der Dinge widmen. Letzteres bleibt an dieser Stelle der Argumentation jedoch vorerst noch ein Reflexionspostulat. Die Einsicht, dass das Abarbeiten an sinnlich-gegenständlicher Naturbeobachtung exakt einer Auffindung des Einheitspunktes der Wahrheit der Vernunft wie der Dinge dient, ergibt sich erst, indem das »Tun der beobachtenden Vernunft [...] 129 in den Momenten seiner Bewegung betrachte[t]« wird. Die Vernunft nun übersteigt im Beobachten die Wahrnehmung immer schon zum Allgemeinen: »Das Wahrgenommene soll wenigstens die Bedeutung eines All130 gemeinen, nicht eines sinnlichen Diesen« haben. Dieses Allgemeine, auf das das Beobachten der Vernunft immer schon unbewusst aus ist, wird vorläufig näher bestimmt als das Sichgleichbleibende und zwar als das Sichgleichbleibende der Beobachtungsoperationen. Die beobachtende Vernunft registriert identische Eigenschaften und fasst diese von sich aus zu Eigenschaftsklassen, Gattungen und anderen Ordnungskompilationen zusammen. Diesen Vorgang nennt Hegel das Beschreiben. Allerdings erweist sich bei näherem Hinsehen das Beschreiben noch als äußerlicher am sinnlichen Material orientierter Zugriff auf die Dinge. Denn die beschreibenden Klassifikationen sind wiederum allein Leistungen der im beschriebenen Sinne beschreibenden Vernunft, die diese gewissermaßen ab extra an die Gegenstände heranträgt, ohne deren Wesen zu erfassen. Diese Oberflächlichkeit ist es auch, die das so geartete Beschreiben in eine strukturelle Krise stürzt. Damit übt Hegel gleichsam massive Kritik an der ihm zeitgenössischen Praxis der empirisch klassifikatorischen Wissenschaften. Denn das Beschreiben verzettelt sich so schließlich in einer an eine problematische Grenze führenden Besonderung, indem die Objektwelt in eine verwirrende und unübersehbare Bestimmungsmannigfaltigkeit überführt wird.131 129 Hegel, PhdG, 187 (Hervorhebung i. Orig.). 130 Hegel, PhdG, 188 (Hervorhebungen i. Orig.). 131 Vgl. Hegel, PhdG, 188f.: »Der Gegenstand, wie er beschrieben ist, hat daher das Interesse verloren; ist der eine beschrieben, so muß ein anderer vorgenommen, und immer gesucht werden, damit das Beschreiben nicht ausgehe. Ist es nicht so leicht mehr, neue ganze Dinge zu finden, so muß zu den schon gefundenen zurückgegangen werden, sie weiter zu teilen, auseinanderzulegen, und neue Seiten der Dingheit an ihnen noch aufzuspüren. Diesem rastlosen, unruhigen Instinkte kann es nie an Material gebrechen; eine neue ausgezeichnete Gattung zu finden, oder gar einen neuen Planeten, dem, ob er zwar ein Individuum ist, doch die Natur eines Allgemeinen zukommt, zu finden, kann nur Glücklichen zuteil werden. Aber die Grenzen dessen, was wie der Elefant, die Eiche, das Gold ausgezeichnet, was Gattung und Art ist, geht durch viele Stufen in die unendliche Besonderung der chaotischen Tiere und Pflanzen, der Gebirgsarten, oder der durch Gewalt und Kunst erst darzustellenden Metalle, Erden u.s.f. über. In diesem Reiche der Unbestimmtheit des Allgemeinen, worin die Besonderung wieder der Vereinzelung sich nähert, und in sie hie und da auch wieder ganz herabsteigt, ist ein unerschöpflicher Vorrat fürs Beobachten und Beschreiben aufgetan. Hier aber, wo ihm ein unübersehbares Feld sich eröffnet, an der Grenze des Allgemeinen kann es vielmehr statt eines unermeßlichen Reichtums nur die Schranke der Natur und seines eignen Tuns gefunden haben; es kann nicht mehr wissen, ob das an sich zu sein Scheinende nicht ei-
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Um dem zu entgehen, muss sich die beobachtende Vernunft bemühen, ihre eigene Beschreibungsleistung mit dem realen Wesenskern der Dinge adäquat zu vermitteln. Ort dieser Vermittlung ist das Merkmal, als »das, woran die Dinge er132 kannt werden« . An den Merkmalen wird zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem im strengen Sinne unterschieden und »damit hebt sich der Begriff aus der sinnlichen Zerstreuung hervor und das Erkennen erklärt darin, daß es ihm wenigstens ebenso wesentlich um sich selbst als um die Dinge zu tun ist. [...] Die Merkmale sollen nicht nur wesentliche Beziehung auf das Erkennen haben, sondern auch 133 die wesentlichen Bestimmtheiten der Dinge [...] ausdrücken« . Beispiele, die Hegel dafür anführt, sind die Zähne und Klauen von Tieren, die nicht nur von der beschreibenden Vernunft als externe Klassifikationen an bestimmte Gattungen herangetragen werden, sondern ein Wesensmerkmal gewisser Tierarten repräsentieren, da sich diese mithilfe dieser Eigenschaften nicht nur von anderen unterscheiden, sondern sich dadurch auch erhalten. Allerdings stellen sich die Merkmale ihrerseits wieder als verschwindende Momente der Dinge heraus. Dies begründet sich in einem problematischen Ineinander von Wesensmerkmal und Festell-Relation. D.h. das im Merkmal konstatierte Wesen lässt sich eben nicht immer in allen Erscheinungsweisen von Dingen erheben.134 Dies, weil unendliche Spezifizierungen vorstellbar sind und dies wiederum das Merkmal als Statthalter von Wesenskern uninteressant macht. Ausgemachte Wesensmerkmale werden als Merkmale dem Wesen nicht gerecht, weil sie z.B. physikalisch-chemische Zustandsänderungen am Orte des Beobachtungsobjekts nicht wesenhaft zu erschließen vermögen. Der Wesensgrund der Dinge wird so wieder nebulös und dies verunsichert die beobachtende Vernunft nachhaltig; Hegel nennt 135 dies die »Verwirrung seines [sc. des beobachtenden Bewusstseins] Prinzips« . Die merkmalsgeleitete Beobachtung wird so verwiesen an die Identitätsdimension von Merkmalen, die allerdings dann nicht mehr im Sinne des – so gesehen heuristisch – vorausgesetzten Merkmalsgedankens firmieren können. Das Merkmuss zum Wesensmal werden. Um dies einzuholen, muss das Moment des Wechsels und das der veränderbaren Iteration von Merkmalen mitreflektiert werden, weil nicht schon allein aus der Wiederholung ein und desselben Merkmals auf einen identischen Wesenskern gefolgert werden kann. Damit stellt sich die Frage: Was genau sind wesentliche Merkmale?
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ne Zufälligkeit ist; was das Gepräge eines verwirrten oder unreifen, schwachen und der elementarischen Unbestimmtheit kaum sich entwickelnden Gebildes an sich trägt, kann nicht darauf Anspruch machen, auch nur beschrieben zu werden« (Hervorhebungen i. Orig.). Hegel, PhdG, 189 (Hervorhebung i. Orig.). Hegel, PhdG, 189 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. Hegel, PhdG, 190: Nach Hegel wird dies primär augenfällig, je primitiver die Beobachtungsgehalte ausfallen. Dort kann es dann vorkommen, dass ein Gehalt »chemischerweise ein anderes wird, als es empirischerweise ist« (Hervorhebungen i. Orig.). Hegel, PhdG, 191 (Hervorhebung i. Orig.).
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Hegel greift im Zuge der Bearbeitung dieser Frage zu einer quantitativsubtrahierenden Lösung: Das, was am (jetzt kritisch gesehenen) Merkmal nicht dauerhaft vom Bewusstsein als Merkmal in Veränderung erfasst werden kann, ist als nichtwesenhaft gedanklich zu eliminieren, weil es ja immer noch die Vernunft ist, die auf das Allgemeine als Sichgleichbleibende und zwar das Sichgleichbleibende der Beobachtungsoperationen geht. D.h. die Bestimmungsleistung des Bewusstseins wird transferiert vom Ausmachen von Merkmalen zum Auffinden von vernünftigem Allgemeinem; und – weil es eben um Vernunft geht – zum Überführen dessen in den Begriff. Dieses Allgemeine, auf das das Beobachten der Vernunft immer schon aus ist, wird zunächst vorläufig näher bestimmt als das Gesetz, das invers (eben nicht als Ausdruck Naturgesetz) eingeführt wird als »Gesetz in der Natur des Begriffs«136. Hegels Gedankenbewegung vollzieht also exakt an dieser Stelle den Überschritt vom Gedanken- zum Naturgesetz; nur mit – für den Lebensbegriff dem sich Hegel hier dezidiert annähert – nicht unwesentlichen Konsequenzen. Die These (in ihrer Entwicklung) ist in summa folgende: Beobachtungsoperationen am Orte der Biosphäre signalisieren dem vernünftigen auf Allgemeinheit gehenden Bewusstsein Abstraktionspotentiale phänomenologisch-empirischer Übereinstimmungen und diese können rational nur als Wesensgleichheit, nichtempirisch eben als Funktion des Bewusstseins, oder anders als Gesetz repräsentiert werden. Kurz (und in Gegenlinie zu Kant): Nicht das Scheitern des Bewusstseins an der Biosphäre, sondern dessen konsequente Durchvergewisserung verschafft weiterführende Einsichten in Bezug auf Exzeptionalität des Lebendigen. Hegels nichtempirische (und im Sinne der modernen Physik nichtstatistische137) Herleitung von Naturgesetzen macht schließlich auf eine wichtige Variable auf138 merksam. Denn Hegel bringt nun eine (dann später von Monod zu Ehren ge139 brachten) Kategorie ins Spiel: den Zufall. Denn, so Hegel: »Wenn aber das Gesetz nicht in dem Begriffe seine Wahrheit hat, so ist es etwas Zufälliges, nicht eine 140 Notwendigkeit, oder in der Tat nicht ein Gesetz« . Das heißt: Wenn Naturgesetze allein empirisch (oder statistisch) abgelesen werden und das Bewusstsein allein als Registrierungsintanz von Naturmerkmalen auftritt, birgt solcherlei Erkanntes notorisch den Keim der Zufälligkeit. Denn – so die durchaus plausible Hintergrundüberlegung –, wenn dieser Registrierungsprozess nicht wesentlich vom Bewusstsein geleitet ist, verlieren sich registrierte Merkmale in unkontrollierter Mannig136 Hegel, PhdG, 192. 137 Vgl. dazu unter B.II.1. 138 Im Hintergrund der Erörterung Hegels steht dabei auch eine Auseinandersetzung mit den ihm zeitgenössischen Versuchen der Naturwissenschaften (und auch der Schellingeschen Naturphilosophie), ein vollständiges und notwendiges Konzept des Organismus und des Organischen zu erarbeiten. Nach Hegel ist jedoch eine lückenlose Systematisierung des Lebendigen nicht möglich. Vgl. dazu Sieb, Phänomenologie des Geistes, 127f. 139 Vgl. dazu unter C III.1. 140 Hegel, PhdG, 192 (Hevorhebung v. Vf.).
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faltigkeit; sprich im Zufall. Kurz: Empirische Herangehensweisen neigen dazu, sich in ihren Gegenständen zu verlieren und es ist dann zum Schluss dem Zufall überlassen, welcher Forschungsgegenstand nun in den Fokus des Interesses tritt. III.3.3
Die begrifflichen Strukturen des Lebens und ihre Grenzen
Die von der beobachtenden Vernunft statuierbaren Gesetze enthalten wie gesehen noch Momente des Zufälligen und können mit Recht noch nicht als Gesetze im strengen Sinne, also als notwendige Gesetze angesprochen werden. Insofern liegt 142 nun alles daran, »das Gesetz und seine Momente zum Begriff zu reinigen« . Ort dieses Prozesses ist das Experiment, das die erkannten Gesetze als allgemeingültig bewähren soll. Methodisch birgt dies jedoch das Problem, dass damit die geforderte Abstraktheit des Gesetzes wieder verlustig zu gehen droht, indem es im Experiment wieder an empirisches resp. bestimmtes Sein zurückgebunden wird. Allerdings, indem im gelingenden Experiment die »reinen Bedingungen des 143 Gesetzes« aufgefunden werden, kann sich das Gesetz wieder vom bestimmten Sein lösen und dieses in ein allgemeines Sein überführen, indem es die experimentell bewährten Gesetzes-Eigenschaften konsequent als abstrakte Prädikate ausformuliert, da sie sich in allen Experimentkonstellationen bewährt haben. Diese von ihren (Experimental-)Subjekten losgelösten Eigenschaften repräsentieren allgemeine Beziehungsrelationen der Natur, die Hegel auch als Materien (»unsinnliches 144 Sinnliches« ) apostrophieren kann. Die Möglichkeit in diesem Sinne vom bestimmten Sein unabhängige Materien anzunehmen, hat nach Hegel nun unmittelbar einen Effekt auf den Modus des Beobachtens. War die gesuchte Wahrheit (Leitidee) des experimentierenden Bewusstseins das vom sinnlichen (bestimmten) Sein gereinigte Gesetz, so stellt sich aus dieser nun erreichten Perspektive das Gesetz jetzt in Gestalt begrifflicher Strukturen dar, die im bestimmten sinnlichen Sein vorhanden sind, aber – da von diesem im Experiment gereinigt – selbständig und ungebunden. Es gibt also im bestimmten sinnlichen Sein einfache Begriffsstrukturen (Vernunftstrukturen), die obwohl im bestimmten sinnlichen Sein angetroffen werden, gleichwohl von ihm unabhängig sind. Diese einfachen Strukturen bilden nun Hegel zufolge einen eigenständigen Beobachtungs- resp. Gegenstandsbereich und dieser ist der des Organischen resp. des Lebendigen. Exakt an dieser Stelle nun versucht Hegel den bereits im Selbstbewusstseinskapitel gewonnenen reflexionslogischen Lebensbegriff am Orte belebter Organismen konstruktiv zu bewähren. Das Resultat – und dies sei hier vor141 Dies ist ein Gedanke, den Heisenberg dann mit anderer Stossrichtung als Unschärfetheorem ausformuliert hat. 142 Hegel, PhdG, 194 (Hervorhebung i. Orig.). 143 Hegel, PhdG, 194 (Hervorhebung i. Orig.). 144 Hegel, PhdG, 195.
Hegels geistphilosophische Verankerung des Organismusgedankens
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angeschickt –, ist dabei keineswegs ein allein positives. Vielmehr ist es das Ergebnis des Organismuskapitels der ›Phänomenologie‹, dass sich das Reich des Lebendigen eben nicht im Sinne einer Reflexionslogik vollständig durchsystematisieren lässt. Dies bedeutet aber nicht, dass das Lebendige sich einem derartigen Zugriff entzieht. Es ist vielmehr sehr wohl möglich, begriffliche Strukturen auszumachen, nicht aber, diese vollständig begrifflich zu konzeptualisieren. Der Ertrag des reflexionslogischen Lebensbegriffes bestand – wie gesehen – darin, Leben (in Gestalt der Metapher einer allgemeinen Flüssigkeit) als reflexive Identitätsstruktur einsichtig zu machen, die einen Prozess repräsentiert, der qua Aufnahme von Gehalten in sich Differenzmomente erzeugt und sich durch diese hindurch wieder konstituiert. Für das Verständnis organisierter Strukturen kann dies insofern fruchtbar gemacht werden, als Hegel darin ein brauchbares Interpretament dessen erkennt, was als Selbsterhaltung für organisierte Strukturen typisch ist. Genau an dieser Stelle zeigen sich begriffliche Strukturen am Orte des Lebendigen. In diesem Sinne kann Hegel das Organische erschließen als »Gegenstand, welcher den Prozeß in der Einfachheit des Begriffes an ihm hat. Es ist diese Flüssigkeit, worin die Bestimmtheit, durch welche es nur für Anderes wäre, aufgelöst ist«145. Die Pointe dieser Formulierung dürfte darin zu sehen sein, dass das Organische bestimmungslogisch zunächst dadurch charakterisiert ist, dass es als vernünftige Struktur im bestimmten Sein seine Erhaltungsgründe allein aus sich als einfacher Entität schöpft. Organismen sind in dieser Beziehung eben als frei vom bestimmten sinnlichen Sein zu denken: »[D]as Organische erhält sich daher in seinen Be146 ziehungen selbst« . Damit unterscheidet sich das Organische auch präzise vom Unorganischen, das entsprechend immer als durch andere Dinge mitbestimmt gedacht werden muss. Die damit gewonnenen Begriffe der organischen und unorganischen Natur bilden nun den Hintergrund, vor dem das Reich des Organischen mit Blick auf die Generierung weiterer begrifflicher Momente durchsichtig gemacht werden soll. Allein tritt hier bereits erstmals ein Problem auf, dass einer strikt begrifflichen Konzeptualisierung des Organischen entgegensteht. Das Organische tritt immer im Zusammenhang mit dem Unorganischen auf. Um das organische Leben vollständig begrifflich zu systematisieren, müsste sich entsprechend ein begrifflichnotwendiger (gesetzmässiger) Zusammenhang zwischen beiden Sphären aufweisen lassen. Dies ist jedoch alles andere als unproblematisch. Dies zeigt sich zunächst im Kontext des Versuchs einer Aufhellung des Einflusses der unorganischen auf die organische Natur. Ein solcher zeigt sich in einem ersten Zugriff zunächst in allgemeinsten Bestimmungen dergestalt, dass Luft, Wasser, Erde, und Klimazonen das Organische mitbestimmen. Allerdings erweisen sich die hier
145 Hegel, PhdG, 196 (Hervorhebung i. Orig). 146 Hegel, PhdG, 196.
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ablesbaren Zusammenhänge (Vögel fliegen, Fische schwimmen etc.) erstens als notorisch unterbestimmt und zweitens wegen unzähliger Ausnahmen als begrifflich nicht notwendig, so dass Hegel an dieser Stelle nicht mehr als einen »großen Ein147 fluß« , nicht aber begrifflich notwendige Grundsätze konzedieren kann. Hegel folgert daraus, dass die »Beziehung des Organischen auf die elementarische Natur das 148 Wesen desselben [sc. des Organischen] nicht ausdrückt« . Als Alternative rückt Hegel im Folgenden den Zweckbegriff als Statthalter des 149 Wesens des Organischen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Zweckbegriff bietet sich prima facie an, weil die vorher erarbeitete sich selbst erhaltende organische einfache Einheit sich mühelos in eine Ursache-Wirkung-Figur übersetzen 150 lässt. Das ist möglich, weil die basale Struktur des Sich-Selbst-Erhaltens reflexiv einem Ineinander von Ursache und Wirkung – und das definiert Hegel im An151 schluss an Kant als Zweckmäßigkeit – entspricht. Die Struktur Zweckmäßigkeit entspricht darüber hinaus dem gesuchten begrifflichen Zusammenhang insofern, als die vorausgesetzt reflexive Identitätsstruktur am Orte des Selbstbewusstseins 152 immer schon als ein Zu-sich-Werden erkennbar wurde. Allerdings evoziert diese Zweckmäßigkeit als prozessuale Bewegung eines Inder-Veränderung-sich-selbst-Erhaltens im Horizont der beobachtenden Vernunft nun eine Unsicherheit dergestalt, als dass sich die Zweckmäßigkeit der beobach153 tenden Vernunft anders zeigt, als sie in Wahrheit ist. Dies gründet sich darin, dass die Struktur Zweckmäßigkeit am Orte des Organischen nicht eindeutig in den Blick gerät. Zweckmäßigkeit kann verstanden werden zunächst als eine innere und notwendige Zweckmäßigkeit in dem Sinne, dass Organismen im Lebensprozess 147 148 149 150
Hegel, PhdG, 197 (Hervorhebung i. Orig.). Hegel, PhdG, 198. Vgl. dazu Lefèvre, Schwäche des Begriffs der Natur, 162f. »Das Organische bringt nicht etwas hervor, sondern erhält sich nur, oder das, was hervorgebracht wird, ist ebenso schon vorhanden, als es hervorgebracht wird« (Hegel, PhdG, 198 [Hervorhebung v. Vf.]). 151 Vgl. Lefèvre, Schwäche des Begriffs der Natur, 159. Lefèvre weisst darauf hin, dass Hegel Kant in Bezug auf den Zweckbegriff insofern folgt, als dass er in Kant einen wichtigen Restitutor einer ursprünglich Aristotelischen Einsicht sieht. Vgl. Hegel, EPhW II, § 360, 473: »Die gründliche Bestimmung, welche Aristoteles vom Lebendigen gefaßt hat, daß es als nach Zwecken wirkend zu betrachten sei, ist in neueren Zeiten beinahe verloren gewesen, bis Kant in der inneren Zweckmässigkeit, daß das Leben als Selbstzweck zu betrachten sei, auf seine Weise diesen Begriff wieder erweckte« (Hervorhebungen i. Orig.). Vgl. dazu auch Sieb, Phänomenologie des Geistes, 129: »Er [sc. Hegel] folgt dabei der Aristotelischen Bestimmung des Organismus als Selbstverwirklichung einer Form, die zugleich Zweck, Telos, ist«. 152 Vgl. dazu Sieb, Phänomenologie des Geistes, 129. 153 So ist es die Eigenheit des Organischen, »daß durch die Veränderung, welche das Tun [sc. die Performation der Struktur Zweckmäßigkeit] vorgenommen hat, nichts anderes herauskommt, als was es schon war. Oder wenn wir vom Ersten anfangen, so geht dieses an seinem Ende oder in dem Resultate seines Tuns nur zu sich selbst zurück; und eben hierdurch erweist es sich, ein solches zu sein, welches sich selbst zu seinem Ende hat, also als Erstes schon zu sich zurückgekommen oder an und für sich selbst ist« (Hegel, PhdG, 199 [Hervorhebungen i. Orig.]). Den mentalen Niederschlag dieser Performation bezeichnet Hegel als Selbstgefühl.
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ihren begrifflichen Zusammenhang (als Bauplan verstanden) selbst darstellen. Auf der anderen Seite, kann Zweckmäßigkeit aber auch als Beziehung auf etwas anderes thematisch werden, wie die Beobachtung z.B. findet, wenn ein Organisches in der Erhaltung auf Anderes angewiesen ist. Hier erscheint die Zweckmä155 ßigkeit als »äußerliche, teleologische Beziehung« . Ein begrifflich notwendiger Zusammenhang ist hier nur schwer erkennbar. Allerdings erweisen sich die am Orte organisierter Strukturen wahrnehmbaren Veränderungen resp. erweist sich der Unterschied zwischen innerer und äußerer Zweckmäßigkeit zunächst noch als nur scheinbar, da das Ergebnis beider immer nur der sich in der Veränderung erhaltende und identische Organismus ist. Dieser der Resultatsperspektive geschuldeten Scheinbarkeit der Unterscheidung von äußerer und innerer Zweckmäßigkeit entspricht nun eine isomorphe Struktur des Selbstbewusstseins selbst. Hegel zufolge ist es ein Wesenszug des Selbstbewusstseins, eben »sich auf eine solche Weise zu unterscheiden, worin zugleich kein Unterschied herauskommt«156. D.h.: Das Selbstbewusstsein, auf dieser Stufe seiner Explikation noch vertreten durch den Vernunftinstinkt (»der zugleich 157 Selbstbewußtsein [ist]« ), sucht im beobachtenden Zugriff auf die Natur ihm we158 159 sentliche reflexive Begriffe (Gesetze oder Zweckmäßigkeiten ) auf. Allerdings erkennt es eben nicht, dass dies ihm wesentliche Begriffe sind und statuiert sie als von ihm unterschiedene: Kurz: Es unterscheidet, wo kein Unterschied ist. Der infrage stehende Unterschied, den Hegel nun auf den von einem innerlichen notwendig-zweckmäßigen Tun (Innerliches) und einem äußerlichen zufälligzweckmäßigen Tun (Äußerliches) zuspitzt, kann hypothetisch überwunden werden, wenn das beobachtende Bewusstsein den »Gegensatz in einen solchen ver160 wandelt, als er ihr [sc. der Ansicht des Bewusstseins] gemäß ist« . Da das be161 obachtende Bewusstsein wesentlich auf die »Form des Seins und Bleibens« abstellt, das innerlich notwendig-zweckmäßige Tun als Allgemeines (Innerliches) jedoch der inneren dynamischen Bewegung des Organischen entspricht (die zwar begriffen, aber nicht äußerlich beobachtet werden kann), muss letztere für das be162 obachtende Bewusstsein in den Modus »fester Momente« überführt werden. Das beobachtende Bewusstsein verhält sich also so, als könnte es das Innerliche beobachten und bringt es als solches in ein Verhältnis zum Äußerlichen. 154 155 156 157 158 159 160 161 162
Vgl. Sieb, Phänomenologie des Geistes, 129. Hegel, PhdG, 198 (Hervorhebung i. Orig.). Hegel, PhdG, 199. Hegel, PhdG, 200. Vgl. Hegel, PhdG, 198: Dort spricht Hegel vom Zweck als demjenigen, »im welchem die Natur sich in den Begriff reflektiert«. Vgl. Hegel PhdG, 200: »[E]r [sc. der Vernunftinstinkt] findet wohl sich selbst, nämlich den Zweck« (Hervorhebung i. Orig.). Hegel, PhdG, 202. Hegel, PhdG, 202 (Hervorhebungen i. Orig.). Hegel, PhdG, 202 (Hervorhebung i. Orig.).
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Der organismische Lebensbegriff
Diese gedankliche Operation nun »erzeugt das Gesetz, daß das Äußere der 163 Ausdruck des Inneren ist« , eine Einsicht, die jedoch wegen der mit der Statisierung verbundenen Entbegrifflichung nur den Status einer dunklen und oberflächlichen Vorstellung einnimmt und den Gegensatz zu einem formalen herunterbuchstabiert hat. Um die angezeigte Innen-Außen-Relation begreifbar zu machen, und um den problematisierten Unterschied aufzulösen, analysiert Hegel im Folgenden kunstreich, »welche Gestalt das Innere und Äußere in seinem Sein 164 hat« . In diesem Zusammenhang – und dies kann hier nicht in extenso diskutiert werden – macht Hegel ein Viererschema auf. In Anlehnung an die beiden Gestalten von Zweckmäßigkeit spricht er von einem Inneren und einem Äußeren, wobei Inneres und Äußeres wieder jeweils im Hinblick auf eine Innen- und Außenperspek165 tive untersucht werden. Entsprechend gibt es ein Inneres des Inneren (die für sich betrachtete Bewegung des In-der-Veränderung-sich-selbst-Erhaltens als »ein166 fache sich erhaltende Beziehung auf sich selbst« ), ein Äußeres des Inneren (als das »Äußere [] für sich betrachtet, [...] die Gestaltung überhaupt, das System des sich im Element des Seins gliedernden Lebens und wesentlich zugleich das Sein 167 des organischen Wesens für ein Anderes« ), das Innere des Äußeren (das »In168 ner[e] als eines Inneren bloß der Gestalt« ) und ein Äußeres des Äußeren (als »die 169 vielen [...] sinnlichen Eigenschaften« ). Die beiden zuletzt genannten Relationen betreffen indes nicht mehr das Organische im engeren Sinne, sondern dessen faktische Gestalt, die jedoch bei genauerem Hinsehen bereits in die »Sphäre des Un170 organischen herübergenommen wurde« . Hegel geht es bei dieser konzentrierten Analyse darum, begrifflich notwendige Zusammenhänge aufzuweisen. Dieser Versuch führt jedoch zu einem höchst ambivalenten Ergebnis: Der Vollzug dieser Operation wäre idealiter der, dass das beobachtende Bewusstsein am Orte organisierter Lebewesen auf Vernunftstrukturen stößt und sich dabei zugleich als Vernunft erkennt und begreift. Als Statthalter dieser Vernunftstrukturen firmieren (wie oben gesehen) dabei begrifflich notwendige Strukturen, die – und das war die methodische Aufgabe, die sich mit der erneuten Hinwendung zur Natur gestellt hatte –, noch zum Begriff gereinigt werden müssen. Nun ist es nach Hegel so, dass exakt eine im strengen Sinne vernünftige (durch den
163 Hegel, PhdG, 202 (Hervorhebung i. Orig.) 164 Hegel, PhdG, 203. 165 Vgl. Hegel, PhdG, 217: Dort spricht Hegel von den »beiden Seiten des organischen Ganzen – die eine das Innere, die andere aber das Äußere, so daß jede wieder an ihr selbst ein Inneres und ein Äußeres hat« (Hervorhebung i. Orig.). 166 Hegel, PhdG, 221 (Hervorhebung i. Orig). 167 Hegel, PhdG, 215 (Hervorhebung i. Orig). 168 Hegel, PhdG, 217. 169 Hegel, PhdG, 221. 170 Hegel, PhdG, 221.
Hegels geistphilosophische Verankerung des Organismusgedankens
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Gesetzesbegriff) geleitete Konzeptualisierung des Organischen alles andere als unproblematisch ausfällt. Das zunächst angegebene Gesetz, »daß das Äußere der Ausdruck des Inneren 171 ist« , lässt sich nämlich in keiner der möglichen Relationen von Innen- und Außenperspektive bewähren. Die Möglichkeit, im strengen Sinne Gesetze zu formulieren (bspw. im Sinne einer Notwendigkeitsbeziehung zwischen der Struktur des In-der-Veränderung-sich-selbst-Erhaltens und einem fixierten anatomischen System) scheitert an der strukturellen Inkompatibilität von Prozessualität und Statik, von Unruhe des Begriffs und ruhendem Sein sowie von vollkommenem In-sichReflektiert-Sein und quantitativer oder qualitativer Bestimmtheit. Und so gelangt Hegel zu dem überaus interessanten Befund: »Auf diese Weise geht dem Organischen die Vorstellung eines Gesetzes überhaupt verloren«172. Als Schlüsselproblem erweist sich durchgängig der Transfer von innerer begrifflicher Dynamik in ein notwendiges Bewusstseinsgesetz, wie Hegel speziell am Beispiel des Übergangs von Gattung in Arten erläutert. Reflexive Momente, wie sie sehr wohl z.B. am Orte der Gattung wahrnehmbar sind, sind zum Schluss v.a. deshalb nicht konsequent in begrifflich notwendige Formen und Systematisierungen zu übersetzen, weil einerseits die Allgemeinheit der inneren Struktur des In-der-Veränderung-sich-selbstErhaltens in sich keine notwendigen individuellen Bestimmtheiten enthält und andererseits deren faktischer Ausdruck in Gestalt individuellen Lebens durch im strengen Sinne innerweltliche nichtkonzeptualisierbare Kontingenzen mitbestimmt ist, mithin wieder ein Moment des Zufälligen enthält.173 Hinzu kommt ein weiteres: Adäquate Referenz des Bewusstseins im Sinne Hegels wäre ein Beobachtungskonvolut, »als ein zum Ganzen sich ordnendes Leben des Geistes, [...] wel174 ches als Weltgeschichte sein gegenständliches Dasein hat« . Allein, wie Hegel fast 175 lapidar festhält: »[D]ie organische Natur hat keine Geschichte« . Insofern diese entscheidende geschichtliche Dimension der Selbstvergewisserung des Bewusstseins entfällt und – wie gesehen – der innere Aufbau organisierter Strukturen ein bestimmungslogisches Defizit enthält und die äußere Artikulation 171 Hegel, PhdG, 202 (Hervorhebung i. Orig.) 172 Hegel, PhdG, 211 (Hervorhebung v. Vf.; i. Orig. z.T. hervorgehoben). Vgl. auch a.a.O.218: Dort heißt es: »[D]amit hört alle notwendige Beziehung ihrer auf diese Vielheit oder alle Gesetzmäßigkeit auf«. Vgl. auch a.a.O., 219: Dort spricht Hegel von einer »Vertilgung aller Gesetzmäßigkeit«. 173 »Die Gattung, welche sich in Arten nach der allgemeinen Bestimmtheit der Zahl zerlegt oder auch einzelnen Bestimmtheiten ihres Daseins, z.B. der Figur, Farbe usf. zu ihrem Einteilungsgrunde nehmen mag, erleidet in diesem ruhigen Geschäft Gewalt von der Seite des allgemeinen Individuums, der Erde, welches als die allgemeine Negativität die Unterschiede, wie sie dieselben an sich hat und deren Natur um der Substanz willen, der sie angehört, eine andere ist als die Natur jener, gegen das Systematisieren der Gattungen geltend macht. Dieses Tun der Gattung wird zu einem ganz eingeschränkten Geschäft, das sie nur innerhalb jener mächtigen Elemente treiben darf und das durch zügellose Gewalt derselben allenthalben unterbrochen, lückenhaft und verkümmert wird« (Hegel, PhdG, 224). 174 Hegel, PhdG, 225. 175 Hegel, PhdG, 225.
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durch zufällige Kontingenzen mitbedingt ist, ereignet sich die Dynamik und 176 Prozessualität organisierten Lebens in einer »geistlose[n] Weise« , in der sich das Bewusstsein nicht zu erkennen vermag. An dieser Stelle erfährt die von Hegel in Anspruch genommene Isomorphie von beobachteten und beschrieben Organsimen und Selbstbewusstsein ihre problematische Grenze. Darum kommt das Selbstbewusstsein als beobachtendes und beschreibendes Bewusstsein im Gegenüber der organisierten Natur nicht über den Standpunkt des Meinens hinaus. Und das meint nach Hegel: Es kommt allein zu »artigen Bemerkungen, interessanten Be177 ziehungen, freundlichem Entgegenkommen dem Begriff« ; nicht mehr. Das Reich des Organischen kann so auch unter konstruktivster Inanspruchnahme und Interpretation des Zweckgedankens nicht konsequent begrifflich konzeptualisiert werden. III.4
Organismus und Sittlichkeit
Es ist bekannt, dass sich der Geist nach Hegel mit diesem unbefriedigenden Ergebnis nicht beruhigt. Der Geist schreitet weiter. Das Negative bleibt die Triebkraft 178 des Lebens. Und: Die ›Phänomenologie‹ beschreibt es. Dem bei Kant aufgearbeiteten Duktus des Gedankens vergleichbar, sind auch den entwickelten Organismusreflexionen Hegels komplementär ethische Überlegungen eingeschaltet, die an die erarbeitete Gedankenklimax anknüpfen und in Brechung des gebrochenen Resultats den Bruch mit aber auch den Anschluss an Kant in moralphilosophischer Hinsicht kreativ wie konstruktiv verarbeiten. Die grösseren Einzeichnungen der Hegelschen Behandlung moralphilosophischer Probleme brauchen und können hier im Einzelnen nicht nachvollzogen werden. Zum einen, weil Hegel eine ›Ethik‹ im engeren Sinne nicht verfasst hat. Einschlägig sind in dieser Beziehung allerdings seine ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹. Dort verhandelt Hegel das Recht unter den systematischen Positionen von 179 Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte. Dies sind für Hegel intellektuelle Er176 177 178 179
Hegel, PhdG, 223. Hegel, PhdG, 226. Vgl. Hegel, PhdG, 442ff. Vgl. Hegel, GdPhdR, 90f.: »Wenn wir hier vom Rechte sprechen, so meinen wir nicht bloß das bürgerliche Recht, das man gewöhnlich darunter versteht, sondern Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte, die ebenfalls hierher gehören, weil der Begriff die Gedanken der Wahrheit nach zusammenbringt. Der freie Wille muß sich zunächst, um nicht abstrakt zu bleiben, ein Dasein geben, und das erste sinnliche Material dieses Daseins sind die Sachen, das heißt die äußeren Dinge. Diese erste Weise der Freiheit ist die, welche wir als Eigentum kennen sollen, die Sphäre des formellen und abstrakten Rechts, wozu nicht minder das Eigentum in seiner vermittelten Gestalt als Vertrag und das Recht in seiner Verletzung als Verbrechen und Strafe gehören. Die Freiheit, die wir hier haben, ist das, was wir Person nennen, das heißt das Subjekt, das frei und zwar für sich frei ist und sich in den Sachen ein Dasein gibt. Diese bloße Unmittelbarkeit des Daseins aber ist der Freiheit nicht angemessen, und die Negation dieser Bestimmung ist die Sphäre der Moralität. Ich bin nicht mehr bloß frei in dieser unmittelbaren Sache, sondern ich bin es auch in der aufgehobenen Unmit-
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scheinungen (Phänomenologien) des objektiven Geistes, also des Geistes, der sich in der sozialen Interaktion von selbstbewussten Subjektivitäten vergegenständlicht, also in seinem Sinne objektiviert. Objektiver Geist meint dabei nicht allein, dass sich der Geist – und wie gesehen war dies die crux, die das Organismuskapitel mit seinem Negativresultat ventiliert hat –, »auf eine äußerlich vorgefundene Ob180 jektivität bezieht« und dort keine adäquaten Möglichkeiten der begrifflichen Durchvergewisserung seiner selbst findet. Objektiver Geist heißt im eminenten Sinne, dass hier der Geist – wie es pointiert in der ›Enzyklopädie der philosophi181 schen Wissenschaften‹ heißt –, »auf dem Boden der Endlichkeit ist« , weil er sich in Sittlichkeit, Recht und (Welt-) Geschichte endliche wie unabschließbare Strukturen – eben im Sinne Hegels objektive Wirklichkeiten – geschaffen hat. Zum anderen ist eine ausführliche Erörterung der ethischen Grundgedanken Hegels nicht erforderlich, da insbesondere mit Blick auf die ethischen Implikationen ihres jeweiligen Zugriffs auf das Reich organisierter Lebewesen Kant und Hegel gar nicht so weit von einander entfernt sind. Dies bedarf allerdings der Erläuterung und sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass sich im Verständnis von Moralität und Sittlichkeit durchaus markante Unterschiede zwischen beiden Denkern zeigen. So begrüßt Hegel zwar einerseits grundsätzlich den hohen Stellenwert, den Kant dem Autonomie- resp. Pflichtgedanken einräumt. V.a. die Kantische Überzeugung, die Pflicht solle um ihrer selbst getan werden und ihre Verbindung mit eben dem Autonomiegedanken sind es, die Hegel ausdrücklich als Verdienste der praktischen Philosophie Kants hervorhebt:182 »Die Pflicht soll ich um ihrer selbst willen tun, und es ist meine eigenen Obtelbarkeit, das heißt ich bin es in mir selbst, im Subjektiven. In dieser Sphäre ist es, wo es auf meine Einsicht und Absicht und auf meinen Zweck ankommt, indem die Äußerlichkeit als gleichgültig gesetzt wird. Das Gute, das hier der allgemeine Zweck ist, soll aber nicht bloß in meinem Inneren bleiben, sondern es soll sich realisieren. Der subjektive Wille nämlich fordert, daß sein Inneres, das heißt sein Zweck, äußeres Dasein erhalte, daß also das Gute in der äußerlichen Existenz solle vollbracht werden. Die Moralität, wie das frühere Moment des formellen Rechts, sind beide Abstraktionen, deren Wahrheit erst die Sittlichkeit ist. Die Sittlichkeit ist also die Einheit des Willens in seinem Begriffe und des Willens des Einzelnen, das heißt des Subjekts. Ihr erstes Dasein ist wiederum ein Natürliches, in Form der Liebe und Empfindung: die Familie; das Individuum hat hier seine spröde Persönlichkeit aufgehoben und befindet sich mit seinem Bewußtsein in einem Ganzen. Aber auf der folgenden Stufe ist der Verlust der eigentlichen Sittlichkeit und der substantiellen Einheit zu sehen: Die Familie zerfällt, und die Glieder verhalten sich als selbständige zueinander, indem nur das Band des gegenseitigen Bedürfnisses sie umschlingt. Diese Stufe der bürgerlichen Gesellschaft hat man häufig für den Staat angesehen. Aber der Staat ist erst das Dritte, die Sittlichkeit und der Geist, in welchem die ungeheure Vereinigung der Selbständigkeit der Individualität und der allgemeinen Substantialität stattfindet. Das Recht des Staates ist daher höher als andere Stufen: es ist die Freiheit in ihrer konkretesten Gestaltung, welche nur noch unter die höchste absolute Wahrheit des Weltgeistes fällt« (Hervorhebungen i. Orig.). 180 Hegel, EPhW, III, §483, 303 (erste Hervorhebung i. Orig.; weitere Hervorhebung v. Vf.). 181 Hegel, EPhW, III, §483, 303 (Hervorhebung v. Vf.). 182 Vgl. dazu Kant, KpV, A154: »Pflicht! Du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen,
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Der organismische Lebensbegriff
jektivität im wahrhaften Sinne, die ich in der Pflicht vollbringe: indem ich sie tue, bin ich bei mir selbst und frei. Es ist das Verdienst und der hohe Standpunkt der Kantischen Philosophie im Praktischen gewesen, diese Bedeutung der Pflicht her183 vorgehoben zu haben« . Andererseits kritisiert Hegel das zentrale Prinzip der kantischen Moralphilosophie (eben den Pflichtgedanken als Ausdruck des praktischen Vernunftgesetzes) 184 als inhaltsleer und »leeren Formalismus« . Aus der Perspektive Hegels ist Kant mit seiner praktischen Philosophie auf halber Höhe stehen geblieben, weil er zwar ein abstraktes Prinzip der Moral entwickelt, aber den Weg hin bis zu dessen Objektivierung nicht konsequent weiter beschritten habe. Kants Pflichtformeln befinden sich für Hegel so ob ihrer Inhaltslosigkeit in einem notorisch sittlichen Leerlauf. Für Hegel ist pflichtgemäßes Handeln in Gegenlinie zu Kant ohne »einen besonde185 ren Inhalt und bestimmten Zweck« allein ein »Abstraktum« . Um die für ihn zentrale Differenz scharf heraus zu arbeiten, unterscheidet Hegel streng zwischen Moralität und Sittlichkeit. Moralität bezeichnet dabei die Strukturen der »reine[n] unbedingte[n] Selbstbestimmung des Willens«, kurz dessen »unendliche[] Auto186 nomie« . In deren gedanklicher Präzisierung folgt Hegel Kant und wie gesehen auch dessen Erhabenheits- und Pflichtenpathos. Sittlichkeit hingegen steht im Verständnis Hegels für den »zur vorhandenen Welt und Natur des Selbstbewußtseins 187 gewordenen Begriff der Freiheit« . Damit ist exakt die oben angesprochene Objektivierungsdimension des Geistes berührt, um deren Erschließung präliminarienhaft wie paradigmatisch auch das rekonstruierte Ringen Hegels um eine begriffliche Annäherung an das organismische Leben zu tun war. In der von Hegel weit ausgebreiteten materialen Sphäre des objektiven Geistes kann dieses Bestreben konkretisiert werden. Die Sittlichkeit erscheint hier nachgerade als der gelungene Versuch, reflexive Strukturen des Geis188 tes nicht in einem defizitär inhaltlichen, sondern in einem an »feste[m] Inhalt« erweisbaren Modus zu bewähren. Die Natur – im Zentrum des ›Organismuskapitels‹ als das Reich der organischen Lebewesen vorgestellt –, firmiert hier nicht als unlösbarer Problemfall auf dem Wege der Selbstvergewisserung und erschließung des Geistes. In den Einleitungsparagraphen seiner ›Rechtsphiloso-
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sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen« (i. Orig. z.T. hervorgehoben). Vgl. dazu Simon, Kant, 195. Hegel bezieht sich im Zuge seiner Kritik der Kantischen Moralphilosophie genau auf die zitierte Stelle (vgl. Hegel, GdPhdR, § 135, 253) und schließt sich der Rede vom Erhabenen der Pflicht an. Indes kritisiert er auch die von Kant gedachte Erhabenheit mit dem hier im Zentrum stehenden Argument der Inhaltslosigkeit, die seiner Meinung zufolge die von Kant apostrophierte Erhabenheit unterminiert. Hegel, GdPhdR, §133 (Zusatz), 251 (Hervorhebung i. Orig.). Hegel, GdPhdR, §135, 252 (Hervorhebung i. Orig.). Hegel, GdPhdR, §134, 251 (Hervorhebungen v. Vf). Hegel, GdPhdR, §135, 252. Hegel, GdPhdR, §142, 292. Hegel, GdPhdR, §144, 293 (Hervorhebung i. Orig.).
Hegels geistphilosophische Verankerung des Organismusgedankens
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phie‹ kann Hegel im übergehenden Übergang der Natur vielmehr geistige Objektivierung (der Inbegriff von Sittlichkeit Recht und Weltgeschichte) als die »Welt des Geistes« ansprechen, die (im Anschluss an Aristoteles) »aus ihm selbst hervor ge189 bracht, als eine zweite Natur ist« resp. als etwas, wie Hegel auch formulieren 190 kann, das »als unendliche Form konkrete Substanz« gewonnen hat. Das entscheidende Defizit der Moralphilosophie Kants besteht für Hegel also exakt darin, dass dieser zwar einen hochstufigen Standpunkt der Moralität etabliert, aber eben 191 nicht den Standpunkt der Sittlichkeit erreicht habe. Hinsichtlich der ethischen Implikationen, die die aufgearbeitete Theorie des Organismus anbelangen, sind die angezeigten fundamentalmoralphilosophischen Divergenzen jedoch weniger scharf im Ergebnis. Wie bereits angedeutet, sind die ethischen Kernimplikationen des jeweiligen Zugriffs auf das Reich organisierter Lebewesen bei Kant und Hegel ungleich. Worauf es ankommt ist dies: Ähnlich wie Kant – nur eben unter den Verdikten der hier in nuce dargestellten geistphilosophischen Konnotationen – ist es für Hegel die praktische Autonomie resp. die Freiheit, in der sich perspektivisch das Selbstbewusstsein dann als Geist nicht nur eine moralische, sondern wie Hegel auch schon der ›Phänomenologie des Geistes‹ zu verstehen gibt, eine eben »sittliche Welt«192 schafft.193 Damit ist keineswegs gesagt, dass Hegel und Kant in ihren vom Organismischen ausgehenden Anschlussreflexionen vollständig konvergieren. Im Gegenteil: Das von Hegel fast überscharf gezeichnete systematische Gefälle von reflexionslogischem Lebensbegriff und dessen Unbegreifbarkeit am Orte des organisierten Lebens steht so gleichermassen für eine Neubestimmung und -akzentuierung der bereits im Kontext der Kantischen Philosophie angetroffenen These, dass es in sich wenigstens problematisch ist, dem Lebendigen als Lebendigem eine ethische Qualität zuzuerkennen, da das organische Leben begrifflich nicht durchreflektiert werden kann. Beide Männer stimmen überein darin, dass sich der Verstand im Zugehen auf die Biosphäre bricht. Nur geht Kant in der Bewältigung der Brechung auf einen intuitiven Verstand und Hegel auf einen objektiven Geist. So gesehen stehen beide Denker für unterschiedliche Verstehbarkeitsdimensionen des organischen Lebens, die nur in einer Schlüsselthese zusammenfinden, aber sonst für gegenläufige Konfigurationen nicht nur im Zugriff auf das Leben, sondern auch im Verständnis von Philosophieren und Denken stehen.194 Festzuhalten bleibt dabei nicht zuletzt, dass sich jeweils im Überschritt oder im reflektieren189 Hegel, GdPhdR, §4, 46 (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. dazu Aristoteles, EN, 1152a32f.:»φημὶ πολυχρόνιον μελέτη ἔμενα, φίλε καὶ δή ταύτην ἄνθρώποισι τελειτῶσαν φύσιν εἷναι « (i. Orig. hervorgehoben, Hervorhebung hier v. Vf.) . Der Begriff der zweiten Natur erfreut sich auch in zeitgenössischen Debatten in einem nämlichen Sinne grosser Beliebtheit, z.B. bei John McDowell. 190 Hegel, GdPhdR, §144, 293 (i. Orig. z.T. hervorgehoben; Hervorhebung hier v. Vf.). 191 Vgl. dazu ausführlich Horstmann, Standpunkt der Sittlichkeit, 557ff. 192 Hegel, PhdG, 328 (i. Orig. hervorgehoben und Überschrift von A.a; Hervorhebung hier v. Vf.) 193 Vgl. dazu Sieb, Phänomenologie des Geistes, 206f. 194 Vgl. dazu Horstmann, Standpunkt der Sittlichkeit, 560ff.
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Der organismische Lebensbegriff
den Versuch der Überbrückung hin zu höherem Leben eine gedankliche Fuge aufgetan und entsponnen hat, die zu weiterem und konstruktiven Nachdenken Anlass gab. III.5
Resümee
In der Zusammenschau kann das Ergebnis des Organismuskapitels in der ›Phänomenologie des Geistes‹ als ein durchaus negatives bezeichnet werden. Es mag genau die scheinbare Erfolglosigkeit des beobachtenden Bewusstseins sein, die dazu geführt hat, dass das Organismuskapitel nicht die gleiche interpretatorische Aufmerksamkeit erfahren hat, wie der Kraftabschnitt oder die Auseinandersetzungen über Herrschaft und Knechtschaft im Selbstbewusstseinskapitel. Wird jedoch der skizzierte Hegelsche Standpunkt insbesondere auch noch einmal in allgemeiner Hinsicht vor dem Hintergrund der im vorangehenden Unterkapitel dieser Arbeit rekonstruierten Position Kants einer Relektüre unterzogen, so wird deutlich, dass Hegels theoretische Aufarbeitung des Lebendigen als Organismus sehr wohl einen nicht zu unterschätzenden Gedankenfortschritt repräsentiert. Der bei Hegel im Organismuskapitel alles entscheidende Fluchtpunkt besteht im Versuch, die v.a. von Kant gesehenen Probleme aber auch Chancen des Organismuskonzeptes schärfer zu fassen und die Grenzen einer allein am Organismusgedanken geleiteten Wissenschaft des Lebendigen klar zu benennen. In dieser Beziehung geht Hegel zunächst über Kant hinaus, indem er eine allein regulative Deutung lebendiger Wesen als Zweckstrukturen hinterfragt. Bekanntlich war Kant selbst mit seiner Lösung nicht vollends zufrieden.195 Und auch in der ihm folgenden Beurteilung hat sich seine Lösung als nicht durchgängig überzeugend erwiesen: »Hätte Kant mit diesem Begriff eines intuitiven Verstandes, sowie mit dem Begriff der immanenten Naturzweckmäßigkeit Ernst gemacht, so hätte er den Standpunkt des subjektiven Idealismus, welchen zu durchbrechen er in seiner Kritik der Urteilskraft mehrfache Anläufe macht, im Prinzip überwunden: so aber hat er jene Idee nur hingeworfen und die positive Ausführung derselben seinen 196 Nachfolgern überlassen« . Indem Hegel feststellt, dass Zweckreflexionen für das Bewusstsein zunächst »in 197 einen anderen Verstand« fallen, knüpft er genau an dieser Stelle an. Allerdings bemüht sich nach Hegel die Vernunft eben diesen anderen Verstand wieder zum Gegenstand ihrer Reflexion zu machen und erkennt, dass diese Reflexionsmomente eben reale Bestandteile nicht eines anderen Verstandes sondern ihres Abarbeitens am Reich des Lebendigen repräsentieren. Insofern kann Hegel das Problem 195 Wie v.a. auch das ›opus postumum‹ zeigt, suchte Kant dort eben nach nicht nur regulativen, sondern nach konstitutiven Prinzipien der Wissenschaft vom Lebendigen (Vgl. Tuschling, Intuitiver Verstand, 174) 196 Schwegler, Philosophie im Umriss, 156. 197 Hegel, PhdG, 200.
Hegels geistphilosophische Verankerung des Organismusgedankens
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neu und anders akzentuieren. Damit – und dann steht Hegel der Kantschen These von der Unmöglichkeit eines Newtons des Grashalmes zwar nahe (allerdings auch unter anderen Vorzeichen insofern Hegel nicht die Kausal- sondern die Zweckreflexion meint) – sind diese Momente zwar reflexiv verfasst, insofern die Vernunft dort Spuren von Reflexivität und reflexive Figuren wie Arten oder Gattungen ausmachen kann. Aber wie gesehen entziehen sie sich trotz ihres reflexiven Potentials einer durchgängigen reflexiven Bestimmung durch die Vernunft. Dies betrifft nach Hegel sowohl naturwissenschaftliche als auch metaphysische Ansätze. Indem er v.a. die ihm zeitgenössische Biologie vor Augen hat, verneint er die Möglichkeit einer Durchbestimmung des Lebendigen in Gattungen und Arten. Das Charakteristische des Lebendigen zeigt sich für ihn primär am Individuellen, das sich dann im weiteren Fortgang der ›Phänomenologie‹ als selbstbewusster und subjektiver Geist fortbestimmt. Die angetroffenen Systematisierungen zu Arten und Gattungen repräsentieren immer Ordnungsversuche, die nach Hegel notorisch mit dem Makel des Zufälligen behaftet sind und deshalb gesetzmäßige Notwendigkeit nicht beanspruchen dürfen. Ähnliches gilt für das Postulat einer Geschichte des organischen Lebens. Den Versuch einer lückenlosen systematischen Evolutionsgeschichte des Lebens hält Hegel insofern für abwegig, weil sich notwendige geschichtliche Entwicklungen von einer Stufe auf die andere im komplexen Reich des Lebendigen keinesfalls durchgängig erheben lassen.198 Die negative Limesziehung enthält indes auch ein im Sinne Hegels positives Moment. Dies konvergiert mit der rekonstruierten Grundlegung eines reflexionslogischen Lebensbegriffes. Dieser beschrieb eine Prozessualität des Lebens, die darin besteht, dass das Leben als reflexive Identitätsstruktur in der Bezugnahme auf einzelnes Sein seine Selbstidentität durchbricht, insofern es sich auf Einzelnes bezieht, einzelne Perzeptionsgehalte in sich aufnimmt, Differenzmomente in sich selbst einträgt, sich aber durch diese hindurch neukonstituiert, indem qua Differenzmomente eine interne Strukturierung der reflexiven Identitätsstruktur erfolgt, es sich darin also selbst erhält. Am Orte organisierter Lebewesen taucht dies in Gestalt der inneren Struktur des In-der-Veränderung-sich-selbst-Erhaltens wieder auf. Dieser reflexionslogische Lebensbegriff lässt sich – wie gesehen – zwar am Orte organisierter Lebewesen nicht vollständig bewähren, treibt aber so in der Erfassung des Lebendigen weiter zum vernünftig-selbstbewussten Leben, das ob seiner unendlichen Reflexionsbezüge und Systematisierungskompetenzen weit mehr adäquater Gegenstand der Selbstvergewisserung der Struktur Intelligenz ist. Zwar 198 Vgl. Lefèvre, Schwäche des Begriff der Natur, 164. Lefèvre mach in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die von Hegel benannten Grenzen des Organismuskonzeptes auch gegen ihn selbst gewendet werden können. Sie stehen so gesehen gleichsam für die Grenzen seiner spekulativen Theorie, die eine durchgehende Systematisierung des Naturganzen eben schlicht nicht zulässt: »Man kann das natürlich auch anders sehen und sagen, daß die Welt der Lebewesen auf der Ebene der Ordnung Hegel die Grenze seiner pantheistisch theologischen Theorie des Organischen aufzeigte. Aber man muß zugleich anerkennen, daß Hegel diese Grenze gesehen und [...] keinen Versuch unternommen hat, sie zu überspielen« (a.a.O., 164f.).
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Der organismische Lebensbegriff
kann sich das Selbstbewusstsein produktiv am organisierten Leben abarbeiten. »Das seiner selbst bewußte Subjekt erkennt in den Organismen als denjenigen Weltwesen, die dem Menschen am verwandtesten sind, Vorprägungen seiner 199 selbst« . Aber es verbleibt nach Hegel dort ein nicht einzuholendes Defizit. Leben lässt sich im Vollsinne eben nur anhand seiner höchsten Formen, und das meint nach Hegel immer anhand des Selbstbewusstseins explizieren. Allein die Subjektivität ist es entsprechend auch, die zum Schluss organisierten Gebilden einen Wert (in der ›Phänomenologie des Geistes‹ in allerdings sehr unspezifischem Sinne) ver200 leiht. Wie bei Kant – nur eben unter geistphilosophischen Vorzeichen im Hegelschen Sinne – ist es die praktische Autonomie resp. die Freiheit in der sich per201 202 spektivisch das Selbstbewusstsein dann als Geist eine »sittliche Welt« schafft. Damit ist aber der Bereich der das organismische Leben betreffenden Vorstellungen bereits überschritten. Hegels Behandlung der Natur im Allgemeinen und die des organischen Lebens in specialiter hat große Wirkungen entfaltet. So gilt es als das bleibende Verdienst seines spezifischen Zugriffs, dass er mit dem konstruktiven Gebrauch der dynamischen Struktur Intelligenz (Geist) statisch geprägte Vorstellungsmuster der Naturphilosophie zersprengt hat. Indem er so primär Übergänge von Kräften und Bewegungen und nicht einzelne Dinge fokussiert, steht die Theorie Hegels für eine nicht zu verachtende Reflexion der epistemologischen Verfasstheit der Natur.203 Auf der anderen Seite ist auch darauf hinzuweisen, dass die (spekulative) Naturphilosophie Hegels, wie sie in der ›Phänomenologie des Geistes‹ erstmals konzentriert ausgesprochen und dann v.a. in der ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ 204 »reich entwickelt[]« wurde, im Gefolge der Identitätskrise der Philosophie um 205 1830 ebenfalls massiv in die Kritik geriet. Mehr noch: Es kann gesagt werden, dass die zunehmende wissenschaftliche Diskreditierung des Idealismus (insbesondere der Philosophie Hegels) sich deren extremen naturphilosophischen Positio-
199 200 201 202 203 204 205
Düsing, Naturteleologie, 157. Vgl. Hegel, PhdG, 250. Hegel, PhdG, 328 (i. Orig. hervorgehoben und Überschrift von A.a.). Vgl. dazu Sieb, Phänomenologie des Geistes, 206f. Wahsner, Kritik der Hegelschen Naturphilosophie, 57. Lefèvre, Schwäche des Begriff der Natur, 160. Herbert Schnädelbach bezeichnet an dieser Stelle mit dem durchaus doppeldeutigen Ausdruck Identitätskrise den Sachverhalt, dass die bis dahin im Kanon der Wissenschaften übermächtige Philosophie (insbesondere in Gestalt der großen idealistischen Systeme, wie sie Fichte, Schelling und eben Hegel entwickelt hatten) nach dem Tode Hegels im Jahre 1831 mehr und mehr an Evidenz verlor. Dies hat sich zunächst in einem Auseinanderdriften von Natur- und Geisteswissenschaft bemerkbar gemacht und sich in der deutschen Wissenschaftslandschaft dergestalt ausgewirkt, dass ab etwa 1830 ein Mentalitätsumschwung zugunsten der empirischen Naturwissenschaften erfolgte. Sozialgeschichtlich ist dabei jener Mentalitätsumschwung wesentlich durch die ersten Industrialisierungsschübe in Deutschland motiviert (vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, 18 u. 102f.)
Lotze und der Wert des Lebens
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206
nierungen verdankte. Die Vorsicht, die sich im Negativresultat des Organismuskapitels der ›Phänomenologie‹ ausspricht, hat Hegel nicht davon abgehalten, ein umfassendes System der Natur zu entwerfen, das mit einigen extremen Thesen mehrheitlich Verwirrung und auch Spott auslöste. An dieser Stelle empfiehlt es sich daher, einen Blick auf Lotzes spezifische Konzeptualisierung des Organismus und des Lebens zu werfen. Denn es sind nicht zuletzt Herausforderungen der Hegelschen Philosophie gewesen, die Lotze zur Ausarbeitung einer eigenen Position motiviert haben. Lotze geht es dabei wesentlich um Zweierlei: einmal um die Eliminierung von empirieinadaptiblen spekulativen Anteilen des Lebensbegriffes und zweitens das Herausstellen einer spezifischen Wertdimension des Lebens. Mit beidem war er – und viele seiner Zeitgenossen – der Überzeugung, Schwächen der (Natur-) Philosophie Hegels überwunden zu haben.207
IV. Lotze und der Wert des Lebens IV.1
Einleitung
Wilhelm Windelband hat die erste Epoche der nachidealistischen Philosophie des 208 19. Jhs. unter anderem mit der Phrase »der Kampf um die Seele« apostrophiert. Gemeint ist damit eine mit dem rapiden Bedeutungsverlust des spekulativen und metaphysischen Denkens einhergehende Emanzipationsbewegung von Seiten der Psychologie, die das Wegbrechen einer metaphysischen Basis zunehmend durch einen Rekurs auf empirische Untersuchungen zu substituieren suchte. Das Ergebnis dieser Bestrebungen waren psychologische Theorien, die sich zunehmend als rein empirische Wissenschaft resp. als Teilbereich aufstrebender naturwissenschaftlicher Disziplinen, wie Biologie oder Medizin, verstanden. Gleichzeitig begaben sie sich damit in scharfe Konkurrenz mit entsprechenden spätidealistischen Theorieanläufen, die sich z.T. energisch gegen eine vollständige Auflösung der Psychologie in den Bereich der Naturwissenschaften stemmten.209 Indes ist das mit dem Windelbandschen Ausdruck Kampf angezeigte Konkurrenzsyndrom nicht nur für die Psychologie oder Seelenlehre typisch. Es liegt zwar auf der Hand, dass sich angesichts einer vermeintlichen oder tatsächlichen Über206 Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, 20f. 207 »Man darf mit vollem Rechte sagen: Lotze hatte Hegel überwunden« (Caspari, Hermann Lotze, 9 [i. Orig. z.T. gesperrt]). 208 Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 547. 209 Zum Begriff des Spätidealismus vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, 237. Schnädelbach nennt Christian Hermann Weiße, Immanuel Hermann Fichte und Hermann Lotze als gewichtigste Vertreter einer »spätidealistische[n] Metaphysik« (a.a.O.). Vgl. auch Hasler, Beherrschte Natur, 176f.: Hasler gebraucht ebenfalls den Ausdruck Spätidealismus und zählt wie Schnädelbach auch Weiße, Fichte und Lotze zu den gewichtigsten Vertretern dieser Denkrichtung.
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Der organismische Lebensbegriff
dehnung des Subjektivitätsparadigmas primär die Psychologie als Arbeits- und Angriffsfläche ergab. Aber die diesbezüglichen Destruierungsambitionen führten relativ schnell zu dem Resultat, dass sich eine fundierte Kritik der Subjektivität gleichzeitig an einer daneben stehenden Auffassung des Lebensbegriffes abzuarbeiten habe. Ein ähnliches Ringen wie um die Seele lässt sich also gleichfalls in Bezug auf die Wissenschaft vom Leben erkennen. Hier waren es in erster Linie die rasanten Fortschritte und Erfolge auf dem Feld der Medizin, die in diagnostischer und therapeutischer Absicht alle Erscheinungen des Lebens als biochemische oder biophysikalische Prozesse interpretierten. Der Kampf um die Seele wiederholte sich geradezu zwangsläufig als ein Kampf um das Leben. Es kann als ein Verdienst Rudolf Hermann Lotzes gelten, diese Aufgabe erkannt und bearbeitet zu haben. Und kaum einer seiner Zeitgenossen dürfte in Bezug auf diese Aufgabe so qualifiziert wie Lotze gewesen sein. Lotze war ebenso promovierter Mediziner wie auch ausgebildeter Philosoph. Entsprechend zielte sein Denken darauf, beide Interessenschwerpunkte, die im intellektuellen Klima seiner Zeit scharf konkurrierten, miteinander in Einklang zu bringen. Dabei verwahrte sich Lotze strikt gegen jede einseitige Verkürzung von empirischer Naturwissenschaft oder philosophischem Denken. Es ist erklärtermaßen Ziel des Lotzeschen Philosophierens, einer Verengung menschlicher Selbst- und Wirklichkeitserfahrung auf mechanistisch erklärbare Gesetzmäßigkeiten entgegenzuwirken, ohne jedoch zugunsten einer »Philosophie der Philosophie«210 die Ergebnisse moderner Naturwissenschaft zu bagatellisieren. Dieser wissenschaftliche habitus schlägt auch und insbesondere im Kontext der Lotzeschen Lebens-Theorie durch. Das Ergebnis dieser Anstrengungen war, wie wiederum Wilhelm Windelband 211 feststellte, ein außerordentlich »reifes Verständnis des Lebens« . In diesem Zusammenhang gelten zunächst Lotzes Ausführungen aus der ›Allgemeinen Physiologie des köperlichen Lebens‹ von 1851 neben seinem zuerst 1843 in Rudolf Wagners Handwörterbuch der Physiologie als Einleitung abgedruckten Artikel ›Leben und Lebenskraft‹ als die einschlägigen Grundtexte. Ziel dieser Ausführungen ist es 212 – wie Lotze selbst festhält –, eine »eine allgemeine Anschauung des Lebens« zu erarbeiten. Im Folgenden soll zunächst nachvollzogen werden, wie und mit welchen Argumenten Lotze sich von den ihm vorgängigen Theorielagen – das ist v.a. die Philosophie Hegels, der zeitgenössischen Vitalismus sowie das OrganismusKonzept der älteren Naturphilosophie – distanziert. Im Anschluss daran ist in Augenschein zu nehmen, welche methodischen Vorbedingungen Lotze für seine positive Lebens-Theorie verpflichtend macht, um daraufhin einen Blick auf Lotzes wissenschaftstheoretische Grundentscheidung zu werfen. Dem soll eine Rekonstruktion des theoretischen Kerns der, wie Lotze selbst sagt »Theorie […] der Lebens-
210 Lotze, Met. (1841), §1, 2. 211 Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 556. 212 Lotze, APdKL, V.
Lotze und der Wert des Lebens
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213
erscheinungen« folgen, die mit einer Inaugenscheinnahme der ethischen Implikationen und einem Ausblick abgeschlossen wird. IV.2
Die Kritik an Hegel, am Vitalismus und an der älteren Naturphilosophie
Will man Lotzes Theorie des Lebens adäquat begreifen, so ist es geboten, zunächst in Augenschein zu nehmen von welchen alternativen Konzepten sich Lotze kritisch distanziert. Dies sind für ihn in erster Linie die Naturphilosophie Hegels, der Vitalismus sowie das Organismuskonzept der älteren Naturphilosophie. Eine Analyse der Lotzeschen Distanznahmen ist nicht nur insofern Erfolg versprechend, weil sich Lotze an dieser Stelle von konkurrierenden Modellen kritisch abgrenzt, sondern auch darum, weil die differenzierte Diskussion alternativer Theorielagen implizit schon immer durch die von Lotze angestrebte Lösungsperspektive gesteuert ist. Durch die Kenntnisnahme der kritischen Vorbehalte können immer auch schon wichtige Hinweise für die Wahrnehmung der ausgeführten Theorie gesammelt werden. IV.2.1
Die Kritik an Hegel
Lotzes Kritik der Naturphilosophie Hegels, mithin auch seiner Theorie des Lebens ist so vernichtend wie formal und pauschal. Dies hat auf der einen Seite mit Lotzes spezifischem wissenschaftlichem Profil zu tun. Lotze war eben auch Naturwissenschaftler, und diese naturwissenschaftliche Bildung ist es gewesen, die weite Teile v.a. der späten Naturphilosophie Hegels für ihn uninteressant gemacht hat. So notiert Lotze rückblickend: »Das Studium der Medicin, das ich mir als Lebensberuf gewählt hatte, führte die Nothwendigkeit naturwissenschaftlicher Belehrung und damit ohne Weitläufigkeit die Einsicht in die völlige Unhaltbarkeit eines großen Theiles der Hegelschen Ansichten oder vielmehr des Ganzen in der Form, die ihnen gegeben war, mit sich«214. Insofern kann es als eines der entscheidenden Verdienste der Lotzeschen Theorie des Lebens gesehen werden, dass er konsequent um eine konstruktive Integration der positiven Resultate der zeitgenössischen exakten Naturwissenschaften bemüht war. Indem er genau dies bei Hegel vermisste, hat er in seiner ›Geschichte der deutschen Philosophie seit Kant‹ die Naturphilosophie Hegels als »ein völlig mißrathenes, daher auch ganz wirkungslos gebliebe215 nes Glied des Systems« bezeichnet. Daneben steht auch eine inhaltliche Einrede, und zwar betrifft diese Grundannahmen der Ontologie Hegels, die Lotze ausführlich kritisiert hat. Gegenstand der Auseinandersetzung sind in erster Linie die einleitenden Paragraphen der Hegelschen ›Logik‹. Vorwiegend richtet sich Lotze dabei gegen den Gedanken eines rei213 Lotze, LLK, 142. 214 Lotze, SS, 7. 215 Lotze, Geschichte der Philosophie seit Kant, §54, 69.
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Der organismische Lebensbegriff
nen resp. absoluten Seins. Am Anfang seiner ›Logik‹ hatte Hegel bekanntlich das 216 Wesen des Seins als »Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung« exponiert. Der Begriff des Seins kommt also in seiner ersten Vorstelligkeit in einer scheinbar absoluten Bestimmungs- und Beziehungslosigkeit zum Stehen, die im Horizont der weiterführenden Theorie allein den Ausgangspunkt des Selbstbestimmungsprozesses des Begriffs bildet, der schließlich im Theorem der absoluten Idee gipfelt. Das so im Grunde ganz unmittelbar gesetzte leere Sein ist zunächst 217 218 nur eine »unbestimmte Unmittelbarkeit« , »reine Unbestimmtheit und Leere« , 219 resp. »reflexionslose[s] Sein« , das erst im dialektischen Ineinander mit dem ebenso bestimmungslosen Nichtsein durch die komplexe wie komplizierte dialek220 tische Bewegung des »unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen« mit einer weiteren Bestimmung, der des Werdens, angereichert wird. Mit dieser wesenslogischen Elementarexposition, so die ganz unorthodoxe Kritik Lotzes, hat Hegel einen bestimmungs- und beziehungslosen Seinsbegriff etabliert, der in seiner Seinshaftigkeit schlicht nicht verifizierbar ist. Das heißt Lotze moniert, dass der an angezeigter Stelle entwickelte Seinsbegriff weder über raum-zeitliche Indikationen verfügt, noch auf irgendeine Weise auf andere Entitäten wirken oder von ihnen Wirkungen entgegennehmen kann, sondern – wenn überhaupt – in einer nicht überprüfbaren Beziehung mit sich selbst steht. Außerdem rücke Hegel, so Lotze weiter, mit diesem Ausgang den Begriff des Seins in zwar durchaus beabsichtigte aber dennoch unzulässige Nähe zum Nichtsein. Die von Hegel intendierte Entgegensetzung des unmittelbaren Seins und unmittelbarem Nichtsein ist für Lotze nichts anderes als eine gedankliche Leerstelle. Denn dadurch wird für ihn die Differenz zwischen Seiendem und Nichtseiendem wenigstens nivelliert, wenn nicht gar verwischt. Und so resümiert Lotze: »Folglich ist die Definition, welche das Sein als ›beziehungslose Position‹ darstellt, so unvollkommen, daß sie zugleich das Gegentheil des zu Definierenden mit umfaßt; und sie bedarf einer Correction«221. Methodisch betrachtet wendet Lotze in Bezug auf Hegel in letzter Instanz eine Formalkritik an, die, indem sie bei beiden Setzungen einen absoluten Setzungsakt erkennt, die hieraus folgende prinzipielle Beziehungslosigkeit des Seinsbegriffs als entscheidendes Defizit aufdeckt. In beiden Fällen fungiert als Leitgedanke der Kritik ein implizit vorausgesetztes Beziehungstheorem, das Lotze weder im einen noch im anderen Fall argumentativ eingelöst sieht. Für Lotze erschließt sich dann der Begriff des Seins eben nicht in einer absoluten und beziehungslosen Setzung eines reinen Seins, sondern er denkt an einen relationalen und in sich dynami216 217 218 219 220 221
Hegel, WdL I, 82 (Hervorhebung im Orig.). Hegel, WdL I, 82. Hegel, WdL I, 82. Hegel, WdL I, 82. Hegel, WdL I, 83. GdM1, §11, 11 (im Orig. z.T. gesperrt); Lotze betont in diesem Zusammenhang ausdrücklich, daß er sich an dieser Stelle nicht mehr in Opposition zu Herbart bewegt, sondern sich gegen die Hegelsche ›Logik‹ wendet.
Lotze und der Wert des Lebens
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schen Seinsbegriff. Darum hält er es für angebracht, sowohl den Begriff eines »rei222 ne[n] Sein[s]« , als auch die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe von Position und Affirmation aus dem Kreis möglicher Seinskategorien auszuschließen. Diese Begrifflichkeiten erhellen in seinen Augen nicht den wahren Charakter des Seins, sondern sie verschleiern ihn vielmehr. »Und deshalb«, so fasst er zusammen, »wäre es […] ein Vortheil, aus der Betrachtung des Seins die Ausdrücke 223 der Bejahung Position oder Setzung zu verbannen« . Es ist indes nicht sicher, ob Lotze mit dieser Kritik tatsächlich Hegel trifft. Denn wird die Einleitung der Hegelschen ›Logik‹ auf ihre ontologischen Prämissen hin konzentriert, so ist es doch der Gedanke des Werdens, der als ontologische Leitkategorie in den Vordergrund rückt. Von hier aus gesehen bleibt es fraglich, ob Lotze den methodischen status der Einleitung zu Hegels ›Logik‹ sachgerecht eingeschätzt hat. Für Lotze hat sich damit allerdings eine weitere Beschäftigung mit Hegel in dieser Sache weitgehend erledigt. IV.2.2
Die Kritik am Vitalismus
Unter Vitalismus werden im allgemeinen diejenigen Theorielagen verstanden, die in den Erscheinungen des Lebens autonome Seinsgebilde erblicken, die nur aus einem besonderen, irreduziblen Prinzip heraus erklärbar sind, und die aus dieser Einsicht entsprechende seinsmetaphysische, wissenschaftstheoretische und forschungstechnische Konsequenzen ziehen, die auch dessen Erlebnisdimension mitberücksichtigen.224 Damit übereinstimmend wird zwischen einer ontologischen, einer epistemischen und einer methodologischen Hinsicht des Vitalismus unterschieden. In ontologischer Hinsicht geht der Vitalismus davon aus, dass sich Lebensphänomene aus grundsätzlich anderen Kräften und Substanzen speisen als die Erscheinungen der unbelebten Natur. Daraus folgt die epistemische These, dass die Sphäre des Lebendigen nicht adäquat mithilfe physikalisch-chemischer Erklärungen erschlossen werden kann. Und in methodologischer Hinsicht endlich bedeutet dies, dass die Methoden der anorganischen Naturwissenschaften im Hinblick auf belebte Strukturen nicht angemessen sind. Seine Wurzeln hat der Vitalismus bereits in der Aristotelischen Philosophie, genauer in der bereits oben skizzierten Seelenlehre. Der so genannte ältere Vitalismus kommt Mitte des 18. Jh auf.225 Zu denken ist hier zunächst an Caspar Friedrich Wolf und dessen Lehre von der vis essentialis oder an Johann Friedrich Blumen-
222 MK III, 467. 223 MK III, 473. 224 Zum folgenden vgl. Driesch, Vitalismus als Geschichte, 40ff.; vgl. dazu auch Tsouypoulos, Vitalismus, 1076ff.; Wildfeuer, Vitalismus, passim; Wolters, Vitalismus, 552. 225 Die bis heute übliche Unterscheidung zwischen älterem und neuerem Vitalismus geht auf Rudolf Virchow und dessen 1856 erschienenes Werk ›Alter und neuer Vitalismus‹ zurück.
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Der organismische Lebensbegriff 226
bach und seine Theorie der vires vitales. Im Gefolge der aufblühenden Naturphilosophie des späten 18. und frühen 19. Jhs. gewinnen vitalistische Theorien schnell an Fahrt wie Boden, und insbesondere die Vorstellung einer allen Erscheinungen des Lebens zugrundeliegenden Lebenskraft erhält zunehmend Anhänger. Es ist denn auch exakt das Lebenskraft-Theorem, mit dem sich Lotze kritisch auseinandersetzt und in dieser Beziehung erweist er sich neben Claude Bernard als 227 einer der subtilsten und harnäckigsten Kritiker des Vitalismus. In seinem schon benannten und vielbeachteten Aufsatz ›Leben – Lebenskraft‹ (1842) sowie teils gleichlautend in seiner Schrift ›Allgemeine Physiologie des Körperlichen Lebens‹ (1851) hat Lotze seine Kritik am Vitalismus am deutlichsten zum Ausdruck gebracht. Wichtig sind für ihn dabei insbesondere drei Namen: Johann Christian Reil, Gottfried Reinhold Treviranus und Johann Heinrich Ferdinand von Auten228 rieth. Reils vitalistische Lebensstofftheorie erklärte die Lebenskraft in Analogie 229 zur Kristallbildung als eigenständigen in sich zweckmäßigen Bildungstrieb, Treviranus ging von einer allem Lebendigen zugrundeliegenden indekomponiblen Lebensmaterie aus und Autenrieth vertrat die Annahme einer imponderabilischen 230 Kraft, die zur Materie hinzutretend die Erscheinungen des Lebens konstituiert. Dergestaltige vitalistische Konstruktionen sind für Lotze allerdings nichts anderes als »die phantastischen Versuche, aus ganz eingenthümlichen Principien die 231 Fülle der Lebensprocesse zu construieren« . Der Gewinn diesbezüglicher Theorieanläufe liegt für Lotze »mehr in der ästhetischen Aufregung und Belebung der Phantasie […], die ihren Gegenstand eben nicht fasst, sondern ihn beständig in geheimnisvolles Dunkel zurückweichen sieht, als dass sie aus einer wirklichen Auf232 hellung der zum Stehen gebrachten Erscheinung entspränge« . Freilich bringt Lotze Verständnis dafür auf, warum die Annahme einer Lebenskraft als vitalistisches Kardinalprinzip in der Wissenschaftsgeschichte, und insbesondere in der für ihn jüngsten, immer wieder so lebhafte Konjunktur erfahren hat. Einen Hauptgrund dafür erblickt er in der dem menschlichen Geiste subsistierenden Ablehnung, »die einzelnen Erscheinungen des Lebens stückweis aus dem Zusammen226 Vgl. Driesch, Vitalismus als Geschichte, 43 und 54. 227 Vgl. Driesch, Vitalismus, 115: »H. Lotzes Artikel Leben und Lebenskraft im ersten Bande von Wagners Handwörterbuch der Physiologie (Braunschweig 1842) ist aller Kritiken des Vitalismus gediegenste«. 228 Neben den genannten Denkern gelten als massgebliche Vertreter des älteren Vitalismus auch Marie François Xavier Bichat, Albrecht von Haller, Alexander von Humboldt, Justus von Liebig, Johannes Müller, Lorenz Oken, Arthur Schopenhauer und Rudolf Wagner. 229 Vgl. dazu unter C II.1. 230 Vgl. Driesch, Vitalismus als Geschichte, 43. Achim Stephan hat die streitbare These vertreten, dass Reil im engeren Sinne nicht als Vitalist, sondern als Emergenzialist anzusprechen sei. In seiner Abhandlung ›Von der Lebenskraft‹ (1796) vertritt Reil demnach in erster Linie Thesen, die für einen emergenztheoretischen Standpunkt typisch sind. Vgl. Stephan, Johann Christian Reils relationale Naturlehre, 265–295. 231 Lotze, Selbstanzeige Allgemeine Physiologie, 513. 232 Lotze, Selbstanzeige Allgemeine Physiologie, 513 (i. Orig. teilw. gesperrt).
Lotze und der Wert des Lebens
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treffen bald dieser, bald jener Bedingungen entstehen zu sehen« und einem dem korrespondierenden Verlangen, »alle Einzelheiten, die sich zu dem bedeutsamen Bilde des Lebens verflechten, auch als ein Ganzes von einem einzigen wirklichen 233 Mittelpunkt ableiten zu dürfen« . Allerdings, so Lotze, ist die Annahme einer Lebenskraft in Wahrheit höchst irreführend und in sich problematisch. Zwar ist sie prima facie in der Lage, den Bereich des Lebendigen als autonome Sphäre des Seienden einzukreisen und die differenten Erscheinungen des Lebens gewissermaßen lückenlos miteinander in Beziehung zu setzen. Aber die damit in Kauf genommene Vereinheitlichung sowie die radikale Isolierung der Sphäre des Lebens repräsentieren für Lotze gleichermaßen die entscheidenden Schwächen des Lebenskraft-Theorems. Denn die Annahme einer Lebenskraft erweist sich erstens als untauglich, der Binnendifferenziertheit der Lebenserscheinungen gerecht zu werden. Es ist nämlich nur schwer vorstellbar, dass sich ein und dieselbe Lebenskraft in den so unterschiedlichen Erscheinung des Lebens identisch realisierte. Vielmehr wären im Hinblick auf die verschiedenartigen Gestalten und Formen des Lebens auch differente Gestalten der subsistierenden Lebenskraft anzunehmen und damit würde der erhoffte Einheitsaspekt per se hinfällig werden.234 In seinem Aufsatz ›Leben – Lebenskraft‹ hat Lotze dieses Argument durch eine für ihn typische methodische Maxime untermauert. Demnach hält es Lotze grundsätzlich für ein wissenschaftlich problematisches Vorgehen, Realphänomene allein monokausal abzuleiten. Diesen forschungstechnischen Grundsatz bezeichnet Lotze auch als den »Satz der 235 vielen Ursachen« . Diesen Satz der vielen Ursachen erklärt Lotze auch für die wissenschaftliche Erschließung des Lebensbegriffs als verpflichtend: »Wie man auch ein solches Realprincip des Lebens bestimme, ob als Lebensmaterie, Lebensgeist, Lebenskraft, Seele oder als Lebensprincip überhaupt: nie wird sich daraus das geringste folgern lassen, wenn man nicht dem Satz der vielen Ursachen sein Recht gibt und noch die anderen Ursachen hinzusucht, welches jenes überall glei236 che Princip durch ihre Verschiedenheit zu verschiedenen Wirkungen bringen« . Ein Realprinzip aller Lebenserscheinung aufzufinden ist demnach nicht möglich 237 und nicht zu erwarten.
233 Lotze, APdKL, §3, (23), 28. 234 Dieses Argument macht Lotze insbesondere gegen Treviranus stark, dem er bescheinigt, »er konnte von dieser Identität nicht zurück zu den mannigfaltigen Gestalten« (Lotze, LLK, 157). Vgl. auch Lotze, APdKL, §3, (23), 28: »Jede beruht auf ihrem Triebe, dem Bildungstrieb der Gesteine ist der des Lebendigen, dem Triebe des Thierlebens die Lebenskraft der Pflanze fremd und je bestimmter wir jede dieser Mächte als eine abgeschlossenen Einheit fassen, desto mehr wird uns der Boden der Vergleichung entzogen für die Zusammenhänge, die zwischen den Thätigkeiten verschiedener Gruppen stattfinden«. 235 Lotze, LLK, 147 u. 155. 236 Lotze, LLK, 147. 237 Vgl. Lotze, LLK, 158: »So rächt sich der Satz von den vielen Ursachen an der falschen Annahme eines einzigen Princips«.
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Der organismische Lebensbegriff
Hinzu kommt ein weiteres: Denn zweitens, so argumentiert Lotze, ist es mitnichten so, dass lebendige Systeme tatsächlich autonom und unabhängig vom Bereich des Unbelebten bestehen würden. Vielmehr lassen sich schon bei äußerst oberflächlicher Betrachtung mannigfaltigtigste Verflechtungen zwischen den Bereichen des Lebendigen und des Unlebendigen wahrnehmen: »[J]edes Geschöpf hat entweder materielle Grundlagen seiner Existenz aus einer ihm fremden Welt zu entlehnen, oder Bedingungen seiner Entwicklung in Gestalt mannigfacher Reize von ihm zu erwarten. Nie hat man daher den Begriff eines Triebes in dieser Abgeschlossenheit festzuhalten vermocht, oder ihn anzuwenden gewusst, aber aus dem Versuche, ihn mit der Forderung einer Erregbarkeit von aussen oder einer Wirkungsfähigkeit nach aussen zu vermitteln, sind Vorstellungsweisen hervorgegangen, welche nothwendig mit der gänzlichen Auflösung des Begriffes selbst endigen müssen«238. Das heißt, sowohl die anerkannte Reizbarkeit lebender Systeme als auch deren Fähigkeit auf den Bereich des Unbelebten zu reagieren, bilden für Lotze starke Gründe dafür, von der vitalistischen Vorstellung einer Lebenskraft Abstand zu nehmen. Und insofern, so resümiert Lotze, ist »[d]iese Auffassung […] 239 nur tauglich für eine nicht vorhandene Welt« . Besonderes Augenmerk verdienen für Lotze denjenigen Gestalten des Vitalismus, die die zugrundeliegende Lebenssubstanz nicht als Naturkraft im Sinne einer Lebenskraft-Annahme fassen, sondern in der Seele das Grundprinzip des Lebendigen erkennen. Auch ihnen erteilt Lotze eine schroffe Absage. Paradigmatisch für eine solche Herangehensweise steht der spekulative Theismus Immanuel H. Fichtes. In seinen an Fichte junior gerichteten ›Streitschriften‹ setzt sich Lotze mit dessen These, bei der Seele handele es sich um das letzte irreduzible Lebensprinzip, kritisch auseinander. Obwohl Lotze keineswegs an der Existenz einer Seele und ihrer grundlegenden Bedeutung für belebte Systeme Zweifel hegt, so hält er dem jungen Fichte entgegen, dass die Seele, wie jedes andere vermeintliche Lebensprinzip auch, vielmehr durch die mechanischen Funktionen des Lebendigen restringiert wird, und ob dieser Restriktion nicht als letztes Prinzip des Lebendigen angesehen werden kann: »[W]elches auch immer das gestaltende Princip des Organismus sein mag: Es kann nur so viel und auf dem Weg wirken, wie viel und auf welchem das allgemeine Recht der Natur, in der es wirken will, ihm zu wirken gestattet«240.
238 Lotze, APdKL, §3, (23), 29. 239 Lotze, APdKL, §3, (23), 28. 240 Lotze, SS, 132.
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IV.2.3
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Die Kritik am Organismusbegriff der älteren Naturphilosophie
Der deutlichen Absage an vitalistische Konstruktionen zur Seite steht eine massive 241 Kritik am Organismusbegriff der ihm vorgängigen Naturphilosophie. Lotze bezieht sich dabei auf Organismuskonzeptionen, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. aufkommen und wie sie auch noch für Kant und Teile der romantischen und idealistischen Philosophie typisch sind. Charakteristisch für dergestaltige Theorien ist erstens die Vorstellung, dass ein Organismus sich dadurch auszeichnet, dass in ihm das Ganze und seine Teile wechselseitig aufeinander bezogen sind. »Ein organisiertes Produkt der Natur ist«, wie z.B. Kant schreibt, »das, in welchem alles 242 Zweck und wechselseitig auch Mittel ist« . Dadurch erweist sich ein Organismus als autonomes und abgeschlossenes Gebilde, das aus dem übrigen Naturzusammenhang herausragt und deshalb, so die zweite Annahme, nicht physikalischkausalmechanisch, sondern nur teleologisch erklärt werden kann. Lotze bestreitet beide Thesen. Für ihn repräsentieren organisierte Strukturen weder autonome Gebilde, noch entziehen sie sich der Möglichkeit einer physikalisch-mechanischen Erklärung. Im Grunde greift an dieser Stelle ein ganz ähnliches Argument wie in Bezug auf die Kritik des Vitalismus. Aufgrund der naturwissenschaftlich nachweisbaren Verflochtenheit organisierter Lebewesen mit dem übrigen Naturzusammenhang kann die Hypothese von der Autarkie organischer Strukturen keinesfalls aufrechterhalten werden. Lotze spitzt dieses Argument sogar zu der Behauptung zu, dass Organismen, würden sie tatsächlich radikal abgeschlossene Systeme repräsentieren, geradezu notwendig kollabieren würden: »Der organische Körper enthält nicht eine solche Zusammenordnung der Theile, dass aus ihr allein, unter Abhaltung der übrigen Welt ein harmonisches und geordnetes Spiel von Bewegungen hervorgehen könnte, sondern darin ganz unähnlich dem Planetensystem sind seine inneren Verhältnisse so geordnet, dass sie sich selbst überlassen, sich zerstören würden, und nur durch beständige Veränderung der Massengrösse, der chemischen Zustände und damit der verfügbaren Kräfte der Theile in einer bestimmten und regelmässigen Richtung der Entwicklung festgehalten werden«243. Die Verflochtenheit der Organismussysteme mit dem übrigen Naturzusammenhang macht es, und damit verabschiedet Lotze die zweite Annahme der kritisierten Theorien, notwendig, zur Erklärung von Organismen auch mechanische, physikalische und chemische Kategorien mit heranzuziehen. Dergestaltige Theoreme, die 241 Reinhard Pester spricht in dieser Beziehung von einer »Abkehr vom Organismus-Konzept der alten Naturphilosophie« Pester, Lotzes Teleomechanismus, 5. Vgl. zum Folgenden auch a.a.O., 7ff. 242 Kant, KdU, §66, B296f. Vgl. dazu unter A.II. 243 Lotze, APdKL, §13, (113), 136f. Vgl. auch Lotze, APdKL, §13, (114), 137: »Nothwendig muss desshalb der Organismus in seinem eigenem Bau etwas weniger oder etwas anderes besitzen, als die vollständigen Bedingungen für die Folgerichtigkeit seiner Entwicklung. Er muss so angeordnet sein, dass die Vollständigkeit dieser Bedingungen erst durch Hinzutritt der äusseren Einflüsse erreicht wird«.
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Der organismische Lebensbegriff
Lotze unter dem vereinheitlichenden Ausdruck Mechanismus zusammenfasst, repräsentieren geradezu die Grundkategorien einer wissenschaftlich exakten Erschließung organischer Gebilde. Damit wird deutlich, dass Lotze in Opposition zum Organismuskonzept der älteren Naturphilosophie eine mechanistische Organismus-Theorie intendiert, die die mechanischen Grundlagen deutlich mehr berücksichtigen will. Ein Organismus ist für ihn zunächst nichts anderes als »eine bestimmte, einem Naturzweck entsprechende, Richtung und Combination rein mechanischer Processe, das Studium des Organischen kann nur darin bestehen, nachzuweisen, mit welcher Auswahl, mit welchen bestimmten Gewohnheiten die Natur jene Processe combinirt, und wie sie eine von künstlichen Vorrichtungen vielleicht abweichende Reihe so combinirter Vorgänge gewissermassen als complexe Atome des Geschehens zu Grunde legt«244. Um die mechanistische Verfasstheit sowie die prinzipielle Unabgeschlossenheit organisierter Strukturen zu charakterisieren führt Lotze schließlich den terminus 245 offenes System ein. So heißt es in der ›Allgemeinen Physiologie‹ von 1851: »Deshalb sind die organischen Geschöpfe nicht wie das Planetensystem geschlossene, 246 sondern offene Systeme« . Offene Systeme unterscheiden sich von geschlossenen in erster Linie dadurch, dass für sie ein Prinzip immanenter Störungen konstitutiv 247 ist. Das bedeutet, organisierte Systeme als offene Systeme verfügen über die Fähigkeit zur Selbstregulierung, d.h., dass sich ein Organismus angesichts immanenter und externer Störungen von selbst wieder in den Zustand relativer Stabilität zu versetzen vermag. Die Intention Lotzes, den Organismus primär auch von seinen mechanistischen Grundlagen her zu betrachten, bedeutet nun keinesfalls, dass damit die Kategorie der Zweckmäßigkeit, wie sie noch für Kant elementar war, ganz aus der wissenschaftlichen Betrachtung des Organischen herausgehalten würde. Der Bereich des Organischen ist aber für Lotze keineswegs die alleinige Sphäre, in der das Vorliegen zweckmäßiger Strukturen erkannt werden kann. Insofern verbietet es sich für Lotze, im Sinne Kants den Zweckbegriff resp. das Vorliegen von Zweckmäßigkeit erst am Orte organisierter Lebewesen abzulesen und dann als regulatives Deutungsschema auf den gesamten Naturzusammenhang anzuwenden. Zwar ist auch Lotze durchaus der Meinung, dass »innerhalb der Natur die Erscheinung der lebenden Wesen uns mit besonderer Dringlichkeit den Gedanken einer den Lauf der Dinge beherrschenden Zweckmäßigkeit oder eines idealen Ganzen nahe legen 244 Lotze, LLK, 161. 245 Damit wird deutlich, dass entgegen einer weitverbreiteten Annahme nicht erst Ludwig von Bertalanffy den Begriff des offenen Systems geprägt hat. Vgl. dazu auch Pester, Lotzes Teleolmechanismus, S. 9f. 246 Lotze, APdKL, §13, (114), 137 (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. auch Lotze, GdN, §71, 82f. 247 »Der lebende Körper als Mechanismus betrachtet unterscheidet sich von allen anderen Mechanismen dadurch, dass in ihm ein Princip immanenter Störungen aufgenommen ist, die durchaus keinem mathematischen Gesetze ihrer Stärke und Wiederkehr folgen« (Lotze, LLK, 204 [i. Orig. gesperrt].
Lotze und der Wert des Lebens
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wird, das den realen Theilen und ihren Verbindungen vorangehe« , allerdings tut dies der benannten Tendenz zu einer mechanischen Auffassung des Organischen keinen Abbruch. So formuliert er in indirekter Kritik an Kant: »Man solle […] die zweckmässige, schöpferische, organische Kraft nicht zu sehr vergöttern; der lebende Körper leistet dem Principe nach nicht mehr als jede Maschine, und ist der allmäligen Aufzehrung und allen Mängeln derselben ohne willkürliche Abwehr un249 terworfen« . Gegenüber »dem Sternensysteme, dessen einfacher mechanischer Wechsel durch den Umlauf der Tages- und Jahreszeiten ebenso physikalisch als 250 ästhetisch bedeutsam das körperliche und geistige Leben mitbedingt« , sind lebendige Organismen geradezu unzweckmäßig verfasst: »Wo in der Natur Grundkräfte frei wirken, da rufen gerade die einfachsten mechanischen Verhältnisse jenes sich selbst erhaltende Bewegungsspiel eines perpetuum mobile hervor, während die organischen Körper nicht solchen freien Mechanismen der Natur sondern den Maschinen der Kunst ähnlicher sind, da sie fortwährend eines neuen Ersatzes und Anstoßes ihrer Bewegung bedürfen. Wie Uhren Tage, Monate, Jahre gehen, so läuft das Triebwerk der menschlichen Maschine in 70 Jahren und darüber ab, und nie hat es jene angebliche Fähigkeit, sich selbst aufzuziehen«251. Lotze intendiert insofern einen sehr weit gefassten Begriff des Organischen, der nicht nur auf belebte Phänomene Anwendung findet. Ein Organismus ist für ihn eine einem Naturzweck entsprechende Kombination mechanischer Prozesse, die in der 252 Grunddisposition des jeweiligen organischen Gebildes vorangelegt ist. Lotze spricht von der »in dem Organismus […] einmal bestehende[n] Zweckmäßigkeit 253 seiner inneren Einrichtung« . Schließlich zieht er das erstaunliche Resümee, daß letztlich »kein prinzipieller Unterschied zwischen Mechanismus, Chemismus und 254 Organismus« bestehe. Diese streitbare These wäre noch einmal gesondert zu explizieren. Hier genügt es festzuhalten, dass allen diesen Phänomenen, was den Gedanken des Zweckes resp. der Zweckmäßigkeit betrifft, eines gemeinsam ist:
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Lotze, Met. (1879), §92, 179. Lotze, LLK, 185. Lotze, LLK, 189. Lotze, LLK, 184. Vgl. auch Lotze, GdN, §71, 82f.: »Daß ferner der Organismus eine sich selbst erhaltende, sich selbst aufziehende Maschine sei, ist eine den Thatsachen widersprechende Behauptung. Sieht man von äußeren Leistungen ab, so würde z.B. der Umlauf eines Planeten um seinen Centralkörper gerade ein Beispiel dieses Sich-Selbst-Aufziehens sein […]. Endlich ist es ganz irrig, den Organismus als eine in sich abgeschlossene Maschine zu betrachten, die ihren Gang wirklich blos durch ihre inneren Kräfte fortsetzte und regulierte. Er bildet vielmehr ein durchaus offenes System von Elementen, welches der Einwirkungen der Außenwelt immer fort bedarf, um diejenigen Kräfte zu entwickeln, durch welche seine Entwicklung in bestimmten Formen erst möglich wird« (im Orig. z.T. gesperrt; Hervorhebung v. Vf.). 252 Unter einem Naturzweck versteht Lotze ganz allgemein »die empirisch vorgefundene Zweckmäßigkeit der Natureinrichtungen« (Lotze, Rec. v. Koosen, Der Streit des Naturgesetzes mit dem Zweckbegriff, 377). 253 Lotze, MK I, 71. 254 Lotze, GdM3, §68, 86 (im Orig. z.T. gesperrt).
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Der organismische Lebensbegriff
Zweckmäßigkeit resp. die Realisierung eines Zweckes ist immer nur Verwirklichung einer vorangelegten Relation von Zweck und dem Arrangement von Ursachen, innerhalb derer sich der Zweck realisieren soll, und ein Zweck kann nie unabhängig von seiner Realisationssphäre suffizient erschlossen werden. Ein Zweck resp. der Begriff der Zweckmäßigkeit ist für Lotze keineswegs ein Deutungsschema, das regulativ an die Wirklichkeit herangetragen wird (Kant), sondern eine intelligible Struktur, die (eher im Sinne Hegels) faktisch in den Ursachen präfiguriert ist: »So ist der Zweck eine legislative Gewalt, welcher sich die Massen der Natur niemals fügten, wenn sie nicht durch das Mittel der Ursachen, welche die executive Gewalt bilden, von Anfang an gezwungen und in einen bestimmten Ablauf hineingedrängt würden«255. Insofern kann, wie Reinhard Pester treffend vorschlägt, Lot256 zes Organismuskonzept durchaus als Teleomechanismus bezeichnet werden. IV.3 IV.3.1
Lotzes positive Theorie des Lebens Der methodische Zugang
Der konstruktiven Entfaltung von Lotzes Lebens-Theorie sind verschiedene methodische Kautelen vorgeschaltet, mit deren Hilfe sowohl der Gegenstand vorgefasst wird, als auch gleichzeitig Negativthesen für eine sachgerechte Explikation des Lebens und seiner Phänomene ausformuliert werden. Es lassen sich wenigsten drei Gesichtspunkte benennen: Eine logisch hinreichende Definition des Lebens ist erstens zwar theoretisch möglich aber nicht praktikabel, eine wissenschaftlich befriedigende Theorie des Lebens hat zweitens den faktischen Bestand und nicht den Ursprung des Lebens zu erklären und drittens darf der Lebensbegriff nicht durch Abstraktion von den einzelnen Lebenserscheinungen gewonnen werden, sondern er ist in kritischer Abgrenzung von den allgemeinen naturphilosophischen Prämissen zu gewinnen. Was das erste anbelangt, so hält Lotze eine logisch formgerechte Definition des Lebens theoretisch durchaus für möglich. Allerdings ist die konstatierte Möglichkeit mit einer nicht unwesentlichen Einschränkung verbunden. Denn ob der Komplexität des Lebens und seiner Erscheinung würde eine treffende Definition so umfangreich ausfallen, dass sie fast von selbst in eine Beschreibung der Grundphänomene des Lebens überginge. »Obgleich«, schreibt Lotze, »ich eine solche Definition für möglich halte, würde sie doch, wenn sie richtig und anschaulich zugleich sein solle, so ausführlich sein, dass sie von selbst in die Form einer Schilderung der Hauptzüge des Lebens wieder übergehen würde«257.
255 Lotze, LLK, 149f. 256 Vgl. Pester, Lotzes Teleomechanismus, passim. 257 Selbstanzeige APdKL, 519f. (i. Orig. teilw. gesperrt).
Lotze und der Wert des Lebens
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Im Hinblick auf den zweiten Punkt bringt Lotze zwar Verständnis dafür auf, dass der menschliche Forscherdrang gleichermaßen an einer methodisch und inhaltlich zufrieden stellenden Erhellung sowohl des Ursprungs als auch des Ziels des Lebens interessiert ist. Allerdings sind dies für ihn zuletzt überflüssige, weil nicht lösbare Fragen. Weder der Ursprung des Lebens noch dessen letzte Ziele sind in seinen Augen streng wissenschaftlich eruierbar. Stattdessen entwickelt Lotze die wissenschaftstheoretische Maxime, »dass die volle Natur eines Dinges sich in dem gegenwärtigen Bestande seiner Eigenschaften und Beziehungen erschöpfen könne, ohne eine Ergänzung durch die Geschichte seines Ursprungs zu bedürfen«258. Dieser Grundsatz kann ohne logische Probleme auf die Wissenschaft vom Leben übertragen werden: »Die Erscheinungen des Lebens bilden für unsere Beobachtung einen abgeschlossenen Kreis der Keimung, Entfaltung und neuer Keimbildung; so wie es aus dieser zusammenhängende Kette nicht heraustritt, haben auch wir […] nicht 259 nöthig sie zu verlassen« . Bezüglich der dritten These übt Lotze massive Kritik an theoretischen Anläufen, die den Lebensbegriff allein durch einen Rekurs auf die Einzelerscheinungen des Lebens erarbeiten. Das an dieser Stelle kritisierte Methodenideal bezeichnet Lotze 260 als den »Weg[] der Abstraction« und dieser ist in seinen Augen im Hinblick auf die Generierung eines tragfähigen Lebensbegriffes ein »Unternehmen, fruchtlos 261 wie die Arbeit der Danaiden« . Der Weg der Abstraktion ist vor allem deshalb ungeeignet, weil er erstens ob der theoretischen Unendlichkeit und Disparatheit der Lebenserscheinungen unabschließbar bleibt und aus diesem Grunde ein tatsächlich präziser Begriff des Lebens nicht generiert werden kann. Das Problem auf diesem Wege erzeugter Begriffe ist stets ein gravierender Mangel an Bestimmtheit: »[D]ie Abstraction ist ein unendlicher Progress; sie kennt keine Grenze, sondern den Kreis der Gleichgültigkeit und das Medium der Vergleichung immer grösser und allgemeiner fassend, ist sie eben die Auflösung des Bestimmten, für die es nirgend einen sich selbst als innerlich und untrennbar Ganzes gegen alles Uebrige abschneidenden und zusammenkrystallisirenden Inhalt giebt«262. Zweitens erkennt
258 Lotze, APdKL, §1, (1), 8. Vgl. auch APdKL, §1, (3), 10: »Die eigentliche Wissenschaft der Natur beginnt mit der unerlässlichen Voraussetzung, dass das Bestehende aus sich selbst in seinem Bestehen und seinen Bewegungen erklärlich ist, und diese innere Gesetzlichkeit eines abgeschlossenen Ganzen, das unserer Erfahrung offen steht, umfasst ihre wahren Gegenstände«. 259 Lotze, APdKL, §1, (4), 11. Vgl. auch Lotze, MK I, 83: »Es ist nicht die Neigung, das Leben als das Ergebniß einer zufälligen Versammlung von Theilen zu fassen; im Gegentheil lassen wir seinen ersten Ursprung als ein Geheimniß vorläufig dahingestellt; nur seine Erhaltung glauben wir dem Zusammenhange des Naturverlaufes ohne das Eingreifen neuer Kräfte übertragen«. 260 Lotze, Rec. Carl Wilhelm Stark’s Allgemeine Pathologie, KS I, 28. 261 Lotze, Rec. Carl Wilhelm Stark’s Allgemeine Pathologie, 28. Die Danaiden waren die Töchter des mythischen Königs Danaos, die als Strafe für den (von ihrem Vater angeordeten) Mord an ihren Ehemännern in der Brautnacht mit einem löchrigen Fass Wasser schöpfen mussten. 262 Lotze, Rec. Carl Wilhelm Stark’s Allgemeine Pathologie, 28f. Vgl. auch a.a.O., 29: »Die abstrahirende Methode ist in der That der Quell der Verwirrung für diese Lehren«; daher »rührt die
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Der organismische Lebensbegriff
Lotze ein daraus resultierendes Folgeproblem des Weges der Abstraktion dergestalt, dass wegen der Unmöglichkeit eines erschöpfenden und zusammenfassenden Abstraktionsverfahrens die empirischen Untersuchungen der Einzelfälle immer eklektizistisch ausfallen und somit subjektiven, mithin zufälligen Charakter 263 besitzen. Insofern intendiert Lotze in kritischer Hinsicht ein umgekehrtes Verfahren. Statt bei empirischen Einzeluntersuchungen der Lebenserscheinungen einzusetzen und via Abstraktion zu einem Allgemeinbegriff zu gelangen, schlägt er vor, zunächst die Denkbedingungen eines noch unwissenschaftlichen Vorbegriffs des Lebens, der jedem Versuch präziser begrifflicher Bestimmung vorausgeht, zu analysieren. D.h. zunächst sind die notwendigen Denkgesetze für alle Erscheinungen zu eruieren. Eine kritische Analyse dieser Gesetze soll sodann diejenigen fixieren, die es erlauben in dem allgemeinen Geschehen herausragende, bedeutungsvolle Formen des Geschehens, sprich lebendige Erscheinungen, zu erfassen. Schließlich ist noch zu klären, wie sich diese als Vorstellungen am Orte des Bewusstseins repräsentieren, d.h. als Begriff vorstellig werden.264 Erst nachdem der 265 Gehalt eines »solchen vorwissenschaftlichen Inhalts der Meinung« auf diese Weise gedanklich durchbestimmt ist, kommen empirische Untersuchungen hinzu, wobei es nunmehr vermieden werden kann, »das Leben in mancherlei ihm selbst 266 fremden und unwesentlichen Rücksichten« zu betrachten. Die wissenschaftliche Disziplin, der diese Aufgabe zufällt, ist die Naturphilosophie, und in diesem Sinne haben der positiven Erarbeitung des Lebensbegriffs entsprechende naturphilosophische Erwägungen vorauszugehen: »Die nothwendige Grundlage aller Physiologie und Pathologie müssen daher immer naturphilosophische Betrachtungen bilden, damit die notwendige Basis der Gesetze offenbar werde, innerhalb deren sich das Leben durch spezifische Differenzen von allen übrigen Naturprocessen abson267 dert« .
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ewig fliessende, keine specifischen Unterschiede kennende Biegsamkeit des Lebensbegriffes her« (Hervorhebung v. Vf.). »Abstraction ist subjective Weise der systematischen Erkenntnis und bringt uns in die Darstellung des Inhalts alle Zufälligkeit subjectiver Standpunkte und Liebhabereien, weil in der That das Aufhören bei einem früheren oder späteren Punkte hier eine reine Eigenwilligkeit ist« (Lotze, Rec. Carl Wilhelm Stark’s Allgemeine Pathologie, 29). »Vielmehr in der absoluten Nothwendigkeit des Denkens sind die Gesetze aufzuzeigen, welchen alle Erscheinungen mit gleicher Unbedingtheit folgen; und innerhalb dieser Gesetze werden sich dann die möglichen Unterschiede der Erscheinungen zeigen, die dem Allgemeinen nicht gleichgiltig, sondern bedeutende und selbst unter der Form der Ewigkeit sich gegen einander abtrennende Formen des Geschehens sind. Zu diesen ist dann aufzusuchen, unter welchen Gestalten sie sich in dem Bewußtsein als Vorstellungen wiederfinden, welche letzteren eben durch diese Gleichstellung mit einem in sich begrenzten Inhalt des Begriffs bestimmt und aufgeklärt werden« (Lotze, Rec. Carl Wilhelm Stark’s Allgemeine Pathologie, 30). Lotze, Rec. Carl Wilhelm Stark’s Allgemeine Pathologie, 30. Lotze, Rec. Carl Wilhelm Stark’s Allgemeine Pathologie, 31. Lotze, Rec. Carl Wilhelm Stark’s Allgemeine Pathologie, 31.
Lotze und der Wert des Lebens
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Durch diese Bedingungen ist über Weiten die positive Entfaltung des Lebensbegriffs Lotzes gesteuert, und gleichzeitig bilden sie den wissenschaftstheoretischen Rahmen, mit Hilfe dessen Lotze die bislang hervorgetretenen Arten und Weisen wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Leben einer kritischen Überprüfung unterzieht. In letzterer Hinsicht bezieht sich Lotze auf drei verschiedene Denkmodelle, die er jeweils kritisch diskutiert, nämlich eine ideale, eine dynamische und eine mechanische Naturansicht. IV.3.2
Die Kritik der Naturansichten
Für Lotze repräsentieren die ideale, die dynamische und die mechanische Natur268 ansicht »mögliche Standpunkte« , von denen aus der Naturzusammenhang und entsprechend auch die Erscheinungen des Lebendigen untersucht werden können. Allerdings ist es so, dass diese Standpunkte miteinander konkurrieren, ja sich z.T. 269 sogar wechselseitig ausschließen. Um bezüglich dieser drei Grundmuster zu einem klaren Urteil zu gelangen, unterzieht sie Lotze jeweils gesondert einer Kritik, wobei es ihm darauf ankommt sowohl das bleibende Recht als auch die entscheidenden Mängel dieser Herangehensweisen zu eruieren. Die so genannte ideale Naturansicht »beruht auf einem tiefen und lebhaften Be270 dürfnis des Gemüths« und für sie ist es charakteristisch, dass die Wirklichkeit 271 von einem »bedeutungsvollen Gedanken« durchdrungen ist. Der Naturzusam272 menhang wird demnach aufgrund einer »Ahndung« resp. einer »ästhetische[n] 268 269 270 271 272
Lotze, APdKL, 7. Vgl. dazu auch Pester, Lotzes Teleomechanismus, 4f. Lotze, APdKL, §2, (12), 18. Lotze, APdKL, §2, (12), 18. Lotze, Met. (1841), passim. Lotze geht in seinem philosophischen Denken – dann ganz offenkundig in Opposition zum damaligen Selbstverständnis der empirischen Naturwissenschaft – davon aus, daß eine rein empirisch orientierte Welt- und Selbsterklärung per se unvollständig erscheinen muss, da sie einen grundlegenden Aspekt menschlicher Lebenswirklichkeit ausblendet, nämlich die Fähigkeit einer steten Transzendierung des faktisch Gegebenen. Eine entsprechende Terminologie (Transzendenz, transzendieren) läßt sich schon in der frühen Metaphysik von 1841 nachweisen (vgl. z.B. Lotze, Met. [1841], §67, 328). Das menschliche Denken, so die Meinung Lotzes, vergleicht jeden aktualen gedanklichen Inhalt mit einer im Geist innewohnenden Ahnung resp. Meinung (vgl. Lotze, Met. [1841], §2, 5). Auf diese hin werden im Vollzug menschlichen Denkens alle aktualen Gedankeninhalte unwillkürlich transzendiert. Diese vorprädikative Einsicht, die – indem sie den Geist nötigt, über das faktisch Gegebene hinauszugehen – eigentlich ein bloßes Mittel des Erkennens darstellt, in Erkenntnis zu überführen, ohne die Arbeit der Naturwissenschaften zu unterminieren, ist wesentliches Ziel der Philosophie Lotzes (vgl. ebd.: »Die Gesetze dieser Tätigkeit aus einem Mittel der Erkenntnis zum Gegenstand derselben, aus der natürlichen Tätigkeit des Geistes zum Inhalt seines Bewußtseins zu machen, ist die Aufgabe der Philosophie zu nennen«). Vgl. auch Met. (1841), §4, 10: »Aufgabe der Philosophie ist es […], innerhalb des Allen gemeinsamen Elementes der Erkenntnis die in der Meinung und Ahnung gegenwärtige Wahrheit zum Gegenstand des Besitzes zu machen, dem Gemüte zu zeigen, was der Inhalt seiner selbst ist und es über den Traum aufzuklären, der es verfolgt«. Vgl. dazu Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, 19ff.
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Der organismische Lebensbegriff 273
Überzeugung« nicht als in sich gleichgültiges und bedeutungsloses Aggregat auf274 gefasst, sondern er erweist sich als Ausdruck »eines schöpferischen Gedankens« , der sich in unterschiedlicher Weise im Ganzen des Seinszusammenhangs realisiert. Dadurch wird es möglich, differente Wertdimensionen in den Bereich der Wirklichkeit einzuziehen, indem Teile des Naturzusammenhangs als Mittel zu Wertverwirklichung und andere als zu verwirklichende Werte klassifiziert werden können. Es liegt auf der Hand, dass diese Option insbesondere für die Erklärung der Erscheinungen des Lebendigen interessant ist, denn Lotze ist der festen Überzeugung, dass der menschliche Geist den Äußerungen des Lebens keinesfalls gleichgültig gegenübersteht. Allerdings sieht Lotze auch gewaltige Probleme, die eine solche idealistische Naturauffassung mit sich bringt. Primär hegt er dabei gewichtige Zweifel, ob die zugrundeliegenden ästhetischen Überzeugungen dem spezifisch logischen Charakter einer streng wissenschaftlichen Durchführung gerecht zu werden vermögen.275 Denn in epistemologischer Hinsicht gilt: »[V]iel spröder aber als Gesetze und Thatsachen verhält sich gegen unser Erkenntniss die sinnvolle Bedeutung der Din276 ge« . Dies hat in Bezug auf den Eintrag von Wertaspekten in den Naturzusam277 menhang wie Lotze sagt, eine bleibende »Ungewissheit der Werthevertheilung« zur Folge. Denn der Übergang vom Wissen um Bedeutungsgehalte im Naturzusammenhang hin zu dessen axiologischer Differenzierung bleibt im Horizont einer idealen Naturauffassung letztlich unvermittelt. Insofern hält Lotze zwar am bleibenden Recht einer idealen Naturauffassung in Bezug auf die Transzendierungsbedürfnisse des menschlichen Geistes fest, konstatiert aber in epistemologischer Hinsicht: »[D]as Gebiet der Wissenschaft hört jedenfalls damit auf« und es ist »weder zu hoffen noch nöthig, dass [ihre] Ergebnisse jemals eine strenge Wissenschaft bilden«278. Die zweite diskutierte Gestalt von Naturauffassung bezeichnet Lotze als dynamische Naturansichten. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass charakteristische Triebe, wie Lebenskraft, Gestaltungstrieb, Lebenstrieb oder Bildungstrieb zum Prinzip der Erklärung bestimmter Naturerscheinungen, also in erster Linie auch 279 des Lebens gemacht werden. Die Existenz dynamischer Naturmodelle erklärt Lotze dadurch, dass im Naturganzen periodisch wiederkehrende Erscheinungszusammenhänge, wie z.B. der Wachstumszyklus von Pflanzen, eruierbar sind, die theore-
273 Lotze, APdKL, §2, (13), 19. 274 Lotze, APdKL, §2, (19), 24. 275 »Denn ebenso deutlich, als das allgemeine Recht jener idealen Naturansicht, liegt wohl auch die Unmöglichkeit ihrer wissenschaftlichen Ausführung von unserem menschlichen Standpunkte aus vor Augen« (Lotze, APdKL, §2, [13], 19). 276 Lotze, APdKL, §2, (32), 19. 277 APdKL, §2, (17), 23. 278 Lotze, APdKL, §2, (13), 19. Vgl. auch Pester, Lotzes Teleomechanismus, 5. 279 Vgl. dazu auch Pester, Lotzes Teleolmechanismus, 5.
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tisch auf dahinterstehende Kräfte oder Triebe schließen lassen. Aber auch die dynamischen Naturansichten sind für Lotze keinesfalls unproblematisch. Was die Kritik der dynamischen Naturansichten anbelangt, so kann hier auf das oben zur Kritik des Vitalismus Gesagte verwiesen werden, denn die Annahme einer Lebenskraft gilt Lotze als das Paradigma einer dynamischen Naturansicht schlechthin. Als dritte und letzte Theorie der Naturerklärung rückt schließlich die mechanistische Naturansicht in den Vordergrund. Sie unternimmt es, die Erscheinungen der Natur im Allgemeinen und die des Lebens im Speziellen auf allgemeine Gesetze zurückzuführen. Gemeint sind dabei die Naturgesetze, und insofern treffen im Kontext der mechanistischen Naturerklärung zwei Gedankenreihen zusammen: eine, die von empirischen Beobachtungen ausgeht und eine zweite, die die entsprechenden allgemeingültigen Gesetze zur Verfügung stellt. Die entsprechenden Werkzeuge sind Hypothese und Experiment.281 Die Notwendigkeit dieser Form der Naturerschließung leitet Lotze aus einem eminent praktischen Motiv ab, dass ihm als Mediziner klar vor Augen steht. Soll die Medizin in pathologischem und therapeutischem Interesse zu klaren und effektiven Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten führen, so scheint dies unmöglich, sobald damit an die Nacherzeugung oder Wiederherstellung eines idealen Gehaltes oder eines organischen Triebes gedacht wird. Dies verbietet sich schon aus den oben genannten Gründen. 282 Vielmehr ist die Medizin als »Heilkunst« darauf gewiesen, die Bedingungen der Möglichkeit künstlichen Eingreifens und ihre Handlungssphäre in epistemologischer Hinsicht miteinander abzugleichen. »Auch die Heilkunst muss daher ihren großen Fleiß darauf richten, alle verwickelten Erscheinungen des Lebens so aufzulösen, dass sie sich als Gewebe von Erscheinungen darstellen, welche denselben allgemeinen Naturgesetzen gehorchen, vermöge deren auch die Mittel der Kunst 283 eine Wirkung zu erzielen vermögen« . Damit tritt aber gleichermaßen das Defizit der mechanistischen Naturerklärung zutage. Denn erstens ist es, wie Lotze unumwunden eingesteht, selten ohne weiteres möglich, ohne Absehung von Nebenstimmungen einzelne Lebenserscheinungen allgemeinen Naturgesetzen unterzuordnen, denn »jeder wird sich hüten, die volle Mannigfaltigkeit des Lebens aus den einfachsten Gründen aufbauen zu wol284 len« . Und zweitens, und das ist der gewichtigere Einwand, ist eine durchgehend gesetzliche Auffassung der belebten Natur zwar in der Lage, gerade einzelne Lebenserscheinungen im Sinne einer therapeutischen Hypothese gewissermaßen idealtypisch zu simulieren. Allerdings finden die Naturgesetze niemals immer iden280 »Solche Wahrnehmungen leiten auf eine sehr natürliche Weise zu der Ansicht, dass in einem so abgeschlossenen Ganzen der Entwicklung auch nur eine zusammengehörige, diese Entwicklung und Selbsterhaltung des Gebildeten bedingende Macht vorhanden sei. Die Vorstellung der Triebe gehört daher wesentlich diesem Standpunkte der Naturauffassung an« (Lotze, APdKL, §3, (20), 25). 281 Vgl. Lotze, ApdKL, §4, (38), 44. Vgl dazu auch Pester, Lotzes Teleomechanismus, 5. 282 Lotze, APdKL, §4, (31), 37. 283 Lotze, APdKL, §4, (31), 37. 284 Lotze, APdKL, §4, (40), 47.
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Der organismische Lebensbegriff
tische Anwendung. Die gleichen Naturgesetze können in unterschiedlichen Zusammenhängen zu ganz verschiedenen Resultaten führen. »Jeder zusammengehörige Erscheinungskreis der Natur selbst beruht wieder auf einer gewissen eigenthümlichen Zusammenstellung von Mitteln, aus welcher für ihn gewisse typische stets wiederkehrende Arten von Processen folgen, Gewohnheiten der Natur, den eigenthümlichen Lautverbindungen vergleichbar, durch deren häufige Wie285 derkehr eine Sprache sich von der anderen unterscheidet« . Lotze ist der festen Überzeugung, dass die Vernachlässigung dieses Sachverhalts notwendig »in die 286 bodenlose Willkürlichkeit zufälliger Ansichten hineinstürzt« . Die idealtypische Auffassung der gesamten Natur als gesetzlicher Zusammenhang bricht sich so an einer naturtypischen, »[u]nd hier ist«, wie Lotze resümiert, »der Ort, wo […] die Aufassungsweise der dynamischen Ansichten den mechanischen zu Hilfe kommen 287 muss« . Die letzte Formulierung macht darauf aufmerksam, dass Lotze, trotz einer klar erkennbaren Sympathie für die mechanistische Naturdeutung, keineswegs für eine rein mechanische Anschauung der Natur insgesamt und des Lebens im einzelnen plädiert. Vielmehr ist es ihm völlig bewusst, dass jede der geschilderten Naturansichten einem bestimmten Erkenntnisinteresse gerecht zu werden versucht: die ideale dem Transzendenzbedürfnis des Geistes, die dynamische der Periodizität der Erscheinungen und die mechanistische dem Anspruch exakter Wissenschaftlichkeit. Insofern kommt schließlich der mechanistischen Naturauffassung eine fundamentale Bedeutung zu, da Lotze darauf aus ist, eine Wissenschaft vom Leben ins Licht zu setzen. Aber keines der drei geschilderten Modelle darf auf Kosten eines von ihnen eliminiert werden. Vielmehr gilt der Grundsatz, dass »eine umfassende Ausbildung der Wissenschaft […] aus ihrer richtigen Verknüpfung und der Abwehr unberechtigter Vermischung hervorgehen«288 muss.289 IV.3.3
Die positive Fassung des Lebensbegriffes
Wie gesehen, will Lotze im Kontext seiner Theorie des Lebens einer idealen, einer dynamischen und einer mechanistischen Theorieeingestelltheit gerecht werden. Und da die mechanistische Theorieinstellung der größten wissenschaftlichen Exaktheit fähig ist, kommt ihr eine besondere Bedeutung zu. Insofern ist der konstruktiven Erarbeitung des Lebensbegriffs die restriktive These vorangestellt, dass im Hinblick auf eine wissenschaftlich exakte Erschließung der Erscheinungen des 285 286 287 288 289
Lotze, APdKL, §4, (40), 47 (Hervorhebung v. Vf.). Lotze, APdKL, §4, (40), 46. Lotze, APdKL, §4, (39), 46. Lotze, APdKL, §5, (42), 48. »Jene drei Bearbeitungen sind Angriffe, die von verschiedenen Seiten her auf einen und denselben Gegenstand gemacht werden und sich zwar in diesem begegnen, ohne dass die Standpunkte, von denen aus sie unternommen werden, selbst in einem zusammenfassenden Gesichtspunkt verknüpft sind« (Lotze, APdKL, §5, [51], 58).
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Lebens zunächst jeder »Anschein einer die physischen Gesetze übersteigenden 290 Eigenthümlichkeit zu verbannen« ist. Lotze ist also der Meinung, dass sich eine ernstzunehmende Explikation des Lebens nur in Übereinstimmung mit den »letz291 ten Wirkungsgesetzen« ereignen kann, resp. dass sich »keine Verschiedenheit in den Prinzipien des Wirkens zwischen der organischen und der unorganischen 292 Schöpfung« finden lassen wird. Lotze verwahrt sich in diesem Zusammenhang entschieden davor, den Gedanken des Mechanismus überdehnt resp. eine unzulässige Implementierung mechanischer Kategorien vorgenommen zu haben. Er verweist in diesem Zusammenhang auf entsprechende Theoreme der Psychologie sowie der Staats- und Handlungstheorie: »Lange vorher war von einem psychischen Mechanismus, von einem Mechanismus der Staatsverwaltung, von blos mechanischem Handeln im Gegensatz 293 zu intelligenter frei wählender Thätigkeit die Rede gewesen« . Ebenso möchte Lotze den Eindruck vermeiden, sein Zugriff auf das Leben hätte die Folge, dass kein Unterschied mehr zwischen den Bereichen des Belebten und Unbelebten festgestellt werden könnte. Im Gegenteil: Lotze ist der Meinung, dass trotz der wesentlich mechanistischen Verfasstheit lebendiger Strukturen eine klare Trennung zwischen belebten und unbelebten Systemen möglich ist. Der entscheidende Unterschied liegt in der spezifischen Gestalt der Zusammenstellung physikalisch resp. biochemisch beschreibbaren Prozesse. »Für uns kann der unterscheidende und charakteristische Zug des Lebens nur noch in der eigenthümlichen Combinationsweise bestehen, in der wir in ihm die allgemeinen Wirkungsmittel des Naturlaufs verknüpft finden, und in der wesentlichen Idee, die sich in den Erzeugnissen dieser Verbindung ausspricht«294. Das bedeutet ein Zweifaches: Erstens, es gibt nach Lotze in der Natur Agglomerationen von physikalischen und chemischen Prozessen, die nur lebendigen Systemen eigen ist. Lotze spricht in diesem Zusammenhang von spezifischen zweckhaft verfassten Resultanten mechanischer Prozesse, die sich mit dem schon bekannten Theorem des Organismus als offenem System veranschaulichen las295 sen. D.h. es handelt sich nicht um immanente, sondern immer um nach außen 296 geöffnete Zwecksysteme. Zweitens ist Lotze der Überzeugung, dass sich in dergestaltigen Systemen eine dahinterstehende Idee ausspricht. Diese Idee des 290 Lotze, Selbstanzeige APdKL, 519. 291 Lotze, Selbstanzeige APdKL, 519. 292 Lotze, APdKL, §12 (98), 115. Vgl. auch a.a.O., §8, (70), 79: »Die chemische Zusammensetzung der organischen Stoffe liess keine feste Grenze gegen die unorganischen entdecken«. 293 Lotze, SS, 76. 294 Lotze, APdKL, §13, (107), 128. 295 So ist es nach Lotze möglich, »in den lebendigen Kräften Resultanten vieler Einzelkräfte zu sehen« (Lotze, APdKL, §10, [82], 97). 296 Daher kann Lotze es auch aussprechen, »dass wir unter Leben nur diejenige Form einer Verknüpfung von Zuständen und Thätigkeiten verstehen werden, welche dem ganzen eines […] Organismus eigen ist« (APdKL, §12, [106], 127).
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Der organismische Lebensbegriff
Lebens, die Lotze mithilfe des aus der Naturphilosophie entlehnten Ausdrucks des Naturzwecks resp. der Naturidee illustriert, ist allerdings in der Weise modifiziert, dass Naturzwecke keinesfalls unabhängig wirkende Kräfte repräsentieren, sondern in den mechanisch vorfindlichen Bedingungen materiell begründet sind. Noch einmal: »Wir müssen daher als die letzte methodische Forderung an jede Theorie diese aussprechen, dass man zwar die legislative Gewalt vorbestimmter Naturideen anerkenne, diese aber nie an sich, sondern nur insoweit für vollziehende Kräfte halte, als sie in den mechanischen gegebenen Bedingungen bereits materiell begründet sind«297. Ideen sind eben nicht wirkende Ursachen, sondern einfache bestimmende Muster, wobei die Realisierung eines solchen Musters nur im Durch298 gang durch sie bedingende mechanische Kräfte und Prozesse möglich ist. Es ist also eine entscheidende Leistung des Lebensbegriffs Lotzes, dass er die Gedanken einer bestimmenden Idee und einer Naturgesetzlichkeit am Orte des Lebens ganz unverkrampft zusammenschmilzt. Darüber hinaus kann es als Spezifikum der Lebenstheorie Lotzes angesehen werden, dass er den so bestimmbaren Erscheinungen des Lebens einen spezifischen Wert resp. eine eigentümliche 299 »Würde des Lebens« zuerkennt. Um diesen Gedanken abschließend zu präsizieren, ist ein Seitenblick auf die Grundlagen der Wertphilosophie Lotzes geboten. IV.3.4
Lotzes Theorie der Wertbestimmung 300
Lotze gilt als einer der Väter der Wertphilosophie. Seine Theorie der Werte und des Wertens bildet dabei den vereinigenden Schlußpunkt beider Interessenschwerpunkte seines Denkens, indem im Werturteil die Dimension des EmpirischEndlichen mit der des Unendlich-Idealen konfundiert wird. In theoriestrategischer Hinsicht ist dies gleichbedeutend mit dem Versuch, den tatsächlichen oder vermeintlichen Überdehnungen eines im weitsten Sinne naturwissenschaftlichen Positivismus´entgegen zu wirken und das Recht einer idealen Dimension des geistigen Lebens zu behaupten. Wertbestimmungen sind für Lotze dabei nicht Urteile im strikt logischen Sinne, denn »der Ausdruck eines Werthes oder Unwerthes, den wir nur im Gefühl wahr-
297 Lotze, LKK, 174. So ist Lotze z.B. auch der Meinung, dass » auch die Idee der Gattung nur so weit [wirkt], als sie in den vorhandenen Prämissen mechanischer Art vorhanden ist« (Lotze, LLK, 169). Vgl. dazu auch Pester, Lotzes Teleomechanismus, 14. 298 Vgl. Lotze, LLK, 171. 299 APdKL, §13, (114), 137. Vgl. auch APdKL, §13, (114), 138. 300 Folke Werner ist der Meinung, dass Lotze »nur bedingt als der Begründer der akademischen Wertphilosophie bezeichnet werden kann, [denn] Lotze entwickelt seine Wertphilosophie nicht in einem luftleeren Raum, sondern schloß sich mit seinen Erörterungen und Bestimmungen an die Erkenntnisse, begriffe und das bereits Vorgedachte seiner philosophischen Umwelt an. Gleichwohl legte er insbesondere mit seinem ›Mikrokosmos‹ (sic!) die wohl für die weitere Entwicklung der Wertphilosophie bedeutsamste und prägnanteste Theorie des Wertphänomens und seiner Sichtweise vor« (Werner, Wert der Werte, 52 [Hervorhebungen i. Orig.]).
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nehmen, [ist] gänzlich unterschieden […] von einem blos theoretischen Urtheil 301 über die Wahrheit eines Satzes« . Wertbeurteilungen sind gerade nicht logische 302 Positionen, also – wie es in der Logik heißt – »Denkhandlung[en]« , die mittels 303 einer Kopula ein allgemeines Subjekt mit einem Prädikat verbinden. Sie sind ihrer Struktur nach komplexerer Natur, insofern hier nicht mehr nur zwei Relate mit Hilfe einer Kopula zu einem Urteil verbunden werden, sondern dieses durch Vergleich mit einem weiteren Relat, der Wertkategorie, um eine zusätzliche Bestimmung angereichert wird. Es ist das Spezifikum der Wertbestimmung, dass sie »nicht wie das gleichgültige Erkennen, nur Thatbestände von Eigenschaften, Verhältnissen und Beziehungen auffasst, sondern in jedem dieser Gegenstände […] 304 zugleich seinen Werth mitempfindet« . Gleichfalls ist eine jede Wertbestimmung noch in einer weiteren Hinsicht relational verfasst, da mit dem Zuspruch von Wert immer auch eine komparative Konnotation inkludiert ist: Etwas, dem Wert zugesprochen wird, ist immer wertvoller als anderes. Der elementare Hergang einer Wertbestimmung wird von Lotze am ausführlichsten im ersten Band des ›Mikrokosmus‹ beschrieben. Das fünfte Kapitel des zweiten Buches ist überschrieben mit den drei Phrasen Von den Gefühlen, dem 305 Selbstbewußtsein und dem Willen. Den übergeordneten Kontext der Ausführungen Lotzes bildet eine detaillierte Analyse des Seelenbegriffs, die von der Frage nach dem Dasein der Seele über eine Diskussion der Seelenvermögen fortschreitet zu einer Untersuchung der Phänomenologie von Gefühl, Selbstbewusstsein und Willen. Die Exposition der elementaren Grundlagen eines jeden Vorganges der Wertbestimmung ist nun in diesem Zusammenhang angesiedelt, da – wie mit der oben zitierten Terminologie des Empfindens bereits angezeigt ist – diese weitgehend rückgebunden ist an die Sphäre des Gefühls. Mit Hilfe der Gefühle von Lust und Unlust nämlich besitzt eine wertbestimmende Instanz die grundsätzliche Indikation, um des Wertes eines aktualen Anschauungs- oder Gedankeninhaltes gewahr zu werden. Denn nicht nur sinnlichen Eindrücken und Anschauungen korrespondiert jeweils eine entsprechende Ge301 Lotze, GdpP, §49, 45. Zum folgenden vgl. auch Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, 162ff. 302 Lotze, Logik (1874), §36, 57. 303 Vgl. Lotze, Logik (1874) §35, 56: »In ihm [sc. Urteil] tritt ein bleibendes oder bedingendes Glied, das Ganze eines Begriffsinhaltes, als Subject den veränderlichen oder bedingenden Gliedern oder der Summe dieser Theile als Prädicaten gegenüber, die Beziehung beider aber, welche ihre Verknüpfung erklärt und rechtfertigt, liegt in der Copula, nämlich in dem Nebengedanken, welcher, sprachlich mehr oder minder vollständig ausgedrückt, beide Satzglieder zusammenhält« (im Orig. z.T. gesperrt). Zu Lotzes Lehre vom Urteil vgl. Lotze, Logik (1874), §§34–74, 54–100. 304 Lotze, Rec. Hanslick: Vom musikalisch Schönen, 205. Vgl. auch Lotze, Rec. Guhl: Die neuere geschichtliche Malerei, 421 und bes. Lotze, Rec. Waitz: Grundlegung der Psychologie, 294: »Denn durch sie [sc. wertgebende Urteile] wird uns der Gegenstand nicht gegeben, sondern bereits feststehend erweitert sich […] sein Inhalt nur in sofern, als ihm eine Kraft zugetheilt wird, in seinem zufälligen Zusammenstoss mit einem empfindenden Gemüth einen eigenthümlichen Zustand der Lust zu veranlassen«. 305 Lotze, MK I, 269.
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Der organismische Lebensbegriff
fühlsempfindung, auch abstrakte Gedankeninhalte werden von Lust und Unlust begleitet. »Jeder einfachen sinnlichen Empfindung, jeder Farbe, jedem Tone ent306 spricht ursprünglich ein eigener Grad der Lust oder Unlust« , aber auch »selbst die einfachsten und scheinbar trockensten Begriffe des Denkens sind nie von die307 sen nebenhergehenden Gefühlen ganz entblößt« . Es gilt Lotze geradezu als ein allgemeiner Grundzug mentaler Aktivität überhaupt, bezüglich gegebener Anschauungs- und Gedankeninhalte, »in Lust und Unlust auch des Wertes inne zu 308 werden, den sie für ihn haben« . Dabei ist er sich der komplexen Gemengelage des tatsächlichen Auftretens dieser Gefühle bewusst. Sie verdanken sich eben nicht allein einer gegebenen Anschauung oder einem aktualen Gedankeninhalt, sondern sie sind durch körperliche Zuständlichkeiten, individuelle Erfahrungshorizonte und elementare Bestrebungen mitbestimmt; sie treten auf in einer »Mannigfaltigkeit […] schattierter Formen […], die weit entfernt sind von der trockenen 309 Vergleichbarkeit eines Mehr oder Minder allgemeiner Lust und Unlust« . Von diesen Bezügen ist bei der Analyse der immanenten Struktur der Wertbestimmung allerdings zu abstrahieren. Ob ein entsprechender Gehalt sich nun als Lust oder Unlust manifestiert, hängt von der Kongruenz oder Inkongruenz des entsprechenden Inhaltes mit der Selbst310 wahrnehmung der empfindenden Instanz ab. Diese kann Lotze auch mit dem Ausdruck des Selbstgefühls apostrophieren. Das Selbstgefühl ist bezeichnet als diejenige Instanz, mit Hilfe derer die fühlende Seele »reizbar wird für unzählige Ver311 hältnisse, die ihr als Störungen oder Förderungen ihres eigenen Wesens gelten« . Deckt sich ein entsprechender Anschauungs- oder Gedankeninhalt mit dieser basalen Selbstvorstelligkeit, resp. ist er dieser sogar förderlich, so wird er als lustvoll empfunden; ist dies nicht der Fall, resp. stellt ein entsprechender Inhalt eine Hemmung dieser Bedingungen dar, so artikuliert sich ein gegenteiliges Gefühl. Lotze nimmt durchaus wahr, dass es sich beim tatsächlichen Zustandekommen dieser Gefühle noch nicht wirklich um einen intellektuellen Vergleichsakt handelt, sondern dass sich seine Hypothese einer methodischen Abstraktion verdankt: »Wir sind es freilich, die Untersuchenden, welche die Entstehung der Gefühle so uns deuten; […] [d]ie fühlende Seele selbst macht weder überall, noch unmittelbar im Augenblicke des Gefühls diese Vergleichung«312. Dennoch ist unzweifelhaft an dem 306 Lotze, MK I, 272. 307 Lotze, MK I, 273. 308 Lotze, MK I, 269. Vgl. auch Lotze, GdR (2), §66, 69: »Was wir den Werth solcher Inhalte nennen, das besteht lediglich in dem Gefühl der Befriedigung oder der Lust, die wir von ihm empfinden« (im Orig. z.T. gesperrt). 309 Lotze, MK I, 271. Vgl. auch 360. 310 Vgl. Lotze, MK I, 270: Lotze bedient sich in diesem Zusammenhang nur vergleichsweise vager Ausdrücke, so spricht er von den »Bedingungen, die dem Leben der Seele aus ihrer eigenen Natur vorgeschrieben sind« resp. von den »Bedingungen ihres [sc. der Seele] Lebens«. 311 Lotze, MK I, 282. 312 Lotze, MK I, 270.
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nexus von Förderung der Konstitutionsbedingungen und Lust sowie Hemmung derselben und Unlust festzuhalten, denn »einmal vorhanden, werden sie [sc. die Gefühle von Lust und Unlust] doch immer von uns so gedeutet werden, wie wir es gethan, und nie wird es dem natürlichen Bewußtsein zweifelhaft sein, daß in irgend einer unbekannten Förderung, die unser Leben erfahren hat, die Lust, in irgend 313 einer Störung die Unlust wurzele« . Die im empfindenden Subjekt gegenwärtigen Gefühle der Lust oder Unlust indizieren nun ihrerseits eine Bestimmungsleistung bezüglich der in Frage stehenden Anschauungs- resp. Gedankeninhalte. Im Zuge dessen wird der aktuale Anschauungs- oder Gedankeninhalt je nach dessen Resonanz im Gemüthshaushalt bewertet. Dabei handelt es sich nicht allein um die Bestimmung von Wert oder Unwert, sondern je nach Grad und Intensität der in Lust oder Unlust manifesten Förderung oder Hemmung der Konstitutionsbedingungen wird ein größerer oder minderer Wert beigelegt. »Ohne Zweifel ist der Werth desjenigen geringer, was nur einer augenblicklichen und zufälligen Lage oder einer individuellen Eigenheit des Gemüthes entspricht, auf welches sein Eindruck trifft; größer der Werth dessen, was mit den allgemeinen und normalen Zügen der Organisation harmoniert«314. Dies genau hat Lotze auch im Rahmen seiner Theorie des Lebens fruchtbar gemacht. Damit sind die ethischen Implikationen seines Ansatzes erreicht: der Wert des Lebens. IV.4
Ethische Implikationen: Der Wert des Lebens
Im Kontext seiner positiven Theorie des Lebens ergreift Lotze nicht primär als Ethiker das Wort, resp. sind die ethischen Implikationen nicht immer auf den ersten Blick hin klar zu erkennen. Aber unzweifelhaft wird er auch von moralphilosophischen Interessen umgetrieben. Einmal natürlich als Arzt, und dies wird insbesondere in seinen physiologischen und pathologischen Schriften deutlich. Zum anderen aber auch als Philosoph, wenn er die Relevanz seiner theoretischen Einsichten auf praktische Fragen hin konzentriert. Gerade in letzter Hinsicht wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass der Ethik im Denken Lotzes eminente Bedeutung zukommt. Wilhelm Windelband, der, wenn überhaupt jemand, als Schüler Lotzes angesehen werden kann, hat diesbezüglich konstatiert, dass bei Lotze »die Anfänge der Metaphysik […] wie diejenigen der Logik nur in der Ethik«315 liegen. Und es ist insofern wohl kaum zufällig, dass Lotze die Ethik im dritten und abschließenden (und leider nicht vollendeten) Teil seines Systems der Philosophie loziert hat. Das ethische Interesse Lotzes wird auch wahrnehmbar, wenn Lotze die oben in nuce beschriebene positive Fassung des Lebensbegriffs konstruktiv mit den grade 313 Lotze, MK I, 270. 314 Lotze, MK II, 316. 315 Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 555.
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Der organismische Lebensbegriff
erarbeiteten wertphilosophischen Prämissen konstruktiv in Korrelation setzt. Die gedankliche Verbindung ist eine denkbar direkte: Die Erscheinungen des Lebens sind trotz und gerade ihrer mechanischen Verfasstheit wegen in der Lage, entsprechende Vorgänge der Wertbestimmung auszulösen, ja vielmehr sind diese nach Lotze geradezu zwangsläufig. Der diesbezügliche Gedankengang ergibt sich aus dem Vorigen. Für Lotze ist es prinzipiell unmöglich, den Erscheinungen des Lebens gleichgültig gegenüberzustehen. Denn sich selbst als Lebensform wahrnehmend und empfindend, lösen andere Erscheinungen des Lebens ein Werturteil dergestalt aus, dass diese unwillkürlich eine positive Resonanz auslösen, mithin eine eigene »Würde des Lebens«316 statuiert wird. Dass die Lebenserscheinungen sich als offene Systeme mechanischer Resultanten realisieren, tut diesen Bewertungsoperationen keinerlei Abbruch. Im Gegenteil: Sie sind für Lotze ein Hinweis darauf, dass die aufgezeigte Synthese von Idee und Gesetz resp. von Idealismus und Mechanismus ihrerseits auf eine letzte transzendente Wirklichkeit verweist, die alle Lebenserscheinungen schließlich ethisch qualifiziert. Das Ineinander von Idee und Naturmechanismus wird in eine ZweckMittel-Struktur überführt, d.h. die wahrnehmbaren mechanischen Resultanten werden als die dem Leben entsprechende Mittelstrukturen einsichtig, »die Stiftung des Mechanismus die erste ethische That des Absoluten«317. Dahinter steht Lotzes Überzeugung von einem letzten sittlichen Grund der Wirklichkeit. Den Inbegriff dieses letzten Gehaltes erkennt Lotze in dezidiertem Anschluß an die Philosophie 318 Johann G. Fichtes in der »Idee als das sein Sollende« resp. in demjenigen »was 319 sein soll« . Dieses unbedingt »Sein-Sollende« ist in seiner abstraktesten Erfassung dann als die »Idee des Guten« anzusprechen. In den bereits genannten gegen Immanuel H. Fichte gerichteten ›Streitschriften‹ hat Lotze seine diesbezüglichen Affinitäten zu Johann G. Fichte klar umrissen. Er notiert »Mit Ihrem glorreichen Vater, verehrtester Freund, verbindet mich nicht nur der mir angenehme Zufall lausitzscher Stammesverwandtschaft, sondern eine Grundanschauung, für die ich den nämlichen unerbitterlichen Starrsinn mitbringe, welchen er in ihrer Vertheidigung bewiesen hat; die Ueberzeugung nämlich, daß nur in dem, was ich aus Mangel eines hinlänglich umfassenden Namens einstweilen den Inhalt der Idee des Guten nennen will, der genügende Grund für den Inhalt alles Seins und Geschehens liege«320. Insofern weiß sich Lotze auch immun gegen meist aus dem Bereich des Religiösen stammende Vorwürfe, die in einer massiven Aufwertung mechanistischer Kategorien im Kontext der Lebenswissenschaft das Programm einer radikalen Entwertung des Lebens zu erkennen glauben: »Aus den hier angeführten Grundlagen 316 317 318 319 320
Lotze, APdKL, §13, (114), 137. Lotze, SS, 57. Lotze, Met. (1841), §34, 132. Lotze , Met. (1879), 604 (Schluß; im Orig. z.T. gesperrt). Lotze, SS, 54 (Hervorhebung v. Vf.).
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ergibt sich übrigens von selbst die Widerlegung der vom religiösen Standpunkt gegen die mechanischen Theorien gerichteten Vorwürfe, als verlöre das Leben von seiner Würde und Heiligkeit, wenn es als Resultat des Mechanismus gefasst würde. Man vergisst, dass dieser Mechanismus nicht durch seine eigene Tugend entstanden ist, sondern dass die Weisheit Gottes ihn geschaffen, und ihm als dem sichersten niemals eigenem Belieben sich überlassenden Diener die Realisierung der Na321 turideen aufgetragen hat« . Dass Lotze gerade mit der zuletzt erarbeiteten These schlussendlich einen Monismus intendiert, kann hier nur erwähnt werden, genauso wie der Sachverhalt, dass dieser Systemabschluss, der Lotze schließlich zur Annahme einer Allbeseelung geführt hat, zu den umstrittensten der Philosophie Lot322 zes gehört. IV.5
Ausblick
Wie gesehen, hat Lotze in Reaktion auf die ihm vorgängigen Theorielagen einen am Organismusgedanken orientierten Lebensbegriff mit durchaus eigenem und sehr spezifischem Profil erarbeitet, für den v.a. das Interesse einer Integration material-mechanischer Grundlagen organisierter Prozesse typisch ist, die allerdings gerade nicht zu einer Überblendung idealer und dynamischer Momente führen soll. Wirkungsgeschichtlich reichen Lotzes Überlegungen zum Lebensbegriff dabei 323 weit bis in die Moderne hinein. Es seien nur drei Punkte herausgegriffen. Erstens: Seine ideal-mechanische Theorie belebter Strukturen als offene Systeme und das damit verbundene Prinzip immanenter Störungen antizipiert in nuce theoretische Anläufe, wie sie im 20. Jh. bei Ludwig von Bertanlaffny und dessen Theorie des Fliessgleichgewichtes anzutreffen sind, oder wie sie in zeitgenössischen Systemtheorie mittlerweile gang und gäbe sind. Zweitens: Seine Interpretation des Gedankens des Naturzwecks resp. der Naturidee steht sachlich für das, was heutzutage als Information bezeichnet wird. Wie bei der Information handelt es sich bei Lotzes Deutung des Gedankens der Naturidee um eine ideelle und von ihrem Träger prinzipiell ablösbare Größe. Und wie in molekularbiologischen Denkansätzen definieren sie planmäßige Entwicklungsabfolgen. Diese werden dann im dritten Kapitel verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Drittens schließlich steht Lotzes Theorie für eine Fassung des Lebensbegriffes, die ihn angesichts naturwissenschaftlicher Reduktionismen für eine ethische Interpretation offen hält. Dabei verwahrte sich Lotze sowohl gegen eine einseitige Verkürzung der naturwissenschaftlich erhebbaren Fundamente des Lebens wie auch gegen dessen vorbehaltslose metaphysische Überhöhung. Indem Lotze die 321 Lotze, LLK, 199 (Hervorhebung v. Vf). 322 Zu Lotzes Theorie von der der »allgemeine[n] Beseelung aller Dinge« (MK III, 532) vgl. Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, 206ff. 323 Vgl. dazu auch Pester, Lotzes Teleomechanismus, 15.
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Der organismische Lebensbegriff
Möglichkeit einer naturwissenschaftlich exakten Interpretation der Lebensphänomene konstruktiv mit seinen axiologischen Prämissen vermittelt, eröffnete sich ihm die Möglichkeit, eine ideale Dimension des Lebens nicht gegen, sondern neben den Ansprüchen der Naturwissenschaft zu behaupten. Gleichzeitig ist Lotze dabei der Überzeugung, mit seiner Theorie des Lebens der prinzipiellen Mehrschichtigkeit humanen Erkenntnisinteresses sowie einem ursprünglichen Bedeutungsbewusstsein in Bezug auf das Leben gerecht zu werden.
V.
Überleitung zum Metaphysischen Lebensbegriff
Die am Organismusgedanken orientierten Theorien des Lebendigen Kants, Hegels und Lotzes, deren Aufarbeitung und Diskussion hiermit zum Ende kommt, können durchaus als Paradigmata der großen Erschließungskraft, aber auch der sich eröffnenden Probleme eines organismischen Lebensbegriffes gelesen werden. Als das gedankliche Zentrum der diskutierten Theorien hat sich in allen Fällen der Begriff des Zwecks herausgestellt; und zwar durchgängig in einer betont nicht vitalistischen Interpretation. So fungierte der Zweck im Kontext der Theorie Kants als regulatives Schema der Erklärung organisierter Lebewesen, für Hegel war er Ausdruck der Selbsterhaltung der reflexionslogischen Struktur Leben, die zwar am Orte des Organismus erkannt aber nicht vollständig begrifflich eingeholt werden kann, und für Lotze war der Zweck schließlich Ausdruck einer spezifischen Agglomeration zweckhaft verfassten Resultanten mechanischer Prozesse, die sich in prinzipiell offenen Systemen realisiert. Wenngleich der Zweckgedanke auch in der folgenden Entwicklung hinsichtlich der Konzeptualisierung des Lebendigen nicht wegzudenken ist, so hat sich doch eine wenigstens ebenso prominente Alternative im Blick auf das Leben entwickelt, die dem Zweckgedanken eine weit weniger prominente Stellung eingeräumt hat resp. den Zweckgedanken in einer vollkommen anderen Richtung interpretiert hat. Erkennbar ist dabei, dass der im Kontext des Organismusgedankens lozierte wie lokalisierte Zweckbegriff in die Krise geriet. Der bereits schon öfters zu Wort gekommene Wilhelm Windelband hat in seinem wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Aufsatz ›Genetische oder kritische Methode‹ das nämliche Krisensydrom präzise fixiert: »Man spricht in letzter Zeit gern davon, daß die entwicklungsgeschichtliche Forschung, welche in den erklärenden Wissenschaften einen so bedeutenden Raum einnimmt, die Zweckmäßigkeit der Lebewesen zum Prinzip der Erklärung mache und deshalb im Grunde genommen auch teleologischen Charakters sei. Doch herrscht in dieser Hinsicht vermöge der Vieldeutigkeit des Wortes Zweckmäßig eine gewaltige Verwirrung. Die Zweckmäßigkeit, welche die entwicklungsgeschichtliche Erklärung im Auge hat, ist nicht etwa Normativität, Übereinstimmung mit einem Ideal, sondern Lebensfähigkeit. Zweckmäßig wird von diesem Standpunkte aus alles genannt, was lebensfähig ist, mag es im übrigen sein wie es
Überleitung zum Metaphysischen Lebensbegriff
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wolle, und wenn man dann schliesslich zu der Einsicht kommt, daß es im Kampfe ums Dasein nur dies Zweckmäßige sich erhalte, so ist das eben keine große Weisheit, sondern eine Tautologie, resp. das analytische Urteil: was lebensfähig ist, 324 bleibt leben« . Die von Windelband angesprochene Transformation von organismischer Zweckmäßigkeit in Lebensfähigkeit hat in einer Denktradition, die im Folgenden ins Zentrum der Untersuchung gestellt und metaphysischer Lebensbegriff genannt werden soll, Karriere gemacht. In Gestalt der en passant behandelten (und von Kant bis Lotze durchgängig kritisierten) vitalistischen Konzeptionen haben sie sich bereits zu Wort gemeldet. Auch hier ist es illusorisch, in irgendeiner Form im Rahmen dieses Projektes Vollständigkeit anstreben zu wollen. Um dennoch einen paradigmatischen Einblick in die angezeigte Gestalt der Konzeptuaisierung des Lebendigen zu geben, erscheint es ratsam, sich an den am Anfang der so genannten Lebensphilosophie stehenden und wohl exponiertesten wie wirkmächtigsten und umstrittensten Vertreter zu wenden: Friedrich Wilhelm Nietzsche.
324 Windelband, Kritische oder genetische Methode?, 110, Anm. 1. Vgl. auch Windelband, Einleitung in die Philosophie, 170: »[I]n der biologisch entwicklungsgeschichtlichen Theorie bedeutet das Zweckmäßige doch lediglich dasjenige, wodurch der Organismus sich und seine Gattung erhält, d.h. das Lebensfähige. Und allzu überraschend ist doch nun wahrlich die Erkenntnis nicht, daß diese Lebensfähigen leben bleiben«.
B. Der Metaphysische Lebensbegriff I.
Zugangsfragen
Der Ausdruck metaphysischer Lebensbegriff ist keineswegs selbstverständlich, ja er könnte sogar im ersten Zugriff missverständlich sein und Verstörung auslösen. Dies hängt prima facie damit zusammen, dass das Wort Metaphysik auch Konnotationen mittransportiert, denen Imaginationen des Vorgestrigen, Vorneuzeitlichen und Unkritischen anhaften. Um es vorweg zu schicken: Intendiert ist im vorliegenden Zusammenhang keineswegs das Plädoyer für eine vorneuzeitliche Metaphysik. Wie bereits in der Einleitung (und auch zu Beginn des letzten Kapitels) deutlich gemacht, ist diese Studie aus erklärt neuzeitlicher Perspektive entworfen, die v.a. hinter die in der kritischen Philosophie seit Kant gelegten Standards keineswegs zurückgehen möchte. Die Formulierung metaphysischer Lebensbegriff soll im vorliegenden Zusammenhang anzeigen, dass es um eine bestimmte paradigmatische Konzeptualisierungskultur des Lebendigen zu tun ist, die markant andere Akzente setzt als die im ersten Kapitel behandelten organismischen Ansätze. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihre Einsichten in Bezug auf das Leben eben nicht in der bewusstseinsphilosophischen Reflexion auf das Gebiet des Organischen generieren, sondern dass sie im spekulativen oder induktiven Zugehen auf die psychologischen Zuständlichkeiten oder den Erlebnisgehalt des Lebens weit reichende Parameter entwickeln, was dann insbesondere auch für das Verständnis der Lebenserscheinungen fruchtbar gemacht wird. Diese Gedankenanstrengungen haben sich dann in unterschiedlichen Konzepten der Lebensphilosophie v.a. bei Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Hans Driesch oder Henry Bergson niedergeschlagen. Letzteres leitet dazu über, warum im Folgenden v.a. das Denken Nietzsches im Zentrum stehen soll. Nietzsche bietet sich an dieser Stelle an, weil er eben noch nicht für eine bestimmte Kanalisierung im Verständnis des Lebens steht, wie sie dann für die unterschiedlichen Anläufe der Lebensphilosophie im engeren Sinne typisch ist. Dieser Sachverhalt wurde insbesondere von Max Scheler unterstrichen, der im Jahre 1913 urteilte: »Nietzsche besaß die Philosophie des Lebens noch nicht. Und doch schwebt er über den modernen Versuchen wie ein verborgener Schutzgeist. Er vor allem brachte durch seine dichterische und schöpferische Gewalt in das Wort Leben den tiefen Goldklang, den es seitdem besitzt«1. Das heißt nicht, dass Nietzsche dem Leben nur marginales oder dichterisches Interesse entgegen gebracht hätte. In seiner Rede anlässlich des 80. Geburtstages Nietzsches am 15. Oktober 1924 im Odeon in München bedenkt Thomas Mann den von ihm 1
Scheler, Philosophie des Lebens, 314. Zur Frage, inwieweit Nietzsche der Lebensphilosophie resp. der Existenzphilosophie zuzurechnen sei, vgl. Meyer, Ästhetik der Historie, 110–115.
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Der Metaphysische Lebensbegriff
nicht nur als Dichter hochgeschätzten Denker neben den Titularen »Seher höheren Menschentums« und »Führer in die Zukunft« auch mit den Epitheta »ein Freund des Lebens« und »ein Lehrer der Überwindung all dessen in uns, was dem Leben 2 und der Zukunft entgegensteht« . Gerade mit der Formulierung Freund des Lebens macht Mann auf die Tatsache aufmerksam, dass Nietzsche mit und in seiner Philosophie quasi durchgängig auch um ein tieferes Verständnis des Lebens und um eine immer positivere Füllung des Begriffes des Lebens gerungen hat. Es ist wohl kaum übertrieben zu sagen, dass der terminus Leben im Œuvre Nietzsches geradezu ubiquitär ist. 3 In diesem Sinne kann sich Nietzsche selbst auch als »Philosoph des Lebens« apostrophieren und seine Philosophie steht in großen Teilen für den Versuch, die 4 »Struktur des Lebens neu auszulegen« . Wenn dabei die von Nietzsche entwickelte Lebensvorstellung im Sinne Schelers noch nicht als lebensphilosophischer Lebensbegriff, sondern als metaphysischer Lebensbegriff angesprochen wird, dann deshalb, weil der Begriff des Lebens für ihn keineswegs als Prinzip das organisierende Zentrum seines Denkens repräsentiert. Vielmehr steht sein Denken umgekehrt für ein systemunterlaufendes Ringen nach einem Grundbestand von Wirklichkeit, den er erst am Schluss im Willen zur Macht findet und der als Prinzip eben nicht systematisch entfaltet werden kann. Eine systematische Zentrierung im angedeuteten Sinne würde seiner Prinzipien- und Systemkritik nicht gerecht. Insofern steht die im Folgenden vorgenommene Fokussierung auf die Entwicklung des Nietzscheschen Lebensbegriffes für eine bei Nietzsche keineswegs durchgängig wahrnehmbare Plakatierung des Begriffs des Lebendigen, die aber damit die von Nietzsche erreichte Vertiefung des Lebensbegriffs umso schärfer konturieren möchte. Dabei ist es keineswegs so, dass Nietzsche mit seiner Vertiefung des Lebensbegriffs vollständig Abschied nimmt von ihm vorgegebenen lebenswissenschaftlichen Theorieanläufen. Es entspricht freilich seinem z.T. brachialen und radikalen gestus, oft mit diametralen und sich ausschließenden Entgegensetzungen zu operieren.5 Aber dahinter lassen sich – oft nur durch originelle und z.T. virtuose Brechungen hindurch – Transformationen erkennen, die meist in reduktiver Denkrichtung traditionelle Theoriegehalte neu sortieren resp. metaphysisch hoch aufladen. Das meint des Näheren, dass Nietzsche im Hinblick auf seine Vorstellungen vom Leben auch das Organismus-Konzept, wie es im Horizont dieser Arbeit bei Kant, Hegel und Lotze in den Blick rückte, nicht vollständig aus seinem Denken 2 3 4 5
Mann, Vorspruch, 277 (Hervorhebung v. Vf.). So in einem Brief an Mathilde Maier vom 15. Juli 1878 (KSB, 5, 338). Figal, Art. Nietzsche, 314. Vgl. dazu die Parole Nietzsches »Aber extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte« (Nietzsche, N Herbst 1885–Anfang Januar 1887, 12, 212 [i. Orig. z.T. gesperrt]. Vgl. auch Nietzsche, GdM, II, 24., 5, 335: »Damit ein Heiligthum aufgerichtet werden kann, muss ein Heiligthum zerbrochen werden« (i. Orig. z.T. hervorgehoben).
Zugangsfragen
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evakuiert. Vielmehr kann gerade an dieser Stelle gezeigt werden, wie Nietzsche im Kontext seiner Theorie des Lebens den Organismus-Gedanken re-interpretiert und modifiziert resp., wie es im späten Nachlass heißt, er eine »Reduktion aller organi6 schen Grundfunktionen auf den Willen zur Macht« ansteuert. Fast überflüssig ist es, in dieser Beziehung anzumerken, dass Nietzsche im Zuge der gedanklichen Annäherung an dieses erst in der letzten Schaffensperiode konkret werdende Ziel das überkommene und den Lebensbegriff repräsentierende Organismuskonzept Kants, Hegels wie Lotzes aus markanten Konnotationszusammenhängen herauslöst. In erster Linie sind davon betroffen jedwede interne Zweck-Mittel-Rationalität sowie die grundsätzliche Möglichkeit, von hier aus zu umfassenden Sinnkonzeptionen zu gelangen. Es war doch insgesamt das für seine Zeitgenossen unerhört Provozierende der Philosophie Nietzsches, dass sie die Möglichkeit und Wirklichkeit objektiver, dem Menschen vorgegebener Realitäts- und Sinnkonstruktionen radikal in Frage stellte. Hier suchte Nietzsche deutlich die Distanz zu den ihm vorgängigen systematischen Entwürfen von Kant über den deutschen Idealismus (v.a. Hegel)7 bis hin auch zu Lotze.8 6
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Nietzsche, N Herbst 1885–Frühjahr 1886, 1 [30], 12, 17 (Hervorhebungen v. Vf.). Interessant ist es, an dieser Stelle auf eine Parallele zum von Nietzsche hochgeschätzten Denken Goethes aufmerksam zu machen, der bereits mit sachlich analogen Ideen operiert. So hält Goethe im Anschluss an Gespräche mit und in Reaktion auf einen Text von Karl Philipp Moritz 1788 fest: »Die in unser Wesen hineingesponnenen Verhältnisse jenes Ganzen [sc. des Organismus] streben, sich nach allen Seiten wieder auszudehnen; das Organ wünscht sich nach allen Seiten bis ins Unendliche fortzusetzen. Es will das umgebene Ganze nicht nur in sich spiegeln, sondern, soweit es kann, selbst dieses umgebene Ganze sein. Daher greift jede höhere Organisation ihrer Natur nach die ihr untergeordnete und trägt sie in ihr Wesen über« (Goethe, Bildende Nachahmung des Schönen, 541). Eine intensive sachliche Auseinandersetzung mit Hegel hat Nietzsche nicht wirklich geführt: »Nietzsche hat Hegel so gut wie nicht gelesen, er bemüht sich nirgendwo eingehend um ein gründliches Verständnis, sondern beläßt es stets bei pauschalen Urteilen und wertet ihn darin, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fortgesetzt ab« (Gerhardt, Geschichtlichkeit bei Hegel und Nietzsche, 29). Setzt sich Nietzsche v.a. mit Kant relativ ausführlich und mit Hegel v.a. polemisch auseinander, so ist eine direkte Auseinandersetzung mit Lotze eher hintergründig. Allerdings ist eine Kenntnis Lotzes durch Nietzsche ohne weiteres sichtbar. Sie fällt allerdings mehrheitlich abschätzig aus. Im Nachlass taucht Lotze an einer Stelle in einer Reihe mit Bona-Meyer, Gottschall, Gervinius, Hanslick u.a. unter dem programmatischen Fanal »Anzugreifen« (Nietzsche, N [1872/73], 19 [259]; 7, 501f.) auf. Und an anderer Stelle heißt es: »Das schlechte Buch von Lotze, in dem der Raum mit Besprechung eines ganz unästhetischen Menschen: Ritter (eines fast schon verschollenen Historikers der Philosophie) oder des verdrehten Leipziger Philosophen Weisse verbraucht wird« (Nietzsche, N [1872/73], 19 [292]; 7, 510 [Hervorhebung i. Orig.]. Damit dürfte Lotzes Werk ›Geschichte der Aesthetik‹ von 1868 gemeint sein. Zur Entstehung des Buches vgl. Falckenberg, Lotze I, 162f.). Am Rande sei trotz der hier vernehmbaren Antipathie auf ins Auge fallende Gemeinsamkeiten zwischen Lotze und Nietzsche hingewiesen. So kommen Nietzsche und Lotze nicht nur im Hinblick auf ihre leidenschaftliche Kunstbegeisterung, sondern auch in ihrer Betätigung als Psychologen und in ihrer grundsätzlichen Skepsis gegenüber jeder Form des wissenschaftlichen Positivismus überein. So versuchen beide, in einer Zeit der radikalen Vorherrschaft mechanistischer
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Der Metaphysische Lebensbegriff
Bevor auf den metaphysischen Lebensbegriff Nietzsches in seinen verschiedenen Entwicklungshinsichten und differenten Schattierungen eingegangen werden kann, ist noch auf einen Sachverhalt Bezug zu nehmen. Das Verhältnis Nietzsches zu der ihm folgenden Lebensphilosophie ist oben im Anschluss an Scheler umrissen worden. Noch zu erörtern ist, wie und in welchem Verständnis Nietzsches Begriff des Lebens als metaphysischer Lebensbegriff im skizzierten Sinne angesprochen werden kann. Denn es ist in der Nietzsche-Forschung alles andere als unstrittig, dass es sich beim Lebensbegriff Nietzsches tatsächlich um einen metaphysischen Lebensbegriff im strengen Sinne handelt. Nietzsches Verhältnis zur Metaphysik und deren Verständnis ist alles andere als eindeutig. Auf der einen Seite sind unübersehbar seine z.T ausfallenden und undifferenzierten Angriffe gegenüber metaphysischem Denken. Besonders im Spätwerk Weltbetrachtung, die menschliche Selbst- und Welterfahrung gegenüber der Dominanz naturwissenschaftlicher Konzepte zu behaupten (zu Lotze vgl. Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, 19–26; zu Nietzsche vgl. Gerhardt, Nietzsche, 188: »Auf dem Höhepunkt mechanistischer Weltbetrachtung versucht Nietzsche also mit seiner Formel vom Willen zur Macht wieder auf den Standpunkt menschlicher Selbst- und Wirklichkeitserfahrung zurückzuführen«; siehe auch a.a.O., 183: »In den Mechanismus toter Kräfte wird etwas Lebendiges hineingeheimnist; der äußeren Wirksamkeit kausaler Ursachen wird ein innerer Grund beigesellt, der sich jeder Messung entzieht«). Allerdings ist ebenso davon auszugehen, dass Lotzes strikte Systematisierungsambitionen, sein Ringen um objektiven Wert und Sinn des Daseins sowie die äußersten Konsequenzen der Philosophie – wie seine Allbeseelungslehre – Nietzsche nicht überzeugt haben. So lässt sich zumindest eine Formulierung aus der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ als direkt gegen ein Theoriedesign à la Lotze gerichtet interpretieren: »Hüten wir uns, zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren? Wie könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es jene thun, die das All einen Organismus nennen? Davor ekelt mir. Hüten wir uns schon davor, zu glauben, dass das All eine Maschine sei; es ist gewiss nicht auf Ein Ziel construirt, wir thun ihm mit dem Wort Maschine eine viel zu hohe Ehre an. Hüten wir uns, etwas so Formvolles, wie die kyklischen Bewegungen unserer Nachbar-Sterne überhaupt und überall vorauszusetzen; schon ein Blick in die Milchstrasse lässt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen giebt, ebenfalls Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen. Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermöglicht – die Bildung des Organischen. Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen« (Nietzsche, FW, 3. [108], 3, 467). Hier übt Nietzsche allerdings nicht nur in Bezug auf Lotze, sondern grundsätzlich ätzende Kritik. Und es liegt auf der Hand, dass von dieser Kritik an einer systematischen Erzeugung von objektiven Wirklichkeits- und Sinnvorgaben konsequenterweise auch das Leben als Thema des Denkens unmittelbar mit betroffen ist. Eine verbindliche Vorstellung vom Leben oder einen objektiv gültigen Begriff des Lebens gibt es für Nietzsche genau so wenig wie einen gültigen normativen Gehalt oder einen intersubjektiv feststellbaren Wert des Lebens. Statt dessen erarbeitet Nietzsche einen metaphysischen Lebensbegriff, der zwar basalen Charakters ist, insofern er auf ein metaphysisches Zentrum zurückgeführt werden kann, aber eben von hier aus nicht mehr im Sinne der überkommenen Organismus-Vorstellung prinzipiell re-systematisiert werden kann.
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gewinnt die Frontstellung gegenüber der Metaphysik an rhetorischer Schärfe. Auffällig dabei ist, dass Metaphysik- und Christentumskritik sich dabei immer mehr annähern. So kann Nietzsche in seiner letzten selbst herausgegebenen Schrift ›Götzendämmerung‹ niederschreiben: »Das Christenthum ist eine Metaphysik des 9 Henkers« . Aber auch schon vorher sind nachhaltige Reserven gegenüber der Metaphysik auszumachen. In der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ bezeichnet sich Nietzsche 10 ausdrücklich als »Gottlosen und Antimetaphysiker« und in ›Menschliches, Allzu11 menschliches‹ konstatiert Nietzsche, »dass jede positive Metaphysik Irrthum ist« , denn solche »metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der 12 Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei« . Und auch im Frühwerk begegnen gegen die Metaphysik gerichtete Tendenzen. So kann Nietzsche schon 1873 in ›Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‹ einen erklärt antimeta13 physischen Standpunkt beziehen. Auf der anderen Seite sind jedoch nicht nur metaphysische Denkbewegungen bei Nietzsche erkennbar, sondern er selbst ist, was das Einräumen, mit metaphysischen Versatzstücken zu operieren, anbelangt, äußerst freimütig. In der ›Geburt der Tragödie‹ erscheint die eine prominente Position einnehmende »Kunst als [die] höchste[] Aufgabe und [...] eigentlich metaphysische[] Thätigkeit dieses Le14 15 bens« . Nietzsche verfolgt hier das Programm einer »aesthetischen Metaphysik« 16 resp. einer »Metaphysik der Kunst« . Diese Perspektive setzt sich fort bis in die ›Vierte unzeitgemässe Betrachtung – Richard Wagner in Bayreuth‹, wo die Wag17 ner-Oper »Tristan und Isolde, das eigentliche opus metaphysicum aller Kunst« darstellt. Und auch noch später tauchen affirmative Bezugnahmen zur Metaphysik auf. So begegnet in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ das schon in der ›Geburt der Tragödie‹ zentrale Motiv des Traums als Ursprung einer Metaphysik, die Nietzsche später bis hin zu seiner Theorie der Metaphysik als notwendiger Schein aus18 baut. Und es gibt nicht nur Stellungnahmen, die expressis verbis einen positiven
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Nietzsche, GD, Die vier grossen Irrthümer, 7., 6, 96 (Hervorhebung v. Vf.). Nietzsche, FW, 5. (344), 3, 577. Nietzsche, MA, I, 20, 2, 42. Nietzsche, MA, I, 22, 2, 43. So z.B. Gerhardt, Nietzsche, 86. Nietzsche, GdT, Vorwort an Richard Wagner, 1, 24. Nietzsche, GdT, 5., 1, 43. Nietzsche, GdT, 24., 1, 152. Vgl. dazu auch die im zeitgleichen Nachlass befindliche Idee, nach der »die Kunst eine metaphysische Bedeutung« besitzt (Nietzsche, N 1871, 9 [94], 7, 309 [Hervorhebung v. Vf.]). Nietzsche, UB, IV, 8., 2, 479. »Im Traume glaubt der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden« (Nietzsche, MA, I, 5, 2, 27 [Hervorhebungen i. Orig.]).
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Der Metaphysische Lebensbegriff
Zug zum Metaphysischen sichtbar werden lassen, sondern Nietzsches Konzeption des Übermenschen, die Vorstellung eines Willens zur Macht, die Lehre von der Zyklik des Seins sind der Sache nach Denkfiguren, die nach klassischer Lesart metaphysische Konstruktionen repräsentieren. Es wundert kaum, dass dieser ambivalente Befund in der Auseinandersetzung mit und um Nietzsche zu zwei gegenläufigen Interpretationsstrategien geführt hat. So gibt es auf der einen Seite – und dabei handelt es sich mehrheitlich um eine Strömung, wie sie etwa seit den 1970er Jahren an Einfluss gewonnen hat –, die, die Nietzsche und seine zentralen Theoreme, wie eben die Lehre vom Willen zur Macht oder die Wiederkunftslehre nicht als metaphysische Konstruktionen interpretieren. Es ist in dieser Beziehung v.a. Wolfgang Müller-Lauter gewesen, der in diese Richtung argumentiert hat. Speziell hat er den Willen zur Macht, oder wie er immer sagt, die Willen zur Macht dezidiert als nicht-metaphysisches Konzept gedeutet. Er notiert: »Die Willen zur Macht […] entspringen weder einem metaphysischen Prinzip, noch lassen sie sich aus dem Ganzen der Welt ableiten«19. Auf fruchtbaren Boden gefallen ist der Ansatz Müller-Lauters bei Autoren wie Günter 20 Abel, der explizit an ihn anschließt, oder Werner Stegmaier, der nachgerade unmissverständlich festhält: »Nietzsches Konzept des Willens zur Macht ist daher nicht, wie Heidegger es wollte, ein metaphysisches Prinzip, und es ist auch nicht, wie jüngere Nietzsche-Interpreten es noch wollen, ein ursprüngliches ontologisches Prinzip, aus dem Nietzsche später ein hermeneutisches Prinzip abgeleitet hätte. In solchen Missverständnissen wirkt noch Schopenhauers Begriff eines metaphysischen Willens zum Leben nach, von dem sich Nietzsche selbst immer wie21 der distanzierte« . Das Votum Stegmaiers macht darauf aufmerksam, gegen wen sich v.a. MüllerLauter, Abel und Stegmeier richten. Es war kein geringerer als Martin Heidegger, der in Nietzsche geradezu eine Ikone der Metaphysik entdeckte. Für ihn war Nietzsche nicht nur Metaphysiker, sondern ihm galt die »Metaphysik Nietzsches als 22 Vollendung der Metaphysik« . Und indem Nietzsche die Metaphysik vollendete,
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In der ›Genealogie der Moral‹ »bemerkt man eine erneute Annäherung [...] an die Metaphysik, denn die Reduktion alles Realen auf die Vorstellung vom Willen zur Macht, durch den das principium individuationis geregelt wird, diese Rückführung aller Eigenschaften auf eine einzige, wenngleich vielgestaltige Wurzel, ist trotz Nietzsches gegenteiliger Absicht eine metaphysische Haltung« (Colli, Jenseits von Gut und Böse, 416, i. Orig. z.T. hervorgehoben). Müller-Lauter, Nietzsche, 32. Vgl. dazu Abel, Dynamik der Willen zur Macht, IX: »Das NietzscheVerständnis ist seit Beginn der siebziger Jahre vor allem durch die Arbeiten von Wolfgang MüllerLauter auf eine neues Niveau gestellt worden«. Abel, Dynamik der Willen zur Macht, IX: »Die von ihm [sc. Müller-Lauter] vertretene Wende gegen eine Auffassung des Willens zur Macht im Sinne eines metaphysischen Prinzips und die Betonung des Primats von der Einheit sowie des Gegensatzcharakters der Machtwillen werden hier aufgenommen«. Auch Michel Foucault interpretiert vor dem Hintergrund seiner Hegel-Kritik Nietzsche als Antimetaphysiker (vgl. Foucault, Nietzsche, 78f.). Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, 306. Heidegger, Metaphysik und Nihilismus, 46.
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hatte er gleichermaßen das letzte Kapitel der abendländischen Metaphysik ge23 schrieben, und aus diesem Grund ist er mit Recht als das »Ende der Metaphysik« anzusprechen. Es ist nun wichtig, bei derartigen kritischen Einreden gegenüber der überaus wirkmächtigen Heideggerschen Etikettierung Nietzsches drei Dinge nicht aus den Augen zu verlieren. Erstens ist es problematisch, mit Heidegger und seiner Nietzsche-Deutung vorschnell das Ende der Metaphysik zu verkünden. Zum Schluss ist es auch Heidegger selbst gewesen, der mit seinem Projekt, eine Fundamentalonto24 logie zu erarbeiten, auch das Reich des Metaphysischen wieder betreten hat. In dieser Beziehung ist Volker Gerhardt zuzustimmen: »Zu Unrecht hat man Nietzsche auch den letzten Metaphysiker genannt. Mit ihm ist die Metaphysik ebenso wenig am Ende, wie sie das nach Kant oder Hegel war. Er hat im Gegenteil nicht eben wenig dazu beigetragen, daß sie auch heute, nach Wittgenstein und Heideg25 ger, mit ihren radikalen Fragen gegenwärtig ist« . Zweitens müssen die Motive im Blick behalten werden, die eine metaphysische Entkleidung Nietzsches leiten. Im Zuge der wachsenden Rezeption interpretationstheoretischer Impulse, wie sie aus dem angelsächsischen Raum u.a. von Davidson, Putnam und Goodmans ausgingen, wird auch der Rekurs auf Nietzsche durch diese Perspektive mitgesteuert. Das führt dazu, dass Nietzsches Theorie der Interpretation primär interessant erscheint, die dann z.T. konsequent aus ihren metaphysischen Einbettungen geris26 sen wird und Nietzsche in Folge dessen als Gegner der Metaphysik erscheint. Und drittens liegt es auf der Hand, dass die grobe Vorsortierung – Nietzsche als Metaphysiker oder Nietzsche als Antimetaphysiker – grundsätzlich zu kurz greift. Bei genauerem Hinsehen zeigt es sich, dass Nietzsche für beides steht. Nietzsche ist eminent Metaphysikkritiker, aber er tritt auch als Metaphysiker auf. Nietzsche richtet sich gegen bestimmte metaphysische Gebilde, um gleichzeitig neue zu er27 schaffen. Paradigmata in sich höchst problematischer metaphysischer Konstruktionen sind für Nietzsche v.a. die Kantische Differenz von Ding an sich und Er28 scheinung , die Annahme eines freien Willens, gegen die Nietzsche im Grunde 29 permanent polemisiert sowie die Romantik, die er abschätzig als Artisten-Meta-
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Heidegger, Metaphysik und Nihilismus, 44. Heidegger, Sein und Zeit, 13. Gerhardt, Nietzsche, 201. So führt Ulrich Barth im Hinblick auf den Ansatz Abels an: »Günter Abel nahm seinen Ausgang von Nietzsches später Deutungstheorie, löste diese jedoch aus ihrer Verbindung mit der lebensphilosophischen Willensontologie ganz heraus, um sie in einen transzendentalen Interpretationismus zu überführen« (Barth, U., Semantischer Interpretationismus, 230). Vgl. Colli, Die nachgelassenen Fragmente von Herbst 1885 bis Herbst 1887, 655: »[E]r [sc. Nietzsche] greift die Metaphysik an und gibt sich selbst als Metaphysiker«. Vgl. z.B. Nietzsche, MA, I, 10., 2, 30; I, 16., 2, 36 oder Nietzsche, GD, Die vier grossen Irrthümer, 3., 6, 91: »Gar nicht zu reden vom Ding an sich, vom horrendum pudendum der Metaphysiker!«. Vgl. Nietzsche, GD, Die vier grossen Irrthümer, 7., 6, 95. Vergleichbare Stellen finden sich im Grunde in jedem Werk.
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physik degradieren kann. Die Reserve gegen derartige Konzepte lässt sich kon31 zentrieren auf eine »Absage an absolute metaphysische Ansprüche« schlechthin. Damit verabschiedet sich Nietzsche von allen denjenigen metaphysischen Konstruktionen, die einem Glauben an das Objekt, das Subjekt, die Substanz oder – 32 formal betrachtet – das System anhängen. Auf der anderen Seite ist Nietzsche Metaphysiker und zwar »ein Metaphysiker 33 im vollen Sinne des Wortes« . Freilich ist dabei nicht ein klassischer oder ein im strengen Sinne kantischer resp. nachkantischer Metaphysikbegriff vorausgesetzt. Nietzsche ist Metaphysiker, insofern er sich mit den Problemen des Seins, des Werdens, der Kausalität, des Denkens, des Ichs, des Willens, des Leibes und der Seele auseinandersetzt, die prima facie bestimmte nichtempirische Realitätserfahrungen beinhalten, sich aber eben nicht im modus einer Letztbegründung er34 weisen lassen. Trotz dieses Verzichts auf Letztbegründung im klassischen Sinne entwickelt Nietzsche in z.T. spekulativem Verfahren metaphysische Theoreme, die u.a. als Reduktionshintergrund herhalten müssen. Insofern kann Nietzsche sehr wohl als Metaphysiker angesprochen werden, und in diesem Sinne scheint es legitim, den Lebensbegriff Nietzsches als metaphysischen Lebensbegriff in Angriff zu nehmen. Es kann im Rahmen dieses Projektes keine so umfassende Rekonstruktion des Nietzscheschen Lebensbegriffes angestrebt werden, wie sie von theologischer Seite etwa Tom Kleffmann vorgelegt hat.35 An dieser Stelle soll es vielmehr darum gehen, im Horizont des Lebensbegriffes den Fokus auf Nietzsches Re-interpretaion und Modifikation des klassischen und kantischen Organismusgedankens hin zu einem metaphysischen Lebensbegriff zu richten sowie die hiermit verbundenen ethisch 36 relevanten Konsequenzen in den Blick zu nehmen. Diese sollen im Durchgang 30 31 32 33 34 35
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Vgl. Nietzsche, GdT, 7., 1, 54; vgl auch die »Artisten Metaphysik« aus Nietzsche, GdT, Versuch einer Selbstkritik, 2., 1, 13. Gerhardt, Nietzsche, 203. Vgl. Colli, Menschliches, Allzumenschliches I, 709. Gerhardt, Nietzsche, 179. Vgl. Thorgeirsdottir, Metaphysik, 282. Tom Kleffmann: Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Tübingen 2003. Kleffmanns Habilitation ist in toto dem Lebensbegriff Nietzsches gewidmet. Er rekonstruiert diesen durch Nietzsches Werk hindurch und verfolgt dessen Rezeption bis hin zum Karl Barth der 30er Jahre. Dabei geht es ihm weniger um ethische Implikationen als vielmehr darum, in systematisch-theologischer Hinsicht der Möglichkeit nachzugehen, »die Wahrheit des Lebens aus dem Wort Gottes ursprünglich neu zu denken und zur Sprache zu bringen« (a.a.O., 19). Zudem ist seine Nietzsche-Interpretation nicht unwesentlich durch Interpretamente der Hegelschen Dialektik gesteuert, was Kleffmann selbt als »problematisches Spezifikum« (a.a.O., 20) anmerkt. In seiner umfangreichen Studie ›Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr‹ geht Günter Abel auch auf Nietzsches Verhältnis zum Organismusbegriff und dessen UmInterpretation ein. Allerdings steht diese weder im Zentrum seiner Untersuchung, weil es ihm mehr um eine Rekonstruktion von Nietzsches interpretativem Zugang zur Wirklichkeit und deren Kulminierung in der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen sowie der hieraus folgenden wissenschaftstheoretischen Implikationen zu tun ist, noch geht er den sich hier ergebenden ethischen
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durch die wesentlichen Epochen des Schaffens Nietzsches verfolgt werden. Dabei wird besonders darauf zu achten sein, wie und mit welchen Argumenten Nietzsche sich von den ihm vorgängigen Organismuskonzeptionen löst und vor dem Hintergrund seiner Lehre vom Willen zur Macht einen metaphysischen Lebensbegriff mit markanten ethischen Implikationen entwickelt.
II. II.1.
Der metaphysische Lebensbegriff des frühen Nietzsche Die ›Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹
Nietzsches erste große Monographie ›Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der 37 Musik‹ (1872) ist auch als Nietzsches schwierigstes Werk bezeichnet worden. Das hängt zunächst damit zusammen, dass das genre dieses opus nicht ganz einfach zu bestimmen ist. Hinzu kommen Verstörungssyndrome, die die Rezeption dieser 38 Schrift begleitet haben. Dem äußeren Anschein nach handelt es sich um die Erörterung eines Spezialproblems der griechischen Kunst- resp. Kulturgeschichte, für das Nietzsche – wie 39 er selbst nicht unbescheiden angibt –, »eine völlig neue Weise zu erklären« beansprucht. Wie der Titel deutlich werden lässt, handelt es sich bei diesem Spezialproblem um die Frage, wie es innerhalb der hellenistischen Kultur etwa Mitte des sechsten Jahrhunderts v.Chr. zur Entstehung der Tragödiendichtung nebst dazu40 gehöriger Aufführungspraxis kommen konnte. Hier arbeitet sich Nietzsche an der ihm vorgängigen und zeitgenössischen Forschung ab. So ist bekannt, dass Nietzsche sich im Vorfeld der Entstehung seiner Tragödienschrift sowohl Karl Otfried Müllers ›Geschichte der griechischen Literatur‹ (Breslau 1857) als auch York von Wartenburgs ›Die Katharsis des Aristoteles und der Oedipus Coloneus des Sophok41 les‹ (Berlin 1866) aus der Basler Universitätsbibliothek ausgeliehen hat.
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Konsequenzen nach. Hinzu kommt, dass Abel im Anschluss an Wolfgang Müller-Lauter einer metaphysischen Rekonstruktion Nietzsches im Allgemeinen und dessen Theorem des Willens zur Macht im Besonderen skeptisch gegenüber steht. Vgl. dazu auch in diesem Kapitel Anm. 19. u.20. »So ist Die Geburt der Tragödie auch Nietzsches schwierigstes Werk« (Colli, Geburt der Tragödie, 902 (i. Orig. teilw. hervorgehoben). Zur umstrittenen Resonanz auf die Geburtsschrift vgl. die von Karlfried Gründer zusammengestellten und eingeleiteten Schriften von Erwin Rohde, Richard Wagner und Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf (Gründer, Streit um Nietzsches Geburt der Tragödie) sowie Joachim Latacz, Furchtbares Ärgernis: Nietzsches Geburt der Tragödie und die gräzistische Tragödienforschung, passim. KSB 3, 194. Nach gängiger (und auch schon zu Nietzsches Zeiten geläufiger) Forschungsmeinung fand die erste öffentliche Aufführung einer Tragödie im Jahre 534 v.Chr. im Rahmen der Grossen Dionysien in Athen statt. Die erste vollständig erhaltene Tragödie (›Die Perser‹ von Aischylos) wird auf das Jahr 472 v.Chr. datiert (vgl. Latacz, Furchtbares Ärgernis, 6f.). Vgl. dazu Latacz, Furchtbares Ärgernis, 18f.
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Der Metaphysische Lebensbegriff
Wie jedoch spätestens bei der Beschwörung eines »dionysischen Grundes des 42 deutschen Geistes« sowie der damit zusammenhängenden Hoffnung auf die »Ge43 burt eines tragischen Zeitalters für den deutschen Geist« deutlich wird, hat Nietzsche den Fokus seiner Fragestellung weder auf eine historisch-ästhetische, noch auf eine fachwissenschaftliche beschränkt. Vielmehr prolongiert er im modus der historisch-ästhetischen sowie fachwissenschaftlichen Erörterung gewonnene Ge44 danken in eine vielfach kritisierte Gegenwartskultur hinein, um sie mit dieser in fast normativer Hinsicht in Korrelation zu setzen. Zum Schluss überschneiden sich wenigstens zeitdiagnostische, wissenschaftstheoretische, anthropologische, kulturresp. kunsttheoretische und geschichts- und lebensphilosophische Überlegungen. Von daher ist es nicht immer ganz einfach auszumachen, wo Nietzsche sich gerade bewegt und was den verborgenen Hintergrund seiner jeweiligen z.T. zwischen diesen Hinsichten oszillierenden Argumentationssequenzen repräsentiert. Von der Grobsortierung her war und ist umstritten, inwieweit sich dieser Text Nietzsches noch der klassischen Altphilologie zugehörig weiß resp. ob Nietzsche hier bereits die Gräzistik hinter sich gelassen hat und sich primär als Philosoph betätigt. Auch hier gehen die Interpretationshinsichten weit auseinander. So erklärt Joachim Latacz: »Friedrich Nietzsche hat seine Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik als Klassischer Philologe, näherhin als Gräzist abgefasst«. Und er führt weiter aus, »dass Nietzsche zu jenem Zeitpunkt überzeugt war, ein gräzistisches Forschungsproblem zu behandeln. [...] Als es geschrieben wurde, war das Buch [sc. GdT] bestimmt, in die Gräzistik hineinzuwirken und in der Gräzistik auf einen grundsätzlich besseren, höheren Standpunkt hinaufzuführen«45. Tom Kleffmann sieht hingegen in der Tragödienschrift in erster Linie den Philosophen Nietzsche am Werk. Für ihn ist Nietzsche in der ›Geburt der Tragödie‹ in erster Linie »Philosoph, der Wissenschaftskritik treibt, nicht Philologe im Sinne einer 46 Fachwissenschaft« . Für beides lassen sich reichlich Begründungen anführen, und zum Schluss macht es gerade die Schwierigkeit des Buches aus, dass Nietzsche eben sowohl als Altphilologe auftritt als auch als Philosoph argumentiert. Von hier aus gesehen erweist sich die Frage, ob Nietzsche in der ›Geburt der Tragödie‹ noch 47 mehr Altphilologe oder schon primär Philosoph war, als müßig. Insofern lassen sich in der ›Geburt der Tragödie‹ wenigstens ein philologischgräzistischer Gegenstand und eine im weitesten Sinne philosophische Perspektive unterscheiden. Die fachwissenschaftliche Idee des Tragödienbuches ist es, Ur42 43 44 45 46 47
Nietzsche, GdT, 19., 1, 127. Nietzsche, GdT, 19.,1, 128. Man denke hier nur an die Ausführungen zur Oper, vgl. Nietzsche, GdT 19, 1, 120ff. Latacz, Furchtbares Ärgernis, 3 (i. Orig. z.T. hervorgehoben). Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 62. Zu den z.T. äußerst scharfen Reaktionen aus dem Lager der Altphilologie, v.a. durch Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf vgl. Janz, Nietzsche, I, 463ff. Wilamowitz sieht in seiner Erwiderung ›Zukunftsphilosophie‹ in Nietzsche v.a. einen inkompetenten Philologen und unwissenschaftlichen Philosophen, der prophetische Weisheiten im Kanzelstil verbreitet.
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sprung und Wurzeln der griechischen Tragödie zu erklären. Die zentrale Antwort hat Nietzsche bereits im Titel mitgeteilt: Es ist die Musik, besser der Geist der Musik, aus dem die Tragödie entstanden sei. In dieser Beziehung ist oft vermutet worden, es sei Nietzsches eigene Musikbegeisterung – und insbesondere die zur Entstehungszeit der ›Geburtsschrift‹ noch 48 offensichtliche Begeisterung für Richard Wagner – gewesen, die ihn schließlich dazu gebracht habe, den Ursprung der Tragödie in der Musik zu verorten. Allerdings dürfte sich dahinter nur die halbe Wahrheit verbergen. Denn dass musikalische Elemente mit zu den essentiellen Wurzeln der griechischen Tragödie gehörten, war eine Einsicht, die in der Gräzistik seiner Zeit ohne weiteres greifbar war 49 und keineswegs als originelle Einsicht Nietzsches bezeichnet werden kann. Die Rezeption dieser Einsicht und deren kreative Füllung und Weiterentwicklung, die sich dann sehr wohl von den ihm zeitgenössischen Theoriestrategien unterschieden haben, stellte sich vor dem Hintergrund seines eigenen Kunst- und Musikfanatismus als unproblematisch dar. Um seine These, die Geburt der Tragödie stamme aus dem Geist der Musik zu plausibilisieren, schlägt Nietzsche grob gesagt folgenden Weg ein: Alle Kunsterscheinungen (und also auch die griechische Tragödie) und deren Entwicklung – so die Ausgangsthese – sind an die anhand zweier griechischer Kunstgottheiten exemplifizierte Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen gekoppelt. Das Apollinische meint dabei eine Gestalt künstlerischer Expression, die wesentlich durch die Momente des Rationalen, Bildlichen und phantastisch Traumhaften gekennzeichnet sind. Das Apollinische generiert sich aus dem menschlichen Bedürfnis, die »Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins«50 qua Erschaffung einer künstlerischen Parallelwelt erträglich werden zu lassen.
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Vom 3. bis 8. April 1871 war Nietzsche aus Lugano bei Wagner in Tribschen angekommen, wo er das Manuskript mit Richard und Cosima Wagner ausführlich besprach und dann in der zweiten Aprilhälfte noch einmal umarbeitete (vgl. Janz, Nietzsche, I, 412f.). Vgl. auch Löwith, Hegel zu Nietzsche, 200: Löwith notiert, dass »die Geburt der Tragödie [...] in der Tat aus dem Geiste der Musik R. Wagners stammt«. »Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte in der Gräzistik eine so intensive Beschäftigung mit griechischer Metrik, Rhythmik und Musik, dass kein Gräzist, der Sinn für Musisches besass, daran vorbei gehen konnte. Insbesondere die Schriften von A. Rosbach und R. Westphal hatten das Bewusstsein für die grundlegende Bedeutung der Musik [...] in der Entwicklung der griechischen Lyrik und damit auch grossenteils der späteren Dramatik geschärft. [...] In den griechischen Literaturgeschichten des 20. Jahrhunderts ist das mehr und mehr abgekommen, so dass spätere Gräzistengenerationen für eine Marotte Nietzsches halten konnten, was in Wahrheit (und mit gutem Grunde) allgemeiner Lernstoff seiner Zeit war: Dass am Anfang der Tragödie die Musik stand, war damals eine allgemein geteilte Überzeugung, nicht nur unter Fachgräzisten, sondern auch im gebildeten Publikum [...]; grade ein Gräzist bedurfte nicht erst Richard Wagners, um zu dieser Einsicht zu gelangen. Allerdings war diese Einsicht vor Nietzsche, soweit ersichtlich, noch nie zum Gegenstande einer monographischen Behandlung gemacht worden. [...] Nietzsches Idee bestand darin, die Sache auf den Punkt zu bringen« (Latacz, Furchtbares Ärgernis, 19f.). Nietzsche, GdT, 3., 1, 34.
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Die diesem entgegen gesetzte artifizielle Praxis des Dionysischen hingegen ist charakterisiert durch Irrationalität, orgiastische Rauschhaftigkeit und kondensiert 51 in der »unbildliche[n] Kunst der Musik« , wobei der »Charakter der dionysischen 52 Musik [...] [i]m dionysischen Dithyrambus« zu Stehen kommt. Sie verdankt sich der Ahnung eines dem Dasein zugrunde liegenden naturwüchsig-vitalen »verhüll53 ten Untergrundes des Leidens« , das sich in der rauschhaften Selbstvergessenheit der Dionysos-Feier expressiv Ausdruck verschaffte. Das Epochale der Entstehung der griechischen Tragödie besteht nun nach Nietzsche darin, dass sie diese beiden Dimensionen des Künstlerischen erstmals kreativ aufeinander bezog. Denn die klassische griechische Tragödie, wie sie bei Aischylos und Sophokles begegnet, ist im dramatischen Ineinander von singendtanzendem Chor und schauspielerischen Sprechakten exakt die produktive Syn54 these von Dionysischem und Apollinischem. Das »Einheitsmysterium« der griechischen Tragödie hat seinen inneren Kern genau darin, dass die irrationale dionysische Expression eines vitalen Seinsgrundes, den Nietzsche mit dem Ausdruck des Ur-Einen versieht, in Gestalt apollinisch-rationaler Lyrik kanalisiert wird, dass in ihr »die lyrische Dichtung [...] die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern 55 und Begriffen« wird. Für das erste steht der Chor der Satyre als »höchste[r], nämlich dionysische[r] Ausdruck der Natur [...] als Abbild der Natur und ihrer stärks56 ten Triebe, ja Symbol derselben« und für das Zweite die Sprechpartien der Schauspieler, die – obwohl in der Regel mythologische Helden darstellend – von hieraus als gleichsam apollinische Repräsentationen des Dionysos selbst erkennbar werden: »[A]lle die berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus 57 u.s.w. [sind] nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysos« . Die klassische attische Tragödie erscheint so als selbst wieder hochartifizielle Synthese der Kunstgestalten des Dionysischen und des Apollinischen, die den hellenischen Zuschauer im Schaudergesang des Chores in seinem Innersten anspricht und aufwühlt, diese Erschütterung aber gleichermaßen durch schauspielerische Interaktion umgehend kompensiert: »Nach dieser Erkenntnis haben wir die griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wie58 der in eine apollinische Bilderwelt entladet« . Dass die Tragödie trotz dieser Doppelung primär aus dem Geiste der Musik entstand, führt Nietzsche nicht nur auf diesbezügliche historische Informationen zu-
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Nietzsche, GdT, 1., 1, 25 (Hervorhebung v. Vf.). Nietzsche, GdT, 2., 1, 33. Nietzsche, GdT, 4., 1, 41. Nietzsche, GdT, 5., 1, 42. Nietzsche, GdT, 6., 1, 50. Nietzsche, GdT, 8., 1, 63 (Hervorhebung i. Orig.). Interessant ist an dieser Stelle der Ausdruck des Ausdrucks. Hier klingt bei Nietzsche ein existenzialistischer Sound an. Nietzsche, GdT, 10., 1, 71. Nietzsche, GdT, 8.,1, 62.
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rück, sondern macht dies auch ex negativo daran deutlich, dass, als Euripides unter dem Einfluss Sokratischer Rationalität mit dem archetypischen Helden Dionysos auch das Dionysische überhaupt – mithin auch den Chor – aus der Tragödie 60 eliminierte, das genre der Tragödie in seiner Einzigartigkeit abstarb. 61 Die neue Gestalt, in die die klassische griechische Tragödie sich auflöste, war die neuere attische Komödie (Meander, Philemon, Aristophanes), die Nietzsche 62 nur abfällig als »entartete Gestalt der Tragödie« apostrophieren kann. Ihr entscheidendes Manko sieht Nietzsche darin, dass sie nicht mehr die Tiefendimension des Daseins anzusprechen in der Lage war, sondern sich nur noch in der Verfla63 chung von Augenblick, Witz, Leichtsinn und Laune ergeht. Für Nietzsche ist damit aber noch nicht das letzte Wort über die Tragödie gesprochen. Vielmehr diviniert er in offensichtlichem Rekurs auf die Musik Wagners und die in ihr unübersehbare Aufnahme und Bearbeitung germanischer Mythologie eine Wiedergeburt der Tragödie. Damit ist nicht nur buchtechnisch exakt der Punkt erreicht, an dem Nietzsche nicht nur sachlich den engeren Bereich einer im weitesten Sinne philologischen Fragestellung verlässt und sich der ihm zeitgenössischen Wirklichkeit zuwendet. Vielmehr wird vor dem Hintergrund seiner Phantasie einer Wiedergeburt der Tragödie spätestens hier deutlich, dass Nietzsche mit seinen Reflexionen auf den Ursprung der Tragödie mehr verbindet als die Beantwortung einer altphilologischen Spezialfrage. Die Tragödie steht für die Repräsentation von Grundverfasstheiten des menschlichen Lebens, die überzeitlich sind. Dionysos und Apollon stehen nicht nur für hellenische Kunstgottheiten, die in ihrem Ineinander zum treibenden movens ästhetischer Produktionen werden, sondern – und das zeigt markant die prinzipielle Doppelbödigkeit der Schrift –, das Dionysische und das Apollinische verweisen auf essentielle Grundtriebe und Instinkte des Lebens resp. das durch sie Ausgedrückte wird erkennbar als Rumpftheorie vitaler Basisphänomene. Erscheinungen des Lebens sind rausch- und traumhafte Repräsentationen des Lebens selbst, das in der Gedankenexplikation der Tragödienschrift von Anfang an mitentwickelt wird. Damit wird gleichermaßen deutlich, dass das Leben als Thema des Denkens in der ›Geburt der Tragödie‹ von Anfang an eine zentrale Bedeutung innehat und nicht 59
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Die »Überlieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass die Tragödie aus dem tragischen Chor entstanden ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war« (Nietzsche, GdT, 7., 1, 52 [i. Orig. z.T. gesperrt]). Vgl. auch Nietzsche, GdT, 16., 1, 102: Dort hält Nietzsche am Anfang des letzten Hauptteils, der die Wiedergeburt der Tragödie zum Thema hat, fest, dass »die Tragödie an dem Entschwinden des Geistes der Musik eben so gewiss zu Grunde geht, wie sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann«. Zum Motiv der Selbstaufhebung, das hier prominent begegnet vgl. Zittel, Selbstaufhebungsfiguren, passim; zur hier behandelten Passage, 24f. Nietzsche, GdT, 11., 1, 76. »Mit ihr [sc. der Komödie] aber hatte der Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an eine ideale Zukunft« (GdT, 11., 1, 78).
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erst in Gestalt der künstlerischen Expression im Chor der Satyrn. Diesem Lebensverständnis der ›Geburt der Tragödie‹ soll im Folgenden genauer nachgegangen werden, um im Anschluss daran auf die ethischen Implikationen nicht nur des Lebensbegriffs im Allgemeinen, sondern der ›Tragödienschrift‹ im Besonderen einzugehen. Die Eintragungen des mitentwickelten metaphysischen Lebensbegriffes lassen sich bereits im Kontext der Exposition ausmachen. Die beiden die gesamte Gedankenentwicklung regierenden Kunstexpressionen des Apollinischen und des Dionysischen werden gleich zu Beginn als Triebe bezeichnet. Damit ist die Sphäre des Vitalen betreten, was sich auch in der benutzten Terminologie durchhält, wenn Nietzsche diese Dopplung z.B. mit der »Zweiheit der Geschlechter«65 vergleicht. Am Rande sei hier auf die im Titel benützte und unweigerlich mit dem Leben zu 66 assoziierende Metapher der Geburt hingewiesen. Die These, bei der basalen bildnerischen und nichtbildnerischen Kunstausübung handele es sich in letzter Instanz um Triebe, wird im Folgenden konsequent 67 vertieft. Nietzsche bezeichnet sie als »unmittelbare[] Kunstzustände der Natur« 68 resp. auch als »Kunsttriebe der Natur« oder als »künstlerische[n] Doppeltrieb der 69 Natur« . Der Begriff Kunsttrieb verdient nähere Beachtung. Es dürfte evident sein, dass damit sicherlich nicht ein Trieb der unbelebten physikalischen Natur gemeint, sondern an die der Natur des Lebens gedacht ist. Dies wird nicht nur daran deutlich, dass zur Exemplifizierung der urwüchsigen Kunsttriebe der Traum und der Rausch herangezogen werden, sondern auch anhand der These, dass der Künstler im strengen Sinne – also ein Mensch, der bewusst wie kreativ bildend oder darstellend Kunstwerke schafft –, allein Nachahmer jener natürlichen Kunstexpressivität 70 ist. Hier schweißt Nietzsche zwei Grundgedanken ganz unverkrampft zusammen, und das gelingt nur, weil er sie eben nicht im strengen Sinne als metaphysische Prinzipien deklariert und braucht, sondern im schöpferischen Ineinanderlesen auf
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»Eine höhere Stufe im Verhältnis von dionysischer Musik und apollinischer Deutung stellt der Chor der Satyrn dar. Er ist die Tragödie in nuce. Der Begriff des Lebens gewinnt zum ersten Mal zentrale Bedeutung. Die Komplexion, die ihn als höchste Stufe begründet, besteht darin, daß die Unbestimmtheit der dionysischen Unmittelbarkeit als solche, ihre gleichgültige, unbestimmte Negativität für das selbstbewu te Individuum, nun ausdrücklich wird« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 97). Nietzsche, GdT, 1.,1, 25. Zur Metapher der Geburt vgl. auch Latacz, Furchtbares Ärgernis, 21. Latacz erwägt, dass Nietzsche das Epitheton der ›Geburtsschrift‹ (im Anschluss an Yorck von Wartenburg) in Reminiszenz an das aus der griechischen Mythologie stammende Motiv der Geburt der Athene aus dem Haupte des Zeus aufgenommen hat. Sicher zu belegen ist diese These allerdings nicht. Nietzsche, GdT, 2., 1, 30. Nietzsche, GdT, 2., 1, 31 (i. Orig. gesperrt). Nietzsche, GdT, 6., 1, 48. Der menschliche Künstler ist immer allein (obzwar durchaus im aristotelischen Sinne) »Nachahmer und zwar entweder als apollonischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler« (Nietzsche, GdT, 2., 1, 30).
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die Struktur Elementarität konzentriert. Damit unterläuft Nietzsche für den Idealismus und Spätidealismus noch konstitutive Dualitäten wie die von Natur und 71 Geist. Der Kunsttrieb des Rausches steht dabei für eine vorrationale Einheitserfah72 rung, eine »mystische[] Einheitsempfindung« , bei der das empirische Subjekt, das Individuum sich auflöst und mit dem Ur-Einen (Nietzsches Kunstwort für den übergegensätzlichen Grund des Lebens) verschmilzt; es sind »jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subject zu völliger Selbstvergessenheit hin73 schwindet« . Der entgegen gesetzte Kunstzustand der Natur hingegen realisiert sich im Schaffen des schönen Scheins einer Phantasiewelt und verdankt sich dem 74 menschlichen Streben, die »Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins« zu überspielen. Analog zu den beiden Kunsttrieben der Natur gibt es zwei Sphären des Lebens, 75 die Nietzsche auch als die »beiden Hälften des Lebens« ansprechen kann. Das eine ist die wache und das andere die träumende Hälfte des Lebens. Die beiden den jeweiligen Hälften zugehörigen Kunsttriebe der Natur verweisen dabei je auf ihre Weise auf essentielle Strukturmomente des Lebens: Der dionysische Kunsttrieb verweist auf das Leben selber, auf seinen vitalen Kern. Nietzsche spricht in dieser 76 Beziehung auch vom »ewige[n] Leben jenseits aller Erscheinungen« . Es entzieht sich wegen seines irrationalen Charakters jeder diskursiven Beschreibung. Schon gar nicht kann eine rein theoretische Annäherung dem im Ur-Einen erfahrbaren 77 Leben gerecht werden. Allerdings so viel wird sich sagen lassen: Das Leben, wie es im Ur-Einen aufscheint, ist ungehemmte wie ungebremste Expressivität, Daseinslust und reine Gier; aber auch ewig Leidendes, Zerstörendes und Widerspruchsvolles. In der Erfahrung des Rausches versenkt sich die Einzelexistenz in dieses Leben, verschmilzt mit diesem, ja wird punktuell dieses Leben selbst: »Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Uebermass von unzähligen, sich in’s Leben drängenden und stossenden Daseinsformen, bei der überschwäng71
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Zum Begriff des Spätidealismus vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, 237. Schnädelbach nennt Christian Hermann Weiße, Immanuel H. Fichte und Hermann Lotze als gewichtigste Vertreter einer »spätidealistische[n] Metaphysik« (a.a.O.). Vgl. auch Hasler, Beherrschte Natur, 176f.: Auch Hasler gebraucht den Ausdruck Spätidealismus und zählt wie Schnädelbach Wei e, Fichte und Lotze zu den gewichtigsten Vertretern dieser Denkrichtung. Nietzsche, GdT, 2., 1, 30. Nietzsche, GdT, 1., 1, 29. Nietzsche, GdT, 3., 1, 35. Nietzsche, GdT, 4., 1, 38. Nietzsche, GdT, 16., 1, 108. Nietzsche hebt »hervor, daß alles Leben unergründlich ist, ja er glaubt sogar, es sei an eine hohe Temperatur der Unvernunft gebunden; doch die dramatischen Konsequenzen rein theoretischer Annäherung an das Leben macht er nie wieder so anschaulich, wie in seiner ersten Schrift« (Gerhardt, Nietzsche, 87).
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lichen Furchtbarkeit des Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das 78 e i n e Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind« . Diese mächtigen mystischen und urwüchsigen Einheitserfahrungen sind jedoch nur von kurzer Dauer. Gleichwohl haben sie einen wichtigen Effekt, und das macht auf eine zweite Dimension des Lebens aufmerksam. Es handelt sich dabei um das empirische Leben resp. wie Nietzsche auch sagen kann, um die »Individualexis79 80 tenz« oder die »alltägliche Wirklichkeit« . Bricht nach der mystischen Schau der Wahrheit des Lebens in der Vereinigung mit dem Ur-Einen die Wirklichkeit wieder hinein, wird sie im Lichte der Wahrheit des Lebens gesehen. Das hat zur Folge, dass das empirische Leben in seiner Abständigkeit zum wahren Leben des UrEinen erfahren wird und das bedeutet es ist in höchstem Masse durch Sinnlosigkeit, Absurdität und Schmach gekennzeichnet. Nietzsche wird nicht müde, mit immer neuen Metaphern das Defizitäre des empirischen Lebens zu umschreiben. So erscheint es bald als furchtbarer und kalter Eisstrom, bald oder als erschreckender und unauslotbarer Abgrund. Zusammenfassender Ausdruck ist der des Ekels. Das durch die mystische Vereinigung mit dem Ur-Einen erschütterte empirische Leben erscheint als nicht im geringsten lebenswert. Das Individuum möchte eigentlich nicht mehr leben, als das Beste erscheint nun der Tod, wie Nietzsche anhand des Walddämons Silen exemplifiziert, der – von König Midas gefangen – gefragt wurde, was das Beste im Leben sei, antwortete: »Das Allerbeste ist für dich [...]: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben«81. Aus diesem Zustand der innersten Verstörung im und über das Leben wird das Individuum – und das ist die dritte Dimension des Lebens –, auf die nun der apollinische Kunsttrieb abhebt – durch die Kunst gerettet, die dadurch gleichermaßen zur Retterin des Lebens selbst wird. »Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst ret82 tet ihn sich – das Leben« . Die Kunst produziert eine Scheinwelt, die den Ekel des Absurden kompensiert, insofern er sich künstlerisch entlädt und ihm so seine lebensbedrohliche Schärfe genommen wird. Dies geschieht exakt dadurch, dass der Grund des Ekels, die Wahrheit des Lebens, wie sie im Ur-Einen erlebt wurde, künstlerisch kanalisiert wird und dem ebenso künstlerisch eine virtuelle Parallelwelt gegenübergestellt wird, die einen Schein erschafft, innerhalb dessen das Wei78 79 80 81 82
Nietzsche, GdT, 1., 109 (Hervorhebung i. Orig.). Nietzsche, GdT, 17., 1, 109. Nietzsche, GdT, 7., 1, 56. Nietzsche, GdT, 3., 1, 35 (Hervorhebung i. Orig.). Nietzsche, GdT, 7., 1, 56. Vgl. dazu Gerhardt, Nietzsche, 85.
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terleben möglich wird. Die Kunst – und freilich denkt Nietzsche hier in erster Linie an die attische Tragödie – ist so »als die zum Weiterleben verführende Ergänzung 83 und Vollendung des Daseins« . Nietzsches Lebensbegriff kommt in der ›Geburt der Tragödie‹ also in einer Dreier-Relation zum Stehen. Es gibt das Ur-Eine als das essentiell Vitale, das empirische Leben des einzelnen Menschen und das imaginierte höhere Leben. Leben als Leben im strengen Sinne ist das Leben, wie es im Ur-Einen vorstellig wird: das diony84 sische Leben. Allerdings führt die Repräsentation des dionysischen Lebens am Orte des Individuums zu einer Erschütterung, die eine künstlerische Kompensati85 on evoziert, und die Kunst nötig wird, »um überhaupt leben zu können[...]« . Sinnbild dieses komplexen Relationengefüges von Leben ist die Tragödie selbst resp. das Ereignis der Tragödie, das so zur Repräsentation des Lebens selbst in seinen drei Dimensionen wird, die zum Schluss auch erst das Handeln ermöglicht. Denn – diese Einsicht ist in der ›Tragödienschrift‹ ebenfalls greifbar –, zum Leben gehört das Handeln, und wenn die Kunst im beschriebenen Sinne das Leben der Individuen ermöglicht, dann auch deren Handeln. Dies verweist auf ethische Implikationen in der ›Geburt der Tragödie‹, die hier abschließend in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden sollen. Gehört das Handeln zum Leben und macht erst die künstlerische Idealisierung des Lebens86 das Leben der Individuen möglich, so heißt das auch, dass die abgründige Konfrontation mit dem Ur-Einen in einen Zustand lethargischer Handlungsunfähigkeit 83
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Nietzsche, GdT, 3., 1, 36. Vgl. auch ebd.: »Der metaphysische Trost, – mit welchem […] uns jede wahre Tragödie entlässt, – dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und Völkergeschichten ewig dieselben bleiben«. Vgl. auch a.a.O., 25., 1, 155f.: »Hier zeigt sich das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Erscheinung in’s Dasein ruft: in deren Mitte ein neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt der Individuen im Leben festzuhalten«. Vgl. endlich auch die im Nachlass befindliche Bemerkung: »Einzige Möglichkeit des Lebens: in der Kunst. Sonst Abwendung vom Leben« (Nietzsche, N 1869/70, 3 [60], 7, 76). Insofern trifft es, wenn Schnädelbach Dionysisches und Leben in der ›Zweiten unzeitgemässen Betrachtung‹ in eins setzt (vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, 192). Allerdings ist damit der Lebensbegriff noch nicht erschöpft. Nietzsche, GdT, 3., 1, 36. Vgl. auch Nietzsche, GdT, 1., 1, 28f.: »Die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und überhaupt der Künste, durch die das Leben möglich und lebenswerth gemacht wird«. Vgl. auch Nietzsche, GdT 25., 1, 155: »Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth macht und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen«. Im Nachlass findet sich eine Passage, in der Nietzsche die künstlerische Verzauberung des Lebens expressis verbis als Idealismus ansprechen kann: »Es sind die Künstler des Lebens; sie haben ihre Götter, um leben zu können, nicht um sich dem Leben zu entfremden. Wichtig der Idealismus der Lebenden zum Leben« (Nietzsche, N 1869/70, 3 [62], 7, 77 [i. Orig. teilw. gesperrt]).
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führt. Dies hat Nietzsche auch ausdrücklich angemerkt: »Die Erkenntnis [sc. der Wahrheit des Lebens im Ur-Einen] tödet das Handeln, zum Handeln gehört das 87 Umschleiertsein durch die Illusion« . Erscheint die künstlerische Umschleierung somit nicht nur zu den lebens-, sondern auch handlungsermöglichenden Bedingungen, so ist damit implizit eine Verhältnisbestimmung zur Moral angezeigt, die eben genau nicht als dasjenige erscheint, was zum Handeln befähigt. Vielmehr ist bereits die Tragödienschrift von einer markanten Moralkritik durchwebt, hinter der jedoch auch wieder ein positives ethisches Konzept hervorschimmert. Um diese ethische Konzept zu vertiefen ist es nötig, noch einmal in das Zentrum der ›Geburtsschrift‹ hinein zu treten und ein Thema zu berühren, dass bislang fast völlig ausgeklammert wurde. Es handelt sich um die Deutung der Person des Sokrates und die daraus entwickelten antimoralischen und -szientistischen Spitzen.88 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Nietzsche mit Euripides den Untergang der Tragödie eingeläutet sieht. Allerdings ist es nicht allein Euripides gewesen, der diesen (für Nietzsche) Sündenfall der europäischen Kulturgeschichte zu verant89 worten hätte. Denn Euripides stand unter dem Einfluss der Lehren des Sokrates. Und diese Lehren stehen für nichts anderes als eine denkerische Revolution, die ihr Zentrum in einer einseitigen Verklärung des Wissens im Wissen fand. Damit haben neue Standards Eingang in das hellenische Denken gefunden, und in erster Linie handelt es sich dabei um die Erhebung des Logizistischen und Sophistischen zum basalen Kriterium intelligenter Expression. Wichtig ist nun insbesondere, dass Sokrates nicht nur für die Etablierung neuer Rationalitäts- und Wissensstandards steht, sondern dass er damit gleichermaßen »die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik«90 massiv angriff. Der Kern jener Attacke bestand in dem Vorwurf, vorgängige und zeitgenössische Erscheinungen der Kunst, Kultur und Moral seien durch einen radikalen Mangel an systematischer Einsicht gekennzeichnet. Dadurch erweisen sie sich nicht als Wissensgestalten im engeren Sinne, sondern sie sind mehr oder weniger unkontrollierter Ausbruch von Instinkt. Damit – so Nietzsche – habe Sokrates nichts anderes vollbracht als die Umkehrung einer am Leben selbst orientierten Kulturtätigkeit hin zur rationalen Überblendung natürlich steuernder Lebensinstinkte. Und in dieser Beziehung ist Sokrates für Nietzsche allein eine »gänzlich abnorme Natur«91. Denn ist »bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöpferisch-affirmative Kraft [...], und das Bewusstsein kritisch und abmahnend [...]: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer – eine wahre Monströsität per
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Nietzsche, GdT, 7., 1, 57. Vgl. dazu Orsucci, Sokratismus, 326. »Dass Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe, entging dem gleichzeitigen Alterthume nicht; und der beredteste Ausdruck für diesen glücklichen Spürsinn ist jene in Athen umlaufende Sage, Sokrates pflege dem Euripides im Dichten zu helfen« (GdT 13., 1, 88). Nietzsche, GdT, 13., 1, 89 (Hervorhebung v. Vf.). Nietzsche, GdT, 13., 1, 90.
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defectum« . Indem sich das Rationalitätsideal des Sokrates durchsetzt, kommt es zum Verdrängen desjenigen, das Nietzsche mit dem Kunstausdruck der 93 94 »instinctive[n] Weisheit« oder auch der »dionysische Weisheit« versieht. Diese wird von hier aus gesehen als gleichsam ethisches Steuerungskonzept einsehbar, insofern es für ein nichtrationales Orientierungspotential steht. Die »unbewusste 95 Metaphysik [d]es früheren Daseins, in allen ethischen Consquenzen« wird ver96 drängt zu Gunsten einer »undionysischen Sitte« . Dahinter verbirgt sich wieder eine veränderte Einstellung zum Leben selbst, das in der rationalen Filterung durch den sokratischen Sophismus und Logizismus zu 97 »einem vom Begriff geleiteten Leben« mutiert. Dies hat in Bezug auf den engeren Bereich der Tragödie den Effekt, dass mit der Adaption sokratischer Rationalitätsstandards die künstlerische Expression der Tragödie gegenüber der Irrationalität des vitalen Lebenskernes mehr und mehr inadäquat wurde. Dem Euripideischen Drama gelingt es nicht mehr die basalen Lebenskräfte zu konzeptualisieren, genau so wenig dann der neueren attischen Komödie. Diese Tendenz sieht Nietzsche schließlich über den Umweg der alexandrinischen Kultur bis in die Neuzeit hinein prolongiert. Sie findet sich so ganz »im Netz der alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntniskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist«98. Allerdings ist dies auch der vom Leben entfremdete Mensch, dessen ethische Wegleitungen so vom Leben selbst abständige sind. Hinzu kommt, dass das sokratische Rationalitätsideal noch von einer anderen Seite einen Zugang zum Leben unterminiert. Der Rationalitätsfixiertheit der Moderne, wie sie u.a. in den positiven Naturwissenschaften anschaulich wird, inhäriert ein kunstfeindliches Moment, das so durch eine Ausmagerung an Expressionspotential auch vom Leben entfernt. Nietzsche 99 diagnostiziert in dieser Beziehung ein geradezu bilderstürmerisches Moment. Diesen Zustand kann Nietzsche schließlich auch mit den Epitetha der Erlösungsbedürftigkeit apostrophieren, wenn er die Wiedergeburt der Tragödie beschwörend ausruft: »[G]laubt mit mir an das dionysische Leben […] wagt es nur, 100 tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden« . So lässt sich in der
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Nietzsche, GdT, 13., 1, 90. Nietzsche, GdT, 13., 1, 90. Nietzsche, GdT, 19., 1, 128 (i. Orig. gesperrt). Nietzsche, GdT, 23., 1, 148. Nietzsche, GdT, 12., 1, 83. Nietzsche, GdT, 24., 1, 153. Nietzsche, GdT, 18., 1, 116 (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. dazu die Notiz aus dem Nachlass: »Der Realismus des jetzigen Lebens, die Naturwissenschaften haben eine unglaublich bildungsstürmerische Kraft; ihnen muss die Kunst entgegengebracht werden« (Nietzsche, N 1870, 5 [28], 7, 99). 100 Nietzsche, GdT, 20., 1, 132.
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›Geburt der Tragödie‹ schließlich der ethische Imperativ vernehmen: Sei Leben! Ein Aufruf, der nicht nur das Gebäude des Orientierungsuchenden durchhallt, sondern sich gleichermaßen an den Strebungen des inneren Raums bricht, um in der katastrophalen Interferenz gleichsam die Implo- und Explosion von Leben vorwegzunehmen. Dem entspricht – nebenbei bemerkt – die sich bis in die poetische Verzerrung hinein begegnende Indifferenz artifizieller Sprache, die bisweilen im rational-unrationalen Sagen des unaussprechlichen Gesagt-Werden-Müssens, oder besser Gesagt-Sein-Wollens, die unterbödig lebendige Kernsubstanz von Leben überhaupt an die Oberfläche bringt. Die Formel Sei Leben! lässt sich so mühelos als ethisch-metaphysische Parallelkonstruktion einsehen, die in normativer Hinsicht ihre Konvergenz mit dem im Leben angetroffenen Erlösungspotential antizipiert. Das Kondensat dieses Imperatives lässt sich dahingehend konzentrieren, dass Nietzsche eine vom Leben selbst entfremdete Kultur dazu aufruft, sich der Vieldimensionalität des Lebens in seiner Abgründigkeit zu stellen. Und das bedeutet, das Wagnis des Lebens in seiner Spannung zwischen Irrationalität und künstlerischer Expressivität zu leben. Adressat dieses Imperativs ist ein im Menschen subsistierender »Wille nach diesem Dasein«102, der in der Kunst – insbesondere der Musik – das Leben verwirklicht: »Allein in der Musik sind wir noch nicht wissenschaftliche historische Menschen: wir 103 leben noch bei der Palestrina: ein Beweis, daß wir hier wirklich lebendig sind« . Am letzten Zitat wird wiederum deutlich, dass im modus der ihm zeitgenössischen Wissenschaft solches kaum möglich ist. Nietzsches Theorie steht so gleichsam für die konsequente Entziehung des Lebens von der Wissenschaft und durch die Wissenschaft als vermeintliche Lebensgestalt. Wissenschaft ist ihm überlebendlich, weil sie – verzerrt oder lebensgerecht – lebenserhaltende Funktionalität besitzt, aber nie in toto für das Leben eintreten kann. Eine Wahrheitsabwägung im Sinne methodisch kontrollierter System-Wissenschaft, die auf im weitesten Sinne Übereinstimmungsrelationalität abzielt, ist in den Augen Nietzsches abwegig. Nietzsche geht es um ein unbändiges Kreativitätspotential des Lebens, das nicht in statische Positionen, wie klassische Systemwissenschaft überführbar ist. Mit der Wissenschaft in Allgemeineren wie im Spezielleren und ihrem Verhältnis zum Leben hat sich Nietzsche dann v.a. in seiner ›Zweiten Unzeitgemässen‹ näher auseinander gesetzt. Sie ist im Folgenden näher zu untersuchen.
101 Vgl. Nietzsche, GdT, 16., 1, 108: »In der dionysischen Kunst und in der tragischen Symbolik redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme: Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter«. 102 Nietzsche, GdT, 3., 1, 37. 103 Nietzsche, N 1871, 13[2], 7, 373 (Hervorhebung i. Orig.). In einer in unmittelbarer Nähe stehenden Notiz spricht Nietzsche von den »Lebendigen in der Musik« (Nietzsche, N 1871, 13 [4], 7, 373).
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Die ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ Einleitung
In der ›Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung‹ firmiert der terminus des Lebens bereits im Titel. Dabei handelt es sich bei dem Aufsatz ›Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‹ (1874) um eine von insgesamt vier ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹, die Nietzsche mit einigen Unterbrechungen zwischen dem Frühjahr 1873 und dem Frühjahr 1876 verfasst hat. Ursprünglich hatte Nietzsche eine Reihe von zehn resp. 13 Abhandlungen geplant. Dass es nur bei den bekannten vier blieb, dürfte v.a. daran liegen, dass Nietzsche erstens durch Krankheitsschübe immer wieder in der Arbeit unterbrochen wurde, sich zweitens im Zuge der Publikation der dritten Betrachtung Störungen des Verhältnisses zwischen Nietzsche und seinem Leipziger Verleger Fritzsch ergaben und es drittens überdies kurz nach der Publikation der vierten Schrift zum endgültigen Bruch mit Richard Wagner kam.104 Die erste Betrachtung ›David Strauss der Bekenner und Dichter‹ ist eine Generalabrechnung mit dem deutschen Liberalismus, die auf die Person David Friedrich Strauß’ und dessen vielbeachtetes und -diskutiertes Werk ›Der alte und der neue 105 Glaube. Ein Bekenntniß‹ (Leipzig 1872) hin konzentriert wird. Strauß selbst wird größtenteils im modus bösartigster Angriffe als Paradigma eines »Bildungs106 philisters« vorgeführt. Ein Bildungsphilister ist dabei Repräsentant einer kranken Wissenschaftskultur, wie sie sich insbesondere im Gefolge Hegels und Schleiermachers herausgebildet hat und die an einem unheilbaren Fortschrittsglauben lei107 det. Dies führt im Gegensatz zu der partiell affirmierten Philosophie Schopen108 hauers zu einem »incurable[n] Optimismus« , der allerdings der Meinung Nietzsches nach selbst wiederum in sich ziellos verfasst ist, weil er sich der Frage nach seinem eigenen Nutzen oder Nachteil nicht stellt und damit am menschlichen Leben, das eben nicht ohne weiteres als Ausdruck eines ungebremsten Optimismus interpretiert werden kann, vorbei geht. Auf diese Weise erweist sich der Bildungsphilister als Partizipant eines ignoranten, blinden und ziellos Wissensgehalte generierenden Wissenschaftsbetriebs, und 104 Für eine fünfte Unzeitgemässe Betrachtung, die den Titel ›Die Pflugschar‹ tragen sollte (vgl. Nietzsche, EH, Menschliches, Allzumenschliches, 2., 6, 324), hatte Nietzsche schon begonnen, Material zu sammeln und im Frühsommer 1876 erste Diktate niederschreiben lassen. Sie sind dann in die Aphorismussammlungen eingegangen, aus denen später ›Menschliches, Allzumenschliches‹ (vgl. Janz, Nietzsche I, 713f.) wurde. 105 Zur ersten Betrachtung vgl. auch Janz, Nietzsche I, 533ff. und Gerhardt, Nietzsche, 39. 106 UB, I, 1, 165 (i. Orig. gesperrt). 107 »Wer einmal an der Hegelei und Schleiermacherei erkrankte, wird nie wieder ganz genesen« (Nietzsche, UB, I, 6., 1, 191). 108 Nietzsche, UB, I, 6., 1, 191. Zur Beurteilung Hegels und zur Beziehung zum Hegelianismus der 1840er Jahre vgl. Löwith, Hegel zu Nietzsche, 193–206.
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das Projekt Strauß’, einen Neuen Glauben zu etablieren, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil der Glaube hier grundsätzlich im Siechtum der Wissenschaft aufgelöst und nicht als das gefasst wird, was er ist, nämlich – wie Nietzsche trotz aller Kritik in überraschender sachlicher Nähe zum frühen Schleiermacher 109 erklären kann – »Empfindung für das All« . Grob gesagt kann die ›Erste Unzeitgemässe Betrachtung‹ gelesen werden als eine radikalisierte und konzentrierte Verlängerung der aus der ›Tragödienschrift‹ bekannten Thesen, die Neuzeit sei ganz im Netz der alexandrinischen Theologie gefangen und durch eine markante antikünstlerische Einstellung geprägt. Letzteres wird besonders im zweiten Teil der Schrift deutlich, in der Nietzsche in scharfzüngiger Doppelverwendung das Buch Strauß’ noch in einer weiteren Hinsicht als Konfession interpretiert, nämlich – im Rekurs auf den zugegebenermaßen mitunter sperrigen Stil Strauß’ – als Bekenntnis einer katastrophalen Wissenschaftsprosa, was Nietzsche an zahllosen Exempeln deutlich zu machen sucht und was er in Anlehnung an Schopenhauer auf den Ausdruck eines »Lumpen-Jargon[s] der Jetztzeit«110 bringt. Die zweite Betrachtung ›Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‹ kann in die gedankliche Flucht der ersten eingeordnet werden. Da auf sie weiter unten ausführlich eingegangen werden soll, sei an dieser Stelle nur soviel angedeutet: Sie spezifiziert die skizzierte Wissenschaftskritik auf den engeren Bereich der Historiographie hin, hat aber insofern ein weiterführendes Interesse, als sie im Gegensatz zur ersten einen Massstab unverstellter Wissenschaftsgestaltung namhaft macht, nämlich – wie es bereits im Titel heißt – das Leben. Aus diesem Grunde ist sie im Rahmen dieser Arbeit von so besonderem Interesse. In der dritten Abhandlung ›Schopenhauer als Erzieher‹ – sie erschien am 15. Oktober 1874 – geht es in erster Linie nicht um die Philosophie Schopenhauers, sondern um die Existenz des Philosophen, besser um die Existenz Nietzsches als Philosophen, welche dann freilich als Paradigma wahrhaft philosophischer Existenz inszeniert wird. In den retractationes von ›Ecce homo‹ äußert Nietzsche in dieser Beziehung fast unmissverständlich: »[D]agegen ist in Schopenhauer als Erzieher meine innerste Geschichte, mein Werden eingeschrieben. Vor Allem mein Gelöbniss! ... Was ich heute bin, wo ich heute bin – in einer Höhe, wo ich nicht mehr mit Worten, sondern mit Blitzen rede -, oh wie fern davon war ich damals noch! – Aber ich sah das Land, – ich betrog mich nicht einen Augenblick über Weg, Meer, Gefahr – und Erfolg! Die grosse Ruhe im Versprechen, dies glückliche Hinausschaun in eine Zukunft, welche nicht nur eine Verheissung bleiben soll! – Hier ist jedes Wort erlebt, tief, innerlich; es fehlt nicht am Schmerzlichsten, es sind Worte darin, die geradezu blutrünstig sind. Aber ein Wind der grossen Freiheit bläst über Alles weg; die Wunde selbst wirkt nicht als Einwand. – Wie ich den 109 Nietzsche, UB, I, 9., 1, 211. Nietzsche hat allerdings bei dieser Empfindung des Alls die Erfahrung des »Frommen alten Stils« (ebd.) vor Augen. 110 Nietzsche, UB, I, 12., 1, 228.
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Philosophen verstehe, als einen furchtbaren Explosionsstoff, vor dem Alles in Gefahr ist, wie ich meinen Begriff Philosoph meilenweit abtrenne von einem Begriff, der sogar noch einen Kant in sich schliesst, nicht zu reden von den akademischen Wiederkäuern und andren Professoren der Philosophie: darüber giebt diese Schrift eine unschätzbare Belehrung, zugegeben selbst, dass hier im Grunde nicht Schopenhauer als Erzieher, sondern sein Gegensatz, ›Nietzsche als Erzieher‹, zu Worte 111 kommt« . In ›Schopenhauer als Erzieher‹ selbst freilich entwirft Nietzsche ausgehend vom Schopenhauerschen Gedanken eines heroischen Lebenslaufes das Bild resp. den 112 Typus des »Genius [als] höchste Frucht des Lebens« , was er anhand von Beispielen wie Beethoven, Goethe, Wagner und natürlich Schopenhauer als – wie Nietz113 sche auch sagen kann – »Naturen von Erz« illustriert. Diese wahrhaft heroischen Existenzen erweisen sich allererst als solche, da sie es vermögen, das Leben zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung vollzieht sich so, dass der Philosoph oder Künstler – und hier lässt sich wieder der Schatten des Lebensbegriffs der Geburtsschrift ausmachen –, stellvertretend das Schreckliche und Furchtbare des Lebens erleidet aber auch überwindet, indem er die Existenz eines schöpferisch schaffenden Heroen ergreift, der das Leben im expressiven philosophisch-künstlerischen Zwiegespräch unablässig und kreativ bejaht. Es ist in dieser Beziehung darauf hingewiesen worden, dass sich an dieser Stelle im opus Nietzsches bereits das Motiv des Übermenschen vernehmen lässt.114 Die vierte Betrachtung schließlich, ›Richard Wagner in Bayreuth‹, vermutlich die von den vier, die am stärksten mit den Mitteln der Rhetorik operiert, unterscheidet sich in der Makroperspektive von der dritten markant dadurch, dass der Fokus nun wieder mehr auf die Kunst gerichtet wird, und zwar in dem Sinne, wie 115 sie es vermag, lebensrettende resp. -erhaltende Dimension des Daseins zu sein. Die vorausgesetzte Konstruktion und Theorieperspektive ist also auch wieder die der ›Geburtsschrift‹. Während in der dritten Betrachtung der heroische Philosoph und sein Schaffen in die Funktion artifizieller Daseinsverklärung einspringen konnte, was primär anhand der Person Schopenhauers anschaulich gemacht wurde, nimmt nun Wagner und seine Kunst diese Position ein, wobei Nietzsche, wie er die Schopenhauer-Darstellung durch Bespiele der Kunst flankiert, in der vierten 111 112 113 114 115
Nietzsche, EH, Die Unzeitgemässen, 3., 6, 320 [Hervorhebung i. Orig.]. Nietzsche, UB, III, 3., 1, 363. Nietzsche, UB, III, 3., 1, 352. Vgl. dazu Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 20ff. »Aber gerade darin liegt die die Grösse und Unentbehrlichkeit der Kunst, dass sie den Schein einer einfacheren Welt, einer kürzeren Lösung der Lebens-Räthsel erregt. Niemand kann am Leben leiden, kann dieses Scheins entbehren [...]. Je schwieriger die Erkenntnis von den Gesetzen des Lebens wird, um so inbrünstiger begehren wir nach dem Scheine jener Vereinfachung, wenn auch nur für Augenblicke, um so grösser wird die Spannung zwischen der allgemeinen Erkenntnis der Dinge und dem geistlich sittlichen Vermögen des Einzelnen. Damit dieser Bogen nicht breche, ist die Kunst da« (UB, IV, 4., 453 [i. Orig. z.T. gesperrt]).
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Der Metaphysische Lebensbegriff
Betrachtung das Augenmerk auf Wagner auch als theoretischen Schriftsteller 116 lenkt. Das Leben Wagners wird vor diesem Theoriefundament her als »die allmähliche 117 Offenbarung des dithyrambischen Dramatikers« in Szene gesetzt, und seine Mu118 sik als die Wiedergeburt »des tragischen Kunstwerkes« : Beides erreicht einen (vorläufigen) Kulminationspunkt in der Grundsteinlegung des Festspielareals in Bayreuth am 22. Mai 1872; ein Ereignis, das Nietzsche in seiner geradezu epochalen Bedeutung als Beginn einer neuen Zeit zu würdigen nicht müde wird. Pathetisch kann er ausrufen: »Für uns bedeutet Bayreuth die Morgen-Weihe am Tage des 119 Kampfes« . Dieser Kerngedanke wird von der theoretischen Klammer gehalten, dass wahrhaft Großes allein in der Spannung von Schaffendem und Erlebenden entsteht. Die Erlebenden, das ist das Publikum, aber nicht ein Publikum, wie es im Theater seiner Zeit anzutreffen ist – hier übt Nietzsche sich wieder in massiver Kunstschelte – sondern ein Publikum, das der mit Wagner wiedergeborenen Tragödie entspricht. Ein Publikum, das durch sie geschaffen wird; ein neues Publikum, für das ein neues Theater gebaut und aufgeführt werden muss: Bayreuth. Versucht man ein gemeinsames theoretisches Profil der ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ auszumachen, so fällt folgendes ins Auge: Erstens – und das scheint zunächst eine triviale Beobachtung zu sein – geben sie sich dem Titel nach als unzeitgemäß. Bloß, was heißt dies genau? Wenigstens wiederum drei Charakteristika des Unzeitgemäßen lassen sich erkennen. Unzeitgemäß zu sein, dazu gehört zunächst ein zeitdiagnostisches Moment und das bedeutet, sich in theoretischer Perspektive aus der gegenwärtigen Zeit herauszunehmen und sich gewissermaßen in eine übergegenwärtige analytische Beobachterperspektive zu begeben.120 Dies impliziert zweitens ein kritisches Moment. Die bewusste Selbstextripation aus dem Jetzt eröffnet die Möglichkeit, vermeintliche Wahrheiten und Selbstverständlichkeiten der Gegenwart zu hinterfragen und gegebenenfalls als Fehlentwicklungen zu enttarnen. So notiert Nietzsche in der ›Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung‹: »Unzeitgemäss ist auch diese Betrachtung, weil ich etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und 121 Mangel der Zeit zu verstehen versuche« . Und drittens ist damit schließlich auf einen Massstab der Zeiteinschätzung und v.a. der Kritik abgehoben, den Nietzsche geradezu beiläufig in der dritten Betrachtung an die Hand gibt. Dort heißt es von 116 Vgl. Nietzsche, UB, IV, 8., 1, 477f. 117 Nietzsche, UB, IV, 8., 1, 472. 118 Nietzsche, UB, IV, 4., 1, 451. In dieser Beziehung kann Nietzsche Wagner auch ohne weiteres mit Aischylos vergleichen (vgl. UB, IV, 4., 1, 446). 119 Nietzsche, UB, IV, 4., 1, 451. 120 »So werden alle Die, welche das Bayreuther Fest begehen, als unzeitgemässe Menschen empfunden werden: sie haben anderswo ihre Heimath als in der Zeit und finden anderwärts sowohl ihre Erklärung als ihre Rechtfertigung« (Nietzsche, UB IV, 1., 1, 432). 121 Nietzsche, UB, II, Vorwort, 1, 246.
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der perspektivischen Eingestelltheit des Unzeitgemäßen – und zwar wie Nietzsche ausdrücklich festhält »das Wort im tiefsten Verstande genommen« –, dass er »ein122 fach und ehrlich[] im Denken und Leben, also unzeitgemäss« sei. Damit ist eine Übereinstimmungsrelation zwischen Denken und Leben angesprochen, die durch Einfachheit (auf das Wesentliche des Daseins konzentriert im Gegensatz zur unkontrollierten Wissensanhäufung) und Ehrlichkeit (die unverstellte Expression der Daseinsfundamente gegenüber einer hypertheoretischen Verzerrung) gekennzeichnet ist; einen Sachverhalt, den Nietzsche später mit dem Ausdruck der intellektuellen Redlichkeit versieht. Zweitens – was die perspektivische Einordnung der vier ›Unzeitgemässen‹ anbelangt – so stehen sie allesamt in der Gedankenflucht der ›Tragödienschrift‹. Die permanente Wiederaufnahme zentraler philosophischer Gedankenkreise ist unübersehbar. Es sei nur auf vier Punkte hingewiesen. Das Motiv der Wiedergeburt der Kultur, die Vorbildfunktion der antiken Hellas, die wissenschaftskritische Eingestelltheit und endlich der ständige Rekurs auf das Leben. Was das Letztgenannte – das Rekurrieren auf das Leben – betrifft, so gibt es indes nicht nur Übereinstimmung, sondern der Lebensbegriff wird in bestimmten Hinsichten zusätzlich vertieft. Dabei ist vor allem eine normative Vertiefung wahrnehmbar. Dies soll im folgenden Abschnitt anhand der ›Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung‹ näher untersucht werden. Nietzsche war sich der Nähe der ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ zur ›Geburtsschrift‹ sehr wohl bewusst. So schreibt er ziemlich genau ein Jahr vor dem Erscheinen der ›Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung‹ am 25. Februar 1874 in einem Brief an Gersdorf vom 24. Februar 1873: »Meine Schrift wächst und gestaltet sich zu einem Seitenstück zur Geburt«123. Bevor nun in die zweite Betrachtung eingestiegen werden kann, ist noch auf ein drittes und letztes Spezifikum der ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ hinzuweisen. Dies betrifft den von Nietzsche gefundenen Stil. Nicht nur in den Ausfällen gegenüber Strauß ist eine Drastik und Unflätigkeit der Sprache sowie ein arroganter Sarkasmus wahrnehmbar. Nietzsche hat seine eigene Unmäßigkeit in der Kritik wie im Ausdruck selbst gespürt und damit entschuldigt, dass er darin auch nur Opfer übermächtiger zeitgenössischer Fehlentwicklungen sei: In Folge eines Übermaßes an Historie zeigte die ›Zweite Unzeitgemässe Betrachtung‹ die Krankheiten der Zeit »in der Unmässigkeit ihrer Kritik, in der Unreife ihrer Menschlichkeit, in dem häufigen Uebergang von Ironie zum Cynismus, von Stolz zur Skepsis ihrer modernen Charakter, den Charakter der schwachen Persönlichkeit«124.
122 Nietzsche, UB, III, 2., 346 (i. Orig. z.T. gesperrt). 123 Zit. nach Janz, Nietzsche I, 577. 124 Nietzsche, UB II, 1., 324. Zur Ironie vgl. auch Nietzsche, MA, I, 6. (371), 2, 259: »Die Ironie ist nur als pädagogisches Mittel am Platze, von Seiten des Lehrers im Verkehr mit Schülern […]: ihr Zweck ist Demüthigung, Beschämung, aber von jener heilsamen Art, welche gute Vorsätze erwachen lässt um Dem, welcher uns so behandelt, Verehrung, Dankbarkeit als einem Arzte entgegenbringen heisst«.
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II.2.2
Der Metaphysische Lebensbegriff
›Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‹
Für das in Frage stehende Thema ist die ›Zweite Unzeitgemässe Betrachtung‹ nicht nur von besonderem Interesse, weil der terminus des Lebens explizit im Titel erscheint, sondern auch, da – mehr noch als in den anderen drei Abhandlungen – erkennbar wird, dass Nietzsche das Wort dezidiert als Philosoph ergreift. Dass Nietzsche nun in erster Linie als Philosoph auftritt, wird zunächst an der Tatsache deutlich, dass er gezielt auf die geschichtsphilosophischen Großentwürfe seiner Zeit eingeht. So steht unübersehbar die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch mächtige Geschichtsphilosophie Hegels im Kreuzfeuer seiner angriffslustigen Kritik genauso wie die eine Synthese zwischen Schopenhauer und Hegel suchende Theorie des Weltprozesses eines Eduard von Hartmann.125 Nietzsche tritt also primär auf als vehementer Kritiker der Geschichtsphilosophie und macht im modus der Kritik auf kulturelle Entgleisungen historischen Denkens aufmerksam. Der Standpunkt Nietzsches in kritischer Hinsicht ist dabei als der eines Kulturphilosophen anzusprechen, der es sich auf die Fahnen ge126 schrieben hat, eine als krank diagnostizierte Kultur zu kurieren. Insofern bezieht Nietzsche in der Historienschrift gewissermaßen die Position eines Arztes der Kul127 tur. Allerdings stellt dieser Arzt nicht nur eine Diagnose, sondern er erlaubt sich auch einen Therapievorschlag. Dieser enthält denn auch Nietzsches eigene histo128 riographische Theorie, die sich – wie bereits angedeutet – am Leben orientiert. Auch wenn der Ausdruck Arzt der Kultur in der Historienschrift selbst nicht fällt, so ist die Tätigkeit eines Arztes sachlich und begrifflich unübersehbar. So steht im Zentrum der Schrift eine gründliche Diagnose, die subtil auf die Pathologie einer »historischen Krankheit«, die durch das »Übermass der Historie […] die plastische 129 Kraft des Lebens angegriffen« hat, konzentriert wird, und deren augenfälligstes 125 Vgl. dazu die höhnische Verspottung Hegels im achten Kapitel: »Man hat die[] Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn das Wandeln Gottes auf Erden genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht wird. Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hirnschalen durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen: so dass für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eigenen Berliner Existenz zusammenfielen« (Nietzsche, UB, II, 1., 308). Zur Auseinandersetzung Nietzsches mit Hegel, vgl. Löwith, Hegel zu Nietzsche, 192-198; Meyer, Ästhetik der Historie, 26-32. Zu Nietzsches Verhältnis zu E. v. Hartmann vgl. Janz, Nietzsche, I, 562–564. 126 Curt Paul Janz spricht in Bezug auf die zweite Betrachtung vom »Kulturkritiker Nietzsche« (Janz, Nietzsche, I, 558). 127 In einem Brief an Carl von Gersdorf vom 24. Februar 1873 und in einem Brief an Rohde vom 22. März desselben Jahres erwägt Nietzsche als Titel der UB II die Formulierung: »Der Philosoph der Arzt der Cultur« (vgl. Jansen, Nietzsche I, 558). Diese findet sich auch mehrfach im zeitgleichen Nachlass (Nietzsche, N 1872/73, 23 [15], 7, 545) und 30 [8], 7, 734.). Vgl. dazu auch Gerhard, Nietzsche, 39. 128 In diesem Sinne versteht Nietzsche seine Schriften später auch noch als ein Art »Feldapotheke des Seele« (Nietzsche, FW, 5., [571], 3, 330). 129 Nietzsche, UB, II, 10., 1, 329 (i. Orig. teilw. gesperrt).
Der metaphysische Lebensbegriff des frühen Nietzsche
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Symptom in einem »verzehrenden historischen Fieber« nachgerade messbar wird. Und auch ist der Arzt um »die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer 131 Cultur« besorgt und vergisst in diesem Sinne auch nicht, das medizinische Rezept 132 in Gestalt einer »Gesundheitslehre des Lebens« auszustellen. Im Folgenden soll zunächst auf Nietzsches Kulturdiagnose und seinen Therapievorschlag eingegangen werden, um im Anschluss daran auf die dahinter stehende Vertiefung des Lebensbegriffes und dessen ethische Implikationen hinzusteuern. Die historische Krankheit, die Nietzsche am Leben der ihm zeitgenössischen Kultur diagnostiziert, äußert sich in fünf Hinsichten. Es handelt sich erstens um die Erzeugung eines Kontrastes von Innen und Außen, durch den es zu einer markanten Schwächung der Persönlichkeit kommt, zweitens um die Entstehung einer Gerechtigkeits- resp. Objektivitätsvermeinung im Hinblick auf die Historie selbst und auf frühere Gesellschaften, drittens um die Lähmung natürlicher Kulturinstinkte, die ein Reif-Werden des Einzelnen und der gesamten Kultur behindern, viertens um die Generierung eines Glaubens an das Alter der Menschheit und die eigene Epigonalität und fünftens und letztens um das Hervortreten einer selbstironischen und zynischen Eingestelltheit.133 Was das erste anbelangt, so meint Nietzsche damit die Selbstauflösung der Persönlichkeit in den abstrakten Bildungsmenschen. Dafür ist ein klar benennbarer Psychologismus verantwortlich. Durch den stetigen via Historienkultur evozierten Zwang, alles durch den Verstand historisch zu konzeptualisieren, manövriert sich das moderne Individuum hinsichtlich seiner und fremder Handlungen in eine Zuschauerposition. Die historische Konfiguration der Wirklichkeit avanciert dabei zum primären Orientierungssystem, was die fatale Konsequenz nach sich zieht, dass es sich von seinen natürlichen Instinkten insofern distanziert, als diese nicht mehr als Steuerungsinstanz zugelassen werden.134 Das ist gleichbedeutend mit einer radikalen Verinnerlichung im Gegenüber der äußeren historischen Repräsentation der Realität, was in dem Sinne einer Entkernung der Persönlichkeit gleichkommt, dass das Individuum angesichts der durch die Historie vorgegebenen Zielperspektiven des Geschehens keine persönlichen Zwecke mehr setzt und ver130 Nietzsche, UB, II, Vorwort, 1, 246. 131 Nietzsche, UB, II, 1., 1, 252 (i. Orig. gesperrt). 132 Nietzsche, UB, II, 10., 1, 331 (i. Orig. gesperrt). In diesem Sinne weiß sich der Philosoph dann primär dem Leben verpflichtet, wie Nietzsche auch im Nachlass unmissverständlich festhält: »Er [sc. der Philosoph] hat nur dem Leben zu helfen. […] Er beweist die Notwendigkeit der Illusion, der Kunst und der das Leben beherrschenden Kunst. […] Ungeheure Aufgabe und Würde der Kunst in dieser Aufgabe! Sie muß alles neu schaffen und ganz allein das Leben neu gebären!« (Nietzsche, N 1872/73, 19 [36], 7, 428f. [Hervorhebung i. Orig.]). 133 Vgl. Nietzsche, UB II, 5., 1, 279. Vgl. dazu auch die im Nachlass befindliche Notiz: »Die Historie dem Leben feindlich: 1. erzeugt den gefährlichen Contrast von Innen und Äusserlich. 2. erweckt den Anschein der Gerechtigkeit. 3. hindert das Reif- und Fertigwerden. 4. erweckt den Glauben an das Alter der Menschheit und ist der advocatus diaboli. 5. eignet für Dienst des klugen Egoismus« (Nietzsche, N 1873, 29 [158], 7, 697). 134 Vgl. dazu die »Austreibung der Instincte durch Historie« (Nietzsche, UB, II, 5., 1, 280).
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Der Metaphysische Lebensbegriff
folgt, als Person nicht mehr aktiv am Geschehen partizipiert: als Persönlichkeit nicht mehr eingreift, wirkt, handelt und lebt. Im Hinblick auf das zweite, die Objektivitäts- und Gerechtigkeitsvermeinung, so lässt sich ohne weiteres die Verbindung zur ersten Hinsicht herstellen. So wie sich die Persönlichkeit gegenüber historisch konzipierten Geschehnisvorgaben in ihr Inneres zurückzieht, so auch im Hinblick auf die Konstruktion der Geschichte selbst. Diese darf deshalb für sich vermeintliche Objektivität beanspruchen, weil sie Ereignisse nebst ihren Motiven und Folgen völlig unabhängig von einem persönlichen Darstellungsinteresse zu präsentieren in der Lage ist.135 Damit glaubt sie sich im Besitz eines Maßstabes, anhand dessen gerecht über die Vergangenheit geurteilt werden kann. Nietzsche meldet bei beiden Vorstellungen Kritik an. Erstens ist er der Überzeu136 gung, dass »Objektivität und Gerechtigkeit [...] nicht[s] miteinander zu thun« haben. Und zweitens sieht er genau wie im ersten Fall die Persönlichkeit entleert, so auch hier die Historie. Eine Geschichte, die sich uninteressiert gebärdet, gilt ihm als blutleer und gleichgültig, wie die nackten Fakten selbst. Im Gegensatz dazu insistiert Nietzsche darauf, dass Historie aus der kreativen Potenz der Persönlichkeit nachgerade künstlerisch visionär zu entwerfen ist. »[D]er ächte Historiker muss die Kraft haben, das Allbekannte zum Niegehörten umzuprägen und das Allgemeine so einfach und tief zu verkünden, dass man die Einfachheit über der Tiefe und die Tiefe über der Einfachheit übersieht«137. Diese schöpferische Leistung weist er auch wieder auf die Tiefendimension des Lebens zurück: »Wer nicht einiges grösser und höher erlebt hat als Alle, wird auch nichts Grosses und Hohes aus 138 der Vergangenheit zu deuten wissen« . Die dritte Hinsicht, in der sich das schädigende Übermaß historischen Sinns zeigt, bezieht sich auf die beiden vorigen und betrifft ein bildungshemmendes Moment, das Nietzsche mit dem durchaus aus dem Ausbildungsbetrieb bekannten terminus der Reife resp. des Reif-Werdens fixiert. Die Macht der Historie verhindert demnach ein Reif-Werden von Völkern, Kulturen bis hin zu den einzelnen Menschen, indem im Sinne der Historie festgelegte Zweckstrukturen zum bildungssteuernden movens werden. Hier ergeht sich Nietzsche in einer schroffen Anklage an den zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb. Um die im historischen Sinn vorgegebenen Zwecke zu realisieren, werden, so Nietzsches Diagnose, junge Menschen in der Schule oder der Universität als »der wissenschaftlichen Fabrik«139 nicht mehr im strengen Sinne ausgebildet, sondern nur noch funktional geschult: 135 Vgl. UB, II, 6., 1, 289. Nietzsche unterscheidet von dieser Gestalt der Objektivität noch eine zweite naive, die aber insofern indiskutabel ist, als sie allein im »Messen vergangener Meinungen und Thaten an den Allerwelt-Meinungen des Augenblicks« (Nietzsche, UB II, 6., 1, 289) zum Stehen kommt. 136 Nietzsche, UB, II, 6., 1, 291. 137 Nietzsche, UB, II, 6., 1, 294. 138 Nietzsche, UB, II, 6., 1, 294 (Hervorhebung v. Vf.). 139 Nietzsche, UB, II, 7., 1, 300.
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»[D]ie Menschen sollen zu den Zwecken der Zeit abgerichtet, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen; sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevor sie reif sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden - weil dies ein Luxus 140 wäre, der dem Arbeitsmarkte eine Menge von Kraft entziehen würde« . Die katastrophale Folge ist eine gediegene aber lebensarme Mittelmäßigkeit der Ausbildungsstandards, die allerdings immer mittelmäßiger zu werden verurteilt sind. Auch hier stellt sich das historische Wissen über das Leben, indem sie ihm etwas Lebenswichtiges entzieht, das Nietzsche mit dem die ganze Historienschrift durch141 ziehenden Bild einer Atmosphäre umschreibt. Damit meint Nietzsche »einen [...] 142 umhüllenden Wahn, eine [...] schützende umschleiernde Wolke« in dem Sinne, dass die aus dem Leben selbst und seinen urwüchsigen Instinkten generierten Konzeptualisierungen den perspektivischen Rahmen zur Lebensgestaltung abgeben und eben nicht extern aufgepfropfte Deutungsmuster. Mit der Inblicknahme des vierten lebenshinderlichen Bereichs – dem Glauben an ein Alter der Menschheit – macht Nietzsche auf einen weiteren Effekt historischen Denkens aufmerksam, der sich in erster Linie der inneren Finalität verdankt. Weil der Mensch durch die final orientierte Geschichte um das (mehr oder weniger nahe) Ziel der Menschheit weiß, verzichtet er darauf, produktiv in die Zukunft zu sehen, sondern richtet seinen Blick gleich einem Greis auf das gelebte Leben zurück. Damit erweist sich Geschichte als das Gegenteil von Lebensverheißung, da sie das menschliche Leben bereits als im Abwelken begriffen sieht. Dies sei, so Nietzsche, in letzter Instanz eine Folge des Einflusses des Christentums als einer »Religion, die von allen Stunden eines Menschenlebens die letzte für die wichtigste hält, die einen Schluss des Erdenlebens überhaupt voraussagt und alle Lebenden verurteilt, im fünften Akt der Tragödie zu leben«143 und in diesem Sinne 144 »ist Historie immer noch eine verkappte Theologie« . Ein letzter Kollateralschaden des Übermaßes an Historie lässt sich schließlich in einem dem modernen historischen Menschen eigenen ironischen bis zynischen habitus erkennen. Inbegriff der Ironie ist das gleichsam fatalistische Akzeptieren historischer Perspektivität in dem hintergründigen Wissen, dass diese alle persön145 lichen Zweck- und Zielperspektiven radikal überstrahlt. Eine Steigerung erfährt diese Ironie im Zynismus, wenn die in der Ironie hintergründige Furcht des Aufgebens der Persönlichkeit in dem Sinne hyperkompensiert wird, dass der Mensch in dieser modernen Verfasstheit als legitmes und akzeptables Ziel des universalen 140 141 142 143 144 145
Nietzsche, UB, II, 7., 1, 299. Vgl. Nietzsche, UB, II, 1., 1, 252; 7.,1, 295; 7., 1, 298; 9., 1, 323. Nietzsche, UB II, 7., 1, 298. Nietzsche, UB II, 8., 1, 304. Nietzsche, UB II, 8., 1, 305. Vgl. Nietzsche, UB II, 9., 1, 313: »Dicht neben dem Stolz des modernen Menschen steht seine Ironie über sich selbst, sein Bewusstsein, dass er in einer historisierenden und gleichsam abendlichen Stimmung leben muss, seine Furcht, gar nichts mehr von seinen Jugendhoffnungen und Jugendkräften in die Zukunft retten zu können (i. Orig. z.T. gesperrt).
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Der Metaphysische Lebensbegriff
Weltprozesses überhaupt gedacht wird. Darin kann Nietzsche nur die vollständige Verabschiedung der menschlichen Natur aus der historischen Wissenschaft entdecken, und der Zynismus besteht darin, dass die Selbstwahrnehmung des historischen Bewusstseins eine exakt gegenteilige ist: »Ueberstolzer Europäer des neunzehnten Jahrhunderts, du rasest. Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern 146 tödtet nur die eigne« . In der Zusammenschau der Pathologie der historischen Krankheit ergibt sich folgendes Bild: Die differenten Symptome lassen sich als verschiedene Hinsichten einer Grunderscheinung interpretieren. Geschichte als Wissenschaft steht für einen perspektivischen Überbau, der das urwüchsige Instinktleben des Lebens des Individuums als Persönlichkeit nachhaltig unterminiert. Dies äußert sich in Gestalt von Selbstauflösungssyndromen, die mit fatalen Vermeinungen einhergehen, die Entwicklung hemmen und in der greisenhaften Einstellung von fatalistischer Ironie und übersteigertem Zynismus münden. Vor diesem Hintergrund könnte nun leicht vermutet werden, dass Nietzsche mit diesen Einschätzungen gegenüber der Historie als Wissenschaft die Geschichte überhaupt radikal in Frage stellt und in der Flucht seiner Diagnose die Therapie einer Abschaffung des Historischen steht. Dies liegt Nietzsche allerdings fern.147 Dies hat zunächst zwei Gründe: Der radikale Verzicht auf Geschichte liefe einerseits eklatant an einer von Nietzsche in Anklang gebrachten anthropologischen Grundkonstante vorbei. Der Mensch besitzt im Gegensatz zu dem an den Augenblick gebundenen Tier die Lebensfunktion des Erinnerungsvermögens. Diese ist für Nietzsche unhintergehbar. Und in diesem Sinne gehört die Bezugnahme auf das in der Erinnerung Repräsentierte – das Historische – ebenso unhintergehbar zum Leben. Auf der anderen Seite bedarf das menschliche Leben immer auch einer Perspektivität, eines Horizonts, innerhalb dessen es sich als Leben artikuliert, und diesen perspektivischen Rahmen bereitzustellen, ist ebenfalls Aufgabe der Geschichte.148 Nietzsche führt dies nachgerade als Lebensgesetz ein: »Und dies ist ein allgemeines Gesetz: Alles Lebendige kann nur innerhalb eines Horizonts gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend, einen Horizont um sich zu ziehen und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzu149 schliessen, so siecht es matt oder überhastig zu zeitigem Untergang dahin« . Auf der anderen Seite gehört zum menschlichen Leben auch die Fähigkeit des 150 Vergessen-Könnens. Diese Möglichkeit kann nach Nietzsche kaum überschätzt werden, und sie wird in einem sehr pointierten Sinne konnotiert. Die lebenswichtige Funktion des Vergessens konturiert Nietzsche anhand der Pathologie des Nicht146 UB, II, 9., 1, 313. 147 Vgl. dazu auch Gerhardt, Nietzsche, 93-108 und Gerhardt, Geschichtlichkeit bei Hegel und Nietzsche, 34f. 148 Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund des Begriffs Horizont vgl. Hinske, Horizont, 1187ff. 149 Nietzsche, UB, II, 1., 1, 251. 150 Zum Begriff des Vergessens in der Historienschrift vgl. Meyer, Ästhetik des Historischen, 95ff.
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vergessen-Könnens. Gesetzt, jemand wäre nicht in der Lage, zu vergessen, so wäre er dazu verdammt, alles in die Verlaufsdimensionen des Erlebten einzuzeichnen 151 und damit »verliert [er] sich im Strome dieses Werdens« , wie Nietzsche im er152 klärten Anschluss an den Heraklitischen Gedanken vom »τὰ πάντα ῤεῖ« festhält. Dies bedeutete eine zutiefst unglückliche Existenz, was auf der anderen Seite heißt: Momente des Vergessens sind so gesehen Momente des Glücks. Dies ist in dem Sinne gemeint, dass im Vergessen des Anderen, der Moment, in dem Anderes vergessen wird, für eine besondere Erlebnisqualität steht. Der Vergessende kann sich dem Augenblick voll und ganz hingeben und gleich der dionysischen Schau des Ur-Einen den Augenblick distanzlos erleben. Allerdings ist im Vergessen kein perspektivischer Nullpunkt erreicht. Vielmehr erlangen die Momente des Vergessens auf diese Weise besondere Bedeutung und prägen dann wieder folgende und vorangegangene Erlebnisse. Dieses Ineinander von Erinnerung und Vergessen repräsentiert den theoretischen Hintergrund, vor dem Nietzsche seine Theorie des Historischen entfaltet. Und was sich auf den ersten Blick wie eine abwegige Inanspruchnahme eines psychologischen Erinnerungsmodells ausnimmt, entpuppt sich auf den zweiten als eine äußerst raffinierte historiographische Konstruktion. Denn geht es bei geschichtlichen Entwürfen um die konstruktive Gewichtung und Kombination evaluierter Ereignisgehalte, so lässt sich dies ohne weiteres auch als kreative Re-interpretation von Erinnern und Vergessen verstehen. Nietzsche verwendet für beides die Ausdrücke des Historischen und des Unhistorischen. Beide Begriffe verdienen Beachtung. Das Unhistorische präzisiert Nietzsche wie folgt: »Mit dem Worte das Unhistorische bezeichne ich die Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschliessen«153. Wenigstens zweierlei lässt sich hier zeigen. Erstens ist – und das wurde bereits deutlich – das Unhistorische durch den Standpunkt des Vergessenden charakterisiert. Diese Position wird nun näher bestimmt als Selbstbegrenzung, besser als Selbstkonzentration. Denn der Horizont, in den sich der Vergessende einschließt ist nicht derjenige vergangener Erlebnisgehalte, 151 Nietzsche, UB, II, 1., 1, 250. 152 Das Diktum vom »τὰ πάντα ῤεῖ«, auf das Nietzsche hier offenkundig Bezug nimmt, findet sich in den erhaltenen Fragmenten des Heraklit so nicht, aber es wird in der Tradition sinngemäß auf Heraklit zurückgeführt. So wird die Lehre Heraklits im Zuge der Kritik Platons im ›Theaitet‹ (179d– 183d) in entsprechender Terminologie zusammengefasst (»Κινεῖται καὶ ῤεῖ […] τὰ πάντα« [182c]). Auch im philosophiegeschichtlichen Exkurs der ›Metaphysik‹ des Aristoteles ist eine solche anzutreffen, indem er von den »Ἠρακλείτος δόξαις, ὡς ἀπάνων τῶν αἰσθητῶν αἰεὶ ῤεόντων« (Met. A 6.987a33) spricht. Der Sache nach finden sich innerhalb der erhaltenen Fragmente Heraklits freilich mannigfaltig inhaltliche Entsprechungen. Vgl. z.B. Fragment B 12: »ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ἕτερα καὶ ἕτερα ὕδατα ἐπιρρεῖ« (Diehls, 68f.) oder das berühmte Fragment B 91: »ποταμῶι γὰρ οὐκ ἔστιν ἐμβῆναι δὶς« (Diehls, 79). 153 Nietzsche, UB, II, 10., 1, 330 (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. dazu auch »[D]as Vergessen-können oder [...] das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch empfinden zu können« (Nietzsche, UB, II, 1., 1, 250). Vgl. dazu Müller-Lauter, Nietzsche, 42.
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sondern der Vergessende selbst macht sich zum Horizont. Dies wiederum präzisiert das Vergessen selbst. Im Vergessen wird der Vergessende auf einen unvergesslich-vitalen Kern seiner selbst, seiner Persönlichkeit zurückgeworfen. Er wird wie Nietzsche hochrhetorisch ausführt ein »kleiner lebendiger Wirbel in einem 154 todten Meere von Nacht und Vergessen« . Beim Historischen handelt es sich demgegenüber um diejenigen Erlebnis- und Ereignisgehalte, die aus der vergessenden Selbstkonzentration heraus amalgamiert und schöpferisch in die Zukunft hinein prolongiert werden. Im Vergessen konzentriert sich das unhistorisch fühlende Individuum ganz auf seinen eigenen persönlichen Horizont, um in der lebensdienlichen Konstruktion von Geschichte 155 von hier aus schöpferisch historische Horizonte (Historien) zu entwerfen. Zum Unhistorischen und zum Historischen tritt schließlich ein dritter Begriff: das Überhistorische, das hier aber nicht weiter vertieft werden soll. Nur soviel: Damit meint Nietzsche – im Gegensatz zum dionysischen des Unhistorischen und analog zum apollinischen der Tragödienschrift – die künstlerische (und hier auch noch religiöse) Ausgestaltung aus dem Vergessen entworfener historischer Konstruktionen: »[Ü]berhistorisch nenne ich die Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt, zu Kunst und Religion. Die Wissenschaft – denn sie ist es, die von Giften reden würde – sieht in jener Kraft, in diesen Mächten gegnerische Mächte und Kräfte; denn sie hält nur die Betrachtung der Dinge für die wahre und richtige, also für die wissenschaftliche Betrachtung, welche überall ein Gewordnes, ein Historisches und nirgends ein Seiendes, Ewiges sieht«156. Bei der Gewichtung beider Grund-Positionen, der des Historischen und der des Unhistorischen bezieht Nietzsche klar Position für das Unhistorische: »[W]ir werden also die Fähigkeit, in einem bestimmten Grade unhistorisch empfinden zu können, für die wichtigere und ursprünglichere halten müssen, insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas Rechtes, Gesundes und Grosses wachsen kann. Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich das Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden«157. In Beziehung auf das Letztgenannte kennt Nietzsche dann sehr wohl einen lebensdienlichen Gebrauch der Geschichte, den er auf drei Grundformen lebensadäquater Historie oder auch unhistorischer Historie hin systemati154 Nietzsche, UB, II, 1., 1, 253 (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. dazu auch Meyer, Ästhetik des Historischen, 97. Die Möglichkeit, dass ein Mensch vollkommen vergessen könne, schließt Nietzsche aus (vgl. Nietzsche, UB, II, 1., 1, 250). 155 Von hier aus lässt sich die von Kleffmann allein angezeigte »Unklarheit in der Bestimmung des Horizonts« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 130) mühelos auflösen. 156 Nietzsche, UB, II, 10., 1, 330 (i. Orig. z.T. gesperrt). 157 Nietzsche, UB, II, 1., 1, 252. Dass das Unhistorische den Primat zugesprochen erhält, ändert nichts an der Tatsache, dass beides zum Leben gehört, dass »das Unhistorische und das Historische [...] gleichermassen für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nöthig« ist (Nietzsche, UB, II, 1., 1, 252 [i. Orig. gesperrt]).
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siert: die monumentalistische, die antiquarische und die kritische Historie. Auf sie soll kurz hingewiesen werden, bevor in Bezug auf den Lebensbegriff des frühen 158 Nietzsche eine erste Zwischenbilanz gezogen werden soll. Die monumentalistische Geschichte konzentriert sich auf das tätige Moment 159 des Lebens. Sie richtet dabei das Augenmerk besonders auf das Große. Das meint, dass in der Konzeption der Geschichte primär Ereignisse erinnert werden, die sich durch ein der inneren Überwindungsdynamik des Lebens entsprechendes Über-sich-Hinauswachsen vom gewöhnlichen – nur auf die Perpetuierung seiner selbst bedachten – Leben markant abhebt. Faktisch betrachtet handelt es sich dabei primär um eine Verklärung. Funktional generiert sich daraus allerdings ein Motivationspotential, in dem Sinne der Gewissheit, »dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird«160. Sie bewahrt den Tätigen dadurch vor der Resignation angesichts des leeren und brutalen Daseins. Vielmehr geht der Tätige angesichts der Monumente der Geschichte »muthiger seinen Gang, denn jetzt ist der Zweifel, der ihn in schwächeren Stunden anfällt, ob er nicht vielleicht das Unmögliche wolle, aus dem Feld ge161 schlagen« . Indes birgt die monumentalistische Geschichte auch eine doppelte Gefahr. Zum einen droht durch die Vordergründigkeit der großen Monumente eine Entkoppelung von ihren realen Konstitutionsbedingungen. Dadurch läuft die monumenta162 listische Historie in Gefahr, sich der »mythischen Fiction« anzunähern und um 163 den Preis des Vorbildes historische Ermöglichungsbedingungen zu opfern. Die andere Gefahr besteht in einer Epigonalitätsvermeinung, die einhergeht mit einer
158 Zu den drei Historiengestalten vgl. auch ausführlicher Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 169–180; Gerhardt, Nietzsche, 106ff.; Meyer, Ästhetik der Historie, 159–190. 159 Zurecht weist Kleffmann darauf hin, dass Nietzsche inhaltlich nicht genau bestimmt, was unter dem Grossen zu verstehen ist. Vielmehr ist es eine formale Struktur in der »das zeitliche menschliche Leben als Moment eines ewigen Lebens verwirklicht« wird (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 171). Allerdings findet sich noch ein wichtiger Wink, den Kleffman zwar anführt, nicht aber als inhaltliche Füllung zuläßt. Nietzsche führt es als ein Gebot des Großen ein, »den Begriff Mensch weiter auszuspannen und schöner zu erfüllen« (Nietzsche, UB II, 2., 1, 259). Daran lässt sich ablesen, dass Nietzsche mit Größe ein dynamisches und ästhetisches Über-sich-Hinauswachsen meint, und zwar genau in dem Sinne, wie es sich dann im ›Zarathustra‹ ausnimmt, dass der Mensch das ist, was überwunden werden muss. Dies nennt Nietzsche hier Humanität: »Dass die grossen Momente im Kampf des einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen eine Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solch vergangenen Augenblicks noch lebendig, hell und gross sei, das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht« (Nietzsche, UB II, 1., 1, 259 [i. Orig. z.T. gesperrt]). 160 Nietzsche, UB, II, 1., 1, 260 (i. Orig. z.T. gesperrt). 161 Nietzsche, UB, II, 1., 1, 260. 162 Nietzsche, UB, II, 2., 1., 262. 163 Zum bei Nietzsche selbst problematischen Verhältnis von Monument und geschichtlichem Kausalnexus sind erhellend die Ergänzungen von Kleffmann (vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 172f.).
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latenten Reserve gegenüber einer das Außergewöhnliche schaffenden Lebensgestaltung. Der Blick auf das Große der Geschichte wird zum Entschuldigungsgrund persönlicher Unfähig- und Untätigkeit. Das Monumentale kippt um zur Rechtfertigung mittelmäßiger Existenzen: »Denn sie wollen nicht, dass das Grosse entsteht: 164 Ihr Mittel ist zu sagen sehet, das Grosse ist schon da!« . Die antiquarische Geschichte dient dem Lebenden, indem sie genau jene histo165 rischen Bedingtheiten, »die Bedingungen, unter denen er entstanden ist« , zum zentralen Thema macht. Sie gibt dem Leben das, was Nietzsche mit dem Bild einer Wurzel umreißt: Hintergrundstabilität durch das Kreieren von geschichtlichen Kontinuitäten, die das Leben perpetuiert gemäß der psychologischen Formel: 166 »Hier liess es sich leben, hier lässt es sich leben, hier wird es sich leben lassen« . Allerdings ist auch beim antiquarischen Gebrauch der Geschichte Vorsicht geboten. Denn einerseits neigt die antiquarische Geschichtssicht zu unzulässiger Pauschalisierung. Das Althergebrachte erscheint leicht als ehrwürdig, eben weil es althergebracht ist. Die antiquarische Historie ist zu einer kritischen Differenzierung praktisch unfähig. Aus dem Pathos des Altehrwürdigen kann sich zweitens ein modernitätsfeindliches Moment generieren. Denn alles Neue und Revolutionäre, das dem Althergebrachten nicht mit der gebührenden Ehrfurcht entgegentritt, wird kategorisch abgelehnt. Damit entartet, wie Nietzsche schreibt, die antiquarische Historie, weil »der historische Sinn das Leben nicht mehr conservirt, sondern mumisiert [...] das frische Leben der Gegenwart [...] nicht mehr beseelt und begeistert«167. Die kritische Historie schließlich kommt dem Bedürfnis nach kritischer Differenzierung der Geschichte entgegen, insofern sie einen negativen Zugriff auf Vergangenes nachgerade fordert. Es kann ebenfalls im Interesse des Lebens liegen, sich von bestimmtem historischem Ballast zu befreien. Der Lebende »muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und 168 aufzulösen, um leben zu können« . Dies vor allem, weil nach Nietzsche zum Schluss jede Geschichte es wert ist, verurteilt zu werden. Historie mit Rücksicht auf die unhistorische Macht des Lebens zu betreiben, bedeutete im Falle der monumentalistischen und antiquarischen Geschichte immer auch einen Hinblick auf das Vergessen-Können. Hier verfährt die kritische Geschichte anders. Sie rückt das Vergangene radikal ins Licht des Historischen. Hier verlangt das »Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben klar werden, wie ungerecht die Existenz irgend eines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den
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Nietzsche, UB, II, 2., 1, 264. Nietzsche, UB, II, 3., 1, 265. Nietzsche, UB, II, 3., 1, 265. Nietzsche, UB, II, 3., 1, 268. Nietzsche, UB, II, 3., 1, 269.
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Untergang verdient« . Maßstab ist das Leben selbst, das im Sinne des wirklich Historischen Lebensundienliches ausscheidet. Problematisch ist die kritische Historie auch wieder in einer doppelten Hinsicht. Zum einen ist es schwierig, die Kritik der Geschichte prinzipiell zu begrenzen. Die Kritik scheint uferlos. Zum anderen wird mit dem negativen Urteil über die Geschichte immer auch die Geschichte des Urteilenden verneint. Damit entwurzelt die kritische Historie und gefährdet so wieder das Leben, indem durch sie die instinktive Sicherheit des Agierens im vom »Alters her Angezogene[n] und Angeborene[n]«170 nivelliert wird. Einen Ausweg aus dieser bedrohlichen Situation sieht Nietzsche darin, dass die die Vergangenheit verurteilende Selbstkonzentration des Lebens selbst die ererbte und abgestammte Natur ersetzt und zu einer »zweite[n] 171 Natur« wird, die die erste verdorren lässt, so dass diese zweite Natur dann zu einer ersten Natur wird. II.3
Der Lebensbegriff des frühen Nietzsche – Resümee
Der metaphysische Lebensbegriff des frühen Nietzsche erweist sich als äußerst konturenreich. Deutlich erkennbar ist, dass Nietzsche von einem basalen Vitalitätskern ausgeht, der durch Repräsentationsgestalten ergänzt zu einem Dreifachschema führt. So kommt schon in der ›Geburt der Tragödie‹ der Lebensbegriff in einer Dreier-Relation zum Stehen. Es gibt das essentiell Vitale als das Ur-Eine, das fragile Leben des einzelnen Menschen sowie das projizierte apollinische Leben. Vitales Basisphänomen ist das Leben, wie es im Ur-Einen vorstellig wird: das dionysische Leben. Die tatsächliche Repräsentation dieses Lebens am Orte des Individuums führt notwendig zu einer Erschütterung, die eine artifizielle Kompensation nötig werden lässt, um weiterleben zu können. Inbegriff dieses komplexen Relationengefüges von Leben ist die Tragödie selbst resp. das Ereignis der Tragödie, das so zur Repräsentation des Lebens selbst in seiner Vieldimensionalität wird, die zum Schluss auch erst das Handeln ermöglicht. In dieser Hinsicht lässt sich der Tragödienschrift der ethische Imperativ »Sei Leben!« entnehmen, mit dem Nietzsche eine von ihren Lebensinstinkten abgefallene Welt aufruft, sich der Komplexität des Lebens in seiner Spannung zwischen Irrationalität und künstlerischer Expressivität zu stellen. Dieser Ansatz hält sich auch in den ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ durch. Im ersten Zugriff erscheint das Leben ganz parallel zur ›Geburtschrift‹ in einer Drei-
169 Nietzsche, UB, II, 3., 1, 269f. 170 Nietzsche, UB, II, 3., 1, 270. 171 Nietzsche, UB, II, 3., 1, 270 u. 272. Zum terminus »zweite Natur« vgl. auch Meyer, Ästhetik der Historie, 94. Der (auf Aristoteles zurückgehende) Begriff der zweiten Natur hat in der neueren analytischen Philosophie wieder Karriere gemacht und nimmt insbesondere in der Moralphilosophie John McDowells eine prominente Stellung ein (vgl. z.B. McDowell, Mind, Value, Reality, 193ff.).
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Der Metaphysische Lebensbegriff
fachkonstellation: Versenkung – Expression – Kanalisierung oder Einheit: Es gibt die dionysisch-vitale Introvision genau wie die dem Vitalen abständige empirische Selbstexvivisierung als auch – apollinisch gewendet – die artifizielle Übergeschichte. Aber durch die Konturierung am Thema Geschichte treten weitere Merkmale hinzu. Indem das Leben nun in Temporalitätsstrukturen eingezeichnet wird, ist es als dynamisches Moment einsehbar geworden. In diesem Sinne findet sich eine erste formale Definition des Terminus Leben im opus Nietzsches. Er notiert: Es ist »das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättliche sich selbst begehrende Macht«172. Auch die Konfrontation mit der zeitgenössischen Geschichtsphilosophie profiliert den Lebensbegriff. Denn in der Spezialisierung auf einen Lebensbereich – den des historischen Lebens – hin, konturieren sich verdeckte Facetten des zugrunde liegenden Lebensbegriffs neu. Klar ist: Lebensgerecht kann Wissenschaft als Dimension des Historischen nicht sein. Ebenso punkturiert sticht es, wenn die historische Wissenschaft in ihrer Beidseitigkeitsgekehrtheit (Adaption und Konstruktion) in von Nietzsche als allein ironisch zu nennenden Mustern Alternativkonstruktionen erarbeitet, die allein in externen Lebensfixionen stecken bleiben. Und ebenso unangemessen ist es, in zynischer Selbstverklärtheit im weitesten Sinne gattungsideologischer Teleologie anheimzufallen. Das Leben als metaphysischer Parameter ist vielmehr Ausdruck einer unhistorischen Macht, einer Macht, die es mit dem Wachsen und der Steigerung elementarer Instinkte zu tun hat.173 Diese kann Nietzsche auch mit dem Ausdruck der Kraft apostrophieren, den er jedoch im Unterschied zur Lebenskraft-Metaphysik deutlich anders konnotiert. Nietzsche meint eine »plastische Kraft, [...] jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene For174 men aus sich nachzuformen« . Diese unhistorische Macht oder Kraft kann im strengen Sinne als historische Wissenschaft nicht konzeptualisiert werden. Vielmehr steht ein jeder solcher Versuch für die konsequente Verschüttung der Lebensinstinkte. Nietzsche spricht in dieser Beziehung von einer »Austreibung der Instincte durch Historie, die Menschen fast zu lauter abstractis und Schatten umgeschaffen hat: keiner wagt mehr seine Person daran, sondern maskiert sich als
172 Nietzsche, UB, II, 1., 269 (Hervorhebung v. Vf.). Insofern stimmt es nicht ganz, wenn Tom Kleffmann behauptet: »Der Begriff des Lebens wird freilich nirgends förmlich, und sei es nur vorläufig, bestimmt. Weder wird eine Definition zugrunde gelegt noch wird seine Bestimmung entwickelt. Er ist bestimmt in seinem Gebrauch, ohne dass dieser als einheitlicher Begriff zu Ende gedacht ist« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 127). 173 Vgl. Nietzsche, UB, II, 1., 252. Vgl. auch Nietzsche, UB, II, 1., 1, 257: »Die Historie, sofern sie im Dienst des Lebens steht, steht im Dienst einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen«. 174 Nietzsche, UB, II, 1., 1, 251 (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. auch Nietzsche, UB, II, 4., 1, 271 und Nietzsche, UB, II, 10., 1, 329. Zum Terminus der plastischen Kraft und seinem philosophiegeschichtlichen Hintergrund (v.a. Jacob Burckardt) vgl. Meyer, Ästhetik der Historie, 98; vgl. dazu auch Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 144ff.
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gebildeter Mann, als Gelehrter, als Dichter, als Politiker« . Allerdings gibt es laut Nietzsche durchaus eine »Beschäftigung mit der Geschichte […] im Dienste […] 176 des Lebens« , wie gesehen in monumentaler, antiquarischer und kritischer Hinsicht. Und auch die in der ›Tragödienschrift‹ wahrnehmbaren ethischen Implikationen erscheinen vertieft. Dies lässt sich in einem dreifachen Sinne zeigen: in einem handlungstheoretischen, in einem teleologischen und in einem ethisch-normativen Sinne. Was das erste, die Handlungstheorie, anbelangt, so hat Volker Gerhardt verschiedene Male darauf hingewiesen, dass das Originelle der ›Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung‹ in einer Mensch und Zeit zusammen schweißenden Gleichursprünglichkeitsthese besteht.177 Nur: Das ist seit Kant bekannt.178 Die entscheidende Pointe dieser These liegt nach Gerhardt darin, dass der gemeinsame Bezugspunkt in der Struktur menschlichen Agierens gesehen werden muss. Temporalität und Geschichtlichkeit verweisen so konsequent auf humanes Handeln: »Die Hand179 180 lung gibt somit das Schema der Zeit« . Dies soll kurz erläutert werden. Der Mensch ist nach Nietzsche das Tier, das nicht vergessen kann. Er muss sich erinnern und durch die Erinnerung wird eine strukturelle Distanz zum a-temporalen Augenblick (in dem nach Nietzsche das Tier vegetiert) evoziert. Durch diese Distanzierung gibt es nun aber den unzeitlichen Augenblick faktisch nicht mehr. Vielmehr ist durch die Erinnerungshandlung die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgerissen. Die Erinnerung treibt gleichzeitig dazu an, den zur Gegenwart gemachten Augenblick zur Zukunft hin zu übersteigen. Dies begründet sich darin, dass Handeln – also auch die Erinnerungshandlung – prinzipiell sequenzieller Natur ist, und genau diese Sequenzialität des Handelns selbst ist es, die über Vergangenheit und Gegenwart zur Zukunft hinaustreibt und Zeit und Geschichte erzeugt. Und nicht nur die Erinnerungshandlung, sondern jede Handlung perpetuiert qua ihrer Sequenzialität das Schema von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Folgerichtig besteht umgekehrt Geschichte essentiell aus menschlichen Handlungen. Kompliziert wird diese Gedankenexposition nun dadurch, dass einerseits die Geschichte selbst wiederum von Nietzsche als Voraussetzung des Handelns namhaft gemacht wird. Er notiert: »[W]ir brauchen sie [sc. die Historie] zum Leben und zur That, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der That oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten
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Nietzsche, UB, II, 5., 1, 280. Nietzsche, UB, II, 1., 1, 255. Vgl. Gerhardt, Geschichtlichkeit bei Hegel und Nietzsche, 40; Gerhardt, Nietzsche, 101. Vgl. Kant, KrV, A 32ff. Gerhardt, Geschichtlichkeit bei Hegel und Nietzsche, 40; Gerhardt, Nietzsche, 101. Vgl. dazu Gerhardt, Geschichtlichkeit bei Hegel und Nietzsche, 34ff. und Gerhardt, Nietzsche, 93– 101. Allerdings werden hier einige von Gerhardts Interpretation abweichende Akzente gesetzt.
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That« . Und andererseits wird erstaunlicherweise genauso auch die Gegenthese vertreten, nämlich, dass das Unhistorische resp. das Vergessen ebenso elementare 182 Bedingung des Handelns sei: »Zu allem Handeln gehört Vergessen« . Dieses auf den ersten Blick verwirrende Ineinander prima facie widerstreitender Thesen lässt sich folgendermaßen entschlüsseln: Wie gesehen ist für Nietzsche das Leben selbst historisch nicht konzeptualisierbar. Das Leben erscheint als unhistorische, plastische Kraft resp. dynamische Macht. Auf diese wird der Vergessende zurückgeworfen, um (analog zur Erfahrung des Ur-Einen) von hier aus Horizont-Perspektiven zu setzen. Die Erinnerung, die der humanen Existenz unhintergehbar ist, erweist sich nun als der konkrete Umschlagpunkt, an dem der im unhistorischen vitalen Kern seiner selbst Versenkte beginnt, Erinnerungsgehalte bewusst von seiner Introspektion aus temporal zu strukturieren, sprich Historien zu entwerfen. Exakt in diesem Sinne erweist sich das Vergessen als Voraussetzung von Geschichte, insofern sie die negative Voraussetzung kreativer Historiographie repräsentiert. Umgekehrt erweist sich die Geschichte als Voraussetzung des Handelns, sofern Historie in dem benannten Prozess als handlungsstimulierend erinnert wird. Es liegt auf der Hand, dass Nietzsche hier nicht an beliebige Geschichte denkt, sondern genau an die diskutierten lebensdienlichen Ausgestaltungen der monumentalen, antiquarischen und kritischen Historie. Die von Nietzsche hierbei hintergründig transportierte ethische Grundeinsicht ist keineswegs trivial. Sie besagt, dass das Leben eine unhistorische dynamische Struktur aufweist und dass diese dynamische Struktur sich am Orte des Menschen notwendig in geschichtlichem Handeln realisiert. Tätiges Leben weiß sich so immer in der kritischen Balance zwischen historischer Gewordenheit und sich verwirklichender Zukunftsprojektion, die nur geschichtslos allein aus der Selbstkonzentration des Lebens geschöpft werden können. Hier kann sachlich der zweite angesprochene ethische Sachverhalt angeknüpft werden, die Teleologie. Es war ebenfalls eine der Grundtendenzen Nietzsches in der ›Geburtsschrift‹, im weitesten Sinne rationale und im Sinne der Wissenschaft systematisierte Sinnvorgaben zu kritisieren und ihnen den auf die vitale Basis verweisenden Imperativ Sei Leben! entgegenzuhalten. Dies impliziert eine weitere fundamentalethische Weichenstellung von erheblicher Tragweite, bedeutet doch dies nichts anderes als den radikalen Abschied von universalteleologischen Denk181 Nietzsche, UB, II, 1., 245. Vgl. dazu auch die Bemerkung aus der Diskussion der monumentalistischen Geschichte: »Die Geschichte gehört vor allem dem Thätigen« (Nietzsche, UB, II, 1., 258). 182 Nietzsche, UB, II, 1., 1, 250. Wenige Seiten später fragt Nietzsche rhetorisch: »Wo finden sich die Thaten, die der Mensch zu thun vermöchte, ohne vorher in jene Dunstschicht des Unhistorischen eingegangen zu sein?« (UB, II, 1., 1, 253). Und im Rekurs auf das berühmte Goethe-Wort, demnach der Handelnde selbst kein Gewissen kennt, »vergisst« laut Nietzsche der Handelnde »das Meiste, um Eins zu tun« (UB, II, 1., 1, 254). Das Goethe-Wort, auf das Nietzsche Bezug nimmt, findet sich in den ›Reflexionen und Maximen‹, VI, 378: »Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende«.
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mustern. Im Kontext der geschichtstheoretischen Zuspitzung des Lebensmotivs lässt sich dieser Umschwung besonders im Kontext einer lateral mitgeführten Hegel-Kritik beobachten. Vor allem gegen ein Philosophem der Hegelschen Geschichtsphilosophie richtet 183 sich Nietzsche. Nämlich gegen den Anspruch, »den wahren Sinn und Zweck« des 184 Geschehens angeben zu können, der einen objektiven »Weltprozess« zu konstruieren befähigt. Nicht nur, dass Nietzsche hierin den unzulässigen Versuch einer Selbstrechtfertigung der jeweils eigenen geschichtlichen Periode erkennt, sondern v.a. das damit verbundene Postulat einer objektiv wirkenden »Macht der Geschich185 te« ist es, das im Vordergrund seiner Kritik steht. Denn darin sieht er die Gefahr einer Verschüttung der schöpferischen und kreativen Dynamik des Lebens, das sich selbst entmächtigt und sich einer – weil vom Leben abständigen – unmoralischen Geschichtsmacht ausliefert: »So wird Geschichte zu einem Compendium der 186 thatsächlichen Unmoral« . Im Gegenteil ist es für Nietzsche das lebendige Subjekt selbst, das im Leben Zwecke setzt und verwirklicht. Das Leben als solches ist wie ungeschichtlich ebenso auch sinn- und zweckfrei. Der Lebende kann aber aus der Kraft des Lebens her187 aus selbst Zwecke setzen und geschichtlich realisieren. Der Imperativ Sei Leben! konkretisiert sich so in geschichtlicher Hinsicht zu einem selbstmächtigen und 188 stolzen So soll es sein! Dies zu forcieren kann allein Aufgabe der Geschichte sein und die Geschichte wird sich durchsetzen, die aus dem kräftigsten Leben generiert wird und dieses am besten zu realisieren vermag: »Die Aufgabe der Geschichte ist es, [...] immer wieder zur Erzeugung des Grossen Anlass zu geben und Kräfte zu verleihen. Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur 189 in ihren höchsten Exemplaren« . Die Teleologie im sinne idealistischer und spätidealisitischer Geschichtsphilosophie wird ersetzt durch Herrschaftverhält-
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Nietzsche, UB, II, 8., 1, 308. Nietzsche, UB, II, 8., 1, 308. Nietzsche, UB, II, 8., 1, 309. Nietzsche, UB, II, 8., 1, 311. Es dürfte evident sein, dass von der Kritik an externen Sinn- und Zweckvorgaben das für Hegel charakteristische Schema von Form und Inhalt resp. Idee und Erscheinung unmittelbar mitbetroffen ist. Nietzsche erblickt darin jedoch eher eine Harmlosigkeit, die für vulgärtheologisches Denken charakteristisch ist: »Einige Zeit hilft vielleicht die in älteren Köpfen noch qualmende Hegelische Philosophie zur Propagation jener Harmlosigkeit, etwa dadurch, dass man die Idee des Christenthums von ihren mannichfach [sic!] unvollkommenen Erscheinungsformen unterscheidet und sich vorredet, es sei wohl gar die Liebhaberei der Idee, sich in immer reineren Formen zu offenbaren, zuletzt nämlich als die gewiss allerreinste, durchsichtigste, ja kaum sichtbare Form im Hirne des jetzigen theologus liberalis vulgaris« (Nietzsche, UB, II, 7., 1, 297). 187 Vgl. dazu die Notiz aus dem zeitgleichen Nachlass: »Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar; dass ich einen Zweck setzen kann, ist etwas anderes« (Nietzsche, N Sommer-Herbst 1873, 29 [72], 7, 661). 188 Vgl. Nietzsche, UB, II, 8., 1, 311. 189 Nietzsche, UB, II, 9., 1, 317.
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Der Metaphysische Lebensbegriff
nisse und entsprechende Gradualitäten an Kraft und Macht. Hier präludiert sich 190 dann bereits ie Grundthese der ›Genealogie der Moral‹. Der dritte und letzte angekündigte Punkt – die ethisch-normative Perspektive – schließlich bezieht sich auf die entwickelte Vorstellung vom Leben selbst. Es konnte schon mehrfach festgehalten werden, dass sich Nietzsches Vorstellung vom Leben in Richtung eines dynamischen, metaphysischen Parameters verfestigt. Immer wieder auftauchende Epitheta sind plastische Kraft, tätige Macht oder herrschende 191 Gewalt. Diese bislang primär strukturell in den Blick rückende Dynamizität des Lebens wird insbesondere in der ›Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung‹ zunehmend ethisch-normativ evaluiert. Besonders in den Schlusspartien der Historienschrift, in der Nietzsche Erziehungsvisionen für die Jugend entwirft, die die historische Krankheit überwinden soll, finden sich mannigfaltig dergestaltige Andeu192 tungen. Ohne unterstellen zu wollen, dass sich Nietzsche hier bereits als Moralphilosoph im Sinne des Spätwerkes betätigt, lässt sich in Bezug auf das Leben 193 folgendes festhalten: Es gibt für Nietzsche das »wahrhaftige Leben« und das bedeutet für Nietzsche desnäheren die Praxis vom »richtigen und einfachen Sehen 194 und Hören, [vo]m glücklichen Ergreifen des Nächsten und Natürlichen« . Die an dieser Stelle durchschimmernde normative Dimension knüpft primär bei den urwüchsigen Lebensinstinkten an – insofern ist primärer Adressat für ihn die 195 Jugend resp. der »Instinct der Jugend, weil sie noch den Instinct der Natur hat« . Die gelingende Instinkt-Expression, die in diesem Sinne einschließt, Historie zum 196 »Zwecke des Lebens zu treiben« , führt zu einer Herrschaft des Lebens, in der es im Herrschen »von einer in ihr thätigen, kämpfenden, ausscheidenden, zertheilenden Macht und von einem immer höheren Lebensgefühle in jeder guten Stunde 197 überzeugt wird« . Der Perpetuierung dieses höheren Lebensgefühls korrespondiert schließlich eine (im Folgenden weiter zu verfolgende) Tugend-Lehre des Lebens en miniature, die die Trias von Ehrlichkeit, Tüchtigkeit und vor allem Wahr198 haftigkeit umfasst. Diese hat Nietzsche v.a. in seiner mittleren Phase weiter ausgearbeitet. Insofern sind nun die Werke des mittleren Nietzsche zu untersuchen. Wie gehabt soll dabei primär die Entwicklung seines Lebensbegriffes sowie die mitgeführten ethischen Konsequenzen besondere Beachtung verdienen.
190 Vgl. dazu unter IV.2.2. 191 Vgl. Nietzsche, UB, II, 1., 1, 251; UB, II, 4., 1, 271; UB, II, 10., 1, 329; UB, II, 10., 1, 330; UB , II, 10., 1, 331. 192 Zum hier ausgeklammerten und von Nietzsche prominent eingeführten Motiv des Reifens vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 180–197. 193 Nietzsche, UB, II., 10., 1, 328f. Nietzsche apostrophiert an anderer Stelle »das volle und grüne Leben« (UB II, 10., 1, 329). 194 Nietzsche, UB, II., 10., 1, 328. 195 Nietzsche, UB, II, 10., 1, 326. 196 Nietzsche, UB, II, 1, 257 (Hervorhebung i. Orig.). 197 Nietzsche, UB, II, 10., 1, 331. 198 Vgl. Nietzsche, UB, II, 10., 1, 333f.
Leben im Œvre des mittleren Nietzsche
III. III.1
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Leben im Œvre des mittleren Nietzsche Zur Frage nach einem mittleren Nietzsche
Wenn nun von einem mittleren Nietzsche die Rede ist, und gemeint ist dabei der Nietzsche von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ über die ›Morgenröte‹ bis zur 199 ›Fröhlichen Wissenschaft‹, so ist dies vorderhand nicht ganz unproblematisch. Denn dies setzt einerseits voraus, dass es entsprechend auch ein Frühwerk und einen späten Nietzsche gibt; und andererseits, dass triftige Gründe dafür vorgetragen werden können, in der Entwicklung des Nietzscheschen Denkens markante Zäsuren zu setzen. Was das erste betrifft, so ist zunächst evident, dass Nietzsche mit der nun gewählten Form des Aphorismus ein neues literarisches genus für sich entdeckt hat. Er teilt seine Gedanken nicht mehr in der akademisch gebräuchlichen Form der wissenschaftlichen Abhandlung mit, sondern in kurzen stechenden Sentenzen, die jedoch keineswegs unsystematisch und chaotisch nebeneinander bestehen, sondern sowohl in einzelnen Kapiteln und weiter in engeren Sinneinheiten zusammengefasst sind. Der Sache nach bilden die genannten Schriften einen in sich geschlossenen werkbiographischen Bogen, insofern sich Nietzsche vom Denkmal einer Krisis hindurcharbeitet zum versierten philosophischen Psychologen, der in der Tat fröhliche Wissenschaft betreibt. Und dabei nimmt Nietzsche dann einige z.T. nicht unwesentliche Neu-Justierungen seines Denk- und Mitteilungshabitus vor. Die Frage, warum Nietzsche ab ›Menschliches, Allzumenschliches‹ die aphoristische Mitteilungsgestalt gewählt hat, ist nicht leicht zu beantworten. Zunächst ist in dieser Hinsicht daran zu erinnern, dass Nietzsche nunmehr zu einem recht ausgeprägten Wissenschaftsskeptizismus gefunden hat, wie auch im vorangehenden Unterkapitel gezeigt werden konnte. Von hier aus gesehen ist die Entscheidung für den Aphorismus nichts anderes als die formale Konsequenz des Antiszientismus. Hinzu kommt, dass Nietzsche im Gegensatz zur Hoffnung auf die Wiedergeburt der Tragödie aus dem deutschen Geist, wie sie in der ›Geburtsschrift‹ auftauchte, dem deutschen Denken mehr und mehr kritisch gegenübersteht. Es ist wohl kaum übertrieben zu sagen, dass Nietzsche über Weiten eine geradezu deutschfeindliche Einstellung zeigt, die z.T. in überzogene und unsachliche Polemik umschlägt.200 Die entgegengesetzte weitere und freiere Perspektive erblickt Nietzsche in den Werken der französischen Aphorismendichter – Montaigne, LaRochefoucauld, Labruyère, 199 Zur Möglichkeit einer Dreiteilung des Nietzscheschen Œvres vgl. Gödde, Entlarvungs- und Tiefenpsychologie, 21; zu den damit verbundenen Problemen, Salaquarda, Nietzsches Kritik, 27 und Janz, Nietzsche, I, 811. 200 Michael Tanner erkennt darin ein Indiz dafür, dass Nietzsche damit im angelsächischen Raum einen Rezeptionsvorsprung gehabt hat. Das ist jedoch strittig. Vgl. Tanner, M., Nietzsche, 7ff. Vgl. zum Thema auch Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, 4ff.
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Der Metaphysische Lebensbegriff
Fontanelle, Vauvenargues, Champfort und v.a. Voltaire –, deren Werke er im Gegensatz zu einem von ihm so ausgemachten kleindeutschen Systemdenken ex201 pressis verbis als »Europäische Bücher« bezeichnet. Indem sich Nietzsche in der Aphoristik dieser Tradition anschließt (und das macht er unmissverständlich deutlich, indem er die Erstausgabe von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ dem An202 denken Voltaires widmet ), steht dies gleichermaßen für die Einnahme einer eu203 ropäischen Perspektive. Und schließlich ist darauf aufmerksam zu machen, dass Nietzsche in seinem Denken – und davon ist essentiell auch der Lebensbegriff mitbetroffen –, mit einer irrationalen und sich jeder Systematisierung entziehenden Perspektive arbeitet. Nur in diesem Sinne kann mit Tom Kleffmann davon ausgegangen werden, dass sich die von Nietzsche gefundene aphoristische Form 204 als »angemessen« erweist. Auf der anderen Seite ist der aphoristische Stil auch in der Lage, Verstörungen 205 auszulösen. Insofern neigen Interpreten dazu, die Aphorismusbücher Nietzsches als Ausdruck einer darstellungstechnischen Verlegenheit, ja Unfähigkeit zu deuten. Exemplarisch dafür sei auf Edmund Heller und Volker Gerhard hingewiesen. 206 Heller interpretiert die »aphoristische Form [... als] Ausdruck eines Scheiterns« . Und er erblickt dieses Scheitern in erster Linie darin, dass Nietzsches philosophisches Experimentieren nicht bis zur Generierung eines begründungslogisch fassbaren Gesamtresultates vorgedrungen ist und Nietzsche eine dieser Vorläufigkeit entsprechende Form zu suchen gezwungen war: eben die des Aphorismus. In diesem Sinne bescheinigt er den Aphorismusbüchern einen »Nachlaßcharakter«, was nach Heller im Übrigen für alle Texte ab 1878 zutrifft und ihn zu der streitbaren These führt: »Beide, sowohl die von Nietzsche seit 1878 veröffentlichten Schriften als auch die von ihm selbst nicht veröffentlichen Aufzeichnungen haben denselben Status, nämlich den etwa der Kantischen Reflexionen. Die Ungeheuerlichkeit von Nietzsches literarischem Schaffen liegt darin, daß er, von den Frühschriften abgesehen, seit 1878 nur noch als Herausgeber des eigenen handschriftlichen Nachlasses an die Öffentlichkeit getreten ist«207. Volker Gerhard geht nicht so weit, ent201 Nietzsche, MA ,II, 2. (214), 2, 646 (i. Orig. gesperrt). 202 Der vollständige Titel lautet: ›Menschliches – Allzumenschliches; Ein Buch für freie Geister. Dem Andenken Voltaires geweiht zur Gedächtnisfeier seines Todestages, den 30. Mai 1778 von Friedr. Nietzsche‹. Die Widmung ist in der zweiten Auflage von 1886 ersatzlos getilgt. Der Sache nach spielt Voltaire selbst in diesem Buch eine untergeordnete Rolle; sein Name taucht gerade einmal in acht Aphorismen auf. Vgl. dazu Heller, Erich, Lehrer der Freien Geister, 96f. 203 Vgl. Gerhardt, Nietzsche, 45: »Nietzsche will nun als Aufklärer und Europäer verstanden werden«. 204 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 205. 205 Auch von den Zeitgenossen Nietzsches wurde Aphoristik z.T. mit grosser Skepsis aufgenommen. Zu den Reaktionen Rohdes z.B. vgl. Heller, Edmund, Nietzsches Scheitern, 42ff. Zur Wirkung von ›Menschliches Allzumenschliches‹ vgl. Heller Erich, Lehrer der Freien Geister, 98f. 206 Heller, Edmund, Nietzsches Scheitern, 45. Vgl. auch a.a.O., 55: »Die aphoristische Form ist Ausdruck eines Scheiterns«. 207 Heller, Edmund, Nietzsches Scheitern, 111. Diese pauschale These übersieht jedoch, dass es zwischen den von Nietzsche selbst veröffentlichten Texten und dem Nachlass im strengen Sinne den-
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deckt aber in der Frontstellung des mittleren Nietzsche gegen das System und seiner Entscheidung für das Extrem des Aphorismus eine »persönliche Unfähigkeit« in Fragen der philosophischen Methode. Und er führt weiter aus: »Seine Angriffe gegen das systematische Denken verdecken, daß er selbst systematische Ambitio208 nen hat.« Alles in allem wird man sagen müssen, dass Nietzsches Aphoristik nicht unproblematisch ist. Sie eröffnet ihm neue Möglichkeiten, birgt aber gleichzeitig Rekonstruktionsprobleme, insofern auf der einen Seite die Grenzen seines Philoso209 phierens verschwimmen, und auf der anderen (intendiertermaßen) viel der interpretatorischen Phantasie des Lesers überlassen wird: »[M]an überlässt der Arbeit des Beschauers mehr, er wird aufgeregt, das, was in so starkem Licht und 210 Dunkel vor ihm sich abhebt, fortzubilden, zu Ende zu denken« . Dies ist bei der Rekonstruktion des Lebensbegriffes im Auge zu behalten und entsprechend interpretatorische Vorsicht walten zu lassen, um dem Multiperspektivismus und »Me211 thodenpluralismus des aphoristischen Denkens« gerecht zu werden. Nietzsche war sich später der Schwierigkeit seiner Aphoristik durchaus bewusst. In der ›Genealogie der Moral‹ gesteht er unumwunden, dass die »aphoristische Form Schwierigkeit [macht]: sie liegt darin, dass man diese Form heute nicht schwer genug nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht entziffert; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. [...] Freilich thut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur Lesbarkeit meiner Schriften –, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht moderner Mensch sein muss: das Wiederkäuen«212. Die andere Frage, ob zwischen den ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ und den Aphorismusbüchern ein markanter Bruch auszumachen ist, kann kürzer beantwortet werden. Obwohl die Annahme eines inhaltlichen Bruches immer noch ger-
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noch entscheidende Differenzen gibt. So wird man wenigstens sagen müssen, dass selbst die Aphorismenbücher von einer durchdachten und durchgeführten wie verantworteten kompositorischen Idee getragen sind. Beim Zarathustra und den folgenden Schriften ist dies ohnehin mehr als evident. Nietzsche redet dementsprechend auch selbstbewusst von Büchern. Gerhardt, Nietzsche, 25. Auch der Nietzsche-Biograph Curt Paul Janz bezweifelt, dass »Nietzsche mit dem Aphorismus wirklich die seinem Wesen gemäße Form gefunden habe« (Janz, Nietzsche I, 813). Nietzsche reißt mit dem Aphorismus »die Grenze zwischen Literatur und Philosophie, zwischen Wissen und Poesie, zwischen Denken und Dichten« ein (Claesges, Der maskierte Gedanke, 11; vgl. auch a.a.O., 38). Nietzsche, MA, I, 4. (178), 2, 162. Vgl zu diesem Aphorismus Heller, Edmund, Nietzsches Scheitern, 44. Gerhardt, Nietzsche, 138. Nietzsche, GdM, Vorrede, 8., 5, 256 (i. Orig. z.T. gesperrt, Hervorhebung v. Vf.). Zum Motiv des Wiederkäuens, das – nebenbei bemerkt – an Luthers berühmte Auslegung des ersten Psalms erinnert vgl. auch Nietzsche, AsZ, IV, Der freiwillige Bettler, 4, 334.
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Der Metaphysische Lebensbegriff 213
ne kolpotiert wird, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass es sich zwar um einen Neueinsatz, nicht aber um eine radikale Neuorientierung im Denken Nietz214 sches handelt. Interessanterweise lässt sich dies bei einem für den mittleren Nietzsche eher subcutanem Thema, wie es das Leben in dieser Phase seines Denkens ist, besonders gut zeigen. Denn dies sei der Rekonstruktion gleich vorangeschickt: In Bezug auf die konstruktive Entfaltung des Lebensbegriffes sind die Schriften des mittleren Nietzsche nur von bedingtem Interesse. Das Leben als Thema des Denkens und seine Entfaltung steht keinesfalls im Vordergrund, wird jedoch im Hintergrund mittransportiert und durch die Erweiterung des Problemhorizonts auf neue, bislang kaum oder gar nicht beachtete Problemkreise mit zusätzlichen Bestimmungen angereichert. Dies soll im Folgenden in einem Durchgang durch die Aphorismusbücher nachvollzogen werden, um in einem Resümee insbesondere auf die neu gewonnenen ethischen Konnotationen einzugehen. III.2 III.2.1
›Menschliches, Allzumenschliches‹ Erweiterte Kulturkritik, extripative Psychologie und psychologische Wissenschaft
Neben der Aphoristik zeichnet sich ›Menschliches, Allzumenschliches‹ noch durch wenigstens drei Charakteristika gegenüber dem Frühwerk aus. Dies betrifft eine umfassende kulturkritische Wendung, die Methode der psychologischen Beobachtung und ein neu gefundenes Wissenschaftsverständnis. Diese treffen freilich auch für die beiden anderen großen Aphorismusbücher ›Morgenröthe‹ und ›Fröhliche Wissenschaft‹ zu, sind aber in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ erstmals und am ausführlichsten reflektiert. Insofern sind sie vor Inblicknahme des Lebensbegriffes an dieser Stelle zu erörtern. Der erste Punkt betrifft – wie gesagt – eine erweiterte Kulturkritik. Die Kulturkritik weiß sich nicht mehr auf das engere Feld der Wissenschaft und insbesondere der historischen Wissenschaft und einer an einer historischen Krankheit leidenden Kultur gewiesen, sondern bezieht sich nunmehr explizit und ausführlich auch auf Moral, Religion und Metaphysik, wobei sich Nietzsche zunächst v.a. als Moralkritiker in Stelleung bringt. Die Erweiterung der Kulturkritik lässt sich zunächst an213 So z.B. Glatzeder: »Nietzsches erstes Aphorismenbuch, Menschliches, Allzumenschliches, kann aus einer ganzen Reihe von Gründen als Schlüssel zu Nietzsches Philosophie gesehen werden« (Glatzeder, Motive und Hintergründe von Nietzsches Metaphysikkritik, 115 [i. Orig. z.T. kursiv]). Vgl. dazu auch Volkmann-Schluck, Leben und Denken, 5 sowie Janz, Nietzsche, I, 811). 214 »Dennoch bedeutet der Weg Nietzsches hin zu Menschliches, Allzumenschliches und sein Weg in diesen Aphorismen mehr ein Zu-Ende-Denken des bisher gedachten als einen Bruch« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 206). Vgl. auch Mann, Nietzsches Philosophie, 120: »Nicht genug aber ist die vollkommene Einheit und Geschlossenheit von Nietzsches Lebenswerk zu betonen«. Thomas Mann geht dabei davon aus, dass sich in erster Linie nicht das Denken, sondern vor allem die »Schreibweise« (a.a.O., 117) ändert.
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hand der Adressaten der Schrift explizieren. Dem Untertitel zufolge sind dies die freien Geister. Was damit näherhin gemeint ist, hat Nietzsche in einer längeren Vorrede zur zweiten Auflage erläutert. Sie lässt sich lesen als ausführlicher Kommentar zu einem (statt einer Vorrede) der ersten Auflage vorangestellten Cartesius-Zitat. Darin berichtet Descartes, wie er den Entschluss gefasst hatte, sein Leben der Ausbildung seiner Vernunft zu widmen und zwar der von ihm entwickelten Erkenntnismethode entsprechend, was ihn zum permanenten Entdecken von Neuem und Unbekanntem führte. Das Ganze schließt mit dem Satz: »Da wurde endlich meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr nichts mehr anthun konnten«215. Von besonderem Interesse ist dabei genau das Erwähnen einer von nichts zu erschütternden Seele. Denn damit ist offensichtlich auf das angespielt, was Nietzsche bereits im Untertitel der Erstauflage einen freien Geist 216 nennt. In der Vorrede von 1886 hat Nietzsche seine Vorstellung vom freien Geist präzisiert. Dabei räumt er zunächst ein, dass er das, was er freie Geister nennt, zunächst 217 allein diviniert hat. Es gibt sie (noch) nicht wirklich, sie sind »tapfere Gesellen 218 und Gespenster, [...] ein Schadenersatz für mangelnde Freunde« . Allerdings heißt das nicht, dass es die freien Geister nicht geben wird und so entwirft Nietzsche im Folgenden prophetisch die Vision eines freien Geistes, und es kann kaum Zweifel daran bestehen, dass Nietzsche sich an dieser Stelle selber als werdenden 219 Freigeist skizziert. Für einen von Nietzsche imaginierten freien Geist ist es zunächst typisch, dass 220 er ein Schlüsselereignis in Gestalt einer »grossen Loslösung« hatte. Diese große Loslösung wird im Folgenden als ein Prozess beschrieben an dessen Anfang ein – und auch hier lässt sich der Schatten der Bezugnahme auf Cartesius entdecken – radikaler Skeptizismus in Bezug auf Moral, Religion und Metaphysik steht: »das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neugierde. Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht Böse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit 221 des Teufels? Ist Alles vielleicht im letzten Grund falsch? [...]« . Motiviert ist diese Skepsis durch einen »erste[n] Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestim215 Nietzsche, MA, I, An Stelle einer Vorrede, 2, 12. 216 Und hier schließt in einer weiteren Hinsicht die Widmung an Voltaire an, den Nietzsche erklärenderweise als einen der »grössten Befreier des Geistes« (Nietzsche, MA, Hinweis zur Erstausgabe, 2, 11) bezeichnet. 217 Die zweite Ausgabe von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ ist buchtechnisch betrachtet v.a. dadurch charakterisiert, dass in ihr die drei zunächst separat veröffentlichten Schriften ›Menschliches, Allzumenschliches‹ (1878), ›Vermischte Meinungen und Sprüche‹ (1879) und ›Der Wanderer und sein Schatten‹ (1880) nun zu einem zweibändigen Werk zusammengefasst wurden. 218 Nietzsche, MA I, Vorrede (2.), 2, 15. 219 So stellt Nietzsche in ›Ecce homo‹ fest: »Der Name Voltaires auf einer Schrift von mir – das war wirklich ein Fortschritt – zu mir« (Nietzsche, EH, Menschliches, Allzumenschliches, 1., 6, 322 [i. Orig. z.T. gesperrt]). 220 Nietzsche, MA, I, Vorrede (2.), 2, 15. 221 Nietzsche, MA, I, Vorrede (3.), 2, 17 (i. Orig. z.T. gesperrt).
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mung, Selbst-Werthsetzung, [einem] Willen zum freien Willen« , der sich seinerseits einem quasi pubertären Bewusstwerden der je eigenen Gebundenheit in einem heteronomen Netzwerk von Pflichten, theologischen und metaphysischen Vorstellungen verdankt. Allerdings: Diese Einsicht und der radikale FreiheitsSkeptizismus eines unbändigen Willens stürzen den Geist auf seinem Weg zum freien Geist zunächst in eine tiefe Krise, da einerseits das Loslassen vom Altherbekannten und -vertrauten schmerzhaft ist und andererseits die mit dem radikalen Skeptizismus sich auftuenden Lücken nicht ohne weiteres gefüllt werden können. Diese Krise kann Nietzsche auch mit dem Epitethon der Krankheit umschreiben, deren markante Symptome Entfremdung und Einsamkeit sind. Der Krise folgt eine schmerzhafte und entbehrungsreiche Therapie, an dessen Ende in der (bekannten Arzt-Rhetorik) die »grosse[] Gesundheit«223 steht. In ihr ist der Geist frei. Die Freiheit des Geistes kommt zum Stehen in seiner Selbstermäch224 tigung, die sich darin konzentriert, Herr über sich zu sein und das meint primär auch Herr über seine Tugenden, die allesamt nur noch Mittel zur Realisierung des je eigenen Zweckes darstellen dürfen. Die dazu nötige Zentraleinsicht, zu der der genesende Geist nach und nach durchringt, ist die von der Perspektivität jeder Wertsetzung, die der freie Geist zum Grundproblem erhebt, das sich – wie Nietz225 sche sagt – als »das Problem der Rangordnung« herauskristallisiert. Damit ist, obgleich sich die Kulturkritik primär auf Moral, Religion und Metaphysik bezieht, ein deutlich moralphilosophischer – und das meint in erster Linie in Bezug auf die überkommene Moral moralkritischer – Akzent gesetzt. Der freie Geist ist also der, der um die Perspektvität jeder Wertsetzung resp. Rangordnung weiß und frei von externen Normhierarchien selbst zum Ausgangspunkt und Maß evaluativer Skalierungen wird. Freier Geist ist der Mensch, der sich selbstmächtig zum Grund wer226 tender Selbst- und Welterschließung macht. Er steht in Opposition zur falschen Annahme eines freien Willens gegen die Nietzsche dann v.a. im zweiten Abschnitt seiner Schrift polemisiert. Der freie Geist erweist sich gleichermaßen als die moralphilosophische Zentral-Vision, die die überkommende Illusion eines freien Willens nebst der damit verbundenen moralischen Irrtümer in Gestalt »falsche[r] 227 Ethik« überwinden soll. Indem dies der freie Geist vollbringt wird die Vollendung 228 der großen Loslösung schließlich zur »Selbsterlösung« . 222 Nietzsche, MA, I, Vorrede (3.), 2, 16f. (i. Orig. z.T. gesperrt). 223 Nietzsche, MA, I, Vorrede (4.), 2, 18. 224 So gibt Nietzsche in ›Ecce homo‹ zu verstehen: »In keinem anderen Sinne will das Wort freier Geist hier verstanden werden: ein freigewordener Geist, der von sich selber wieder Besitz ergriffen hat« (Nietzsche, EH, Menschliches, Allzumenschliches, 1., 6, 322 [i. Orig. z.T. gesperrt]). 225 Nietzsche, MA, I, Vorrede (6.), 1, 21. 226 Volkmann-Schluck hält in diesem Sinne mit Recht fest, dass Nietzsche in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ »auf das Lebewesen Mensch als den Grund der Metaphysik zurückgeht« (Volkmann-Schluck, Leben und Denken, 5). 227 Nietzsche, MA, I, 2. (37), 2, 60. 228 Nietzsche, MA, I, 3. (134), 2,129.
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Nietzsche lässt im fraglichen Vorwort keinen Zweifel daran, wie sich sein Buch zur geschilderten Divinierung der freien Geister verhält. Es ist noch nicht die Urkunde, in der ein frei gewordener Geist die Welt aus sich entwirft. Zum einen räumt Nietzsche (wie gesehen) selbst ein, dass es die freien Geister noch nicht gibt und zweitens markiert ›Menschliches, Allzumenschliches‹ noch die Station eines Rückzugs zu sich selbst. Insbesondere Letzteres macht darauf aufmerksam, dass ›Menschliches, Allzumenschliches‹ selbst aus der Perspektive des grade in der Krankheit und Einsamkeit befangenen noch nicht freien Geistes entworfen ist. Insofern handelt es sich bei ›Menschliches, Allzumenschliches‹ in der Tat noch um »jenes einsiedlerische Reden«229 resp.wie Nietzsche dann in ›Ecce homo‹ schreibt, 230 um »das Denkmal einer Krisis« . Dies führt auf den zweiten oben angesprochenen Punkt, durch den sich ›Menschliches, Allzumenschliches‹ von den früheren Texten unterscheidet. Dies betrifft den gestus des Psychologen, den Nietzsche nun für sich in Anspruch 231 nimmt. Es war wiederum Thomas Mann, der diesem Umstand pointiert Ausdruck verliehen hat: »Zum Psychologen ist er geboren, die Psychologie ist seine Urleiden232 schaft. Erkenntnis und Psychologie, das ist im Grunde ein und dieselbe Passion« . Nietzsche selbst bezeichnet seine Schrift nun auch dezidiert als »psychologische 233 Beobachtung« , die, wie er im Rückblick festhält, aus »lauter harte[n] 234 Psychologica« besteht. 229 Nietzsche, MA, II, Vorrede (5), 2, 374. 230 Nietzsche, EH, Menschliches, Allzumenschliches, 1., 6, 322. 231 Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass Nietzsche auch schon in den frühen Schriften psychologisch arbeitet. Vgl. zur ›Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ Gödde, Entlarvungsund Tiefenpsychologie, 22; zu den ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ vgl. Wehr, Nietzsche, 78–91. Allerdings ist die psychologische Betrachtung demnach noch nicht programmatisch. 232 Mann, Nietzsches Philosophie, 13. 233 Nietzsche, MA, I, 2. (35), 2, 58. In ›Jenseits von Gut und Böse‹ schreibt Nietzsche später: »Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen« (Nietzsche, JGB, I, [23.], 5, 39). Vgl. dazu Gerhardt, Nietzsche, 122: »Die Aphorismen von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ sind aus der Perspektive eines Psychologen geschrieben, der Philosophie stärker mit analytischen Mitteln betreiben will. Mit anderen Worten: Hier soll eine wirklich kritische Philosophie betrieben werden« (i. Orig. z.T. hervorgehoben). Die letzte Formulierung macht auf eine Eigenheit der Nietzsche-Interpretation Gerhardts aufmerksam, die darin besteht, dass er Nietzsche immer wieder in deutlicher Nähe zum kritischen Impetus Kants sieht (vgl. Gerhardt, Nietzsche, 99). Auch Andreas Honneth ist (mit Blick auf den Zarathustra) der Überzeugung, dass Nietzsche »Kants kritisches Projekt auf veränderten Grundlagen erneuert (Honneth, Paradox des Augenblicks, III). Ähnlich äussert sich auch Michael Tanner zur ›Geburt der Tragödie‹: »Man könnte GT als transzendentales Argument im kantischen Sinne ansehen« (Tanner, M., Nietzsche, 19). 234 Bekanntlich finden sich bei Nietzsche bereits viele psychologische Einsichten, die dann auch in der Psychoanalyse Siegmund Freuds wieder auftauchen. Vgl. Wehr, Nietzsche, 36–49; Gödde, Entlarvungs- und Tiefenpsychologie, 32–35; Gerhardt, Nietzsche, 218; Haslinger, Nietzsche und die Anfänge, 107–110; Lang, Nietzsche und die strukturelle Tiefenpsychologie, 165–167. Lang spricht in diesem Zusammenhang von einer »Patenschaftsfunktion Nietzsches für Freud« (a.a.O., 166). Dies hat immer wieder zu einem Plagiatsverdacht Anlass gegeben. Diesen hat Reinhard Gasser nun überzeugend zurückgewiesen. Für ihn ist der Plagiatsverdacht »gegenstandslos«, weil bei-
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Die von Nietzsche benützte Methode der psychologischen Beobachtung ist treffend als eine Entlarvungspsychologie beschrieben worden, in deren Zentrum eine 235 subtile Triebkritik und -analytik steht. Damit ist wenigsten zweierlei gemeint: Einmal, dass es die Psychologie à la Nietzsche mit der Eliminierung kultureller Verirrungssyndrome, und gemeint sind in erster Linie natürlich wieder die traditi236 onelle Metaphysik, Moral und Religion, zu tun hat. Die einzelnen Passagen von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ lassen sich so deuten als vernichtende Abrechnung mit zentralen Kulturüberlappungen, die mittels psychologischer Methodik einer extripativen Kritik unterzogen werden. Damit übereinstimmend lautet Teil eins ›Von den ersten und letzten Dingen‹ (Metaphysik), der zweite Abschnitt ›Zur Geschichte der moralischen Empfindungen‹ (Moral) und Kapitel drei ›Das religiöse Leben‹ (Religion). Nietzsche hat sein Vorgehen plastisch mit der Metapher des Sezierens illustriert.237 Ziel dieses operativen Geschäfts ist der Mensch selber; besser: der Kern seines Menschseins. Die psychologische Betrachtung zielt somit ins Schwarze des Menschseins resp., wie Nietzsche es ausdrückt, »ins Schwarze der menschlichen 238 Natur« . Auf diesem Wege gelingt es – und das das ist das zweite Moment –, am Orte des Menschen eine Triebdimension als Charakteristikum »des inneren Le239 bens« freizulegen. Damit endlich wird das eigentliche Zentrum der psychologischen Beobachtung deutlich, wie Nietzsche es dann auch in der oben behandelten Vorrede zur zweiten Auflage mit Blick auf die Phantasie des freien Geistes prälu240 diert hat. Denn der entscheidende »Vortheil der psychologischen Betrachtung« 241 besteht laut Nietzsche exakt darin, dass sie die »Last des Lebens« zu erleichtern in der Lage ist. Erleichterung ist hier analog zu lesen als Loslösung im Sinne von perspektivischer Selbsterlösung. Damit wird deutlich, dass die psychologica von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ in direktem Bezug zum Leben stehen. Wie in der ›Unzeitgemässen Betrachtung‹ die Historie dem Leben dient, so in ›Menschli-
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de ihrem Profil – einmal als Arzt und das andere Mal als Philosoph – entsprechend ganz unterschiedlich zu ihren z.T. übereinstimmenden Resultaten gelangen, indem »Nietzsche den Weg von der Philologie über die (Physio-) Psychologie zur Physiologie ein[schlägt], Freud dagegen den von der Physiologie zur Psychologie« (Gasser, Nietzsche und Freud, 434). Gödde, Entlarvungs- und Tiefenpsychologie, 31. Neben der Triebpsychologie führt Gödde noch fünf weitere Hauptaspekte an: die Idee der Selbsttäuschung, ein damit verknüpftes KonfliktAbwehr-Modell, die Hypothese der pathogenen Wirkung von Affektunterdrückung, das Konzept der Verinnerlichung als Quelle von Schuldgefühlen und Sadomasochismus sowie eine korrespondierende kritische Kulturtheorie (ebd.). Vgl. dazu auch Heller, Erich, Lehrer der Freien Geister, 102. Heller spricht von »psychologische[r] Demaskierung«. Vgl. Nietzsche, MA, I, 2. (37), 2, 60. Vgl. Nietzsche, MA, I, 2. (37), 2, 59: »der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen«. Nietzsche, MA, I, 2. (36), 2, 59. Nietzsche, MA, I, 5. (215), 2, 175 (Hervorhebung v. Vf.). MA I, 2. (35), 2, 58 (i. Orig. gesperrt). Nietzsche, MA,I, 2. (35), 2, 57 (Hervorhebung v. Vf.).
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ches, Allzumenschliches‹ die psychologische Beobachtung. Entsprechend wird auch der vorausgesetzte Lebensbegriff im modus psychologischer Betrachtung neu umrissen. Dies soll im Folgenden nachvollzogen werden. Zuvor ist jedoch – wie oben angedeutet – noch auf einen weiteren Sachverhalt hinzuweisen. Dieser letzte angedeutete Punkt schließlich, mit dem sich ›Menschliches, Allzumenschliches‹ vom frühen Nietzsche abhebt, knüpft hier nahtlos an und betrifft eine Entwicklung, die im Frühwerk anhebt und mit dem ersten Aphorismusbuch zu einem vorläufigen Abschluss kommt. Gemeint ist die prominente Rolle der Kunst, wie sie massiv in der ›Geburtsschrift‹ und mit Abstrichen noch in den ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ zum Vorschein kommt.242 Diese herausragende Funktion der Kunst fehlt in den Aphorismusbüchern weitgehend. Es ist nicht mehr die Kunst, die zum Leben verführt, sondern diese Rolle übernimmt überraschend pri243 mär nun die Wissenschaft. Es liegt freilich auf der Hand, dass damit nicht an eine Wissenschaft alexandrinischen Typus’ gedacht sein kann, wie Nietzsche sie v.a. in der ›Historienschrift‹ ins Kreuzfeuer seiner Kritik genommen hatte. Vielmehr ist die psychologische Wissenschaft im oben skizzierten Sinne gemeint: Wissenschaft 244 »als die Nachahmung der Natur in Begriffen« . Es geht dabei freilich um eine Nachahmung der menschlichen Natur durch auf psychologischem Wege von kulturellen Irrtümern gereinigte Begriffe nebst deren Zusammenhängen. Dies ist ein neues Wissenschaftsverständnis und insofern kann Nietzsche später auch von sich 245 sagen, dass er im strengen Sinne als der erste Psychologe zu gelten habe. Ein gewichtiger Grund für die Verabschiedung der Kunst als theorietragendes Moment dürfte biographisch vermittelt sein. Im Laufe des Jahres 1878 kommt es zum definitiven Bruch zwischen Nietzsche und Wagner. Endgültiger Auslöser eines schon mehr oder weniger intensiv schwelenden Ablösungsprozesses dürfte Wagners ›Parsifal‹ gewesen sein. Indem Wagner mit dem ›Parsifal‹ einen genuin christlichen Stoff bearbeitete, sprich seine Kunst, die Nietzsche bis anhin als neue dithyrambische Dramatik und Wiedergeburt der Tragödie aus deutschem Geist verehrt hatte, in den Dienst christlichen Traditionsgutes stellte, wurde die Kunst für Nietzsche offenbar in einer grundsätzlichen Weise suspekt, so dass er sie als zentrales Theoriemoment verabschiedete. Für Wagner hingegen bedeutete die Arbeit am ›Parsifal‹ gleichsam eine Wiederentdeckung seiner christlichen Wurzeln, was für Nietzsche einem radikalen Verrat an allen früher gemeinsamen Werten gleichkam.246 Insofern wurde ihm nun auch 242 Vgl. dazu unter B.II.1. 243 »Der auffälligste Gegensatz zwischen den in Menschliches, Allzumenschliches und in den vorhergehenden Werken vertretenen Anschauungen betrifft die Stellung von Wissenschaft und Kunst. Der Primat, der in der Periode der Geburt der Tragödie und der Unzeitgemässen Betrachtungen der Kunst zugestanden wurde, wird jetzt mit klaren Worten auf die Wissenschaft übertragen« (Colli, Menschliches, Allzumenschliches I, 707f.). 244 MA, I, (38), 2, 61 (i. Orig. gesperrt). 245 Nietzsche, EH, Warum ich so gute Bücher schreibe, 5., 6, 305. 246 Vgl. dazu Nietzsches ›Der Fall Wagner‹.
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Wagner als Person verdächtig. Im diesbezüglichen Nachlass findet sich eine in dieser Hinsicht hochaufschlussreiche Notiz. Sie betrifft jenes berühmte letzte Gespräch zwischen Nietzsche und Wagner in Sorrent bei Neapel vom Sommer 1878. Nietzsche notiert im Hinblick auf Wagners Eröffnungen ihm gegenüber: »Als Richard Wagner mir gar von dem Genusse zu sprechen begann, den er dem christlichen Abendmahle (dem protestantischen) abzugewinnen wisse, da war es aus mit 247 meiner Geduld« . Nietzsche hat den auch für ihn schmerzlichen Bruch mit Wagner nie wirklich verkraftet und literarisch zu verarbeiten gesucht, aber radikal in der Weise durchgehalten, dass die Kunst für ihn als tragender Theoriebaustein ih248 ren Reiz verloren hatte. Hier eine Zäsur setzend dürfte evident sein, dass die drei diskutierten Punkte – erweiterte Kulturkritik mit moralphilosophischem Akzent, Psychologie in extripativer Hinsicht und gewandeltes Wissenschaftsverständnis – untrennbar miteinander zusammenhängen. Die umfassende Kulturkritik impliziert eine ihr entsprechende Methode, die zur Geburt eines neuen Wissenschaftsverständnisses führt, die psychologische Methode evoziert ebenso eine entsprechende Stellungnahme zur Kultur, zu der eben auch die Wissenschaft gehört und der Wissenschaft endlich als neue Wissenschaft inhäriert ein kritisches Potential gegenüber dem Überkommenen, das psychologisch entlarvt und seziert wird. Dies alles dient freilich nur einem: dem Leben.249 III.2.2
Das losgelöste Leben – das Leben als Lebendigkeit
Trotz aller formalen und inhaltlichen Re-Justierungen, die Nietzsches Aphorismusbücher auszeichnen, lassen sich auch und gerade im Horizont des davon unmittelbar mitbetroffenen Lebensbegriffes Gradlinigkeiten und Kontinuitäten ausmachen. Das Leben im Lichte der eingeschlagenen Intention bleibt zentraler Aspekt nietzscheanischer Denkanstrengungen, ist starr in seiner kreativen Weiterentwicklung der variierten Methodik und den differierenden Akzentsetzungen unterworfen, gewinnt denn aber genau auch dadurch an Facettenreichtum und Profil. Augenscheinlichstes Identitätsmoment ist die unmittelbar an die Phänomenologie des Lebens gebundenen Metaphorik von Krankheit und Gesundheit, die an247 Nietzsche, N Sommer–Herbst 1884, 26 [377], 11, 250. Zum Bruch zwischen Nietzsche und Wagner vgl. Heller, Erich, Lehrer der Freien Geister, 91ff.; Janz, Nietzsche I, 746f.; Kern, Wagner und Nietzsche, 154ff.; Wehr, Nietzsche, 18f. 248 Vgl. dazu die Ausführungen in ›Ecce homo‹ (Nietzsche, EH, Menschliches, Allzumenschliches, 5., 5, 327) und in der ausdrücklich als ›Aktenstücke eines Psychologen‹ (so der Untertitel) gekennzeichneten Schrift ›Der Fall Wagner‹ (v.a. Nietzsche, EH, Wie ich von Wagner loskam, 1f., 5, 331– 433). 249 »Das Leben selbst belohnt uns für den zähen Willen zum Leben, für einen so langen Krieg, wie ich ihn damals mit mir gegen den Pessimismus der Lebensmüdigkeit führte, schon für jeden aufmerksamen Blick unsrer Dankbarkeit, der sich die kleinsten, zartesten, flüchtigsten Geschenke des Lebens nicht entgehen lässt« (Nietzsche, MA, II, Vorrede [5], 2, 375 [Hervorhebung i. Orig.]).
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satzweise schon oben mitgeführt wurde. Der Philosoph als Arzt der Kultur hat sein 250 Fachgebiet gefunden. Es ist – wie gesehen – das des kulturkritisch wie -ambitioniert operierenden psychologischen Diagnostikers in streng wie innovativ organisierter wissenschaftlicher Absicht. Allein mutiert mit diesen Verschiebungen auch die Pathologie und mit ihnen die vorausgesetzte metaphysische Anatomie des Lebens. Und dieser entspricht die Therapie-Vision »eine[r] höhere[n] Art von Ge251 nesung« . Die diesbezüglichen Erweiterungen in Bezug auf die Konzenption des Lebensbegriffs lassen sich prägnant in den namhaft gemachten Hinsichten von Kulturkritik, Psychologie und Wissenschaftsverständnis darstellen. Und wie zuletzt angedeutet ist von einer wechselseitigen Durchdringung dieser Trimisphären grundsätzlich auszugehen. In ihrer nun zu verfolgenden intensiven wie konstruktiven Ineinander-Setzung eröffnet sich ein weiteres Mal die Möglichkeit, dem angezeigten ethischen Akzent des Lebensbegriffes prägnantere Kontur zu verleihen. Zunächst soll ein Blick auf die psychologische Dimension des Lebens geworfen werden, dann ist auf die Wissenschaft einzugehen, um schließlich im Horizont der Kulturkritik mit moralphilosophischem Akzent exakt auf die ethisch relevanten Konnotationen zu stossen. Was zunächst die psychologische Methode im engeren Sinne und deren Implikationen für den Lebensbegriff angeht, so konnte festgehalten werden, dass sie auf den Kern des Lebens führt, indem hinderliche Irrtümer weggeschält werden. Im Hinblick auf das Leben fallen hier v.a. zwei Irrtümer ins Gewicht, die nach Nietzsche den Blick auf das wahre Leben verstellen. Das ist zum einen die fälschliche Annahme, dem Leben inhäriere so etwas wie ein Eigenwert und zum anderen die Durchdringung der Einsicht, dass das Leben geradezu notwendigerweise mit Täuschungen über es selbst behaftet sei. Was die Vorstellung eines grundsätzlichen Eigenwerts des Lebens anbelangt, so erteilt Nietzsche eine klare Absage: »Jeder Glaube an der Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist allein dadurch möglich, dass Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist«252. Es werden also zwei Argumente gegen die angezeigte These ins Feld geführt. Der Gedanke eines unbedingten Lebenswertes enthält erstens eine gedankliche Unreinheit, die zweitens auf einer psychischen Täuschung beruht. Die angezeigte Unreinheit im Denken besteht in Folgendem: Ein nüchterner Blick, der die Voraussetzung, alles Leben hätte per se einen Wert, kritisch zurückstellt, kommt zu einer gegenteiligen Prämisse. Das meiste Leben erweist sich offenkundig als nicht wertvoll. Wird im Gegenzug, um das Leben insgesamt als wert250 Vgl. dazu unter B.II.3. 251 Nietzsche, EH, Menschliches, Allzumenschliches, 4., 6, 326 (i. Orig. z.T. gesperrt). Am Rande sei hier an das romantisch-idealistische Philosophem der höheren Art erinnert. 252 Nietzsche, MA, I, 1. (33), 2, 52.
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voll zu deklarieren, nur an die zweifellos (aber in weit geringerem Maße) existierenden wertvollen Lebenserscheinungen gedacht, übersieht man bewusst die nicht wertvollen und denkt dementsprechend unrein. Das wiederum gründet in einer Unfähigkeit des Durchschnittsmenschen, in Wahrnehmung und Beurteilung des Lebens zu Vorstellungen eines allgemeinen Lebens zu gelangen. Referent bleibt in den allermeisten Fällen allein das je eigene durchschnittliche Leben resp. die in den Augen Nietzsches katastrophale Fehleinschätzung des Durchschnittsmen253 schen, »dass er sich wichtiger nimmt, als die Welt« . In der Zusammenschau lässt sich der Irrtum abstrakt als eine Art naturalistischer Fehlschluss beschreiben, wie er etwa auch bei Kant zu finden sei: »Die gewöhnlichsten Irrschlüsse der Menschen sind diese: eine Sache existirt, also hat sie ein Recht. Hier wird aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmässigkeit, aus der Zweckmässigkeit auf die Rechtmässigkeit 254 geschlossen« . Der Abweis eines Eigenwertes des Leben hat allerdings nicht zur Folge, dass das Leben in den Augen Nietzsches nun im Gegenteil als grundsätzlich 255 wertlos zu beschreiben ist. Denn – und dies führt auf die Irrtumsdimension des Lebens –, es ist nach Nietzsche geradezu notwendig, dass das Leben im beschriebenen Sinne in derartige Täuschungen in Bezug auf sich verfällt. Denn gesetzt, es gelänge, die Perspektive des allgemeinen Lebens einzunehmen und »das Gesamtbewusstsein der Mensch256 heit in sich zu fassen« , so führte dies zur Einsicht in die Ziellosigkeit des ganzen Menschengeschlechtes, was den Menschen am Leben verzweifeln ließe: »[E]r wür257 de mit einem Fluch gegen das Dasein zusammenbrechen« . Der Irrtum des Lebens erweist sich von hier aus gesehen wieder als Lebensfunktion: »[D]as Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es lebt von der 258 Täuschung …« . Die Einsicht von der allgemeinen Ziellosigkeit des Lebens bleibt so dem durch die Krisen der großen Loslösung gegangenen freien Geist vorbehalten, oder wie Nietzsche festhält dem »Dichter: und Dichter wissen sich immer zu 259 trösten« . 253 Nietzsche, MA, I, 1. (33), 2, 53. 254 Nietzsche, MA, I, 1. (30), 2, 50. 255 »Wenn ihr bisher an den höchsten Werth des Lebens geglaubt habt und euch nun enttäuscht seht, so müsst ihr es denn jetzt gleich zum niedrigsten Preis losschlagen?« (MA, II, 1. [1], 2, 381). 256 Nietzsche, MA, I, 1., (33), 2, 53. 257 Nietzsche, MA, I, 1., (33), 2, 53. 258 Nietzsche, MA, I, Vorrede (1), 2, 14 (Hervorhebung i. Orig.). Kleffmann hält hierzu fest: »Doch inwiefern ein verkehrter Lebensbegriff eine Notwendigkeit des Lebens ist, führt Nietzsche nicht aus« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 209). 259 Nietzsche, MA, I, 1., (33), 2, 53. In dieser These lässt sich noch ein letzter Schatten von der lebensdienlichen Funktion der Kunst entdecken. Sie erscheint aber insofern pejorativ besetzt, als dass sie nun als mit dem unreinem Denken behaftet angesehen werden muss. Entsprechend heißt es auch im vierten Teil von ›Menschliches, Allzumenschliches‹: »Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch dass sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt« (Nietzsche, MA I, 4. [151], 2, 144). Ebenso lässt sich in dieser Beziehung auch ein Nachhall des Dionysischen und Apollinischen entdecken, wenn Nietzsche mit Blick auf die griechische Welt schreibt: »Spricht
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Auch das neu gefundene Wissenschaftsverständnis wirft wichtige Erkenntnisse für die theoretische Aufarbeitung des Lebens ab. Grundsätzlich gilt für Nietzsche hier, dass freilich auch die wissenschaftliche Erkenntnis dem Leben zu dienen habe: »[D]ie Bedeutsamkeit der Erkenntnis für das Leben soll so gross als möglich ausfallen […] [Sie] will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln möglichste 260 Tiefe und Bedeutung geben« . Allerdings, und dies ist insbesondere für ›Menschliches, Allzumenschliches‹ als Krisendokument signifikant, kann die dem Leben dienenden Wissenschaft allein ein noch äußerst unscharfes Bild des Lebens zeichnen. Dies ist die im Grund plausible Konsequenz der visionären These, dass sich der freie Geist zum Zeitpunkt seiner Entwicklung, die ›Menschliches, Allzumenschliches‹ markiert, in einem dynamischen Prozess hin zu seinem selbstmächtigen Leben befindet. Alle Einblicke sind insofern nur Momentaufnahmen eines Entwicklungsprozesses, die keineswegs beanspruchen dürfen, das Leben als Leben bereits abschließend abzubilden. Nietzsche hält unmissverständlich fest, dass »das, was jetzt uns Menschen Leben […] heisst – allmählich geworden ist, ja noch völlig im Werden ist und deshalb nicht als feste Grösse betrachtet werden soll«261. Und insofern der auf dem Weg befindliche freie Geist eine dynamische Krise von Einsamkeit und Entfremdung durchläuft, kann er im Versuch, ein Bild des Lebens zu entwerfen, immer nur auf das je eigene zurückgreifen. Damit übereinstimmend wird sein Bild des Lebens nicht nur unfertige Momentaufnahme, sondern darüber hinaus hochgradig biographisch geprägt sein: »Das Leben als Ertrag des Lebens. – Der Mensch mag sich noch so weit mit seiner Erkenntnis ausstrecken, sich selber noch so objectiv vorkommen: zuletzt trägt er doch Nichts davon, als seine eigene Biographie«262. Die dritte Perspektive, die den mitgeführten Lebensbegriff im Horizont von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ konturiert, ist endlich die der Kultur und das heißt primär dann in einer moralischen Perspektive. Ihr ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zunächst gilt noch ganz in der Phalanx von ›Geburtsschrift‹ und den ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹, dass das Leben in einer grundsätzlichen Spannung steht von essentiell Vitalem, dessen kontingenter Repräsentation und 263 einem projizierten höheren, vertieften und reineren Leben. Dem vitalen Basis-
260 261 262
263
bei ihnen [sc. den Griechen] der Verstand: wie herbe und grausam erscheint dann das Leben! Sie täuschen sich nicht, aber sie umspielen absichtlich das Leben mit Lügen. Simonides rieth seinen Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen« (Nietzsche, MA, I, 4. [154], 2, 146). Nietzsche, MA, I, 1. (6), 2, 28 (Hervorhebung i. Orig.). Nietzsche, MA ,I, 1. (16), 2, 36 (Hervorhebungen i. Orig.). Nietzsche, MA, I, 9. (513), 2, 323 (i. Orig. teilweise gesperrt). Vgl. dazu auch den Aphorismus Vom Bild des Lebens aus MA, II: »Das Bild des Lebens. – Die Aufgabe das Bild des Lebens zu malen, so oft sie auch von Dichtern und Philosophen gestellt wurde, ist trotzdem unsinnig: auch unter den Händen der grössten Maler-Denker sind immer nur Bilder und Bildchen aus einem Leben, nämlich aus ihrem Leben, entstanden – und nichts Anderes ist auch nur möglich. Im Werden kann sich ein Werdendes nicht als fest und dauernd, nicht als ein Das spiegeln« (Nietzsche, MA, II, 1. [19], 2, 387 [Hervorhebungen i. Orig.]). Zu diesen Epitheta vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 218ff.
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phänomen entspricht auch in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ die Vorstellung einer dynamischen Kraft, und entsprechend den Ambitionen des Philosophen als einem Arzt der Kultur erscheint Nietzsches erstes Aphorismenbuch als »eine Gesundheitslehre, welche geistigeren Naturen des eben heraufkommenden Ge264 schlechts zur disciplina voluntatis empfohlen sein mag« . Das Ziel dieser medizinischen Bemühungen ist klar benannt: ein »Ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen der grossen Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien Geist das gefährliche Vorrecht gibt, auf den Versuch hin zu leben und sich dem Abenteuer 265 anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes« . Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass sich gegenüber der Konstruktion des Lebensbegriffs des frühen Nietzsche Verschiebungen vollzogen haben. Es macht ganz den Anschein, als ob für Nietzsche die Freilegung und Generierung des basal Vitalen am Orte des empirischen Subjekts immer wichtiger wird. Die Konstruktion der ›Geburtsschrift‹ (erschütternde Konfrontation mit dem Ur-Einen und deren künsterlische Kompensation) erscheint in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ im Grunde überwunden und durch eine modifizierte Defizitstruktur ersetzt, die sich nicht mehr einem Aussetzen des Ur-Lebendigen verdankt, sondern der Krise des frei werdenden Geistes. Zudem ist die Krankheitsrhetorik der ›Unzeitgemässen Betrachtungen‹ verallgemeinert und z.T. explizit auf moralphilosophische Fragen zugespitzt. Genauso wie in der ›Historienschrift‹ eine historische Krankheit diagnostiziert wurde, so jetzt in ›Menschliches, Allzumenschliches‹, eine gesamtkulturelle Krankheit. Und wie dort das lebensschädigende Übermaß des Historischen durch eine Historie im Dienste des Lebens überwunden werden konnte, so jetzt Wucherungen von Ontologie, Moral und Religion durch eine extripative Psychologie, die ihr Zentrum in einer v.a. moralischen Selbstbemächtigung des freiwerdenden Geistes findet, die zum Schluss eine »Erleichterung des Lebens«266 bedeutet. Entsprechend erscheint auch der Lebensbegriff ethisch profiliert. Der von hier aus gesehen urwüchsige Imperativ Sei Leben! resp. Werde, was Du bist! vernimmt sich in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ wesentlich pointierter: »Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen – die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt 264 Nietzsche, MA, II, Vorrede, (2), 2, 371 (i. Orig. teilw. gesperrt). 265 Nietzsche, MA, I, Vorrede (4), 2, 18 (i. Orig. z.T. gesperrt). 266 Nietzsche, MA, II, 2. (350), 2, 702 (i. Orig. gesperrt).
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macht. Du solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als 267 bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit« . Dieser ethische Zentralimperativ wird entsprechend der dynamischen Entwicklungslogik von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ eingeordnet in ein Drei-PhasenModell der – wie Nietzsche ausdrücklich festhält – bisherigen Moralität. Auf der ersten Stufe ist diesem Schema zufolge die Moral (hier erst wird das Tier zum Menschen) noch am individuell Zweckmäßigen und Nützlichen (und zwar für den Menschen selber) orientiert. Darauf folgt die zweite Phase, in der Ehre und Ehrzuschreibungen zum primären moralischen Steuerungssystem avancieren, also der Nutzen auch abhängig davon gemacht wird, wie sich die anderen dazu verhalten. Die dritte und höchste Stufe orientiert sich an allgemeinem Nutzen und allgemeiner Ehre. Der Mensch ist nun fähig, »das Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen, dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner und dauernder Geltung der momentanen voranzustellen«268. Auf dieser Stufe setzt der Mensch zwar von sich aus, was als ehrenvoll und nützlich zu gelten hat; allerdings mit dezidierter Rücksicht auf die Allgemeinheit der anderen und im dezdierten Abstrahieren vom konkreten Moment. Diese Stufe betrifft immer noch die bisherige Moral. Von dieser ist unterschieden – und Nietzsche behandelt sie im direkt anschließenden 269 Aphorismus (Nr. 94) – die »Moral des reifen Individuums« . Die Moral des reifen Individuums macht sich programmatisch von der Hinsicht auf die Allgemeinheit der Anderen frei, weil es zu der Einsicht gelangt ist, dass »in der möglichst persönlichen Rücksicht auch der Nutzen für das Allgemeine am 270 grössten ist« . Diese Prämisse mündet in einem Appell zu »streng persönliche[n] 271 Handeln« . Das streng persönliche Handeln ist nämlich exakt das Handeln einer losgelösten Person. Und das meint eine Person, die sich lösgelöst hat von allgemeinen moralischen, theologischen und metaphysischen Verbindlichkeiten und zu einer Vollentwicklung ihrer kreativen plastischen Lebenskräfte gelangt ist. Nietzsche bezeichnet diesen typus Mensch auch als ganze Person. Die Setzungen einer ganzen Person würden nach Nietzsche den anderen mehr zu gute kommen als eine, die anderen immer schon mit in Blick nehmende altruistische Moral, weil letztere (immer noch an die Perspektive der Anderen gebunden) gar nicht zu einer selbstmächtigen Ausprägung ihrer plastischen Lebenskräfte befähigt.272 Dies entspricht schließlich nicht nur einer Eliminierung aller die Gemeinschaft der anderen mitkonstituierenden metaphysischen Allgemeinplätze von On-
267 268 269 270 271 272
Nietzsche, MA, I, Vorrede (6), 2, 20. Nietzsche, MA, I, 3. (94), 2, 91. Vgl. dazu auch Nietzsche, MA II, 2. (44), 2, 573. Nietzsche, MA, I, 2. (94), 2, 91 (i. Orig. gesperrt). Nietzsche, MA I, 2. (95), 2, 92 (i. Orig. z.T. gesperrt). Nietzsche, MA, I, 2. (95), 2, 92. »Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur soweit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser Arbeit finden« (Nietzsche, MA, I, 2. [95], 2, 92).
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tologie über Moral bis zur Religion, sondern ebenso einer Demolierung eines gefühlsorientierten Altruismus. Insofern lautet die moralische Aufgabe: »Aus sich eine ganze Person machen und in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl ins Auge fassen – das bringt weiter, als alle jene mitleidigen Regungen und Handlungen 273 zu Gunsten Anderer« . Diese Ausprägung einer ganzen Person steht in unmittelbaren Zusammenhang zum Lebensbegriff. Denn eine ganze Person zu werden, meint nichts anderes, als sich zum adäquaten Gefäß der plastischen Lebenskräfte, oder wie Nietzsche dann in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ sagen kann, der Lebendigkeit zu machen. Dies ist jedoch eine ungeheure Aufgabe, die nichts weniger bedeutet, als losgelöst von allen bisherigen metaphysischen, moralischen oder religiösen Orientierungssystemen seine Ziele im Sinne der ewigen Lebendigkeit in einem im strengen Sinne des Wortes genommenen ökumenischen Sinne zu setzen.274 Alles andere nimmt sich demgegenüber nur als Schattenspiel aus. »Mögen die Lebenden es mir verzeihen, wenn sie mir, mitunter wie die Schatten vorkommen, so verblichen und verdriesslich, so unruhig und ach! so lüstern nach leben: während Jene mir dann so lebendig scheinen, also ob sie nun, nach dem Tode, nimmermehr lebensmüde werden könnten. Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt es an: was ist am ewigen 275 Leben und überhaupt am Leben gelegen!« . Wie das letzte Zitat deutlich macht, ist allein ein gelebtes Leben, das die ewige 276 Lebendigkeit realisiert, ein wirkliches Leben. Daneben tritt ein unwirkliches, oder wie Nietzsche auch sagen kann, gewöhnliches Leben, dass sich unzulässig, ohne zur ewigen Lebendigkeit aufzusteigen, mittels unzulässiger Scheinbilder per-
273 Nietzsche, MA, I, 2. (95), 2, 92 (i. Orig. z.T. gesperrt; Hervorhebung v. Vf.). Vgl. dazu auch MA, I, 2. (102), 2, 98: »Der Egoismus ist nicht böse, weil die Vorstellung vom Nächsten – das Wort ist christlichen Ursprungs und entspricht der Wahrheit nicht – in uns sehr schwach ist; [...] Dass der Andere leidet, ist zu lernen: und völlig kann es nie gelernt werden« (i. Orig. z.T. gesperrt). Diese Aussage zählt zu den großen provokanten moralphilosophischen Thesen, von denen hier noch zu nennen sind, die »Fabel von der intelligibelen Freiheit« (MA, I, 2. [39], 2, 62f. [i. Orig. z.T. gesperrt]; vgl. dazu auch MA, II, 2. [9], 2, 545 und MA, II, 2. [23], 2, 557), aus der folgt, dass »Niemand [...] für seine Thaten verantwortlich ist; niemand für sein Wesen; richten [...] soviel als ungerecht sein« (MA, I, 2. [39], 2, 62f. [i. Orig. z.T. gesperrt]); die Überzeugung, dass der Mensch immer gut handle (vgl. MA, I 2. [101], 2, 99) sowie die nachhaltige Reserve gegen das Gewissen: »Der Gewissensbiss ist, wie der Biss des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit« (MA, II, 2. [38], 2, 569). 274 »Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite [...], müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen«. Und dazu muss »vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntnis der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Massstab für ökumenische Ziele gefunden sein« (Nietzsche, MA, I, 1. [25], 2, 46). 275 Nietzsche, MA, II, 1. (408), 2, 534 (Hervorhebung i. Orig). 276 Tom Kleffman spricht in dieser Beziehung von einem »Leben über dem Leben« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 219) resp. von einem »wirklichen Leben[]« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 221 [i. Orig. hervorgehoben]).
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petuiert. Hier übt Nietzsche dann v.a. massive Kritik an der christlichen Asketik und ihrem Heiligkeitsideal, das in seinen Augen zu Unrecht als »das höchste Hel278 denstück der Moralität bewundert wird« . Dies läuft der von Nietzsche angestrebten Intention insofern völlig konträr, als der Heilige die Askese zwar als Dienst am Leben und Teilmoment der Erlösung begreift, in Wahrheit aber nichts weiter er279 reicht als ein »völliges Aufgeben seiner Persönlichkeit« , die mitnichten als große Löslösung im beschriebenen Sinne bezeichnet werden kann. Die gleiche Kritik trifft strukturell für diejenigen Gedankenkomplexe zu, die Nietzsche als Idealisierungen bezeichnet. Auch sie geben vor, das Leben zu erleichtern, erreichen aber 280 zum Schluss nur dessen perspektivische Verzerrung. Diese Teilung in ein wirkliches Leben und ein Leben, das sich in fehlerhaften Idealisierungen verliert, führt Nietzsche schließlich zu nach wie vor umstrittenen moralischen Forderungen. Bereits in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ findet sich ausdrücklich seine umstrittene Forderung nach dem vernünftigen Tod: »Was ist vernünftiger, die Maschine stillzulegen, wenn das Werk, das man von ihr verlangte, ausgeführt ist, – oder sie laufen zu lassen, bis sie von selber stille stehe, das heisst bis sie verdorben ist? Ist Letzteres nicht eine Vergeudung der Unterhaltskosten, ein Missbrauch mit der Kraft und Aufmerksamkeit der Bedienenden? Wird hier nicht weggeworfen, was anderswo sehr noth täte? Wird nicht selbst eine Art Missachtung gegen Maschinen überhaupt verbreitet, dadurch, dass viele von ihnen so nutzlos unterhalten und bedient werden? – Ich spreche vom unfreiwilligen (natürlichen) und vom freiwilligen (vernünftigen) Tode. Der natürliche Tod ist der von aller Vernunft unabhängige, der eigentlich unvernünftige Tod, bei dem die erbärmliche Substanz der Schale darüber bestimmt, wie lange sein Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also der verkümmernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefängniswärter der Herr ist, der den Punct bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben soll. Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heisst die Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige, welches an das erste gebunden ist. Nur unter der religiösen Beleuchtung kann es umgekehrt erscheinen: weil dann, wie billig, die höhere Vernunft (Gottes) ihren Befehl giebt, dem die niedere Vernunft sich zu fügen hat. Ausserhalb der religiösen Denkungsart
277 Vgl. dazu eine Notiz aus dem späten Nachlass, in der Nietzsche Jesus als Exponenten eines solchen wirklichen Lebens einführt: »Jesus stellte ein wirkliches Leben, ein Leben in der Wahrheit jenem gewöhnlichen Leben gegenüber« (Nietzsche, N November 1887–März 1888, 11 [279], 13, 106 [i. Orig. z.T. gesperrt]). 278 Nietzsche, MA, I, 3. (139), 2, 133. 279 Nietzsche, MA, I, 3. (139), 2, 133. 280 »Ein Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das Idealisieren aller Vorgänge desselben; man soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisieren heisst. Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf zusehe, […],[j]eder also, der sein Leben idealisieren will, muss nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel Goethe« (Nietzsche, MA, I, 5. [279], 2, 229).
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ist der natürliche Tod keiner Verherrlichung werth. – Die weisheitliche Anordnung und Verfügung des Todes gehört in jene jetzt ganz unfassbar und unmoralisch klingende Moral der Zukunft, in deren Morgenröthe zu blicken ein unbeschreibliches 281 Glück sein muss« . III.3
Der Lebensbegriff in der ›Morgenröthe‹ und in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹
Wenn nun in Bezug auf den mittleren Nietzsche die beiden folgenden Aphorismusbücher gemeinsam behandelt werden, so ist dies dadurch gerechtfertigt, dass insbesondere die ›Morgenröthe‹ in Bezug auf die strukturelle Entfaltung des Le282 bensbegriffes sachlich wenig Neues bringt. 283 Es ist der v.a. in Venedig und dann in Genua entstandenen ›Morgenröthe‹ eigen, dass in ihr das in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ in den Vordergrund tre284 tende moralkritische Moment radikalisiert wird. In ›Ecce homo‹ heißt es später: 285 »Mit diesem Buche beginnt mein Feldzug gegen die Moral« . Doch bereits in der ›Morgenröthe‹ selbst hält Nietzsche diesbezüglich programmatisch fest, dass es 286 ihm wesentlich darum zu tun ist, »unser Vertrauen zur Moral zu untergraben« . 281 Nietzsche, MA, II, 2. (185), 2, 633 (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. dazu auch MA, I, 2. (80), 2, 85. Vgl. endlich auch den Aphorismus aus der ›Götzendämmerung‹, der mit Moral für Ärzte überschrieben ist: »Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, – nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patienten ... Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben ... Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summirung des Lebens« (Nietzsche, GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 36., 6, 134). 282 »Was den Begriff des Lebens angeht, bietet die Morgenröthe gegenüber Menschliches, Allzumenschliches wenig Neues« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 225). 283 »Ein großer Teil der Aphorismen zur Morgenröthe, die er Köselitz unter dem Titel L’ombra di Venezia diktierte, waren in Venedig entstanden« (Janz, Nietzsche, II, 54). Fertiggestellt wurde die Schrift dann in Genua, von wo Nietzsche das Manuskript an Köselitz versandte (Vgl. Janz, Nietzsche, II, 65). 284 Vgl. Gerhardt, Nietzsche, 45f.: »Er verschärft seine Angriffe auf die Moral, in der er mit guten Gründen nichts Unbedingtes erkennen kann. Die Moral kann selbst nicht moralisch sein [...]; sie entspringt aus einem schon bei den Tieren wirksamen Trieb des Sich-Angleichens und SichVerringerns [...], und führt im menschlichen Verband zu sklavischem Gehorsam und damit zur Tyrranei gegen das Große«. 285 Nietzsche, EH, Morgenröthe, 1., 6, 329. 286 Nietzsche, MR, Vorrede, (2), 3, 12 (Hervorhebung i. Orig.).
Leben im Œvre des mittleren Nietzsche
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Dies geschieht im bekannten modus psychologischer Aphoristik, die die vertrauten Fundamente überkommener Normen- und Wertgefüge auf Aporien zurück287 führt und so eine »Selbstaufhebung der Moral« verfolgt. Im Zuge dieser Unternehmung stößt Nietzsche auch immer wieder auf das Leben als mehr oder wenig deutlichem Orientierungspunkt seines Denkens, das allerdings nicht wirklich entfaltet wird, sondern im Hintergrund subsistiert, was auch mit dem von Nietzsche gewählten Titel übereinstimmt: Die Mörgenröte, die sein Buch darstellt, ist eben immer noch ein erstes zartes Ausleuchten des Schwarzen der menschlichen Natur resp. des inneren Lebens wie es in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ erstmals 288 greifbar wurde. Und dies passiert wie dort im Durchgang durch allgemeine und 289 durchaus gewöhnliche Lebenserscheinungen. Der entscheidende Gewinn der ›Morgenröthe‹ besteht in einer Näherbestimmung desjenigen, was Nietzsche in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ die Lebendigkeit resp. die plastische Kraft genannt hatte. Dies ist nun in der ›Morgenröthe‹ korreliert mit einer Resonanz auf der Gefühlsebene, die Nietzsche als »das allge290 meine Gefühl des Lebens« bezeichnet. Dies wird in der Perspektive der Gedankenentwicklungen schlussendlich als ein Gefühl der Macht in tätiger Hinsicht einsehbar. Dies ist kurz zu erläutern: Die am Orte des individuellen Subjekts vernehmbare Lebendigkeit (und gemeint ist freilich nicht die gewöhnliche und in sich problematische Lebendigkeit des gewöhnlichen Lebens, sondern vielmehr die wirkliche, ewige und ihrer selbst mächtige Lebendigkeit) repräsentiert sich als Gefühl und zwar – und das mag überraschen – als ein Gefühl des Glücks. Dieses Glücksgefühl ist zunächst dadurch charakterisiert, dass in der personalen Selbstkonstitution qua Ermächtigung der plastischen Lebenskräfte und deren Kanalisierung im Sinne von selbst gesetzten ökumenischen Zielen das lösgelöste Subjekt zum gestaltenden Agenten einer ewigen und deshalb immer auch über das Individuum hinausreichenden Lebendigkeit wird. Und exakt dieses Überschussmoment wird als Glücksempfindung erlebt. Dem entspricht auf der anderen Seite als zweites Charakteris287 Nietzsche, MR, Vorrede (4), 3, 16 (Hervorhebung i. Orig). 288 Vgl. dazu unter B.III.2. Da Nietzsche sich in der ›Morgenröthe‹ noch als Psychologe betätigt, ist es auch möglich dieses Innere als Seele anzusprechen: »[I]n der Morgenröthe [...] bietet er eine Wissenschaft [...], deren Inhalte bunter und flieender [ist,] sie gehören nicht in den politischen und staatlichen Bereich und beziehen sich nur selten auf Philosophen und Künstler. Die Seele, der Trieb des Menschen – das sind in der Regel die Inhalte, das, was Nietzsche moralische Spekulation oder auch Psychologie zu nennen pflegt« (Colli, Morgenröthe, 656). 289 Vgl. dazu auch Nietzsches Lektüreanweisung: »Ein Buch, wie dieses, ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden« (Nietzsche, MR, 5. [454], 3, 274). Der Sache nach durchforstet Nietzsche hier vor allem auch seine Seele und zwar in mehr oder weniger deutlicher Aufnahme des Heraklitischen »Ich durchforsche mich selbst«. Colli spricht insofern in Bezug auf die Morgenröthe von einer »leidenschaftlichen heraklitischen Synthese« (Colli, Morgenröthe, 655). 290 Nietzsche, MR, 3. (202), 3, 177.
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Der Metaphysische Lebensbegriff
tikum eine furchtlose Entschlossenheit in der aktiven Gestaltung der Lebendigkeit. Unerschrocken, da frei von metaphysischen Verzerrungen, wirft sich das selbstmächtige Subjekt in die Welt. Nietzsche apostrophiert dies mit dem terminus des Übermutes. Die entscheidenden Merkmale des Glücks sind in diesem Sinne Fülle und Übermut: »Das gemeinsame aller Glücksempfindungen ist zweierlei: Fülle des Gefühls und Übermuth darin, sodass man wie ein Fisch sein Element um sich fühlt 291 und in ihm springt« . Zusammenfassender Ausdruck der so näher bestimmten Glücksempfindung ist Macht. Der Erfahrung des Glücks in dem beschriebenen Sinne entspricht ein Machtgefühl und so ist für Nietzsche »das Glück [...] das le292 bendigste Gefühl von Macht« . Diesem Machtgefühl inhäriert eine praktische Dimension und insofern spricht Tom Kleffmann in Bezug auf die ›Morgenröthe‹ zu Recht von einem Tätigkeitscha293 rakter des Lebens. Nietzsche geht dabei davon aus, dass das Machtgefühl eine eigene Tätigkeitsdimension besitzt, weil es von sich aus zu Äußerungen drängt. Insofern besitzt es durchaus so etwas wie einen Triebcharakter. Das Gefühl der Macht, »will sich äussern, sei es gegen uns selber oder gegen eingebildete Wesen. Die gewöhnlichen Arten, sich zu äussern sind: Beschenken, Verspotten, Vernich294 ten, – alle drei mit einem gemeinsamen Grundtriebe« . Das ausdrückliche Nennen von bestimmten Arten des Äußerns verdient nähere Beachtung. Es ist nämlich keineswegs so, dass sich im Horizont von Nietzsches Moralkritik allein nur ein destruktives Interesse verraten würde. Hinter dem Programm einer Selbstaufhebung der Moral scheint – eben einer ›Morgenröthe‹ gleich – das Konzept einer Neukonstituierung der Moral hindurch. Volker Gerhardt hat in 295 dieser Beziehung von der paradoxen Figur einer »Moral der Immoralität« gesprochen. In Präzisierung dieser Etikettierung kann auch von einer Paramoral – und zwar im gut griechischen Sine des Wortes – gesprochen werde. Παρὰ hat eine Erschließungsdimension dergestalt, als dass sie nicht die Abseitigkeit Nietzscheschen 291 Nietzsche, MR, 5. (439), 3, 269 (i. Orig. z.T. gesperrt). 292 Auf der anderen Seite kann sich Nietzsche auch ein Glück vorstellen, das nicht in der Macht, sondern in der Ergebung gründet. Mit letzterem ist aber nicht das Glück des Lebens im oben beschriebenen Sinne gemeint. Somit gibt es »zwei Arten des Glückes (des Gefühls der Macht und des Gefühls der Ergebung) [...]; hier hält eine Thätigkeit, die im Segnen, Sündenvergeben und Repräsentiren der Gottheit besteht, fortwährend das Gefühl einer übermenschlichen Mission in der Seele, ja auch im Leibe wach« (Nietzsche, MR, 1. [60], 3, 60f.). Desweiteren erkennt Nietzsche auch verschiedene weniger weit reichende Ausgestaltungen des Gefühls zur Macht; vgl. auch Nietzsche, MR, 1. (65), 3, 63: »Es giebt Recepte zum Gefühle der Macht, einmal für Solche, welche sich selber beherrschen können und welche bereits dadurch in einem Gefühle der Macht zu Hause sind: sodann für Solche, welchen gerade diess [sic!] fehlt. Für Menschen der ersten Gattung hat das Brahmanenthum Sorge getragen, für Menschen der zweiten Gattung das Christenthum«. Zum Gefühl der Macht vgl ausführlich Brusotti, Leidenschaft der Erkenntnis, 64ff. 293 Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 233. 294 Nietzsche, MR, 4. (356), 3, 240 (Hervorhebung v. Vf.). 295 Gerhardt, Nietzsche, 176. Vgl. dazu auch Peter Berkowitz, der in Bezug auf Nietzsche von den »Ethics of an Immoralist« (Berkowitz, Ethics of an Immoralist, passim) spricht.
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Philosophierens, sondern die Alternativitätsanmassung des von ihm verfolgten Projekts offenbar macht. Dies lässt sich auch und gerade im Kontext des Lebensbegriffes erheben. Die Beschäftigung mit dem frühen Nietzsche hatte auch zu dem wichtigen Resultat geführt, dass sich im Zusammenhang der Reflexion über das Leben eine TugendLehre des Lebens en miniature ausmachen lässt. Die umfasste die Trias von Ehr296 lichkeit, Tüchtigkeit und vor allem Wahrhaftigkeit. In den Aphorismusbüchern taucht diese Figur wieder auf, und sie wird gerade in der ›Morgenröthe‹ explizit verwendet und zwar in dem Sinne, dass Tugenden nicht nur genannt und andeutungsweise umrissen werden, sondern nun eine wohlkoordinierte Quadriga von Tugenden bilden. Es ist wohl kaum übertrieben, in der ›Morgenröthe‹ von einer Vier-Tugend-Lehre des Lebens zu sprechen. Die Tugenden die Nietzsche hier einführt und ausdrücklich als Kardinaltugenden kenntlich macht, sind in sachlicher Nähe zur Trias von Ehrlichkeit, Tüchtigkeit und Wahrhaftigkeit die Quadriga von Redlichkeit, Tapferkeit, Großmütigkeit und schließlich Höflichkeit: »Die guten Vier. – Redlich gegen uns und was sonst uns Freund ist; tapfer gegen den Feind; grossmüthig gegen den Besiegten: höflich – immer: so wollen uns die vier Cardinaltugenden«297. Diese vier Kardinaltugenden des Lebens sind als Abschluss der Ausführungen zur ›Morgenröthe‹ näher zu erörtern. Was die innere Staffelung der vier Tugenden anbelangt (sie ist durch die Reihenfolge der Nennung im zitierten Aphorismus bereits angezeigt) lässt Nietzsche keinen Zweifel daran, dass an erster Stelle die Red298 lichkeit steht. Sie ist »eine der jüngsten Tugenden, noch wenig gereift, noch oft verwechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst, – etwas Werdendes, 299 das wir fördern oder hemmen können, je nachdem unser Sinn steht« . Das heißt, die Tugend der Redlichkeit bewegt sich als Tugend des wirklichen Lebens auf fragilem Gebiet, weil sie als von aller externen Metaphysik, Moral und Religion abge300 löst wesentlich »Redlichkeit gegen sich selber« ist. Das bedeutet konkret: »Nie Etwas zurückhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht 301 werden kann! Gelobe es dir! Es gehört zur ersten Redlichkeit des Denkens« . Insofern die Redlichkeit primär auf das Subjekt selbst bezogen ist, ist sie die schwierigste und genau deshalb auch die wichtigste Tugend. Und sie steht in unmittelbarer Beziehung zum Leben, da sie vom Individuum ausgehend die aktive Gestaltung 296 Siehe dazu unter B.II.3. 297 Nietzsche, MR, 5. (556), 3, 325 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. dazu später auch noch die vier Tugenden in Nietzsche, JGB, 225, 5, 161. 298 Zur Redlichkeit vgl. auch Brusotti, Leidenschaft der Erkenntnis, 121-132. 299 Nietzsche, MR 5. (456), 3, 275; vgl. auch Nietzsche, MR 1. (84), 3, 79 und MR 1. (91), 3, 84. Dass Nietzsche die Redlichkeit als jüngste Tugend anspricht hat auch einen historischen Hintergrund: »Man beachte doch, dass weder unter den sokratischen, noch unter den christlichen Tugenden die Redlichkeit vorkommt« (Nietzsche, MA 5. [456], 3, 275). 300 Nietzsche, MR, 3. (167), 3, 150 (i. Orig. gesperrt). 301 Nietzsche, MR, 4. (370), 3, 244.
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Der Metaphysische Lebensbegriff
von Lebendigkeit betrifft und ausdrückt, dass es in seiner Selbstbemächtigung schonungslos sich selbst gegenüber steht und von aller Selbstverstellung Abschied 302 nimmt. Deshalb kann Nietzsche die Redlichkeit auch als »die Wahrspielerei« ansprechen. Die zweite Tugend ist die Tapferkeit oder wie Nietzsche auch sagen kann der Mut. Sie steht in enger Nähe zur Redlichkeit. Gemeint ist erstens die Tapferkeit der redlichen Introspektion, wie sie das Projekt einer großen Loslösung verlangt. Das notwendig krisenanfällige Wagnis der Verabschiedung vertrauter Orientierungssysteme und das Vertrauen auf die Orientierungsleistungen der Lebendigkeit erfordern Tapferkeit, die so zum Anzeiger zunehmend gelingender Selbstermächtigung wird. Tapferkeit bedeutet in dieser Hinsicht näher: »Die stete Spannung seines Wesens, der nach Innen gewendete unermüdliche Blick, das Verschlossene, Vorsichtige, Unmittheilsame seines Auges, falls er sich einmal der Aussenwelt zukehrt; und gar das Schweigen oder Kurzreden: Alles Merkmale der strengsten Tapferkeit«303. Auf der anderen Seite hat die Tapferkeit auch eine extensive Dimension. Geht es darum, selbstmächtig die Welt zu entwerfen und Rangordnungen zu generieren, so stehen diese (noch) in Konkurrenz mit im weitesten Sinne altruistischen Ethiken. Dies ist der im Aphorismus oben genannte Feind. In diesem Sinne stellt Nietzsche eine weitere Konnotation des Mutes in den Vordergrund: »den guten 304 Muth zu den als egoistisch verschrieenen Handlungen« . Die Tapferkeit oder der Mut ergeben sich aus dem Wagnischarakter des Lebens, der seinerseits im Risiko 305 der Loslösung begründet liegt. Vollstreckt sich in der Realisierung der Tapferkeit das beschriebene Machtgefühl, erweist sich die Tapferkeit endlich als Hochmut, und zwar so, dass der Tapfere »als der äusserste Hochmuth sich über den Men306 schen und Dingen fühlt« . 302 303 304 305
Nietzsche, MR, 4. (418), 3, 256. Nietzsche, MR, 5. (546), 3, 316. Nietzsche, MR, 2. (148), 3, 140. Der Wagnischarakter klang bereits in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ an. Vgl. oben unter B.III.2, das »auf den Versuch hin zu leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes« (Nietzsche, MA, I, Vorrede [4], 2, 18 [i. Orig. z.T. gesperrt]). Der Sache nach findet sich der Gedanke auch in der ›Morgenröthe‹: »Ebensowenig will der Tragödiendichter mit seinen Bildern des Lebens gegen das Leben einnehmen! Er ruft vielmehr: es ist der Reiz allen Reizes, dieses aufregende, wechselnde, gefährliche, düstere und oft sonnendurchglühte Dasein! Es ist ein Abenteuer, zu leben, – nehmt diese oder jene Partei darin, immer wird es diesen Charakter behalten!« (Nietzsche, MR, 4. [240], 3, 201). An anderer Stelle wird die These ex negativo vernehmbar, wenn es Nietzsche den vorgängigen Moralsystemen vorwirft, ihr fehlerhaftes Ziel bestehe allein darin, »dass dem Leben alle Gefährlichkeit genommen werde, welche es früher hatte und dass daran Jeder und mit allen Kräften helfen solle: deshalb dürfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen, das Prädicat gut bekommen!« (Nietzsche, MR, 3. [174], 3, 154f. [Hervorhebungen i. Orig.]). 306 Nietzsche, MR, 5. (551), 3, 321. Vgl. auch ebd.: »Vielleicht, dass es eine Zukunft giebt, wo dieser Muth des Denkens so angewachsen sein wird, dass er als der äusserste Hochmuth sich über den Menschen und Dingen fühlt, – wo der Weise als der am meisten Muthige sich selber und das Dasein
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Der Großmut drittens – oder wie Nietzsche schreibt die Grossmuth – wird von 307 Nietzsche als die »schönste Tugend« bezeichnet. Auch sie wird in zwei Aspekten thematisch und beide stehen in unmittelbarer Nähe zum Leben. Denn erstlich ist ein Großmut dem eigenen Leben gegenüber gemeint. Auch hier ist auf den Wagnischarakter des Lebens angespielt. Denn das Wagnis des Lebens kann misslingen. Hier mutet Nietzsche dem Individuum auf der Erkenntnisebene den Großmut zu und zwar als »die Grossmüthigkeit, dass er als Erkennender sich selber und sein Leben unverzagt, oftmals beschämt, oftmals mit erhabenem Spotte und lächelnd – 308 zum Opfer bringt« . Der zweite Aspekt betrifft dann wieder das Leben in seiner gelungenen Expression. Da das wirkliche Leben durch einen als Glück erlebbaren Überfluss ausgezeichnet ist, kann es sich verschenken ohne sich als Leben Abbruch zu tun: »Sich entäussern. – Etwas von seinem Eigenthume fahren lassen, sein Recht aufgeben – macht Freude, wenn es grossen Reichthum anzeigt. Dahin 309 gehört die Grossmuth« . Die Höflichkeit schließlich ist für Nietzsche zweifellos eine der Kardinaltugen310 den, aber sie wird ausdrücklich als die letzte bezeichnet. Nietzsche führt in der ›Morgenröthe‹ nicht weiter aus, wie er Höflichkeit verstanden wissen will. Aber mit Vorblick auf die ›Fröhliche Wissenschaft‹ darf soviel gesagt werden: Ihr Wert besteht in erster Linie darin, die Anerkennung zwischen Stolz-Lebenden (und d.h. wirklich Lebenden) sicher zu stellen. Und weiter drückt sie (durch Nietzsche immer kenntlich gemacht) aus, dass es um eine vornehme Gleichmäßigkeit in der 311 Tugend geht.
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am meisten unter sich sieht? – Diese Gattung des Muthes, welche nicht ferne einer ausschweifenden Grossmuth ist, fehlte bisher der Menschheit«. Das Gegenteil der Tapferkeit ist die von Nietzsche harsch kritisierte Furchtsamkeit (vgl. Nietzsche, MR, 5. (538), 3, 307). Nietzsche, MR, 5. (459), 3, 276. Nietzsche, MR, 5. (459), 3, 276. Vgl. dazu auch Nietzsche, MR, 5. (553), 3, 324: »Inzwischen sehe ich mit einem neuen Auge auf das heimliche und einsame Schwärmen eines Schmetterlings, hoch an den Felsenufern des See’s, wo viele gute Pflanzen wachsen: er fliegt umher, unbekümmert darum, daß er nur das Leben Eines Tages noch lebt, und dass die Nacht zu kalt für seine geflügelte Gebrechlichkeit sein wird. Es würde sich wohl auch für ihn eine Philosophie finden lassen: ob es schon nicht die meine sein mag –«. Nietzsche, MR, 4. (315), 3, 227 (i. Orig. z.T. gesperrt). Dies kann Nietzsche auch als Liebe bezeichnen: vgl. Nietzsche, MR, 5. (449), 3, 272: »Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art Selbstsucht und Selbstgeniessens! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich verborgen und entsagend sein! Beständig in der Sonne und Milde der Anmuth liegen und doch die Aufstiege zum Erhabenen in der Nähe wissen! – Das wäre ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zu leben!«. Die Höflichkeit ist eine sehr gute Sache und wirklich eine der vier Haupttugenden (wenn auch die letzte): aber damit wir uns einander nicht mit ihr lästig werden, muss Der, mit dem ich gerade zu thun habe, um einen Grad weniger oder mehr höflich sein, als ich es bin, – sonst kommen wir nicht von der Stelle, und die Salbe salbt nicht nur, sondern klebt uns fest« (Nietzsche, MR, 4. [392], 3, 250f.). Bemerkenswert ist in der ›Morgenröthe‹ eine Verneigung vor Luther, der mit seiner Werkkritik explizit als »der große Wohltäter« angesprochen wird: »Das Bedeutendste, was Luther gewirkt hat, liegt in dem Misstrauen, welches er gegen die Heiligen und die ganze christliche vita contemplativa geweckt hat: seitdem erst ist der Weg zu einer unchristlichen vita contemplativa in Europa wieder
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Mit der Skizzierung der Vier-Tugend-Lehre des Lebens ist der Übergang zur ›Fröhlichen Wissenschaft‹ erreicht. Im Folgenden sollen die hier greifbaren Zusatzbestimmungen des Lebensbegriffes kurz dargestellt werden, um im Anschluss daran ein Fazit im Hinblick auf den mittleren Nietzsche zu ziehen. Die ›Fröhliche Wissenschaft‹ ist für die weitere Erhellung des Lebensbegriffes Nietzsches insofern von Bedeutung, als zentrale Philosopheme in den vorangehenden Aphorismusbüchern in einer noch in sich zweifelhaften, unabgeschlossenen, kurz: kritischen Denkspannung präsentiert wurden. Nun sind sie – mit Vorblick auf das Spätwerk – vorläufig zu einer Klärung gekommen. Auf den Spannungsbogen der Aphorismusbücher insgesamt gesehen folgte – metaphorisch gesprochen auf die noch in sich problematische Skizze eines freien Geistes, der die Krisen der Loslösung durchlebt, die Morgenröte des Freiwerdenden, der das Dunkel moralischer Vorurteile in kritischer Prüfung seiner Kräfte weitgehend abgeworfen hat. In der Metapher bleibend weht nun Morgenluft und entsprechend meint Nietzsche rückblickend in der 1886 verfassten Vorrede, die ›Fröhliche Wissenschaft‹ sei »in der Sprache des Thauwindes geschrieben: es ist Uebermuth, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin [...]«312. Die Vision einer großen Gesundheit wird nun Realität und die ›Fröhliche Wissenschaft‹ ist Urkunde der »Dankbarkeit eines Genesen313 den« . Der Sache nach ist die ›Fröhliche Wissenschaft‹ nach der großen Krise des Jahres 1881 geschrieben und sicherlich gehen in den Titel auch autobiographische 314 Momente ein. Der nun Genesende hat sich weitgehend losgelöst; er ist wie es am 315 Ende der ›Morgenröthe‹ heißt nunmehr ein »Luft-Schifffahrer des Geistes« , der sich allerdings noch ungewissen Winden ausgesetzt weiß. Nun: Der wagemutige Luftschifffahrer Nietzsche bleibt Arzt seiner fliegenden Klinik in benanntem Sinne. Mehr noch: Es ist der therapiebewusste Arzt, der
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zugänglich geworden und der Verachtung der weltlichen Tätigkeit und der Laien ein Ziel gesetzt. Luther, der ein wackerer Bergmannssohn blieb, als man ihn in’s Kloster gesperrt hatte und hier, in Ermangelung anderer Tiefen und ›Teufen‹, in sich einstieg und schreckliche dunkle Gänge bohrte, — er merkte endlich, dass ein beschauliches heiliges Leben ihm unmöglich sei und dass seine angeborene ›Aktivität‹ in Seele und Leib ihn zu Grunde richten werde. Allzulange versuchte er mit Kasteiungen den Weg zum Heiligen zu finden, — endlich fasste er seinen Entschluss und sagte bei sich: ›es gibt gar keine wirkliche vita contemplativa! Wir haben uns betrügen lassen! Die Heiligen sind nicht mehr wert gewesen, als wir Alle‹. – Das war freilich eine bäuerische Art, Recht zu behalten, — aber für Deutsche jener Zeit die rechte und einzige: wie erbaute es sie, nun in ihrem Lutherischen Katechismus zu lesen: ›außer den zehn Geboten gibt es kein Werk, das Gott gefallen könnte, — die gerühmten geistlichen Werke der Heiligen sind selbsterdachte‹« (Nietzsche, MR, 1. (88), 3, 82. Zu den Möglichkeiten einer theologisch inspirierten Ethik nach Nietzsche vgl. Pfleiderer, Theologische Ethik nach Nietzsche, 81ff. Nietzsche, FW, Vorrede (1.), 3, 345. Nietzsche, FW, Vorrede (1.), 3, 345. Zum biographischen Kontext der Entstehung der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ vgl. Janz, Nietzsche II, 104ff. Günter Schulte interpretiert die Aphorismusbücher insgesamt als Ineinander von auf Nietzsche bezogenen »autobiographische[m] Roman« und »fiktiver Biographie« (Schulte, Nietzsche, 11). Nietzsche, MR, 5. (575), 3, 331. Vgl. dazu die ausführliche Interpretation von Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 324f.
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entgegentritt. Sein Rezept lautet Sieg. Er traut sich eine nunmehr sichere Diagnose zu – dies im Wissen, Krisen inadäquater Therapieanstrengungen überwunden zu haben. Der Arzt hat nicht nur seine Profession, sondern auch seine Souveränität, seine Mächtigkeit gewonnen. Es ist der ökumenische gestus des Arztes und zwar nun dezidiert als »philosophischer Arzt [...], der dem Problem der Gesamtge317 sundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit nachzugehen hat« . Die so denkerisch neu gewonnene Souveränität färbt unmittelbar ab auf die thetische Reformulierung bislang unentschieden belassener Schlüsseltheoreme. Es lassen sich drei resp. vier Zusatzbestimmungen nennen, die insgesamt eine induktive Kette bilden. Erstens eine (wenn auch knappe) Näherbestimmung des Machtgefühls im Hinblick auf seine immanente Relationalität, die in der Erhebung einer inneren Aporizität des Lebens selbst und dessen metaphysischer Schärfung mündet. Diese findet zweitens einen weiteren Höhepunkt in einer veränderten Strukturerfassung des Lebens selber, um drittens die Lebenstugenden intellektuell (d.h. im Sinne des erweiterten Lebensbegriffes) zu präzisieren. Ein vierter und letzter Punkt berrührt endlich eine offenliegende Konsequenz der Ewigkeitsthese318, nämlich, dass am Orte des so erhellten wirklichen Lebens nur eine zeitabständige oder immanent zeitsouveräne Zirkularität aussprechbarer Referent sein kann. Diese Interpretamente sind kurz zu erläutern, um mit dem vierten den Übergang zum späten Nietzsche betretbar zu machen. Erstlich was das Theorem des Machtgefühls betrifft, so beschäftigt sich Nietzsche nur in einem Aphorismus der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ mit diesem Philosophem. Es handelt sich um den Aphorismus Nr. 13 des ersten Buches, der programmatisch mit »Zur Lehre vom Machtgefühl«319 überschrieben ist. Zwei Dinge sind hier nun unmittelbar einschlägig: Die ewige Lebendigkeit, die das Individuum selbstmächtig ergreift, äußert sich als ein Glück, das eben als jenes Machtgefühl vorstellig wurde. Dieses Machtgefühl wird in besagtem Aphorismus nun noch einmal hinsichtlich einer ihm inhärenten Dynamizität und das andere Mal im Hinblick auf seine praktische Dimension näher bestimmt. Die interne Dynamik erstens lässt sich folgendermaßen beschreiben. Die Präsenz des Machtgefühls ist dadurch ausgezeichnet, dass sie wenigstens auf ihre Erhaltung und Perpetuierung, je markanter ausgebildet jedoch auf die Steigerung ihrer selbst ausgerichtet ist. Das Machtgefühl drängt so auf einen »Machtzuwachs«320 und dies, »weil Etwas in uns leben und sich bejahen will, Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht se316 Vgl. Nietzsche, FW, 5. (571), 3, 330.: »Feldapotheke der Seele. – Welches ist das stärkste Heilmittel? – Der Sieg« (i. Orig. z.T. gesperrt). 317 Nietzsche, FW, Vorrede (2), 3, 349. Vgl. dazu auch das, was Nietzsche einem zukünftigen Philosophen in den Mund legt: »bei allem Philosophieren handelte es sich bisher gar nicht um Wahrheit, sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben ...« (Nietzsche, FW, Vorrede [2], 3, 349). 318 Vgl. dazu unter B.IV.1.1. 319 Nietzsche, FW, 1. (13), 3, 384 (i. Orig. gesperrt). 320 Nietzsche, FW, 1. (13), 3, 384.
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Der Metaphysische Lebensbegriff 321
hen!« . Im später verfassten fünften Buch der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ spricht Nietzsche dann von einem »eigentlichen Lebens-Grundtriebe[], der auf Machter322 weiterung hinausgeht« . Ihm geht es »um’s Uebergewicht, um Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht, der eben der Wille des Le323 bens ist« . Dieser Lebenstrieb vollstreckt sich in handelnder Interaktion in zwei praktischen Grundpositionen: Wohltun und Wehetun. Im Wehetun, also der Zufügung von Schmerz, wird der andere überwunden und in die eigene Machtsphäre integriert. Ist er Teil des eigenen Machtbereiches, wird seine untergeordnete und abhängige Macht durch Wohlwollen im Interesse der eigenen Machtsteigerung unter324 stützt. Im Hinblick auf die oben beschriebene Vier-Tugend-Lehre sind Wohltun und Wehetun die praktisch-expressiven Korrelate von Tapferkeit und Großmut. Die hiermit verbundene präzisere Einkreisung des Lebens selbst ist gekoppelt an eine der für Nietzsche grundlegendsten Einsichten. Das Projekt einer Loslösung hat eine entscheidende wie radikale Konsequenz, die in einer schonungslosen Neubeurteilung der Wirklichkeit kondensiert. Ist es in der Struktur der selbstmächtigen Realisierung der ewigen Lebendigkeit enthalten, das eigene Machtgefühl zu steigern und dem eigenen Leben und Dasein dadurch erst einen Wert zu geben, so erweist sich alles andere Dasein als grundsätzlich wertlos. Das große »Fragezeichen am Werthe alles Lebens«325 ist zu einem großen Ausrufezeichen geworden. Es gibt keinen im Vorhinein feststehenden Wert des Lebens, weil das allgemeine Geschehen, in dem sich Leben ereignet, an sich grundlos, zufällig und ir321 322 323 324
Nietzsche, FW, 4. (307), 3, 545 (Hervorhebung i. Orig.). Nietzsche, FW, 5. (349), 3, 585 (Hervorhebungen i. Orig.). Nietzsche, FW, 5. (349), 3, 585 (Hervorhebungen i. Orig.). »Mit Wohlthun und Wehethun übt man seine Macht an Andern aus – mehr will man dabei nicht! Mit Wehethun an Solchen, denen wir unsere Macht erst fühlbar machen müssen; denn der Schmerz ist ein viel empfindlicheres Mittel dazu als die Lust: – der Schmerz fragt immer nach der Ursache, während die Lust geneigt ist, bei sich selber stehen zu bleiben und nicht rückwärts zu schauen. Mit Wohlthun und Wohlwollen an Solchen, die irgendwie schon von uns abhängen (das heisst gewohnt sind, an uns als ihre Ursachen zu denken); wir wollen ihre Macht mehren, weil wir so die unsere mehren, oder wir wollen ihnen den Vortheil zeigen, den es hat, in unserer Macht zu stehen, – so werden sie mit ihrer Lage zufriedener und gegen die Feinde unserer Macht feindseliger und kampfbereiter sein« (Nietzsche, FW, 1. [13], 3, 384.). Es macht ganz den Anschein, dass im Modus des Wehetuns, also der Überwindung, das Machtgefühl sich markanter äußert. In diesem Sinne kann Nietzsche das Leben auch wie folgt definieren: »Was heisst Leben? – Leben – das heisst: fortwährend Etwas von sich abstossen, das sterben will; Leben – das heisst: grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben – das heisst also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? – Und doch hat der alte Moses gesagt: Du sollst nicht tödten!« (Nietzsche, FW, 1. [26], 3, 400 [Hervorhebung i. Orig.]). Damit ist aber noch nicht die Struktur der Selbstüberwindung im Sinne des Spätwerkes gewonnen: »Leben als reine Form der Selbstüberwindung, wie es dann in Also sprach Zarathustra ausgeführt wird, ist in der Fröhlichen Wissenschaft nur erst angedeutet« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 252. Vgl. dazu unter B.IV.1.1.). 325 Nietzsche, FW, 1. (48), 3, 414. Vgl. dazu die Ausführungen zu ›Menschliches, Allzumenschliches unter‹ B.III.2.
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rational verfasst ist. Diese prinzipielle Grundlosigkeit des Daseins ist der metaphysische Tribut, der in logischer Folge einer Konkretion des Machtgefühls zu entrichten ist. Es ist (wie oben gesehen) eher auf der Triebebene beheimatet. Das Machtgefühl steht der Vernunft und ihren Irrtümern nun strikt entgegen. Im berühmten Aphorismus 125 hat Nietzsche die hieraus folgende Konsequenz 327 erstmals in aller Radikalität ausgesprochen: »Gott ist todt!« . Für das Leben bedeutet dies: Die radikale Entkoppelung des selbstmächtigen Lebens von allen Sinnvorgaben, Horizonten und Orientierungspunkten macht diese auch im Sinne 328 des lebensdienlichen Irrtums obsolet. Und das heißt, dass das Leben nun in ent329 schiedene Opposition zu jedweden Erkenntnisvorgaben tritt. Nietzsche fragt in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹, ob diese Aufgabe nicht zu groß für den Menschen 330 sei, bedeutete dies doch nichts anderes als selber zu Göttern werden zu müssen. Der Wagnischarakter des Lebens erreicht so seine höchste Zuspitzung. Dies bedeutet dann aber auch, dass das Leben selbst in einer gewissen Zweideutigkeit ver331 bleibt. 326 Gerhardt spricht in dieser Sache von einer allgemeinen »Grundlosigkeit alles Geschehens« (Gerhardt, Nietzsche, 46). 327 Nietzsche, FW 3. (125), 3, 481. Bekanntlich lässt Nietzsche diese Worte einen tollen Menschen sprechen. Nietzsche ist nicht der erste, der diese These äußert. Sie findet sich bereits im Gesangbuch. Im Schweizerischen Gesangbuch (RG Nr. 442) ist der Text von Johann Rist von 1641 folgendermassen wiedergegeben »Oh große Not, Gott selbst ist tot«. Das alte und neue deutsche Gesangbuch (EKG Nr. 80; EG Nr. 80) liest hingegen: »Oh große Not, Gotts Sohn ist tot«). Mit anderen jeweils spezifischen Konnotationen 1795 begegnet das dictum sodann bei Jean Paul (vgl. Jean Paul, Siebenkäs, 319f.) sowie dann bei Hegel: »Gott ist gestorben, Gott ist tot – diese ist der fürchterlichste Gedanke, daß alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden« (Hegel, VGdR, 291). Vgl. dazu auch Jüngel, Tod des lebendigen Gottes, 110ff. und Link, Hegels Wort, passim. Zum tollen Menschen vgl. Brusotti, Leidenschaft der Erkenntnis, 404ff. Zur Karriere dieses Diktums in der modernen Philosophie vgl. Bucher, Nietzsches Mensch und Nietzsches Gott, 187ff. Für Luther gehört der Tod Gottes am Kreuz in die Kreuzestheologie, die Nietzsche zutiefst skeptisch ansieht. Vgl. dazu Ebeling, Luther, 280ff. 328 Vgl. dazu die Ausführungen zu ›Menschliches, Allzumenschliches‹ unter B.III.2. 329 Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 240: »War früher der Widerspruch von Leben [...] und Erkennen nur Schein, so ist er jetzt wirklich, aber als Gegensatz des Lebens selbst«. 330 Rainer Bucher hat zurecht darauf hingewiesen, dass der Tod Gottes in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ primär als Problem thematisch ist. Nietzsche geht es um die Möglichkeitsbedingungen der Gott-ist-tot-These und die hieraus folgenden anthropologischen Konsequenzen. Dies erklärt denn auch das Unverständnis der Adressaten des tollen Menschen. Sie haben nicht gewusst, was sie taten, als sie Gott töteten. Nietzsche legt die entscheidenden Konsequenz offen: Wer Gott tötet, muss selbst Gott sein (vgl. Bucher, Nietzsches Mensch und Nietzsches Gott, 189f.). Dies lässt sich auch als implizite Kritik der philosophischen Entwicklung lesen. Die im Gefolge der Aufklärung entstandene Philosophie hat ihre Destruktion von Metaphysik, Moral und Religion nur unzureichend anthropologisch kompensiert. Die entscheidende ethische Pointe der These, dass die Menschen zu Göttern werden müssen, besteht in nichts anderem, als dass die, die Gott und die damit verbundenen evaluativen Fixierungen töten, in Stand und Position sein müssen, diese selbstmächtig zu ersetzen. 331 Vgl. Nietzsche, FW, 4. (337), 3, 564. Nietzsche spricht in dieser Beziehung auch von einer »Improvisation des Lebens« (Nietzsche, FW, 4. [303], 3, 541 [i. Orig. gesperrt]).
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Der Metaphysische Lebensbegriff
Diese Zuspitzung des Wagnischarakters des Lebens macht Nietzsche auch fruchtbar für sein mitgeführtes Programm einer Tugendlehre des Lebens. Die Tugenden Redlichkeit, Tapferkeit, Großmut und Höflichkeit erfahren wichtige Zusatzbestimmungen, auch wenn diese nicht im Zentrum der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ stehen. Die präzisierte Aufgabe einer radikalen Selbst- und Weltkonstruktion verlangt zum ersten Redlichkeit nicht mehr nur allein im Hinblick auf die 332 schonungslose Introspektion und die Kritik externer Sinnvorgaben, sondern – und dies steht im Zusammenhang mit Nietzsches verstärktem Interesse an den 333 exakten Naturwissenschaften – auch hinsichtlich nichtmetaphysischer, sprich naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Es ist in diesem Zusammenhang für Nietz334 sche ein Gebot der Redlichkeit ein Hoch! auf die Physik auszurufen. Tapferkeit zweitens wird nun primär hinsichtlich des Wagnischarakters des Lebens eingeschärft und ist korreliert mit der These von impliziter Macht- resp. Glückssteigerung: »Die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuern332 Vgl. dazu Nietzsche, FW, 3. (110), 3, 471, FW, 3. (114), 3, 474 und FW, 3. (159), 3, 497. 333 Vgl. dazu Müller-Lauter, Organismus als innerer Kampf, 189ff. Nietzsches Theorie des Organischen kann an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. Nur soviel sei angemerkt: Es kann nicht davon gesprochen werden, dass Nietzsche dieses Problem gelöst hat. Vor allem bleibt eine Zweideutigkeit hinsichtlich der Skepsis gegenüber der metaphysischen Vernunftkompetenz und einer positiven Haltung gegenüber den Naturwissenschaften. Allerdings: Nietzsche wendet sich auf der einen Seite gegen eine Vorstellung des Organischen, die auf Nutzenkalkülen basiert. »Die Entstehung eines Organs könne nicht durch den Nutzen erklärt werden« (Müller-Lauter, Organismus als Kampf, 192). Allerdings schimmert im Nachlass auch ein Verständnis für eine zweckorientierte Evolution heraus: »Der Gedanke, daß das Lebendigste allein übrig geblieben ist, ist eine Conception ersten Ranges« (Nietzsche, N Sommer-Herbst 1884, 26 [69], 11, 166 [i. Orig. z.T. hervorgehoben]). Klar richtet sich Nietzsche gegen ein strikt mechanistisches oder idealistisches Organismusverständnis. So schreibt er im Nachlass aus der Zeit kurz nach der ›Fröhlichen Wissenschaft‹: »Bisher sind beide Erklärungen des organischen Lebens nicht gelungen, weder die aus der Mechanik, noch die aus dem Geiste« (Nietzsche, N Sommer-Herbst 1884, 26 [68], 11, 166 [Hervorhebung i. Orig.]). Vielmehr versucht er mit seinem hochintegrativen Konzept beides mitzuführen: »Wir treffen Nietzsche [mit] vieldeutigen Stellungnahmen bei seinem Bemühen an, einen dritten Weg zur Erklärung des Organischen einzuschlagen, der in gewisser Weise zwischen den geschilderten Wegen verlaufen soll« (Müller-Lauter, Organismus als innerer Kampf, 206). 334 »Wir aber wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden! Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden: wir müssen Physiker sein, um, in jenem Sinne, Schöpfer sein zu können, – während bisher alle Werthschätzungen und Ideale auf Unkenntniss der Physik oder im Widerspruch mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! Und höher noch das, was uns zu ihr zwingt, – unsre Redlichkeit!« (Nietzsche, FW 4. [335], 3, 564). Nietzsches Hoch! auf die Physik darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er auch als leidenschaftlicher Kritiker der Naturwissenschaften aufgetreten ist. Seine Kritik steht hier in der Flucht der Einreden gegen den alexandrinischen Wissenschaftstypus, der durch Fortschrittsgläubigkeit, Optimismus und v.a. einen nihilistischen Grundzug gekennzeichnet ist, insofern sich die Naturwissenschaft »als letztgültige Wahrheit mißversteht« (Spiekermann, Naturwissenschaft,9). Nietzsches Verhältnis zur Naturwissenschaft bleibt so wenigstens »zweideutig und ambivalent« (Spiekermann, Naturwissenschaft, 3). Vgl. auch auch a.a.O., 10: »Als Moral- und Metaphysik-Kritik bejaht Nietzsche die neuzeitliche Naturwissenschaft, als Metaphysik-Ersatz bekämpft er sie« (Hervorhebung i. Orig.).
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ten, heisst: gefährlich leben!« , – deshalb ist »vor allem die Tapferkeit wieder zu 336 Ehren [zu] bringen« . Hinsichtlich des Großmuts ist drittens die Problematizität der ratio und der Triebdimension des Lebens thematisch. Im Vergleich zur gemeinen Natur »ist die höhere Natur die unvernünftigere: – denn der Edle, Grossmüthige, Aufopfernde unterliegt in der That seinen Trieben, und in seinen besten 337 Augenblicken pausirt seine Vernunft« . Nur negativ näherbestimmt wird viertens die Höflichkeit. Sie darf nicht in Gefahr laufen, den Wagnischarakter des Lebens 338 zu verschleiern und somit die Nachbartugend der Tapferkeit zu unterminieren. Insgesamt bleibt die Redlichkeit die wichtigste Tugend und Nietzsche bezeichnet seine Grundlegung nun als »Sternen-Moral«, deren zentrales Gebot lautet: »Sei 339 rein!« . Der letzte, oben angedeutete Punkt betrifft wie gesagt eine Konsequenz der Ewigkeitsthese, wie sie im Zuge der Analyse von ›Menschliches, Allzumenschli340 ches‹ herausgearbeitet werden konnte. Es handelt sich dabei um Nietzsches Einsicht von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, die in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ erstmalig begegnet. Sie markiert endlich auch den Übergang zum Spät341 werk. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft – und in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ bezieht sich dies direkt auf das Leben – wird explizit als »[das] grösste Schwerge342 wicht« mit dezidiert praktischer Pointe eingeführt. Diese zentrale Lehre kann hier noch nicht näher behandelt werden, wird sie doch erst im ›Zarathustra‹ ausführlich entfaltet. Hier soll nur ganz kurz auf eine wichtige Konkretion im Hinblick auf den Lebensbegriff hingewiesen werden, um dann knapp Rückschau auf die Analyse des Lebensbegriffes des mittleren Nietzsche zu halten. Nietzsche führt im Aphorismus 341 der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ die These von der ewigen Wiederkunft als hypothetischen Ratschlag eines nächtlichen Dämons ein. Jener prophezeit: »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues da335 336 337 338
339 340 341
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Nietzsche, FW, 4. (283), 3, 526 (i. Orig. z.T. gesperrt). Nietzsche, FW, 4. (283), 3, 526. Nietzsche, FW, 1. (3), 3, 374. »Der Höfliche. – Er ist so höflich! – Ja, er hat immer einen Kuchen für den Cerberus bei sich und ist so furchtsam, dass er Jedermann für den Cerberus hält, auch dich und mich, – das ist seine Höflichkeit« (Nietzsche, FW, 3. [237], 3, 513). Nietzsche, FW, Scherz, List und Rache (63), 3, 367 (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. dazu unter B.II.1. Vgl. Gerhardt, Nietzsche, 46: »In der Fröhlichen Wissenschaft, die nach der großen Krise des Sommers 1881 geschrieben wird, finden sich bereits alle Themen des Spätwerks. Die Wahrheitskritik ist radikalisiert, der Immoralismus verdeutlicht, der Wille zur Macht, die Umwertung aller Werte sowie die ewige Wiederkunft des Gleichen deuten sich an, und Zarathustra wird ausdrücklich angekündigt«. Nietzsche, FW, 4. (341), 3, 570. Erich Heller mutmaßt, dass die vielen »Fragezeichen und Konjunktive, die den Stil des Absatzes bestimmen [...] den Eindruck erwecken, als wäre die ewige Wiederkunft ihrer selbst noch nicht ganz gewiß« (Heller, Erich, Nietzsches Terror, 257).
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Der Metaphysische Lebensbegriff
ran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in derselben Reihe und Folge [...]. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer 343 wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!« . Im ersten Zugriff erkennt Nietzsche darin nur einen zerstörererischen Gedanken, der das Leben selbst unter einen Fluch stellt. Auf der anderen Seite erblickt Nietzsche aber auch eine positive Dimension, die sich exakt auf die selbstmächtige Konzeptualisierung der ewigen Lebendigkeit bezieht. Der brutale Gedanke einer ewigen Wiederkunft erweist sich zum Schluss als schärfste Kontrolle des Lebens von Lebendigkeit, denn immer hält er die Frage wach: »willst du diess noch einmal und noch unzähli344 ge Male?« . Und das bedeutet: Die ewige Lebendigkeit ist in ihrer selbstmächtigen 345 Realisierung immer als eine ewige zu gestalten. III.4
Zusammenfassung: Der Lebensbegriff des mittleren Nietzsche
Es wurde oben darauf hingewiesen, dass der Lebensbegriff im Œvre des mittleren Nietzsche keinesfalls das ausschließliche Zentrum des Nachdenkens bildet. Nietzsche betätigt sich in den analysierten Aphorismusbüchern als Psychologe, dessen zentrales Thema die kritische Auseinandersetzung mit einer als fehlgeleitet enttarnten Kultur ist. Indem Nietzsche primär mit ihr abrechnet, stehen im Mittelpunkt überkommene Metaphysik, Religion und Moral, die vor das Gericht einer extripativen Psychologie gestellt werden, mit deren Hilfe nicht nur kulturelle Fehlentwicklungen diagnostiziert werden können, sondern die auch Grundkoordinaten humanen Daseins subtil herausarbeitet. Insofern Nietzsche im Zuge dieses Geschäfts immer weiter in das Schwarze der menschlichen Natur vorstößt, gelingt es auch, die Vorstellung vom Leben zu präzisieren. Hier sollen abschließend noch einmal wenigstens zwei Perspektiven namhaft gemacht werden: einmal die Strukturerhellung des Lebens selbst und das andere Mal dessen im weitesten Sinne ethische Valenz. Was das erste betrifft, so wird die Vorstellung des Lebens als plastische Kraft näherbestimmt. Hier arbeitete sich Nietzsche über die Einsicht des Werdenscharakters des Lebens hindurch zur These, dass das Leben als ewige Lebendigkeit eine immanente Triebstruktur aufweist, die auf der Gefühlsebene an ein Machtgefühl gekoppelt ist. Die ewig treibende Lebendigkeit und das ihr entsprechende Gefühl von Macht sind dabei auf eine Steigerung ihrer selbst resp. auf eine Erweiterung von Macht hin ausgerichtet. Das Leben erweist sich strukturell als eine primär unbewusste Gier nach Macht, Steigerung und Überwindung.
343 Nietzsche, FW, 4. (341), 3, 570. 344 Nietzsche, FW, 4. (341), 3, 570. 345 Vgl. dazu auch Heller, Erich, Nietzsches Terror, 259f. sowie Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 255f.
Der Lebensbegriff im Spätwerk Nietzsches
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Die Triebdimension ist es auf der anderen Seite, die genau auch auf den zweiten angedeuteten Sachverhalt führt. Denn sie weist darauf hin, dass dem so beschriebenen Leben eine Tätigkeitsdimension inhärent ist. Diese erweist sich erstens als immun gegenüber lebensexternen Orientierungen. Die psychologische Demontage von überkommener Metaphysik, Religion und Moral führt zu einer radikalen Skepsis gegenüber dergestaltigen Steuerungsinstanzen, so dass das Leben als Ausdruck jener ewigen Lebendigkeit von ihnen losgelöst werden muss. Höchster Ausdruck jener Loslösung ist des Ausruf Gott ist tot!, der als zusammenfassende Formel der Verabschiedung metaphysischer, moralischer und religiöser Prämissen gelesen werden muss. Vor diesem Hintergrund entscheidet sich für Nietzsche auch die Frage nach einem metaphysisch, religiös oder moralisch konstruierten Eigenwert des Lebens. Einen intrinsischen Wert besitzt das Leben nicht, es kann sich allenfalls in der selbstmächtigen Gestaltung als mächtig oder nicht erweisen. Letzteres macht darauf aufmerksam, dass sich das Leben im Gegenüber der Löslösung als Wagnis zeigt. Leben ist in diesem Sinne gefährlich, aber es kann auch nur in der Überwindung von Gefahr wachsen, seine Macht erweitern: leben. Und allererst wenn sich das Leben als mächtiges resp. selbstmächtiges erweist, ist Nietzsche bereit von Personen im strengen Sinne zu sprechen, die nichts anderes sind als freie Geister oder selbstmächtige Gefäße adäquater Realisierung des ewigen Lebenstriebes. In dieser Beziehung lässt sich endlich auch eine fortgeschrittene paramorale Konzeptualisierung des Lebens wahrnehmen. Der beim frühen Nietzsche gefundene Imperativ Sei Leben! ist mutiert zum Aufruf zu selbstmächtiger Gestaltung der ewigen Lebendigkeit. Der Imperativ lautet nun: »Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden!«. Und dieser Imperativ ist korreliert mit einer Tugend-Lehre des Lebens, die Redlichkeit, Tapferkeit, Großmut und Höflichkeit umfasst. Diese Tugenden sollen dazu dienen, dass sich das Individuum zum adäquaten Gestalter jenes ewig drängenden Lebenstriebes macht, und ihnen ist nachgeschaltet der Gedanke einer ewigen Wiederkunft des Lebens, der als letzte Kontrolle der Realisierung des ewigen Lebens fungiert.
IV. Der Lebensbegriff im Spätwerk Nietzsches Wo stehen wir? Der bisherige Durchgang durch das Werk Nietzsches hat offengelegt, dass das Leben chimärische Strukturen aufweist und dass diese sich nur aufschließen lassen, wenn sie in das Programm seiner extripativen Psychologie, Moralkritik und Paramoral eingezeichnet werden. Eine gewisse Abrundung erfährt Nietzsches Lebensbegriff im Spätwerk, das nun im Zentrum stehen soll. Wie bereits oben festgehalten, ist eine Dreiteilung des Œvres Nietzsches in Frühwerk, mittleres Werk und Spätwerk aus verschiedenen Gründen nicht ganz unproblematisch. Zum einen, weil ein Spätwerk im strengen Sinne nicht vorliegt,
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Der Metaphysische Lebensbegriff 346
sondern mit Volker Gerhardt besser von einem »abgebrochene[n] Finale« zu sprechen ist. Zum anderen, weil sich – wie bereits gesehen – im Denken Nietzsches unzweifelhaft große Kontinuitätslinien ausmachen lassen. Deshalb wurde auch nicht von Brüchen im Denken gesprochen, sondern von Neueinsätzen, die sowohl durch Modifikationen des Mitteilungsstils wie der Rekonfiguration der basalen Denktopoi ausgezeichnet sind. Als Spätwerk gelten im Folgenden alle ab 1883 er347 schienenen, zur Publikation vorbereiteten sowie nachgelassenen Texte. Sachlich lassen sich nicht unwesentliche Neujustierungen in wenigstens drei Momenten erkennen. Zum ersten tritt das Philosophem des Willens zur Macht deutlich in den Vordergrund. Die Korrelation von ewig treibender Lebendigkeit und einem entsprechenden Machtgefühl findet im Willen zur Macht ihre abschließende Synthesegestalt. Der Wille zur Macht wird in ›Also sprach Zarathustra‹ erst348 mals genauer ausgearbeitet. Dieser Wille zur Macht wird zweitens nachgerade 349 zum fundamentalen metaphysischen Parameter erhoben. Das bedeutet, dass neben dem Psychologen und Moralkritiker auch wieder dezidiert der Metaphysiker 350 Nietzsche erkennbar wird. In dieser Hinsicht zeitigt das Spätwerk durchaus monistische Züge, d.h. auch die Dualität von Apollinischem und Dionysischem wird 351 zusammengezogen, was v.a. in den spätesten Texten wahrnehmbar wird. Endlich wird das Motiv des Willens zur Macht mit dem Lebensbegriff verschmolzen, wobei das Leben nunmehr als ein Spezialfall des metaphysischen Theorems des Willens zur Macht einsehbar wird. Dies wiederum zieht entscheidende Konsequenzen für Nietzsches Ethik des Lebens nach sich. Diese Gedankenfelder sollen nun im Durchgang durch das Spätwerk näher expliziert werden. Einzusetzen ist mit ›Also sprach Zarathustra‹. Am Ende wird in gebotener Kürze eine Auswertung der einschlägigen Nachlassaphorismen stehen, die früher in dem von Elisabeth Nietzsche-Förster und Heinrich Köselitz (alias Peter Gast) zusammengestellten Nachlassband ›Der Wille zur Macht – Versuch einer 346 Gerhardt, Nietzsche, 55. An anderer Stelle spricht Gerhardt vom einer »Reifeperiode der achtziger Jahre« (Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 168). 347 »D[a]s Spätwerk wird hierbei umschrieben als die Gesamtheit der veröffentlichten, zur Veröffentlichung vorbereiteten oder nachgelassenen Texte, welche nach dem Zarathustra entstanden sind« (Bucher, Nietzsches Mensch und Nietzsches Gott, 35.). Anders als bei Bucher wird hier ›Also sprach Zarathustra‹ mit zum Spätwerk gerechnet, da die für das Spätwerk insgesamt typischen Verschiebungen anklingen. Unbestritten ist, dass der ›Zarathustra‹ einen Sonderfall repräsentiert. Darauf wird weiter unten noch genauer eingegangen. 348 Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 262. 349 »Nietzsche bietet mit seiner Metaphysik des Willens zur Macht ohne Zweifel eine allgemeine Theorie des Seienden: alles Seiende ist gemäss dieser Theorie ein – durchaus unbeständiges Quantum an Kraft« (Bucher, Nietzsches Mensch und Nietzsches Gott, 25). 350 Der Wille zur Macht kann so als »Grundkategorie eines philosophischen Metaphysikentwurfes« (Bucher, Nietzsches Mensch und Nietzsches Gott, 25) gelesen werden. 351 »Stand das Machtmotiv in der mittleren Periode noch im Gegensatz zur Vernunft, so dringt Nietzsche im Spätwerk zu einer monistischen Auffassung vor. In Zarathustra (1883–85) betrachtet er nicht nur die Triebe, sondern auch die Vernunft als Erscheinungsformen des einen Grundtriebes, den er nun explizit als Wille zur Macht bezeichnet« (Gödde, Entlarvungs- und Tiefenpsychologie, 27).
Der Lebensbegriff im Spätwerk Nietzsches
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Umwertung aller Werte‹ zu finden waren, jetzt aber in der Kritischen Studienausgabe (KSA) von Giorgio Colli und Mazzino Montinari chronologisch geordnet wurden. Dazwischen steht eine knappe Auswertung der diskursiven Spätschriften ›Jenseits von Gut und Böse‹, ›Genealolgie der Moral‹ und ›Götzen-Dämmerung‹ sowie der nachgelassenen Werke ›Der Antichrist‹ und ›Ecce homo‹. IV.1
›Also sprach Zarathustra‹
Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹ stand lange im Ruf, sein bedeutendstes Buch zu sein und vereinzelt wird noch vertreten, dass dies Nietzsches eigentliches 352 »Hauptwerk« sei. Dieser Eindruck dürfte sich dabei mindestens aus mehreren Quellen speisen. Einmal hat Nietzsche diesem Buch selber einen ungemein hohen Rang eingeräumt. In ›Ecce homo‹ bezeichnet er ›Also sprach Zarathustra‹ expres353 sis verbis als sein »bestes Buch« . Andererseits dürfte in diese Hochschätzung auch die ungeheure Resonanz mit hineinspielen, die dieses Werk v.a. in der Kunst und Literatur des Jugendstils resp. Expressionismus’ entfaltet hat. Ein Übriges dürfte die Vereinnahmung Nietzsches durch die Nationalsozialisten beigetragen 354 haben. Indes: Die Einschätzung, beim ›Zarathustra‹ handele es sich um Nietzsches 355 Hauptwerk, herrscht in der neueren Forschung nicht mehr vor. Dies hängt neben der gründlicheren Erschließung und Interpretation des Nachlasses damit zusammen, dass die Singularität des ›Zarathustra‹ mehr und mehr betont und beachtet 356 worden ist. Denn dies ist unstrittig: ›Also sprach Zarathustra‹ ist bzgl. seiner Sprachgewalt, der Anordnung und Gestaltung des Stoffs, der kunstvoll gestalteten Ambivalenzen, der verfremdenden bis parodierenden biblischen Anklänge und der Wuchtigkeit zentraler Theses ein opus sui generis und als solches im Œvres Nietzsches exzeptionell und nicht zuletzt deshalb eines seiner populärsten Bücher. Aus diesem Grunde ist es angemessener, statt von einem Haupt- besser von einem 352 Honneth, Paradox des Augenblicks, III. 353 Nietzsche, EH, Also sprach Zarathustra, 6., 343. Vgl. auch ebd.: »Innerhalb meiner Schriften steht für sich mein Zarathustra. Ich habe mit ihm der Menschheit das grösste Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist. Dies Buch, mit einer Stimme über Jahrtausende hinweg, ist nicht nur das höchste Buch, das es giebt, das eigentliche Höhenluft-Buch – die ganze Thatsache Mensch liegt in ungeheurer Ferne unter ihm –, es ist auch das tiefste, das aus dem innersten Reichthum der Wahrheit heraus geborene, ein unerschöpflicher Brunnen, in den kein Eimer hinabsteigt, ohne mit Gold und Güte gefüllt heraufzukommen. Hier redet kein Prophet, keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt. Man muss vor Allem den Ton, der aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören, um dem Sinn seiner Weisheit nicht erbarmungswürdig Unrecht zu thun. Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen, Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt«. 354 Vgl. Galindo, Triumph des Willens, passim. 355 Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 362; Prossliner, Nietzsches Zarathustra; 108, Tanner, M., Nietzsche, 70. 356 Vgl. Gerhardt, Nietzsche, 50; Prossliner, Nietzsches Zarathustra, 8.
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Der Metaphysische Lebensbegriff 357
»Sonderwerk« oder einem »Meisterwerk« zu sprechen. Neben den angesprochenen Singularitäten ist es auch der gestus, mit dem Nietzsche auftritt, der sich gegenüber anderen Arbeiten abhebt. War es im Frühwerk der eines Arztes der Kultur, in der mittleren Phase der eines Psychologen in extripativer Hinsicht, so ist es im ›Zarathustra‹ der gestus des Propheten, besser eines halkyonischen Propheten, in dem Nietzsche auftritt und der sich in der Vision der ewigen Wiederkehr bereits 358 angekündigt hat. Entsprechend wird in ›Also sprach Zarathustra‹ weniger argumentiert und analysiert, sondern primär verkündet. Auf der anderen Seite ist darauf hinzuweisen, dass der angesprochenen Singularität auch ein Verstörungspotenzial inhäriert. Ein prominenter Nietzsche-Leser, wie z.B. Thomas Mann konnte mit dem ›Zarathustra‹ nur wenig anfangen. Er notiert: »Dieser gesichts- und gestaltlose Unhold und Flügelmann Zarathustra mit der Rosenkrone des Lachens auf dem unkenntlichen Haupt, seinem Werdet hart! und seinen Tänzerbeinen ist keine Schöpfung, er ist Rhetorik, erregter Wortwitz, gequälte Stimme und zweifelhafte Prophetie, ein Schemen von hilfloser Grandezza, oft rührend und allermeist peinlich – eine an der Grenze des Lächerlichen schwankende Figur«359. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass ›Also sprach Zarathustra‹ nicht als das entscheidende Hauptwerk Nietzsches anzusprechen ist. Das bedeutet aber nicht, dass dieses Buch im Hinblick auf Nietzsches Entwicklung des Lebensbegriffes übergangen werden darf. Denn trotz seiner singulären Gestalt, ist der ›Zarathustra‹ – wie das Spätwerk insgesamt – insbesondere auch für die Aufschlüsselung 360 des Lebensbegriffs von Relevanz. So kann denn ›Zarathustra‹ seine Lehre ohne 361 weiteres auch als »Lehre vom Leben« apostrophieren.
357 Prossliner, Nietzsches Zarathustra, 40; vgl. auch a.a.O., 8 u. 108. Colli tut sich schwer damit ›Also sprach Zarathustra‹ insgesamt als »philosophisches Buch« zu bezeichnen, was eklatant damit zusammenhängt, dass es für ihn im »Bereich archaischer Ausdrucksformen« (Colli, Also sprach Zarathustra, 412) angesiedelt ist. 358 »In Also sprach Zarathustra scheinen der Moralist und der Psychologe Abschied zu nehmen. Wer an diese Töne gewöhnt war, erschrickt nun, wenn er die Stimme eines Propheten und Dichters vernimmt, so wie Jacob Burckhardt erschrocken und entsetzt war« (Colli, Also sprach Zarathustra, 411). Vgl. auch Tanner, M., Nietzsche, 70f. so wie Heller der vom »prophetische[n] Rüstzeug« (Heller, Erich, Wiederkehr der Unschuld, 112) spricht. 359 Mann, Nietzsches Philosophie, 116f. Mann bezieht sich dabei offensichtlich primär auf Nietzsche, AsZ IV, Vom höheren Menschen 18., 4, 366. 360 Insgesamt scheint es nicht möglich, der fragwürdigen These von Dirk Solies zuzustimmen, dernach »dem Begriff Leben, so wirkmächtig er auch für die folgenden Lebensphilosophen gewesen sein mag, im späten Werk Nietzsches letztlich keine Bedeutung mehr zukommt, insofern Leben hier immer als sekundäre Manifestation des Willens zur Macht betrachtet wird« (Solies, Naturwissenschaft und Lebensbegriff des Zarathustra, 282). 361 Nietzsche, AsZ, II, Von den Taranteln, 4, 129.
Der Lebensbegriff im Spätwerk Nietzsches
IV.1.1
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Das Leben als Wille zur Macht
Mit dem Willen zur Macht begegnet in ›Also sprach Zarathustra‹ erstmals ausführlicher jenes Philosophem, das schlechterdings als Schlagwort und Fluchtpunkt der 362 Spätphilosophie Nietzsches gelten darf. Zwar ist der Wille zur Macht im ›Zarathustra‹ noch längst nicht ausgearbeitet, wegen der aber schon dort anzutreffenden engen Verzahnung dieses Theorems mit dem Lebensbegriff ist unbedingt hier da363 rauf einzugehen. Dabei ist eines voranzuschicken: Weil es im Rahmen der vorliegenden Ausführungen primär um die an dieses Theorem anknüpfenden Facetten des Lebensbegriffs und die entsprechenden ethisches Implikationen zu tun ist, kann der Wille zur Macht nicht nur an dieser Stelle in Bezug auf den ›Zarathustra‹, sondern im Rahmen dieses Kapitels grundsätzlich nicht so ausführlich behandelt werden, wie dies etwa Volker Gerhardt in seiner umfangreichen Monographie ›Vom Willen zur Macht‹ (1996) geleistet hat. Ebensowenig kann die werkimmanente Genese der Nietzscheschen Willenslehre hier in extenso nachvollzogen werden, die ihren Ausgang bei Schopenhauers »Wille[n] zum Leben«364 nimmt. Nur soviel sei gesagt: Die Installation einer neuen metaphysischen Zentralformel ver365 dankt sich einem Dreifachen. Erstens ist bekannt, dass Nietzsche sich ab 1881 verstärkt mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft, insbesondere der neueren Physiologie (Wilhelm Roux, Julius Robert Mayer, Michael Fosters) auseinanderge366 setzt hat. Die mit der Inblicknahme der physiologischen und physikalischen Grundlagen der Lebenserscheinungen erfolgte extreme Perspektivenerweiterung hat Nietzsche genötigt, eine gedehntere Grundformel zu erwickeln. In dieser Beziehung hat er die Kraft- und Energiemetaphorik der zeitgenössischen Physik und Physiologie produktiv in seine Konzeption des Willens zur Macht zu integrieren 367 versucht. Zweitens hat die Vision der ewigen Wiederkunft der Dinge die theorie362 Vgl. Gerhardt, Wille zur Macht, 351. Vgl. auch Bucher, Nietzsches Mensch und Nietzsches Gott, 43: Für Bucher ist der Wille zur Macht die »zentrale Kategorie des späten Nachlasses«. Der Sache nach begegnen erstmals in der ›Morgenröthe‹ Umrisse der Lehre vom Willen zur Macht (Nietzsche, MR 5. [548], 3, 318). Vgl. dazu Gerhardt, Wille zur Macht, 351. 363 In Nietzsche, AsZ, II, Von der Selbst-Ueberwindung, 4, 146ff. wird der Wille zur Macht explizit als »Lebens-Wille« eingeführt. Dies ist weiter unten ausführlicher zu erörtern. 364 Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I, 362. Zum Verhältnis des Schopenhauerschen Willens zum Leben und des Nietzscheschen Willens zur Macht vgl. ausführlich Decher, Wille zum Leben – Wille zur Macht, passim und Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 170ff. Zu Nietzsches Abgrenzung vom Darwinschen Selbsterhaltungstrieb resp. Willen zum Dasein (struggle of life) vgl. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 184ff. sowie Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 36 (Anm. 59). 365 Mit Gerhardt wird hier davon ausgegangen, »daß der Wille zur Macht nur als ein metaphysischer Begriff verständlich werden kann« (Gerhardt, Zum Willen zur Macht, 288 [Hervorhebung i. Orig.].) 366 Vgl. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 196ff.; Müller-Lauter, Organismus als innerer Kampf, 192ff. 367 Folgende Notiz aus dem Nachlass kurz nach dem Zarathustra liest sich wie die metaphysische Übersetzung des Energieerhaltungssatzes von Julius Robert Mayer: »Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom Nichts
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Der Metaphysische Lebensbegriff
strategische Konsequenz, dass sie durch ein übergreifendes metaphysisches Fundament in Gestalt des Willens zur Macht untermauert wird. Und drittens schließlich sind es die bereits herausgestellten dynamischen Momente, die sich dem Willen zur Macht anempfohlen haben. Wie gesehen hat Nietzsche bis dahin das Leben aufgefasst als ewige Lebendigkeit, die eine immanente Triebstruktur aufweist und die auf der Gefühlsebene an ein Machtgefühl gekoppelt ist. Die ewig treibende Lebendigkeit und das ihr entsprechende Gefühl von Macht sind dabei auf eine Steigerung ihrer selbst resp. auf eine Erweiterung von Macht hin ausgerichtet. Das Leben erweist sich strukturell als eine primär unbewusste Gier nach Macht, Steigerung und Überwindung. So gesehen ist der Wille zur Macht die metaphysisch reflektiertere Fassung des dionysischen Urgrundes resp. des essentiell-vitalen UrEinen, wie es bereits in der ›Tragödienschrift‹ begegnete resp. der Näherbestimmung der plastischen Kraft in der mittleren Phase. Folgerichtig fallen im ›Zarathustra‹ der Wille zur Macht und das Leben zusammen. Der Wille zur Macht erscheint in ›Also sprach Zarathustra‹ zunächst als die formale Struktur Selbstüberwindung.368 Dies meint desnäheren ein Aus-sich-selbst-sich369 selbst-Überwinden. Der Sache nach tauchte das Motiv der Selbstüberwindung bereits auf. Die beschriebene Genese eines freien Geistes, wie sie im Kontext von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ begegnete, ist faktisch nichts anderes als die im modus von Loslösung und Selbstergreifung beschriebene Antizipation der im ›Zara370 thustra‹ begegnenden Struktur Selbstüberwindung. Diese expliziert Nietzsche nun im Abschnitt ›Von der Selbst-Ueberwindung‹ anhand der Dialektik von Gehorchen
umschlossen als von seiner Gränze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts UnendlichAusgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo leer wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt?« (Nietzsche, N Juni–Juli 1885, 38 [12], 11, 610f. [i. Orig. z.T. gesperrt]). Volker Gerhardt hat darauf hingewiesen, dass Nietzsche mit seinem Theorem Willen zur Macht eine nur auf äußere Kraftzusammenhänge fixierte Physik durch ein inneres Moment im Sinne einer Vernunuft aller physikalischer Bewegungen ergänzen möchte. Damit stellt sich nach Gerhardt Nietzsche in die philosophische Tradition Spinozas und Leibniz’ (vgl. Gerhardt, Wille zur Macht, 351). Zu Nietzsches ambivalentem Verhältnis zur Naturwissenschaft vgl. ausführlich Spiekermann, Naturwissenschaft, 7ff. 368 Selbstüberwindung darf dabei keineswegs mit der bei Nietzsche auch prominenten Figur der Selbstauflösung verwechselt werden (vgl. Zittel, Selbstauflösungsfiguren, 10), auch wenn Selbstüberwindung partiell auch Selbstauflösung beinhaltet (vgl. Christians, Selbst, 324). Zur Selbstüberwindung vgl. auch Hunt, Origin of Virtue, 70ff. und Scott, Question of Ethics, 15–45. 369 Vgl. Nietzsche, AsZ, II, Von der Selbst-Ueberwindung, 4, 149. 370 Vgl. unter B.II.1.
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und Befehlen. Es ist nämlich dem Gelingen von Selbstüberwinden charakteristisch, 371 »dass es gehorcht und befiehlt und befehlend noch Gehorsam übt« . Dieses auf den ersten Blick opake Ineinander von Gehorsam und Befehl lässt sich als kühne Verschlingung von Passivität und Aktivität – wie sie im Begriff Selbstüberwindung bereits angelegt ist – entschlüsseln: Die Struktur Selbstüberwindung als formales Explikat des Willens zur Macht ist ein Gehorchen, insofern der Prozess des Sich-Selbst-Überwindens in eins fällt mit der Löslösung von externen Sinnvorgaben und Werthierarchien und einem Anheimstellen an die essentielle Kraft des Willens zur Macht. Anders gesagt: Selbstüberwindung setzt eine Unterwerfung unter den Willen zur Macht voraus. Indem damit auf den Machtwillen konzentriert wird, kann jener nun stringent artikuliert werden und da die Aktualisierung des Machtwillens auf die Steigerung und Erweiterung seiner selbst hin angelegt ist, vollzieht sich dies im Idealfall im Befehlen. Kernbestand des Befehlens sind selbstmächtige Wertungen und Gesetze, die allerdings nicht gänzlich unkontrolliert geäußert werden. Vielmehr gilt im ›Zarathustra‹ für das Befehlen: »Seinem eigenen Gesetze muss es [sc. das Befehlen] Richter und Rächer und Opfer werden«372. Das bedeutet ein Dreifaches: Erstens kann das Befehlen seinen Vollzug büssen, da die befehlende Instanz sich als zu schwach erweist. Es kann somit am Anspruch des selbstmächtigen Befehlens zerbrechen. Zweitens ist im selbstmächtigen Befehlen implizit auch die Perspektive der anderen mit inbegriffen in dem Sinne, wie es schon im Kontext von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ angesprochen wurde. Dort ging es im Zusammenhang der Moral des reifen Individuums um selbstmächtige Wertsetzungen in denen auch der Nutzen für das Allgemeine am 373 größten ist. Auch in dieser Hinsicht kann sich der Versuch des Befehlens rächen. Und schließlich kann das Befehlen auch Opfer der schärfsten Kontrollinstanz werden: des Gedankens der Ewigen Wiederkunft des Gleichen. Alle drei Momente machen auf den auf die Spitze getriebenen Wagnischarakter der Selbstüberwindung aufmerksam. Gelingt allerdings das Wagnis, so überwindet sich der Mensch. Und Inbegriff desjenigen, der sich selbst überwunden hat, ist der Übermensch. Gott ist tot, lautet sein credo, da er sich von allen durch Gott verbürgten Vorgaben abgelöst und zu selbstmächtigem Befehlen gefunden hat. In ›Also sprach Zarathustra‹ wird der so gefasste Wille zur Macht vorderhand mit dem Leben identifiziert.374 Ein diesbezüglicher Entdeckungszusammenhang wird
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Nietzsche, AsZ, II, Von der Selbst-Ueberwindung, 4, 147. Nietzsche, AsZ, II, Von der Selbst-Ueberwindung, 4, 147. Vgl. dazu unter B.III.2. »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht« (Nietzsche, AsZ, II, Von der SelbstUeberwindung, 4, 147). Vgl. auch: »Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht« (Nietzsche, N November1882–Februar 1883 5 [1], 10, 187). Vgl. auch Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 276: »Beides, Leben als Willen zur Macht und als Selbst-Überwindung, besagt dasselbe. Willen zur Macht ist Leben als das sich im Moment seines Fürsichseins überwindete«. Vgl. auch Nietzsche Stilisierung in ›Ecce Homo‹: »Die Grundconception des Werks,
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indes nicht mitgeteilt. Zwar gibt Nietzsche zu erkennen, dass er dem Leben in all’ seinen Facetten nachgegangen ist. Trotzdem verbleibt auch im psychologischen Zugehen auf das Leben eine letzte Unschärfe, wie Nietzsche sagt, eine Unergründ375 lichkeit. Die entscheidende Grundeinsicht teilt das Leben selbst mit. Dass das Leben Wille zur Macht und somit die formale Steigerungsstruktur Selbstüberwindung repräsentiert, ist ein Geheimnis, das das Leben selbst aktiv offenbart: »Und dieses Geheimniss redete das Leben selber zu mir. Siehe, sprach es, ich bin das, 376 was sich immer selber überwinden muss« . Damit wird ein weiteres Mal der pro377 phetische Charakter des Buches augenscheinlich. Hinzu kommt, dass Nietzsche damit auch dem Leben selbst eine immanente Dynamik zutraut, der eine bestimmende Orientierungslogik inhärent ist. Dieser Gedanke wird weiter unten noch 378 beschäftigen. 379 Der Wille zur Macht erscheint konsequent als »Lebens-Wille« , dem als aktualisierte Struktur Selbstüberwindung im Folgenden die im Umfeld der ÜberwindungsSemantik angesiedelte Epitheta konsequent zugewiesen werden. Das Leben ist 380 381 382 383 eben Selbstüberwindung , Kampf , Streit , Wachstum und Steigerung und 384 als Wille immer auch Schöpferisches und Schaffendes. Der zuletzt angesprochene Aspekt des Schaffens führt nahtlos auf die ethischen Implikationen des Lebensbegriffes im ›Zarathustra‹. Nicht nur fällt auf, dass hier wieder unmissverständlich auf den Tätigkeitscharakter des Lebens abgehoben wird, sondern Nietzsche entwickelt sein Programm einer Tugendlehre des Lebens konsequent weiter. Dabei wendet er sich ein weiteres mal radikal gegen die klassischen Konzeptualisierungen der Tugend. Im Abschnitt ›Von den Lehrstühlen der Tugend‹ stößt Zarathustra auf einen Weisen, der »von der Tugend zu reden wis-
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der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann« (Nietzsche, EH, Also sprach Zarathustra 1., 6, 335 [i. Orig. z.T. gesperrt]). Vgl. Nietzsche, AsZ, II, Das Tanzlied, 4, 140; Nietzsche, AsZ, III, Das andere Tanzlied, 4, 282. Nietzsche, AsZ, II, Von der Selbst-Ueberwindung, 4, 148 (i. Orig. z.T. gesperrt). In diesem Sinne kann Nietzsche ›Also sprach Zarathustra‹ auch als »Fünftes Evangelium« (Brief an Ernst Schmeitzner v. 13. Februar 1883 [KSB, 6, 321]) bezeichnen. Vgl. dazu unter B.II.1. Nietzsche, AsZ, II, Von der Selbst-Ueberwindung, 4, 147. »[...], dass das Leben sich immer wieder selber überwinden muss!« (Nietzsche, AsZ II, Von den Taranteln, 4, 130). »Ist in allem Leben nicht selbst – Rauben und Totschlagen?« (Nietzsche, AsZ, III, Von alten und neuen Tafeln [10.], 4, 253); »Und indem ihr tötet, seht zu, dass ihr das Leben rechtfertiget!« (Nietzsche, AsZ, I, Vom bleichen Verbrecher, 4, 45). »Aber alles Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken!« (Nietzsche, AsZ, II, Von den Erhabenen, 4, 151). »Steigen will das Leben und steigend sich überwinden« (Nietzsche, AsZ, II, Von den Taranteln, 4, 130). »Wollen befreit: denn Wollen ist Schaffen: so lehre ich. Und nur zum Schaffen sollt ihr lernen« (Nietzsche, AsZ, III, Von alten und neuen Tafeln [16.], 4, 258 [i. Orig. teilw. gesperrt]). Vgl. auch den »Schaffens-Willen« in Nietzsche, AsZ, II, Auf den glückseligen Inseln, 4, 111.
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se« . Anhand der Metaphorik von Wachen (Tugendbefolgung) und Schlafen (Gewissensberuhigung) wird hier deutlich, dass Tugenden nicht Tugenden im Sinne fixierter Tugendkataloge sind, deren Befolgung allein einer Gewissensberuhigung, aber nicht (im Sinne Nietzsches) wahrhafter Tugendhaftigkeit dient. Vielmehr wird das individuelle Moment der Tugend stärker betont, das sich fugenlos in die 386 Konzeption des Willens Macht als Struktur Selbstüberwindung einzeichnet. Denn die Verabschiedung von verbindlichen Tugendsatzungen ist gleichbedeutend 387 mit der Überwindung des an ihnen aufgebauten Menschen. Dies wird zunächst daran erkennbar, dass alle tugendhaften Handlungen Aus388 druck des losgelösten Selbsts des Handlungssubjekts sind. Die Tugend des losgelösten Selbsts erscheint folgerichtig als schenkende Tugend und das meint genau den beschriebenen – aus der Verschränkung von Aktivität und Passivität resultierenden – habitus, aus der Perspektive des Willens zur Macht selbstmächtig Werte zu set389 zen. Schenkend ist diese Tugend, weil sie unabhängig und ohne weitere Zweck390 Güter- oder Gründeabwägungen (»ungemein [...] und unnützlich« ) ihr Substrat – das Leben als Willen zur Macht – gleichsam von selbst immer auch sich heraus391 setzt. Zusammenfassende Formel ist für Nietzsche ein unersättliches Verschenken392 Wollen . Allein die Bezogenheit auf den Willen zur Macht ist es, die Tugend in strengem Sinne zur Tugend macht. Dies wird schließlich daran deutlich, dass die so gefasste, schenkende Tugend von Nietzsche als höchste Tugend namhaft gemacht 393 wird. Tugend wird zum Explikat der werteschaffenden Praxis des Willens zur 394 Macht. Damit dient sie dem Sinn der Erde. Damit ist gleichzeitig angezeigt, dass
385 Nietzsche, AsZ, I, Von den Lehrstühlen der Tugenden, 4, 33. 386 »Mein Bruder, wenn du eine Tugend hast, und es deine Tugend ist, so hast sie mit Niemanden gemeinsam« (Nietzsche, AsZ, II, Von den Freuden- und Leidenschaften, 4, 42). 387 »Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss: und darum sollst Du Deine Tugenden lieben, – denn du wirst an ihnen zugrunde gehen« (Nietzsche, AsZ, I, Von den Freuden und Leidenschaften, 4, 44). 388 »Dass euer Selbst in der Handlung sei, wie die Mutter im Kinde ist: das sei mir euer Wort von der Tugend« (Nietzsche, AsZ, II, Von den Tugendhaften. 4, 123 [i. Orig. z.T. gesperrt]). 389 »[Eure] Tugend diene dem Sinn der Erde, meine Brüder: und aller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt!« (Nietzsche, AsZ, I, Von der schenkenden Tugend 2., 4,100.) 390 Nietzsche, AsZ, I, Von der schenkenden Tugend 1., 4, 97. Vgl. auch Nietzsche, AsZ, IV, Vom höheren Menschen 11., 4, 362: »[E]ure Tugend gerade will es, dass ihr kein Ding mit für, und um und weil thut«. 391 Illustrate für dieses Phänomen sind für Nietzsche das Glänzen des Goldes oder das Scheinen der Sonne (vgl. Nietzsche, AsZ, I., Von der schenkenden Tugend 1., 4, 97 u. Von der schenkenden Tugend 2., 4, 99). 392 Vgl. Nietzsche, AsZ, I, Von der schenkenden Tugend 1, 4, 98. 393 »[Eine] schenkende Tugend ist die höchste Tugend« (Nietzsche, AsZ, I, Von der schenkenden Tugend 1., 4, 97). 394 Vgl. Nietzsche, AsZ, I, Von der schenkenden Tugend 2., 4, 99. Vgl. dazu auch die Ausführungen zur zweiten ›Unzeitgemässen Betrachtung‹ unter B.II.2.2.
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Der Metaphysische Lebensbegriff
sich in ›Also sprach Zarathustra‹ ein Monismus anbahnt. Das Leben ist zwar Wille zur 395 Macht, aber der Wille zur Macht erschöpft sich nicht im Lebendigen. Dass Nietzsche die schenkende Tugend als höchste Tugend einführt, ist auf den ersten Blick missverständlich. Denn die schenkende Tugend bezeichnet zunächst nur die Struktur des Tugenhaft-Seins und nicht vergleichbar konkrete Tugenden, wie sie bereits in der ›Morgenröthe‹ und der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ greifbar 396 wurden. Dies stellt indes keinen Widerspruch dar. Vielmehr wird deutlich, dass die bereits diskutierten Tugenden – Redlichkeit/Wahrhaftigkeit, Tapferkeit, Grossmut und Höflichkeit – nichts anderes sind als Explikate der schenkenden Tugend, die allesamt für ein perspektivisches Eingestelltsein im Hinblick auf die schaffende Realisierung des Lebens resp. des Willens zur Macht stehen. In ›Also sprach Zarathustra‹ kann Nietzsche entsprechend auch weitere Näherbestimmungen der schenkenden Tugend explizieren. Dies sind Wollust, Herrschsucht und Selbstsucht. Nietzsche führt sie ausdrücklich als »die drei bösesten Dinge«397 ein, um sie dann in kritischer Prüfung vor dem Forum seiner Lehre vom Willen zur Macht (Weisheit) kritisch abzuwägen. Im Zuge dieses Abwägens tritt 398 mehr und mehr das Tugendhafte dieser »drei bestverfluchten Dinge« hervor, so dass sie schließlich expressis verbis als Tugenden angesprochen werden können. Impliziter Maßstab des Abwägens ist die Differenz von schwach und stark, von hoch und niedrig, von unfrei und losgelöst. Entsprechend ist die Wollust dem Leibverächter »Stachel und Pfahl«, den »freien Herzen [...] das Garten-Glück der Erde, 399 aller Zukunft Dankes-Überschwang an das Jetzt« . Den einen ist Herrschsucht »die boshafte Bremse«, den »Reinen und Einsamen [...] Liebe, welche purpurne Seligkeiten lockend an den Himmel malt. [...] Oh wer fände den rechten Tauf- und 400 Tugendnamen für solche Sehnsucht! ›Schenkende Tugend‹« . Die Selbstsucht schließlich wird ausdrücklich heilig gesprochen: »[D]ie heile gesunde Selbstsucht, die aus mächtiger Seele quillt: – – aus mächtiger Seele, zu welcher der hohe Leib gehört, der schöne, sieghafte, erquickliche, um den herum jedwedes Ding Spiegel wird: – der geschmeidige überredende Leib, der Tänzer, dessen Gleichnis und Auszug die selbstlustige Seele ist. Solcher Leiber und Seelen Selbst-Lust heisst sich 401 selber: Tugend« . 395 Darauf wird weiter unten eingegangen werden (vgl. unter B.IV.2.). 396 Vgl. dazu unter B.III.3. Vgl auch Pieper, Seil, 343f.: »Wenn Zarathustra die schenkende Tugend als die höchste preist, so nicht deshalb, weil sie von allen Tugenden die ranghöchste wäre; vielmehr ist sie die Tugend schlechthin resp. dasjenige, was an einer Tugend das Tugendhafte ausmacht. Das Schenken ist es, wodurch sich ein Tätigkeit als Tugend auszeichnet, denn im Schenken bringt sich jene souveräne Selbstverfügung zum Ausdruck, die auf eine ihrer selbstmächtigen Freiheit verweist«. 397 Nietzsche, AsZ, III, Von den drei Bösen1., 4, 236. 398 Nietzsche, AsZ, III, Von den drei Bösen1., 4, 236. 399 Nietzsche, AsZ, III, Von den drei Bösen 2., 4, 237. 400 Nietzsche, AsZ, III, Von den drei Bösen 2., 4, 237. 401 Nietzsche, AsZ, III, Von den drei Bösen 2., 4, 237. Vgl. auch die kranke und die heilige Selbstsucht in Nietzsche, AsZ, I., Von der schenkenden Tugend1., 4, 99. Vgl weiter Nietzsche, AsZ, IV, Der
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Die an dieser Stelle vorgenommenen Metamorphosen tragen erkenntlich Um402 wertungscharakter. Sie präzisieren im Wesentlichen die bereits benannte These, dass das Leben als Selbstüberwindung im Willen zur Macht es wesentlich mit 403 selbstmächtigem Setzen von Werten zu tun hat. Wie in der ›Morgenröthe‹ und in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ dienen die Tugenden dem Leben und seiner Steige404 rung. Die Realisierung des Lebens als Selbstüberwindung im Willen zur Macht 405 406 führt zu »Gesundheit« und zu einem »neuen Adel« . Es wird im ›Zarathustra‹ in407 des einsichtig, dass der ethische Zentralimperativ »Werde, der du bist!« in der Struktur Selbstüberwindung im Willen zur Macht seine metaphysische Begründung erfährt, dem die verschiedenen Modifikationen der schenkenden Tugend als perspektivische Realisierungseingestelltheiten zur Seite stehen, was zu radikalen Umwertungen führt. Seine tiefste Bejahung erfährt das Leben als Selbstüberwindung im Willen zur Macht wie gehabt im Gedanken der ewigen Wiederkunft des 408 Gleichen, dessen ethische Stoßrichtung immer offener zu Tage tritt. Mit dem Anklingen monistischer Denkfiguren, der Umwertungsmetaphorik und mit der Betonung der Notwendigkeit eines neuen Adels ist der Überschritt zu den letzten drei einschlägigen von Nietzsche selbst veröffentlichen Schriften ›Jenseits von Gut und Böse‹, ›Zur Genealogie der Moral‹ sowie ›Götzen-Dämmerung‹ er409 reicht. Diese Schriften sollen im Folgenden auf ihren Beitrag zum Lebensbegriff hin untersucht werden, um in einem letzten Schritt einen Blick in den Nachlass zu werfen.
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Schatten, 4, 340: »Leben, wie ich Lust habe, oder gar nicht leben«. Vgl endlich auch AsZ, III, Von alten und neuen Tafeln (16.), 4, 258: »Das Leben ist ein Born der Lust«. Der Begriff Umwertung selbst fällt im ›Zarathustra‹ nicht. Aber es sind der Sache nach verwandte Ausdrücke auszumachen, so z.B. der der Wandlung (Nietzsche, AsZ, III, Von den drei Bösen 2., 4, 240). Zeitpunkt des Wandels ist der beschworene große Mittag (vgl. Nietzsche, AsZ, I, Von der schenkenden Tugend 3., 4, 102; IV, Das Zeichen, 4, 408.) Weiterhin sei auf den Abschnitt ›Von alten und neuen Tafeln‹ (Nietzsche, AsZ, III, Von alten und neuen Tafeln 1.–30., 4, 247–269) verwiesen. Vgl. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 186: »Die originären Leistungen des Lebens liegen im Schätzen und Werten«. Vgl. dazu unter B.III.3. Nietzsche, AsZ, III, Die Heimkehr, 4, 234. Nietzsche, AsZ, III, Von alten und neuen Tafeln (11.), 4, 254 (i. Orig. gesperrt). Nietzsche, AsZ, IV, Das Honig-Opfer, 4, 297. Zum Gedanken der ewigen Wiederkunft im Spätwerk vgl. ausführlicher: Gerhardt, Nietzsche, 189200; Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 167ff. u. 199ff.; Skirl, Ewige Wiederkunft, 222–230. Speziell zum Wiederkunftsgedanken im Zarathustra vgl. Brusotti, Leidenschaft der Erkenntnis, 549– 618. Auf eine Inblicknahme von ›Der Fall Wagner‹ kann in diesem Zusammenhang verzichtet werden, weil der Begriff des Lebens hier eine höchst untergeordnete Rolle spielt. Vgl. dazu Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 317ff.
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›Jenseits von Gut und Böse‹, ›Genealogie der Moral‹ und ›GötzenDämmerung‹
IV.2.1
›Jenseits von Gut und Böse‹
1886 – ein Jahr nach dem Erscheinen des letzten Teils des ›Zarathustra‹ –, meldet sich Nietzsche wieder mit einem neuen Buch zu Wort. Zunächst hatte Nietzsche versucht, vor dem Hintergrund seiner neuen Grundeinsichten vom Willen zur Macht und der ewigen Wiederkunft der Dinge, ›Menschliches, Allzumenschliches‹ von Grund auf umzuarbeiten. Allerdings gab er diesen Versuch rasch auf und verfasste eine eigenständige Schrift, die unter dem Titel ›Jenseits von Gut und Böse‹ erschien und – wie der Untertitel ›Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft‹ deutlich macht – auch als vorbereitende Schrift zu einem projektierten (aber nie ausgeführten) Hauptwerk, das den Titel ›Der Wille zur Macht‹ tragen sollte, gedacht war.410 Stilistisch knüpft Nietzsche dabei in zweierlei Hinsicht an die Texte vor dem ›Zarathustra‹ an: Zum einen vertauscht er die dichterisch-prosaische Form wieder gegen die der Aphoristik, und der prophetische gestus weicht wieder dem des Psy411 chologen. Flankiert wird der psychologische Problemzugriff durch sprach- und 412 geschichtsphilosophische Beobachtungen. Formal handelt es sich – wie bei ›Menschliches, Allzumenschliches‹ – um eine Abfolge von neun Aphorismusblöcken, die v.a. Metaphysik, Religion, Moral, Bildung und Politik betreffen, durchbrochen von Auslassungen über allgemeine Kulturphänomene (wie Sozialisation und Kunst). Sie werden von einer ›Vorrede‹ sowie dem (erkennbar auf Zarathustra anspielenden) ›Nachgesang Aus hohen Bergen‹ gerahmt. Charakteristisch für die Aphorismensammlung von ›Jenseits von Gut und Böse‹ ist ihr ausgesprochen negativer Impetus. So stellt Nietzsche rückblickend selbst fest, dass mit ›Jenseits von Gut und Böse‹ »nachdem der jasagende Theil meiner Aufgabe gelöst war, [...] die neinsagende, neinthuende Häfte derselben an die Reihe«413 kam. Dies äußert sich primär darin, dass Nietzsche über Weiten zu einer radikal-modernitätskritischen Haltung gelangt: »Dies Buch [...] ist in allem Wesentlichen eine Kritik der Modernität, die modernen Wissenschaften, die modernen Künste, selbst die moderne Politik nicht ausgeschlossen, nebst Fingerzeigen zu ei410 Vgl. Brusotti, Vom Zarathustra bis Ecce homo, 123. Der Status dieses ersten Aphorismusbuches nach dem ›Zarathustra‹ ist nicht zu unterschätzen. Nach Volker Gerhardt bietet ›Jenseits von Gut und Böse‹ den »Schlüssel zu den Themen in Nietzsches Spätwerk: zur Lehre vom Willen zur Macht [...], zur Umwertung mit ihrer radikalen Zeit und Moralkritik sowie zur Experimental-Philosophie mit ihrer betont ästhetisch-dionysischen Konsequenz« (Gerhardt, Nietzsche, 53f.). 411 Nietzsche, JGB I., 23., 6, 39: »Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen« (Hervorhebung v. Vf.). 412 Vgl. Brusotti, Vom Zarathustra bis Ecce homo, 122. Auch damit knüpft Nietzsche an Früheres an. 413 Nietzsche, EH, Jenseits von Gut und Böse, 1., 6, 350.
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nem Gegensatz-Typus, der so wenig modern als möglich ist, einem vornehmen, ei414 nem jasagenden Typus« . Mit diesem – sachlich sehr wohl am ›Zarathustra‹ anknüpfenden – Perspektivenwechsel verbindet Nietzsche dennoch ein konstruk415 tives Interesse. Im modus dieser großangelegten Modernitätskritik verfolgt Nietzsche weiter zielstrebig das positive Programm einer Tugendlehre des Lebens im Sinne des Wil416 lens zur Macht. Dieser Anspruch wird insofern deutlich, als dass Nietzsche sein 417 Buch – wiederum rückblickend – als »eine Schule des gentilhomme« bezeichnet; frappanterweise ist das neunte und letzte Hauptstück mit der Frage überschrieben 418 ›[W]as ist vornehm?‹ . Für das hier in Frage stehende Thema ist dabei von besonderem Interesse, wie Nietzsche erstens dabei die im ›Zarathustra‹ präludierte Lehre vom Willen zur Macht im Hinblick auf die angezeigten monistischen Tendenzen vertieft. Das Ergebnis ist eine explizit monistische Konstruktion, die schließlich im Willen zur Macht ein gleichsam universales metaphysisches Parameter statuiert. Dieser monistische Zug führt zweitens zu einem erweiterten Verständnis des Lebens zunächst in fundamentalmetaphysischer Perspektive und sodann hinsichtlich seiner moralischen Implikationen. Allgemein wird das Leben als Spezialfall des nun weitgehend universalisierten Willens zur Macht einsehbar. Und in moralphilosophischer Hinsicht führt dies zu einer radikalen Nivellierung der etablierten Vorstellungen von Gut und Böse. Sie wird zugespitzt zu einer ätzenden Moralkritik, die in das Programm der Umwertung der Werte mündet. Endlich wird damit der Tätigkeits- resp. Schaffenscharakter des Lebens berührt. Er kulminiert in der Vorstellung, dass das Leben selbst ein werteschaffendes Leben repräsentiert. Vor diesem Hintergrund erfährt die Tugendlehre des Lebens eine weitere Ausmalung. Dies soll im Folgenden kurz nachvollzogen werden. Nietzsche wendet sich in ›Jenseits von Gut und Böse‹ erkennbar gegen einen im weitesten Sinne idealistischen Entwurf von Selbst und Welt, der im Ich im empha414 Nietzsche, EH, Jenseits von Gut und Böse 2., 6, 350. 415 Zwar spricht Nietzsche in ›Ecce Homo‹ bzgl. ›Jenseits von Gut und Böse‹ von einer »Abkehr von den Instinkten [...] aus denen ein Zarathustra möglich wurde« (EH, Jenseits von Gut und Böse, 2., 6, 351). Dies bedeutet wie gesagt nicht, dass Nietzsche auch theoriestragetisch an den Schriften vor ›Also sprach Zarathustra‹ anknüpft. Denn wie bereits oben festgehalten wurde, erfolgt der Perspektivenwechsel in direktem Anschluss an die dort erfolgte Fortentwicklung der Willens- und Wiederkunftslehre. Zur Stellung des Zarathustra im Gesamtwerk vgl. auch unter B.IV.1. 416 Vgl. dazu v.a. das siebte Hauptstück: ›[U]nsere Tugenden‹. 417 Nietzsche, EH, Jenseits von Gut und Böse 2., 5, 351. 418 »Im letzteren Sinne ist das Buch eine Schule des gentilhomme, der Begriff geistiger und radikaler genommen als er je genommen worden ist. Man muss Muth im Leibe haben, ihn auch nur auszuhalten, man muss das Fürchten nicht gelernt haben ... Alle die Dinge, worauf das Zeitalter stolz ist, werden als Widerspruch zu diesem Typus empfunden, als schlechte Manieren beinahe, die berühmte Objektivität zum Beispiel, das Mitgefühl mit allem Leidenden, der historische Sinn mit seiner Unterwürfigkeit vor fremdem Geschmack, mit seinem Auf-dem-Bauch-liegen vor petits faits, die Wissenschaftlichkeit« (Nietzsche, EH, Jenseits von Gut und Böse 2., 6, 350).
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tischen Sinne die Produktionsinstanz von Realität ausweist. Dies ist insofern ein Fehlschluss, als dass einerseits der logische Transfer vom Subjekt-Ich (als in sich gewisser Denkinstanz) zum Objekt-Etwas (als Wirkung der Denkursache) problematisch ist, da hier unzulässig von subjektiver Tätigkeit auf objektive Wirklichkeit geschlossen wird und andererseits, als dass an dieser Stelle eine vermeintliche unmittelbare Gewissheit statuiert wird, die ihrerseits die eigentlich wesentliche Frage nach dem Woher und Warum mentaler Aktivität unzulässig verschüttet, indem sie kurzschlüssig in die Struktur Denken aufgehoben wird. Ein Idealist erweist sich von hier aus allein als »harmloser Selbst-Beobachter«419, der sich mit dem Faktum unreferenziellen Denkens begnügt. Nietzsche vollzieht im Gegenteil den theorie420 strategisch weitreichenden Überschritt vom Ich zum Es. In diesem Sinne etabliert Nietzsche eine Position, die das Denken eben nicht als originäre Produktion eines abstrakten Ichs begreift, sondern die Intellektualität im weitesten Sinne als individuelle Aktualisierung des Machtwillens namhaft macht. Denkende Tätigkeit wird so als Teilhabe am Leben als formale Struktur Selbstüberwindung im Willen zur Macht einsehbar: Das Denken ist die Funktion, die die 421 Realität des Lebens interpretativ am Orte des Individuums einholt. Von hier aus wendet Nietzsche denn auch seine Polemik gegen die Vorstellung eines freien Willens in die starke positive These, dass die Annahmen sowohl eines freien als eines unfreien Willens nichts anderes sind als mythologische Konstruktionen. An dieser Stelle verrennt sich laut Nietzsche das menschliche Denken al422 lein in insich aporetische Verantwortungsdilemmata. Demgegenüber modifiziert Nietzsche die Hypothesen vom freien und unfreien Willen in eine Gradualität der Repräsentation von Leben. Es gibt keinen freien oder unfreien Willen, sondern nur Stärke oder Schwäche in Konfrontation mit dem unendlichen Leben: »Der unfreie Wille ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und 423 schwachen Willen« . Von hier aus gesehen überrascht es weniger, dass Nietzsche seine Position im modus einer indirekten Auseinandersetzung mit Kant etabliert. Und zwar steht im Zentrum eine Auseinandersetzung mit der Kategorie der Kausalität. Bekanntlich hatte Kant bereits in der dritten Antinomie seiner ersten Kritik, der ›Kritik der reinen Vernunft‹, zwischen zwei differenten Kausalitäten unterschieden. Dabei handelte es sich um die Natur-Kausalität von Ursache und Wirkung und die Willens-Kausalität, als dem Vermögen, autonom durch Zwecksetzungen nicht weiter bedingte Kausalreihen zu initiieren.424 Die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ hat diese theoretische Grundla-
419 Nietzsche, JGB, I, 16., 5, 29. 420 Hier wird ein weiteres Mal evident, dass Sigmund Freud in Nietzsche einen Wegbereiter seiner Theorie erblicken konnte. Vgl. dazu unter B.III.2. 421 Zu Nietzsches Verständnis von Interpretation vgl. weiter unten. 422 Vgl. Nietzsche, JGB, I, 21. 5, 35. 423 Nietzsche, JGB, I, 22., 5, 37 (i. Orig. z.T. gesperrt; Hervorhebung v. Vf.). 424 Vgl. Kant, KrV, B471ff.
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ge dann zu einer Dualität von empirischer und intelligibler Welt ausgebaut. Und in der ›Kritik der Urteilskraft‹ schließlich hatte Kant den inneren Zusammenhang beider Welten ausgeleuchtet und – und nur das kann hier von Interesse sein – die Forderung aufgestellt, dass die Wirklichkeitserschließung primär durch die Naturkausaliät zu leisten sei und Zweckreflexionen im Sinne der Willens-Kausaltät erst einzusetzen habe, wo die kausalorientierte Perspektive ihre problematische Grenze 425 erreicht hat; für Kant waren dies organisierte Lebewesen. 426 Wie schon andere Denker vor ihm (und in gewisser Nähe zu Fichte ) reibt sich auch Nietzsche an diesem Zwei-Welten-Schnitt. In formeller Übereinstimmung mit Kant erhebt er dabei die Forderung, dass »[n]icht mehrere Arten von Causalität an[zu]nehmen [sind], so lange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszukom427 men, bis an seine äusserste Grenze getrieben ist« . In umgekehrter Denkrichtung zu Kant bezieht sich Nietzsche dabei jedoch nicht auf die Natur-Kausalität, sondern auf die Willens-Kausalität. Von einer weitreichenden Grundannahme aus etabliert Nietzsche im Aphorismus Nr. 36 dann eine Schlusskette, die ihn zu den angedeuteten monistischen Konsequenzen führt. Der Ausgangspunkt besteht darin, als das basale Realitätsphänomen »unsere 428 Welt der Begierden und Leidenschaften« anzunehmen. Diese lassen sich – wie Nietzsche im ›Zarathustra‹ vorbereitet hat – wegen ihrer Eigenschaft als Lebens429 funktionen als Ausdrucksphänomene des Willens zur Macht namhaft machen. Der Wille zur Macht war näherhin als formale Struktur Selbstüberwindung gekennzeichnet, die zweifellos Kausalitäts-Charakter besitzt. Gemäß der benannten methodischen Maxime, nämlich eine einzige Kausalität an ihre äußersten Grenzen zu treiben, ist es für Nietzsche nun ein Gebot des Gewissens der Methode, »den Versuch zu machen, [...] auch die so genannte mechanistische (oder materielle) Welt« von der Kausalitätsdimension des Willens zur Macht her zu verstehen. Um dies zu plausibilisieren, geht Nietzsche näher auf den Wirkcharakter des Willens zur Macht ein. Ist es anerkannt, dass der Wille zur Macht eine WirkKausalität besitzt und lässt sich diese in der Realität erheben, so ist unter der für Nietzsche evidenten Voraussetzung, dass »Wille [...] natürlich nur auf Wille wirk[t] – und nicht auf Stoffe«430, zu folgern, dass »alles mechanische Geschehen, insofern 431 eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist« . Von hieraus gelangt Nietzsche dann zu der (auch naturphilosophisch bemerkenswerten) Spit425 426 427 428 429
Vgl. dazu unter A.II.3. Vgl. Fichte, Sittenlehre 1798, §9., 11f. Nietzsche, JGB, II, 36., 5, 55. Nietzsche, JBG, II, 36., 5, 54. Vgl. dazu unter B.IV.1. Freilich sieht Nietzsche im in Frage stehenden Aphorismus, dass dies genauer zu zeigen wäre. Vgl. dazu den Satz aus dem Nachlass: »Unsere Triebe sind reduzierbar auf den Willen zur Macht. Der Wille zur Macht ist das letzte Faktum, zu dem wir hinunterkommen« (N August-September 1885, 40 [61], 661). 430 Nietzsche, JGB, II, 36., 5, 55. 431 Nietzsche, JGB, II, 36., 5, 55.
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zenforderung: »alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren intellegiblen Charakter hin be432 stimmt und bezeichnet – sie wäre eben Wille zur Macht und nichts ausserdem« . Damit hat Nietzsche einen Monismus etabliert, der drei wichtige Folgerungen im Hinblick auf die so genannte mechanistische Welt erlaubt: erstens die Vorstellung 433 nur »einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist« ; zweitens die Statuierung eines prinzipiell gleichen Realitätsranges von psychischer und mechanischer Welt und drittens die Feststellung gradueller und nicht fundamentalontologischer Differenzen zwischen psychischer und mechanistischer Welt. Letzteres stellt sich Nietzsche so vor, dass die mechanistische Welt zwar eine primitivere Gestalt des Willens zur 434 Macht darstellt, sich aber dafür durch eine höheres Maß an Einheit auszeichnet. Auf den ersten Blick mag diese monistische Konzeption eine abenteuerliche und vollkommen unplausible Denkfigur darstellen. Die verfolgte Evidenz dieses Gedankens erschließt sich denn auch erst unter Berücksichtung einer weiteren Annahme Nietzsches. Denn die gedankliche Entwicklung einer monistischen Kon435 zeption ist korreliert mit der These von der »Irrthümlichkeit der Welt« . Der Sache nach tauchte dieser Vorstellungskreis bereits in der ›Geburt der Tragödie‹ und zwar dort als Apollonischer Schein auf. War die Apollinische Umschleierung in der Geburtsschrift jedoch noch erlösende Gegenvision in Konfrontation mit dem Ur-
432 Nietzsche, JGB, II, 36., 5, 55 (i. Orig. z.T. gesperrt). 433 Nietzsche, JGB, V, 186., 5, 107 (Hervorhebung v.Vf.). Vgl. auch Nietzsche, N Juni–Juli 1885, 38 [12], 11, 610f. Es ist an dieser Stelle noch darauf hinzuweisen, dass Nietzsche im ausführlicher behandelten Aphorismus 36 aus ›Jenseits von Gut und Böse‹ seine monistische Position im Modus einer Gedankenhypothese einführt. Wie jedoch oben zitierte Formulierung sowie die Nachlassnotiz deutlich machen, kann Nietzsche diesen Gedanken auch als nicht-hypothetischen aussprechen. 434 Dass sich bei Nietzsche monistische Figuren im beschriebenen Sinne erkennen lassen, ist anerkannt. So spricht Volker Gerhardt mit Blick auf Nietzsche von einen »vorwissenschaftlichen Panpsychismus« (Gerhardt, Nietzsche, 183), Alexander Hogh von einer »monistische[n] Metaphysik der Macht« (Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 45) und Uvo Hölscher von einem »polaren Monismus« (Hölscher, Wiedergewinnung, 176; vgl. dazu auch Cancik, Nietzsches Antike, 77). Ebenfalls ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich in dieser Hinsicht ein Rückgriff auf Heraklit entdecken lässt. Zu Nietzsches Vorliebe für die vorsokratische Philosophie im Allgemeinen und der Heraklits im Besonderen vgl. Heller, Erich, Nietzsches Terror, 254f. Heller spricht in diesem Zusammenhang vom »Heraklit-gläubige[n] Nietzsche« (a.a.O., 255.). Vgl. dazu auch Gerhardt, Zum Willen zur Macht, 323 und Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 42. Hier sei zusätzlich darauf hingewiesen, dass sich nicht in Bezug auf die monistische Konstruktion als solche eine Parallele zu Heraklit ausmachen lässt (Vgl. dazu das Heraklit-Fragment 76: »ζῆι πῦρ τὸν ἀέρος θάνατον καὶ ἀήρ ζῆι τὸν πυρὸς θάνατον, ὕδωρ ζῆι τὸν γῆς θάνατον, γῆ τὸν ὕδατος« (Diels, 77). Auch im Hinblick auf die weiter unten noch genauer zu erörternden, moralphilosophischen Implikationen ist es möglich, z.T. erstaunliche Parallelen zu erheben. So kann im Kontext des Überwindungscharakters des Lebens als Willen zur Macht auf Fragment 53 verwiesen werden (»Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι« [Diels, 79]; vgl. dazu auch Cancik, Nietzsches Antike, 76]), Nietzsches These von Einerleiheit von Gut und und Böse steht in sachlicher Nähe zum 58. Fragment (»καὶ ἀγαθὸν καὶ κακόν« [Diels, 75]) und die Lehre vom Übermenschen scheint im Fragment 49 anzuklingen (»εἷς ἐμοὶ μύριοι, « [Diels, 73]). 435 Nietzsche, JGB, II, 34., 5, 53 (i. Orig. z.T. gesperrt).
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Einen, so erscheint sie in ›Jenseits von Gut und Böse‹ mit in den monistischen Ansatz integriert. Der Schein und mit ihm die Irrtümlichkeit der Welt sind konstitutive Momente der monistischen Konstruktion von Wirklichkeit. Hinter der notwendig scheinhaft konzeptualisierten Wirklichkeit lässt sich nichts Erscheinendes postulieren. Welt ohne Schein gibt es im strengen Sinne nicht; genauso wenig wie 436 harte Tatsachen. Der Monismus der Wirklichkeit ist fiktional und zwar notwendig fiktional. Dies hält Nietzsche jedoch für unproblematisch. Lapidar fragt er: »Wa437 rum dürfte die Welt, die uns etwas angeht, nicht eine Fiktion sein?« . Der fiktional-monistische Zugriff auf Wirklichkeit wirft ein weiteres Licht auf den mitgeführten Lebensbegriff. Auf wieder wenigstens drei Dinge ist aufmerksam zu machen: Zum ersten wird hier vollends deutlich, dass das Leben für Nietzsche einen Spezialfall der basalen Struktur des Willens zur Macht repräsentiert. Der Wille zur Macht ist das fundamentale metaphysische Parameter, und das Leben – wie Nietzsche in ›Jenseits von Gut und Böse‹ im Rückgriff auf die zeitgenössische Bio438 logie apostrophiert– als Inbegriff »organischen Prozesse« verhält sich zu ihm als Spezialfall, der wesentlich durch »Selbst-Regulierung, Assimilation, Ernährung, 439 Ausscheidung [und] Stoffwechsel« ausgezeichnet ist. Wie bereits festgehalten, sind diese Funktionen als Triebe nach Nietzsche allesamt Erscheinungen des Willens zur Macht. Auch Tiere sind deshalb ob dieser Funktionen und ihres Triebhaushaltes als – freilich graduell abgestufte – Repräsen440 tanten des Willens zur Macht anzusprechen. Und folgerichtig erscheint die mechanistische Welt, in der in diesem Sinne nicht-organisierte Kraftvektoren als Aus441 drucksphänomene des Willens zur Macht wirken als eine »Vorform des Lebens« . Ihnen gegenüber erweist sich selbstmächtiges menschliches Leben als Geist und 442 zwar in dem schon benannten Sinne eines freien Geistes , der überdies als etwas 443 Aneignendes und Überwältigendes erkennbar wird. Damit wird zweitens der interpretative Charakter des Lebens augenscheinlich. Das Leben als formale
436 Vgl. die Nachlassnotiz von 1886: »Thatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen« (Nietzsche, N Ende 1886–Frühjahr 1887, 7 [60], 12, 315). Vgl. dazu auch die These aus der Fröhlichen Wissenschaft: »Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen.« (FW, 3. (108), 3, 467). Zum Theorem des Irrtums resp. Scheins vgl. auch ausführlicher Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 231; Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 56ff.; Rethy, Schein, 59–67 und Zittel, Irrtum und Schein, 258. 437 Nietzsche, JGB, II, 34., 5, 54. 438 Nietzsche, JBG, II, 36., 5, 54. 439 Nietzsche, JBG, II, 36., 5, 55. 440 Vgl. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 166: »Die Macht wird [...] nicht allein für den Menschen reserviert; auch die Tiere und die physischen Kräfte üben Macht aus«. 441 Nietzsche, JGB, II, 36., 5, 55. 442 Nietzsche, Vgl. JGB, IV, 87., 5, 89; VII, 219., 5, 154; IX, 286., 5, 232. Vgl. auch Nietzsche, AsZ, II, Von den berühmten Weisen, 4, 134: »Geist ist das Leben, das selbst in’s Leben schneidet«. Dieser Satz ist dann für Tillich im Frühwerk von Bedeutung geworden. Vgl. dazu unter D.IV.2. 443 Vgl. JGB, VII, 230., 5, 167: »Die Kraft des Geistes, sich Fremdes anzueignen«.
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Struktur Selbstüberwindung im Willen zur Macht erscheint vor dem Hintergrund der Einsicht in den Irrtums-Charakter der Welt als selbstmächtiges Ergreifen resp. Auslegen der Welt. Das bedeutet näherhin, dass das in der Struktur Selbstüberwindung angelegte Strebe- und Wertungsmoment wesentlich eine aneignende Auslegung darstellt. Wie schon im ›Zarathustra‹ sichtbar wurde, besteht die originäre Leistung des Lebens im Werten und Schätzen. Der interpretative Zugriff auf die Welt vollzieht sich also primär im selbstmächtigen Setzen von Werten, mit dem Ziel, die eigene Selbstmächtigkeit permament zu steigern. Dabei wird sichtbar, dass solchem Leben auch bestimmte Grausamkeiten inhärent sind.444 Dies führt drittens auf die Einsicht einer Perspektivität des Lebens oder wie es im Nachlass 445 heißt eines »Perspektivismus« . Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von 446 der »Perspektiven-Optik des Lebens« und das meint, dass der interpretative Zugriff auf die Welt im Idealfall allein aus der Perspektive des selbstmächtigen Individuums erfolgt. Die Welt als Gefüge von Machtvektoren erweist sich so als unendlich perspektivisch, wobei die perspektivischen Machtvektoren freilich wiederum graduell abgestuft sind. Die genannten Zusatzkonnotationen des Lebensbegriffs (Spezifität, Interpretation und Perspektivität) endlich schärfen auch dessen ethische Dimensionen. Wurde in ›Also sprach Zarathustra‹ die schenkende Tugend als Inbegriff der Nietzsche vorschwebenden Tugendlehre eingeführt, erscheint diese Tendenz verschärft, indem sie immer mehr zu einer Generalabrechnung mit den bestehenden Tugenden heranwächst. Vor dem Hintergrund der bereits entwickelten Idee, dass es das entscheidende Charakteristikum der schenkenden Tugend ist, in der Selbstüberwindung im Willen zur Macht selbstmächtig Werte zu setzen, erkennt Nietzsche den Grundfehler aller bisherigen Moralen darin, gerade nicht dem intendierten individuellen oder egoistischen Moment Rechnung zu tragen, sondern mit intersubjektiver Verbindlichkeit auftreten zu wollen. Eine solche »Moral für Alle«447 resp. »[j]ede unegoistische Moral«448 uniterminiert nach Nietzsche geradezu das ihm vor Augen stehende Tugendmodell, indem es deren Voraussetzung, eben die Selbstüberwindung im Willen zur Macht – kurz das Leben als Wille zur Macht – radikal beeinträchtigt. Dies führt Nietzsche schließlich zu einer weit reichenden 444 »Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung« (JGB, IX, 259., 5, 207 [i. Orig. teilw. gesperrt]). Zur Ausbeutung vgl. Nietzsche, JGB, IX, 259., 5, 207f. 445 Nietzsche, N Ende 1886–Frühjahr 1887, 7 (60), 12, 315. Zum Begriff der Perspektive bei Nietzsche vgl. Zittel, Perspektivismus, 299ff. Der Sache nach finden sich bereits in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ erste Ausführungen zur Perspektivität. Wichtig hierbei ist, dass es Interpretation mit einer Durchsetzungskompetenz des Lebens zu tun hat. 446 Nietzsche, JGB, I, 11., 5, 26. 447 Nietzsche, JGB, VII, 228., 5, 165. Vgl. auch Nietzsche, JGB, VII, 221., 5, 156: Laut Nietzsche muss man sich »darüber in’s Klare kommen, das es unmoralisch ist, zu sagen, was dem Einen recht ist, das ist dem Anderen billig« (i. Orig. z.T. gesperrt). 448 Nietzsche, JGB, VII, 221., 5, 156.
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systematischen Differenz. Er unterscheidet im Folgenden konsequent zwischen 449 Sklavenmoral und Herrenmoral. 450 Die Sklavenmoral erstens ist laut Nietzsche »wesentlich Nützlichkeits-Moral« . Nützlich ist sie insofern, als dass sie primär die Funktion besitzt, »den Druck des 451 Daseins auszuhalten« . Sie operiert mit dem Gegensatzpaar gut und böse. Als gut gelten ihr Eigenschaften wie Mitleid, Hilfsbereitschaft, Demut und Freundlichkeit, die allesamt dazu dienen, das Dasein allein zu bewältigen, aber nicht tätig zu gestal452 ten. Böse ist für die Sklavenmoral im Gegenteil alles das, was Wirklichkeit machtvoll und mit der oben angesprochenen Verachtung und Grausamkeit gestaltet. Dies betrifft genau denn die Herrenmoral. Sie – explizit als eine die »schenken 453 und abgeben möchte« eingeführt – operiert nicht mit der Duplizität von gut und böse, sondern – eben jenseits von Gut und Böse – mit der von gut und schlecht, wobei diese gleichzusetzen ist mit der von vornehm und verächtlich: »Der vornehme Mensch trennt die Wesen von sich ab, an denen das Gegenteil [...] gehobe454 ner stolzer Zustände zum Ausdruck kommt: er verachtet sie« . Die genannten gehobenen Zustände meinen exakt solche, in denen aus der Selbstüberwindung im Willen zur Macht Werte selbstmächtig geschaffen werden. Die Differenz zwischen Herren- und Sklavenmoral wirft endlich ein neues Licht auf die Tugendlehre des Lebens. Die schenkende Tugend entpuppt sich als Tugend des Vornehmen und dieser als Herrschender, d.h. Werteschaffender. Lebenstugenden werden so als Herren- oder auch Aristokratentugenden erkennbar. Als grundlegende Herren-Tugend erscheint in ›Jenseits von Gut und Böse‹ die Redlichkeit.455 Vor dem Hintergrund, dass sie Tugend des Vornehmen oder des Aristokraten ist, wird sie zunächst dezidiert abgegrenzt von jedweder Tugend im Sinne 456 eines Etiketts. Vielmehr ist sie völlig dünkelfreie Wahrhaftigkeit des selbstüberwundenen Herrschenden und das meint: »die Bereitwilligkeit zu grossen Verantwortungen, die Hoheit beherrschender Blicke und Niederblicke, das Sich-Abgetrennt fühlen von der Menge und ihren Pflichten und Tugenden, das leutselige Beschützen und Vertheidigen dessen, was missverstanden und verleumdet wird, sei es Gott, sei des der Teufel, die Lust und Übung in der grossen Gerechtigkeit, die
449 Diese Typologisierung begegnet erstmals in einer Nachlassnotiz aus dem Jahr 1883 (Vgl. Nietzsche, N Frühjahr–Sommer 1883 7 [22] 10, 245f.). 450 Nietzsche, JGB, IX, 260., 5, 211. 451 Nietzsche, JGB, IX, 260., 5, 211. Dafür wird Nietzsche später eine Theorie des asketischen Ideals entwickeln. Vgl. unter B.IV.2.2. 452 Zu neueren Ansätzen in der Erforschung der Phänomenalität von Mitgefühl vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Einsichten vgl. Klein, Phänomenalität von Mitgefühl, 19ff. 453 Nietzsche, JGB, IX, 260., 5, 209. 454 Nietzsche, JGB, IX, 260., 5, 209. 455 Vgl. Nietzsche, JGB, VII, 227., 5, 162f. 456 Vgl. Nietzsche, JGB, VII, 227., 5, 163: Sie ist »nicht unsere Eitelkeit, unser Putz und Prunk«. Vgl. auch Nietzsche, JGB, VII, 230., 5, 169 und IX, 295., 5, 238.
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Kunst des Befehlens, die Weite des Willens, das langsame Auge, welches selten be457 wundert, selten hinaufblickt, selten liebt ....« . In ›Jenseits von Gut und Böse‹ ist eine Tendenz erkennbar, in dieser Position ei458 ne zukünftige Riege von Philosophen zu sehen. Als Prototyp eines solchen Philosophen erscheint am Schluss der Schrift überraschend Dionysos, als dessen »letz459 460 te[n] Jünger und Eingeweihte[n]« Nietzsche sich selbst zu erkennen gibt. Mit diesem Gedanken, v.a. aber mit der Differenz von Sklaven- und Herrenmoral, mit der Nietzsche die eingangs eingeführte These einlöst, dass »Moral als Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen verstanden [werden muss], unter denen das Phä461 nomen Leben entsteht« , ist der zentrale Ausgangspunkt der ›Genealogie der Moral‹ berührt. Auf diese Schrift soll im Folgenden knapp eingegangen werden. IV.2.2
Die ›Genealogie der Moral‹
Um es vorweg zu schicken: Die ›Genealogie der Moral‹ trägt zur Verdeutlichung des Lebensbegriffs Nietzsches und dessen ethischer Konnotationen vergleichsweise wenig bei, was über ›Jenseits von Gut und Böse‹ hinausgeht. Vielmehr liegt die ›Genealogie der Moral‹ ganz in der Phalanx der vorausgehenden Schrift und dient, 462 wie es im Nachlass heißt, primär deren Ergänzung und Verdeutlichung. Dennoch kann die ›Genealogie der Moral‹ »als wichtigste seiner moralkritischen Schrif463 ten gewertet werden« , wobei der Akzent auf der Moralkritik liegt. Grob gesehen, geht es in der ›Genealogieschrift‹ um eine »Kritik der moralischen Werthe« resp.
457 JGB,VI, 213., 5, 149 (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. auch Nietzsche, JGB, VI, 212., 5, 147: »der soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, er Herr seiner Tugenden, der Überreiche des Willens; dies eben soll Grösse heissen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können« (i. Orig. z.T. gesperrt). 458 »Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen so soll es sein!, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, – sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr Erkennen ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht. – Giebt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben? ....« (Nietzsche, JGB, VI, 211., 5, 145 [ i. Orig. z.T. gesperrt]). 459 Nietzsche, JGB, IX, 295., 5, 238. 460 Vgl. dazu Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 317ff. Damit wird gleichermaßen deutlich, dass Dionysos nun vollends von der ästhetischen auf die ethische Ebene gerückt wird. Vgl. dazu Colli, Jenseits von Gut und Böse, 416. 461 Nietzsche, JGB, I, 19., 5, 33f. 462 Vgl. zum Verhältnis von ›Jenseits von Gut und Böse‹ und der ›Genealogie der Moral‹ Stegmaier, Nietzsches Genealogie, 40ff. 463 Gerhardt, Nietzsche, 54.
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um die Frage nach dem »Werth d[]er Werthe« , die durch Aufhellung der Entste465 hungsbedingungen und -umstände (»Herkunfts-Hypothesen« ) beantwortet wird. Ausgangsthese dabei ist, dass Moral richtig verstanden eine Abschattung von Herrschaftsverhältnissen repräsentiert, die ihrerseits in Form von vornehmen Werturteilen Ausdrucksphänomen von Machtkonstellationen im Sinne des Lebens als Willen zur Macht ist. Vor diesem Hintergrund geht Nietzsche dann dem Problem nach, wie der von ihm beobachtete »Niedergang aristokratischer Werthurthei466 le« möglich war. Denn nach dem von Nietzsche kritisierten Verständnis von Moral versteht sich diese gerade nicht als Ausdruck des Machtwillens, sondern als Eindämmung von Machtexpression, die selbst wiederum Machtcharakter zeitigt. Diese Aporie kann nur durch eine Selbstaufhebung der Moral aufgelöst werden, die 467 sich nach Nietzsche durch eine Aufhellung ihrer Genealogie nahe legt. Buchtechnisch betrachtet besteht die Schrift aus einer Vorrede und drei Hauptteilen. Der erste Hauptteil erklärt vor dem Hintergrund der benannten Differenz von Herren- und Sklavenmoral die Entstehung der Letzteren mit einer Theorie des Ressentiments. Das Ressentiment ist dabei eine hochkomplexe psychische Gemengelage von reaktiven Affekten (v.a. Rache, Neid, Hass und Argwohn) gegen die aktiven Affekte der aristokratischen Moral, die in einer »Umkehrung des 468 469 werthesetzenden Blicks« zum Stehen kommt. Im Judentum erstmals aufgekommen, gelangt es nach Nietzsche im Christenthum vollends zur Herrschaft. Entsprechend kann Nietzsche den ersten Hauptteil in ›Ecce homo‹ als »Psychologie des Christentums: die Geburt des Christentums aus dem Geiste des Ressenti470 ments« bezeichnen. Der zweite Hauptteil spezifiziert diese These dann im Hinblick auf das Gewissen, das mitnichten als innere Stimme Gottes im Menschen angesprochen werden kann, sondern aus der Perspektive des Ressentiments als eine Nach-Innen-Wendung der aktiven Affektionen des Herrschaftsinstinktes (v.a. Herrschsucht, Habsucht, Egoisimus, Grausamkeit, Verachtung) begriffen werden 471 muss, die sich als Schuld oder schlechtes Gewissen repräsentieren. Im (christlichen) Staat erscheinen diese Regungen in Form von Gerechtigkeitsvorstellungen konzeptualisiert. Im dritten Teil wird in Gestalt des asketischen Ideals das ideologische Fundament der Perpetuierung der Wertverkehrung thematisch. Es sind hierbei v.a. der asketische Priester und die Wissenschaft, die mit lebensabständi-
464 465 466 467 468 469
Nietzsche, GdM, Vorrede, 6., 5, 253 (i. Orig. z.T. gesperrt). Nietzsche, GdM, Vorrede, 4., 5, 251. Nietzsche, GdM, I, 2., 5, 260 (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. Stegmaier, Nietzsches Genealogie, 54f. Nietzsche, GdM, I, 10., 5, 271. Zu Nietzsche Theorie des Ressentiments vgl. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 181f. und Skirl, Ressentiment, 312f. 470 Nietzsche, EH, Genealogie der Moral, 5, 352. 471 Vgl. Nietzsche, GM II, 11., 5, 309ff. und v.a. Nietzsche, GdM, II, 16., 5, 322ff.; Nietzsche, EH, Genealogie der Moral, 6, 352. Vgl. dazu Kerger, Gewissen, 244f.
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gen Sinnvorgaben die Verkehrung aufrecht erhalten. Indem sie sich redlich durch472 schauen, münden sie in einer Selbstaufhebung der etablierten Moral. Die bis hierher erarbeiteten Konnotationen des Lebensbegriffs werden im Zuge der Entwicklung der genannten Thesen unverändert mittransportiert. Weiterführendes ergibt sich hinsichtlich der Konzentration auf den Leidenscharakter des 473 Lebens. Bereits in der ›Tragödienschrift‹ hatte Nietzsche das irrational-vitale Ur474 Eine als »das ewig Leidende und Widerspruchsvolle« gekennzeichnet. Und Zara475 thustra war als Fürsprecher des Lebens auch »Fürspecher des Leidens« . Lag es in der Flucht des ›Zarathustra‹, das Leiden durch Selbstüberwindung im Willen zur 476 Macht Werte schaffend zu überwältigen, so erkennt Nietzsche nun im Zuge seiner Moralkritik einen gefährlichen Zugang zum Leidenscharakter des Lebens, der genau die von ihm intendierten aktiven Überwindungstendenzen zu unterminieren 477 droht: das asketische Ideal. Das asketische Ideal ist für Nietzsche allgemein gesprochen der mehr oder weniger erfolgreiche Versuch, den offenkundigen Leidens- und Sinnlosigkeitserfah478 rungen des Lebens einen Sinn zu geben. Dies weist Nietzsche in einzelnen Abhandlungen anhand des Künstlers, des Philosophen, des Priesters und des Wissen479 schaftlers nach. Die von Nietzsche gesehene Gefährlichkeit des asketischen Ideals liegt dabei weniger in dem fast notwendigen Versuch, angesichts von Leidenserfahrungen Sinnstrukturen zu etablieren, als darin, dass sich im asketischen Ideal (z.B. in der christlichen Leib- und Lustfeindlichkeit in Hoffnung auf paradie480 sische Freuden oder der selbstaufopfernden Nächstenliebe ) einerseits ein gestörtes Verhältnis zur Sinnlichkeit und den Lebensinstinkten aufbaut und andererseits dennoch darin – freilich in degenerierter Gestalt – sich der Wille zur Macht Aus481 druck verschafft. Denn dies ist für Nietzsche der eigentliche »Selbstwiderspruch« und gleichzeitig der Grund des Erfolgs des asketischen Ideals, dass es eben den Willen zur Macht gegen sich selbst wendet oder wie Nietzsche schreibt »Kraft ge482 brauch[t], um Quellen der Kraft zu verstopfen« . Denn das asketische Ideal in diesem negativen Sinne ist auf der einen Seite sehr wohl ein »Kunstgriff in der Erhal472 Vgl. Stegmaier, Nietzsches Genealogie, 56. 473 »Der Wille zur Macht bringt das Leiden mit sich, das ist die schreckliche Erkenntnis, die Nietzsche dionysische nennt« (Colli, Jenseits von Gut und Böse – Zur Genealogie der Moral, 417). 474 Nietzsche, GdT, 4., 1, 38. Vgl. dazu unter BII.2.2. 475 Nietzsche, AsZ, III, Der Genesende 1., 271. Vgl. dazu unter B.IV.1. 476 »Ich überwand mich den Leidenden, ich trug meine Asche zu Berg, ein hellere Flamme erfand ich mir« ( Nietzsche, AsZ, Von den Hinterweltlern, 4, 36.). Vgl. dazu unter B.VI.1. 477 Vgl. dazu Caysa, Asketismus, 195ff.; Gerhardt, Nietzsche, 155ff.; Nietzsche Research Group, Askese, 155–173; Scott, Question of Ethics, 13ff.; Steinmann, Ethik Friedrich Nietzsches, 82f.; Stegmaier, Nietzsches Genealogie, 169ff. 478 Vgl. Nietzsche, GdM III, 28., 5, 411. 479 Vgl. dazu ausführlich Stegmaier, Nietzsches Genealogie, 173–208. 480 Vgl. Nietzsche, GdM, III, 11., 5, 361f. 481 Nietzsche, GdM, III, 11., 5, 363. 482 Nietzsche, GdM, III, 18., 5, 383.
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tung des Lebens« , insofern es »den Schutz- und Heil-Instinkten eines degenerier484 ten Lebens« entspringt. In dieser Hinsicht kann das asketische Ideal sehr wohl als 485 Ausdruck des Willens zur Macht interpretiert werden. Da es aber eben ein degeneriertes Leben betrifft, das das leidende und schwache Leben – und nicht das starke und gesunde – bejaht, indem es Leib- und Weltflucht (»Armuth, Demuth, 486 Keuschheit« ) etabliert, richtet es sich als Funktion des (kranken) Lebens gegen das Leben selbst; es wird in Bezug auf das Leben zum nihilistischen Ideal: Es steht 487 dann »Leben gegen Leben« , was für Nietzsche zum Schluss auf nichts anderes als 488 »Widersinn« herauskommt. Aus ihnen abgeleitete Tugenden sind »lebensvernei489 490 nende Tugenden« , denen der »Wille für Mensch und Erde« abhanden gekommen ist. Einem solchen in seinen Augen unsinnigen asketischem Ideal stellt Nietzsche im Rückgriff auf die griechische Philosophie ein positives asketisches Ideal entgegen. Dies ist in der ›Genealogie der Moral‹ jedoch nur angedeutet und erst im Nachlass finden sich entsprechende Anknüpfungspunkte. Auf die griechische ἄσκησις im ursprünglichen Sinne rekurrierend, plädiert Nietzsche für eine natürliche Askese, die sich in Übereinstimmung mit den basalen Vitalinstinkten weiß. Askese meint dabei ganz im Sinne des griechischen ἀσκεῖν das Üben einer Tugend, was Nietzsche aber auf die von ihm anvisierte Tugendlehre hin konzentriert.491 Vor dem Hintergrund seiner Lehre vom Willen zur Macht bedeutet Askese eine »Gymnastik 492 des Willens« , die insofern noch mit etwas mit den kritisierten Konzeptionen ge493 meinsam hat, als dass es um ein »freiwilliges Sich-Versagen« geht. Allerdings ist dieses Sich-Etwas-Versagen insofern in Übereinstimmung mit der Selbstüberwindung im Willen zur Macht konzipiert, als es sinnliche Lebenstriebe und Instinkte nicht vermeidet, sondern im Horizont des Willens zur Macht die »Ja-schaffenden 494 Gewalten des Lebens« möglichst effektiv koordiniert. Es geht Nietzsche dabei in 483 Nietzsche, GdM, III, 13., 5, 366 (i. Orig. z.T. gesperrt). 484 Nietzsche, GdM, III, 13., 5, 366 (i. Orig. gesperrt). 485 »[D]er asketische Priester verordnet damit, dass er Nächstenliebe verordnet, im Grunde eine Erregung des stärksten, lebenbejahendsten Triebes, wenn auch in der vorsichtigsten Dosirung, – des Willens zur Macht« (Nietzsche, GdM, III, 18., 5, [i. Orig. z.T. gesperrt]). 486 Nietzsche, GdM III, 8., 5, 252. 487 Nietzsche, GdM III, 12., 5, 365 (i. Orig. z.T. gesperrt). 488 Nietzsche, GdM III, 12., 5, 365. 489 Nietzsche, GdM III, 23., 5, 396. 490 Nietzsche, GdM III, 28., 5, 411. 491 Das Wort ἀσκεῖν wird bei Homer zunächst im Sinne eines technischen und künstlerischen Bearbeitens verstanden, meint dann v.a. bei Xenophon die athletischen Übungen eines Sportlers, um dann von Philo in die theologische Ethik als geistige Übung importiert zu werden. Im Neuen Testament taucht der Begriff nur einmal auf (Act 2416), spielt aber in der chrtistlichen Literatur von den Apostolischen Vätern an eine nicht unbedeutende Rolle (vgl. Windisch, Art. ἀσκέω, 494– 496; Nietzsche Research Group, Nietzsche-Wörterbuch – Art. Askese, 165f.). 492 Nietzsche, N Herbst 1887, 9 [93], 12, 387. 493 Nietzsche, N Herbst 1887, 9 [33], 12, 350. 494 Nietzsche, GdM III, 13., 5, 366 (i. Orig. z.T. gesperrt).
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erster Linie um eine Aufstauung und Konzentration der basalen Lebendigkeit, um ihr dann in der Expression des Willens zur Macht »Gefährlichkeit und grossen 495 Stil« geben zu können. Gleichzeitig wird mit dieser Aufstauung einer sorglosen 496 »Verschwendung unserer Leidenschaft und Begierden« vorgebaut. Die Askese 497 bekommt damit keinen Selbstwert, sondern als »Durchgangs-Schule« ist »Asketik 498 499 [...] Mittel der Macht« und »Vorbereitung zum Schaffen« . Dieses von Nietzsche anvisierte positiv-natürliche asketische Ideal präzisiert die verfolgte Tugendlehre nun insofern, als der bislang immer betonte Aktionismus des Schaffenden relativiert wird. Die im strengen Sinne schaffende Expression des Willens zur Macht ist nunmehr flankiert durch einen vorbereitenden und unterbrechenden Asketismus, der einer Betonung des Leidenscharakters des Lebens korrespondiert. An dieser Stelle kann direkt zur ›Götzen-Dämmerung‹ übergegangen werden. Nicht nur, weil das Motiv des Leidens in seinem Zusammenhang zur Tugend in einem im Vorwort offen gelegten Wahlspruch direkt aufgenommen wird (»increscunt animi, virescit volnere virtus«500), sondern auch, da die ›GötzenDämmerung‹ ähnlich wie die ›Genealogie der Moral‹ in Bezug auf den Lebensbegriff und dessen ethische Implikationen thetisch weniger Neues bringt, sondern in erster Linie explikativen Charakter zeigt. IV.2.3
Die ›Götzen-Dämmerung‹
Die ›Götzen-Dämmerung‹ – sie entstand gemäß ›Ecce homo‹ in nur wenigen Tagen 501 des Sommers 1888 in Sils-Maria im Ober-Engadin – verstand Nietzsche selbst als 502 eine »Gesamteinführung in [s]eine Philosophie« . Entsprechend weit sind die Themen gestreut. Die Schrift selber besteht aus zehn Teilen, gerahmt durch ein Vorwort sowie einen Auszug aus ›Zarathustra‹ (›Der Hammer redet‹). Von den zehn Teilen sind sieben kürzere Abhandlungen, die v.a. Metaphysik, Moral, Religion und Politik betreffen, hinzu treten die Aphorismussammlungen ›Sprüche und 495 Nietzsche, N Herbst 1885–Herbst 1886, 2 [21], 12, 75. Vgl. auch N Frühjahr 1884, 25 [24], 11, 18: »Der Ascetism als Mittel, unsere Neigungen zu concentieren und zu stauen«. 496 Nietzsche, N Herbst 1885–Herbst 1886, 2 [21], 12, 75. 497 Nietzsche, N Frühjahr 1888, 15 [117], 13, 476. 498 Nietzsche, N Ende 1886–Frühjahr 1887, 7 [5], 12, 271 (i. Orig. z.T. gesperrt). 499 Nietzsche, N November 1882–Februar 1883, 4 [51], 10, 124 (i. Orig. gesperrt). 500 Vgl. dazu auch die Formulierung aus der ›Fröhlichen Wissenschaft‹: »Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, als der Lehrmeister des grossen Verdachtes [...]. Erst der grosse Schmerz, jener lange, langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt werden, zwingt uns Philosophen, in unsre letzten Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmütige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz verbessert –; aber ich weiss, dass er uns vertieft. [...] Das Vertrauen zum Leben ist dahin: das Leben selbst wurde zum Problem« (FW, Vorrede [3], 3, 350 [Hervorhebungen i. Orig.]). 501 Vgl. Nietzsche, EH, Götzen-Dämmerung, 1., 6, 254. 502 Nietzsche, KSB, 9, 9. Vgl. dazu auch Brusotti, Von Zarathustra bis Ecce homo, 131.
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Pfeile‹ sowie ›Streifzüge eines Unzeitgemässen‹ und endlich eine ›Fabel über die 503 wahre Welt‹. Insgesamt ist es auch hier wieder der habitus des Psychologen, mit dem Nietzsche in erster Linie auftritt. Auffällig ist in dieser Beziehung der häufige Gebrauch physiologischer und psychiatrischer Termini, die sich einer vertieften Kenntnisnahme entsprechender Literatur (v.a. Charles-Sansons Féré) verdan504 ken. Die im Titel angesprochenen Götzen meinen, wie Nietzsche wiederum in ›Ecce homo‹ mitteilt, dasjenige, was bis anhin unter dem Begriff Wahrheit firmierte: »Götzen-Dämmerung – auf deutsch: es geht zu Ende mit der alten Wahr505 heit ...« . Das macht auf den hochprolemischen Charakter der kleinen Schrift 506 aufmerksam, die Nietzsche auch als »grosse Kriegserklärung« bezeichnet. Die Polemik bringt es dabei mit sich, dass sich die Ausführungen in erster Linie als Kritik gerieren. Für den hier in Frage stehenden Zusammenhang sind v.a. zwei parallele Tendenzen interessant. Zum einen die Tendenz zu einer finalen Dionysierung des Lebens. Diesem entspricht auf der anderen Seite eine Naturalisierung der Moral, die an das dionysische Leben rückgebunden ist. Was das erste betrifft, so konnte schon in ›Jenseits von Gut und Böse‹ Nietzsche 507 von sich sagen, er sei der »letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos« . In der ›Götzen-Dämmerung‹ heißt es entsprechend: »ich, der letzte Jünger des Phi508 losophen Dionysos, – ich der Lehrer der ewigen Wiederkunft« . Die damit angezeigte zunehmende Identifizierung mit dem Gott Dionysos, die biographisch den 509 schleichenden Übergang zum Wahnsinn markiert, entspricht einer sachlichen Identifizierung des Lebens selbst mit Dionysos als dessen Exponenten Nietzsche 510 sich selbst mehr und mehr glaubt. Der Lösungsprozess steht dergestalt an einem 511 Ende, als dass Nietzsche das »wahre Leben« als Leid einschließende Selbstüberwindung im Willen zur Macht frei als ewige Wiederkehr des Gottes Dionysos interpretiert. Für das Leben bedeutet dies Folgendes: Mit der Dionysierung knüpft Nietzsche bewusst oder unbewusst an einen Gedanken der ›Tragödienschrift‹ an. Das Ur-Eine 512 als das essentiell Vitale wird als die »Hieroglyphe Dionysos« in der Brechung der Macht- und Wiederkunftslehre zum Integral ewiger, kraftvoll-schöpferischer, sich selbst immer überwindender und steigernder Lebenseruptionen, die Nietzsche
503 Vgl. dazu die ausführliche Zusammenfassung von Brusotti (Brusotti, Von Zarathustra bis Ecce homo, 131f.). 504 Vgl. Brusotti, Von Zarathustra bis Ecce homo, 131. 505 Nietzsche, EH, Götzen-Dämmerung, 1., 6, 354 (i. Orig. z.T. gesperrt). 506 Nietzsche, GD, Vorwort, 6, 58 (i. Orig. gesperrt). 507 Nietzsche, JGB IX, 295., 5, 238. 508 Nietzsche, GD, Was ich den Alten verdanke 5., 6, 160. 509 Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 318. 510 Tom Kleffman bringt dies auf die Formel: »Dionysos als Wesen des Lebens« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 331. Vgl. auch a.a.O., 232f.). 511 Nietzsche, GD, Was ich den Alten verdanke, 6., 159 (i. Orig. z.T. gesperrt). 512 Nigg, Nietzsche, 91.
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schließlich nur noch mit orgiastischen Konnotationen versehen kann. Der dionysische Mensch ist die Inkarnation des Gottes Dionysos, der diese Lebensexplosio514 nen als »ewige Lust des Schaffens« verwirklicht. Dies führt unmittelbar auf die Ethik. Hier sind einige Verschiebungen zu beobachten. Grundsätzlich gilt zwar noch alles, was Folge selbstüberwindender Willensexpression ist, als Tugend, sei es als Gutes oder Böses angesehen. »Alles Böse, das vom starken Willen bedingt ist [...] 515 entartet, in unserer lauen Luft zur Tugend« . Und insofern die Selbstüberwindung im Willen zur Macht in einer Anheimstellung an das Leben als Willen zur Macht fundiert ist, kann die grundlegende Lebenstugend als Bejahung des Lebens beschrieben werden. Hier schattet sich der seit dem ›Zarathustra‹ eingetragene Monismus in seiner elementarsten Gestalt auf die Tugendlehre des Lebens ab: »Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und geweiht; das triumphirende Ja zum Leben über Tod und Wandel 516 hinaus« . Allerdings ist es nun auffällig, dass Nietzsche offensichtlich an einer weiteren Entdifferenzierung im Sinne einer Tugendlehre nicht weiter interessiert ist. Die basale Tugend der Lebensbejahung wird vielmehr hineingeführt in eine Naturalisierung der Moral. Das bedeutet wesentlich zweierlei: Einmal, dass die Moral im recht verstandenen Sinne von den Instinkten des Lebens selbst beherrscht werden soll. Hier traut Nietzsche dem Leben, und gemeint ist immer das gesunde und kräftige Leben, eine instinktive Orientierungskompetenz zu, wie sie bereits im ›Zarathustra‹ als immanente Eigendynamik anklang. Zentrum dabei ist, wie es im Nachlass heißt, ein »Natur-Imperativ«517. Dieser Natur-Imperativ ist nicht zu verwechseln mit dem Imperativ lebensfeindlicher Moral und Religion, der in Nietzsches Lesart 518 lautet: »Thue das und das, lass das und das – so wirst du glücklich« . Der NaturImperativ im Gegenteil ist Explikat des kräftigen Lebenswillens resp. -instinktes selbst; und zwar im Sinne des bereits im Frühwerk angetroffenen Imperativs Sei 519 Leben! , nur thetisch präzisiert durch die hinzugewonnenen Konnotationen des Lebensbegriffes (Ewigkeit, Selbstüberwindung im Willen zur Macht, Perspektivität, Interpretativität, Leidenscharakter). Dahinter steht die Vorstellung, dass das Leben selbst imperativischen Charakter besitzt. Dieser instinktiv erlebbare Imperativ-Charakter des Lebens lässt sich nach der ›Götzendämmerung‹ endlich durch 513 Vgl. Nietzsche, N Herbst 1883, 10, 506: »Wo Lebendiges ist, da giebt es plötzliche Explosionen von Kraft«. 514 Nietzsche, GD, Was ich den Alten verdanke, 4., 6, 159. 515 Nietzsche, GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 18., 6, 123. 516 Nietzsche, GD, Was ich den Alten verdanke, 4., 6, 159 (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl auch »die grossen Selbstbejahungen des Willens zum Leben (Nietzsche, GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 21., 6, 125). 517 Nietzsche, N Herbst 1887, 9 [27], 12, 348 (i. Orig. gesperrt). 518 GD, Die vier grossen Irrthümer, 2., 6, 89. 519 Vgl. dazu unter B.II.1. Vgl. Nietzsche, GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 39., 6, 141: Dort nennt Nietzsche in einem Atemzug »Wille, Instinkt, Imperativ«.
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einen moralischen »Kanon von Soll und Soll nicht« konzeptualisieren, dessen Ziel es freilich ist, dem Leben zu dienen und das meint »Hemmungen und Feindse521 ligkeiten auf dem Wege des Lebens« beiseite zu schaffen. In diesem Sinne von statten gehende Lebensexpression erweist sich als gelingendes Leben, da es das Machtgefühl beständig zu steigern vermag und damit als glückliches Leben im 522 Sinne der ›Morgenröthe‹ und des ›Zarathustra‹ angesprochen werden kann. Die Tugenden – und damit kann endlich die oben eingeführte These, dass alles, was Folge selbstüberwindender Willensexpression als Tugend deklariert werden kann, begründungslogisch eingeholt werden –, erweisen sich als quasi notwendiges Korrelat gelingenden Lebens. Sie sind nicht mehr Bedingung, um sich loszulösen, son523 dern beim Lösgelösten nun explizit »die Folge seines Glücks« . Damit kann, was die veröffentlichen Schriften Nietzsches angeht, ein Schlusspunkt gesetzt werden. Freilich: In diesem Rahmen konnte nicht auf alles eingegangen werden. Es ging in erster Linie darum, Hauptlinien und markante Umrisse des Lebensbegriffes nebst deren ethischen Implikationen im Durchgang durch die einzelnen Schaffensperioden konstruktiv nachzuzeichnen. Diese sollen nach einem kurzen Blick in den Nachlass in einem anschließenden Resümee gebündelt und v.a. auf ethische Grundprobleme hin konzentriert werden. Mit Blick auf den Nachlass – entscheidende Gedanken aus dem den behandelten Schriften gegenwärtigen Nachlass konnten bereits eingearbeitet werden – ist es primär ein Gedankenkomplex, der die erarbeiteten Konturen des Lebensbegriffes abrundet: die Frage der Werte, wie sie dem geplanten Werk ›Der Wille zur Macht – Versuch einer Umwertung der Werte‹ zugedacht war. Bislang fanden sich diesbezüglich allein in ›Jenseits von Gut und Böse‹ substantiellere Hinweise. Sie führten in die Richtung, dass es Werte eben nicht mehr mit gut und böse zu tun haben, sondern stattdessen mit gut und schlecht resp. vornehm und verächtlich operieren.524 IV.3
Der Nachlass
Der Nachlass Nietzsches schimmert. Vergleichsweise deutlich in den vielen undurchsichtigen und z.T. nicht immer kontrolliert wirkenden Reflexen und Reflexionen ist dabei v.a. eines: Es ist eben Hinterlassenschaft, die – vom ›Antichristen‹ und ›Ecce homo‹ einmal abgesehen – nicht mehr in die Form publikationswürdig Erachteten gebracht wurde. Freilich: Nietzsche ist ein dynamischer Kopf, der auf der einen Seite die streng systematische Form scheut und bei aller Bissigkeit Vor-
520 Nietzsche, GD, Moral als Widernatur, 4., 6, 85. 521 Nietzsche, GD, Moral als Widernatur, 4., 6, 85. 522 Nietzsche, MR, 2. (113), 3, 103: »das Glück [...] das lebendigste Gefühl von Macht«. Vgl. auch MR 4. (315), 3, 227 sowie das »Garten-Glück der Erde, aller Zukunft Dankes-Überschwank an das Jetzt« (Nietzsche, AsZ III, Von den drei Bösen 2., 4, 237). 523 Nietzsche, GD, Die vier grossen Irrthümer, 2., 6, 89 (i. Orig. z.T. gesperrt). 524 Vgl. dazu unter B.IV.2.1.
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Der Metaphysische Lebensbegriff
liebe für das Weitläufige besitzt. Auf der anderen Seite verbeißt sich Nietzsche an Problemen, um in der Gedankenzange gleichsam Brutalität im Zugriff zu quasi religiösem Pathos zu verklären. Klar jedenfalls ist auch: Das Werk ›Wille zur Macht‹ wurde nie als Buch fertig. Allerdings verraten die Ansätze einen sonst kaum entdeckbaren Zug zu erstaunlicher gedanklicher Organisation, die Komplexes nennen will. Spürbar sind des weiteren Begeisterungswellen, die sowohl eigene Epochalität als auch unverständliche Wirkungseruption verkünden. Daneben stehen nüchterne Notizen. Sie lassen die thetische Beschäftigung mit v.a. ihm gegenwärtigen Weitergedachtem ersichtlich werden und merken markant an, dass die Nietzschesche Diagnose genauso wie die Rezeptur Pharmakon des bleibend Akuten sein will. Dieser Wille ist auch im Horizont der Frage der Werte anzutreffen. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es in ethischer Hinsicht ein Charakteristikum des Lebens ist, in der Selbstüberwindung im Willen zur Macht selbstmächtig neue Werte zu setzen. Allein was dies konkret für Werte sein mögen, konnte noch nicht eruiert werden. In der Regel wurden sie nur negativ beschrieben resp. ansatzweise formal expliziert und ansonsten der Selbstmächtigkeit des einzelnen Werte-Schaffenden und seiner jeweiligen Perspektive anheim gestellt. Daraus allein folgt bereits, dass konkrete Werte theoretisch nicht ausformuliert werden können. Indes lässt sich zumindest formal etwas über eine Nietzsche vorschwebende höhere Ordnung der Werte aussagen. Im Nachlass nun finden sich dazu einige Anhaltspunkte. Auf sie soll abschließend eingegangen werden. Die beiden noch in Buchform vorliegenden Texte ›Der Antichrist‹ und ›Ecce homo‹ bestätigen im Wesentlichen die nachgezeichneten Konturen des Lebensbegriffes. So gilt das Leben Nietzsche im ›Antichrist‹ als »Instinkt für Wachsthum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht«525. Diese Fassung des Lebens wird mittransportiert in einer gleichsam vernichtenden Christentumskritik, die vom credo des Antichristen »Was ist gut? - Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? - Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? - Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass 526 ein Widerstand überwunden wird« fortschreitet zu einer Generalabrechnung mit 527 der christlichen Philosophie, Theologie und Moral. Der Lebensbegriff bildet methodisch betrachtet die Negativfolie, auf der die Mitleidsreligion Christentum als 528 Paradigma der »Entnatürlichung der Naturwerte« in Szene gesetzt wird. 525 526 527 528
AC, 6., 6, 172 (i. Orig. z.T. gesperrt). Nietzsche, AC, 2., 6, 170. Vgl. dazu ausführlich Brusotti, Von Zarathustra bis Ecce homo, 132ff. Nietzsche, AC 25., 6, 193. Vgl. auch Nietzsche, AC 17, 6, 184: »die Voraussetzungen des aufsteigenden Lebens [...] alles Starke Tapfere, Herrische, Stolze« (i. Orig. teilw. gesperrt). In diesem Zusammenhang übt Nietzsche massive Kritik an den leibfeindlichen Tendenzen der Christentums, insbesondere der Tabuisierung des Sexuellen. »Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff unrein ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens«
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Interessant dabei ist, dass Nietzsche an dieser Stelle von Natur-Werten spricht. Allerdings wird im ›Antichristen‹ eine Theorie der Naturwerte nicht entfaltet. Nur 529 soviel wird gesagt: Es sind die »Werte der Vornehmen« und als solche drücken sie ein »Vollkommenheits-Gefühl, ein Jasagen zum Leben, ein triumphierendes Wohl530 gefühl an sich und am Leben« aus. Und: Sie dienen der Etablierung einer sozialen 531 Wirklichkeit, die den »Erhaltungs-Instinkte[n] des starken Lebens« entspricht. In diesem Sinne lässt Nietzsche schließlich eine gewisse Sympathie für fernöstliche Kastenordnungen erkennen, weil sie die mitintendierten Herrschaftsordnungen 532 abzubilden in der Lage sind. Auch ›Ecce homo‹ – im Zuge der Behandlung einzelner Schriften wurde schon vielfach auf diesen Text Bezug genommen –, weiß sich in Bezug auf den Lebensbegriff auf der Linie der veröffentlichen Schriften. Allerdings ist den Ausführungen z.T. mit Vorsicht zu begegnen, scheint Nietzsche doch hier die theoretische Per533 spektive mit der persönlichen manches Mal zu vermischen. Was die Frage der 534 Werte angeht, so sind es im ersten Zugriff die »gesünderen [...] Werte« die als Kandidat selbstmächtiger Wertsetzungen in Frage kommen. Sie werden an ande535 rer Stelle beschrieben als »Werthe der Cultur« , die aber allein ex negativo als 536 Gegenbegriff von »Niedergangs-Werthe[n]« näherbestimmt werden. Um also – wenigstens in Ansätzen – genauer zeigen zu können, was Nietzsche unter den vorgestellten positiven Werten versteht, muss ein Blick in den späten Nachlass geworfen werden. Was die Quelle der positiven Werte betrifft, so hat Nietzsche eine klare Position. 537 Er schreibt: »Woher sollen wir die Werthschätzungen nehmen? Vom Leben« .
529 530 531 532
533
534 535 536 537
(Nietzsche, AC, Gesetz wieder das Christentum, Vierter Satz, 6, 253). Ein fast identisches Zitat findet sich in ›Ecce homo‹ (Nietzsche, EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 5., 6, 307). Nietzsche, AC, 56., 6, 240. Nietzsche, AC, 56., 6, 240. Nietzsche, AC, 5., 6, 171. »Die Ordnung der Kasten, die Rangordnung, formulirt nur das oberste Gesetz des Lebens selbst, die Abscheidung der drei Typen ist nöthig zur Erhaltung der Gesellschaft, zur Ermöglichung höherer und höchster Typen, – die Ungleichheit der Rechte ist erst die Bedingung dafür, dass es überhaupt Rechte giebt. – Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art Sein hat jeder auch sein Vorrecht. Unterschätzen wir die Vorrechte der Mittelmässigen nicht. Das Leben nach der Höhe zu wird immer härter, – die Kälte nimmt zu, die Verantwortlichkeit nimmt zu. Eine hohe Cultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie hat zuallererst eine stark und gesund consolidirte Mittelmässigkeit zur Voraussetzung« (Nietzsche, AC 57., 6, 243f. [i.Orig. z.T. gesperrt]). »[I]ch entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie Andre nicht leicht schmecken könnten, – ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie ...« (EH, Warum ich so weise bin, 2., 6, 267 [i. Orig. z.T. gesperrt]). Vgl. dazu Janz, Nietzsche I, 821. Nietzsche, EH, Warum ich so weise bin, 1., 6, 266 (i. Orig. z.T. gesperrt). Nietzsche, EH, Der Fall Wagner, 2., 6, 358. Nietzsche, EH, Der Fall Wagner, 2., 6, 359 (i. Orig. gesperrt). Nietzsche, N April–Juni 1885, 34 [194], 11, 486 (i. Orig. z.T. gesperrt).
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Der Metaphysische Lebensbegriff
Dass dies jedoch nicht ganz unproblematisch ist, wird umgehend klargestellt: »Aber höher, tiefer, einfacher, vielfacher – sind Schätzungen, welche wir erst ins 538 Leben legen?« . Soviel wird jedoch deutlich: Werte sind Repräsentationen von Machtgraden: »Es giebt nichts am Leben, was Werth hat, außer dem Grade der 539 Macht« . Und in ihnen drücken sich »Erhaltungs- und Wachsthums-Bedingungen 540 aus« . Liest man dies mit den Spuren aus dem ›Antichrist‹ und ›Ecce homo‹ zusammen – dort wurden die positiven Werte zumindest als Natur- und Kulturwerte näher bestimmt –, so wird deutlich, dass mit den anvisierten positiven Werten Strukturen gemeint sind, mit deren Hilfe sich das Leben als Wille zur Macht in Natur und Gesellschaft Durchbruch verschafft. In dieser Beziehung kann Nietzsche auch »natürliche Sitte[n] [und] natürliche Institutionen (Staat, Gerichts-Ordnung, 541 Ehe, Krankheit- und Armenpflege)« anführen. Sie repräsentieren Lebens-Werte, insofern sie die vitalen Energien des Lebenswillens so steuern, dass dessen Streben nach Steigerung im Idealfall optimiert wird. Mit Alexander Hogh können daneben 542 vor dem Hintergrund einer namhaft gemachten »Physiologie der Kunst« noch 543 Kunstwerte und mit Bezug auf die »Dionysische Weisheit« Wahrheitswerte ge544 545 nannt werden. Der »Werth der schönen Seelen, der Künstler« besteht dabei in erster Linie darin, dass sie das Leben zu stimulieren vermögen und der Wert der Wahrheit im recht verstandenen Sinn, dass er das Erkenntnisvermögen radikal in 546 den Dienst nach innen gewendeter Lebenserkenntnis stellt. Für alle genannten Werte gilt freilich, dass sie allein nur gröbste Schematisierungen aussagen. Sie obliegen immer der Perspektivität des Wertsetzenden und sind in ihrer Repräsentierung an die zugrundeliegende Stärke des Machtwillens gebunden. Hinzu tritt, dass sie – und das wurde bereits im Zusammenhang von ›Jenseits von Gut und Böse‹ gezeigt –, fiktionaler Gestalt sind und somit prinzipiell der Gefahr des Irrtums unterliegen. Das bedeutet dann aber auch, dass sie im Sinne des Lebens der Gefahr radikalen Scheiterns ausgesetzt sind. An dieser Stelle greifen dann wieder die bereits benannten fast fatalistisch zu nennenden Denkfiguren Nietzsches gemäß der Maxime: »Wozu die Menschen da sind, wozu der Mensch da ist, soll und gar nicht kümmern: aber wozu Du da bist, das frage dich: und wenn Du es nicht erfahren kannst, nun so stecke Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und
538 Nietzsche, N April–Juni 1885, 34 [194], 11, 486 (i. Orig. z.T. gesperrt). Hier knüpfen sich die Interpretamente an, die dem interpretatorischem Zugriff auf das Leben entsprechen. 539 Nietzsche, N Sommer 1886–Herbst 1887, 5 [71], 12, 215. Vgl. auch die »Machtgrade von Instinkten« (Nietzsche, N Herbst 1887, 10 [57], 12, 490 [i. Orig. gesperrt]). 540 Nietzsche, N Herbst 1887, 9 [38], 12, 352. (i. Orig. z.T. gesperrt). 541 Nietzsche, AC, 26., 6, 196. 542 Nietzsche, N Ende 1886–Frühjahr 1887, 7 [7], 12, 285 (i. Orig. gesperrt). 543 Nietzsche, N Sommer–Herbst 1884, 24 [243], 11, 214. 544 Vgl. dazu Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 142ff. 545 Nietzsche, N Sommer–Herbst 1884, 24 [243], 11, 214. 546 Nietzsche, Vgl. dazu Hogh, Nietzsches Lebensbegriff, 151.
Resümee: Nietzsches Lebensbegriff und die Ethik des Lebens
195
gehe an ihnen zu Grunde! Ich weiss keinen besseren Zweck als am Grossen und 547 Unmöglichen zu Grunde zu gehen: animae magnae prodigus« .
V.
Resümee: Nietzsches Lebensbegriff und die Ethik des Lebens
Nietzsches Lebensbegriff, wie er durch seine Schaffensperioden hindurch rekonstruiert wurde, erweist sich in letzter Instanz als äußerst schillernd und facettenreich. In der Zusammenschau wird deutlich, dass Nietzsche v.a. Interesse an einem hat: Dies ist die essentielle Energie des Vitalen, die er einerseits im Gefolge falsch verstandener metaphysischer, theologischer und moralischer Überbauungen ins Abseits manövriert und andererseits in artifiziellen Verzerrungen interniert sieht. Im Gegenüber des ihm gegenwärtigen geistigen Klimas erscheinen ihm die Quellen des Lebens zugeschüttet. Kraftvoll versucht Nietzsche deshalb in unterschiedlichen Frontstellungen die essentiellen Wurzeln des Lebens wieder freizulegen. Diese findet er in einem Willen zur Macht, der im Verständnis und Nachvollzug am intuitionskonformen Erlebnis eines urwüchsigen Lebenswillens anknüpfen kann. Ein erster Anlauf übt dabei massive Kritik an einer als philologisch, historismusverliebt und funktionsbesessen enttarnten Moderne und sieht den Kondensationspunkt des vieldimensional verfassten Vitalen in einem dionysischen Ur-Einen, das sich als Inbegriff dunkler und unersättlicher Lebensmacht v.a. ästhetisch und unhistorisch Ausdruck verschafft. In einem zweiten Zugriff wird im Zuge einer extripativen Psychologie die Gegenwartskultur auf die ihr inhärenten Lebenswiderstände konzentriert. Das Ergebnis ist eine fundamentale Demontage der basalen Orientierungssysteme. Ins Visier geraten die großen Ideologieproduzenten: Philosophie, Theologie und Moral. Das groß angelegte Programm einer Loslösung gewinnt Raum. Die Loslösung als Verabschiedung lebensabständiger Horizonte führt zu der theoriestrategisch weit reichenden Einsicht, dass sowohl die thetische Ausformulierung als auch die Praxis des Lebens interdependent sind. Das Leben wird zur plastischen Kraft, die immer nach Steigerung ihrer selbst strebt und am Orte des empirischen Subjekts an ein korrespondierendes Machtgefühl gekoppelt ist, das sich selbst als Alternative zu den kritisierten Sinnentwürfen als dezidiert ewig projektiert. Der dritte Schritt schließlich konzeptualisiert das Ineinander von Lebensenergie und Machtgefühl als metaphysischen Entwurf des Willens zur Macht. Strukturell als Selbstüberwindung im essentiell Vitalen beschreibbar, ist das Leben universales Intergral von innerhalb eines Machtmonismus sich selbst setzenden Vitalexplosionen. Inbegriff des Lebens ist zum Schluss ein metaphysisch divinierter Dionysmus, der im Hinblick auf seine Realisierung strukturelle Kanäle virtuell entwirft.
547 Nietzsche, N (1873), 29 [54]; 7, 651 (Hervorhebung i. Orig.).
196
Der Metaphysische Lebensbegriff
Den hier in aller Kürze beschriebenen Stationen der Entfaltung des Nietzscheschen Lebensbegriffes entspricht eine sich immer weitere differenzierende Ethik des Lebens. In der ersten Phase kommt sie im vergleichsweise undurchdachten Imperativ des Lebens zum Stehen, der da lautet: Sei Leben! und sich in geschichtlicher Hinsicht konkretisiert zu einem selbstmächtigen und stolzen So soll es sein! Flankiert wird dies durch eine Tugendlehre, die v.a. Ehrlichkeit, Tüchtigkeit und Wahrhaftigkeit umgreift. Die kritische Periode steht im Zeichen einer Ausarbeitung genau dieser Tugendlehre. Der Zentralimperativ Sei Leben! erscheint mutiert zum Aufruf zu selbstmächtiger Gestaltung der ewigen Lebendigkeit. Der Imperativ lautet nun: Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden! Und dieser Imperativ ist korreliert mit einer Tugend-Lehre des Lebens, die nun modifiziert Redlichkeit, Tapferkeit, Großmut und Höflichkeit umfasst. Diese Tugenden sollen dazu dienen, dass sich das Individuum zum adäquaten Gestalter jenes ewig drängenden Lebenstriebes macht und ihnen ist nachgeschaltet der Gedanke einer ewigen Wiederkunft des Lebens, der als letzte Kontrolle der Realisierung des ewigen Lebens fungiert. Das Spätwerk steht ganz im Schatten monistischer Tendenzen und die entsprechende Ethik des Lebens zeigt sich als Handlungskomplementarität von Nietzsches basalem Lebensparameter Willen zur Macht. Dies führt zur ethischen Integralbildung, die nicht nur Tugenden, sondern auch Asketik und Wertsetzung als Themata verhandelt. Zum Abschluss soll nun auf Anfragen und Impulse des paradigmatisch bei Nietzsche aufgearbeiteten metaphysischen Lebensbegriffes eingegangen werden. Zunächst: Nietzsches Fassung des Lebens als wertsetzende Selbstüberwindung im Willen zur Macht kann als kreative Alternative zu organismusgeleiteten Vorstellungskreisen gelesen werden. Im überblendenden Schatten Schopenhauers konzentriert er das Lebendige im konstruktiven Gegenentwurf zum selbstorganisierten Lebewesen auf die Strebe- und Erlebnisstruktur Willen und zeichnet darin die Polyphänomenalität des biologischen Raums ein. Darin ist insofern ein Theoriefortschritt zu sehen, als dass Nietzsche jemand ist, der die nachgerade klassische Dualität von Natur und Geist theoretisch unterlaufen möchte. Damit ist er sich mit Lotze einig, nur dass Nietzsche eben im Willen und nicht im Selbst- oder Lebensgefühl den tragenden Statthalter des Lebens erblickt. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass mit der Emphase des Willens zur Macht auch eine Engführung eingekauft ist. Dies kann vom Theoriedesign her gelesen werden als Reduktionsmanöver, das multidimensionale Lebensvorstellungen entkompliziert. Zum Schluss bleibt das unterschiedlich entfaltete dionysische Leben dabei wenigstens teilweise opak, weil notorisch vortheoretisch und, wie Nietzsche selbst immer wieder betont hat, notwendig scheinhaft, irrtümlich und interpretativ.
Resümee: Nietzsches Lebensbegriff und die Ethik des Lebens
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Wichtiger ist jedoch, was Nietzsche in ethischer Hinsicht aus seiner Konstruktion folgert. Dabei ist wahrzunehmen, dass Nietzsche einen intrinsischen Eigenwert des Lebens nicht kennt. Der Wert des Lebens besteht im Grad seiner Realisierung von Willen zur Macht. Und die Realisierung von Willen zur Macht performiert sich in Selbstüberwindung, die dabei autark Geschichts-, Sinn- und Wertperspektiven setzt. Impliziter Maßstab ist die je individuell mögliche Gesteigertheit des Willens zur Macht, die überindividuelle Geschichts-, Sinn- und Wertperspektiven verbietet. Die Individualethik hat klar den Primat vor der Sozialethik. Insofern sich das Ineinander der Struktur Wille zur Macht und deren individuelle Steigerung zum Schluss als nicht systematisch fixierbar heraus stellt, ist darauf aufmerksam zu machen, dass sich die angezeigte Opakheit des Lebensbegriffes zuletzt doch wieder abschattet auf die korrespondierende Lebensethik. Genauso wie Nietzsche Vitalphänomene konsequent auf den Machtwillen zurückführt, so ist eine Phalanx erkennbar, die im Horizont der korrelierenden Ethik analog verfährt. Zeichnet sich in der mittleren Phase das Projekt einer systematischen Tugendlehre des Lebens ab, so werden im Spätwerk alternative Konzepte mehr und mehr mitberücksichtigt. Askese und Werte werden zu gleichermaßen adäquaten Ausdrucksphänomenen des Willens zur Macht. Damit wird das konkrete Profil der Lebensethik zumindest teilweise undurchsichtig. Zum Schluss sei hervorgehoben, dass im Horizont eines metaphysischen Lebensbegriffes, wie er anhand der Philosophie Nietzsches diskutiert wurde, der nexus von Lebenstheorie im engeren Sinne und ethischen Implikationen kürzer zu sein scheint, als dies im Kontext des organismischen Lebensbegriffs beobachtet werden konnte. Zwar spricht sich Nietzsche gegen einen intrinsischen Wert des Lebens aus. Der Wert des Lebens ist – wie gesehen – immer rückgekoppelt an seine machtvolle Selbstexpression. Aber es macht den Anschein, dass sich mit dem psychologisierenden Zugehen auf das Leben und dessen Erlebnisdimension viel leichter Verbindungen zu ethischen Implikationen herstellen lassen; und zwar in positiver und negativer Hinsicht. Der Weg von der statuierten Triebhaftigkeit des Lebens und dessen Erleben (Wille zur Macht) zur handelnden Expression scheint evidenter zu sein, als der vom Organismus zur Autonomie. Dabei darf jedoch nicht übergangen werden, dass Nietzsches Ethik dabei durchaus brutale Züge zeigt. Im Hinblick auf Euthanasie konnte dies schon gezeigt werden.548 Aber auf keinen Fall ist zu übersehen, dass das Werde hart! und die unübersehbare Schonungslosigkeit (sich selbst und anderen gegenüber) im handelnden Gerieren auch kontraintuitives Verstörungspotential besitzt. Gleiches gilt für die statuierte prinzipielle Zielund Sinnlosigkeit des Lebens unabhängig von individuellen Setzungen. Hier stößt gerade die Ethik des Lebens im Sinne Nietzsches an – für viele – evidente Grenzen, die insgesamt eine metaphysische Willenskonzeption in Frage stellen können. Auf trotzdem nahe liegende wie mögliche Verwandtschaftsverhältnisse eines metaphy548 Vgl. dazu unter B. III. 2.
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Der Metaphysische Lebensbegriff
sischen mit einem theologischen Lebensbegriff wird im letzten Kapitel gesondert 549 eingegangen werden.
VI. Überleitung zum Molekularbiologischen Lebensbegriff Die Konzeptualisierung des Lebens als metaphysische Struktur, wie sie grade anhand der Philosophie Nietzsches exemplarisch aufgearbeitet wurde, hat – wie gesehen – durchaus ihre Stärken. V.a. die (z.T.) konstruktive Kritik an vorgängigen Konzeptionen, die schöpferische Integration der Erlebnisdimension von Leben, wie sie auch für die folgende Lebensphilosophie typisch ist und die scheinbar mühelose Evokation ethischer Implikationen haben sich als Momente herausgestellt, die für weitere und tiefere Einsichtnahme in das Reich des Lebendigen stehen. Auf Probleme, die sich mit diesem Zugriff stellen, wurde gerade bereits eingegangen. Auf einen Sachverhalt soll hier am Schluss dieses Kapitels noch gesondert hingewiesen werden. Dies betrifft Nietzsches Versuch der Integration biologischer Fundamente des Lebens. Wie gesehen, hat sich Nietzsche bemüht, Einsichten der ihm zeitgenössischen Biologie konstruktiv mit in seine Theoriebildung einfließen zu lassen. Aber sein Verhältnis zur Naturwissenschaft verbleibt ambivalent, insofern er einerseits das moral- und metaphysikkritische Moment der Naturwissenschaften begrüßt und ihre Einsichten in diesem Sinne gern zur Untermauerung der eigenen Kritik und Konstruktion heranzieht, andererseits aber gerade den Positivismus der Naturwissenschaften und ihren Wahrheitsanspruch als Ersatz-Metaphysik entschieden zurückweist.550 Diese Ambivalenz gewinnt nun an Gewicht nicht allein dadurch, dass sich in der folgenden Entwicklung Positivität und Wahrheitsanspruch naturwissenschaftlicher Annäherungen an das Leben immer souveräner behauptet haben, sondern auch dadurch, dass mit dem Einzug verfeinerter Beobachtungsmethoden und -möglichkeiten Strukturen des Lebens ins Zentrum des Interesses gerückt sind, die sich einem metaphysischen Zugang gegenüber sperrig verhalten. Gemeint sind damit die kleinen und kleinsten Grundbausteine des Lebens, wie sie im Zusammenhang der physikalischen, chemischen und biologischen Forschung Gegenstand der Theoriebildung sind. Von ihnen ausgehende Systematisierungsanstrengungen lassen sich grosso modo unter dem Stichwort molekularbiologischer Lebensbegriff subsumieren. Dieser soll im Folgenden in den Fokus der vorliegenden Untersuchung gerückt werden. Es ist offensichtlich, dass vom Theoriezuschnitt her ein völlig anderes Feld der Erschließung des Lebendigen beschritten wird. Kompliziert ist dabei nicht nur, dass dort eine differente Forschungskultur und ein ganz anderes Methodenideal begegnet, sondern auch, dass der Transfer zwischen molekularbiologischen Theorien und philosophischen und auch theologischen Vorstellungen in 549 Vgl. dazu unter B.I. 550 Vgl. dazu unter B III.3 und B IV.1.1.
Überleitung zum Molekularbiologischen Lebensbegriff
199
der Regel kaum oder nur sehr schwer möglich ist. Insofern kann und soll es nicht um eine Vermittlung beider Denksphären zu tun sein. Auch ist es nicht das Ziel, in Aufarbeitung und Diskussion molekularbiologischer Theorien notorisch Defizite aufzuzeigen, um dann als rettende Lösung philosophische oder theologische Lösungen anzubieten. Wenn der molekularbiologische Lebensbegriff Berücksichtigung findet, dann prima facie deshalb, weil im Horizont der Molekularbiologie generierte Vorstellungsgehalte über Weiten die Diskussion über das Leben steuern und mitbestimmen. Es wäre schlicht ignorant, in einer Studie, die im Titel den Begriff Leben führt, nämliche Konzepte ganz außen vor zu lassen. Hinzu kommt, dass die Einsichten in den molekularen Aufbau des Lebendigen vielfach einen wichtigen Verstehenshintergrund insbesondere auch für strittige ethische Fragen bilden. Noch wichtiger ist jedoch, dass molekularbiologische Ansätze eben einen starken theoretischen Kontrast darstellen, der im weitesten Sinne geisteswissenschaftliche Anläufe zu konturieren vermag. Gerade in den Randzonen und in der Interferenz beider Kulturen der Lebenserschließung lassen sich Beobachtungen induzieren, die für die Entwicklung eines theologischen Lebensbegriffs fruchtbar gemacht werden können. Dabei – und dies macht einige Ansätze hier besonders interessant – lassen sich im Horizont molekularbiologischer Theoriebildungen in Bezug auf das Leben Tendenzen erkennen, die in die angezeigte Interferenz hineintreten und so eine konstruktive Aufarbeitung ermöglichen.
C. Der Molekularbiologische Lebensbegriff I.
Einleitung
Für große Teile der folgenden Ausführungen gilt in gesteigertem Maße das, was Erwin Schrödinger 1943 in Dublin seinen Antworten auf die Frage Was ist Leben? vorangeschickt hat: »Bei einem Mann der Wissenschaft darf man ein unmittelbares, durchdringendes und vollständiges Wissen in einem begrenzten Stoffgebiet voraussetzen. Darum erwartet man von ihm gewöhnlich, daß er von einem Thema, das er nicht beherrscht, die Finger läßt. Das gilt als eine Frage des noblesse 1 oblige« . Es liegt auf der Hand, dass der angezeigten Verpflichtung im Rahmen dieser Arbeit nicht nachgekommen werden kann, da sie doch in erster Linie aus theologischer und philosophischer Sicht entworfen ist. Das bedeutet, dass es an dieser Stelle nicht darum gehen kann, in Bezug auf die molekularbiologische Fassung des Lebensbegriffes neue Perspektiven zu entwickeln. Ebenso wenig ist es möglich und geboten, im Rahmen dieser Auseinandersetzung komplexe biophysikalische oder biochemische Prozesse detailliert nachzuvollziehen. Vielmehr ist es hier das Anliegen, basale Formatierungen des molekularbiologischen Lebensbegriffes zu untersuchen und zum organismischen und metaphysischen Lebensbegriff konstruktiv in Beziehung zu setzen. Vor allem ist aber darauf zu sehen, wie die Wahrnehmung des Lebendigen in der Molekularbiologie konzeptionell mutiert ist und wie die aus der Perspektive der Molekularbiologie abgeleiteten ethischen Folgerungen in einer ersten Einschätzung zu bewerten sind. Dabei ist bereits zu Beginn darauf aufmerksam zu machen, dass sich einerseits der jeweilige Transfer vom entwickelten molekularbiologischen Lebensbegriff zu ethischen Einsichten nicht immer als unproblematisch erweist und andererseits die generierten Imperative und ethischen Theorieansätze bei weitem nicht an die theoretische Weite, Komplexion und Formatierung heranreichen, wie sie im vorangehenden Kapitel anhand der Philosophie Nietzsches diskutiert wurde. Dennoch bedeutet die molekularbiologische Arbeit am Lebensbegriff gegenüber dessen organismischer und metaphysischer Konzeption zweifellos einen einschneidenden Paradigmenwechsel. Die Molekularbiologie hat die gedankliche Physiognomie des Lebensbegriffes drastisch verändert. Sie ist Mitte des 20. Jhs aus der Molekülstrukturforschung und der Biochemie hervorgegangen und dabei in erster Linie eine Teildisziplin der Biologie, die biologische Erscheinungen allerdings nicht allein aus der phänomenologischen Perspektive, sondern mithilfe von physikalisch-chemischen Untersuchungen eben auf der molekularen Ebene be-
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Schrödinger, Was ist Leben?, 29 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. auch a.a.O., 54f. u. 71.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff 2
trachtet. Im molekularbiologischen Lebensbegriff überschneiden sich also biolo3 gische, chemische und physikalische Perspektiven. Interessant sind dabei primär so genannte Makromoleküle. Der Begriff Makro4 molekül wurde von Nobelpreisträger Hermann Staudinger eingeführt. Makromoleküle sind Moleküle, die bereits aus vielen Atomen oder Atomgruppen bestehen 5 und eine vergleichsweise hohe Molekülmasse aufweisen. Es wird dabei unterschieden zwischen natürlichen und synthetischen Makromolekülen. Vertreter von natürlichen Makromolekülen (Biomakromolekülen) sind Nukleinsäuren wie Desoxyribonukleinsäure (DNS [engl. DNA]) und Ribonukleinsäure (RNS [engl. RNA]), Proteine, Enzyme, Seide, Antikörper, Collagen, Lignin sowie Kohlenhydrate wie Stärke oder Zellulose. Beispiele für synthetische Makromoleküle sind Kunst6 stoffe wie Polyvinylchlorid (PVC), Nylon und verschiedene Silikone. Es liegt auf der Hand, dass im Kontext des molekularbiologischen Lebensbegriffes v.a. Bio7 makromoleküle wichtig sind. Von herausragender Bedeutung sind dabei die be8 reits genannten Biomakromoleküle DNS und RNS. In diesem Sinne ist auch gesagt worden, dass die Entschlüsselung der molekularen Struktur der DNS-Doppelhelix, 9 den »Beginn der Ära der Molekularbiologie markiert« resp. damit das »Zeitalter 10 der Molekularbiologie« angebrochen sei. Auch die Gene selbst – molekulare
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Vgl. Römpp, 391. Vgl. Fischer, E.P., ›Was ist Leben?‹, 9. 1953 erhielt Staudinger den Nobelpreis für Chemie. Zu Hermann Staudinger vgl. Staudinger, M., Mensch und Forscher, 9ff. Vgl. auch Schuller, Angewandte makromolekulare Chemie: »Das makromolekulare Konzept von Hermann Staudinger besteht im wesentlichen in der Erkenntnis, daß es Makromoleküle gibt. [...] Makromoleküle entstehen durch Aneinanderlagern von kleinen Molekülbausteinen, den sogenannten Monomeren. Diese werden zu langen, kettenförmigen oder flächigen bzw. räumlichen Makromolekülen verknüpft, ähnlich wie die Wagons eines Eisenbahnzuges aneinandergekoppelt werden. Die Eigenschaften solcher Kettenmoleküle hängen von der Kettenlänge ab«. In der Regel bis 1.000 Monomere und mit einer relativen Molekülmasse von etwa 10.000 bezogen auf ein Zwölftel des Kohlenstoff -Isotops 12C. Vgl. dazu auch Kössel, Bedeutung, 31ff. Mit Blick auf die Frage der Abgrenzung des Lebendigen vom Nichtlebendigen spielt jedoch auch die Betrachtung von synthetischen Makromolekülen eine wichtige Rolle. Zur Bedeutung des makromolekularen Konzepts in der Biologie vgl. Kössel, Bedeutung, 30ff. Die Basenpaare von DNS und RNS werden auch Nukleotide genannt. Ein Nukleotid besteht aus drei Bestandteilen: einem anorganischen Phosphat (Phosphorsäure) (P), einem Monosaccharid (Pentose) (Z) und einer von fünf Nukleobasen, Adenin (A), Guanin (G) [Purinbasen] sowie Cytosin (C), Thymin (T) oder Uracil (U) [Pyrimidinbasen]. Uracil kommt nur in der RNS vor und Thymin nur in der DNS. Eigen, Stufen zum Leben, 9. Ernst Peter Fischer bestimmt den Beginn der Molekularbiologie bereits 1943 in Gestalt der Phagen-Experimente von Max Delbrück und Salvador Luria (ein Lehrer von James Watson); vgl. Fischer, E.P., ›Was ist Leben?‹, 9. Eigen, Stufen zum Leben, 8. Vgl. a.a.O., 9: Dort spricht Eigen von der Ära der Molekularbiologie, deren »Ausgangspunkt [...] die 1953 veröffentliche Entdeckung von Francis Crick und James Watson« sei.
Einleitung
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Funktionseinheiten, die für ein Proteinmolekül kodieren – stellen noch Makro12 moleküle dar. Damit sind die epistemischen Referenzobjekte des molekularen Lebensbegriffes formal einigermaßen scharf bezeichnet: Es handelt sich um Biomakromoleküle und deren biophysikalische und biochemische Interaktion. Dies hat vorderhand die methodische Konsequenz, dass der Lebensbegriff von relativ einfachen Lebensformen und Experimentalorganismen seinen Ausgangspunkt 13 nimmt. In Bezug auf die organismische Fassung des Lebens lassen sich indes nicht nur Differenzen aufgrund des Wandels der epistemischen Einstellung vom Makrosko14 pischen zum Mikroskopischen wahrnehmen. Denn mit der fortschreitenden Einsicht in die mikroskopische Basis von Lebenserscheinungen ging gleichsam eine Wiederentdeckung des Organismus im in den vorherigen Kapiteln rekonstruierten Sinne einher. Insbesondere die Aufhellung autokatalytischer Mechanismen im Kontext molekularer Reproduktion hat sich dem Organismuskonzept gegenüber als anschlussfähig herausgestellt. So stellt Ulrich Barth fest: »Kants formale Fassung des Organismusbegriffs hat in der modernen evolutionstheoretischen Molekularbiologie geradezu seine Apotheose erfahren, sowohl was den kybernetischen als auch was den teleologischen Aspekt [...] betrifft«15. Eine alternierende Konnotation moderner Molekularbiologie dürfte indes darin zu sehen sein, dass dem Mechanismus wieder mehr Gewicht zuerkannt wird. »Und wirklich können Organismen als symbolische Maschinen betrachtet werden, auch wenn ihre einzig 16 grundlegende ›bedeutende‹ Aktivität darin besteht, [...] sich zu reproduzieren« . 11
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Römpp, 205: »[E]in Gen [ist] ein Abschnitt auf einem DNA-Molelkül der für ein eine einzige Polipeptidkette codiert, oder für eine spezifische Sorte von tRNA oder von tRNA«. Vgl. auch Eigen, Stufen zum Leben, 25: »Den einzelnen DNA-Abschnitt, der für eine molekulare Funktionseinheit, ein Proteinmolekül, codiert, nennt man das Gen«. Der Begriff Gen wurde 1909 von dem dänischen Botaniker Wilhelm Johannsen (1857-1927) geprägt (Vgl. Römpp, 205). Johannsen benutzte diesen Begriff als Arbeitskonzept und meinte damit zunächst unspezifisch Objekte, die als Träger der Erbinformation in Frage kommen. Der Ausdruck ist inspiriert vom griechischen γένος (Geschlecht, Art, Stamm). Weiterhin prägte Johannsen die heute ebenso geläufigen Begriffe Erbgut und Phänotyp. Die Einsicht in den molekularen Charakter der Gene verdankt sich v.a. der von Max Delbrück, Nikolai Wladimirowitsch TimofejewRessowski und Karl Günter Zimmer im Jahre 1935 verantworteten so genannten ›Dreimännerarbeit‹: »Mit ihr wurde mit einem Schlag klar, daß Gene Moleküle waren« (Fischer, E.P., ›Was ist Leben?‹, 4). Vgl. Rheinberger, Evolution des Genbegriffs, 223: »Gene bestehen aus metastabilen Makromolekülen in der Art von Nukleinsäuren«. Vgl. dazu auch die Definition des Genoms: »Als ›Genom‹ bezeichnet man die gesamte Nukleinsäure eines Organismus, welche als Speicher für die genetische Information dient« (Schuster, Molekulare Evolution, 61). Rheinberger, Evolution des Genbegriffs, 220ff. »Bei der Definition von Leben ergibt sich für die Biogeneseforschung eine selbst auferlegte, aber auch zwingend notwendige Beschränkung auf minimales Leben, d.h. auf einfachste Lebensformen« (Rauchfuß, Chemische Evolution, 52). Barth, U., Gehirn und Geist, 442. Rheinberger, Epistemologie des Konkreten, 241. Vgl. a.a.O., 240: »Wir können mit Evelyn Fox Keller festhalten, dass man ›hauptsächlich auf Grund der Renaissance der Entwicklungsbiologie
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
Was das Verhältnis des molekularbiologischen zum metaphysischen Lebensbegriff anbelangt, so scheinen Kompatibilitäten weniger klar zutage zu treten. Prima facie ist es der naturwissenschaftliche gestus molekularbiologischer Forschung, der hier Sperrigkeiten evoziert. Bei genauerem Hinsehen stellt sich die Sachlage aber keineswegs als eindeutig heraus. So konnte bereits bei Nietzsche beobachtet werden, dass er durchaus Resultate naturwissenschaftlicher Forschung konstruktiv 17 in seine Überlegungen einfließen lässt. Auf sein Verhältnis zur Naturwissenschaft wurde am Ende des vorausgehenden Kapitels hingewiesen. Umgekehrt tauchen auch in Arbeiten zur Molekularbiologie Theoreme auf, die sich nicht allein naturwissenschaftlich exakter Methodik verdanken. So begegnet im Umfeld des molekularbiologischen Lebensbegriffes ohne weiteres das Konzept einer »postgenomi18 schen Bio-macht« , oder es ist mit Blick auf Manfred Eigen die Rede von einem 19 »stochastische[n] Universum eines molekularen Darwinismus« . Dies wird weiter unten ausführlicher beschäftigen. Um dem molekularbiologischen Lebensbegriff näher zu treten, sollen im Folgenden drei einschlägige Konzepte untersucht werden: der biophysikalische Lebensbegriff Erwin Schrödingers, Jacques Monods Konzept von Teleonomie, autonomer Morphogenese und reproduktiver Invarianz sowie die molekulardarwinistische Fassung des Lebensbegriffes von Manfred Eigen. Diese – keineswegs Vollständigkeit prätendierende – Dreiheit macht auf ein weiteres Spezifikum der molekularbiologischen Herangehensweise an das Phänomen Leben aufmerksam, das ebenfalls der genaueren Analyse voranzuschicken ist. Den molekularbiologischen Lebensbegriff gibt es nicht. Vielmehr begegnet auch hier eine Fülle an alternativen bis konkurrierenden Modellen. Wenn trotzdem von einem molekularbiologischen Lebensbegriff die Rede ist, dann, weil sich trotz aller Differenzen eine Grundeinsicht ausmachen lässt, nämlich die, »daß die grundlegenden Mechanismen aller bekannten Lebewesen – trotz größter Unterschiede der äußeren Erscheinungsformen – auf der molekularen Ebene identisch sind«20. Ins-
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durchaus sagen könnte, dass die Molekularbiologie den Organismus wiederentdeckt‹ hat«. Vgl. dazu auch Monod, Zufall und Notwendigkeit, 105: »Lebewesen lassen sich [...] in ihrem makroskopischen Aufbau und ihrer Funktion weitgehend mit Maschinen vergleichen«. In dieser Beziehung kann François Jacob auch von einer Mechanisierung der modernen Biologie sprechen: »In diesem Sinne entspricht sie [sc. die moderne Biologie] einem neuen Zeitalter des Mechanismus« (Jacob, Logik des Lebendigen, 17). Zur Erinnerung sei an dieser Stelle noch einmal auf Lotze hingewiesen, der ein Ziel seines Philosophierens ja darin gesehen hatte, zu zeigen »wie völlig untergeordnet die Bedeutung der Sendung ist, welche der Mechanismus in dem Bau der Welt zu erfüllen hat« (Lotze, Mikrokosmus, 3I, XV [i. Orig. z.T. gesperrt]). Vgl. dazu unter A.IV.3. Vgl. dazu unter B.III.3. Kay, Buch des Lebens, 414. Kay, Buch des Lebens, 415. Pörschke, Zufall oder Notwendigkeit, 85. Es geht also um eine Identität der »grundlegenden molekularen Strukturen der Zelle und [...] an Vermehrung und Vererbung beteiligten chemischen Pro-
Einleitung
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besondere hat sich gezeigt, dass die Kodierung des Lebens und die dazugehörenden Translations- und Synthesemechanismen nahezu Universalität beanspruchen dürfen: »Alle Lebewesen machen von einem universalen genetischen Code, einer universalen biochemischen Maschinerie sowie von makromolekularen Synthese21 produkten, die nach universellen Strukturprinzipien organisiert sind, Gebrauch« . Trotz dieser gemeinsamen Grundeinsicht sind die Konzeptualisierungen des Lebensbegriffes im Horizont der Molekularbiologie in durchaus unterschiedliche Richtungen gegangen. Das führt auf die Frage, wieso gerade die drei oben genannten Theorien Schrödingers, Monods und Eigens hier untersucht werden. Die Auswahl begründet sich v.a. darin, dass die hier behandelten Ansätze erstens auf ihre Weise Meilensteine der zunehmenden molekularbiologischen Erschließung des 22 Lebens darstellen, zweitens die interdisziplinäre Schnittmenge der Molekularbiologie repräsentiert wird, drittens in unterschiedlichem Maße auch die Grenzen ihrer Erschließungskompetenz hinsichtlich des Lebendigen mitreflektiert sind und viertens bereits – auch jeweils mit verschiedener Gewichtung – weltanschauliche und ethische Implikationen resp. Probleme mit im Blick sind. Damit sind gleichermaßen in methodischer Hinsicht die Leitfragen der folgenden Darstellung mitgegeben. Wenn im Folgenden die drei Herangehensweisen von Schrödinger, Monod und Eigen näher beleuchtet werden, dann geht es einerseits darum, die spezifische Formatierung des jeweiligen Lebensbegriffs in ihren Grundlinien und in ihrem jeweiligen wissenschaftstheoretischen Design nachzuvollziehen. Andererseits soll im modus einer kritischen Würdigung auf innere Problemhorizonte und äußere Schranken der Theoriebildung eingegangen werden. Endlich sollen jeweils inhärente ethische Fragestellungen, Implikationen und Anschlussevidenzen diskutiert werden. Schließlich wird ein kritisches Resümee zum theologischen Lebensbegriff überleiten.
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zesse« (Schuster, Molekulare Evolution, 49). Zu den physiko-chemischen Konstitutentien der lebendigen Zelle vgl. Strauss, Paradigmen, 126. Eigen, Stufen zum Leben, 50. An anderer Stelle spricht Eigen von einer »Übereinstimmung und Universalität der zugrunde liegenden physikalischen und chemischen Ordnungsprinzipien« (Eigen, Stufen zum Leben, 19). Vgl. auch Pörschke, Zufall oder Notwendigkeit, 90: »Nach unseren heutigen Kenntnissen ist der genetische Code universell«. Vgl. auch Römpp, 208: Dort werden einige Ausnahmen genannt, so dass die entsprechende Formulierung lautet: »Der genetische Code ist fast universell« (Hervorhebung v. Vf.). Alle drei genannten sind Nobelpreisträger: Erwin Schrödinger 1933 für Physik, Jacques Monod 1965 für Physiologie oder Medizin und Manfred Eigen 1967 für Chemie. Zum Platz Schrödingers in der Molekularbiologie vgl. Yoxen, Schrödingers ›What is Life?‹, 17ff., zu Monod vgl. Fantini, Préface – La formation d´un intellectuel, 40ff. und zu Eigen vgl. Küppers, Ursprung biologischer Information, 3ff.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
II.
›Was ist Leben?‹ – Der Lebensbegriff Erwin Schrödingers
II.1
Leben als Quantensprung 23
Der 1887 in Wien geborene Physiker und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger hielt nach seiner Emigration nach Irland 1943 an der Universität Dublin eine Reihe von öffentlichen Vorträgen, in denen er die Frage Was ist Leben? vom Standpunkt des Physikers diskutierte. Nicht umsonst lautet der Untertitel der daraus entstandenen und 1944 publizierten Schrift ›Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet‹. Das Originelle an Schrödingers Arbeit ist nicht allein, dass er hier erstmals die Hypothese eines genetischen codes formulierte, den er bereits in den 24 Chromosomen lozierte, sondern dass er in kreativer Weise Erkenntnisse der Quantenphysik und Thermodynamik zur Erklärung des Lebens heranzog. Schrödingers Leitfrage lautet: »Wie lassen sich die Vorgänge in Raum und Zeit, welche innerhalb der räumlichen Begrenzung eines lebenden Organismus vor sich 25 gehen, durch Physik und Chemie erklären?« . Um diese Frage zu beantworten, geht Schrödinger von der zunächst nicht weiter begründeten Hypothese aus, »daß wir den wichtigsten Teil einer lebenden Zelle – die Chromosomen – passend als 26 aperiodischen Kristall bezeichnen können« . Dieser gilt Schrödinger dann vermu27 tungsweise als der fixierbare »stoffliche Träger des Lebens« . In der Bewährung dieser zentralen Vermutung, für die Schrödinger nach eige28 nen Aussagen einen methodischen »Zickzackweg« beschreitet, steht als erste 29 Wegmarke die Lösung des »unvoreingenommenen Physikers« . Sie besteht darin, den sich prima facie dem Zugriff der klassischen Physik entziehenden Lebenser-
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1933 erhielt Schrödinger zusammen mit Paul Dirac den Nobelpreis für Physik »in Anerkennung der Entdeckung und Anwendung neuer fruchtbarer Formulierung der Atomtheorie« (so die Formulierung der Nobelpreiskommission). Die von ihm aufgestellte Schrödingergleichung ist eine zentrale Grundgleichung zur Darstellung quantenmechanischer Phänomene, deren Lösungen die räumliche und zeitliche Entwicklung den Zustand eines Quantensystems beschreiben. Mit ihrer Hilfe lassen sich viele Eigenschaften von Atomen und Molekülen erklären. Vgl. dazu Barrow, Natur der Natur, 230f. Vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, 55ff. Vgl. dazu Fischer, E.P., ›Was ist Leben?‹, 12 und RehmannSutter, Gene, Körperlichkeit und Identität, 141. Schrödinger, Was ist Leben?, 32 (Hervorhebung i. Orig.). Schrödinger, Was ist Leben?, 34 (Hervorhebung i. Orig.). Schrödinger, Was ist Leben?, 34 (Hervorhebung v. Vf.). Schrödinger, Was ist Leben?, 35. Schrödinger, Was ist Leben?, 35 (Hervorhebung i. Orig.). Der unvoreingenommene Physiker ist nichts anderes als der statistisch arbeitende Physiker, der der Meinung ist, das Leben sprenge nicht die Möglichkeiten einer physikalischen Herangehensweise. Schrödinger ist hier bereits perspektivisch anderer Meinung und arbeitet auf seinen Fluchtpunkt hin, der in Übereinstimmung mit Delbrück für sich beansprucht, »bereit [zu] sein, hier physikalische Gesetze einer ganz neuen Art am Werk zu finden« (Schrödinger, Was ist Leben?, 139.
›Was ist Leben?‹ – Der Lebensbegriff Erwin Schrödingers
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scheinungen mit statistischen Mitteln zu Leibe zu rücken. Das heißt, dass das Scheitern klassischer physikalisch-kausalorientierter Modelle am Leben auf den ersten Blick kompensiert werden könnte durch den physikalisch-statistischen Blick, der unabhängig von der Wahrnehmung mikroskopisch nicht exakt kontrollierbarer und nachweisbarer Prozesse dennoch in der Lage ist, der klassischen Physik analoge Gesetze zu formulieren. Die damit postulierte Strukturisomorphie 31 von Gesetzen der belebten wie der unbelebten Natur wird wahrscheinlich gemacht durch den Aufweis, dass bei großen Atomverbindungen resp. einer großen Anzahl von Molekülen gesetzmäßige Strukturen jenseits der unkontrollierten Wärmebewegung der Atome statistisch nachgewiesen werden können. Dies zeigt Schrödinger anhand der Phänomene von Parallelmagnetismus, Diffusion und dem 32 Treffen auf Grenzen exakter Messbarkeit auf. Das analoge Zwischenresultat lautet: »Alle physikalischen und chemischen Gesetze, die im Leben der Organismen 33 eine wichtige Rolle spielen, sind von dieser statistischen Art« . Allerdings wird diese Antwort unvoreingenommener Physik von Schrödinger vor dem Hintergrund der Einsichten der ihm zeitgenössischen Biologie problematisiert, die er sofort mit Erwägungen physikalisch-statistischen Denkens korreliert. Das auf den ersten Blick plausible Manöver der statistischen Physik bricht sich nämlich an dem durch biologische Arbeiten wahrscheinlich gemachten bemerkenswerten Umstand, dass am Orte der belebten Natur vergleichsweise kleine Atom- resp. Molekülgruppen (Genotyp) geradezu gesetzmäßige Wirkungen auf unverhältnismäßig große dauerhafte Strukturen (Phänotyp) auszuüben in der Lage sind. Das wirkt in seinen Augen strikt nicht-statistisch. Das Problem besteht dann exakt darin, »die beiden Tatsachen in Einklang [zu] bringen, daß die Genstruktur aus einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Atomen (von der Größenordnung 1.000 und möglicherweise darunter) zu bestehen scheint und trotzdem eine höchst regelmäßige und gesetzmäßige Wirksamkeit mit 30
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Die statistische Physik ist der Arbeitsbereich der Physik, der nicht mehr wie die Newtonsche Physik mit der exakten Vorausbestimmbarkeit von Ereignissen rechnet, sondern – eben statistisch – mit Mustern von Größenverteilungen (Wahrscheinlichkeitsaussagen), die unabhängig von fixierbaren Einzelbeobachtungen aufgespürt werden. Eine Grundeinsicht ist: »Durch die Verkettung von Zufallsereignissen kann sich ein großes Maß an Regelmäßigkeit ergeben« (Barrow, Natur der Natur, 196). Vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, 40: »Daher müssen in der Regel die physikalischen Wechselwirkungen zwischen unseren und anderen Systemen selber einen gewissen Grad physikalischer Ordnung besitzen; das will sagen, daß auch sie bis zu einem gewissen Genauigkeitsgrad strengen physikalischen Gesetzen folgen müssen«. Paradigma eines solchen statistischen Gesetzes ist für Schrödinger die Diffusion. Die nicht prognostizierbare Bewegung von einzelnen Atomen eines nicht ausgeglichenen Flüssigkeitsgemischs lässt sich bei statistischer Erhebung in eine Durchschnittsbewegung aller Teilchen überführen und mathematisch in Gestalt einer partiellen Differenzialgleichung ausdrücken (vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, 49, vgl. dazu auch Barrow, Natur der Natur, 51ff.). Schrödinger, Was ist Leben?, 41. Gemeint sind freilich jene, in denen es um atomare Größen geht. Alle makroskopisch beobachtbaren Prozesse gehen zwar auf diese atomaren zurück, müssen aber deshalb nicht auch statistischer Art sein.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff 34
einer ans Wunderbare grenzenden Dauerhaftigkeit oder Beständigkeit entfaltet« . Die diesbezüglichen molekularen Mechanismen (v.a. Mitose, Meiose, Überkreu35 zung) müssen an dieser Stelle nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Zentral für Schrödinger ist jedoch das Phänomen der Mutation. Mutationen stehen nämlich – so der plausible Rückverweis – wieder in großer Nähe zu physikalisch-statistischen Erwägungen, bedeuten sie doch die Gelegenheit, wieder – und dann ganz im Sinne Darwins – von nicht einzeln exakt verfolgbaren Ereignissen auf große gesetzmäßige Linien zu schließen. Indes entkräftet Schrödinger diese Phantasie mit Verweis auf Einsichten der Quantentheorie. Statistisch gewonnene Einsichten müssten sich im Sinne periodischer Gesetzmäßigkeiten reformulieren lassen, die dann wiederum homogene und lineare Erklärungsmodelle ermöglichen würden. Dies trifft jedoch nicht zu auf den hinsichtlich der Molekülbewegung exzeptionellen und hinsichtlich der Atommasse viel zu leichten Ort der Mutation. Vielmehr lässt das Ineinander von atomarem Ungleichgewicht, Okkasionalität des Ereignisses und statistisch nicht erklärbarer Dauerhaftigkeit hier Bedenken anmelden. Schrödingers Lösung: Mutationen werden analog zu Quantensprüngen interpretiert.36 Die Grundeinsicht der Quantentheorie besteht in der Feststellung, dass im Gegensatz zu dem von der Antike bis zu Leibniz vertretenen Kontinuitäts-Grundsatz 37 natura non facit saltus vor dem Hintergrund der im Atommodell postulierten Energiestufigkeit nichtlineare Prozesse anzunehmen sind. Kernsatz der Quantentheorie ist: »Wirkungen werden nur übertragen in ganzzahligen Vielfachen einer 38 kleinsten Einheit, der Planckkonstante h« . Genauer gesagt: Auf atomarer Ebene – und gemeint ist als Ausgangspunkt das Rutherfordsche und durch Bohr weiter entwickelte Atommodell, das einen Atomkern und darum kreisende Elektronen
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Schrödinger, Was ist Leben?, 91 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. auch a.a.O., 54: »Wie wir sofort sehen werden, spielen nämlich unglaublich kleine Atomgruppen eine beherrschende Rolle in den so sehr geordneten und so gesetzmäßigen Vorgängen innerhalb eines lebendigen Organismus, Atomgruppen, die viel zu klein sind, um exakte statistische Gesetzmäßigkeiten erkennen zu lassen«. Vgl. dazu Schrödinger, Was ist Leben?, 53-71. Hier fällt das oft zitierte Beispiel der »›Habsburger Lippe‹« (Schrödinger, Was ist Leben?, 91f.). Vgl. Aristoteles, Historia de animalibus I, 588B4. Vgl. Leibniz, Neue Abhandlung, 13: »Nichts geschieht auf einen Schlag; und es ist einer meiner wichtigsten Grundsätze, daß die Natur niemals Sprünge macht. Ich habe diesen Satz das Gesetz der Kontinuität genannt, als ich von ihm einmal in den ersten Heften der ›Nouvelles de la republique lettres‹ sprach. Der Nutzen dieses Gesetzes für die Physik ist sehr bedeutend: er enthält in sich, daß man stets durch einen mittleren Zustand hindurch vom Kleinen zum Großen und umgekehrt fortschreitet, sowohl den Geraden wie den Teilen nach; – daß niemals eine Bewegung unmittelbar aus der Ruhe entsteht, noch in sie übergeht, außer durch den kleinen Grad an Bewegung hindurch, wie man auch niemals eine Strecke oder Länge völlig durchlaufen kann, ohne zuvor kleinere Strecken zurückgelegt zu haben« (Hervorhebung i. Orig.). Kropac, Naturwissenschaft und Theologie, 32. Das Plancksche Wirkungsquantum h ist eine Naturkonstante mit h=6,626x10-34 Js.
›Was ist Leben?‹ – Der Lebensbegriff Erwin Schrödingers
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vorstellt – gehen Energieniveaus nicht fließend ineinander über – wie etwa in der klassischen Thermodynamik –, sondern über Energieschwellen und in Gestalt dis40 kreter Pakete (= Quanten). Am Orte des Atoms ist primär von relativ stabilen energetischen Verhältnissen auszugehen, die nur durch Zuführung von Energie über Schwellen in weitere stufig verfasste und wiederum verhältnismäßig stabile energetische Zustände übergehen. Wichtig ist dabei, zu sehen, dass die Überführungsenergie immer höher sein muss (Energieschwelle) als das präsente und zukünftige Energieniveau und dass der Zielzustand wiederum ein gegenüber gering41 fügigen Energieinvasionen dauerhaftes Teilchenverhältnis repräsentiert. Diese Einsicht ist in der folgenden Entwicklung immer weiter präzisiert und nicht zuletzt von Erwin Schrödinger zu einer – freilich von der klassischen Mechanik vollkommen verschiedenen – Quantenmechanik fortentwickelt worden. Schrödinger selbst (vor dem Hintergrund der Einsicht in den Wellencharakter der Teilchenbewegung) stand der Sprungrhetorik skeptisch gegenüber, da er bekanntlich auf die notorische Unbeobachtbarkeit von derartigen Quantensprüngen hingewie42 sen hat (Schrödingers Katze ).
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Das Rutherfordsche Atommodell plausibilisiert, dass Elektronen in der Atomhülle um den sehr kleinen Kern kreisen. Es konnte aber nicht klären, warum durch den bei der Rotation gebildeten rotierenden Dipol nicht ständig Energie in Form elektromagnetischer Wellen abgestrahlt wird, wodurch die Elektronen abgebremst werden müssten und sich damit auf einer spiralförmigen Bahn in sehr kurzer Zeit dem Kern nähern würden (was aber im Widerspruch zur Erfahrung steht). Das Bohrsche Atommodell postuliert dann, dass es für jedes Elektron stationäre Zustände gibt, in denen ein um den Kern kreisendes Elektron nicht (ab)strahlt. Diese Zustände sind dadurch ausgezeichnet, dass der Drehimpuls des Elektrons ein ganzzahliges Vielfaches des durch 2π geteilten Planckschen Wirkungsquantums beträgt. Die Anfänge der Quantentheorie können in dem 1900 von Max Planck entdeckten Strahlungsgesetz loziert werden. Planck hatte herausgefunden, dass die von einem schwarzen Körper abgestrahlte elektromagnetische Energie nicht kontinuierlich, sondern in Quanten abgegeben wird. Der energetische Gehalt eines Quantums ist das Produkt aus der Konstante h und der Frequenz der Strahlung. Vgl. dazu Kropac , Naturwissenschaft und Theologie, 30 und Heilbron, Max Planck, 7ff. Am drastischsten lässt sich ein provozierter Energieabfall vielleicht anhand einer Atombombe illustrieren. Durch die Zuführung von Energie aus der Sprengladung auf das radioaktive Material wird die Schwellenenergie für die folgende Kettenreaktion überschritten. Das berühmte Beispiel der Katze Schrödingers ist ein interessantes Gedankenexperiment. Man stelle sich vor, in einer geschlossenen Kiste befinden sich eine lebendige Katze, ein Geigerzähler, der beim Messen von Strahlung eine Giftgaspatrone öffnet und ein instabiler Atomkern, der vor dem Zerfall steht. Zerfällt der Atomkern, so schlägt der Geigerzähler an, dieser löst die Giftgaspatrone aus, und das Gas tötet die Katze. Schrödinger will mit diesem Gedankenspiel illustrieren, dass es nicht ohne weiteres möglich ist, von Ereignissen auf der atomaren auf solche der makroskopischen Ebene zu schließen, von der Quantenmechanik nicht auf die klassische. Denn weil der die radioaktive Strahlung freisetzende Energieabfall des Atomkerns nicht beobachtbar, sondern nur im Sinne einer Wahrscheinlichkeit angebbar ist, ist es nicht möglich, Aussagen über das Lebendigoder Totsein der Katze zu treffen. Beide Aussagen sind gleich wahr oder gleich falsch. Ob die Katze lebt oder gestorben ist, lässt sich nur sagen, wenn die Kiste geöffnet wird, und nicht aufgrund von Aussagen über das Verhalten des Atomkerns im Sinne der Quantenmechanik.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
Diese Erkenntnisse vom energetisch stufigen Charakter atomarer Veränderungen und Interaktion, wie sie die Quantentheorie wahrscheinlich gemacht hat, wendet Schrödinger als Interpretament zur nichtstatistischen Erklärung der Mutation. Damit gelingt ihm gleichsam der Rückschluss zu seiner Eingangsphantasie des aperiodischen Kristalls als stofflichem Träger des Lebens. Denn es lässt sich nicht nur die Problemlage von Okkasionalität und Gesetzmäßigkeit entzerren und im Vorbeigehen an der statistischen Physik die Schwierigkeit von Massedivergenzen bewältigen, sondern auch gleichzeitig zeigen, dass die Ergebnisse der Mutation als Quantensprung gleichsam auch Stabilität beanspruchen dürfen. Indes birgt die Rede vom aperiodischen Kristall noch Irritationspotential. Denn – und das sieht der Physiker Schrödinger scharf – die bis an diese Stelle ausgeloteten Beschreibungsmöglichkeiten im Hinblick auf das Leben sind auch ohne weiteres auf anorganische Substanzen im Sinne periodischer Kristalle anwendbar.43 Hier meldet sich ein weiteres Mal der bekämpfte Störenfried statistische Physik zu Wort, da entsprechende Phänomene ebenso an der vermeintlichen Autopoietik von Kristallbildung studiert werden können. Diese Feststellung führt direkt in das Herz des Lebensbegriffs Schrödingers, indem er in origineller Einspeisung von basalen Prinzipien der Thermodynamik das angebahnte Problempotential entkrampft. Kristalle – so Schrödinger – generieren sich vergleichbar der diktierenden Gewalt von Chromosomen musterförmig.44 D.h. auch hier scheint es eine die Strukturgebung beherrschende Instanz zu geben, die sich nicht nur vom Molekulargewicht her als asymmetrisch und iterierend erweist, sondern die überdies auch klassischen und statistischen Überlegungen zugänglich ist. Derweil ist es für Schrödinger exakt die Iterativität eines gitterperiodischen Kristalls, die den periodischen Kristall wieder unerheblich werden lässt. Denn hier handelt es sich allein um »den verhältnismäßig uninteressanten Weg der fortgesetzten Wiederholung ein 45 und derselben Struktur in drei Richtungen« . Lebendige Molekülverbindungen 46 hingegen sind nicht auf den »langweiligen Kunstgriff der Wiederholung« angewiesen. Vielmehr ist hier davon auszugehen, dass wesentlich komplexere Aggregate entstehen, wobei bestimmte direktive Atomgruppen sehr unterschiedliche Steuerungsaufgaben übernehmen. Insofern ist ein lebendiges Molekül kein periodi-
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Grundsätzlich geht Schrödinger von einer Vergleichbarkeit von Molekülen und Kristallen aus, weil die das Molekül konstituierenden Atome durch die gleichen Kräfte zusammengehalten werden wie die eines Kristalls. D.h. »daß nach unserer Ansicht ein Molekül als fester Körper = Kristall zu betrachten ist. [...] Das Molekül zeigt die gleiche Festigkeit der Struktur wie ein Kristall« (Schrödinger, Was ist Leben?, 109). Vgl. dazu Küppers, Ursprung der biologischen Information, 199. Schrödinger, Was ist Leben?, 110. Schrödinger, Was ist Leben?, 110.
›Was ist Leben?‹ – Der Lebensbegriff Erwin Schrödingers
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scher, sondern ein aperiodischer Kristall, der sich wesentlich durch ein höheres 47 Maß an Komplexität vom periodischen Kristall unterscheidet. Hinzu kommt ein Weiteres: Schrödinger geht näher auf eine bislang unhinterfragt mitgeführte Einsicht des Biophysikers Max Delbrück (1906–1981) ein, des Mitverfassers der oben bereits berührten ›Dreimännerarbeit‹, die es wahrscheinlich gemacht hatte, dass Gene als komplexe Atomverbände betrachtet werden können. Dieser Einsicht schließt sich Schrödinger mit seiner Rede vom aperiodi48 schen Kristall an, zieht aber mit Blick eben auf die Aperiodizität die entscheidende alternative Schlussfolgerung, »daß die lebende Materie zwar den bis jetzt aufgestellten ›physikalischen Gesetzen‹ nicht ausweicht, wahrscheinlich aber doch unbekannten, ›anderen physikalischen Gesetzen‹ folgt, die einen ebenso integrierenden Teil dieser Wissenschaft bilden werden, sobald sie einmal klar erkannt 49 sind« . Mit Blick auf das Verhältnis des periodischen zum aperiodischen Kristall bedeutet dies, dass der periodische Kristall mithilfe der klassischen und statistischen physikalischen Gesetze klar erklärbar ist, aber die mikroskopischen Mechanismen der Strukturgebung, die spezifischen komplexen Impulsivitäten und die nichtlineare Entwicklung aperiodischer Kristalle sich diesen zumindest teilweise entziehen. Besonders deutlich wird dies nach Schrödinger, wenn die Tatsache in Rechnung gestellt wird, dass das Leben thermodynamisch betrachtet einen höchst unwahrscheinlichen Zustand repräsentiert:50 »Der lebende Organismus scheint ein makroskopisches System zu sein, das sich in einem Teil seines Verhaltens der rein mechanischen (im Gegensatz zur thermodynamischen) Verhaltensweise annähert, auf die alle Systeme im gleichen Maße hinauslaufen, so wie sich die Temperatur 51 dem absoluten Nullpunkt nähert und die molekulare Unordnung dahinfällt« . 52 Damit rekurriert Schrödinger auf den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Er lautet allgemein gesprochen: Geschlossene thermodynamische Systeme sind durch ein Maximum von Entropie (Maß für Unordnung resp. für die Verteilungszufälligkeit eines Systems) ausgezeichnet oder streben dem Entropiemaximum entgegen, d.h. in geschlossenen Systemem kann die Entropie niemals abnehmen. Wenn also zwei Flüssigkeiten unterschiedlicher Temperatur in einem geschlosse47 48 49 50
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D.h. es sind für Schrödinger die »Chromosommoleküle, [...] die zweifellos den höchsten uns bekannten Ordnungsgrad von Atomverbindungen zeigen« (Schrödinger, Was ist Leben?, 134). »Wir können also mit Sicherheit behaupten, daß die molekulare Erklärung der Erbsubstanz die einzig mögliche ist« (Schrödinger, Was ist Leben?, 106). Schrödinger, Was ist Leben?, 121. Vgl. Strauss, Paradigmen, 112: »Weil lebendige Dinge – in thermodynamischen Begriffen gesprochen – ein Fließgleichgewicht aufrecht erhalten, in dem die Ordnung von der Umwelt abgezogen wird (Schrödinger spricht hier von negativer Entropie), läßt sich auch davon sprechen, dass sich lebendige Dinge selbst in einem Zustand von hoher statistischer Unwahrscheinlichkeit halten«. Schrödinger, Was ist Leben?, 122. Vgl. auch das »natürliche Streben der Dinge, sich dem chaotischen Zustand anzunähern« (a.a.O., 128). Zum Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik vgl. einleitend Rauchfuß, Chemische Evolution, 284ff.; Barrow, Natur der Natur, 202–207.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
nen System zusammengeführt werden, besagt der Zweite Hauptsatz, dass die Ordnung (Temperaturdifferenz) in Unordnung (Abgleichung der Temperaturdifferenz) übergeht und dass die absolute Gleichverteilung (Entropiemaximum) von sich aus nicht wieder in Ordnungsstrukturen überzugehen vermag. Es liegt auf der Hand, dass Lebenserscheinungen (und v.a. auch deren Träger, die Chromosomen) diesem thermodynamischen Verhalten konträr laufen, denn Lebenserhaltung kann auch interpretiert werden als Aufrechterhalten eines thermodynamisch unwahrscheinlichen Zustands durch z.B. Wärmezufuhr, Bindung von Flüssigkeiten und Stoffen etc.: »Das Leben scheint ein geordnetes und gesetzmäßiges Verhalten der Materie zu sein, das nicht ausschließlich auf ihrer Tendenz, aus Ordnung in Unordnung überzugehen, beruht, sondern zum Teil auf einer bestehenden Ordnung, die aufrecht erhalten bleibt«53. Gehen Lebenserscheinungen in den thermodynamischen Gleichgewichtszustand über, so sterben sie. Im Zustand des Todes befinden sich die dann unbelebten Organismen wieder auf dem Weg in Richtung des thermodynamischen Gleichgewichts. Tod bedeutet entspre54 chend »Zerfall in das thermodynamische Gleichgewicht« . Die Frage ist aber, wie sich Lebewesen dieser allgemeinen Tendenz der Materie entziehen, sich dem thermodynamischen Gleichgewicht anzunähern? Die einfache wie schlagende Antwort Schrödingers lautet: durch den Metabolismus (= Stoffwechsel). Durch den Metabolismus (vom griechischen μεταβάλλειν = verändern, umsetzen) entzieht ein Lebewesen seiner Umwelt Energie, die es selbst zur Aufrechterhaltung seiner energetisch aufwendigen Ordnungsstruktur nutzt. Schrödinger spricht in dieser Beziehung auch von negativer Entropie: »Das, wovon 55 sich ein Organismus ernährt ist negative Entropie« . Negative Entropie – auch als 56 Negentropie bezeichnet – ist so gesehen selbst ein Ordnungsmaß. Lebewesen entziehen ihrer Umwelt permanent Ordnung, um ihre eigene Ordnung aufrechtzuerhalten: chemische Verbindungen als Nahrung oder bei Pflanzen primär das Son57 nenlicht. Im Falle der Kristallbildung ist die Generierung von Ordnungsstrukturen demgegenüber nicht durch einen Metabolismus im strengen Sinne gekennzeichnet. Vielmehr ist die Errichtung gitterförmiger kristalliner Ordnungsstrukturen mit einer Entrichtung thermischer Energie verbunden, die von allein nicht wieder der Umgebung entnommen werden kann.
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Schrödinger, Was ist Leben?, 122. Schrödinger, Was ist Leben?, 128. Vgl. Schrödinger spricht dort von der »wunderbaren[n] Fähigkeit eines lebenden Organismus, den Zerfall in das thermodynamische Gleichgewicht (Tod) zu verzögern«. Schrödinger, Was ist Leben?, 126. Vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, 129: »Entropie ist in Verbindung mit einem negativen Vorzeichen selbst ein Ordnungsmaß«. »Der Kunstgriff, mittels dessen ein Organismus sich stationär auf einer ziemlich hohen Ordnungsstufe (einer ziemlich tiefen Entropiestufe) hält, besteht in Wirklichkeit aus einem fortwährenden ›Aufsaugen‹ von Ordnung aus seiner Umwelt« (Schrödinger, Was ist Leben?, 129).
›Was ist Leben?‹ – Der Lebensbegriff Erwin Schrödingers
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Den Abschluss der Überlegungen Schrödingers betrifft dann exakt die im Anschluss an Delbrück geäußerte Erwartung, am Orte des Lebens bislang unbekannte Gesetze entdecken zu können. Dabei erteilt Schrödinger zunächst vitalistischen Träumereien eine Absage, die »eine ›neue Kraft‹ oder etwas ähnliches [in] das 58 Verhalten der einzelnen Atome innerhalb des Organismus« hineinphantasieren. Sodann macht er auf eine Differenz der epistemischen Perspektive zwischen Physik, Chemie und Biologie aufmerksam, die wieder das statistische Problem betrifft. Weder in der Chemie noch in der Physik gibt es das beobachtbare Phänomen, dass stabile Ordnungsstrukturen sich einer minimalen und direktiv verfassten Teil59 chengruppe – wie am Orte des Lebens den Chromosomen – verdanken. Die Biologie kann dies jedoch bereits anhand einfacher Zellen tatsächlich beobachten. Das bedeutet, dass dann offenbar auch zwei verschiedene Arten der Ordnungsgenese anzunehmen sind. Einerseits sehen statistische Physik und Chemie Ordnung aus Unordnung hervorgehen. Damit ist auf die statistischen Naturgesetze abgehoben, die im Chaos natürlicher Materieverteilung Ordnungsstrukturen etablieren. Demgegenüber ist das Ordnungsprinzip des Lebens – wie gesehen – das von Ordnung aus Ordnung. Es ist nun bemerkenswert, dass Schrödinger sein neues Prinzip als »echt physikalisches«60 bezeichnet. Nachvollziehbarer wird dies indes, wenn Schrödinger wieder auf die Quantentheorie als Interpretament hinweist. Denn das Prinzip Ordnung aus Ordnung ist für Schrödinger nichts anderes als das »Prinzip der 61 Quantentheorie« . Dies bedarf kurzer Erläuterung. Wie Schrödinger plausibel macht, sind rein mechanische Vorgänge, wie etwa der Gang einer Uhr, mit Vorteil als dem Prinzip Ordnung aus Ordnung folgende Vorgänge aufzufassen. Der regel- resp. ordnungsmäßige Gang einer Uhr verdankt sich der spezifischen Anordnung ihrer einzelnen Teile. Gleiches gilt z.B. auch für die Himmelsmechanik. Die regelmäßige Bewegung der Planeten resultiert ebenso aus ihrer bestimmten Anordnung: »Kurz, alle rein mechanischen Vorgänge schei62 nen deutlich und unmittelbar dem Prinzip der ›Ordnung aus Ordnung‹ zu folgen« . Diese Einsicht wendet Schrödinger an auf das Verhältnis von dynamischer und sta63 tistischer Gesetzmäßigkeit, wie es von Max Planck bestimmt worden ist. Planck hatte unterschieden zwischen mikroskopisch-dynamischer Gesetzmäßigkeit (die dynamischen Gesetze der Atombewegung) und makroskopisch-statistischer Gesetzmäßigkeit (empirisch generierte Naturgesetze im oben beschriebenen Sinne) und behauptet, dass letztere von ersteren herzuleiten seien. Der Lesart Schrödingers zufolge entspricht dieses Verhältnis genau seiner Bestimmung des 58 59 60 61 62 63
Schrödinger, Was ist Leben?, 133. Vgl. auch a.a.O., 124. »[E]ine kleine, aber hochorganisierte Atomgruppe« (Schrödinger, Was ist Leben?, 138). Schrödinger, Was ist Leben?, 140. Schrödinger, Was ist Leben?, 140. Schrödinger, Was ist Leben?, 140. Zu Max Planck und Erwin Schrödinger vgl. Heilbron, Max Planck, bes. 190–205.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
Prinzips Ordnung aus Ordnung, indem die dynamische Ordnung am Orte des Moleküls – die wie gesehen nur quantenmechanisch erklärbar ist – die Grundlage der makroskopischen Ordnung des Organismus ist, die (wenn auch im thermodynamischen Ausnahmezustand) statistischen Ordnungserwägungen zugänglich ist. Damit hat Schrödinger gleichermaßen sichergestellt, dass sein neues Prinzip Ordnung aus Ordnung der klassischen und statistischen Physik wenigstens nicht 64 inkompatibel ist. Den fiktiven Einwand, damit wären doch die Chromosomen zuletzt so etwas wie Zahnräder einer organischen Maschine, entkräftet Schrödinger wie folgt: »Die kennzeichnendsten Wesensmerkmale sind: Erstens die merkwürdige Verteilung der ›Zahnräder‹ in einem vielzelligen Organismus [...] und zweitens die Tatsache, daß das einzelne Zahnrad nicht ein plumpes Menschenwerk ist, sondern das feinste Meisterstück, das jemals nach den Leitprinzipien von Gottes 65 Quantenmechanik vollendet wurde« . Im Epilog bezeichnet Schrödinger dies als eine Beobachtung die – »einem biologischen Beweise Gottes und der Unsterblich66 keit am nächsten kommt« . II.2
Wirkung und ethische Implikationen: Ethik des Quantensprungs
›Was ist Leben?‹ kann als Schrödingers populärste und meistgelesene Arbeit be67 zeichnet werden. Schrödingers Name hängt indes nicht nur an diesem Buch, vielmehr hat ihn in erster Linie die nach ihm benannte Gleichung im Reich der Naturwissenschaft nachgerade unsterblich gemacht. Als kreativer und weitblickender Kopf hat er jedoch auch das ihm heimatliche Terrain verlassen und damit nachhaltigen Einfluss auf andere Disziplinen ausgeübt. Insbesondere die Wirkung auf die im Entstehen begriffene Molekularbiologie kann kaum überschätzt werden. So »wurde Schrödingers Buch eine Art ›Onkel Toms Hütte‹ der Revolution in der Biologie, die nun, nachdem sich der Staub verzogen hat, die Molekularbiologie als Vermächtnis hinterließ«68, und die Überlegungen Schrödingers »inspirierte[n] einige der fähigsten Köpfe, die sich jemals der Biologie zuwandten, zu den Arbeiten, 69 welche die Anfänge der Molekularbiologie darstellen« . Es steht dabei außer Frage, dass Schrödinger in seiner Grundthese Recht behielt. Es hat sich nachhaltig bestätigt, »daß Leben nur weit entfernt von einem thermodynamischen Gleichgewichts64
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»Man gewinnt also den Eindruck, daß das ›neue Prinzip‹, das Prinzip der Ordnung aus Ordnung, auf das wir so feierlich als den wirklichen Schlüssel zum Verständnis des Lebens hingewiesen haben, der Physik gar nicht so fremd ist. Nach Plancks Stellungnahme gebührt ihm sogar die Priorität. Wir kommen scheinbar zu der merkwürdigen Schlußfolgerung, der Schlüssel zum Verständnis des Lebens liege darin, daß es auf reinem Mechanismus, einem ›Uhrwerk‹ im Sinne der Planckschen Arbeit beruhe« (Schrödinger, Was ist Leben?, 141). Schrödinger, Was ist Leben?, 147. Schrödinger, Was ist Leben?, 149. Noch zu Lebzeiten erreichte das Buch eine Auflage von über 100.000 Exemplaren. Stent, Einleitung, 13. Kauffman, Was ist Leben?, 99.
›Was ist Leben?‹ – Der Lebensbegriff Erwin Schrödingers
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zustand möglich ist« . In vielen Einzelheiten ist ihm fachlich allerdings z.T. vehement widersprochen worden. In dieser Hinsicht erleidet er das Schicksal vieler Grenzgänger, die allen zeitgenössischen Forderungen nach Interdisziplinarität zum Trotz für ihren Aufenthalt auf der Grenze nicht gewürdigt, sondern wieder Opfer des Fallbeils disziplinärer Zementierungsinstinkte werden. Die Liste allein der zentralen Einwürfe von Fachgenossen auf ›Was ist Leben?‹ ist nicht gerade kurz. So lautet ein Standardeinwand, dass Schrödinger schon beim Verfassen seines Buches nicht über alle neueren Entwicklungen der Genetik informiert war.71 Und es wird nicht unironisch festgestellt, dass Schrödinger die zentrale Frage gerade in seinem Ausflug in die Nachbardisziplinen zu beantworten 72 suchte. Vor diesem Hintergrund ist auch schon die provozierende Frage aufgeworfen worden, warum dieses Buch einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen 73 hat. Des Weiteren: Die Entdeckung der Doppelhelix-Struktur der DNS durch Ja74 mes Watson und Francis Crick »zerstör[t]e vorläufig die Hoffnung [...], daß die Wunder der Vererbung – also die Stabilität der Gene und die Verläßlichkeit ihrer 75 Mechanismen – nicht in Form klassischer Modelle verstanden werden konnten« . Ebenso ist Schrödingers Entropie-Lösung in die Kritik geraten: »Schrödinger versuchte nun in seinen Dubliner Vorlesungen das Problem dadurch in den Griff zu bekommen, daß er sagte, Leben ernähre sich von ›negativer Entropie‹. Damit beschrieb er nur zum Teil die Tricks des Lebens, denn dies kann auch jedes System 76 von Enzymen« . Und schließlich ist mit Blick auf seine Konzeption das Problem aufgeworfen worden, ob die Quelle der Ordnung tatsächlich in den stabilen Bin77 dungsstrukturen von Molekülen angesiedelt werden kann oder nicht vielmehr davon auszugehen ist, dass »[d]ie eigentlichen Quellen der Ordnung, die für die Entstehung und Evolution des Lebens notwendig [sind] auf neuen Prinzipien emergenten kollektiven Verhaltens in Reaktionssystemen weitab vom Gleichge-
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Fischer, E.P., Was ist Leben?, 22. Vgl. auch Kelso/Haken, Neue Gesetze, 177: Sie betonen im Anschluss an Schrödinger, »daß lebende Objekte fundamental Nichtgleichgewichtssysteme sind« (Hervorhebung i. Orig.). »Als Schrödinger sein Buch schrieb, war seine genetische Kenntnis einige Jahre im Rückstand« (Stent, Einleitung, 15). »Seine Fragen sind heute noch genauso schwierig zu beantworten wie damals« (Fischer, E.P., Was ist Leben?, 11). Vgl. auch a.a.O., 23: »Er konnte natürlich keine Antwort auf die Grundfrage geben«. Cairns u.a., Phagen, 5. Eigen stellt diesbezüglich fest: »Schrödingers Schrift war epochemachend, nicht weil es einen brauchbaren Ansatz zum Verständnis des Phänomens ›Leben‹ enthalten würde, sondern weil es neue Denkanstöße vermittelte. Vieles, worüber Schrödinger in seinem Buch orakelt, war zwar von den Biochemikern längst aufgeklärt worden, aber niemand vor ihm hatte derart unbekümmert nach dem Grundsätzlichen gefragt« (Eigen, Was bleibt von der Biologie, 10). Zur Entdeckungsgeschichte vgl. ausführlich Olby, Path to the Double Helix, bes. 385–422. Zur Struktur der DNS vgl. Vollmert, Molekül und Leben, 191ff., Olby, Path to the Double Helix, 402ff. Fischer, E.P., Was ist Leben?, 18f. Vgl. auch Olby, Path to the Double Helix, 246. Fischer, E.P., Was ist Leben?, 21f. Vgl. Kauffman, Was ist Leben?, 99f.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff 78
wichtszustand« beruhen. Dies alles kann hier nicht weiter vertieft werden. Interessant ist hier in Ernstnahme des fachlichen Transits jedoch vielmehr die Frage: Was trägt Schrödingers Lebensbegriff für das menschliche Leben und insbesondere für dessen ethische Reflexion aus? Bevor darauf eingegangen wird, sei der Lebensbegriff Schrödingers in seinen Grundzügen noch einmal knapp zusammengefasst: Der stoffliche Träger des Lebens ist – in Anschluss an Max Delbrück – auf der molekularen Ebene lozierbar und in seiner Entwicklung und Interaktion quantenmechanisch als hochkomplexer aperiodischer Kristall erklärbar. Dieser selbst und von ihm gebildete Organismen sind thermodynamisch als exzeptionelle und offene Systeme beschreibbar, die in Aufrechterhaltung ihrer Ordnung Ordnung aus Ordnungsstrukturen der Umwelt beziehen. Damit wird das Prinzip des Lebens als das von Ordnung aus Ordnung einsehbar. Es liegt auf der Hand, dass es Schrödinger in ›Was ist Leben?‹ nicht primär daran gelegen ist, explizit ethische Folgerungen aus seiner Beschäftigung mit dem Leben zu ziehen. Aber an einigen Stellen scheint sehr wohl ein allgemeines ethisches Problembewusstsein hervor, an anderer Stelle wird es sogar explizit: Im Kontext seiner Analyse von durch Röntgen- resp. γ-Strahlen hervorgerufenen Mutationen erhebt Schrödinger die Gefahr einer Veränderung des humanen Genoms zum gesamtgesellschaftlichen Problem: »Aber jede Möglichkeit einer allmählichen Infektion der menschlichen Rasse mit unerwünschten latenten Mutationen sollte eine die Gemeinschaft interessierende Angelegenheit sein«79. Es ist nun genau dieser Blick für die Gesellschaft, der Schrödingers Lebensbegriff aus ›Was ist Leben?‹ weiteren Überlegungen zugänglich gemacht hat. Denn bekanntlich war der (zunächst zum Dr. phil. promovierte) Nobelpreisträger der 80 Philosophie und Glaubenslehre gegenüber durchaus aufgeschlossen. In dieser 81 Hinsicht hat er »mehrere philosophisch orientierte Aufsätze« verfasst und dezidiert ethische Anschlussüberlegungen in einer positionellen Autobiographie na-
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Kauffman, ›Was ist Leben?‹, 100. Vgl. auch ebd.: »Schrödingers Erkenntnisse über das heutige Leben waren zwar richtig, aber ich glaube, daß seine Überlegungen insofern unvollständig waren, als sie nicht tief genug gingen. Die Bildung großer aperiodischer fester Körper als Träger eines Miniaturcodes – Ordnung aus Ordnung – ist möglicherweise weder notwendig noch hinreichend für die Entstehung von Leben. Dagegen können bestimmte Formen stabiler kollektiver Dynamik für das Leben sowohl notwendig als auch hinreichend sein«. Schrödinger, Was ist Leben?, 90. Ein anderes Beispiel in dieser Beziehung ist seine Absage an den industrialisierten Krieg als positives Selektionsinstrument: »Die antiselektive Wirkung des modernen Massengemetzels der gesunden Jugend aller Nationen wird schwerlich ausgeglichen durch die Überlegung, daß unter primitiven Bedingungen der Krieg einen positiven selektiven Wert gehabt haben mag, indem er den stärkeren Stamm überleben ließ« (a.a.O., 83). Vgl. Audretsch, Nachwort, 136. Fischer, E.P., Was ist Leben, 17.
›Was ist Leben?‹ – Der Lebensbegriff Erwin Schrödingers
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mens ›Mein Leben‹ und dem weltanschaulichen Essay ›Meine Weltansicht‹ nieder82 gelegt. Als Physiker verfolgt er hier die Absicht, ein »naturwissenschaftliches Ver83 ständnis der Ethik« zu etablieren. Das meint nicht eine Ethik, die mit Verweis auf die menschliche Natur eine Entwicklung natürlicher Anlagen resp. Triebe und Ins84 tinkte fordern würde. Vielmehr generiert sich nach Schrödinger eine ethische Forderung aus der Tatsache, dass die Evolution der Spezies Mensch noch im vollen Gange ist und jeder sich jeden Tag an der Verbesserung der Spezies zu messen hat: »In der Tat muß jedes Individualleben, ja jeder Tag im Leben eines Individuums ein wenn auch noch so geringfügiges Stück Artenentwicklung, einen wenn auch noch so unbedeutenden Meißelschlag an dem ewig unfertigen Bilde unserer Spezies darstellen. Denn deren gesamte gewaltige Evolution setzt sich aus Myriaden solcher geringfügiger Meißelschläge zusammen. Und so müssen wir bei jedem Schritt die Form, die wir eben noch besaßen, abändern, überwinden, zerstören«85. Dies gründet sich exakt in den Überlegungen, die zur Hypothese eines aperiodischen Kristalls geführt haben. Die direktive Wirklichkeit der Chromosomen in ihrer evolutionären Entwicklung zum Höherstufigen ist so nicht nur als integraler Bestandteil humaner Wirklichkeit, sondern auch als deren aktiv mitzuvollziehende Bestimmung aufzufassen. Der ethische Imperativ heißt: Quantensprung! Präziser: Jeder hat also seinen gattungsgeschichtlich erreichten (wellenförmigen) Lebenszustand nicht einfach nur zu perpetuieren, sondern am Orte seiner eigenen Individualität zu überwinden und gleichsam auf eine ethisch-energetische höhere Stufe zu befördern. Die ethische Forderung ist die nach stetiger quantifizierbarer Selbstüberwindung, nach dem Zurückstellen egoistischer, selbstischer Einstellungen. Die Begründung dieser ethischen Forderung liegt aber nicht einfach in dem schlichten Gedanken, dass es sich um eine Entwicklung zu höheren Entwicklungszuständen handelt. Vielmehr bietet Schrödinger auch hier einen biologischen Schlüssel. Grundsätzlich gilt: Mit Blick auf das Individuum ist Egoismus eine positive Eigenschaft, hinsichtlich des Zusammenlebens in der Gemeinschaft ist er hingegen artschädlich. Wie in der Natur anhand von Bienen und Ameisen studiert werden kann, ist hier jeder individuelle und egoistische Instinkt phylogenetisch eliminiert, wodurch überaus effektive und stabile Gemeinschaftsformen entstan-
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›Meine Weltansicht‹ erschien zuerst 1961 und besteht genau genommen aus zwei Aufsätzen, von denen der erste ›Suche nach dem Weg‹ bereits aus dem Jahre 1925 stammt und der zweite ›Was ist wirklich‹ von 1960. Im folgenden wird ›Meine Weltansicht‹ nach der Erstausgabe von 1961 zitiert. Schrödinger, Meine Weltansicht, 91 (Hervorhebung v. Vf.; i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. Schrödinger, Meine Weltansicht, 92f.: »›Ich bin nun einmal so, wie ich bin. Platz meiner Individualität! Freie Entwicklung den mir von der Natur eingepflanzten Trieben! Selbstbeherrschung, Selbstverleugnung ist Unsinn, Pfaffentrug. Gott ist Natur, und Natur wird mich wohl so gebildet haben, wie es ihr recht ist, wie ich sein soll, jedes andere Soll ist Blödsinn‹« (i. Orig. z.T. gesperrt). Schrödinger, Meine Weltansicht, 94 (i. Orig. z.T. gesperrt).
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den sind. Da der Mensch auch stabile Gemeinschaften etablieren will, hat analog ein entsprechender biologisch rückversicherter Altruismus unter den Menschen Einzug zu halten. Und in dieser Beziehung diviniert Schrödinger »Anzeichen dafür, daß wir am Beginn einer biologischen Umbildung von egoistischer zu altruistischer 87 Einstellung stehen« . Die Rede von einer Ethik des Quantensprungs kann auf den ersten Blick sicherlich ansatzweise verstörend wirken. Allerdings ist die damit ausgedrückte ethische Forderung nach Überwindung bei näherem Hinsehen keineswegs so ungewöhnlich und wurde bereits im Laufe der vorlegenden Untersuchung berührt. Strukturell handelt es sich nämlich um nichts anderes als Nietzsches metaphysisch-ethisches 88 Konzept der Selbstüberwindung. Zu beachten ist jedoch die jeweilige Zielrichtung dieses ethischen Imperativs. Denn hierin unterscheiden sich Nietzsche und Schrödinger erheblich. Der Kern der Nietzscheschen Forderung nach Selbstüberwindung war eine Eingliederung in den Willen zur Macht, die durch Konzentration auf den Machtwillen denselben stringent artikuliert und, da die Aktualisierung des Machtwillens auf die Steigerung und Erweiterung seiner selbst hin angelegt ist, sich im Idealfall als selbstmächtiges Setzen von Wertungen und Gesetzen vollzieht. Selbstüberwindung im Sinne Nietzsches ist also das Stellen des (alten) Egoismus unter den Willen zur Macht, der dieses dann in Richtung auf den sich selbst überwunden habenden Übermenschen ausbaut. Bei Schrödinger hingegen zielt die Selbstüberwindung nicht auf die Etablierung eines höheren, in der Entwicklung voranschreitenden Ego, sondern umgekehrt auf die Überwindung des Egoisten zum Altruisten. Der eigentliche ethische Quantensprung besteht so im gezielten Überspringen eines die Gesellschaft bedrohenden Egoismus hin zum Altruismus. Ziel des Übersprungs ist in letzter Konsequenz die »Umbildung des Menschen zu einem animal sociale«89.
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Die Vorstellung vom altruistischen Ameisenstaat als gleichsam ideales Staatenmodell geht maßgeblich mit zurück auf den Schweizer Psychiater Auguste Forel, von dem der Satz überliefert ist: »Die Ameisen lehrten mich die Arbeit und den Sinn für das Gemeinschaftswesen« (zit. nach Hein, Zwang zur Ordnung, 28). Till Hein hat auf die bleibende Faszination der Ameisen als quasi moralisches Vorbild für humane Organisation hingewiesen. Allerdings hält Hein fest: »Als Projektionsfläche moralischer Vorstellungen sind Ameisen mittlerweile ein wenig in die Krise geraten. Sogar Selbstmordattentäter haben Ameisenforscher neulich beobachtet: Arbeiterinnen einer Camponotus-Art aus Südostasien spannen, wenn sie sich bedroht fühlen, ihre Bauchmuskeln so stark an, dass die Bauchdecke aufreisst, ihr Körper zerplatzt – und giftige Sekrete auf die Feinde spritzen« (ebd., 28). Hinzu kommt, dass das Bild der fleißigen Ameise nur bedingt trifft, denn nicht nur, dass etwa drei Viertel der Mitglieder eines Ameisenstammes unter normalen Verhältnissen müßig gehen (erst bei Nahrungsknappheit werden sie aktiv), sondern auch, dass sie z.B. Blattläuse als Sklaven benützen, hat Bedenken laut werden lassen (vgl. a.a.O., 30). Schrödinger, Meine Weltansicht, 100. Vgl. dazu unter B.IV.1.1. Schrödinger, Meine Weltansicht, 100 (Hervorhebung v. Vf.).
›Was ist Leben?‹ – Der Lebensbegriff Erwin Schrödingers
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In dieser Beziehung fühlt sich Schrödinger fernöstlichen Philosophien wie de90 nen der Vedanta und der Bhagavad-gita und deren »mystische[r] Metaphysik« 91 nahe. Von daher ist es nur folgerichtig, wenn Schrödinger eben nicht auf Nietzsche abhebt, sondern seine philosophische Referenz an Schopenhauer festmacht. Die Mitte der Anlehnung an Schopenhauer besteht exakt im Mitleidenscharakter 92 des von ihm etablierten Altruismus. Ausdruck findet dies für Schrödinger bereits in folgenden indischen Versen, die er aus dem Gedächtnis nach einer bei Schopenhauer zu findenden metrischen Übersetzung zitiert: »Die eine höchste Gottheit in allen Wesen stehend und lebend, wenn sie sterben, wer diese sieht, ist sehend. Denn welcher allerorts den höchsten Gott gefunden, der Mann wird durch sich 93 selbst sich selber nicht verwunden. […] Qua via summa patet« . So scheint letztlich eine naturwissenschaftlich inspirierte Mystik aus den ethischen Überlegungen Schrödingers hervor und bezeichnenderweise merkt Schrödinger jenem Zitat an: 94 »Eines Kommentars bedürfen diese schönen Worte nicht« . 90 91 92
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Schrödinger, Meine Weltansicht, 158. Vgl. Schrödinger, Was ist Leben?, 150ff. Vgl. Schopenhauer, Grundlage der Moral, 103–110 (§ 16. Aufstellung und Beweis der allein ächten moralischen Triebfeder) und 172: »Daher habe ich, in der vorigen Abteilung, das Mitleid das grosse Mysterium der Ethik genannt«. Schrödinger, Meine Weltansicht, 159 (Hervorhebung v. Vf.). Neben der Übersetzung, »die irgendwie bei Schopenhauer zu finden ist, doch bin ich nicht sicher, ob sie aus der Vedanta oder aus der Bhagavadgita stammt« (a.a.O., 158) bringt Schrödinger ebenfalls aus dem Gedächtnis noch folgende lateinische Fassung: »Qui videt ut cunctis animantibus insidet idem rex et dum pereunt, hanc perit, ille videt. Nolet enim sese dum cernit in omnibus ipsum ipse nocere sibi. Qua via summa patet« (a.a.O., 159). Den Wortlaut der deutschen Übersetzung hat Schrödinger gut getroffen, das Latein ist jedoch grammatisch falsch und eher ein Phantasieprodukt. Schopenhauer zitiert am Schluss seiner Abhandlung korrekt A.W. v. Schlegel mit seiner lateinischer Übersetzung von Bhavagadgita XIII, 27f. aus dem Jahre 1823: »Eundem in omnibus animantibus consistentem summum dominum, istis pereuntibus haud pereuntem qui cernit, is vere cernit. Eundem vero cernens ubique praesentem dominum, non violat semet ipsum sua ipsius culpa: exinde pergit ad summum iter« (Schopenhauer, Grundlage der Moral, 173). Die von Schrödinger zitierte deutsche Übersetzung stammt jedoch aus dem 3. Band (München 1912) der Schopenhauer-Ausgabe von Paul Deussen, der in einem Anhang Schopenhauers Zitate nachweist und übersetzt, wobei er an der vorliegenden Stelle seine eigenen Bhavagadgita-Übersetzung (Leipzig 1911) direkt aus dem Sanskrit anführt. Allerdings heißt es bei Schrödinger im ersten Satz »Gottheit«, während Deussen bereits hier mit »Gott« übersetzt. Die Übersetzung des letzten lateinischen Satzes fehlt bei Deussen wie auch bei Schrödinger. Die Bhavagadgita-Stelle gibt den Grundgedanken des vedantischen »tat tvam asi« (»das bist du«) wieder, dass Individualseele (atman = Selbst) und Weltseele (brahman) identisch sind und dass sich in der gesamten Außenwelt und damit auch in jedem Mitmenschen das eigenen Selbst spiegelt (vgl. Hiriyanna, Wesen der indischen Philosophie, 26f.). Schopenhauer führt die subjektiv-idealistische »metaphysische Grundlage« seiner altruistischen Ethik auf diese indische Weisheit zurück (vgl. Schopenhauer, Grundlage der Moral, 173 und auch 169f.: »Mein wahres, inneres Wesen existirt in jedem Lebenden so unmittelbar, wie es in meinem Selbstbewußtseyn sich nur mir selber kund giebt. [...] Denn so gut wie im Traum in allen und erscheinenden Personen wir selbst stecken, so gut ist es im Wachen der Fall, – wenn auch nicht so leicht einzusehen. Aber tat-twam asi«). Schrödinger, Meine Weltansicht, 159. Insofern hegt Schrödinger auch eine gewisse Sympathie für Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben (vgl. ebd.).
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
III. Zufall und Notwendigkeit: Jacques Monods Theorie des Lebens III.1
Invarianz und Teleonomie
Jacques Lucien Monod (1910–1976) kann als einer der bedeutendsten Molekularbiologen des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Er hat herausragende Beiträge zur Aufklärung der molekularen Mechanismen der Vererbung sowie der Steue95 rung von Lebensvorgängen geleistet. 1965 erhielt er zusammen mit André Lwoff und François Jacob den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie. ›Zufall und Notwendigkeit‹ gilt als eines seiner einflussreichsten Werke. Es speist sich entstehungsgeschichtlich aus den so genannten ›Robbins Lectures‹, die Monod im Februar 1969 am Pomona College in Kalifornien gehalten hatte, und aus anschließenden Vorlesungen am Collège de France 1969/70. Das Buch selbst – so kontrovers es z.T. diskutiert wurde – gilt inzwischen als »ein bedeutsames Ereignis in der Welt 96 der Philosophie« . Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, dass »Biologie [...] die für den Men97 schen bedeutendste Wissenschaft« ist. Allerdings verwahrt sich Monod in ›Zufall und Notwendigkeit‹ vor dem (unmöglichen) Anspruch, die Biologie in toto darzustellen. Vielmehr hat er von Anfang an die Molekularbiologie im Auge, und sein erklärtes Ziel besteht darin, »aus der Molekularbiologie des Codes die Quintessenz zu 98 ziehen« . Ähnlich wie für Schrödinger gilt dabei für Monod, dass »Lebewesen [...] seltsa99 me Objekte« repräsentieren, d.h. sie unterscheiden sich signifikant von nicht belebten natürlichen oder künstlichen Objekten und verhalten sich deshalb prima facie einer naturwissenschaftlichen Erfassung gegenüber sperrig. Um zunächst lebende Entitäten scharf von nicht belebten zu unterscheiden, schlägt Monod ein Tripel von Eigenschaften vor, die allein für das Leben charakteristisch sind:
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Vgl. Eigen, Vorrede, XIf. Eigen, Vorrede, IX. Damit wendet Manfred Eigen ein direktes Zitat aus Bertrand Russels Vorrede zur englischen Übersetzung von Wittgensteins ›Tractatus Logico-philosophicus‹ auf Monods ›Zufall und Notwendigkeit‹ an, was insofern gerechtfertigt erscheint, weil bei beiden »grundlegende Fragestellungen der Philosophie in der Reflexion mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens« (vgl. ebd. [Hervorhebung i. Orig.]) behandelt werden. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 3. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 6. Die Molekulartheorie des genetischen Codes definiert Monod wie folgt: »Sie umfaßt [...] nicht nur die Einsicht in die chemische Struktur der Erbsubstanz und die in ihr enthaltene Information, sondern auch in die molekularen Mechanismen des morphogenetischen und physiologischen Ausdrucks dieser Information« (a.a.O., 4). Monods allgemeine Bestimmung der Molekularbiologie ist bis heute in den einschlägigen Lehrbüchern en vogue (vgl. Römpp, 391). Monod, Zufall und Notwendigkeit, 26. Vgl. auch die Überschrift zum ersten Kapitel »Seltsame Objekte« (a.a.O., 9).
Zufall und Notwendigkeit: Jacques Monods Theorie des Lebens
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Teleonomie, autonome Morphogenese und reproduktive Invarianz. Teleonomie meint für Lebewesen, »Objekte zu sein, die mit einem Plan ausgestattet sind, den sie gleichzeitig in ihrer Struktur darstellen und durch ihre Leistungen 101 ausführen« . Mit dem Etikett der autonomen Morphogenese wird auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass im Gegensatz zur Maschine sich die teleonome Struktur nicht äußeren Kräften, sondern »inneren ›morphogenetischen‹ Wechselwir102 103 kungen« verdankt. Und mit dem Ausdruck reproduktive Invarianz ist darauf verwiesen, dass Lebewesen fähig sind, ihre spezifische Struktur quasi unverändert 104 zu übertragen und zu reproduzieren. In der Zusammenschau dieser drei basalen Lebenseigenschaften ergibt sich für Monod folgendes Bild: »Die genetische Invarianz offenbart sich nur durch die autonome Morphogenese der Struktur, die den 105 teleonomischen Apparat darstellt« . Indem so die autonome Morphogenese als auch wieder quasi invarianter Mechanismus einsichtig wird, kommt er zu dem Ergebnis, dass nur zwei Haupteigenschaften des Lebendigen anzunehmen sind: In106 varianz und Teleonomie. Die oben benannte Sperrigkeit in der Erfassung des Lebendigen wird nun sichtbar, wenn genauer auf Invarianz und Teleonomie gesehen wird. Denn an dieser Stelle tritt ein Paradoxon hervor. Invarianz (als die Konservierung und Perpetuierung von Strukturen mit hohem Ordnungsgrad) – und an dieser Stelle liegt Monod ganz auf der Linie Schrödingers – scheint dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik konträr zu laufen, weil das Leben sich offenbar der allgemeinen Tendenz zur Entropiezunahme entzieht. Allerdings – so wirft Monod gegen Schrödinger ein 100 Monod spricht an dieser Stelle von »allgemeinsten Eigenschaften [...], die alle Lebewesen auszeichnen« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 21). 101 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 17 (Hervorhebungen i. Orig.). Dies kann Monod auch als einen »autonome[n] innere[n] Determinismus« (a.a.O., 20) bezeichnen. Für sich genommen ist dieses Merkmal zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Nicht hinreichend ist diese Definition, weil sie kein Kriterium angibt, wie sich Lebewesen von Maschinen unterscheiden (vgl. a.a.O,, 18). Dieses Kriterium findet Monod schließlich in der »Anwendung äußerer Kräfte auf das Ausgangmaterial und das Objekt« (ebd. [Hervorhebung i. Orig.]). Der Begriff Teleonomie wurde 1958 vom englisch-amerikanischen Biologen Colin Pittendrigh 1958 als Gegenbegriff zur prinzipiellen Teleologie eingeführt. Der Sache nach traf er damit – ohne es zu wissen – den Sinn der Kantischen teleologischen Maxime der reflektierenden Urteilskraft (vgl. dazu Düsing, Naturteleologie, 139). 102 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 19. Monod führt weiter aus: »Seine Struktur beweist eine klare und uneingeschränkte Selbstbestimmung, die eine quasi totale ›Freiheit‹ gegenüber äußeren Kräften und Bedingungen einschließt« (ebd.). 103 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 19: »Durch den autonomen und spontanen Charakter der morphogenetischen Prozesse, in denen sich ihre makroskopische Struktur aufbaut, unterscheiden sich die Lebewesen absolut von den Artefakten wie übrigens auch von den meisten natürlichen Objekten, deren makroskopische Morphologie zum größten Teil von der Einwirkung äußerer Kräfte herrührt«. Als Ausnahme führt Monod die kristalline Morphologie an. 104 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 20. 105 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 25. 106 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 26. Damit ist methodisch die das ganze Buch beherrschende Zweiheit von Zufall und Notwendigkeit präludiert.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
– widerspricht dieses Verhalten keineswegs dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Es ist zwar nach wie vor richtig, dass sich Lebewesen der allgemeinen Tendenz der Entropiezunahme entziehen, aber dies tun sie, indem sie eben Energie (oder Ordnung) aus anderen Systemen beziehen und so gesehen eine thermodynamisch ausgeglichene Bilanz präsentieren, weil das Erhalten der je eigenen 107 Ordnung auf Kosten einer Entropiezunahme anderer Systeme geht. Der Grund dafür findet sich exakt in der Teleonomie, die nichts anderes ist als ein komplexes Aggregat, das zwischen differenten Entropieentwicklungen zu vermitteln vermag: »Der thermodynamische Preis für die Invarianz wird auf den Pfennig genau bezahlt – dank der Perfektion des teleonomischen Apparats, der mit Kalorien geizt und bei seiner unendlich komplexen Aufgabe einen Wirkungsgrad erreicht, dem die von 108 Menschen erbauten Maschinen kaum nahe kommen« . Bei Lichte besehen handelt es sich also nicht um ein Paradoxon im klassischen Sinne, sondern um einen 109 »erkenntnistheoretischen Widerspruch« . Das von Monod am Orte des Lebens gesehene Problem betrifft das Ineinander eines physikalisch exakt beschreibbaren Aggregats und einer von diesem verwirklichten Teleonomie; kurz: von Struktur 110 und Projekt. Zu einem erkenntnistheoretischen Widerspruch wird diese Gegensätzlichkeit, wenn in Rechnung gestellt wird, dass naturwissenschaftliche Forschung im Postulat der Objektivität eine methodische Grenze findet. Das Postulat der Objektivität ist dabei gleichbedeutend mit der »systematischen Absage an jede Erwägung, es könne zu einer ›wahren‹ Erkenntnis führen, wenn man die Erschei111 nungen durch eine Endursache, d.h. durch ein ›Projekt‹ deutet« . Aber – und das ist der springende Punkt – selbst bei Beachtung dieser wissenschaftlichen Maxime kommt auch die objektive Naturwissenschaft nicht umhin, am Orte belebter Struktur ein Projekt auszumachen: die bereits benannten teleonomischen Eigenschaften von Lebewesen. Sie verhalten sich der objektiven Forschung gegenüber widerständig und genau dieser erkenntnistheoretische Widerspruch ist es, den Monod mit 112 seiner Verhältnisbestimmung von Zufall und Notwendigkeit zu bewältigen sucht. Es liegt ganz in der Natur der Akzeptanz des benannten Objektivitätspostulats, dass Monod sich explizit gegen alternative Modelle wie den metaphysischen Vitalismus (v.a. Bergson), den wissenschaftlichen Vitalismus (Driesch, Elsasser, Polan-
107 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 28: »Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik wird also keineswegs feststellbar oder messbar verletzt«. 108 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 28f. 109 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 29 (Hervorhebung i. Orig.). 110 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 30 u. 114. 111 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 30 (Hervorhebung i. Orig.). 112 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 31: »Das zentrale Problem der Biologie ist eben dieser Widerspruch, der als nur scheinbarer aufzulösen oder, wenn es sich wirklich so verhält, als grundsätzlich unlösbar zu beweisen ist«.
Zufall und Notwendigkeit: Jacques Monods Theorie des Lebens
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yi) und den Animismus, den Monod zunächst in den »Kindheitstagen der Mensch113 heit« lokalisiert, richtet. Zentrum des metaphysischen Vitalismus ist nach Monod die Nietzsche durchaus nahestehende und von Monod an Bergson festgemachte Grundthese, dass alles Leben auf einem Drang beruht, der aber selbst weder Endzweck noch Ursache 114 hat. Ein wirklich kritisches Argument dagegen bringt Monod nicht vor. Es lässt sich allenfalls entnehmen, dass er mit den vom metaphyischen Vitalismus entwi115 ckelten umfassenden metaphysischen Parametern nichts anzufangen vermag. Der wissenschaftliche Vitalismus geht nach Monod von der – im Kontext dieser Arbeit wiederholt thematisierten – Hypothese aus, dass die physikalischen und chemischen Gesetze der unbelebten Natur nicht ausreichen, um belebte Systeme hinreichend zu erklären: »Folglich wird die Annahme nötig, daß zu den physikalischen Prinzipien andere hinzutreten, die in der lebenden Materie, nicht aber in 116 unbelebten Systemen wirksam sind« . Der Interpretation Monods zufolge bezieht sich diese Hypothese primär auf die hervorstechenden Eigenschaften des Lebens: Invarianz und Teleonomie. In beiden Punkten mag er aber dem wissenschaftlichen Vitalismus nicht folgen, da sich einerseits die Invarianz sehr wohl physikalisch erklären lässt und sich die theoretische Unsicherheit hinsichtlich der 117 Teleonomie allein »unsere[r] gegenwärtige[n] Unkenntnis« verdankt. Das wesentliche Charakteristikum des Animismus entdeckt Monod darin, dass er am Orte des menschlichen Bewusstseins erfahrbare teleonomische Strukturen in die unbeseelte Natur projiziert. Die damit hergestellte Verbindung von Mensch und Natur sieht Monod bis Leibniz, Spencer, Hegel, Marx und Chardin fortwir118 ken. Der deutsche Idealismus erscheint ihm nachgerade als »Zuflucht eines kos119 mischen Animismus« . Monod liegt dabei alles daran, den als Animimus gedeuteten Idealismus als anthropozentristische Illusion zu enttarnen. Dergestaltige 113 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 42. Animismus wird folgendermaßen verstanden: »Das ist mit anderen Worten die Hypothese, daß die Naturerscheinungen entschieden in der gleichen Weise, durch die gleichen ›Gesetze‹ erklärt werden können, wie das bewußte absichtsvolle, subjektive Handeln der Menschen. Der primitive Animismus formuliert diese Hypothese in völliger Naivität, voller Freimut und Klarheit und bevölkerte so die Natur mit liebenswürdigen und furchtbaren Mythen, die jahrhundertelang der Kunst und der Dichtung Nahrung gegeben haben« (a.a.O., 43). 114 Positiv an Bergson ist für Monod »der bewußte oder unbewußte Aufstand gegen das Rationale und der Respekt, den man dem Es auf Kosten des Ich schenkt« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 39 [Hervorhebungen i. Orig.]). 115 »Ich werde nicht versuchen, diese Philosophie [sc. Bergsons] zu diskutieren – sie eignet sich übrigens nicht dazu. Eingesperrt in die Logik und arm an umfassenden Ahnungen, fühle ich mich dazu auch nicht in der Lage« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 39). 116 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 40 (Hervorhebung i. Orig.). 117 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 41. 118 Teilhard de Chardin fällt freilich im Niveau deutlich hinter die zuvor genannten zurück. Monod schätzt »eine gewisse poetische Größe«, kommt aber zu dem Urteil: »Mich stößt bei dieser Philosophie der Mangel an intellektueller Schärfe und Nüchternheit ab« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 45). 119 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 44.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
Theorien verfahren nicht objektiv im Sinne Monods, sondern operieren immer mit nichtobjektiven oder strikt subjektiven Annahmen. Vor dem Hintergrund des Objektivitätspostulats erteilt Monod im Grunde allen derartigen metaphysisch, philosophisch und theologisch inspirierten Ansätzen eine Absage. Sie zeugen nur »von der unermüdlichen, heroischen Anstrengung der 120 Menschheit, ihre eigene Zufälligkeit zu verleugnen« . Entsprechend mündet Monods Kritik in ein Plädoyer für die Einsicht in die radikale Zufälligkeit der Bio121 sphäre. Das bedeutet nun allerdings keineswegs, dass lebendige Einheiten auch zufällig funktionieren würden. Im Gegenteil: Wie Monod mit offensichtlichem Blick auf 122 Descartes feststellt, sind für ihn »Lebewesen [...] chemische Maschinen« . Um diese These zu erhärten, entwirft Monod ein umfassendes Bild des chemischen Mechanismus, wie er am Orte des Organismus begegnet. Dies kann und muss hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Nur so viel sei angemerkt: In der komplexen, sich selbst aufbauenden Organisationseinheit Lebewesen spielen v.a. die 123 Proteine eine Schlüsselrolle. Monod unterscheidet an dieser Stelle systematisch zwischen einer katalytischen, einer regelnden und einer aufbauenden Protein124 funktion. Die katalytische Funktion von Proteinen dient der Bildung so genannter stereospezifischer Komplexe (non-kovalenter Art), die den eigentlichen kataly125 tischen Akt vorbereiten . Dadurch werden Substratauswahl und -anordnung 126 festgelegt. Der eigentliche katalytische Akt verdankt sich Monod zufolge dann 120 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 57. Mit Blick auf Nietzsche stimmt dies freilich nicht. 121 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 57f. 122 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 61. Monod legt Wert auf die Behauptung, dass das Leben von daher »sich [...] jeder ›dialektischen‹ Beschreibung« widersetzt: »Es ist von Grund auf kartesianisch und nicht hegelianisch: Die Zelle ist sehr wohl eine Maschine« (a.a.O., 139 [Hervorhebung i. Orig.]). 123 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 62f.: »Die Steuerung der Tätigkeit, die Sicherung der funktionalen Kohärenz und der Aufbau der chemischen Maschine werden also durch Proteine besorgt. [...] Man kann grundsätzlich annehmen, daß alle teleonomischen Leistungen oder Strukturen eines Lebewesens sich grundsätzlich als stereospezifische Wechselwirkungen eines, mehrerer oder sehr vieler Proteine bestimmen lassen«. 124 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 63. 125 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 75. Stereospezifische Komplexe sind eine zeitweilige Verbindung von Enzym und Substrat. Der Ausdruck nicht-konvalent meint, dass die Atomverbindung – im Gegensatz zu den konvalenten Bildungen (zwei Atome teilen sich ein gemeinsames Elektronenpaar) v.a. bei Nichtmetallen (z.B. Diamant) – vergleichsweise instabil, locker und eben temporär verfasst ist. 126 »Die Proteine erfüllen ihre ›dämonische‹ Funktion dank ihrer Fähigkeit, zusammen mit anderen Molekülen non-kovalente stereospezifische Komplexe zu bilden« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 78 [Hervorhebung i. Orig.]). Mit dem Ausdruck dämonisch spielt Monod auf den berühmten Maxwellschen Dämonen an: In einem Gedankenexperiment hatte James Clerk Maxwell (1831–1879) Grundsätze der statistischen Physik hinterfragt, indem er einen mit Gas gefüllten geschlossenen geteilten Raum annahm. In der Mitte der Trennwand nahm er eine Öffnung an, die ein Wesen, das die Moleküle erkennen und unterscheiden kann, öffnet und schließt, so dass sich die warmen schnellen Moleküle in der
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»einer induzierenden und polarisierenden Wirkung bestimmter Molekülgruppen [...], die sich in der spezifisch angepassten Rezeptoroberfläche des Proteins befin127 den« . Die regelnde Funktion von Proteinen ist eine mediale. Monod geht nämlich davon aus, dass es »zwischen Zellen [und] innerhalb jeder Zelle ein [...] kompli128 129 ziertes kybernetisches oder Steuerungsnetz« gibt. Eine zentrale Aufgabe kommt dabei den so genannten allosterischen Protein-Enzymen zu, die durch 130 Rückkoppelungs- und Aktivierungsverfahren die Proteinsynthese regulieren. Die bildende Funktion von Proteinen schließlich erkennt Monod im Bereich »moleku131 larer Ontogenese« . Wie gesagt, lassen sich Lebewesen in ihrer Funktion und in ihrem makroskopi132 schen Aufbau durchaus mit Maschinen vergleichen. Allerdings unterscheiden sie sich markant in ihrer Konstruktionsweise, denn nur für lebende Wesen ist es charakteristisch, »daß der Prozeß einer spontanen und autonomen Morphogenese in letzter Instanz auf den stereospezifischen Erscheinungseigenschaften der Proteine beruht, daß es ein mikroskopischer Prozeß ist, bevor er sich in makroskopischen 133 Strukturen äußert« . Das entscheidende Spezifikum lebender Maschinen besteht dann darin, »daß die Gesamtorganisation eines komplexen multimolekularen Gebildes potentiell in der Struktur seiner Bestandteile enthalten ist, sich aber erst offenbart und damit wirklich wird durch ihren Zusammenschluß. [...] Der epigeneti134 sche Aufbau einer Struktur ist nicht eine Schöpfung, er ist Offenbarung« ; und
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einen und die kalten langsamen Moleküle in der anderen Hälfte des Raumes sammeln. Da dieser Vorgang auf Erkenntnis beruht und keine Energie verbraucht, entspräche dies einer Widerlegung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik und einem perpetuum mobile zweiter Ordnung. Inhaltliche Brücke ist für Monod indes das Erkenntnismoment. Wie dem Maxwellschen Dämonen unterstellt, geht Monod davon aus, dass Enzyme am Orte der katalytischen Stoffwechselfunktionen eine entsprechende kognitive Fähigkeit besitzen. Wie Monod festhält, wurde diese Annahme Maxwells durch den Einwurf entkräftet, dass spätestens die Ausübung der Erkenntnisfunktion durch den Dämon Energie verbraucht und damit der Zweite Hauptsatz nicht berührt ist (vgl. a.a.O., 77). Der Sache nach ist der Maxwellsche Dämon ein Statthalter von Lebenskraft resp. Information (vgl. dazu Eigen, Stufen zum Leben, 250). Monod, Zufall und Notwendigkeit, 74f. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 82 (Hervorhebung i. Orig.). Das impliziert erstens, »daß die molekularen Wechselwirkungen, durch die in diesen Systemen chemische Signale weitergeleitet und gedeutet werden, auf Proteine zurückzuführen sind, die mit unterschiedlichen stereospezifischen Erkennungseigenschaften ausgestattet sind« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 99), und zweitens eine gewisse »Zwangsfreiheit dieser Systeme, durch die es möglich wurde, daß die Evolution der Moleküle ein ungeheures Netz von Steuerungskontakten aufbauen konnte, die den Organismus zu einer autonomen Funktionseinheit machen« (a.a.O., 98f. [Hervorhebung i. Orig.]). Monod unterscheidet an dieser Stelle zwischen Hemmung durch Rückkoppelung, Aktivierung durch Rückkoppelung, paralleler Aktivierung und Aktivierung durch einen Prekusor. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 106. Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 105. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 105. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 111 (Hervorhebungen i. Orig.). Wichtig ist dabei zu sehen, wie Monod den Status seiner Theorie einschätzt. Es geht ihm nicht darum, eine starke Theorie der
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
zwar Offenbarung einer so genannten globulären Struktur, d.h. einer Struktur, die für alle drei genannten Proteinfunktionen typisch ist: Es handelt sich dabei – einfach gesagt – um eine mehrfach gefaltete Kettenstruktur (Polypeptidkette), die durch die spezifische Form der Faltung die genaue Form der Assoziationsfläche bestimmt und damit die Reaktionsmöglichkeiten und -wirkungen regiert. Exakt in diesen Strukturen erkennt Monod dann die ultima ratio und den Kern des Lebens: die spontane stereospezifische Assoziation von mokelularen Protein-Sequenzen, die durch ihre spezifische Gestalt die makroskopische Erscheinung eines Organismus determinieren.135 Dies entspricht exakt einer molekularbiologischen Aufhellung des eingangs beschriebenen Teleonomiegedankens, der letztlich in der invarianten und universalen Struktur der DNS und ihrer Funktionsweisen konden136 siert. Die entscheidende Frage ist aber dann, nach welchem Gesetz diese determinierenden Strukturen zusammengefügt sind. Und hier erteilt Monod die Antwort, die 137 das Buch so umstritten wie berühmt gemacht hat: Es ist das »Gesetz des Zufalls« . Damit kann Monod endlich auch die beiden seine Überlegungen verklammernden Gedanken zusammenführen. Das Leben ist eben beides: Zufall und Notwendigkeit; Zufall, insofern keine Regel für die spezifische Zusammensetzung der zugrunde liegenden Proteinketten angegeben werden kann; notwendig, da sich diese in lebenden Systemen als notwendiger, ja geradezu mechanischer Determinismus ent138 falten, der zuletzt auch die makroskopische Erscheinung bestimmt. Das bedeutet dann: Auch die Entstehung des Lebens selbst muss als zufälliges Ereignis klassifi-
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makromolekularen Erscheinung auszuformulieren, sondern um eine Grundsatzposition, die für den formellen Rahmen einer Erscheinungstheorie steht (vgl. a.a.O., 113). »Die ultima ratio aller teleonomischer Strukturen und Leistungen der Lebewesen ist also in den verschiedenen Sequenzen von Radikalen der Polypeptid-Ketten enthalten – in den ›Embryos‹ jener biologischen ›Maxwellschen Dämonen‹ (der globulären Proteine). In einem sehr realen Sinne ruht das Geheimnis des Lebens, so es eines gibt, auf dieser Stufe der chemischen Organisation« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 120 [Hervorhebung v. Vf.]). Vgl. a.a.O., 122: »Unter allen möglichen Gesichtspunkten scheint es, als sei diese Botschaft durch den Zufall diktiert«. »Heute weiß man, daß der chemische Apparat von der Bakterie bis zum Menschen im wesentlichen der gleiche ist – in seiner Struktur wie in seiner Funktionsweise« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 131). Die »grundlegende biologische Invariante ist die DNS« (a.a.O., 132.), die auf dem »Grundprinzip der Stereospezifizität der Assoziation« (a.a.O., 134) beruht. Monod spricht von einer »Quasi-Identität der Zellchemie in der gesamten Biosphäre« (a.a.O., 132). An anderer Stelle spricht er von »universalen Mechanismen, auf denen die wesentlichen Eigenschaften aller Lebewesen beruhen« (a.a.O., 173). Die DNS in diesem Sinne kann Monod dann in Anlehnung an Schrödinger auch als »aperiodischen Kristall« (a.a.O., 135 [Hervorhebung i. Orig.]) ansprechen. Monod fährt fort: »Um es genauer auszudrücken: Diese Strukturen sind in dem Sinne ›zufällig‹, als es unmöglich ist, irgendeine theoretische oder empirische Regel zu formulieren, mit der sich aus einer genauen Kenntnis von 199 von 200 Bausteinen bestehenden Proteins die Beschaffenheit des restlichen, noch nicht durch die Analyse festgestellten Bausteins vorhersagen ließe« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 121). Monod kann in diesem Sinne auch von einer »mikroskopische[n] Präzisionsmechanik« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 137) sprechen.
Zufall und Notwendigkeit: Jacques Monods Theorie des Lebens
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ziert werden, was Monod durchaus mit einer Lotterie vergleichen kann: »Unsere 139 ›Losnummer‹ kam beim Glücksspiel heraus« . Ebenfalls kann von hier aus das oben benannte Paradox resp. der erkenntnistheoretische Widerspruch von ›Struktur‹ und ›Projekt‹ entzerrt werden: »Ursprung und Abstammung der gesamten Biosphäre spiegeln sich in der Ontogenese eines funktionalen Proteins; und der letzte Grund des Projekts, das die Lebewesen darstellen, verfolgen und vollenden, enthüllt sich in dieser Botschaft – in dem klaren, zuverlässigen Text der primären Struktur, der jedoch seinem Wesen nach 140 undechiffrierbar ist« . Es entspricht dem Weitblick des Biologen Monod, dass er diese Figuration von Zufall und Notwendigkeit auch noch in einer weiteren Perspektive fruchtbar zu machen vermag. Und zwar betrifft dies die Evolution, genauer deren treibendes Moment: die Mutation. Seiner Ansicht nach sind Mutationen ebenfalls als Ergebnisse des reinen Zufalls anzusehen, und zwar nicht in einem operationalen, sondern in einem wesensmäßigen Sinne, womit ein zufälliges Zusammentreffen zwei141 er völlig voneinander unabhängiger Kausalketten gemeint ist. Allerdings werden Mutationen dann wieder exakt gesetzmäßig verarbeitet. Eine zufällige Mutation wird mit der Notwendigkeit der molekularen Präzisionsmechanik perpetuiert: »Ist der einzelne und als solcher wesentlich unvorhersehbare Vorfall aber einmal in die DNS-Struktur eingetragen, dann wird er mechanisch getreu verdoppelt und übersetzt; er wird zugleich vervielfältigt und auf Millionen oder Milliarden Exemplare übertragen. Der Herrschaft des bloßen Zufalls entzogen, tritt er unter die Herr142 schaft der Notwendigkeit, der unerschütterlichen Gewißheit« . Selektion durch Mutation kann so als Funktionstest der zugrunde liegenden Teleonomie bezeichnet 143 werden. 139 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 179. Unabhängig von der notorischen Zufälligkeit der Lebensentstehung lassen sich in der frühesten Entwicklung des Lebens bereits drei Etappen – wie Monod ausdrücklich einführt – a priori unterscheiden: die Bildung der Nukleotide und Aminosäuren als chemische Hauptbestandteile des Lebens, die Bildung erster replikationsfähiger Makromoleküle und die Evolution, die über den Aufbau eines teleonomischen Systems zur Urzelle führt (vgl. a.a.O., 173). 140 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 123 (Hervorhebung v. Vf.). 141 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 143. 142 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 149. 143 »Die Selektion erfolgt nach der Beurteilung der teleonomischen Leistung, die ein Gesamtausdruck aller Eigenschaften des Netzes von Aufbau- und Regelungswirkungen ist« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 151). So gesehen kann mit Blick auf die Gesamtpopulation Mutation nicht mehr als Ausdruck des Zufalls erachtet werden. »Daher ist die Mutation für die gesamte Population keineswegs eine Ausnahmeerscheinung: Sie ist die Regel« (ebd.). Das eigentliche Paradoxon sind die Invarianten in der Natur, die sich »nur durch die äußerst starke Kohärenz des teleonomischen Systems erklären« (a.a.O., 153). Veränderungen im Sinne von Mutationen sind so gesehen ein geregeltes Produkt des Zufalls. Die Evolution ist kein metaphysisches Prinzip a la Bergson, sondern ein Regelphänomen. Und so kann Monod auch sagen, »daß alle Eigenschaften der Lebewesen auf einem grundlegenden Mechanismus der molekularen Erhaltung beruhen« (a.a.O., 146 [Hervorhebung i. Orig.]). Die Evolution ist
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
III.2
Würdigung und ethische Implikationen: Ethik der Erkenntnis
Es wurde bereits einleitend darauf hingewiesen, dass es ein Spezifikum der hier diskutierten Theoriekompilation ist, dass alle Protagonisten in den Ausflüssen ihrer Konzeption in breitere geisteswissenschaftliche, ideologiekritsche und durchaus auch ethische Diskussionen eintreten. Am bestimmtesten dürfte dies für Monod zutreffen. Auf Monods Reserven gegenüber dem metaphysischen und wissenschaftlichen Vitalismus sowie dem Animismus wurde hingewiesen. In den Abschlusspartien von ›Zufall und Notwendigkeit‹, die mit den aufspannenden Wörtern ›Das Licht und die Finsternis‹ überschrieben sind, erfährt die latente Ideologiekritik Monods eine deutlichere Ausmalung, wobei es ihm – und das ist für den vorliegenden Kontext besonders interessant – um die Grundlegung einer »Ethik der Erkenntnis«144 zu tun ist. Um diese zu etablieren, setzt er sich differenziert mit dem Herz seiner Theorie und möglichen ethischen Konsequenzen auseinander. Insbesondere die berühmte 145 Formulierung »Unsere ›Losnummer‹ kam beim Glücksspiel heraus« wird deshalb selbstkritisch beleuchtet, denn auch Monod ist klar, dass sie kontraintuitives Irrita146 tionspotential birgt. Dieses loziert er in der verständlichen und »allgemeinmenschlichen Neigung: zu glauben, daß alle wirklichen in der Welt existierenden 147 Dinge von Jeher notwendig gewesen seien« . Diese Neigung gründet sich – und 148 hier befindet sich Monod in sachlicher Nähe zu Nietzsche – in einer intellektuellen Ur-Angst des Menschen, nämlich der Angst, in einem zweck- und ziellosen Uni149 versum selbst eine ziel- und zwecklose Existenz zu führen. Um diese zu kompensieren, erdachten Menschen sich religiöse oder philosophische Systeme, die »ihm seinen Platz in einem notwendigen Schicksalsablauf zuweisen, wo seine Angst sich 150 löst« .
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dabei irreversibel, was Monod als »Ausdruck des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik in der belebten Natur« (a.a.O.) interpretiert. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 218. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 179. Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 171. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 179. Vgl. dazu unter B.III.3. Monod spricht auch von »jene[r] Angst, die uns zwingt, den Sinn des Daseins zu erforschen« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 204). Monod fährt fort: »Diese Angst ist die Schöpferin aller Mythen, aller Religionen, aller Philosophien und selbst der Wissenschaft«. Vgl. auch a.a.O., 205: »Die Erfindung der Mythen und Religionen und die Errichtung gewaltiger philosophischer Systeme waren der Preis, um den der Mensch als soziales Lebewesen hat überleben können, ohne sich einem reinen Automatismus zu unterwerfen. Aber das bloß kulturelle Erbe allein war nicht sicher und nicht stark genug, um die sozialen Strukturen abzustützen. Es brauchte eine genetische Unterlage, damit daraus die Nahrung wurde, die der Geist benötigt. Wäre es nicht so, wie wollte man erklären, daß die Religion bei unserer gesamten Art den Gesellschaftsstrukturen zugrunde liegt?«. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 204 (Hervorhebung i. Orig.).
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Diese Neigung jedoch steht seiner Meinung nach quer zu den Einsichten der 151 modernen Naturwissenschaft. Denn sie widerspricht dem oben bereits diskutierten Objektivitätspostulat, das eine teleologische Deutung von Wirklichkeit ausschließt. Die Einsichten in den zufälligen Charakter des Lebens lassen dies nicht mehr zu. Die Folgerungen für die Ethik sind frappant. Wie Nietzsche fordert Monod in dieser Beziehung einen radikalen Traditions- und Werteabbruch und die 152 Refundierung der Ethik im Sinne des wissenschaftlichen Objektivitätspostulats: Geradezu pathetisch ruft Monod aus: »In drei Jahrhunderten hat die durch das Objektivitätspostulat begründete Wissenschaft ihren Platz in der Gesellschaft erobert: in der Praxis wohlgemerkt, aber nicht im Geiste des Menschen [...] die wichtigste Botschaft der Wissenschaft hat sie [sc. die Menschheit] nicht akzeptiert, sie hat sie kaum wahrgenommen: daß eine neue und ausschließliche Quelle der Wahrheit bestimmt worden ist, daß die Grundlagen der Ethik einer totalen Revision bedürfen, daß mit der animistischen Tradition radikal gebrochen werden muß, daß der ›Alte Bund‹ definitiv aufzugeben und ein neuer Bund zu schmieden ist«153. Der alte Bund ist in erster Linie deshalb zu zerbrechen, weil alle dergestaltigen Anschauungssysteme der Wissenschaft wenn nicht feindselig, so doch gleichgültig gegenüber ste154 hen. Auf ihnen basierende Ethiken haben die Menschen allein mit aufgezwungenen Werten versorgt. Im Gegenteil hat auch für Monod der Mensch ganz im 155 Sinne Nietzsches zu erkennen, »daß [die Werte] allein seine Sache sind« . Und in allein angemessener Weise sind sie Sache der vom Menschen betriebenen objektiven Wissenschaft. Dies führt Monod konsequent zum Ausschluss jeder 156 in diesem Sinne »nicht-objektive[n] Ethik« . Ebenso indiskutabel sind für ihn alle
151 »Wir müssen vor diesem mächtigen Gefühl auf der Hut sein, daß alles vorherbestimmt sei. Die moderne Naturwissenschaft kennt keine notwendige Vorherbestimmtheit« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 179). Von hier aus diviniert Monod auch die Unmöglichkeit einer völligen Durchleuchtung des menschlichen Gehirns: »Der Logiker könnte dem Biologen voraussagen, daß seine Bemühungen, die gesamte Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu ›begreifen‹, aussichtslos sind, da kein logisches System imstande ist, seine eigene Struktur zu begreifen« (ebd.). 152 Vgl. z.B. die sehr an Nietzsche erinnernde Formulierung: »Wenn er diese Botschaft [sc. dass die objektive Wissenschaft die ausschließliche Wahrheitsquelle ist] in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muß der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen. [...] Nun weiß er, daß [die Werte] allein seine Sache sind, und macht er sie sich schließlich untertan, dann scheinen sie sich in der gleichgültigen Lehre des Universums aufzulösen« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 211). 153 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 208. An anderer Stelle werden die zu überwindenden Konzepte deutlich genannt. »Die ›liberalen‹ Gesellschaften des Westens verkünden als Grundlage ihrer Moral nach außen immer noch eine abstoßende Mischung aus jüdisch-christlicher Religiösität, ›wissenschaftlicher‹ Fortschrittsgläubigkeit, ›natürlichen‹ Menschenrechten und utilitaristischen Pragmatismus« (a.a.O., 209). 154 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 209. 155 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 211. 156 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 212 (Hervorhebung i. Orig.).
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ethischen Entwürfe, die »nicht eine absolute Unterscheidung zwischen Erkennt157 nisaussagen und Werturteilen treffen« . Vielmehr gilt (und Monod bezeichnet 158 dies ausdrücklich als das »erste Gebot« ): »In einem objektiven System ist dage159 gen jegliche Vermischung von Erkenntnissen und Wertungen verboten« . Dieses erste Gebot nun, und das ist entscheidend, stellt selbst wiederum keine objektive 160 Erkenntnis dar: »Es ist eine moralische Regel, eine Verhaltensvorschrift« . Der Kern der damit geborenen Ethik der Erkenntnis besteht dann exakt in der ethischen Entscheidung für das Objektivitätspostulat und damit für die wahrhafte 161 Erkenntnis. Monod erkennt den entscheidenden Vorteil seiner Ethik der Erkenntnis darin, dass sie nicht, wie die kritisierten v.a. animistischen Systeme, mit einer heteronomen Forderung auftritt, sondern »es ist im Gegenteil der Mensch, der sie sich selbst auferlegt, indem er sie axiomatisch zur Bedingung für die Au162 thentizität, die Wahrhaftigkeit aller Rede und aller Handlungen macht« . An dieser Stelle kann auch wieder der Schatten Nietzsches gesehen werden, der mit seiner intellektuellen Redlichkeit ebenfalls die systematische Absage an externe 163 Sinnvorgaben verband und ein ›Hoch auf die Physik!‹ ausrief. Die Normativität seiner Ethik der Erkenntnis verdankt sich laut Monod schließlich einem Akt geistiger Askese. Monod referiert an dieser Stelle auf den ›Discours de la Méthode‹ von Descartes, aber es ist nicht abwegig, auch hier wieder eine ge164 dankliche Nähe zu Nietzsche auszumachen. Eine weitere Stärke seiner Konzeption entdeckt Monod in der Fähigkeit einer wirklichen biologischen Ernstnahme des Menschen. Wie auch Nietzsche hat Monod dabei die leibverachtenden Tenden165 zen christlicher Theologie und Philosophie vor Augen. Und schließlich ist es nach Monod ein weiterer Vorzug der Ethik der Erkenntnis, dass sie Tugenden unabhängig von animistischen Voreingestelltheiten soziobiologisch objektiv zu erklä166 ren vermag. Es ist der Entstehungssituation von ›Zufall und Notwendigkeit‹ ge157 158 159 160 161
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Monod, Zufall und Notwendigkeit, 214. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 214 (Hervorhebung v. Vf.). Monod, Zufall und Notwendigkeit, 214 (Hervorhebung i. Orig.). Monod, Zufall und Notwendigkeit, 214 (Hervorhebung i. Orig.). »Die Aufstellung des Objektivitätspostulats als Bedingung wahrer Erkenntnis stellt offensichtlich eine ethische Entscheidung und nicht ein Erkenntnisurteil dar, denn dem Postulat zufolge konnte es vor dieser unausweichlichen Entscheidung keine ›wahre‹ Erkenntnis geben. Das Objektivitätspostulat stellt die Norm für die Erkenntnis auf und legt einen Wert fest, der in der objektiven Erkenntnis selbst besteht. Wenn man das Objektivitätspostulat akzeptiert, dann trifft man folglich das grundlegende Urteil einer Ethik – der Ethik der Erkenntnis« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 215 [Hervorhebungen i. Orig.]). Monod, Zufall und Notwendigkeit, 215 (Hervorhebungen i. Orig.). Vgl. dazu unter B.III.3. Vgl. dazu unter B.IV.2.2. Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 217. »Was die höchsten menschlichen Eigenschaften angeht: den Mut, die Nächstenliebe, die Großmut und den schöpferischen Ehrgeiz, so gibt die Ethik der Erkenntnis zu, daß sie sozio-biologischen Ursprungs sind, sie bestätigt aber auch ihren überragenden Wert im Dienste des von ihr festgelegten Ideals« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 217).
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schuldet, dass Monods Überlegungen abgerundet werden durch Reflexionen, die auf die Vorstellung eines »wirklich wissenschaftlich sozialistischen Humanis167 mus« stossen, dessen Zentrum exakt die Ethik der Erkenntnis bildet resp. ist Monod der Überzeugung, dass sein ethischer Ansatz »als Basis der gesellschaftlichen 168 und politischen Institutionen […] zum Sozialismus führen« kann. Eine erste kritische Würdigung der hier diskutierten Theorie Monods nebst ihren ethischen Implikationen führt auf einen zwiespältigen Befund. Auf der einen Seite hat Monods konsequente und systematische Darstellung der Logik des Le169 bendigen durchaus Anerkennung gefunden – insbesondere die von ihm inten170 dierte Erweiterung des Naturverständnisses –, ebenso seine Versuche, die gewonnenen Einsichten an das moderne Menschenbild zurückzubinden. Auch der damit verbundene Versuch, eine Ethik der (objektiven) Erkenntnis zu generieren, 171 ist auf positive Resonanz gestoßen. V.a. repräsentiert sie eine hilfreiche systematische Grenzziehung, die einen allzu offensiven Gebrauch philosophischer oder theologischer Spekulation kategorisch verbietet. Für die Ethik – und insbesondere die Theologische Ethik – hat dies die entscheidende Konsequenz, dass damit auch 172 die Frage der Reichweite ihrer Kompetenz berührt wird. Und die Antwort hat in die Erkenntnis zu münden, dass sie im Reich der Molekularbiologie an eine kritische Grenze stößt, die z.B. Versuche der nahtlosen Eingemeindung im weitesten Sinne evolutionärer Theorien in einen schöpfungstheologischen Rahmen proble173 matisch erscheinen lassen. Auf der anderen Seite ist Monod auch energisch widersprochen worden. Der Versuch, Schrödingers in Quantentheorie und thermodynamischen Überlegungen fußenden Erklärungsversuch des Lebendigen durch die Etablierung eines enzyma167 168 169 170
Monod, Zufall und Notwendigkeit, 218 (Hervorhebung i. Orig.). Monod, Zufall und Notwendigkeit, 219. Vgl. Rheinberger, Nachwort, 348. So ist Monod als der einzige angesprochen worden, der es bislang versucht hat, »die Einordnung des neues Wissens [sc. des molekularbiologischen] in ein allgemeines Naturverständnis« zu wagen. Vgl. Eigen, Stufen zum Leben, 8. 171 Vorrangig in philosophisch-atheistischen Kreisen. Vgl. Loichinger, Monod, 1452. Wolfgang Stegmüller hat darauf hingewiesen, dass aus marxistischer Perspektive dann auch die detaillierteren Kritiken von Monods ›Zufall und Notwendigkeit‹ vorgenommen wurden, die allerdings in einem Vorwurf überein kommen, nämlich, »daß Monod nicht dialektisch vorgehe« (Stegmüller, Evolution des Leben, 408 [Hervorhebung i. Orig.]). 172 Vgl. dazu Fischer, J., Theologische Ethik, 33f. 173 So z.B. W. Pannenberg in einer umstrittenen Sequenz seiner ›Systematischen Theologie‹: »Gerade der Zufallsfaktor, den Jaques Monod im Gegensatz zu teleologischen Deutungen der Evolution so stark betont, ist für eine teleologische Interpretation der Evolutionsschritte als Ausdruck eines fortgesetzten schöpferischen Handelns Gottes wichtig. [...] Entscheidend für die Möglichkeit einer theologischen Interpretation evolutiver Prozesse im Sinne eines schöpferischen Geschichtshandelns Gottes ist der ›epigenetische‹, auf jeder Stufe durch das Hinzutreten von unableitbar Neuem gegebene Charakter der Evolution« (Pannenberg, Systematische Theologie II, 15). Damit macht sich Pannenberg eine Argumentation zu eigen, die auf katholischer Seite von Pius XII bis Johannes Paul II mit unterschiedlichen Akzentuierungen immer wieder vorgebracht worden ist.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
tischen Mechanismus zu unterlaufen, ist durch die Thermodynamik irreversibler Prozesse energetisch offener Systeme in seinen Schlussfolgerungen radikal in Fra174 ge gestellt worden. Weiterhin ist beklagt worden, dass Monods naturphilosophische Überlegungen selbst wieder Opfer seiner z.T. überzogenen Kritik wurden: »Die Abhandlungen Monods zur Evolutionsproblematik zeichnen sich freilich mehr durch brillant vorgetragene Polemik als durch naturphilosophische Tiefe aus und hinterließen ein Defizit, das bis heute noch nicht kritisch aufgearbeitet worden 175 ist« . Endlich ist auch seine zentrale Zufallsthese ins Kreuzfeuer der Kritik geraten: die Überzeugung von der phantastischen Zufälligkeit und kosmischen Einmaligkeit des Lebens. Der stechendste Einwurf besteht an dieser Stelle im Hinweis darauf, dass die von ihm ins Zentrum gerückte Zufälligkeit sich allein auf die speziellen Umstände und den spezifischen Verlauf der Lebensentstehung und -entwicklung bezieht, nicht aber auf das Faktum der Entstehung des Lebens als solchem. Ein weiteres Argument betrifft die von Monod postulierte Erwartungswahrscheinlichkeit.176 Dass sich Leben bildet, ist so gesehen eher eine wahrscheinliche Annahme; dass die Evolution des Lebens auf der Erde ein vergleichbares Pendant im Univer177 sum hat, nicht; allein letzteres ist mit Recht als Zufall anzusprechen. Was schließlich die materialen Anteile seiner Ethik der Erkenntnis anbelangt, so konnte festgehalten werden, dass Monod zum Schluss zu ähnlichen Folgerungen wie Nietzsche kommt, die dann entsprechend auch mit den dort diskutierten Problemen behaftet sind. Seine Ethik der Erkenntnis ist letztlich provozierender Ausdruck eines methodischen Atheismus und eines spezifisch naturwissenschaftlichobjektiven Nihilismus, hinter dem jedoch Ambitionen eines humanistischen resp. sozialistischen Ethos aufscheinen, das sich überdies in sachlicher Nähe zu Feuerbach, Freud und Bloch weiß.178 Die Konkretionen seiner ethischen Theorie sind allerdings so allgemein gehalten, dass sie einer in die Tiefe gehenden detailierten 179 Kritik gegenüber faktisch immun sind.
174 Vgl. Loichinger, Monod, 1453 und Stegmüller, Evolution des Lebens, 408f. Er (Stegmüller) kommt zu dem vernichtenden Urteil, »daß Monod den Zusammenhang von Thermodynamik und Leben nicht richtig verstanden haben kann« (a.a.O., 409). 175 Küppers, Ursprung der biologischen Information, 18. 176 Vgl. dazu Küppers, Ursprung der biologischen Information, 95f. 177 »Es gibt im Kosmos vielleicht Billionen von Planeten, die mit Lebewesen bewohnt sind, aber darunter sicherlich keine Menschen – außer auf unserer Erde« (Stegmüller, Evolution des Lebens, 411 [Hervorhebung i. Orig.]). Der Sache nach handelt es sich bei Monods Denkfehler (also, dass die Entstehung von Leben als Leben strikt zufällig sei) um eine fehlerhafte Anwendung des sogenannten Likelihood-Schlusses (vgl. a.a.O., 410; vgl. dazu auch Küppers, Ursprung der biologischen Information, 103 und 155). 178 Vgl. Loichinger, Monod, 1452. 179 Vgl. Stegmüller, Evolution des Lebens, 412.
Der molekulardarwinistische Ansatz – Manfred Eigen
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IV. Der molekulardarwinistische Ansatz – Manfred Eigen IV.1
Leben als Information und Hyperzyklus
Manfred Eigen (geb. am 9. Mai 1927 in Bochum) ist einer der renommiertesten Bio- resp. Physikochemiker. Er studierte in Göttingen Physik und Chemie und wurde bei Arnold Eucken 1951 in physikalischer Chemie promoviert. 1967 erhielt er zusammen mit Ronald G. W. Norrish und George Porter den Nobelpreis für Chemie für die Erforschung extrem schnell ablaufender chemischer Reaktionen. Beachtung fanden weiter Eigens Entwicklungen im Bereich neuer kinetischer Messtechniken. Er wandte sich dann mehr und mehr der Biologie zu, insbesondere Fragen nach Möglichkeiten molekularer Selbstorganisation und Evolution. Großes Aufsehen erregte dann die (unten noch näher zu betrachtende) zusammen mit Peter Schuster entwickelte Theorie des Hyperzyklus, die einen Erklärungsversuch für die Selbstorganisation von präbiotischen Systemen darstellt.180 Schon von daher verdient Manfred Eigen im Rahmen dieser Untersuchung einen eigenen Diskussionsgang. Zu erörtern ist Eigen näherhin auch, weil es ihm im Rahmen seiner Studien und Experimente zur molekularen Selbstorganisation gelang, einen eigenständigen molekularbiologischen Lebensbegriff zu entwickeln. Aber nicht nur das: Wie auch Schrödinger und Monod zieht Eigen aus seiner Theorie explizit ethische Folgerungen, die entsprechend am Ende dieses Abschnittes diskutiert werden. Endlich: Eigen setzt sich im Zuge seines Nachdenkens über das Leben explizit sowohl mit den zuvor behandelten Theorien Schrödingers und Monods auseinander. In bestimmten Hinsichten ist es dabei sogar möglich, von einem Syntheseversuch beider Herangehensweisen an das Lebendige zu sprechen, der Produktives integrieren und Fehler und Missverständnisse vermeiden möchte.181 Bei Eigen tritt dabei ein Begriff in den Vordergrund, der sowohl bei Schrödiger als auch bei Monod noch keine derart zentrale Rolle gespielt hat: die Informati182 on. Im Zuge der produktiven Aufnahme des Informationsbegriffes in molkular180 Vgl. dazu Küppers, Ursprung der biologischen Information, 126. 181 Vgl. Eigen, Stufen zum Leben, 249. 182 Eigen macht in dieser Beziehung »eine neuartige für das Leben spezifische Qualität: Information« (Eigen, Stufen zum Leben, 11 [Hervorhebung i. Orig.]) namhaft. Die Genese des Informationsbegriffs in der Molekularbiologie lässt sich als ein hybrider Diskurs lesen, der von der Beschreibung von Genexpression und Regulation in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren zunächst zu dem hinführt, was François Jacob als eine Schrift der Vererbung (écriture de l'hérédité) bezeichnet hat (vgl. Rheinberger, Regulation, Information, Sprache, 305 u. 309). An verschiedenen Stellen hat Hans-Jörg Rheinberger v.a. drei markante Stationen skizziert (vgl. Rheinberger, Regulation, Information, Sprache, passim, Ders., Nachwort, 349–353; Ders. u.a., Gene, passim; die folgenden Ausführungen beziehen sich primär auf den erstgenannten Text): Die erste Station waren die sogenannten PaJaMo-Experimente (benannt nach den ersten beiden Anfangsbuchstaben der Nachnamen der Protagonisten der Untersuchungen Arthur Pardee, François Jacob und Jaques Monod) mit dem Enzym β-Galaktosidase am Pariser Pasteur-Institut.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
biologische Kontexte rekurriert Eigen dann in besonderer Weise auf die Theorie Darwins. Aus diesem Grunde erscheint auch die Bezeichnung molekulardarwinistischer Ansatz gerechtfertigt. Zunächst ist auf die Auseinandersetzung Eigens mit Schrödinger und Monod einzugehen. Mit Schrödinger weiß sich Eigen auf einer elementaren Ebene weitgehend einig. Insbesondere zwei Theoriebausteine möchte Eigen positiv integrieren. Zum einen ist dies die oben behandelte Einsicht, dass Leben nur fernab eines 183 thermodynamischen Gleichgewichtszustandes möglich ist. Gemäß seiner Fokussierung auf den Informationsbegriff spitzt Eigen dies auf die These zu: »Information kann [...] in Systemen, die sich im thermodynamischen Gleichgewicht befin184 den, nicht entstehen« . Das zweite, was Eigen an Schrödinger interessiert, ist die unterstellte und vorauszusetzende Komplexität des Lebendigen, die Schrödinger Das Enzym β-Galaktosidase katalysiert die hydrolytische Spaltung des Disacharids Laktose (Milchzucker) in die Monosacharide Galaktose und Glukose, ein einfacher Prozess, der z.B. im menschlichen Dünndarm unter bakterieller Unterstützung abläuft. Bei Experimenten mit dem Enzym β-Galaktosidase im Bakterium Escherichia coli hatten Arthur Pardee, François Jacob und Jaques Monod herausgefunden, dass sich bei mutierten, der Produktion von β-Galaktosidase unfähigen Exemplaren des Escherichia-coli-Bakteriums durch Injektion mit entsprechenden Genen eines nichtmutierten Bakteriums die Synthese von β-Galaktosidase wieder induzieren lässt. Umgekehrt ließ sich die Entstehung von β-Galaktosidase beim Transfer mutierter (die Enzymsynthese verhindernder) Gene blockieren. Die hier ablesbare entscheidende Einsicht war, dass Gene offensichtlich nicht nur eine expressiv-determinative, sondern entsprechend auch eine regulierendkontrollierende Funktion besitzen. Ein zweiter Schritt kam diesem Kontrollmechanismus näher, indem die Forschergruppe annahm, bestimmte Gene (in diesem Fall das sogenannte i-Gen) seien nicht direkt für die Produktion der β Galaktosidase verantwortlich, sondern für die Erzeugung eines zytoplasmatischen Produkts, das wiederum ein Molekül generiert, das – wie im letzten Fall – die β-Galaktosidase blockiert. Dieses zytoplasmatische Produkt wurde 1959 in dem Aufsatz ›The genetic control and cytoplasmic expression of inducibility in the synthesis of β-Galactosidase by E. coli‹ terminologisch als cytoplasmic messenger beschrieben, dem primär die Funktion eines Stoffwechselsignals zur Synthese von Repressor-Molekülen zukommt (vgl. dazu auch Rheinberger, Experimentalsysteme, 223f.). Diese Annahme hatte zur Folge, dass – wie zuerst in dem kurzen Beitrag ›Gènes de structure et gènes de régulation dans la biosynthèse de protéines‹ – künftig unterschieden werden konnte zwischen sogenannten Struktur- und Regulator-Genen. Dies wurde in einem dritten Schritt in Gestalt der sogenannten Operon-Theorie vertieft. Ein Operon – kurz: eine funktionale Formation auf der DNS – wurde dabei zunächst verstanden als eine »mehrere Gene umfassende Einheit, deren Aktivität durch Regulatorgene geregelt wurde, deren Produkte – die Repressoren – sowohl mit den Chromosomen wechselwirkten als auch mit den Signalen, die sie aus dem Stoffwechsel aufnahmen« (Rheinberger, Nachwort, 351). Entscheidend für die Ausformulierung der Operon-Theorie war der Nachweis der Boten-RNS. 1961 konnte am California Institute of Technology nachgewiesen werden, dass sich im Prozess der von der DNS ausgehenden Proteinsynthese ein Datenträger formiert, der die genetischen Informationen von der DNS in das Zytoplasma als dem Ort der Proteinsynthese transportiert, eben die Boten-RNS. 183 »Leben ist ein notorisches Nichtgleichgewichtsphänomen« (Eigen, Stufen zum Leben, 97). 184 Eigen, Stufen zum Leben, 43 (Hervorhebung i. Orig.). Wie bei Schrödinger ist es der Metabolismus, der dies ermöglicht. So ist Eigen entsprechend der Überzeugung, »daß ein belebtes System – dafür sorgt sein Metabolismus – weitab vom thermodynamischen Gleichgewicht agiert« (a.a.O., 240).
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mit seinem Bild des aperiodischen Kristalls anschaulich gemacht hatte. Auch diese Einsicht wird explizit informationstheoretisch gewendet, indem Eigen auf eine kohärente Korrelation von Information, der »für die Lebenserscheinungen typische[n] Komplexität in den molekularen Strukturen und Synthesemechanis186 187 men« und ein diese Komplexität ermöglichendes »physikalisches Prinzip« aus ist. Allerdings ist es eben auch exakt diese Komplexität, die Eigen in Bezug auf die theoretische Erschließungskraft eines Lebensbegriffes resp. einer Definition des Lebendigen Bedenken anmelden lässt. Er äußert insofern an dieser Stelle weitaus vorsichtiger als Schrödinger: »Die Frage: Was ist Leben? hat viele Antworten und am Ende doch keine befriedigende. [...] Zu groß ist die Fülle komplexer Erscheinungen, zu verschiedenartig sind die Lebewesen in ihren Merkmalen und Leistun188 gen, als daß eine allgemeine Definition sinnvoll wäre«. Eigen geht es insofern da189 rum, »den Begriff Leben zu präzisieren« . 190 Auch an Monod knüpft Eigen ausdrücklich an. Die herausragende Leistung Monods besteht nach Eigen in allgemeiner Hinsicht zunächst darin, dass sein »fas191 zinierender, grandioser Versuch« die entscheidenden Weichen für eine naturphilosophische Ausformulierung molekularbiologischer Einsichten gestellt hat. Im Einzelnen ist es besonders das teleonomische Moment molekularer Organisationsformen, das Eigen interessiert; mit seinen Worten: »der auf funktionelle Zweckmäßigkeit ausgerichtete molekulare Aufbau dieser Strukturen [sc. der für den Lebensprozess typischen] – Jacques Monod sprach von einer Teleonomie der Organi192 sation« . In einem widerspricht Eigen Monod jedoch vehement. Dies ist die herausragende Rolle des Zufalls, die Monod hinsichtlich der Entstehung und Evolution des Lebens eingeräumt hat. Hier mag ihm Eigen nicht folgen: »Stellte sich wirklich heraus, daß allein ›der reine Zufall, nichts als der Zufall, die absolute blinde Freiheit die Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution‹ bildete, so wäre die185 »Zwei Eigenschaften der Materie [...] sind charakteristisch für die Qualität ›Leben‹ [...]. Erstens, die materielle Komplexität aller für den Lebensprozeß typischen Strukturen, angefangen bei den Proteinen und Nucleinsäuren – Erwin Schrödinger bezeichnet sie als aperiodische Kristalle« (Eigen, Stufen zum Leben, 249). Ähnlich auch Barrow: »Der entscheidende Unterschied zwischen lebenden und nicht lebenden Systemen liegt nicht in ihren atomaren Grundkomponenten, sondern darin, ob sie bestimmte Schwellen der Komplexität erreichen, wobei spontan neue Grundsätze der Selbstorganisation ins Spiel kommen« (Barrow, Natur der Natur, 460). 186 Eigen, Stufen zum Leben, 37. 187 Eigen, Stufen zum Leben, 37. 188 Eigen, Stufen zum Leben, 33. Er fährt fort: »Sie [sc. die Definition] könnte auch nicht andeutungsweise eine Vorstellung von jener individuellen Vielfalt geben, die das Leben ausmacht. Das liegt in der Komplexität begründet, die allen uns bekannten Lebensstufen gemeinsam ist; ja, dieses Problem stellt sich bereits auf molekularer Ebene in den Strukturen, die charakteristisch für den Lebensprozeß sind: den Nucleinsäuren und Proteinen«. 189 Eigen, Stufen zum Leben, 20. 190 »Dieses Buch knüpft an Monod an, dessen klare Sprache so manches ins rechte Licht gerückt hat« (Eigen, Stufen zum Leben, 8). 191 Eigen, Stufen zum Leben, 8. 192 Eigen, Stufen zum Leben, 249.
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ses Buch überflüssig« . Das bedeutet nicht, dass der Zufall gänzlich als Evolutionsvariable aus dem Blick fiele. Sowohl die Grundlinien der Evolutionstheorie Darwins als auch eine gewichtige Rolle des Zufalls werden bejaht. Allerdings so Eigen: »Die Auslegung dieser Rolle weicht indes von den derzeit in der Biologie ver194 breiteten Vorstellungen ab« . Den Grund für sein Opponieren findet Eigen in der Informationstheorie. Der 195 Gedankengang ist folgender: Eigen geht aus von der vergleichsweise unstrittigen These, dass das »Leben [...] nicht eine der Materie schlicht innewohnende Eigen196 schaft« darstellt, sondern vielmehr einen komplexen, regelmäßigen und dynami197 schen Ordnungszustand von Materie. Dieser gründet sich (wie bereits Schrödinger herausgestellt hat) in hochkomplexen kleinen Atom- resp. Molekülgruppen (Genotyp), die geradezu gesetzmäßige Wirkungen auf unverhältnismäßig große Atom- resp. Molekülgruppen von dauerhafter Strukturgebung (Phänotyp) 198 ausüben. Die Komplexität – und gemeint ist die Komplexität des molekularen 199 Bauplans, also der DNS – lässt sich als lineare Abfolge von Symbolen wiedergeben. Exakt dies qualifiziert den molekularen Bauplan als Information. Information wiederum ist quantifizierbar als »die Zahl binärer Ja-nein-Entscheidungen, die man im Mittel braucht, um eine bestimmte Symbolabfolge zweifelsfrei identifizieren zu 200 können« . Ein Beispiel: Um eine bestimmte Symbolabfolge einer dreistelligen Zeichenkette aus den drei Symbolen a,b,c zweifelsfrei zu identifizieren, müssen 3 alle alternativen Sequenzen durchgespielt werden (in diesem Fall 3 = 27). Die Zahl dieser alternativen Abfolgen steht für den Informationsgehalt und wird logarith1,43 misch ausgedrückt (also 10 ). Der Kehrwert dieser Zahl entspricht der Wahrscheinlichkeit, mit der eine bestimmte Zeichenabfolge (bei Gleichverteilung) zufällig auftritt (hier 0,037). Bereits eine sechsstellige Zeichenkette aus den 6 Symbolen a,b,c verfügt über 3 = 729 Alternativen, also über einen Informations2,86 gehalt von 10 und einer Wahrscheinlichkeit von 0,00137. Wird dies nun auf den molekularen Bauplan angewendet, so entsteht ein ver201 blüffendes Ergebnis. Angenommen es gäbe ein Genom mit den bekannten 193 194 195 196 197
198 199
200 201
Eigen, Stufen zum Leben, 8. Eigen, Stufen zum Leben, 9. Zum Folgenden vgl. Eigen, Stufen zum Leben, 34ff. Eigen, Stufen zum Leben, 20 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. Eigen, Stufen zum Leben, 33: »Leben als eine Regelmäßigkeit im Verhalten von Materie« und a.a.O., 47: »Leben ist ein dynamischer Ordnungszustand der Materie« (i. Orig. hervorgehoben und Überschrift von Kap. 5). Vgl. dazu unter C.II.1. Insofern sind die Bausteine des Lebens »die natürlichen Aminosäuren (die monomeren Untereinheiten der Proteine), sodann die Nucleobasen A, T (U), G und C und die Phosphorsäurester der Zucker (Ribose und Desoxyribose), aus denen sich die Nucleinsäuren zusammensetzen, sowie die Kohlehydrate und Fette. Kurzum, das gesamte Arsenal der sogenannten ›organischen‹ Chemie« (Eigen, Stufen zum Leben, 85). Eigen, Stufen zum Leben, 34. Vgl. dazu auch Küppers, Ursprung der biologischen Information, 96f.
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4 Nukleobasen und einer Länge von nur 1.000 Symbolen (in Wahrheit hat das kleinste bekannte Genom bereits mehrere Millionen Zeichen, Gene von ca. 1.000 1000 Basenpaaren gibt es hingegen tatsächlich), so ergibt sich bereits ein Wert von 4 602 ≈ 10 (die Wahrscheinlichkeit entspräche einer extrem kleinen Zahl mit 600 Nullen nach Null-Komma). D.h. um auf eine im Sinne Monods einmalig Leben ermög602 lichende stabile Sequenz von 1.000 Symbolen zu kommen, müssten 10 Sequenzen durchprobiert werden. Eine vorsichtige Schätzung Eigens kommt jedoch zu 202 dem Ergebnis, dass auch bei großzügigem Zeitrahmen und einer weltweiten und vergleichsweise luxuriösen Nukleinsäurekonzentration von einem Gramm pro Li40 50 ter in der Geschichte der Evolution schon bei 1.000 Zeichen maximal 10 bis 10 203 Sequenzen hätten durchprobiert werden können. Den Ursprung des Lebens alternativ extraterrestrisch zu suchen, schließt Eigen mit einer ähnlichen Rechnung 204 ausdrücklich aus. Eigen folgert daraus, dass der Zufall aus diesem Grunde als Erklärungsversuch für die Entstehung von Leben ausscheidet: »Die heutzutage in den Lebewesen vorzufindenden Gene können nicht zufällig, quasi per Würfelentscheid, entstanden sein. Es muß ein auf das Ziel, nämlich die Funktionstüchtigkeit ausgerichteter Optimierungsprozess existieren. Auch wenn die optimale Effizienz auf verschiedene Weisen realisierbar wäre, kann sie nicht einfach durch blindes 205 Herumprobieren erzielt werden« . Mit diesem durchaus plausiblen Gedankenexperiment hat Eigen nicht nur ein gewichtiges Argument gegen die Monodsche Zufallsthese ins Feld geführt, sondern 202 »Nach vorsichtiger Schätzung liegt die Phase der Entstehung des molekularen Instrumentariums der Zelle nicht wesentlich mehr als vier Milliarden Jahre zurück. Mithin bedurfte es weniger als eines Viertels der gesamten Zeitspanne der Evolution, um den genetischen Code und die Übersetzungsmaschinerie der Zelle entstehen und zu einer für alle Lebensformen verbindlichen Einheit werden zu lassen« (Eigen, Stufen zum Leben, 30). Vgl. auch a.a.O., 101 und Eigen, Was bleibt von der Biologie, 13: »Die Bildung eines informationsverarbeitenden Systems erfolgte – wie wir es heute aus vergleichenden Untersuchungen an den Adaptoren des genetischen Codes rekonstruieren können – vor etwa 3,8 ± 0,5 Milliarden Jahren«. 203 Eigen merkt ausdrücklich an, »daß die Bedingungen für eine natürliche Synthese auf der frühen Erde als in mehrfacher Hinsicht überschätzt gelten dürfen. Realistische Konzentrationen gelöster Nucleinsäuren liegen um Größenordnungen niedriger als ursprünglich angenommen« (Eigen, Stufen zum Leben, 36). Hinzu kommt: »Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lagen die vier Bausteine während ihrer chemischen Entstehungsphase in höchst unterschiedlichen Konzentrationen vor« (a.a.O., 89). 204 Vgl. Eigen, Stufen zum Leben, 30 und 35. Zur Frage des extraterrestrischen Lebens vgl. Rauchfuß, Chemische Evolution, 340ff. Auch Rauchfuß kommt 2005 – nach einer Formaldefinition von extraterrestrischem Leben – zu einem ähnlichen Ergebnis: »Leben, das außerhalb unserer Erde existiert bzw. existieren könnte, wird ganz allgemein als extraterrestrisches Leben bezeichnet. Außerdem unterscheidet man zwischen Leben (bzw. möglichem Leben) innerhalb und außerhalb unseres Sonnensystems. Trotz zahlreicher Publikationen der Science-Fiction-Branche, in Buchform oder als raffiniert ausgestatteter Fernseh- oder Kinofilm, muß man feststellen, daß bisher noch kein einziger Nachweis für ein lebendes System außerhalb der Erde erbracht werden konnte. Die kommenden Jahre und Jahrzehnte dürften endlich Klarheit bringen, ob wir wirklich allein durch das Universum treiben oder nicht«. 205 Eigen, Stufen zum Leben, 36.
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gleichzeitig zweierlei deutlich gemacht: Erstens, dass er die Essenz des Lebens in der Information am Orte der Gene loziert: »Sämtliche Spielarten des Lebens haben einen gemeinsamen Ursprung. Der Ursprung ist die Information, die in allen Le206 bewesen nach dem gleichen Prinzip organisiert ist« . Andererseits wird evident, dass die Frage nach der spezifischen Natur des so gefassten Lebens an die nach 207 dessen Ursprung gekoppelt ist. Eigen sucht also ein Ordnungsprinzip, das erklä208 ren soll, »wie Information zustande kommt« . Im Zuge dieser Suche greift Eigen ganz bewusst auf die Evolutionstheorie Darwins zurück, die prononciert als Theorie der Informationsentstehung im Reich unterkomplexer Moleküle interpretiert wird. Dies genau meint der Begriff Moleku209 210 lardarwinismus. Von besonderem Interesse ist dabei das Selektionsparadigma. Eigen hält fest: »Darwins Prinzip leistet das, was die Informatiker als Informations211 erzeugung bezeichnen« . Eigen ist also der Überzeugung, dass die für das Leben zentrale Informationsgenese der präbiotischen Phase in weitgehender Analogie zur durch Selektion und Mutation gesteuerten Evolution komplexer Organismen vor212 zustellen ist. Das Durchspielen von Sequenzen ist demnach keineswegs ein zufälliges und planloses, sondern folgt bereits dem Prinzip der Selektion, indem kom-
206 Eigen, Stufen zum Leben, 51. Vgl. auch: »Was ist allen Lebewesen gemeinsam? Alle Lebewesen benutzen als Speicher für ihr Erbmaterial die DNA und verarbeiten die gespeicherte Information nach dem Schema: Legislative / DNA – Nachricht / RNA – Exekutive / Protein – Funktion / Stoffwechsel« (a.a.O., 50). 207 »Leben ist zwar an Materie geknüpft, erscheint aber nur unter sehr spezifischen Voraussetzungen und äußert sich dann in sehr vielfältigen und individuellen Merkmalen. Es ist daher folgerichtig, die Frage nach der Natur des Lebens mit der Frage nach seiner Entstehung zu setzen. Das Prinzip Leben wird sich uns am ehesten erschließen, wenn wir herausfinden: Wie kann Leben entstehen?« (Eigen, Stufen zum Leben, 55 [Hervorhebung i. Orig.]). 208 Eigen, Stufen zum Leben, 55. Es muss also nach »einem Algorithmus, einer naturgesetzlichen Vorschrift für die Entstehung von Information gesucht werden« (a.a.O., 41). Und: »Informationsentstehung ist gleichbedeutend mit einer Veränderung der Wahrscheinlichkeit der Symbole aufgrund von zusätzlichen Bedingungen, die erst im Verlaufe des evolutiven Prozesses zutage treten« (a.a.O., 42f). 209 Vgl. Küppers, Ursprung der biologischen Information, 165: »Der molekulardarwinistische Ansatz geht von der Arbeitshypothese aus, daß eine Selektion im Sinne Darwins bereits im molekularen, a priori unbelebten Bereich der Materie wirksam ist und daß die biologische Information durch selektive Selbstorganisation und Evolution von biologischen Makromolekülen entstanden ist«. 210 Selektion bedeutet in der Lesart Eigens »eine ganz bestimmte Form der Bevorzugung, die sich unbestechlich an einem Wertmaßstab orientiert, sich dabei gegen Konkurrenten scharf abgrenzt, ein breites Mutantenspektrum wertorientiert aufbaut und so die komplexe Vielfalt organisiert und kontrolliert« (Eigen, Stufen zum Leben, 58 [Hervorhebung i. Orig.]). 211 Eigen, Stufen zum Leben, 44. Vgl. auch a.a.O., 55: »Evolution beschreibt die Entstehung von Information«. Vgl. auch a.a.O., 61: Dort spricht Eigen vom »Darwinschen Prinzip[], [als] des wohl wichtigsten Organisationsprinzips für die Entstehung und Entwicklung allen Lebens«. 212 Vgl. Eigen, Was bleibt von der Biologie, 14: »Die aufregende Erkenntnis unserer Tage ist, daß Selektion in der Tat schon auf molekularer Ebene, nämlich bei reproduktionsfähigen Molekülen wie RNA und DNA wirksam ist, und als solche aus physikalisch-chemischen Eigenschaften von Molekülen abgeleitet werden kann«.
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plexere und dominantere Sequenzen sich gegenüber instabileren und rezessiven 213 durchsetzen. Um dies zu plausibilisieren, hat Eigen eine sekundierende Theorie entwickelt, die 214 Theorie des Hyperzyklus. Diese ist im Einzelnen sehr kompliziert und kann hier 215 nicht ausführlich nachvollzogen werden. Nur so viel sei angemerkt: Ein Hyperzyklus ist ein katalytisches System, in dem kurzkettige RNS-Moleküle sich mit Hilfe von Enzymen replizieren. Einige der dabei entstehenden Übersetzungsprodukte wirken 216 sich ihrerseits positiv auf die Replikation der RNS-Moleküle aus. In der Perpetuierung dieses Zyklus treten durch fehlerhaftes Ablesen Mutationen in der RNS-Sequenz auf, was zur Folge hat, dass Moleküle mit unterschiedlichen katalytischen Fähigkei217 ten und Replikationsraten entstehen. Diese werden selektiert und verdrängen qua ihrer höheren Reproduktionsrate weniger erfolgreiche Moleküle. Natürlich unterliegt das Entstehen einzelner Hyperzyklen wieder dem Zufall, aber nicht einem kosmisch einmaligen im Sinne Monods, sondern einem, der jenseits ma218 thematischer Wahrscheinlichkeit prinzipiell gesetzmäßig eintritt. Grob betrachtet wird also von Eigen das von Monod beschriebene Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit im Sinne umgekehrt. Es geht nicht um das Eintreten eines einmaligen kosmischen Zufalls, der sich dann gesetzmäßig perpetuiert, sondern das, was Monod Zufall 219 nennt, tritt nach Eigen geradezu gesetzmäßig auf. Das Selektionsprinzip erweist 220 sich als präbiotische »Wertfunktion« mit nachgerade deterministischen Eigen213 »Selektion bedeutet Fokussierung auf eine unter vielen möglichen alternativen Sequenzen. Diese dominante Sequenz, der sogenannte Wildtyp, ist im Vergleich zu anderen Sequenzen zahlenmäßig am stärksten vertreten« (Eigen, Stufen zum Leben, 60). 214 »Wir bezeichnen ein System, bei dem sich dem matrizengesteuerten Replikationszyklus eine rückgekoppelte Reaktionsschlaufe überlagert, als Hyperzyklus« (Eigen, Stufen zum Leben, 106). 215 Vgl. dazu Küppers, Ursprung der biologischen Information, 203ff. 216 Vgl. Eigen, Stufen zum Leben, 105: »[E]inige der Übersetzungsprodukte wirkten sich günstig auf die Reproduzierbarkeit ihres jeweiligen Genotyps aus«. 217 »Mutation. Sie resultiert einfach aus unscharfer Replikation, da die Energie der Wechselwirkung zwischen komplementären Nucleinsäurebausteinen nicht weit über der thermischen Energie liegt. Damit sind Ablesefehler natürlicherweise einprogrammiert« (Eigen, Stufen zum Leben, 254; vgl. dazu auch Eigen, Vorrede, XIIf.). Vgl. auch Pörschke, Zufall oder Notwendigkeit, 95: »Jeder Schritt molekularer Informationsübertragung ist mit einer bestimmten Fehlerrate verbunden«. 218 »Das Selektionsprinzip erweist sich [...] als ein klares ›Wenn-dann‹-Prinzip, das ein aus definierten Voraussetzungen ableitbares Verhalten impliziert, analog dem Massenwirkungsgesetz, das die Einstellung der Mengenverhältnisse im chemischen Gleichgewicht regelt« (Eigen, Stufen zum Leben, 56). 219 Vgl. dazu auch Kay, Buch des Lebens, 416: »Der Ursprung für die Information des Lebens erweist sich damit weniger als Zufallstreffer denn als zwangläufige Entwicklung«. 220 Eigen, Stufen zum Leben, 59. Angespielt ist dabei auf das Darwinsche survival of the fittest. Vgl. Darwin, Origin of Species, 63: »This preservation of favourable individual differences and variations, and the destruction of those which are injurious, I have called Natural Selection, or the Survival of the Fittest. Variations neither useful nor injurious would not be affected by natural selection, and would be left either a fluctuating element, as perhaps we see in certain polymorphic species, or would ultimately become fixed, owing to the nature of the organism and the nature of the conditions« (Hervorhebung v.Vf.).
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schaften. Der Maxwellsche Dämon wird so zum subtil steuernden Akteur. Am 223 Orte des Gens erfolgt der Umschlag von Materie zu Leben. Zentral für Eigens Verständnis des Lebendigen ist nun, dass die Vorstellung einer molekularen Evolution an ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, die es gestatten, einen Eigenschaftskatalog zu entwerfen, der die im Hyperzyklus generierte DNS-Quasispezies als Leben charakterisiert. Das von Eigen in dieser Beziehung vorgeschlagene Koordinatensystem des Lebens umfasst das Dreierschema 224 von Reproduktion, Mutation und Metabolismus. Dieses beruht essentiell, wie bereits mehrfach angemerkt, auf selbstorganisierter Information und äußert sich integral als Evolution, die »bis zur höchsten Stufe des Lebens [dem] ›Bewußtsein 225 seiner selbst‹« fortschreitet. Damit kann, bezüglich der (bei weitem nicht erschöpfenden) Rekonstruktion des Lebensbegriffes Manfred Eigens ein vorläufiger Schlusspunkt gesetzt werden.
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Darwin hat den Ausdruck survival of the fittest erst ab der 5. Auflage (1869) verwendet und, wie er selbst einräumt, von Herbert Spencer als Interpretament seiner natural selection übernommen: »I have called this principle, by which each slight variation, if useful, is preserved, by the term Natural Selection, in order to mark its relation to man's power of selection. But the expression often used by Mr. Herbert Spencer of the Survival of the Fittest is more accurate, and is sometimes equally convenient« (Darwin, Origin of Species, 29). Eigen jedenfalls interpretiert fittest in seinem Sinne als dynamische Wertfunktion: »›Fittest‹ ist durch eine Wertfunktion bestimmt. Sie basiert auf dynamischen Parametern, die unabhängig von Populationszahlen meßbar sind« (Eigen, Stufen zum Leben, 60). Zu den Grenzen der Anwendbarkeit der Darwinschen Evolutionstheorie im Anschluss an Blumenberg vgl. Klein, Ende der Humanevolution?, 166. Vgl. Eigen, Stufen zum Leben, 68: »Selektion [ist] eine determinierte Eigenschaft selbstreproduktiver Systeme«. »Der Dämon, der in der Lage ist, Fluktuationen in Information umzumünzen, ist nicht irgendein molekularer Gleichrichter, er ist im Mechanismus der Selektion verankert. Selektion agiert nicht blind und hat auch nicht einfach die Filterwirkung, die man ihr seit Darwin zuschreibt. Selektion gleicht einem höchst subtilen Dämon, der auf den einzelnen Stufen zum Leben, wie auch auf den verschiedenen Emporen des Lebens, mit höchst originellen Tricks arbeitet« (Eigen, Stufen zum Leben, 253). »[I]n ihnen [sc. in den Genen ... vollzieht sich] der Übergang von lebloser Materie zum Bauplan des Lebens« (Eigen, Stufen zum Leben, 11). »Die DNA ist in der Tat mit den hervorstechendsten Eigenschaften des Lebens begabt. Sie hat ein Gedächtnis, kann sich reproduzieren, kann mutieren und sich demzufolge evolutiv anpassen, und sie wird kraft des Stoffwechsels der Zelle gehindert, in den chemischen Gleichgewichtszustand, einen Zustand der Leben ausschließt, abzusinken« (Eigen, Stufen zum Leben, 11). Vgl. auch a.a.O., 57: »Selbstreproduktion und Mutagenität haben wir als Voraussetzung für die selektive Entstehung der Information des Lebens, für die Organisation einer sich ständig optimierenden Funktionalität makromolekularer Strukturen erkannt«. Vgl. dazu auch Rauchfuß, Chemische Evolution, 15. Ebenso: »Voraussetzung für evolutionäres Verhalten ist neben der inhärent autokatalytischen Selbstvermehrung aller Varianten von Replikatoren, sowie neben ihrer Mutagenität, die Aufrechterhaltung eines ständigen chemischen Umsatzes durch Zuführung energiereicher Bausteine« (Eigen, Stufen zum Leben, 102). Vgl. auch Eigen, Was bleibt von der Biologie, 12 und Küppers, Ursprung der biologischen Information, 198. Eigen, Stufen zum Leben, 258.
Der molekulardarwinistische Ansatz – Manfred Eigen
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Im Folgenden ist im Durchgang einer kritischen Würdigung auf die ethischen Implikationen seiner Theorie zu sehen. IV.2
Würdigung und ethische Implikationen: Ethik des geno-morphen VernunftHumanismus
Die Diskussion um Manfred Eigens Überlegungen zum Lebensbegriff ist noch längst nicht abgeschlossen. Sie haben viel Zustimmung gefunden, besonders die von ihm vorgeschlagene Eigenschaftskompilation von Information, Reproduktion, 226 Mutation, Evolution und Metabolismus, mit denen er Leben charakterisiert. Dass damit die Frage des Lebens nicht als erledigt betrachtet werden dürfe, hat freilich auch Eigen selbst gesehen: »Es gibt allerdings keine Weltformel, die die Entstehung des Lebens als Konsequenz materiellen Verhaltens zwingend deduzierte und gleichzeitig das Wunder der Mannigfaltigkeit höheren Lebens bis hin zur Seele des 227 Menschen erklären könnte« . Insofern sind bestimmte Annahmen seiner Herangehensweise zumindest teilweise hinterfragt worden. Als problematisch empfunden wird dabei zunächst der in Kauf genommene methodologische Reduktionismus, wie er von Eigens Schüler Bernd-Olaf Küppers zugespitzt wurde. Er geht aus von der Behauptung, »daß das Ziel einer umfassenden naturwissenschaftlichen Erklärung biologischer Phänomene überhaupt nur auf der Grundlage eines reduktionistischen Forschungspro228 gramms erreicht werden kann« . Der benannte Reduktionismus besteht dabei genau in dem Anspruch, dass sich Lebenserscheinungen physikalisch-chemisch 229 erklären lassen, resp. dass »biologische Phänomene grundsätzlich auf die uns bekannten Gesetzmäßigkeiten von Physik und Chemie zurückgeführt werden 230 können« . Die Gefahr eines solchen Reduktionismus besteht einerseits in dessen Reichweitenüberschätzung (also im Anspruch einer vollständigen Rückführbar231 keit) und im Übersehen der Tatsache, »daß es sich bei den von den Theorien makromolekularer Selbstorganisation in Ansatz gebrachten Strukturmodellen um 232 kybernetische Strukturen, also um hochgradig ideelle Gebilde handelt« . Letztere 226 Vgl. Küppers, Ursprung der biologischen Information, 195ff. und Schuster, Molekulare Evolution, 52. 227 Eigen, Stufen zum Leben, 101. 228 Küppers, Ursprung der biologischen Information, 195 (Hervorhebung i. Orig.). Küppers führt diesen Reduktionismus als direkte Folge des Postulats der benannten molekulardarwinistischen Arbeitshypothese Eigens ein: »Wenn die Arbeitshypothese nicht nur ein Postulat bleiben soll, dann muß sich das Phänomen der natürlichen Selektion im molekularen Bereich nachweisen und vollständig auf physikalische Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten zurückführen lassen« (a.a.O., 165). 229 »[U]nter dem Begriff ›Reduktion‹ [soll] im folgenden [...] die Möglichkeit einer physikalischchemischen Erklärung der Lebenserscheinungen verstanden werden« (Küppers, Ursprung der biologischen Information, 170). 230 Küppers, Ursprung der biologischen Information, 195. 231 Vgl. Barth, U., Gehirn und Geist, 444. 232 Barth, U., Gehirn und Geist, 444.
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Erkenntnis hat in die Einsicht zu münden, dass informationsstrukturierte Materie 233 immer mehr als nicht informationsstrukturierte Materie ist. Auch der mit Eigens Theorie des Hyperzyklus wahrscheinlich gemachte Prozess der Selbstorganisation hat sich als diskussionswürdig herausgestellt. So verunsichert an dieser Stelle das Postulat des zwar gesetzmäßig gedachten zuletzt aber spontanen Entstehens derartiger Hyperzyklen. Hier wird entgegengehalten: »Die seit der griechischen Antike bekannte Ansicht, dass lebendige Dinge spontan aus unbelebter Materie entstehen (generation spontaneá), wird heute von keinem Na234 turwissenschaftler akzeptiert« . Eigen postuliere deshalb unter der Hand so etwas 235 wie eine »postgenomische[] Bio-macht« . Weniger im Zentrum der Diskussion um und mit Eigen stehen die ethischen Folgerungen und Forderungen, die er aus seinem Lebensbegriff gewinnt. Auf sie soll nun abschließend eingegangen werden. In dieser Hinsicht lassen sich zwei Stoßrichtungen erkennen: eine konkret wissenschaftsethische und eine allgemein normative. Zum einen zieht Eigen aus seiner Theorie konkrete wissenschaftsethische Konklusionen, die mit den sich aus der molekularbiologischen Forschung ergebenden Möglichkeiten zu tun haben. Dabei spricht sich Eigen für eine weitestreichende Freiheit auch der molekularbiologischen Forschung aus, die selbstverständlich experimentelle gentechnische Praktiken (z.B. die »gentechnische Züchtung neuer Nahrungsträger«236) wie auch Tierversuche zu beinhalten hat. Anhand der Beispiele von AIDS und Polio-Virus kritisiert er scharf insbesondere die 237 deutsche Gesetzgebung (»die wohl schärfste der ganzen Welt« ), die seiner Meinung nach völlig irrational resp. widersinnig verfasst ist. Sie habe nicht nur inzwischen zu »Lähmungserscheinungen in der Forschung und in der industriellen Ent238 wicklung« geführt, sondern fordere auch, »etwas auszuschließen, das noch gar 239 nicht bekannt ist« resp. absolute Schadensfreiheit. Dabei macht er im Hinblick auf die Genforschung darauf aufmerksam, dass der im deutschen Gesetz geforder233 Vgl. Barth, U., Gehirn und Geist, 444. Rehmann-Sutter hat darauf hingewiesen, dass die Tatsache der Manipulierbarkeit des organischen Lebens bedeutet, »dass an den Konzepten der mechanischen Biologie etwas dran ist. Ihre Vorhersagen treffen ein; die Theorie bewährt sich in den Experimenten. Auch wenn die Aussagen der molekularen Genetik, wie die aller Naturwissenschaften, nach Karl Popper bloß Hypothesen bleiben können, die sich so lange bewähren, als sie nicht durch empirische Evidenzen falsifiziert sind, sind diese Aussagen doch für die menschliche Reichweite bestätigt, sobald sich mit ihrer Hilfe erfolgreiche Vorhersagen machen lassen«. Das ändert nach Rehmann-Sutter jedoch nichts daran, dass die molekularbiologischen Theorien des Lebens ihrerseits große Defizite zeitigen. 234 Strauss, Paradigmen, 113. In dieser Beziehung ist auch noch einmal an Lotze zu erinnern, der darauf aufmerksam gemacht hatte, »wie völlig untergeordnet die Bedeutung der Sendung ist, welche der Mechanismus in dem Bau der Welt zu erfüllen hat« (Lotze, Mikrokosmus, 3I, XV [i. Orig. z.T. gesperrt]). 235 Kay, Buch des Lebens, 414. 236 Eigen, Was bleibt von der Biologie, 24. 237 Eigen, Was bleibt von der Biologie, 21. 238 Eigen, Was bleibt von der Biologie, 21. 239 Eigen, Was bleibt von der Biologie, 21.
Der molekulardarwinistische Ansatz – Manfred Eigen
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ten Risikobegrenzung eher eine gezielte experimentelle Genforschung entspreche denn ein Verbot. Denn – so Eigen – formal betrachtet sei eine gentechnologische Mutante nichts anderes als eine natürlich entstandene, nur dass im ersten Fall eine wesentlich bessere Risikokontrolle möglich wäre, weil die Prozesse wesentlich 240 kontrollierter ablaufen. Freilich steht Eigen dabei vor Augen, dass auch bei kontrolliertester experimenteller Forschung auf diesem Gebiete keine exakten Vorhersagen möglich sind. Vielmehr ist es eine zentrale Einsicht seines molekulardarwinistischen Ansatzes, dass von einer prinzipiellen Zukunftsoffenheit auszu241 gehen ist. Und hinzu kommt ein letztes: Als Naturwissenschaftler stört es ihn, dass diesbezügliche Gesetzgebungsprozesse in weitgehender Unkenntnis der tatsächlichen Forschungslage vonstatten gehen und sich nicht selten politisch moti242 vierter Meinungsmache verdanken. Auch von daher verbiete sich eine derart restriktive Gesetzgebung. Es liegt für Eigen auf der Hand – und damit wird der zweite angedeutete Punkt berührt, der allgemein normative –, dass im Gegenteil dann freilich nicht Alles und Jedes in der molekularbiologischen Forschung erlaubt werden kann und soll. Insofern sind diese konkreten wissenschaftsethischen Forderungen ihrerseits rückgekoppelt an allgemeine ethische Überlegungen. Das Problem, vor dem nach Eigen die Menschheit steht, ist exakt das, herauszufinden, was vom molekularbiologischen Wissen zum Wohle des Menschen und der Menschheit ist und was nicht.243 Diese strikt ethische Frage kann in seinen Augen nicht mithilfe einer ethischen Theorie beantwortet werden, »die sich noch immer an einer Zeit orientiert, in der das Überleben der Menschheit [...] durch hohe Nachkommenschaft gesichert wer244 den mußte« . Vor dem Hintergrund der Diagnose eines hyperbolischen Bevölkerungswachstums erteilt Eigen solcherlei Überlegungen eine schroffe Absage.
240 »Eine gentechnologisch erzeugte Mutante ist jedoch nichts anderes als eine natürlich entstandene. In dem einen Fall manipulieren wir und wissen, was geschieht. Im anderen Fall manipuliert die Natur, wir wissen nicht, was dabei herauskommt, sondern sind allenfalls in der Lage, empirisch zu testen, was geschieht. Das eine wird verteufelt, das andere als ›natürlich‹ akzeptiert, obwohl sich ein Risiko bei bewußtem Handeln immer leichter kontrollieren läßt als bei unbewußtem Hantieren« (Eigen, Was bleibt von der Biologie, 23 [Hervorhebung i. Orig.]). 241 »Die der Selektion und Evolution zugrundeliegenden Naturprinzipien führen zur Überwindung einer kausal-mechanischen Naturauffassung und beschreiben eine Welt mit einer offenen, nicht festlegbaren Zukunft« (Eigen, Was bleibt von der Biologie, 15). 242 Nachgerade polemisch fragt er an: »Wie weit darf die indifferente Mehrheit der Gesellschaft gegen den Rat Fachkundiger den von einer ideologisch argumentierenden Minderheit geschürten Emotionen nachgeben?« (Eigen, Was bleibt von der Biologie, 24). 243 »Wir müssen wissen, was wir von unserem Wissen anwenden dürfen, was wir – womöglich unter Inkaufnahme sekundärer Nachteile – anwenden müssen, um zu überleben, und was wir auf keinen Fall ausführen – möglicherweise nicht einmal ausprobieren – dürfen« (Eigen, Was bleibt von der Biologie, 18). Dies gründet sich nach Eigen in der Tatsache, dass »Wissen nicht ›zurückgenommen‹ werden [kann]. Wir müssen lernen, mit Wissen zu leben« (a.a.O., 24 [Hervorhebung i. Orig.]). 244 Eigen, Was bleibt von der Biologie, 9.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
Im Gegenteil plädiert Eigen – in lockerer Anlehnung an Kant – für eine menschengerechte resp. humanitäre Vernunft, die es analog einem genetischen Programm (als informeller Träger von Leben) zu implementieren gilt; einen genomorphen Vernunft-Humanismus. Die entscheidende ethische Forderung dabei ist, dass »der Mensch endlich lernt, was er in den vergangenen fünf Jahrtausenden seiner Kulturgeschichte nicht gelernt hat, nämlich im Sinne der Menschheit vernünftig zu handeln und dafür – analog einem genetischen Programm – definierte 245 Regeln zu erarbeiten und für alle verbindlich zu etablieren« . Kerngehalt dieser menschengerechten Vernunft ist »die ethische Pflicht, verfügbares Wissen zum Wohle der Menschheit einzusetzen, sei es, um die Leiden einzelner zu vermindern, 246 sei es, um Gesundheit und Ernährung aller Menschen zu sichern« . Implementierungsgestalt ist ein ebenso vernünftiger rechtlicher Rahmen mit internationaler 247 Verbindlichkeit. Eigen spricht sich also dafür aus, dass die Menschheit auf der Stufe der kulturellen Evolution sich qua Vernunft ein dem genetischen Code vergleichbares Programm gibt, dessen Übersetzung und Tradierung durch vernünftige juristische Implementierungen gewährleistet wird. Das Problem, das Eigen an dieser Vision einer kulturellen Evolution der Menschheit sieht, besteht erstens darin, dass die kulturelle Vererbung eines solchen vernünftigen und humanitären Programms ungleich fragiler ist als auf der Vorbildebene der Molekularbiologie. Es ist eben so, dass ein solches Programm vernünftighumanitärer Evolution nicht – wie am Orte des Genoms – auf natürlichem Wege und mit vergleichsweise hoher Stabilität vererbt wird.248 Hinzu kommt eine Schwierigkeit, die die Freiheit des Individuums und die Gefahr der Korrumpierbarkeit gesellschaftlicher Führung betrifft. Beides steht problematisch zur Forderung eines vernünftig-humanistischen Programms und v.a. dessen Gebung, d.h. dessen verbindlicher Implementierung. Insofern blickt Eigen ein wenig pessimistisch in die Zukunft. Im Wissen, dass seine Vision eines vernünftig-humanistischen Programms der Menschheit zunächst noch und eben Vision ist, hält er jedoch umso entschiedener an ihr fest: »Es wird sich nichts ändern, wenn wir nicht unsere Vernunft mobilisieren und Humanität als moralischen Imperativ akzeptieren. Die Zukunft der Menschheit wird nicht auf der genetischen Ebene entschieden. Wir brauchen eine für alle Menschen verbindliche Ethik. Hier harrt die Evolution – eine Evolution vom menschlichen Individuum zur Menschheit – ihrer Vollendung«249.
245 Eigen, Was bleibt von der Biologie, 26 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. auch a.a.O., 18: »Wir müssen mit Vernunft herausfinden, was oder was nicht sein soll oder darf«. 246 Eigen, Was bleibt von der Biologie, 24 (Hervorhebung v. Vf.). 247 Vgl. Eigen, Was bleibt von der Biologie, 24. 248 »Kulturelle Information wird dem Individuum nicht vererbt, ebensowenig wie soziales Wohlverhalten. Trotz kultureller Evolution der Menschheit über viele Jahrtausende hinweg führen die Menschen auch heute noch Kriege und in diesen Kriegen sind sie nicht weniger grausam als eh und je« (Eigen, Was bleibt von der Biologie, 26). 249 Eigen, Was bleibt von der Biologie, 28.
Resümee zum molekularbiologischen Lebensbegriff –
V.
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Resümee zum molekularbiologischen Lebensbegriff – Überleitung zum theologischen Lebensbegriff
Wie eingangs bereits angedeutet, gibt es den molekularbiologischen Lebensbegriff nicht. Dies hat auch der Durchgang durch die Ansätze von Schrödinger, Monod und Eigen plastisch vor Augen geführt. Insofern ist zunächst als negatives Ergebnis festzuhalten, dass es auch der Molekularbiologie bislang nicht gelungen ist, das Rätsel des Lebens zu entschlüsseln. Vielmehr kann mit Peter Schuster festgestellt werden: »Die Essenz des Lebens ist auch und vor allem für den Naturwissenschaft250 ler ein unlösbares Rätsel und wird es vermutlich auch für alle Zeit bleiben« . Allerdings ist dieses Negativergebnis keineswegs allein negativ zu interpretieren. Denn dass die Frage nach dem Leben auch von der Molekularbiologie keiner abschließenden Antwort zugeführt wurde, bedeutet nicht, dass sich durch ihre Arbeit die Einsicht in das Lebendige nicht vergrößert hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Die molekularbiologischen Forschungsleistungen haben das Bild des Lebendigen in einer kurzen Zeit derart drastisch verändert wie wohl kaum eine mit dem Leben befasste Wissenschaft zuvor. Durch die Molekularbiologie ist der Blick in das Reich des Lebendigen ungleich tiefer und reicher geworden. Im Zentrum steht die Erkenntnis, dass die basalen Mechanismen aller bekannten Lebewesen auf molekularer Ebene weitgehend identisch ablaufen. Das betrifft in erster Linie die Kodierungs- sowie die dazugehörenden Translations- und Synthesemechanismen, die nahezu Universalität beanspruchen dürfen. Leben – molekularbiologisch betrachtet – besteht eben in diesen Strukturen oder ist wie es John D. Barrow etwas laxer ausgedrückt hat, »eine Art Software, die auf bestimmten komplexen Biomolekülen abläuft«251. Dies kann nun – wie gesehen – im Einzelnen sehr unterschiedlich konzeptualisiert werden: bei Erwin Schrödinger als thermodynamisch höchst unwahrscheinlicher aperiodischer Kristall, der – dem Prinzip Ordnung aus Ordnung folgend – eine höchst regelmäßige und gesetzmäßige Wirksamkeit entfaltet und eine ans Wunderbare grenzende Dauerhaftigkeit oder Beständigkeit aufweist; im Sinne Jaques Monods als ein – einem einmaligen kosmischen Zufall sich verdankender – teleonomischer Apparat, der sich durch autonome Morphogenese und (weitgehende) reproduktive Invarianz einer chemischen Maschine gleich notwendig perpetuiert; oder gemäß Manfred Eigen als eine aus den notwendigen Gesetzen molekularer Evolution hervorgegangene informationsstrukturierte Materie (Quasispezies), die durch Reproduktion, Mutation und Metabolismus (sowie Evolution) gekennzeichnet ist. 250 Schuster, Molekulare Evolution, 52. Vgl. auch Rehmann-Sutter, Weltbild, 54: »Zuerst müssen wir anerkennen, dass auch nach der Aufklärung des genetischen Codes und nach der Kenntnis der genauen DNA-Sequenz eines Lebewesens das Geheimnis des Lebens im Allgemeinen und im Besonderen in keiner Weise gelüftet ist«. 251 Barrow, Natur der Natur, 460.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
Die in diesem Nebeneinander wahrnehmbare und mit der oben getroffenen Feststellung, dass auch mit den bahnbrechenden Erkenntnissen der Molekularbiologie die Frage nach dem Leben als noch nicht abschließend beantwortet gelten darf, konvergierende Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit des molekularen Lebensbegriffs muss indes nicht beunruhigen. Sie liegt ganz in der Natur der Sache. Wie schon Hegel festgestellt hat, ist die Forschung prinzipiell unabschließbar resp. 252 unendlich. Forschung – und also auch die biologische – befindet sich im Grunde 253 immer in einem Übergangszustand. Diesen Gedanken hat Hans-Jörg Rheinberger mit besonderem Blick auf die Molekularbiologie präzisiert. Die Pluralität von Konzepten resp. das Fehlen eines randscharf definierten und allgemein akzeptierten Begriffs des Lebendigen auf Seiten der Molekularbiologie hängt demgemäß an einer Reihe von Gründen, die sich der spezifischen Herangehensweise verdanken: »Die spezifischen experimentellen Praktiken moderner Forschungsgebiete führen zu Begriffen, die eng mit den Objekten der Forschung verbunden sind. Als solche stellen sie Attraktoren dar, die trotz – vermutlich sogar wegen – ihrer Unschärfe eine mehr oder weniger ausgeprägte Orientierungsmacht entfalten und die Welt der Forschung vorantreiben. [...] In der Physik war das Atom lange Zeit ein solches Objekt; in der Chemie das Molekül; und in der klassischen Genetik übernahm das Gen diese Funktion«254. D.h. nach Rheinberger ist die Molekularbiologie – wie andere experimentelle Wissenschaftsbereiche – auch durch ihre instrumentalen 255 Praktiken mitbestimmt. Allzu scharfe Definitionsversuche erwiesen sich auf diesem Terrain eher als epistemologisches Hindernis denn als exakte Ausgangsba256 sis. Rheinberger geht im Gegenteil davon aus, dass es gerade jene notorische Verschwommenheit, Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit der generierten Konzepte ist, die eine Spannung und somit eine innere Forschungsdynamik und -produktivität freizusetzen vermag, was er im Anschluss an François Jacobs jeu des 257 possibles als »gebändigten Überschuss« bezeichnet. Am Orte der Molekularbiologie ist dies noch einmal dadurch katalysiert, dass sie per se als eine hybride Wissenschaft zu verstehen ist, die – wie auch die hier diskutierte Kompilation zeigt – 252 Vgl. dazu unter A.III.3.2. 253 »Die Biologie ist selbst gekennzeichnet durch eine Abfolge von unterschiedlichen Theorien und Postulaten, mit deren Hilfe die empirisch beobachtbaren Vorgänge erklärt und der Prozess des Lebendigen genauer erfasst werden sollten. Es ist eine Geschichte, in der [...] Aussagen, die sich langfristig bewährt haben, und Annahmen, die sich als Irrtum erwiesen haben, sehr nahe beieinander lagen. Wir haben kaum Gründe anzunehmen, dass sich heute diese Gemengelage von Wahrheit und Irrtum in der Forschung zugunsten der Wahrheit aufgelöst hat« (Tanner, K., Mysterium des Menschen, 140). 254 Rheinberger, Evolution des Genbegriffs, 222. Vgl. auch a.a.O., 222f., wo es heißt, dass »variable epstemische Praktiken solchen Objekten ihre spezifisch historischen Konturen verleihen«. 255 Vgl. Rheinberger, Evolution des Genbegriffs, 229. 256 Vgl. Rheinberger, Evolution des Genbegriffs, 224. Vgl. auch a.a.O., 229: »Ich denke nicht, dass die Entwicklung der Molekularbiologie durch eine ›Gen-Leitvorstellung‹ nennenswert befördert worden wäre. Und auch heute käme bestenfalls eine wissenschaftsrhetorische Übung dabei heraus«. 257 Rheinberger, Evolution des Genbegriffs, 225.
Resümee zum molekularbiologischen Lebensbegriff –
247 258
wenigstens in der Schnittmenge von Physik, Chemie und Biologie arbeitet. Der Lebensbegriff der Molekularbiologie erweist sich von hier aus gesehen als einer, der ständig über sich hinausweist und bereits in molekularbiologischer Perspektive ständig neue Dynamiken und Perspektiven generiert. Aber nicht nur in molekularbiologischer Binnenperspektive lassen sich Abstrahlungen des im Rahmen der Molekularbiologie entworfenen Lebensbegriffes wahrnehmen. Wie gezeigt wurde, haben Schrödinger, Monod und Eigen aus ihren Ansätzen z.T. weit reichende ethische Implikationen und Imperative gewonnen. Auf diese ist abschließend noch einmal in Aufspreizung der engeren Perspektive einzugehen, um über eine kritische Diskussion hier aufbrechender Fragen die Brücke zum theologischen Lebensbegriff zu schlagen. Zunächst fällt dabei auf, dass die ethischen Folgerungen und Forderungen der oben behandelten Theorien jeweils in großer Nähe zum ausgemachten Zentrum des Lebensbegriffs stehen. So transformiert Erwin Schrödinger die immanente Dynamik des von ihm fixierten stofflichen Trägers des Lebens (des aperiodischen Kristalls) – die direktive Wirklichkeit der Chromosomen in ihrer evolutionären Entwicklung – in eine Ethik des Quantensprungs, die ihr Zentrum in einer Nietzsche vergleichbaren Figur der Selbstüberwindung findet. Anders aber als bei Nietzsche zielt die Selbstüberwindung bei Schrödinger nicht auf die Einnahme der Position des Übermenschen, sondern besteht umgekehrt in der Überwindung des Egoismus zum Altruismus. Der ethische Quantensprung kommt im gezielten Überspringen eines die Gesellschaft bedrohenden Egoismus' in einem Altruismus zum Stehen, der sich in gedanklicher Nähe zu Schopenhauer weiß und den Menschen als animal sociale zum Ziel hat. Jacques Monod hingegen hat vor dem Hintergrund seines Postulats der Objektivität – der systematischen Absage an jede Form eines durch Endursachen geleiteten Denkens – eine Ethik der Erkenntnis entworfen. Die Ethik der Erkenntnis besteht in der ethischen Entscheidung für das Objektivitätspostulat und damit für die wahrhafte Erkenntnis. Die Ethik der Erkenntnis kann so gelesen werden als die ethische Wendung seines naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals, das als Ausdruck eines methodischen Atheismus und eines spezifisch naturwissenschaftlichobjektiven Nihilismus auf ein humanistisches resp. sozialistisches Ethos zielt. Und Manfred Eigen endlich überführt seine Grundeinsicht von der evolutivmolekularen Autopoietik von Information in ein Plädoyer für eine menschengerechte resp. humanitäre Vernunft, die es analog einem genetischen Programm zu implementieren gilt. Die entscheidende ethische Forderung ist dabei – in sachlicher Nähe zu Kant –, vernünftig zu handeln im Sinne der ethischen Pflicht, verfügbares Wissen zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Die Menschheit hat sich in diesem Sinne – den Molekülen gleich, aber auf der Ebene der kulturellen Evolution
258 Vgl. Rheinberger, Evolution des Genbegriffs, 227.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
– so zu organisieren, dass in ihr ein vernünftig-humanitäres Programm verwirklicht wird. Der Versuch einer Einschätzung der diskutierten Theorien zum molekularbiologischen Lebensbegriff ergibt ein äußerst disparates Bild. Zunächst ist noch einmal festzuhalten, dass die Molekularbiologie das Bild des Lebens ungemein bereichert und vertieft hat. Dies betrifft indes nicht nur die erweiterte Einsicht in die molekularen Strukturen und Prozesse, die sich als essentielle Grundlage des Lebens herauskristallisiert haben. Es können an den besprochenen Konzeptionen durchaus allgemeinere Bestimmungselemente des Lebendigen abgelesen werden. So kann mit Erwin Schrödingers Erkenntnis, dass das Leben einen thermodynamisch betrachtet höchst unwahrscheinlichen Zustand repräsentiert, die Exzeptionalität, Fragilität und basale Umweltangewiesenheit sowie der Ordnung entziehende und die Umwelt belastende Charakter des Lebens wahrgenommen werden. An Monods Bestimmungen von Teleonomie, autonomer Morphogenese und (weitgehender) reproduktiver Invarianz lassen sich exemplarisch die Raffinesse und Perfektion, aber auch die Kälte und Mechanistik der molekularen Lebensgrundlagen studieren, woran dann ebenso die Möglichkeiten anknüpfen, manipulativ in das Lebendige einzugreifen. Und Eigens molekulardarwinistische Sicht des Lebens lässt die elementare Informationsbasiertheit sowie die innere Entwicklungsdynamik des Lebens deutlich werden. Allerdings ist betont auch auf die Grenzen des molekularbiologischen Lebensbegriffes hinzuweisen. Die primäre Erschließungskompetenz des molekularbiologischen Lebensbegriffes liegt eben auf der Ebene der Moleküle. Sie nimmt ab, je komplexer die zu beschreibenden Erscheinungen des Lebendigen ausfallen, und stößt spätestens an der »höchsten Stufe des Lebens ›Bewußtsein seiner selbst‹«259 an echte Grenzen. Hier gilt, dass die Erkenntnisse der Molekularbiologie immer noch zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen zur Erschließung selbstbewusster Lebensformen darstellen, die sich in ihrer Definition nicht auf die260 se Ebene beschränken. In diesem Sinne hat Christian Schwarke in Anlehnung an Ernst Troeltschs Unterscheidung von historischer und dogmatischer Methode darauf aufmerksam gemacht, »dass die Biologie keine dogmatischen (hier: normati261 ven) Kennzeichen für den Menschen bereit stellen kann« . Das bedeutet nun nicht, dass diese Merkmale nicht relevant wären. Vielmehr ist ihr status als eben naturwissenschaftliche Beobachtung immer mitzureflektieren. Insofern plädiert Schwarke für einen »Umgang mit naturwissenschaftlichen Beobachtungen, der deren Charakter als jeweils gewählter Ausschnitt der Wirklichkeitsbeschreibung 259 Eigen, Stufen zum Leben, 258. 260 »Die wissenschaftlich mehr oder weniger exakt erhebbaren biologischen Fakten stellen eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Erfassung eines Menschen dar« (Tanner, K., Mysterium des Menschen, 144). Vgl. auch ebd.: »Der Mensch [...] ist immer mehr als seine biologische und genetische Ausstattung«. 261 Schwarke, Biologie und Ethik, 105.
Resümee zum molekularbiologischen Lebensbegriff –
249
ernst nimmt. Naturwissenschaftliche Beschreibungen illustrieren Einzelheiten und Zusammenhänge, die für unsere Welt- und Selbsterkenntnis von Bedeutung sein 262 können« . Schranken des molekularen Lebensbegriffes werden indes nicht nur am Orte der Beschreibung selbstbewussten Lebens wahrnehmbar, sondern auch und vor allem im Hinblick auf die ethischen Implikationen. Zunächst drängt sich dabei frei263 lich der Verdacht eines naturalistischen Fehlschlusses auf. Dies mag insofern zutreffen, als bestimmte Operatoren der jeweiligen Theorie ethisch gewendet werden. Ob dort dann immer ein natural failure im strengen Sinne vorliegt, muss hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Es ist an dieser Stelle jedoch darauf hinzuweisen, dass es eine positive Verbindung von Ethik und Naturwissenschaft zumindest in der Gestalt gibt, dass es in bestimmten Gebieten des ethischen Nachdenkens die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung sind, die die ethische 264 Theoriebildung vorantreiben. Indes erschöpft sich eine kritische Würdigung der jeweils diskutierten ethischen Implikationen darin nicht. Interessanter ist es, sich vor Augen zu halten, dass die jeweiligen Konzepte und mit ihnen auch die ethischen Konklusionen selbst auch wieder weltanschaulichen Voraussetzungen unterliegen, die in den einzelnen Fällen mehr oder weniger deutlich zutage treten. Es muss dieser Beziehung darauf aufmerksam gemacht werden, dass (ob und neben ihrer Bestimmtheit durch experimentelle Praktiken) »die sog. ›empirische For265 schung‹ immer von Hintergrundannahmen mitgeprägt ist« . Am deutlichsten zeigt sich dies wohl bei Jacques Monod, der aus seiner Ablehnung jeder im weitesten Sinne idealistischen oder idealistisch geprägten Herangehensweise (Animismus) keinen Hehl und seine linke, teilweise mit dem Marxismus konvergierende Einstellung mehr als einmal öffentlich gemacht hat. Im Falle von Erwin Schrödinger war eine Nähe zur vedantischen Mystik erkennbar, die ihren abendländischen Gewährsmann in Schopenhauer findet. Und Manfred Eigen hatte in lockerer Anlehnung an Kant für eine menschengerechte Vernunft plädiert, die 262 Schwarke, Biologie und Ethik, 106f. 263 Zum naturalistischen Fehlschluss vgl. Moore, Principia ethica, bes. Chap. I, § 10: »Yet a mistake of this simple kind has commonly been made about good. It may be true that all things which are good are also something else, just as it is true that all things which are yellow produce a certain kind of vibration in the light. And it is a fact, that Ethics aims at discovering what are those other properties belonging to all things which are good. But far too many philosophers have thought that when they named those other properties they were actually defining good; that these properties, in fact, were simply not other, but absolutely and entirely the same with goodness. This view I propose to call the naturalistic fallacy and of it I shall now endeavour to dispose« (Hervorhebung v. Vf.). 264 Am deutlichsten ist dies wohl in der Bioethik: »Bioethische Debatten werden vorangetrieben durch die naturwissenschaftliche Forschung« (Tanner, K., Mysterium des Menschen, 135). 265 Tanner, K., Mysterium des Menschen, 140. Vgl. auch a.a.O., 141 wo Tanner festhält, dass sich die Forschung »zwar auf biologische ›Fakten‹ bezieht, gleichwohl ein interpretierendes Moment mit eine Rolle spielt, das immer auch geleitet ist vom Interesse an normativen Festlegungen und ›sinnvollem‹ Handeln«.
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
eine Pflicht generiert, verfügbares Wissen zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Überein kommen die drei Modelle darin, dass sie vor dem Hintergrund der jeweiligen weltanschaulichen Prämissen eine humanistische resp. sozialistische Vision verfolgen. Daran wird deutlich, dass die ethischen Konsequenzen schließlich sehr allgemein ausfallen. Es sind mehr ethische Visionen denn ausgearbeitete Konzeptionen oder Theorien. Auch dies dürfte wieder in der Natur der Sache liegen. Denn es gilt allgemein als Konsens, dass aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen eben nicht klare ethische Gewissheiten folgen: »Zweifelsfreie Antwort auf ethische Fragen ist durch naturwissenschaftliche Beschreibungen nicht zu erreichen«266. Der Wert naturwissenschaftlicher Einsichten für die ethische Deliberation besteht vielmehr da267 rin, ethische Entscheidungen im Reich des Natürlichen zu plausibilisieren. Als Modell zur Erfassung selbstbewussten Lebens und als Generator ethischer Entscheidungsfindung wäre die molekularbiologische Konzeptualisierung des Lebendigen überschätzt. Darin darf endlich auch nicht der zentrale Anspruch der Molekularbiologie gesehen werden, was nicht zuletzt Manfred Eigen auch durchaus bewusst ist. Gesetzt, die elementaren Mechanismen und Strukturen auf der Ebene der Molekularbiologie könnten aufgeklärt werden, fragt er: »Doch was wüßten wir 268 dann schon über den Menschen?« . Zum Schluss ist und bleibt der molekularbiologische Lebensbegriff primär ein molekularbiologischer Lebensbegriff. Indes ist Manfred Eigen nicht der einzige, der die Grenzen der molekularbiologischen Konzeptgenerierung klar vor Augen hat. Christoph Rehmann-Sutter, selbst Molekularbiologe und Philosoph, hat neben ihrer unzweifelhaften Erschließungskraft immer wieder auch auf die »Beschränktheit [der] molekularbiologischen 269 Theorien des Lebendigen« hingewiesen. Sie wird da erkennbar, wo im weitesten Sinne übergeordnete Sinnstrukturen auftauchen: »Die moderne Molekularbiologie als die mächtigste Wissenschaft vom Lebendigen, die es jemals gegeben hat, ver270 sagt in solchen Fragen, wo es um das Leben und seinen Sinn geht« . Dem vor diesem Hintergrund diagnostizierten »Bedarf nach philosophischen Konzeptionen 271 vom Lebendigen« ist Rehmann-Sutter selbst nachgekommen. In geschickter Abarbeitung an Paradigmata griechischer und zeitgenössischer Konzepte ist er zu durchaus beachtenswerten Begriffspreizungen gelangt, die ihr Ziel in einem »her-
266 Schwarke, Biologie und Ethik, 108. 267 »Ethische Entscheidungen lassen sich daher an und mit ihnen [sc. naturwissenschaftlichen Erkenntnissen] plausibilisieren. In diesem Sinne taugt der jeweilige Verweis [...] zur Verankerung der jeweiligen ethischen Option an der außerethisch beschreibbaren Realität. Aber der naturwissenschaftliche Sachverhalt entscheidet nicht die strittige Frage« (Schwarke, Biologie und Ethik, 116f.). 268 Eigen, Was bleibt von der Biologie, 12. 269 Rehmann-Sutter, Weltbild, 33. 270 Rehmann-Sutter, Weltbild, 34. 271 Rehmann-Sutter, Weltbild, 34.
Resümee zum molekularbiologischen Lebensbegriff –
251
272
meneutische[n] Lebensbegriff« finden, der essentiell durch Perzeption, Kom273 munikation und Ontogenese gekennzeichnet ist. Im Detail warnt Rehmann-Sutter dabei vor einer Überschätzung der DNS als es274 sentiellem Träger des Lebens. Insofern insbesondere die so genannte Vorbildtheorie zu eklatanten Widersprüchen führt, schlägt er eine »offene Theorie der Le275 bewesen« vor. Sie umfasst im Wesentlichen das Koordinatensystem von vier 276 277 278 Unendlichkeitsperspektiven, der Ganzheit , Prozessualität , des Selbstseins 279 und der relationalen Identität . Sein Resümee: »Ich stelle mir die Theorie der Le-
272 Rehmann-Sutter, Leben beschreiben, 362. 273 Leben ist für Rehmann-Sutter allgemein die »Daseinsweise von Organismen« resp. der »Inbegriff der Vollzüge des Organismus« (Rehmann-Sutter, Leben beschreiben, 361). Das Ineinander der drei Charakteristika bestimmt Rehmann-Sutter wie folgt: »In der Wahrnehmung tritt ein Wesen in eine Beziehung zu seiner Umgebung oder zu sich selbst. Es merkt etwas, und das Merken ist das Innewerden von etwas. In der Kommunikation entwickelt sich eine Beziehung zu anderen Wesen. Sie ist intersubjektiv: ein Sichfinden in einer Gemeinschaft mit anderen Lebewesen durch Zeichen als Medium. Und die Entwicklung ist als komplexer Prozeß zu beschreiben, der sich von Gegenwart zu Gegenwart bewegt und dabei stets bei sich selbst bleibt, als historischer Prozeß derart, daß die Tendenz zu einer bestimmten neuen Entwicklungsbewegung – die genetische Information – aus der Vergangenheit der bisherigen Entwicklung, der gegenwärtigen Konstitution des Organismus und die durch den Organismus effektiv gemachte Umwelt entsteht. Das Dasein eines Lebewesens scheint so beschrieben werden zu können als die Anwesenheit eines Wesens« (RehmannSutter, Leben beschreiben, 361f. [Hervorhebungen v. Vf.]). 274 »Die Gene können nicht die ›Essenz‹ des Lebewesens sein. Sie sind ein organisierendes Lager von codierten Proteinsequenzen, welche irgendwann abgerufen werden können. [...] Es ist eher die Ebene des komplexen selbst-bewegenden Ganzen des zellulären Prozesses, worin das Geheimnis oder das Wesen des Lebendigen liegt. Daran hat die DNA einen wichtigen Anteil. Das Wesen kann aber nicht im Zellkern enthalten sein« (Rehmann-Sutter, Weltbild, 50). Vgl. auch a.a.O., 54: »Zuerst müssen wir anerkennen, dass auch nach der Aufklärung des genetischen Codes und nach der Kenntnis der genauen DNA-Sequenz eines Lebewesens das Geheimnis des Lebens im Allgemeinen und im Besonderen in keiner Weise gelüftet ist. Vielleicht ist die Vorbildtheorie und die These von der essentiellen Natur der DNA auch deshalb so gerne akzeptiert worden, weil sie den Errungenschaften der Molekularbiologie zu viel Ehre zuteil werden lässt. Der nüchterne Blick zeigt, dass es mehr Ehre ist, als ihr rechtmäßig zukommt. Jedenfalls hat die Biologie mit der DNA nicht das in den Händen, was das Leben der Lebewesen auszeichnet, sondern lediglich einen funktionalen Bestandteil von Organismen. [...] Zum Zweiten ist es offensichtlich zwecklos geworden, ein Programm der Entwicklung des Lebendigen hinter der Entwicklung selbst zu suchen. Alle Regelmäßigkeiten des lebendigen Prozesses zeigen sich im wirklichen Prozess. Es gibt keine Ebene dahinter« (Hervorhebung i. Orig.). 275 Rehmann-Sutter, Weltbild, 56. 276 »(i) Die Würde und das Wesen eines Lebewesens ist stets auf der Ebene der Ganzheit seiner Teile, Zustände und Vorgänge« (Rehmann-Sutter, Weltbild, 56). 277 »(ii) Das Wesen des Lebendigen, genommen als die dem Lebendigen eigene Weise des Seins, ist Dasein-im-Prozess« (Rehmann-Sutter, Weltbild, 57 [Hervorhebung i. Orig.]). 278 »(iii) Die naturwissenschaftliche Biologie beschreibt Lebewesen in der Sprache der Objektivität. Subjektives kann nur genannt, nicht aber beschrieben werden. [...] Perspektive des Selbstseins« (Rehmann-Sutter, Weltbild, 57). 279 »(iv) Die Identität eines Lebewesens ist nicht nur aus sich selbst heraus konstruiert, im Extrem etwa als Realisation eines im Inneren mitgeführten Programms, sondern formt und bildet sich in
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Der Molekularbiologische Lebensbegriff
bewesen wie ein Gemälde vor, dessen vier Seiten je ins Unendliche führen. Die vier Unendlichkeiten repräsentieren die vier angedeuteten ›Offenheiten‹. Alle vier Dimensionen spannen sich aber an ihrer Kreuzung, also am Ort der Leinwand, ein verdichtetes Feld auf. Dort erscheint alles, was sich beschreibend vom Lebewesen sagen lässt, mithin aller positiver Inhalt der Biowissenschaften, als die Striche und Farbflecke des Gemäldes. Die Philosophie hat zur Aufgabe, diese Pinselstriche zu interpretieren: Sie sieht Unendlichkeiten, welche das Feld der positiven Aussagen eröffnen. Das Wesen des Lebens, so darf ich in der Summe sagen, liegt weit weniger innerhalb dieses bestimmten Feldes als vielmehr in seiner Offenheit«280. Rehmann-Sutters dezidiert philosophischer Versuch einer weiterdenkenden Anknüpfung an molekularbiologischen Konzeptionen liest sich auch als Entschränkung der am molekularbiologischen Lebensbegriff angetroffenen Grenzen. Das kann und soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Da vorliegende Untersuchung auf einen Beitrag an der Arbeit am theologischen Verständnis des Lebens abzielt, ist vielmehr im folgenden Kapitel auf diesbezügliche Anläufe zu sehen, um abschließend unter Rückgriff auf die bisher erarbeiteten Konstruktionen Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffes zu entwickeln.
den Beziehungen, die sich sowohl in seinem Inneren ergeben als auch mit äußeren Dingen und anderen Lebewesen entwickeln« (Rehmann-Sutter, Weltbild, 58). 280 Rehmann-Sutter, Weltbild, 59.
D. Der Theologische Lebensbegriff I.
Einführung
Der zurückgelegte Weg hat bislang faszinierende wie schwierige Einblicke in die Konzeptualisierungsanstrengungen um das Leben geliefert. Weitreichende Erklärungsversuche und Großtheorien haben sich dabei mit gewichtigen Einreden und Verdachtsmomenten von Reduktionismus und Einseitigkeit durchmischt. Und wenn eines dabei immer wieder aufgeleuchtet ist, dann der Befund, dass klare und eindeutige Trennschärfen am Orte des Lebensbegriffes nur äußerst schwer herstellbar sind und mit dem einen aufschließenden Lebensbegriff nicht zu rechnen ist. Vielmehr kann festgehalten werden: Das Leben ist unendlich in seiner Endlichkeit und endlich in seiner Unendlichkeit. Und die aufgearbeiteten Theorieanläufe lassen sich lesen als Versuche der Durchdringung dieser Relationalität, die beide Relate mit jeweils unterschiedlichen Gewichtungen und Akzentsetzungen vermitteln wollen. In ethischer Perspektive multipliziert sich dieses Problem. Die Schwierigkeit einer trennscharfen theoretischen Fixierung des Lebensbegriffs wird potenziert durch eine in der Natur der Sache liegende Unschärfe ethischer Theoriebildung wie sie bereits von Aristoteles zu Beginn seiner ›Nikomachischen Ethik‹ klar ausgesprochen und benannt wurde.1 Denn – so Aristoteles – der Exaktsheitsgrad einer ethischen Theorie ist klar unterschieden und abzugrenzen von dem z.B. der Mathematik. Dies liegt daran, dass eine Wissenschaft nur so exakt sein kann, wie es ihr Gegenstand zulässt. Und der Gegenstand oder die Gegenstände der Ethik – nach Aristoteles z.B. das Gute, Edle und Gerechte – sind uneindeutig und (heutzu2 tage würde man von der Relativität ethischer Einsichten sprechen ), so dass eine mathematische Exaktheit dort nicht möglich ist. Nämliches einzufordern hieße, von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsbeweise oder von einem politischen 3 Redner objektiv übertragbare Beispiele zu verlangen.
1 2
3
Zum folgenden vgl. Aristoteles, EN, 1094a11ff. Die Grundeinsicht des so genannten ethischen Relativismus lautet: Universell gültige moralische Urteile gibt es nicht – die Wahrheitsfähigkeit oder Objektivität moralischer Aussagen ist nicht erweisbar. Vgl. Rippe, Relativismus, 481ff. sowie Rippe, Ethischer Relativismus,11ff. Vgl. auch Salehi, Ethischer Relativismus, 33: »Die Kernthese des ethischen Relativismus besteht in der Ansicht, dass Moralen nur relative Gültigkeit besitzen«. Vgl. endlich dazu auch Kunz, R./Neugebauer, M., Ethische Seelsorge und Orientierungsvielfalt, 244ff. Zum moralischen Realismus vgl. Kutschera, Moralischer Realismus, 241ff. Vgl. dazu auch die Untersuchung von Peter Schaber: Moralischer Realismus (1997). Aristoteles, EN, 1094b23–28. Was Aristoteles nicht wissen konnte, ist, dass – wie gesehen – die Quantentheorie dann in der Tat nicht mehr mit klassischen exakten und eindeutigen, sondern mit Wahrscheinlichkeitsgleichungen operiert. Vgl. dazu unter C.II.1. Zum Verhältnis Aristoteles und Luther vgl. Dieter, Luther und Aristoteles, bes. 49ff.
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Der Theologische Lebensbegriff
Vor den angezeigten Schwierigkeiten steht freilich auch ein theologischer Lebensbegriff, der im letzten Kapitel dieser Untersuchung Gegenstand der hier vorgenommenen Aufarbeitung des Lebens- oder Lebendigkeitsparadigmas sein soll. Und um es grad noch einmal vorweg zu schicken: Natürlich steht ein theologischer Lebensbegriff keinesfalls für eine Lösung der im Zuge von Analyse und Diskussion angetroffenen Problemhorizonte. Wenn der theologische Lebensbegriff als letzte Konzeptualisierungsgestalt in der hier vorstelligen Kompilation erscheint, dann nicht deshalb, weil er das letzte Wort in dieser Sache sprechen würde. Ein letztes Wort im gedanklichen Ringen mit und um das Leben gibt es nicht. Eine Folgerung ist an dieser Stelle, dass Lebenswissenschaft immer nur eine Balanceswissenschaft sein kann und die analogen Lebensbegriffe Balancebegriffe repräsentieren. Kants Überschwenglichkeit des Lebens,4 Hegels negatives wie trei5 6 bendes Ergebnis, Lotzes offenes System, Nietzsches dionysisch-treibender Ur7 8 9 grund, Schrödingers qua via summa patet, Monods Zufall und Offenbarung und 10 Eigens Vision der Vollendung haben dies gezeigt. Dass der theologische Lebensbegriff als letzte theoretische Formatierung des Lebendigen hier thematisch wird, steht allein für die primäre Perspektive des Theologen und der im Hintergrund stehenden Theologie aus der die Studie entworfen ist und nicht für allfällige und auch von an11 derwärts her bekannte Abschließbarkeits- und Überwissenschaftsphantasien. Auf die spezifischen Motivationen und auch Schwierigkeiten, die das Konzept eines theologischen Lebensbegriffes herausfordern, wird weiter unten noch aus12 führlicher eingegangen werden. Vier Dinge seien jedoch schon an dieser Stelle vorausgeschickt. Erstens ist es – wie angedeutet – nicht so, dass der theologische Lebensbegriff in strenger Konkurrenz und als problementzerrende Überbietung zu den aufgearbeiteten Vorstellungskreisen des organismischen, metaphysischen und molekularbiologischen Lebensbegriffs etabliert werden kann und soll. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass es einerseits auch den einen theologischen Lebensbegriff nicht gibt, und dass dies andererseits jedoch nicht bedeutet, theologische Fokussierungen des Lebendigen würden keine alternierenden Akzente setzen. Vielmehr steht der am Ende dieses Kapitels vorgeschlagene Versuch der Entwicklung von Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffes für die Einsicht, dass eine theologische Perspektive auf das Leben einen eigenen Zugang darstellt, 4 5 6 7 8 9 10 11
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Vgl. unter A.II.3. Vgl. unter A.III.5. Vgl. unter A.IV.2.3. Vgl. v.a. unter B IV.1.1. Vgl. unter C.II.2. Vgl. unter C.III.1. Vgl. unter C.IV.2. Vgl. dazu Markschies, Ist Theologie eine Lebenswissenschaft?, 34. Demnach ist es bislang »weder der Theologie noch der Medizin oder einer anderen Naturwissenschaft gelungen [...], diese Zugänge als eine Art ›Überwissenschaft‹ wirklich zu synthetisieren; die Synthese blieb These«. Vgl. dazu unter D.V.2.
Einführung
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der aber nicht über oder anstatt, sondern neben den in den Kapiteln A-C diskutierten Modellen zu Stehen kommt. Damit stellt sich zweitens die Frage nach dem Verhältnis des theologischen Lebensbegriffs zu den erarbeiteten Ansätzen. Dabei scheint sich im theologischen Zugehen auf das Leben zunächst eine natürliche Verwandtschaft zum metaphysischen Lebensbegriff nahe zu legen. Und in der Tat nimmt ein theologischer Zugriff seinen Ausgangspunkt nicht primär im Versuch, die Struktur des Organismus zu begreifen oder mikroskopische Prozesse molekularer Interaktion aufzuschließen. Und die metaphysische Position eines unendlichen, dynamischen und sich steigernden Lebenswillens steht prima facie der transzendenten Position eines Θεός nahe, mit dem auch die Theologie rechnet. Indes wird in Rechnung gestellt, dass auch die organismischen und molekularbiologischen Zugänge sich keineswegs einlinear positivistisch geben, sondern mit Kategorien wie dem Zweck, der Teleologie oder Theonomie operieren, die auch im exakt gemeinten Sinne wenigstes Modellcharakter besitzen, zeigt sich die angesprochene Verwandtschaft als weniger familiär. Dies präzisiert das oben erwähnte neben insofern, als dass es nicht nur im Hinblick auf das metaphysische Konzept des Lebens, sondern auch im Hinblick auf die beiden anderen bearbeiteten Herangehensweisen Anschlussfähigkeiten gibt. Und dies meint schließlich auch, dass die diskutierten Theorien eine Steigerung von Komplexität und Einsicht bedeuten, und dass an dieser gesteigerten Differenziertheit und Erschlossenheit auch die Theologie nicht sang- und klanglos vorüber gehen kann. Nachdem nun methodisch und formal Differenz und Einheit des theologischen Lebensbegriffes mit den zuvor analysierten Lebensverständnissen wenigstens andeutungsweise bezeichnet wurde, kann nun der dritte angedeutete Punkt angesprochen werden und dieser hat das inhaltliche Moment zum Zentrum. Dieser betrifft das spezifische Design eines theologischen Lebensbegriffes, wie er im Folgenden im Durchgehen prominenter Formatierungen entsprechender Ansätze vorgestellt wird. Entscheidend ist dabei, dass die theologischen Perspektiven auf das Leben jeweils übergeordnete Sinn- und Verstehensperspektiven repräsentieren. In dieser Beziehung kann an eine von Albrecht Ritschl wesentlich mitgeprägte Tradition angeknüpft werden. Ritschl hatte es als ein wesentliches Spezifikum der religiösen Eingestelltheit herausgearbeitet, dass sie in eminenter Weise eine übergeordnete Verstehens und Sinnperspektive darstellt.13 Darüber hinaus hat Ritschl
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Für Ritschl läuft die Erzeugung von Verstehens- und Sinnperspektiven primär über die Erzeugung von Einheit. Bereits in der ersten Auflage seines systematischen Hauptwerkes ›Rechtfertigung und Versöhnung‹ hält er fest: »An der religiösen Weltanschauung ist das Eigenthümliche, daß sie auf die Vorstellung von einem Ganzen angelegt ist« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III1, 171 [Hervorhebung v. Vf.]). Auch in der dritten Auflage findet sich eine nämliche Formulierung: »Die Behauptung, daß die religiöse Weltanschauung auf die Vorstellung von einem Ganzen angelegt ist, bewährt sich allerdings am Christenthum« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung III3, 190 [Hervorhebung v. Vf.]).
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Der Theologische Lebensbegriff 14
die Eigenart des von ihm so bezeichneten »religiöse[n] Erkennen[s]« als Perfor15 mation von Werturteilen bestimmt, die sich des Näheren auf die »Stellung des Menschen zur Welt beziehen, und Gefühle von Lust und Unlust hervorrufen, in denen der Mensch entweder seine durch Gottes Hilfe bewirkte Herrschaft über die 16 Welt genießt, oder die Hilfe Gottes zu jenem Zweck schmerzlich entbehrt« . Vor dem Hintergrund der philosophischen und theologischen Kritik der Wertphilosophie und des Wertparadigmas (von theologischer Seite u.a. prominent 17 durch Paul Tillich, Karl Barth und Eberhard Jüngel ) sei hier dahin gestellt, ob die von Ritschl durchgeführte – wertvolle wie wertbewusste – Interpretation einer religiösen Optik Evidenz für sich verbuchen darf. Festgehalten werden soll und muss jedoch, dass damit einerseits (und eben auch schon im Sinne Ritschls) in Konfron18 tation mit einem »säkularistisch beschränkten Bewusstsein« abgehoben ist auf den symbolischen Wert religiöser Selbst- und Weltwahrnehmung wie sie im Gefolge des so genannten lingualistic turn und der hermeneutischen Wende in der The19 ologie gern als Spezifikum unterstrichen wird. Nicht nur, dass sich Ritschl im Zusammenhang wertphilosophischer Axiome durchaus darüber im Klaren war, dass es sich dabei im strengen Sinne des Wortes um Interpretation (dies begegnete un-
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In Bezug auf diese These beruft sich Ritschl dezidiert auf seinen philosophischen Freund und Kollegen Rudolf Hermann Lotze; vgl. dazu Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, 90f. Dass Einheit und Ganzheit hier für Ritschl im Grunde Wechselbegriffe darstellen, erhellt nicht nur aus der Tatsache, dass er sich auf die Religionstheorie von Lotze beruft, der mit Blick auf die Eigenheit religiöser Vorstellungsgehalte sowohl von »Einheit« als auch von »einem Ganzen« [Lotze, Mikrokosmos, III3, 330]) spricht, sondern auch daraus, dass Ritschl selber die »Vorstellung von der Welt als der Einheit und dem Ganzen« als »einen Erwerb des religiösen Erkennens« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III1, 172 [Hervorhebung v. Vf.]) ausweist. Provoziert wird die religiöse Perspektive bei Ritschl durch die spannungsvolle Dichotomie von Natur und Geist oder wie er auch sagen kann, von Abhängigkeit und Freiheit oder Unselbständigkeit und Selbständigkeit, die durch »Gemeinschaft mit Gott« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III1, 578 [i. Orig. z.T. gesperrt]) entschärft wird, der als der »Einzige Gott« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III1, 171) die Einheits- und Ganzheitsvorstellung bewährt. Freilich sieht Ritschl genau, dass auch naturwissenschaftliche Ansätze Einheitsgebilde verkörpern. Im Unterschied zu naturwissenschaftlich ambitionierten und philosophischen orientierten Einheitsleistungen verläuft für Ritschl das religiöse Erkennen jedoch zusätzlich in Werturteilen. Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III3, 177. »Alle Erkenntnisse religiöser Art sind direkte Werturteile« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III3, 376). Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III1, 195. Vgl. dazu unter D IV.4. Vgl. dazu die prominenten Auslassungen von Karl Barth und Eberhard Jüngel; hier Jüngel, Wertlose Wahrheit, 105: »Nicht Werte leiten das Handeln des Christen, sondern allein die aus der Wahrheit kommende Liebe, die ebenso wenig wie Wahrheit einen Wert hat oder darstellt. Augustin hat dies meisterlich zum Ausdruck gebracht, als er breve preceptum für das menschliche Handeln den Imperativ formulierte: ›Dilige et quod vis fac‹«. Habermas, Religion in der Öffentlichkeit, 146. »Theologen haben keine Kompetenz, die an die Stelle naturwissenschaftlichen Urteilsvermögens treten könnte. Weitgehend akzeptiert ist, dass die religiöse Sprache entscheidend durch Metaphern und symbolische Ausdrucksweisen geprägt ist« (Tanner K., Mysterium des Menschen, 149).
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ter anderen Vorzeichen bereits pointiert bei Nietzsche ) handelt, dass es also da21 bei um die epistemische Eingestelltheit des Deutens zu tun ist, sondern auch die Tatsache, dass dies in Gestalt der postmodernen Einfordernisse nach Sinn-, Symbol- und Interpretationshorizonten diskutiert wird, schafft dem in Frage stehenden Instinkt einer religiösen Interpretation und Perspektive von und auf Wirklichkeit 22 Einsichtigkeit. Die Emphase einer spezifischen Perspektivität soll endlich und viertens nicht darüber hinweg täuschen, dass diese in ethischer Hinsicht keineswegs und ohne Umwege auf klare ethische Imperative und Theorien führt. Vielmehr ist die oben genannte Kautele über die Maßen ernst zu nehmen, dass sich in der genannten Interferenz der begrifflichen Unschärfen von Lebenskonzeptualisierungen Orientierungprobleme nachgerade multiplizieren. Geradezu unwahrscheinlich nähme es sich dabei aus, wenn von theologischen Aussagen über das Leben direkt auf normative ethische Folgerungen resp. Forderungen geschlossen werden würde. Hier erscheinen vor dem Hintergrund der angezeigten Kalamität intellektuelle Transfers notorisch als hochproblematisch. Insofern werden im folgenden Auf- und Durcharbeiten des theologischen Lebensbegriffes ethische Konsequenzen ganz behutsam an den Schluss gestellt. Denn die oft und gern aufgerufenen Vokabeln von der Heiligkeit des Lebens sind – wie sich zeigen wird – eben kein leicht einzunehmender Sitz- und Bequemplatz.23 Bevor sie in Augenschein genommen werden können, ist ein Blick auf die großen, wirkmächtigen und debattenorientierten und -orientierenden Entwürfe zu sehen. Auch hier ist Vollständigkeit ein frommer Wunsch. Es kann auch hier nur um Paradigmatizität, Wirkmächtigkeit und Systematizität gehen. Wie gesagt gibt es den einen theologischen Lebensbegriff nicht. In Orientierung an den genanten Kriterien werden im Folgenden die theologischen Entwürfe Albert Schweitzers, Dietrich Bonhoeffer und Pauls Tillich aufarbeitet und diskutiert. Am Ende der Aufarbeitung und Diskussion der benannten theologischen Lebenstheorien sollen in der induktiven Zusammenschau insgesamt dann Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs entworfen werden, der sich – wie in der Behandlung der anderer Formatierungen des Lebensbegriffs geschehen – zum Schluss auf dessen ethische Valenz – eben die Heiligkeit des Lebens – kapriziert. Im unmittelbaren Vorfeld werden dabei auch neuere Ansätze in Bezug auf einen theologischen Lebensbegriff wahrgenommen, um im Anschluss daran die hier begonnene Debatte zu vertiefen.
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Vgl. dazu unter B IV.2.1. »Alle Religion ist Deutung des in welchem Umfang auch immer erkannten Weltlaufes« (Ritschl, TuM1, 7 [Hervorhebung v. Vf.]). Vgl. dazu auch Hans Blumenbergs Plädoyer für eine von ihm sogenannte »Horizontanschreitung« (Blumenberg, Matthäuspassion, 9). Vgl. dazu unter D V.3.5.
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II. II.1
Der Theologische Lebensbegriff
Leben und Ehrfurcht: Albert Schweitzer Albert Schweitzer – Exponent eines theologischen Lebensbegriffs?
Albert Schweitzer wurde am 14. Januar 1875 in Kaysersberg (Elsass) geboren und verstarb am 4. September 1965 in Lambaréné (Rep. Gabun). Er wirkte v.a. als 24 Theologe, Philosoph, Musikforscher, Arzt und Organist. 1952 erhielt er als höchs25 te Auszeichnung den Friedensnobelpreis. Dass Albert Schweitzer als Vertreter eines theologischen Lebensbegriffes verhandelt wird, wirkt vor dem Hintergrund seines breiten Betätigungsfeldes alles andere als unstrittig. Insofern ist zunächst die Frage zu erörtern, inwieweit Schweitzers Lebensbegriff überhaupt im strengen Sinne als theologischer ansprechbar ist. Denn schon auf den ersten Blick geriert sich Schweizer in diesen Zusammenhängen nicht als Theologe. In fast allen Texten, die der gedanklichen Einkreisung des Lebens gewidmet sind, tritt Schweitzer erklärt mit dem gestus des Kulturphilosophen auf. Im Abriss der Kritik der bisherigen Sittenlehre von ›Kultur und Ethik‹ ist die theologische Ethik im Grunde vollständig ausgeblendet.26 Fast ausschließlich 24 25
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Zur Biographie von Albert Schweitzer vgl. jetzt auch Nils Ole Oermanns Biographie ›Albert Schweitzer‹ (München 2009). Der Friedensnobelpreis wurde Schweitzer 1953 rückwirkend für das Jahr 1952 zugesprochen. Am 4. November 1954 nahm Albert Schweitzer den Preis in Oslo entgegen. Seine Rede – die er auf Französisch hielt – trug das Thema ›Le Problème de la Paix‹. Schweitzer setzt sich hier kritisch mit der Nachkriegsordnung auseinander und kommt zu dem Resultat, dass diese bereits die Keime neuer kriegerischer Auseinandersetzungen in sich trägt: »La nouvelle organisation, crée après les deux guerres, contient à son tour des germes d’une guerre future«. Darin erkennt er ein Versagen der Politik (»ce fait nous permet de mesurer combien peu elles [sc. les puissances victorieuses de la deuxième guerre mondiale] avaient pris conscience de leur tâche de procéder à une réorganisation qui fût à peu près équitable et qui garantît un devenir prospère«). Im Zuge seiner Ausführungen rekurriert Schweitzer auch auf seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben (»l'éthique du respect de la vie«) und seine Rede mündet im Appell an die Mächtigen, sich im Bewusstsein ihrer Verantwortung angesichts des fragilen Friedens Röm 12,18 (»Ist es möglich, soviel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden«) zu Herzen zu nehmen, was nach Schweitzer eben nicht nur für Individuen, sondern auch für Völker gilt. »Puissent les hommes qui tiennent entre leurs mains le sort des peuples, éviter avec un soin anxieux tout ce qui pourrait empirer la situation dans laquelle nous nous trouvons et la rendre encore plus dangereuse. Et puissent-ils prendre à coeur la parole de l'apôtre Paul: ›S'il est possible, autant qu'il dépend de vous, soyez en paix avec tous les hommes‹. Cette parole ne vaut pas seulement pour les individus, mais aussi pour les peuples. Puissent-ils, dans leurs efforts pour le- maintien de la paix, aller jusqu'à l'extrême limite du possible, pour donner à l'esprit le temps de croître et d'agir« (Schweitzer, ›Le Problème de la Paix‹, 121, 125 u.130). Als einziger prominenter Theologe taucht Schleiermacher auf, allerdings ist für Schweitzer hier nur die philosophische Ethik von Interesse. Neben dem Fehlen einschlägiger theologischer Autoren wie Luther, Holl etc. fällt auf, dass Wert-Philosophen wie Lotze und Scheler interessanterweise keine Berücksichtigung finden. Insbesondere Schelers Philosophem des »kosmovitalen Einfühlens« (Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, 113) hätte für Schweitzer von Interesse sein können. Motivisch lassen sich indes durchaus Nähen zur ethischen Tradition der theologischen Gedankenbildung ausmachen. So tauchen Argumentationsmuster auf, die zumindest strukturell an Wilhelm
Leben und Ehrfurcht: Albert Schweitzer
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philosophische Autoren werden behandelt, wobei sowohl Darstellung als auch Kritik der jeweiligen Positionen unverkennbar durch Schweitzers eigene Vision der 27 28 Ethik gesteuert sind. Nach dieser Sicht gilt Schweitzer als »Lebensphilosoph« . Auf der anderen Seite ist es so, dass Albert Schweitzers Denk- und Arbeitsstil über Weiten auch für philosophische Maßstäbe nachgerade irritierend ist: »Es handelt sich [...] darum, daß das Denken seines scharfen Verstandes stellenweise abgelenkt wird durch einen starken emotionalen Antrieb, der dann von seinem Willen unkritisch aufgenommen und in einer gewissen Euphorie des Gedankengangs ausgebaut wird ohne Rücksicht auf Erfahrung und Vernunft: für einen Philosophen 29 ganz atypisch« . Hier ist es v.a. das starke Interesse an der Mystik, die seinem Den-
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Herrmann erinnern. Analog zur Krise des Sittlichen, wie sie in der Ethik Wilhelm Herrmanns begegnet, und die im Erlebnis der Begegnung mit dem lebendigen Christus ihre religiöse Auflösung erfährt, gibt es für Schweitzer in Bezug auf die theoretische Ausführung einer erkenntnisgeleiteten Ethik eine Krise des Erkennens, die kurz gesagt darin besteht, dass sich ein Vernunftdenken, das den Sinn der Welt zu ergründen sich anschickt, notorisch in Irrationalitäten verstrickt: »Denkt das rationale Denken sich zu Ende, so gelangt es zu einem denknotwendigen Irrationalen« (Schweitzer, Kulturphilosophie II, 91. Vgl. auch a.a.O., 94.). Schweitzer erkennt entsprechend eine Lösung in einer sich dem Irrationalen aussetzenden Mystik, die wie bei Herrmann erklärtermaßen Erlebnischarakter hat und die Schweitzer dann auch überraschend als neues Vernunftdenken apostrophieren kann. Auch ein motivischer Anschluss an Ritschl ist erkennbar. In z.T. wortwörtlichem Anschluss an Ritschl etabliert Schweitzer seine ethische Grundposition – besser deren ideellen Gehalt – als elliptische Figur, nur dass die von ihm hervorgehobenen Brennpunkte eben nicht in der Zusammenschmelzung von Ethik und Dogmatik namhaft gemacht werden. Sondern er modifiziert die Ellipse dergestalt, dass sie – wie bei Ritschl – zwar ein Integral darstellt, das aber im Anspruch höherer Aufhebung ein dezidiert ethisches Amalgan repräsentiert: »Die Ethik ist also Ellipse, die die Idee der Hingebung und die der innerlichen Vervollkommnung zu Brennpunkten hat« (Schweitzer, Kulturphilosophie III/1, 35 [Hervorhebung v. Vf.]). Vgl. auch a.a.O., 200: »Die Lebensanschauung hat also zwei Brennpunkte: den Gedanken des Wirkens und den des Vollkommenwerdens. Je stärker jeder ausgebildet und je enger sie miteinander verbunden sind, desto höher steht die Lebensanschauung. Ihre ideale Formel lautet: vollendetes Wirken aus vollendeter Gesinnung«. Auf die damit berührte Verschränkung von Natur und Geist, wie sie v.a. für Ritschl zentral ist, kann nicht ausführlicher eingegangen werden. Nur soviel: Der Wille zum Leben, wie Schweitzer ihn denkt, steht in seiner denkerischen Repräsentierung für eine ingeniale Vision des Zusammenschauens von naturhaften und geistigen Momenten des Lebens, die darauf aus ist, Denknotwendigkeiten im Sinne wissenschaftlicher Behauptungen (hierhin gehört der Schweitzersche Terminus der Tatsache – Tatsachen sind für ihn auch immer »wissenschaftlich festgestellte Tatsachen« [Schweitzer, Kulturphilosophie II, 95] und stehen für eine entdenkbare ideelle Realität) in der auf ethische Konzeptualisierung bedachten Denkbewegung auf das Leben zu Tage treten zu lassen. Schweizer erweist sich hierbei als Rationalist des Irrationalen; seine ratio stellt sich als äußerst agil gegenüber der erkannten Rationalitätshartnäckigkeit des Lebens heraus. Und das sei hier gleich vorweggenommen: Albert Schweitzer ist einer der Wenigen, die sich dem Leben in seiner theoretischen Undurchsichtigkeit vergleichsweise angstfrei stellen. Schweitzer hat keine Angst vor der Quadratur des Kreises. Er sucht sie. Und sie ist ihm Inbegriff der stets betonten Irrationalität des Lebens selbst. Vgl. dazu unter D.II.2. Groos, Schweitzer, 530. Groos, Schweitzer, 603. Groos macht schließlich auf vier Charakteristika des Schweitzerschen Philosophierens aufmerksam: permanente Zweckorientiertheit, fehlende analytische Selbstkon-
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ken aufs Ganze gesehen so etwas wie einen religiösen Anstrich verleiht. Hinzu kommt, dass seine Gedankenentwicklungen durch eine reiche religiöse Semantik bestimmt sind. So steht das Motiv der Ehrfurcht dem der Gottesfurcht nahe, das Leben wird als heilig tituliert, die ethische Grundhaltung ist in Nähe zum Nächstenliebegedanken die von Hingabe und Vervollkommnung, die Entzweiung im Leben erinnert an den Sündenbegriff, Vergehen am Leben bedürfen der Rechtfertigung und die ethische Forderung nach grenzenlosem Verzeihen steht in einer 31 Fluchtlinie mit dem Vergebungsgedanken. Weiter ist daran zu erinnern, dass Schweitzer seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erstmals auf der Kanzel und 32 nicht auf dem Katheder öffentlich entfaltet hat. Und schließlich ist es so – und das ist eine der hier in Anklang gebrachten Interpretationsperspektiven –, dass allererst in den explizit theologischen Texten Schweitzers der Lebensbegriff und die an ihm orientierte Ethik ihre letzte Vertiefung erfahren. Es sprechen zum Schluss eine ganze Reihe von Gründen dafür, in Schweitzers Lebensbegriff und seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben v.a. auch einen Theo-
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trolle, terminologisch unscharfe Konstruktivität und einen Zug zur Elementarisierung (vgl. Groos, Schweitzer, 604). Auch Picht macht diesbezüglich auf nicht unerhebliche »terminologische[] Schwankungen« (Picht, Schweitzer, 102) aufmerksam. V.a. Kraus hat die These vertreten, dass Schweitzers Lebens- und Weltanschauung ein Resultat von Schweitzers persönlicher seelischer Bedrängnis gewesen ist und deshalb keinen wissenschaftlichphilosophischen, sondern primär »religiösen Charakter« (Kraus, Schweitzer, 40) hat. In diesem Sinne ist das Denken Schweitzers auch als »Lebensreligion« (Groos, Schweizer, 666) angesprochen worden. Groos ist sich dabei der inneren Problematizität dieser Titulierung bewusst. Zur Ehrfurcht vgl. Kulturphilosophie II, 339; zur Heiligkeit a.a.O., 331, zur Hingabe a.a.O., 338; zur Entzweiung a.a.O., 334 und zum Verzeihen a.a.O., 336. Am 23. Februar 1919 hielt Schweitzer in St. Nicolai in Straßburg ein Predigt zum Thema ›Ehrfurcht vor dem Leben‹. In der Textkompilation ›Grundtexte aus fünf Jahrzehnten‹ trägt die Predigt den Untertitel ›Erste öffentliche Darlegung‹. Das ist insofern korrekt, als Schweitzer hier die Stichworte Ehrfurcht vor dem Leben erstmals öffentlich breiter ausführt und darlegt. Die Phrase Ehrfurcht vor dem Leben begegnet jedoch schon früher. In einem Kolleg im WS 1911/12 an der Universität Straßburg äußert sich Schweitzer wie folgt: »Was Leben ist, ist uns nicht nur ein Rätsel, sondern ein Geheimnis – wir kennen es alle nur durch Intuition und sind unendlich weit davon entfernt, es etwas mit den von uns beherrschten Naturkräften herstellen zu können. Daher ist die Ehrfurcht vor dem Leben, von der auch der überzeugteste Materialist beseelt ist, wenn er es vermeidet, den Wurm auf der Straße zu zertreten oder Blumen zwecklos abzupflücken. und diese Ehrfurcht ist der Grundton aller Kultur – in ihr liegt die Größe der indischen Kultur« (Schweitzer, Straßburger Vorlesungen, 963 [Hervorhebung i. Orig.]). Nach eigenem Zeugnis ist Schweitzer bei einer Flussfahrt auf dem Ogowe-Fluss (Ogooué) im damaligen Französisch-Aquatorialafrika Herbst 1915 auf diesen Begriff gestoßen und zwar wie Schweitzer rückblickend festhält »nicht geahnt und nicht gesucht« (Schweitzer, Entstehung der Lehre, 20). Aufklären lässt sich dies folgendermaßen: Schweitzer trug diese Phrase in sich, aber sie hatte keinen zentralen, sondern nur einen äußerst marginalen Platz in seinem Denken. Auf der besagten Flussfahrt hat sich im Zuge eines tiefen intellektuell-mystischen Erlebnisses diese Phrase angeboten, sie tauchte gleichsam aus seinem Unterbewusstsein auf und erhielt aber erst durch die Verbindung mit der intellektuellen Mystik ihre Tiefe und ihren Wert im Aufbau des ethischen Denkens. Die Phrase Ehrfurcht vor dem Leben wurde hier von einem Abstraktions- zu einem Erlebnisgehalt.
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logen am Werke zu sehen, der sich kulturphilosophisch geriert, um seinen Einsich33 ten größtmögliche Weite und Wirksamkeit zu verschaffen. Wird nach dem spezifisch lebenspraktischen Profil dieses Werkes gefragt, so kann durchaus auch im Anschluss an Nietzsche gesagt werden, er sei Arzt der Kultur; mit dem Unterschied, dass Schweitzer als Arzt der Kultur im Geiste Jesu wirkt (vgl. Lk 531) und er in eindrücklicher Weise das Amt des Arztes auch noch praktisch ernst genommen hat. II.2
Kulturktitik, Weltanschauung und Mystik
Schweitzers kulturphilosophisches Denken geht von einer großangelegten Kultur34 kritik aus. Sie wiederum gründet in der Diagnostizierung »des Niedergangs der 35 Kultur« resp. der Beobachtung, dass »die Selbstvernichtung der Kultur im vollen 36 Gange ist« . Den Grund für diesen Kulturverfall erkennt Schweizer nicht etwa im Krieg oder im Nationalismus (dies sind für ihn mehr Erscheinungen als Ursachen), 37 sondern im »Versagen der Philosophie« , das nach Schweitzer im 18. Jahrhundert anhob und im späten 19. Jahrhundert einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. In diesem Prozess vollzog sich der depravierende Übergang von einer »wirkenden 38 Philosophie« , die dadurch ausgezeichnet ist, dass sie nicht nur eine philosophische Besinnung auf die Kulturwerte praktiziert, sondern eben diese auch »als wir39 kende Ideen in die öffentliche Meinung ausgehen ließ« , hin zu einer 40 »Epigonenphilosophie« , die ihren praktischen Einfluss auf das wirkliche Leben 41 weitgehend eingebüßt hat. Was zurückblieb ist nach Schweitzer eine »Leere« der 33
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Auch Tom Kleffmann rezipiert Schweitzer primär als Theologen (vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 355f. u. 369). Vgl. auch Vgl. Oermann, Schweitzer, 11: »Die Theologie Schweitzers bestimmt seine Ethik«. Vgl. dazu Brück, Ethische Mystik, 199. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 15. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 16. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 17. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 20. Bekanntlich wollte Schweitzer seine Kulturphilosophie zunächst unter dem Titel ›Wir Epigonen‹ erscheinen lassen (das diagnostische Motiv des Epigonenhaften findet sich auch bereits bei Nietzsche [vgl. UB II, 8, 1, 305]). Ein von Schweitzer in dieser Sache verfasstes Manuskript ist seit 2005 als eigener Band der Nachlassedition zugänglich. In den groben Zügen stimmt die Kulturkritik mit der aus ›Kultur und Ethik‹ überein. Zentral ist das Motiv des Kraftloswerdens von kulturgenerierenden Idealen: »Die Ideale, die die Kultur ausmachen, sind allgemeine, dem Denken entsprungene und in ihm geformte Ideen, die als Normen für die Gestaltung von Wirklichkeit gelten wollen. Damit ist gegeben, daß die, einmal geschaffen, nicht einfach auf die folgenden Generationen vererbt werden können. Um sie festzuhalten, muß jede [Generation] sie im Denken neu erwerben, mit neuen Energien ausstatten und in lebendige Beziehung zu der derzeitigen Wirklichkeit bringen. Ohne die stetige Erneuerung der Vernunft und der fortgesetzten Auseinandersetzung mit den Tatsachen werden sie immer kraftloser, bis sie zuletzt als tote Worte mitgeführt werden, wie es in unserer Zeit der Fall ist« (Schweitzer, Wir Epigonen, 28). Schweitzer, Kulturphilosophie I, 19. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 20. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 21.
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Der Theologische Lebensbegriff
Kultur, die daher rührt, dass die Philosophie durch ein allein intellektuelles SichVerbeißen in Spezialprobleme selbst kulturlos geworden ist und dazu führt, dass beim »modernen Menschen [...] sowohl die Freiheit als auch die Denkfähigkeit 42 herabgesetzt« ist, was überdies durch kulturhemmende Umstände des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens (Differenzierung, Spezialisierung, Überorganisation – Expansion von Macht, Technik und Ökonomie) gleichsam katalytische Verstärkung erfährt. Dies alles kommt in der Einsicht zum Stehen, dass »die Philosophie und das ›Nicht-Denken‹ der modernen Kultur zum Problem des Kul43 turverfalls nicht nur beigetragen haben, sondern das Problem eigentlich sind« . Im Zuge der von ihm anvisierten Problembewältigung spitzt Schweitzer seine Krisendiagnose zunächst kulturtheoretisch zu. Da Schweitzer diese Überlegungen nicht streng systematisch entfaltet hat und sich im Zuge seiner wortgewaltigen bis verliebten Ausdrucksweise mitunter zu sprachlichen Gebilden emporschwingt, die den Gegenstand nur bedingt erhellen und ihn manches Mal beinahe verschleiern, ist hier zunächst einer systematische Rekonstruktion zu unternehmen, die im Versuch der Fixierung des Lebensbegriffes mündet. Zunächst ist der Kulturbegriff zu klären. Schweitzer schreibt: »Kultur ist ihrem Wesen nach [...] zwiefach. Sie verwirklicht sich in der Herrschaft der Vernunft über die Naturkräfte und in der Herrschaft der Vernunft über die menschlichen Gesinnungen«44. Letzteres ist für Schweitzer das Zentrale, weil die Herrschaft über die Natur schnell auch in kulturschädigende Aktivität umschlagen kann, die dann evident wird, wenn diese Herrschaft in den Dienst kultureller Selbstbehauptung unter verschiedenen Kulturströmen gestellt wird. In dem Maße, in dem die Herrschaft über die Gesinnungen durch das »materielle und geistige Wohl des Ganzen 42 43 44
Schweitzer, Kulturphilosophie I, 23. Brück, Ethische Mystik, 197. Die Philosophie hat demnach den Rang »einer Anführerin und Wächterin der allgemeinen Vernunft« (Schweitzer, Kulturphilosophie I, 21) eingebüsst. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 35. Schweitzer steht damit in sachlicher Nähe zu einer berühmten These Schleiermachers, nämlich, dass Ethik es mit der Einwirkung von Vernunft auf Natur zu tun hat und – da Natur für Schleiermacher immer auch Vernunft mit einschließt und Vernunft immer auch Natur – auch auf Vernunft. Das Ziel der Ethik ist es, eine Einheit von Vernunft und Natur auf allen Ebenen herzustellen. Vgl. Schleiermacher, Ethik (1812/23), Einleitung (1823/13), §78: »[D]as Handelm der Vernunft auf die Natur ist ein Handeln der ganzen Vernunft auf die ganze Natur; der ethische Prozeß ist nicht vollendet als indem die ganze Natur vermittels der menschlichen der Vernunft organisch oder symbolisch angeeignet ist, und das Leben der Einzelwesen ist kein Leben für sie selbst, sondern für die Totalität der Vernunft und die Totalität der Natur«. Vgl. auch Schleiermacher, Ethik (1812/23), Einleitung (1816/17), § 75, 208: »Ethik [ist] Ausdruck des Handelns der Vernunft«. Vgl. weiter a.a.O., §80, 209: »Das Handeln der Vernunft, [wenn] ihm ein Leiden entspricht, so ist es ein Handeln der Vernunft auf Natur«. Und vgl. weiter a.a.O., §122 (Anm.1): »Inwiefern die Einheit von Vernunft und Natur ethisch betrachtet ein Handeln der Vernunft auf Natur ist, so ist der Gegenstand der Ethik das Handeln der Vernunft in der menschlichen Natur; die Vernunft ist aber in dieser ethisch betrachtet als Kraft und was diese unter der Form des Gegensatzes verbreitet«. Die Rhetorik der Herrschaft erinnert hingegen an Ritschl und sein Theorem von der »Herrschaft des Geistes über die Welt (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung III1, 539)«. Vgl. dazu Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, 88ff.
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und der Vielen« bestimmt ist, wird der ethische Charakter der Kultur insgesamt erkennbar. Er geht in dem Maße verloren, in dem die ethischen Leitperspektiven sich nicht Vernunftidealen verdanken, die mit Beziehung auf eine ethisch zu gestaltenden Wirklichkeit umfassend generiert werden, sondern umgekehrt die regierenden Ideen der Wirklichkeit selbst entnommen werden. Dann wirkt nämlich laut Schweitzer allein Wirklichkeit auf Wirklichkeit. Zwar ist dieser Prozess noch durch die menschliche Psyche vermittelt, aber der sich dort äußernde Wirklichkeitssinn ist allein durch »Leidenschaften und kurzsichtige Nützlichkeitserwägungen«46 charakterisiert, was nach Schweitzer Plan- und Ziellosigkeit der Kultur nach sich zieht, eine Tendenz, die im Historismus eine gefährliche Verstärkung er47 fährt. Dies manifestiert sich nach Schweitzer im Aufkommen des Nationalismus und Materialismus, die Katastrophen zu provozieren in der Lage sind, in denen sich 48 der »Niedergang unserer Kultur vollendet« . Ihre Signatur ist der Verlust der Ethik, die Schweitzer formal bestimmt als ein sich »durch das materielle und geistige 49 Wohl des Ganzen und der Vielen bestimmt sein lassen« . Eine Überwindung dieser massiven Krise der Kultur kann nach Schweitzer nur durch die Wiedergewinnung von echten ethischen Kulturidealen erfolgen. Das durch den falschen Wirklichkeitssinn (der seine Ideale aus der Wirklichkeit bezieht) nachhaltig gestörte Verhältnis von Mensch und Wirklichkeit ist nur durch einen radikalen Perspektivenwechsel im Wirklichkeitssinn möglich: »Der wahre 45 46 47
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Schweitzer, Kulturphilosophie I, 36. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 40. »Die Blindheit, mit der wir dieses Schicksal erleben, wird noch durch den Glauben an unsern geschichtlichen Sinn verstärkt. Dabei ist dieser nichts anderes als unser Wirklichkeitssinn nach rückwärts verlagert. Wir meinen, das kritische Geschlecht zu sein, das durch seine eindringende Kenntnis der Vergangenheit in Stand gesetzt ist, die Richtung, die solche Ereignisse aus der Gegenwart in die Zukunft nehmen sollen, zu verstehen. Zu den der Wirklichkeit entnommenen Idealen kommen die, die wir der Geschichte entnehmen« (Schweitzer, Kulturphilosophie I, 40f.). Vgl. auch a.a.O., 52: »Die Geschichte unserer Zeit ist von einer nie zuvor erreichten Unsinnigkeit. Zukünftige Historiker werden sie dereinst in ihre Einzelheiten zerlegen und ihre Gelehrsamkeit und Unbefangenheit an ihr versuchen. Erklärbar aber ist sie heute und für alle Zeiten nur dadurch, daß wir mit einer Kultur ohne Ethik auskommen wollen«. Schweitzer, Kulturphilosophie, I, 43. Damit spielt Schweitzer auf den Ersten Weltkrieg an. Anders allerdings als Oermann es wahrscheinlich machen will, hat Schweitzer nicht erst seit dem Ersten Weltkrieg zu einem kulturkritischen Blick gefunden (vgl. Oermann, Schweitzer, 148f.). Auch sein erster Afrikaaufenthalt hat ihm in der Filterung kolonialer Wirklichkeit eine entsprechende Perspektive entwickelt. So schreibt er am 10. Oktober 1913 an Adolf von Harnack: »Von unserer Kultur bekommt man, nach dem was man in Afrika sieht, einen furchtbar niedrigen Begriff. Beamte und Kaufleute haben so wenig Ideale und so wenig Verantwortungsgefühl, in einer Colonie wie in der andern. Und sie sind durch unsere Cultur hindurchgegangen« (Schweitzer, Briefwechsel, 274). Insgesamt dürfte sich Schweitzers kulturkritischer Blick nicht zuletzt auch der intensiven Beschäftigung mit dem Nihilismus Nietzsches verdanken. Vgl. dazu Schweitzer, Kulturphilosophie I, 263f. bes. die Einschätzung Nietzsches: »Darum ist sein [sc. Nietzsches] Platz in der ersten Reihe der Ethiker der Menschheit«. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 36. Später heißt es: »Ethik ist die auf die innerliche Vollendung seiner Persönlichkeit gerichtete Tätigkeit des Menschen« (Schweitzer, Kulturphilosophie I, 72).
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Der Theologische Lebensbegriff
Wirklichkeitssinn besteht in der Einsicht, daß wir allein durch ethische Vernunft50 ideale in ein normales Verhältnis zur Wirklichkeit kommen« . Schweitzer ist in dieser Beziehung nun der Überzeugung, dass diese ethischen Vernunftideale resp. die Kulturideale bereits in unterschiedlichsten Ausformulierungen im Besitz der Menschheit sind. Die gleichsam titanische Aufgabe besteht dann darin »[d]as Ver51 brauchte unverbraucht zu machen« . Die damit verbundene Vision einer überna52 tionalen »Kulturmenschheit« steht nach Schweitzer vor einer ganzen Reihe von Problemen. Hier nur zu nennen sind die grundlegende Diskontinuität geschichtli53 cher Entwicklungsverläufe, das (schon benannte) Auseinanderdriften von Wis54 senschaft und gesellschaftlicher Wirklichkeit und der Bedeutungsverlust ideologisch-ethischer Institutionen in Zusammenhang mit der modernen Tendenz zur 55 ethischen Individualisierung, die wirtschaftliche Diversifikation sowie die Erfah56 rung verheerender kriegerischer Auseinandersetzungen. Der in der Menschheit vorhandene Schatz an Kulturidealen kann nach Schweitzer gegen diese Widerständigkeiten nur wiederbelebt werden durch die Etablie50
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Schweitzer, Kulturphilosophie I, 51. Vgl. auch a.a.O., 53: »Ist das Ethische das konstituierende Element der Kultur, so wandelt sich der Niedergang in Aufstieg, sobald ethische Energien in unserer Gesinnung und in den Ideen, mit denen wir die Wirklichkeit zu gestalten unternehmen, wieder wirksam werden«. Schweitzer, Kulturphilosophie, I, 54. Dass dies möglich ist, versucht Schweitzer mit Verweis auf die Renaissance zu plausibilisieren. Denn dort ist es seiner Lesart nach genau so gewesen, dass die bereits erschöpft geglaubten Gedanken der Antike mit ganz neuer Kraft wiederbelebt wurden. Auch an dieser Stelle kann eine Parallele zu Nietzsche gesehen werden, der ja wie gesehen (vgl. dazu unter B.II.1.) ebenfalls auf eine Wiedergeburt der Tragödie aus war. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 62. Vgl. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 55ff. Schweitzer entwickelt von hier aus das Modell eines Auf-und-Nieder kultureller Entwicklung: »Weil die Ideen sich verbrauchen und in diesem Zustande das Denken neuer Generationen niederhalten, gibt es keine Kontinuität im geistigen Fortschritt der Menschheit, sondern nur ein verworrenes Auf und Nieder. Die Fäden reißen, schleifen, gehen verloren oder werden unordentlich wieder geknüpft. Bisher meinte man, dieses Auf und Nieder optimistisch deuten zu können, weil man sich immer an die Ablösung der griechisch-römischen Kultur durch die Renaissance und der Aufklärung hielt und daraufhin als durchgehendes Resultat das Aufkommen erneuter Kulturen an Stelle von gealterten und einen darin zustande kommenden Fortschritt annahm. Der verallgemeinernde Schluß aus dieser Beobachtung ist unzutreffend. [...] Tatsächlich aber kam unsere Kultur nicht in organischer Fortsetzung der griechisch-römischen auf, wenn sie ihre ersten Schritte auf den Krücken tat, die die diese ihr darbot, sondern stellt sich vielmehr als Reaktion eines gesunden Geistes gegen die empfangenen, verbrauchten Ideen dar« (Schweitzer, Kulturphilosophie I, 57). »So kommen für die Erneuerung unseres geistigen Lebens alle bisherigen natürlichen, äußeren Hilfen in Wegfall. Eine einzigartige Leistung wird von uns verlangt. Wir haben zu arbeiten, wie die, die die schadhaften Fundamente einer Kathedrale unter der Last des mächtigen Baus erneuern. Kein Fortschritt auf dem Gebiet des Sinnfälligen ist da, unsere Ausdauer aufrecht zu erhalten« (Schweitzer, Kulturphilosophie I, 59). »Weiter wird die Erneuerung der Kultur noch dadurch erschwert, daß als Träger der Bewegung in so ganz ausschließlicher Weise Einzelindividualitäten in Betracht kommen. [...] Allein eine ethische Bewegung kann uns aus der Unkultur herausführen. Das Ethische aber kommt nur im Einzelnen zustande« (Kulturphilosophie, I, 59). Vgl. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 61ff.
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rung einer der Vision der Kulturmenschheit entsprechenden durchdachten ethischen Weltanschauung. Weltanschauung wird von Schweitzer dabei wie folgt definiert: »Der Inbegriff der Gedanken, die eine Gesellschaft und der Einzelne über Wesen und Zweck der Welt und über Stellung und Bestimmung der Menschheit 57 und des Menschen in ihr in sich bewegen« . Weltanschauung hat einen direkten wirksamen Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, die deren zentrale Ideen in Form praktischer Orientierung verarbeitet und in soziale Gestaltung überführt. In diesem Sinne ist Weltanschauung nicht allein eine intellektuelle Größe, sondern verkörpert eine ideelle Bestimmtheit des Wollens in Hinblick auf die praktische 58 Umsetzung seiner selbst. In der Weltanschauung konvergieren Erkennen und 59 Wollen. Ihre denkende Interaktion bezeichnet Schweitzer als Vernunft. Vielversprechende Anläufe zu einer Weltanschauung in diesem Sinne brachte in 60 den Augen Schweitzers zuerst der Rationalismus hervor. An ihm schätzt Schweitzer besonders dessen Vernünftigkeit in Gestalt seines »Glaube[ns] an das Denken 61 und [dessen] Ehrfurcht vor der Wahrheit« . Er scheiterte jedoch in seinen Prolongierungen über die Aufklärungsphilosophie und den deutschen Idealismus an der 62 »Fügung der Umstände« , die Schweitzer am Erstarken der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise und dem Reflex des Historismus festmacht. Aufklärungsphilosophie und Idealismus wurden dadurch gewissermaßen überrumpelt und verhielten sich nachgerade ohnmächtig. Exakt daran knüpfte sich das oben berührte Scheitern resp. das Versagen der Philosophie, das zum unbefriedigenden Befund führt, dass »eine das Denken befriedigende, idealistische Weltanschauung bis jetzt 63 unerreichbar« war.
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Schweitzer, Kulturphilosophie I, 63. Vgl. auch Schweitzer, Kulturphilosophie III/1, 197: »Geht der Mensch auf Weltanschauung aus, so unternimmt er es, das Sein, so wie er es in sich erlebt, und das Sein, wie er es außer sich erschaut, miteinander in Einklang zu bringen«. Und: »Also ist auch das, worum es sich bei der Weltanschauung handelt, daß der Mensch zum geistigen Einswerden mit dem unendlichen Sein gelangen müsse« (Schweitzer, Kulturphilosophie III/1, 198). In ›Die Weltanschauung der indischen Denker. Mystik und Ethik‹ von 1935 hat Schweitzer den Weltanschauungsbegriff in diesem Sinne vertieft: »Entscheidend für die Weltanschauung ist [...] wie er [sc. der Mensch] sich zum Sein stellt, ob es bejaht oder verneint. [...] Die Weltanschauung besteht in einer Bestimmtheit des Willens. Es handelt sich in ihr nicht so sehr um das, was der Mensch vom Dasein erwartet, sondern um das, was er damit anfangen will« (a.a.O., 432). »In der Vernunft suchen sich Erkennen und der Wille, die in uns in geheimnisvoller Weise miteinander verbunden sind, gegenseitig zu verstehen« (Schweitzer, Kulturphilosophie I, 70). »Der Rationalismus allein grub an der richtigen Stelle und mit Plan« (Schweitzer, Kulturphilosophie I, 69). Schweitzer, Kulturphilosophie I, 67f. Der Rationalismus ist für Schweitzer »eine notwendige Erscheinung jegliches [sic!] normalen Geisteslebens« (Schweitzer, Kulturphilosophie I, 68). Sie basiert auf der Vernunft als »dem Inbegriff aller Funktionen unseres Geistes in ihrem lebendigen Zusammenwirken. [...] Die Weltanschauungsideen, die sie hervorbringt, schließen alles, was wir über den Sinn unserer und der Menschen Bestimmung denken, empfinden und ahnen können, in sich ein und geben unserem Dasein seine Richtung und seinen Wert« (ebd.). Schweitzer, Kulturphilosophie I, 66. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 66.
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Der Theologische Lebensbegriff
Eine befriedigende Weltanschauung zu generieren, bedeutet für Schweitzer deshalb zuerst den Rationalismus als »[d]ie denkende Weltanschauung zu Ende 64 [zu] denken« und ihn aus seinen philosophischen, historistischen und naturwissenschaftlichen Verschüttungen zu befreien. Zu diesem Zwecke sind die beiden konstitutiven Momente – Erkennen und Wollen – in ein wirksames Verhältnis zueinander zu setzen. Um dies zu leisten, sind die basalen Bestandteile zunächst zu präzisieren. Funktion des Erkennens ist es, Wahrheitsgehalte zu generieren, die auch überindividuell als Wahrheit wiedergedacht werden können und dadurch eine natürliche und dauerhafte Überzeugungskraft besitzen. Da der Begriff der Vernunft von Schweitzer nicht in einem analytisch-diskursivem Sinne gebraucht wird, sondern immer schon als auf Totalität ausgerichtet und auf die Tiefe der Dinge hin gehend (analog dem Begriff νοῦς im Gegensatz zur Platonischen διάνοια65) gedacht wird, ist ein Erkennen gemeint, das entsprechend tiefe Wahrheiten generiert. Das Wollen hingegen meint zunächst allgemein eine Form praktischer Intentionalität, die das je eigene Leben verwirklichen will und die für sich betrachtet allein 66 »unklares Phantasieren« ist; kurz: der je eigene partikulare Lebenswille. Als solcher repräsentiert er eine innere intentionale, ja triebhafte Eingestelltheit zum eigenen Sein. Die Grundstruktur einer im Sinne des zu Ende gedachten Rationalismus denkenden Weltanschauung besteht dann darin, dass Erkennen und Wollen dergestalt vermittelt werden, dass das Erkennen (als auf das Wesen der Dinge gehender νοῦς) 67 das Wesen der Wirklichkeit (in gedanklicher Nähe zu Nietzsche ) als »universellen 64 65
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Schweitzer, Kulturphilosophie I, 69. Vgl. Platon, Theaitetos, 187a und Sophistes, 260b10ff. Eine analoge Unterscheidung nimmt Leibniz vor, wenn er zwischen der vérité de fait und der vérité de raison unterscheidet. Vgl. dazu Brück, Ethische Mystik, 201. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 70. Zum Verhältnis Nietzsche und Schweitzer vgl. bes. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 371ff. Aber auch an anderen Orten ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass Schweizer »nicht nur Schopenhauer, sondern auch Nietzsche ernstnahm« (Frey, Verständnis des Lebens, 15). Vgl. dazu auch Schockenhoff, Ethik des Lebens, 67: »Er [sc. Albert Schweitzer] greift dabei auf verschiedene Stränge der europäischen und fernöstlichen Tradition, insbesondere Schopenhauers Mitleidethik und Nietzsches Gedanken vom Willen zum Leben auf, und verbindet sie mit dem christlichen Liebesgebot« (Hervorhebungen i. Orig). Ebenso Baranzke, Vordenker der Medizinethik?, 53: »Schweitzers von Schopenhauer und Nietzsche herrührende Idee eines Willens zum Leben in der Natur«. Und auch a.a.O.: »Mit Schopenhauer und Nietzsche verbindet ihn die Leitidee vom Willen zum Leben und mit dem letztgenannten zudem die Selbstbejahung des individuellen Lebens, mit der er sich von Schopenhauers leidensmetaphysischer Lebensverneinung absetzt. Aber Schweitzer kritisiert auch das sinnlose egoistische vitalistische ›Sich-Ausleben‹ des Nietzscheanischen Übermenschen und fordert statt dessen ein Ethos existentieller gelebter Wahrhaftigkeit, das mit dem Ideal der Liebe und Anerkennung des Anderen im Geiste Jesu vermittelt ist. Trotz der Hochschätzung des jesuanischen Impulses ist aber Schweitzers ethische Haltung nicht notwendig an Religion gebunden, wenngleich er den Religionen eine grosse Hochschätzung entgegen bringt«. Vgl. endlich auch Brück, Ethische Mystik, 194: »Das Denken Albert Schweitzers steht im Kontext der
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Willen zum Leben« bestimmt und das Wollen permanent auf diesen universalen 69 Willen zum Leben hin konzentriert und sich in diesem begreifbar macht. Dies ist für Schweitzer schlussendlich ein mystischer Akt, indem in dieser Interaktion der partikulare Wille zum Leben vermittels der Erkenntnis zu einem »Eins70 werden mit dem unendlichen Willen zum Leben« verschränkt wird. Die im Sinne des zu Ende gedachten Rationalismus denkende Weltanschauung führt nach Schweizer geradezu unumgänglich – indem sie in diesem Einswerden zu einem 71 72 »denkende[n] Erleben« wird – zu einer »denknotwendigen Mystik« . Dementsprechend gilt auch, dass alle denkende Weltanschauung eine Gestalt derartiger 73 Mystik repräsentiert. Der Erlebnis-Charakter des ethischen Ansatzes darf keinesfalls unterschätzt werden, ist es doch auch für Schweitzer selbst das Erleben der Ehrfurcht vor dem Leben gewesen, die diese Phrase – die er durchaus schon frü74 her verwendete – derart zentral hat werden lassen. Die rekonstruierte Bestimmung von Weltanschauung wird von Schweitzer in der weiteren Entwicklung seines Denkens auf zwei Grundformen von Weltanschauung (der abendländisch geprägten optimistischen und der fernöstlich inspirierten, pessimistischen resp. einer welt- und selbstbejahenden und einer selbst- und weltver75 neinenden) hin appliziert . Die Differenz beider und ihr Gewicht für eine in seinem Sinne ethische Weltanschauung hat Schweitzer in seiner Schrift ›Die
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sog. ›Lebensphilosophie‹. Diese geistige Strömung geht zurück auf Nietzsche, Dilthey, Bergson und reicht bis hin zu Klages und Bollnow. Gemeint ist eine Philosophie, die versucht, Lebensentwürfe und damit auch ethische Begründungen zu finden, die weder in einer Offenbarungstheologie noch auf einem rationalistischen ethischen Pragmatismus gründen. Grund- und Zielbegriff ist vielmehr der des Lebens. Das Leben als etwas zu Findendes«. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 70. Vgl. auch Schweitzer, Kulturphilosophie II, 302 wo Schweitzer »geheimnisvollen Willen zum Leben« spricht. »Das Wesen des Willens zum Leben ist, daß er sich ausleben will« (ebd). »Spricht das Erkennen einzig nur aus, was es erkennt, so lehrt es den Willen fort und fort ein und dasselbe Wissen: Daß hinter und in allen Erscheinungen Wille zum Leben ist« (Schweitzer, Kulturphilosophie II, 329. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 305. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 70 (Hervorhebung v. Vf.). Von Brück schlägt nicht ganz untreffend vor, dass Schweitzer damit ein »Gewahrsein von Leben« (Brück, Ethische Mystik, 205) vor Augen hat. Er fährt fort: »Dieses Gewahrsein ist eine Frage der mentalen Einstellung. Das Werk Albert Schweitzers lässt sich daher so lesen und verstehen, dass alle seine Aktivitäten [...] letztlich dazu dienen, das Gewahrsein des Lebens ganz und gar zu leben«. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 70. Vgl. auch ebd.: »Das zu Ende gedachte Denken führt also irgendwo und irgendwie zu einer lebendigen, für alle Menschen denknotwendigen Mystik« (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. Schweitzer, Weltanschauung der indischen Denker, 349: »Mystik ist die vollendete Art der Weltanschauung. In der Weltanschauung sucht der Mensch zu dem unendlichen Sein, dem er natürlicher Weise angehört, auch in ein geistiges Verhältnis zu gelangen. Er setzt sich mit der Welt auseinander, ob er den geheimnisvollen Willen, der in ihr waltet, erfassen und mit ihr eins werden könne. Nur im geistigen Eins-Werden mit dem unendlichen Sein kann er seinem Leben einen Sinn geben und Kraft zum Erleiden und zum Wirken finden« (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. dazu unter Anm. 32 in diesem Kapitel. Vgl. dazu auch Brück, Ethische Mystik, 202f.
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Der Theologische Lebensbegriff
Weltanschauung der indischen Denker. Mystik und Ethik‹ (1935) wohl am präzisesten dargelegt. Hier unterscheidet Schweitzer zunächst streng zwischen einer optimistischen und einer pessimistischen Welt- und Selbst-Sicht. Weiter geht Schweitzer aber nicht von einer strengen Ausschließlichkeit beider Fundamentaltypen aus, sondern er fragt vielmehr nach der Beziehung beider, sowohl im fernöstlichen als auch im abendländischen Denken. Er kommt dabei zu dem bemerkenswerten Resultat, dass die optimistische und die pessimistische Weltanschauung immer in einem Beziehungsgeflecht stehen, und dass es bei der Beurteilung des jeweiligen Amalgams auf die Dominanz dieser oder jener Grundform ankommt.76 Im Hinblick auf die ihm hier vor Augen stehende Vision einer ethischen Kulturmenschheit spricht er sich für den Grundgehalt der Lebensbejahung als alleinig konsequent durchführbar aus. Ihr Kern besteht darin, »daß der Mensch das Sein, wie er es in sich erlebt und wie es sich in der Welt entfaltet, als etwas an sich Wertvolles ansieht und dementsprechend bestrebt ist, es in sich zur Vollendung kommen zu lassen und es um sich her, so weit sein Wirken reicht, zu erhalten und zu 77 fördern« . Das Gegenteil, die pessimistische resp. selbst- und weltverneinende Weltanschauung kommt umgekehrt darin zum Stehen, »daß er [sc. der Mensch] das Sein, wie er es in sich erlebt und wie er es in der Welt gestaltet, als etwas Sinnloses und Leidvolles ansieht und sich entsprechend entschließt, das Leben in sich durch Ertötung des Willens zum Leben zum Aufhören zu bringen und auf alles Wirken, 78 das die Erhaltung und Förderung des Lebens bezweckt, zu verzichten« . Letztere, die pessimistische Weltanschauung, ist aber für Schweitzer wegen ihres unnatürlichen und dem Lebenswillen konträr laufenden Charakters nicht durchführbar; 79 zumindest nicht konsequent. Dies wird in eklatanter Weise bei dem Versuch eine Ethik auf ihr aufzubauen deutlich, denn Ethik verlangt nach Schweitzer zum einen 80 Anteilnahme an der Welt und zum anderen nötigt sie zur Tat. Diese beiden Minimalbestimmungen von Ethik treiben die lebensverneinenden Prämissen in eine 76 77
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Vgl. Schweitzer, Weltanschauung der indischen Denker, 435. Schweitzer, Weltanschauung der indischen Denker, 431. Vgl. auch Schweitzer, Kulturphilosophie I, 70: » Optimistisch ist diejenige Weltanschauung, die das Sein höher als das Nichts stellt und so die Welt und das Leben als etwas an sich Wertvolles bejaht«. Schweitzer, Weltanschauung der indischen Denker, 431. Vgl. Schweitzer, Weltanschauung der indischen Denker, 436.: »Die Unnatürlichkeit der Weltanschauung der Welt- und Lebensverneinung tritt darin in Erscheinung, daß sie nicht durchführbar ist. Sie sieht sich genötigt, der Welt- und Lebensbejahung Zugeständnisse zu machen«. Vgl. auch: »Die Welt- und Lebensbejahung ist etwas Natürliches, weil sie dem triebhaften Willen zum Leben, der in uns ist, entspricht. Die Welt- und Lebensverneinung kommt uns als etwas Unnatürliches und Unbegreifliches vor, weil sie diesem Instinkt in uns widerspricht« (Schweitzer, Weltanschauung der indischen Denker, 432). Vgl. auch Kulturphilosophie II, 299: »Aller Pessimismus ist also inkonsequent«. »Die Ethik verlangt von dem Menschen, daß er an der Welt und an dem, was in ihr vorgeht Anteil nehme. Sie enthält überdies eine elementare Nötigung zur Tat« (Schweitzer, Weltanschauung der indischen Denker, 437).
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unauflösbare Aporie: »In dem Maße also, als die Weltanschauung der Welt- und Le81 bensverneinung ethisch wird, gibt sie sich selbst auf« . Es ist jedoch so – und insofern haben die Instinkte die Weltanschauung der Welt- und Lebensverneinung in einer sich auf einer optimistischen Weltanschauung gründenden Ethik ihren Platz –, dass die von Schweitzer präferierte Weltanschauung der Welt- und Lebensbejahung sich mit der welt- und lebensverneinenden Weltanschauung auseinanderset82 zen muss, um sich in ihr zu vertiefen und zu klären. Die Weltanschauung der Welt- und Lebensverneinung wird so zum kritischen Korrektiv einer lebens- und weltbejahenden Eingestelltheit. Die letzten Überlegungen und Differenzierungen machen unter der Hand deutlich, dass Weltanschauung im strukturellen Sinne per se noch gar nicht ethisch ist. Weltanschauung ist vielmehr allein die mystische Bewegung, in der Erkennen und Wollen sich miteinander ver- und entschränken. Ihre ethische Aufladung gewinnt Weltanschauung erst in Verbindung mit einer aus dem mystischen Erlebnis resultierenden volitionalen Nötigung. Bereits oben wurde die formale Bestimmung von Ethik berührt: das Bestimmtsein-Lassen durch das materielle und geistige Wohl des Ganzen und der Vielen. Ergänzt wird dies nun durch die Minimalbestimmungen aus der ›Weltanschauung der indischen Denker‹: Weltanteilnahme und Tatnötigung. Ethik – so kann eine vorläufige Definition lauten – ist also formal betrachtet eine durch ein Wohlkalkül bestimmte, an der Welt teilnehmende Nötigung zur Tat. Eine inhaltliche Füllung dieser Formel wird im nächsten Abschnitt erarbeitet werden. Hier muss noch festgehalten werden, dass Schweitzer im strengen Sinne von Kultur in Gestalt der Vision einer Kulturmenschheit erst beim Zusammenspiel von optimistischer Weltanschauung und Ethik spricht. Dementsprechend hängt für ihn alles davon ab, »ob es dem Denken möglich ist, zu einer Weltanschauung zu gelangen, die Optimismus, das heißt die Welt und Lebensbejahung, und die Ethik sicherer und elementarer besitzt als die bisherige«83. II.3
Der Lebensbegriff, die Ehrfurcht vor dem Leben, Ethik und theologische Mystik
Es liegt in der Natur eines derart erklärt mystisch denkenden Herangehens an das Leben, dass der im Hintergrund entwickelte Lebensbegriff zunächst nur äußerst unscharfe Konturen aufweist. Deutlich ist zunächst nur, dass, da das Leben in seiner Tiefe eben nachgerade mystisch erlebt wird, ein strikt wissenschaftlicher Lebensbegriff operational nicht ausformuliert werden kann. So hält Schweitzer denn
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Schweitzer, Weltanschauung der indischen Denker, 438. Vgl. Schweitzer, Weltanschauung der indischen Denker, 439. Vgl. auch Schweitzer, Weltanschauung der indischen Denker, 445: »Das europäische Denken vertritt eine Welt- und Lebensbejahung, der es an Tiefe fehlt, weil sie sich nicht eingehend mit der Welt- und Lebensverneinung und der Ethik auseinandergesetzt hat«. Schweitzer, Kulturphilosophie I, 73.
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Der Theologische Lebensbegriff 84
auch fest: »Was aber das Leben ist, vermag keine Wissenschaft zu sagen« . Das Leben als der Wille zum Leben hat so immer auch etwas Geheimnisvolles, das sich einer letzten Einsichtnahme entzieht, im Leben verbleibt immer auch ein blinder 85 Fleck. Hingegen lässt sich sehr wohl eine inhaltliche Füllung des mitgeführten Lebensbegriffs ausmachen. Ähnlich, wie für Nietzsche, ist auch im Horizont des Denkens Schweitzers das Leben elementar durch eine sich steigernde Triebhaftigkeit und durch eine gleich86 sam orgiastische Wirkdimension charakterisiert. Das Leben als Wille zum Leben ist ein zu Wirksamkeit drängender Trieb. Gleichzeitig ist es für Schweitzer elementar, dass diesem Wirktrieb ein ideelles Potential inhäriert. Der dem Leben innewohnende Wirktrieb ist eben nicht ein kalter mathematischer oder mathematischphysikalischer Vektor, der sich ungezielt in der Unendlichkeit einer abstrakten 87 Raum-Zeit verliert. Die angezeigte Triebstruktur ist nicht allein blindes Vorwärtsdrängen, sondern sie ist immer schon auf immanente Perfektibilität hin angelegt, und zwar sowohl bei pflanzlichen und tierischen als auch bei selbstbewussten Lebenserscheinungen: »Im blühenden Baum, in den Wunderformen der Qualle, im Kristall: überall strebt er [sc. der Wille zum Leben ] danach, Vollkommenheit, die in ihm angelegt ist, zu erreichen. In allem, was ist, ist durch Ideale bestimmte, vor-
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Schweitzer, Kulturphilosophie II, 329. Damit wird gleichermaßen deutlich, dass Schweitzer den Schopenhauerschen Anspruch, den Willen zum Leben zu erkennen, nicht reklamiert. Vgl. dazu Kleffmann, Nietzsches Begriffe des Lebens, 378ff. Vgl. Schweitzer, Kulturphilosophie II, 329. Dort spricht Schweitzer wiederholt von einem »Geheimnis des sich überall regenden Willens zum Leben«. Vgl. Schweitzer, Kulturphilosophie II, 298: »Der Wille zum Leben gibt mir den Trieb zum Wirken ein«. Damit steht Schweitzer auch in gedanklicher Nähe zu Fichte und dessen Tätigkeitswillen. Vgl. auch ebd.: »Das Leben in der Richtung seines Laufes auszuleben, zu steigern, zu veredeln, ist natürlich«. Vgl. endlich a.a.O., 302: »Das Wesen des Willens zum Leben ist, daß er sich ausleben will«. Im zweiten Teil der ›Kulturphilosophie‹ erfährt Nietzsche eine Würdigung von Seiten Schweitzers als Ethiker: »[S]ein Platz [ist] in der ersten Reihe der Ethiker der Menschheit«. Insbesondere schätzt Schweitzer dabei Nietzsches Analysen über das Wesen von Gut und Böse sowie sein Ernstnehmen des Triebcharakters des Lebens sowie der Lebensbejahung. Nietzsches Grenzen erkennt Schweitzer indes darin, dass er in seinen Augen nicht über die Lebensbejahung auch zu einer Weltbejahung gelangt ist, sondern allein »die Lebensbejahung als solche zur Ethik« (Schweitzer, Kulturphilosophie II, 267) erhob: »Darüber gelangt er zu den Absurditäten der ausschließlichen Bejahung des Lebens, wie Schopenhauer zu denen der ausschließlichen Verneinung des Lebens. Nietzsches Wille zur Macht ist nicht anstößiger als Schopenhauers Wille zur Selbstvernichtung, wie er in den asketischen Partien seiner Werke zu Wort kommt. Interessant ist, daß jeder von beiden anders lebte als seine Lebensanschauung lautet. Schopenhauer ist nicht Asket, sondern Bonvivant, und Nietzsche nicht Herrenmensch, sondern ein Zurückgezogener« (Schweitzer, Kulturphilosophie II, 267). Zum Begriff Raum-Zeit vgl. Schrödinger, Struktur der Raum-Zeit, 1ff.
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stellende Kraft am Werke« . Am Orte selbstbewussten Lebens realisiert sich diese angelegte Perfektibilität überdies in Gestalt von konzeptualisierbaren Ideen. Schweitzer spricht allerdings in dieser Beziehung im zweiten Teil seiner ›Kulturphilosophie‹ nur sehr allgemein von Idealen resp. von »Ideen, die in dem Willen 89 zum Leben gegeben sind« , oder davon, dass es notwendig ist, »alle Ideen, die in ihm [sc. dem Willen zum Leben] gegeben sind, zu denken und sich ihnen zu un90 terwerfen« . In den – nicht zu einem fertigen Band zusammengestellten – Vorarbeiten zum dritten Teil der ›Kulturphilosophie‹ finden sich jedoch präzisere Formulierungen. Dort heißt es: »Die Lebensanschauung der umfassenden und tiefen Lebensbejahung, die sich in dem zur Entwicklung gelangenden Willen zum Leben ausbildet, enthält also die beiden fundamentalen ethischen Ideen des Wirkens und der Hingabe an anderes Leben und der innerlichen Selbstvervollkommnung mitei91 nander in sich. Sie will beste Erhaltung und höchste Vollendung des Lebens« . Die beiden zentralen Ideen, die dem Leben als Willen zum Leben zugehören sind also hingebungsvolle und wirksame Fremd- und Selbstvervollkommnung. Das heißt nicht mehr und nicht weniger: Alles beeinflussbare Leben soll auf den höchsten 92 geistigen und physischen Stand gebracht werden. Richtet sich nun das Leben in denkender Selbstkonzentration auf den Lebenswillen und auf die in ihm enthaltenen Ideen, kommt es zu der oben diskutierten mystischen Verschränkung von Wollen und Denken, die nunmehr als Erfahrung und Erlebnis der Ehrfurcht präzisiert werden kann: »Ehrfurcht vor dem Leben ist Ergriffensein von dem unendlichen, unergründlichen, vorwärtstreibenden Willen, 93 in dem alles Sein gegründet ist« . In der Erfahrung der Ehrfurcht vor dem Leben vertieft sich der Begriff des Lebens durch das Einswerden des partikularen Lebenswillens mit dem als ideell aufgeladen erkannten universellen Lebenswillen, den es in Ehrfurcht unablässig bejaht und damit auch alle anderen Erscheinungen 94 desselben.
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Schweitzer, Kulturphilosophie II, 302. »Im Grunde handelt es sich bei diesem Vollkommenwerden um ein innerliches Freiwerden des Willens zum Leben von den äußeren Umständen, in denen es verläuft« (Schweitzer, Kulturphilosophie III/1, 200). Schweitzer, Kulturphilosophie II, 301f. Schweitzer, Kulturphilosophie II, 302. Schweitzer, Kulturphilosophie III, 234. Vgl. Schweitzer, Kulturphilosophie II, 302f. Schweitzer, Kulturphilosophie II, 303 (Hervorhebung v. Vf.). Wie erwähnt hat Schweitzer das tiefe mystische Erlebnis einer Erfahrung der Ehrfurcht vor dem Leben selbst zum ersten Mal im September 1915 während einer Flussfahrt auf dem Ogowe-Fluss in Zentralafrika. Vgl. Schweitzer, Entstehung der Lehre, 20f. Vgl. dazu Brück, Ethische Mystik, 194 u. 201; Steiner, Das Leben, 177f. Zu den etymologischen und geistesgeschichtlichen Wurzeln des Ehrfurchtbegriffs vgl. Steiner, Das Leben, 168f. Der »tiefste Begriff des Lebens ist erreicht, das Leben, das zugleich Miterleben ist, wo in der Existenz der Wellenschlag der ganzen Welt gefühlt wird, in einer Existenz das Leben als solches zum Bewußstsein seiner selbst kommt ... das Einzeldasein aufhört, das Dasein außer uns in das unsere hereinflutet« (Schweitzer, Predigt 1919, 34 [Hervorhebung v.Vf.]).
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Mit der Rekonstruktion des Erlebnisses der Ehrfurcht ist der Überschritt zur wirksamen Ethik fast erreicht. Denn eine energetisch wirksame Ethik hat – so Schweitzer – immer ein Grundprinzip aufzustellen, »das die Gesamtheit aller sittli95 chen Forderungen in sich vereint« . Hier zeigt sich ein weiterer wichtiger Zug des Ethikverständnisses Schweitzers. Ethik muss etwas Einfaches sein. Ethik muss etwas sein, das jedem und jeder mit geradezu bezwingender Kraft einleuchtet und von jeder und jedem mit quasi drängender Notwendigkeit praktiziert werden kann, 96 ja muss. Diesbezüglich erteilt er allen bisherigen Ethik-Theorien eine klare und 97 pauschale Absage. Indem er drei Grundtypen von Ethik unterscheidet (Ethik der Lust, Ethik der Hingebung und Ethik der Selbstvervollkommnung), erkennt er in den geschichtlich hervorgetretenen Formatierungen von Ethik jeweils eine Reduktion auf nur ein Format, maximal auf zwei Formen. Sie sind so gesehen alle fragmentarisch. Ethik im Vollsinne hat nach Schweitzers Verständnis schon formal alle drei Elemente zu vereinen: »Worin besteht also vollständige Ethik? In der Ethik der leidenden Selbstvervollkommnung und in der Ethik tätigen Selbstvervollkommnung. Die vom Standpunkt der Gesellschaft aufgestellte Ethik ist ein von der Ethik der tätigen Selbstvervollkommnung zu korrigierender Anhang«98. D.h. aktives auf sich und die Mitwelt bezogenes Perfektibilitätsstreben muss individual- und sozial99 ethisch (bei Schweitzer prolongiert ins Kosmoethische ) eine Parenthese bilden, die gleichzeitig mit quasi universaler Evidenz auftritt. Der angezeigten Gewalt der Konzentration ist nach Schweitzer allein eine im beschriebenen Sinne gleichsam mystisch-prinzipiale Eingestelltheit gewachsen.
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Tom Kleffman hat diese Struktur folgendermaßen aufgelöst: »Erkennt der einzelne Wille zum Leben in seiner Lebensbejahung anderen Willen zum Leben und denkt dieses Verhältnis, erlebt das Denken die Ehrfurcht vor dem Leben, in der es das Leben im anderen Willen zum Leben bejaht, also als Verneinung des eigenen Willens zum Leben, sofern er sich auf den Willen zum Leben bezieht« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 382). Es darf bezweifelt werden, ob dies im Geiste Schweitzers ist, da Schweitzer mussmaßlich einer binären Ja-Nein-Logifizierung in dieser Sache skeptisch gegenüberstehen würde. Schweitzer, Kulturphilosophie II, 118. »Alles Tiefe ist zugleich ein Einfaches und läßt sich als solches wiedergeben, wenn nur eine Beziehung auf die ganze Wirklichkeit gewahrt bleibt« (Schweitzer, Kulturphilosophie I, 21). Vgl. a.a.O., 121: »Das wahre Grundprinzip des Ethischen muss bei aller Allgemeinheit etwas ungeheuer Elementares und Innerliches sein, das dem Menschen, wenn es ihm einmal aufgegangen ist, nicht mehr losläßt, in selbstverständlicher Weise in all sein Überlegen mit hineinredet und, sich nicht in den Winkel stellen läßt und fort und fort eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit provoziert«. Vgl. dazu Brück, Ethische Mystik, 205ff. Vgl. Schweitzer, Kulturphilosophie II, 306: »Die bisher aufgestellten Grundprinzipien des Sittlichen sind absolut unbefriedigend«. Schweitzer, Kulturphilosophie II, 316. Vgl. auch a.a.O., 315: »Zur Ethik gehört Ethik der leidenden Selbstvervollkommnung in dem inneren Freiwerden von der Welt (Resignation), Ethik der tätigen Selbstvervollkommnung in dem ethischen Verhalten von Mensch zu Mensch und Ethik der ethischen Gesellschaft«. Vgl. Schweitzer, Kulturphilosophie II, 320: »[S]ie selber [sc. die Ethik; muss] in der rechten Art kosmisch werden« (Hervorhebung v. Vf.).
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Das Einswerden des partikularen Lebenswillens mit dem als ideell aufgeladen erkannten universellen Lebenswillen, den es in Ehrfurcht unablässig bejaht, gegossen in die weite Form einer Zusammenschau von individual- und sozialethisch auf sich und die Mitwelt bezogenem Perfektibilitätsstreben, staut sich in einem energetisch hoch aufgeladenem Erlebnis, das gleichsam unter der Druckkraft der in ihm angestauten Gedankenwellen eine intellektuell-mystische Implosion erzeugt, die ihrerseits unbändig lebendige und kulturgenerierende Strahlung freisetzt. Die ethische Substanz des energetisch-emergenten Kerns – sein reaktives Prinzip – ist »Hingebung an das Leben aus Ehrfurcht vor dem Leben«100. Das Leben wird so – gleich Nietzsches dionysischer Erfahrung – als urgewaltiger Kraftherd erkennbar; die gedanklich-mystische Verschmelzung in den unendlichen Lebenswillen zum Eintauchen in eine Lebenssonne, deren ausstrahlende Kraft bezwingt sowie lebensund kulturfördernd mitreißt. Soweit die Theorie und auch die Phantasie. Der hier auch in der Rekonstruktion in Anschlag gebrachte Ausweich auf Hochmetaphorik macht nämlich deutlich, dass das von Schweitzer weniger gewonnene als divinierte Grundmoment und -erlebnis des Ethischen sich jeglicher methodisch kontrollierten Logifizierung entzieht.101 Aber genau dies ist Absicht; in positiver wie in negativer Hinsicht. Es wird auf den immer wieder betonten Kraftresp. Energiefaktor abgehoben, der – im Unterschied zu Hegels reflexiver Deutung 102 des Kraftgedankens – einem unvordenklichen und unmittelbar geistigen Prinzipiat entspricht, das nicht erst gedanklich durchgearbeitet sein muss, um an ethisches Land zu gelangen. Hier gibt sich Schweitzer trotz aller Kritik an idealistischen Denkgebäuden als Denker des Geistes zu erkennen. Aber: Schweitzer erkennt auch eine zerstörerische Kraft nicht nur zersplitternder, differenzierender und sophistischer Gedankentätigkeit, sondern auch der Sucht nach Systembildung. Frei, wie der Lebenswille, hat auch die menschliche Reaktion zu sein. Sie besteht – und damit ist der Gipfelpunkt der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben berührt – in vollkommen entgrenzter Verantwortung gegen alles Leben: »Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt«103. Sie findet Ausdruck in dem, was Schweitzer dann als das einfache Grundprinzip des Ethischen 104 ausformulieren kann: »Hingebung an Leben aus Ehrfurcht vor dem Leben« . Aus 100 Schweitzer, Kulturphilosophie II, 328. 101 Eine an Hegel orientierte Rekonstruktion Schweitzers (wie die Tom Kleffmanns) stösst hier an Grenzen. Vielmehr erinnert – wenn überhaupt – der von Schweitzer formulierte Einheitswunsch an die intellektuelle Mystik Fichtes, vor dem sich Schweitzer in ›Kultur und Ethik‹ in dieser Beziehung tief verneigt. 102 Vgl dazu unter A.III.5. 103 Schweitzer, Kulturphilosophie II, 332. Vgl. auch a.a.O.: »Auch hinsichtlich des Verhaltens zu Menschen wirft uns die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben in erschreckend unbegrenzte Verantwortung«. Und auch a.a.O., 348: Dort spricht Schweitzer von der »überpersönlichen Verantwortung«. Vgl. dazu auch Lenk, Konkrete Humanität, 135ff. 104 Schweitzer, Kulturphilosophie II, 328. Diese Einstellung kann von Schweitzer auch als »Solidarität« (Schweitzer, Kulturphilosophie III/1, 198) bezeichnet werden, die auch schon bei Tieren anzutreffen ist, sich am Orte des Menschen aber zu einer umfassenden »Vorstellung der naturhaften
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dieser – wie Schweitzer sagt – fundamentalen Tatsache des Bewusstseins leitet er ein ethisches Orientierungssystem en miniature ab. Gut ist demnach, Leben zu erhalten, zu fördern und auf seinen höchsten Wert zu bringen; Böse umgekehrt die 105 Vernichtung, Schädigung und Hemmung von Leben. Die Erkenntnis des universalen Lebenswillens als unendliches Kraftzentrum führt Schweitzer zu einer explizit theologischen Zuspitzung seines Lebensbegriffs. Das Leben als der unendliche Lebenswille ist zum Schluss Inbegriff des unendli106 chen Lebens selbst: Gott. Dabei ist jedoch zu betonen, dass der dabei ins Denken gebrachte Gottesgedanke keineswegs einheitlich ist. Vielmehr wird am Orte des Gottesgedankens eine subkutan mittransportierte Konfliktualiät relevant. Denn das göttliche Kraftzentrum umfasst sowohl eine geistig-ethische (Leben in Ehrfurcht vor dem Leben) als auch eine natürlich-egoistische (Leben auf Kosten ande107 ren Lebens) Dimension. Insofern ist es die große gedankliche Herausforderung, 108 sowohl »Gott [als] die Kraft, die alles erhält« als Naturkraft als auch als sittliche Kraft in ihrer Spannung auszuhalten: »Wie bringen wir Gott, die Naturkraft in eins mit Gott, dem sittlichen Willen, dem Gott der Liebe, wie wir ihn uns vorstellen müssen, wenn wir uns zu höherem Wissen vom Leben, zur Ehrfurcht vor dem Le109 ben, zum Miterleben und Mitleiden erhoben haben?« . Diese dualistische Kalamität erfährt ihre Entschärfung und Entschränkung in der theologisch-christologischen Mystik, wie sie Schweitzer in seinem theologi110 schen Reifewerk ›Die Mystik des Apostels Paulus‹ dargelegt hat. Die von Paulus in Anschluss an Jesus entwickelte Weltanschauung steht dabei in den Augen Schweitzers für den Versuch, das geistig-ethische Moment des Göttlichen konse-
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Zusammengehörigkeit erweitert« (Schweitzer, Kulturphilosophie III/1, 198). Vgl. dazu Schneider, Über-Leben und Tod, 17: »Der sorgsame und ehrfurchtsvolle Umgang mit allem was lebt, mündet – so die Hoffnung Schweitzers – in einen friedvollen und ›gesitteten Umgang des Menschen mit seinesgleichen‹«. Vgl. Schweitzer, Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, 21f. Vgl. dazu Steiner, Das Leben 177ff. Das heißt: Schweitzer ist dabei der Meinung, dass sich der Lebenswille so schließlich zu einem »Willen zum Wirken« (Schweitzer, Kulturphilosophie III/1, 198) erweitert. Dies erklärt sich folgendermaßen: Der Mensch ist (in viel größerem Maße als das Tier) in der Lage, zu helfen und zu unterstützen. Diese Disposition korrespondiert auf ganz natürliche Weise mit der erweiterten Solidarität und repräsentiert sich schließlich als die Idee des ethischen Wirkens. Ethisch ist diese Idee dadurch, weil sie »Leben an anderes Leben hingeben läßt« (Schweitzer, Kulturphilosophie III/1, 198). Diese ist teleologisch organisiert und zwar auf Höherentwicklung und endlich auf Vervollkommnung ausgerichtet (vgl. Schweitzer, Kulturphilosophie III/1, 198). Vgl. dazu Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 387. Vgl. Schweitzer, Predigt 1919, 33: »So steht auch durch die rätselhafte Entzweiung in dem Willen zum Leben Leben gegen Leben und schafft den anderen Leid und Tod, schuldlos schuldig. Die Natur lehrt den grausigen Egoismus, nur dadurch auf kurze Zeit unterbrochen, daß sie in die Wesen den Trieb gelegt hat, dem Leben, das von ihnen abstammt, so lange es ihrer bedarf, Liebe und Helfen entgegen zu bringen«. Schweitzer, Predigt 1919, 34. Schweitzer, Predigt 1919, 34. Vgl. dazu Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 410ff.
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quent als entscheidenden Pol der Verschmelzung mit Gott als dem unendlichen Lebenswillen herauszustellen. »Die messianisch-eschatologische Weltanschauung ist die in unbefangenem, kraftvollem Denken erfolgende Überwindung des Dualismus durch das sieghafte Auftreten des Glaubens an den Gott der Liebe in dem an 111 den unendlich rätselhaften Schöpfergott « . Gott als Wille und Vorstellung ist hier sortiert wie entschieden. Die Relation Gott als Naturkraft und Gott als Liebeskraft ist hierachisiert zugunsten der übermächtig gewordenen Energien Gottes als Liebeskraft. Erkennbar und mitteilbar ist dies nach Schweitzer, weil in der Gestalt Jesu der göttliche Liebeswille – als der für Menschen bestimmende – in bezwingender Wei112 se offenbar geworden ist. Das Auftreten Jesu hat nämlich das Problem, mit einem in sich gespaltenen und unendlich rätselhaften Gotteswillen eins zu werden, radikal entschärft. Denn – wie Schweitzer in der ›Mystik des Apostels Paulus‹ nun klar sieht – ist eine solche Gottesmystik stricte nicht möglich: »Gottesmystik als unmittelbares Einswerden mit dem unendlichen Schöpferwillen Gottes ist 113 unvollziehbar« . Vielmehr erweist sich der Dualismus hier als hemmende Kraft. Mit Jesus, seinem Tod und seiner Auferstehung, ist der universale Wille zum Leben 114 zum universalen Willen der Liebe geworden. Damit ist der Dualismus zugunsten des geistig-sittlichen Pols überwunden und die Mystik auf den Pfad des Lebens ge115 kommen. Ihr Zentrum ist nun das mystische ἐιναι ἐν Χριστῷ, das Schweitzer strukturell im Sinne der oben beschriebenen Mystik als reale Verschmelzung mit den den Willen zur Liebe repräsentierenden »Sterbens- und Auferstehungskräf116 117 ten« Jesu interpretiert. Diese hat zur Folge die »Seinsweise der Auferste118 hung« , die Schweitzer unorthodox als vollkommen real und in der Spannung von 111 Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 368. 112 »In Jesu Christo wird Gott als der Wille der Liebe offenbar. In der Gemeinschaft mit Christo verwirklicht sich also die Gemeinschaft mit Gott, wie sie uns bestimmt ist« (Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 368). 113 Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 367. Vgl. auch a.a.O., 368: »Für alles Erkennen bleibt Gottesmystik etwas Unvollendetes und Unvollendbares«. Vgl. auch ebd.: »Reine Gottesmystik bleibt etwas Totes«. 114 Vgl. dazu Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 407. Nicht ganz zuzustimmen ist der Folgerung Kleffmanns, dass Jesus damit allein als Repräsentant des denknotwendigen Willens zur Liebe in den Blick gerät. Es gibt Aussagen Schweitzers (wie die oben zitierte), die vielmehr nahe legen, dass das Auftreten Jesu für die Entschränkung des Dualismus (als Teil des denknotwendigen Willens zum Leben) steht. 115 Vgl. Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 368: »Auf den Pfad des Lebens gelangt die Mystik nur, wenn sie durch den Gegensatz des Liebeswillens Gottes zu seinem unendlich rätselhaften Schöpferwillen hindurchgeht und über ihn hinauskommt«. 116 Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 102. 117 Schweitzer ist dabei der festen Überzeugung, dass damit etwas Wesentliches des Auftretens Jesu markiert ist: »Mystik ist nicht etwas, das fremd an das Evangelium Jesu herangetragen wird« (Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 384). Vgl. auch a.a.O., 106: »Schon die Verkündigung Jesu enthält Christusmystik«. 118 Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 102.
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Welt- und Geistpartizipation bestimmt. Ebenso real ist für Schweitzer auch der 120 eingenommene habitus der Liebe. Der universale Liebeswille (im Gegensatz zur menschlich-endlichen Liebe) erweist sich als lebenswirkliche Eigenschaft des pneumatischen Menschen und in ethisch-praktischer Hinsicht als der Betätigungs121 vollzug des Seins in Christo. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erfährt dadurch ihre universale Konkretion: »Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe. Sie ist die als denknotwendig erkannte 122 Ethik Jesu« . Analog zur Krise der Kultur, wie Schweitzer sie in seinen kulturphilosophischen Schriften etabliert hat, gelangt er vor dem Hintergrund der Konzeption dieser Jesus-Mystik angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen zur Konstatierung einer Krise der Religion, die darin zum Stehen kommt, dass ihr die lebendige Mystik, im Sinne Pauli, verlustig ging und sich in »[e]ine epigonenhafte, allzu zeitgemäß ein123 gestellte Theologie« aufgelöst hat. Eine Erneuerung des Christentums ist für 119 Vgl. Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 287: »Weil mit dem Sterben und Auferstehen Christi die überirdische Welt schon im Anbruch begriffen ist, kann der durch das Sein in Christo ihr bereits angehörende Gläubige die Gesinnung der Losgelöstheit von der Welt betätigen«. Zu den inneren Aporien dieser Deutung vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 398ff. Für Schweitzer ist das ἐιναι ἐν Χριστῷ ein »reales Miterleben seines Sterbens und Auferstehens« (Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 13). In diesem Sinne kann Schweitzer auch von einer bereits vollzogenen Auferstehung der Gläubigen sprechen. Exegetisch ist dies nicht ganz unproblematisch. Der locus classicus, Röm 6,5 liest: »εἰ γὰρ σύμφυτοι γεγόναμεν τῷ ὁμοιώματι τοῦ θανάτου αὐτοῦ, ἀλλὰ καὶ τῆς ἀναστάσεως ἐσόμεθα«. ἐσόμεθα ist Futur. Das bedeutet, dass Schweitzer den eschatologischen Vorbehalt entschärft, indem er mit dem ἐιναι ἐν Χριστῷ εine mystisch-naturhafte Veränderung postuliert. Damit denkt er den veränderten Menschen in einem Zwei-Welten-Schnitt. Dies ist bereits mit der zentralen Definition von Mystik am Anfang des Buches angezeigt: »Mystik liegt überall da vor, wo ein Menschenwesen die Trennung zwischen irdisch, zeitlich und ewig als überwunden ansieht und sich selber, noch im Irdischen und Zeitlichen stehend, als zum Überirdischen und Ewigen eingegangen erlebt (Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 1). Es ist der besondere und spannungsreiche Charakter dieses Zustandes, dass im Falle der von Paulus nach Schweitzer aufgestellten Christusmystik der im Zustande des ἐν Χριστῷ Befindliche »in die Seinsweise des Reiches Gottes versetzt [ist], obwohl dieses noch nicht erschienen ist« (Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 369). Vgl. dazu Jüngel, Paulus und Jesus, 263f. Vgl. dazu auch die Untersuchung von Fritz Neugebauer, En Christo (1958), der sich gegen eine mystische Vereinnahmung Pauli wendet. 120 Vgl. Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 296: »Die Liebe ist die höchste unter den Geistgaben, weil sie die einzige ist, die ewig ist«. 121 Vgl. Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 298. Vgl. auch a.a.O., 286: »Also ist für die Mystik des Seins in Christo die Ethik nichts anderes als Wirkung des Geistes« (Hervorhebung i. Orig.). 122 Schweitzer, Leben und Denken, 241. Der Geist Jesu, als Kern der christlichen Religion, könnte dann auch meinen »den universalen Willen zum Leben als Willen zur Einheit des Lebens« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 401). Vgl. ebd: »Der Geist Jesu ist der Geist, in dem sich der Wille auf eine mystische Weise zur Liebe, der Einzelne zur Selbsthingabe an die Anderen gefordert weiß«. Dieser Geist wäre aber ob seiner Denknotwendigkeit prinzipiell auch ohne Jesus artikulierbar (Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 401). Der Wert des Auftretens Jesu besteht dann in der öffentlichen Offenbarung der an sich denknotwendigen Lebensmystik, die er in Gleichnissen souverän in die Lebenswirklichkeit übersetzt. 123 Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 372.
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Schweitzer daher gleichbedeutend mit einer Wiedergewinnung des energetisch 124 hoch aufgeladenen urchristlichen Glaubens. Damit ist freilich nicht gesagt, dass Schweitzer eine Revitalisierung des Christentums mit einer vollständigen Revitali125 sierung der Kultur in eins setzt. Vielmehr hat er als Theologe und Kulturphilosoph den Horizont so geweitet, dass die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben universal ist und keines besonderen Trägers mehr zu ihrer kosmischen Implementierung bedürfe. Unübersehbar jedoch ist, dass er dem Christentum in Bezug auf diese Vision eine herausragende Rolle zutraut, insbesondere, weil das Christentum die denkhemmenden Abgründigkeiten des Willens zum Leben zu bewältigen vermag. II.4
Resümee
Das Echo, das Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben und der zugrunde liegende Lebensbegriff gefunden haben, ist durchaus geteilter Natur. Auf der einen Seite hat Schweitzers Ethik die höchste Wertschätzung erfahren und sein ethisches Mantra vom Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will, ist bereits als eine Art Weltformel bezeichnet worden.126 Und bis auf die heutigen Tage wird Schweitzers ethisches Denken als »eine geeignete Grundlage 127 für eine gültige und zeitgemäße Ethik« erachtet resp. als Impulsgenerator für ökologische, sozialethische, friedensethische und fundamentalethische Debat128 ten. Nicht zuletzt gewinnt das Werk Schweitzers seine Eindrücklichkeit dadurch, 124 »Die Erneuerung des Christentums, die kommen muß, ist die der Rückkehr zur Unmittelbarkeit und zur Intensität des Glaubens des Urchristentums« (Schweitzer, Mystik des Apostels Paulus, 373). 125 Tom Kleffmann hat darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, dass Schweitzers Rekonstruktion des Christlichen strukturell immer schon auf der Linie seiner kulturphilosophischen Überlegungen liegt: »In der Tat kann Schweitzer die von ihm empfundene Wahrheit des christlichen Glaubens [...] nicht anders aussprechen, daß er sie als Gestalt seiner an sich denknotwendigen ethischen Lebensmystik interpretiert« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 399). Umgekehrt wird man auch sagen können, dass die Kulturphilosophie ihrerseits durch theologische Voreingestelltheiten mitgesteuert ist. 126 So bekennt Hubert Weinzierl nachgerade euphorisch: »Seine [sc. Albert Schweitzers] Maxime der ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ ist für mich die einfachste und überzeugendste Religionsformel geworden, seine mystische Ethik von ›Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will‹ hat mich als eine Art Weltformel auf meinem Lebensweg begleitet, eine Formel, welche auch alle Religionsgrenzen überbrücken könnte« (Weinzierl, Bedrohte Vielfalt, 152). Es ist darauf hinzuweisen, dass Weinzierl dabei keineswegs unkritisch an Schweitzer herantritt. Zur Wirkung Schweitzers als Theologe in den 1950er Jahre vgl. auch die Untersuchung von Fritz Buri ›Schweitzer als Theologe heute‹ (1955). 127 So zuletzt Steiner, Das Leben, 185. Steiner ist dabei der Überzeugung, dass dem Leben allerdings »noch eine globalere Bedeutung beigemessen werden [müsste] als es Albert Schweitzer getan hat« (ebd.). 128 Vgl. auch Baranzke, Vordenker der Medizinethik, 64; Fuchs, Wirtschaften mit dem Lebendigen, 170f.; Gräßler, Tier als Mitgeschöpf, 50; Lenk, Konkrete Humanität, 129; Grober, Fähigkeit, vorauszublicken, 114; Seitz-Weinzierl, Sehnsucht Natur, 96f.; Sitter-Liver, Ehrfurcht und Würde, 84f.
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dass er seine Ethik nicht nur philosophisch und theologisch ausgearbeitet und ver129 tieft, sondern sie darüber hinaus aktiv und wirksam gelebt hat. Auf der anderen Seite wird der Ethik Schweitzers mit größter Zurückhaltung und Skepsis begegnet. So gilt sein Diktum Ehrfurcht vor dem Leben z.T. selbst 130 schon wieder als verstaubte Formel, die das gleiche von ihm diagnostizierte Schicksal erfahren hat: nämlich ihrer Energie als Kulturidee wieder verlustig gegangen zu sein. Hinzu kommt, dass Schweitzer ob der Breite seines Denkens in den engeren Fachdisziplinen ein Außenseiter geblieben ist: »Albert Schweitzer war ein Universalgenie klassischen Ranges. Er war gleichermaßen Musiker, Musikwissenschaftler, Arzt, Entwicklungshelfer, Kulturphilosoph, Theologe, Neutestamentler und – Mystiker. Eine einzigartige Verbindung, die aber auch dazu geführt hat, dass er zwischen allen Stühlen saß und gewissermaßen immer noch sitzt. [...] Schweitzer ist ein Außenseiter geblieben«131. Weitaus die meisten Einwürfe konzentrieren sich jedoch auf Brüche, Widersprüche und Offenheiten in seinem Werk. Bereits die Tatsache, dass Schweitzer seine Kulturphilosophie systematisch nie vollendet hat, sei ein Indiz dafür, dass seine diesbezüglichen Überlegungen als systematisch offen 132 zu gelten haben. Im Folgenden kann nur knapp auf die wesentlichsten Kritikpunkten hingewiesen werden. Zunächst ist auf die logische Inkonsistenz des Grundgedankens der Ethik Schweitzers hingewiesen worden. Wenn Schweitzer schreibt: »Als gut gilt [...]: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben nie129 Vgl. dazu Steiner, Das Leben, 184f.: »Albert Schweitzer hat nicht nur über Ethik geredet und geschrieben, er hat vielmehr mit seiner ärztlichen Tätigkeit bewiesen, was er damit meint. In seiner Arbeit im Urwaldkrankenhaus von Lambarene hat er verwirklicht, was er in seinen ethischen Schriften postuliert: tätige Hingabe an anderes Leben, das wie er leben will, Linderung von Leiden und Krankheit der anderen. Dass er dafür sein Leben eingesetzt hat, ist die höchste Rechtfertigung seiner Maxime und wiegt mehr als einige logische Widersprüche und Zirkelschlüsse, die sich im Text finden lassen. Schweitzer hat das gelebt, was seine Philosophie fordert! Eine Schwierigkeit ihm nachzufolgen muss allerdings darin gesehen werden, dass nicht jedermann die Begabung und die Kraft besitzt, die Gelegenheit zur Hingabe, die sich den meisten von uns irgendwann im Leben bietet, auch tatsächlich wahrzunehmen und zu wagen, Ähnliches zu tun, was Albert Schweitzer in Afrika getan hat«. Schweitzer selbst hat diese Wirkdimension in Anklang gebracht, wie zunächst anhand seiner Darstellung von Nietzsche und Schopenhauer deutlich wird: »Interessant ist, daß jeder von beiden [Schopenhauer und Nietzsche] anders lebt als seine Weltanschauung lautet. Schopenhauer ist nicht Asket, sondern Bonvivant, und Nietzsche nicht Herrenmensch, sondern Zurückgezogener« (vgl. Kulturphilosophie II, 267). Schließlich hat er es dem energetischen Charakter seiner Weltanschauung zugetraut, dass sie auch die Kraft zu ihrer Verwirklichung freisetzt: »Die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben ist eine in jeder Hinsicht zweckmäßig wirkende Kraft. Es kommt nur darauf an, daß sie in hinreichender Stärke und Stetigkeit vorhanden ist, um Umgestaltung zu vollbringen« (Kulturphilosophie II, 364). 130 Vgl. Schneider, Über-Leben und Tod, 15. 131 Brück, Ethische Mystik, 194. 132 Vgl. Globokar, Verantwortung für alles, 164. Vgl. auch a.a.O., 233: »Die ethische Theorie Schweitzers endet oft in unvereinbaren Gegensätzen«.
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derhalten« , dann performiere er damit einen klaren logischen Widerspruch. Denn – wie u.a. auch bei Schrödinger beobachtet –, Leben muss, um zu leben seiner Umwelt Ordnung entziehen. Am Orte höherer Organismen (z.B. Säugetiere) wird dies eklatant sichtbar durch Tötung und Verzehr von Leben durch Leben. Auch das Leben, das anderes Leben fördert, kann dies nur, indem es gleichzeitig anderes Leben vernichtet und hemmt. Im Sinne der Formel Schweitzers ist Leben also immer gleichzeitig gut und schlecht, kann aber nie, wie dies die Gleichungen Schweitzers suggerieren gut oder böse sein. Durch dieses Ineinander von Lebensförderung und Lebenshemmnis, durch die jedes (höhere) Leben ausgezeichnet ist, würde zum Schluss der Unterschied zwischen gut und böse zum Verschwinden gebracht.134 Ein zweiter Einwand betrifft die orientierende Kraft des ethischen Grundprinzips: Inwieweit kann die Ehrfurcht vor dem Leben in Konfliktsituationen als verlässlicher Kompass fungieren? Insbesondere die von ihm postulierte »Heiligkeit 135 allen Lebens« macht ethisch kontrollierte Abwägungen (zwischen Bakterien und Menschen) faktisch unmöglich. Allerdings ist an dieser Stelle darauf hingewiesen worden, dass Schweitzer diesbezüglich gar nicht so kompromisslos ist, wie dies manche Formulierungen nahe legen. Vielmehr kommt auch Albert Schweitzer 136 nicht »um eine Differenzierung und Wertung von Leben« umhin: »Sein Sittengesetz, demzufolge allein das Erhalten und Fördern von Leben ethisch geboten ist, wird bei Schweitzer selbst flankiert und relativiert durch weitere ethische Maximen (z.B. die der Barmherzigkeit) und durch eine Skala der Wertigkeit von Leben – je 137 nach seiner Organisationshöhe und Empfindungsfähigkeit« . Der für den hier infrage stehenden Zusammenhang gewichtigste Einwand besteht jedoch in dem einer letzten Opakheit des Lebensbegriffs. Diesbezüglich ist eine gewisse Verschwommenheit des Lebensbegriffs schon kurz nach Erscheinen des zweiten Bandes der Kulturphilosophie von Zeitgenossen unverblümt ausgesprochen worden: So schreibt bereits Oskar Pfister an Albert Schweitzer (24. Juli 1924): »Der Begriff des Lebens ist so abgegriffen & vage. [...] Deine ›Ehrfurcht vor 138 dem Leben‹ ist mir zu unklar« . Das ist sicher insofern nachvollziehbar, als dass – 133 Schweitzer, Entstehung der Lehre, 22. 134 Vgl. dazu nur Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 337 und Schneider, Über-leben und Tod, 20. 135 Schweitzer, Predigt 1919, 31 (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. auch Schweitzer, Kulturphilosophie II, 331: »Das Leben als solches ist ihm [sc. dem von der Ehrfurcht Ergriffenen] heilig«. 136 Schneider, Über-leben und Tod, 21. 137 Schneider, Über-leben und Tod, 21. Deutlich wird eine Wertungsmetaphorik z.B. wenn Schweitzer angesichts der Phänomenologie von Tuberkulose formuliert: »Das kostbarste Leben wird dem niedersten geopfert. Einmal atmet ein Kind Tuberkelbazillen ein. Es wächst heran, gedeiht, aber Leiden und früher Tod sitzen in ihm, weil diese niedersten Wesen sich in seinen edelsten Organen vermehren« (Schweitzer, Predigt 1919, 33 [Hervorhebung v. Vf.]). 138 Schweitzer, Briefwechsel, 584 (Hervorhebung v. Vf.). Pfister zitiert in diesem Zusammenhang Schillers ›Das Leben ist der höchsten Güter nicht‹ [Schiller, Braut von Messina, 4. Aufz.] und fährt fort: »Wollte ich mich an den Buchstaben halten, so möchte ich sagen: Wir müssen tausendfältig
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wie auch schon in der hier vorgenommenen Interpretation deutlich wurde – Schweitzer nicht an eine strikt logische Ausformulierung des Lebensbegriffs ge139 gangen ist. Dies entspricht indes durchaus der Absicht Schweitzers und korrespondiert seinem Interesse an der universalen Entgrenzung des Lebensbegriffs und 140 der daraus gewonnenen Verantwortungshaltung. Freilich hat aber dann dies die nachteilige Konsequenz, »dass Schweitzer den Begriff des Lebens so konsequent universalisiert, dass dieser wohl mit dem Begriff des Lebendes wie des Nicht141 Lebendes umfassenden Seins in eins gesetzt werden muss« . Damit zusammenhängend ist darauf hingewiesen worden, dass Schweitzer die Phänomenologie der Erfahrung der Ehrfurcht vor dem Leben nie detailliert beschrieben hat resp. seine 142 alternativen Beschreibungen in letzten Unschärfen verbleiben.
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Leben vernichten, nicht nur Läuse, Bazillen, Giftschlangen, sondern vielleicht sogar unser eigenes wertes Leben. Allerdings geschieht es im Interesse eines höheren Lebens. Aber dies hast Du in Deinem formulierten Prinzip nicht gesagt. Auch ist mir der Ausdruck ›Ehrfurcht‹ zu kantisch trocken & kontemplativ. Ich muss bekennen, dass mir das Grundgebot Jesu tausendmal tiefer, philosophisch richtiger & und psychologisch-biologisch angemessener vorkommt, als Deine Formulierung; wenn das Wort Liebe schillert, so geschieht es nicht in höherem Masse, als der Begriff des Lebens & der Ehrfurcht. Wie glücklich wäre ich, einmal einen Theologen, Psychologen oder Philosophen zu finden, der das Gebot Jesu richtig verstünde. Du lebst dieses Gebot in wunderbarer Weise; aber ich glaube, Du bist viel zu polarisiert, Denken & Gefühl sind viel zu sehr auseinandergerissen, als dass Du Deine Gefühls- & Willensgrösse zum Objekt eines zutreffenden Studiums machen könntest«. Albert Schweitzer antwortete – sehr kurz – erst am 19. Dezember 1925: »Als allgemeinster Ausdruck für das Ethische kann ich doch nur (trotz der Unbestimmtheit und Kälte desselben) Ehrfurcht vor dem Leben aufstellen. Das Leben, gewiss, ist das Allergemeinste und doch das so unmittelbar Bestimmte. Oh, was hat der Dichter mit der Sentenz ›Das Leben ist der höchsten Güter nicht‹ für Verwirrung angerichtet. Die Sentenz darf ich auf mich beziehen, aber von dem Leben des anderen gilt sie für mich nicht, denn sein Leben ist ja grade das Einzige, womit ich mit ihm in Beziehung trete. Sein Leben muss mir als mein höchstes Gut gelten« (Schweitzer, Briefwechsel, 589). Vgl. dazu Sitter-Liver, Ehrfurcht und Würde, 71: »Der Begriff Leben ist alles andere als klar«. Und auch Körtner, Bioethik und Biopolitik, 478: »Denn es ist zwar nichts konkreter als das Leben, aber auch nichts abstrakter als sein allgemeiner Begriff. Entsprechend vieldeutig bzw. nichtssagend bleiben dann auch aus dem Lebensbegriff abgeleitete Maximen, z.B. diejenige A. Schweitzers, gut sei es, das Leben zu bejahen, schlecht aber das Leben zu verneinen. [...] Lebenshingabe, wie sie A. Schweitzer gefordert hat, bleibt eine leere Forderung, solange nicht geklärt ist, an was für ein Leben man sich hingeben soll«. Vgl dazu unter D.II.2. Sitter-Liver, Ehrfurcht und Würde, 74. Vgl. Schneider, Über-leben und Tod, 22. Schneider hat dies unternommen und dabei mehrere Momente isolieren können: ein paradoxes (Nähe und Distanz), ein partizipierendes, ein distanzierendes, ein situativ-flüchtiges und ein mystisch-stilles (Vgl. Schneider, Über-leben und Tod, 23ff.). Auch Kleffman hebt auf diese Problematik vor dem Hintergrund seines identitätsphilosophischen Zugangs ab. Sein Kritikpunkt betrifft die behauptete Allgemeinheit der mystischen Einheitsfigur, die zugleich als kontingent unmittelbar und allgemein vorausgesetzt zu denken wäre. »Am behaupteten Übergang des sich zu Ende denkenden rationalen Denkens in das ›denknotwendige‹ Irrationale von ›Welt- und Lebensbejahung und Ethik‹ bzw. einer im ›Erleben der Welt und unseres Willens zum Leben‹ bestehenden Mystik zeigt sich die entscheidende philosophische Schwäche seines Denkens, die auch unmittelbar mit dem entscheidenden theologischen Mangel zusammenhängt. Die Notwendigkeit, daß die [...] Selbstbejahung des Willens zum Leben den (erkannten) anderen
Leben und Ehrfurcht: Albert Schweitzer
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Im Detail ließe sich die Liste von Einwänden mühelos verlängern. Dies soll jedoch nicht das Ziel der hier vollzogenen Interpretation sein. Im Übrigen hat sich Schweitzer selbst, dem die meisten dieser Einreden bekannt waren, ihnen gegenüber als nachgerade kritikresistent gezeigt. So ist von ihm das Diktum überliefert: 144 »Kritik läuft an mir ab, wie das Wasser an der Gans« . Vielmehr soll abschließend auf die Stärken der Schweitzerschen Position im Hinblick auf den Lebensbegriff hingewiesen werden. Wenigstens drei Punkte sind dabei von Interesse: Die Intuitionskonformität, die theologische Adaptibilität und die angestrebte Universalität. Die größte Stärke des Schweitzerschen Lebensbegriffes dürfte in der Erzeugung einer unmittelbaren ethischen Evidenz liegen. Die Formel Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das auch leben will ist von immediater Intuitionskon145 formität. Es handelt sich dabei um eine echte »ethische[] Intuition« , die nicht selber Prinzip ist, sondern primär als Appell an die ethische Sensibilität verstanden 146 sein will. In diesem Sinne ist Schweitzer in seiner ethischen Sensibilität auch als
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Willen zum Leben im Hinblick auf eine wesentliche, aber als ursprüngliche erste zu verwirklichende Einheit einschließt, ist problematisch [...]. Sie ist problematisch, da die Annahme dieser Einheit [...], die nicht im Erkennen begründet sein kann, nur in dem unmittelbar sich einstellenden Sich-Identifizieren mit dem anderen Willen zum Leben begründet ist, umgekehrt aber dieses SichIdentifizieren (die Ehrfurcht vor dem Leben) nur dann nicht eine bloß faktische, rein kontingente Unmittelbarkeit ist, wenn eine sich in dieser Unmittelbarkeit voraussetzende (oder: offenbarende) Einheit des Lebens (und Allgemeinheit des auf Einheit zielenden Willens zum Leben) zu denken ist« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 383f.). Nach Kleffmann gründet sich diese kategoriale Unschärfe in der spezifischen theologischen Aufladung der Schweitzerschen Konstruktion, die Kleffmann in sehr an Hegel erinnernder Rhetorik als Ineinander von Selbstentzweiung und Zusich-Kommen interpretiert. Zuzustimmen ist Kleffmann jedenfalls in der Beobachtung, dass der innerste Kern der Schweitzerschen Ethik notorisch in einer unklaren Zweideutigkeit verbleibt (vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 384). Vgl. a.a.O., 397: »Schweitzers Schilderung des Lebens in der Ehrfurcht vor dem Leben weist unvermittelt gegensätzliche Züge auf. Ihre Notwendigkeit kann ebenso als enthusiastische Begeisterung wie als Sühne für das (also unmittelbar Schuld am Anderen bedeutende) Glück des Lebens als Einzelner erscheinen«. So ist u.a. Schweitzer ein naturalistischer Fehlschluss bescheinigt worden: »Schweitzer ist sich nicht im Klaren, daß kein Folgerungsschritt vom biologischen Fundament zum normativen Impuls der ethischen Anerkennung führt: kein ›naturalistischer‹ Fehlschluß vom Sein (des Lebenswillens) auf das Soll der Ehrfurcht, auf die Achtungsnorm, trägt logisch-rational« (Lenk, Lebensethik, 351). Demnach liege bei Schweitzer mindestens ein »quasi naturalistischer Fehlschluß« (Lenk, Ethiknachlass Albert Schweizers, 296, vgl. dazu auch Globokar, Verantwortung für alles, 166ff.) vor. Ein weiterer Einwand macht geltend, Schweitzers Konzeption laufe auf einen methodischen Pantheismus hinaus (Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 390). Zu weiteren monita vgl. Wolf, Ehrfurcht vor dem Leben, 360ff. Zit. n. Schneider, Über-leben und Tod, 21. Schneider wiederum zitiert Wolf, Ehrfurcht vor dem Leben, 370. Schneider, Über-Leben und Tod, 17. »Ehrfurcht vor dem Leben ist also nicht selber Prinzip, sondern eine durch Intuition und Emotion gewonnene Grundhaltung, die mit der Formulierung des Grundprinzips praktische Gestalt annimmt« (Sitter-Liver, Ehrfurcht und Würde, 70). Vgl. auch a.a.O., 68: »Die Kontroverse um die Brauchbarkeit der als Moralprinzip missverstandenen Idee der Ehrfurcht vor dem Leben lässt sich jener um Sinn und Unsinn der Rede von der ›Würde der Kreatur‹ oder der ›Würde der Natur‹ vergleichen«. Vgl. auch Schneider, Über-leben und Tod, 22: »Die ganze Problematik des Schweitzer-
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Der Theologische Lebensbegriff 147
»ethisches Genie« angesprochen worden: »Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben hat ihre Stärken dort, wo es darum geht, Gedankenlosigkeit, Abstumpfung und Routine im Umgang mit anderem Leben, bei der Nutzung und Zerstörung anderen Lebens zu überwinden; wenn es darum geht, den Sinn für die Eigenwertigkeit aller Lebensformen zu schärfen. Konflikte von Lebensinteressen sind unvermeidlich. Sie sollen nicht durch die Anwendung irgendwelcher ethischen Maximen gleichsam verschwinden. Im Gegenteil: Wir müssen lernen, sie auszuhalten. 148 Das ist die Botschaft Schweitzers« . In Bezug auf die theologische Anschlussfähigkeit ist bereits eingangs darauf hingewiesen worden, dass Schweitzer sich dem Leben auf den ersten Blick als Kulturphilosoph zu nähern scheint. Indessen spricht doch einiges dafür, dass Schweitzers Lebensbegriff stärker von theologischen Prämissen imprägniert ist, als dies Schweitzer manches Mal selber bewusst ist. Das ist jedoch kein Schade. Vielmehr liest sich von daher der Lebensbegriff Schweitzers als ambitionierter Versuch, einen theologisch motivierten Lebensbegriff in größtmöglicher kultureller Reichweite zu formulieren, der zumindest in diesem Anspruch – entgegen Karl Barths berühmten Einspruch149 – in der theologischen Ethik sehr wohl etwas zu suchen hat. Was das Dritte, die intendierte Universalität betrifft, so ist schließlich folgendes zu bemerken: Mehr als bei Nietzsche liegen die Stärken des Lebensbegriffs Schweitzers nicht in der Wahrnehmung einer Triebdimension des Lebendigen als solcher als vielmehr in der konfiguralen Einzeichnung dieser Formatierung. Beide – und das verbindet sie mit Schopenhauer – heben auf das energetische Moment der Struktur Willen resp. des Lebens ab. Von Bedeutung sind dabei die weltanschaulichen Einzeichnungen, die das Verhältnis von Welt- und Selbstbejahung justieren. Nietzsche fordert eine Überwindung, die Selbst- und Fremdüberwindung impliziert. Einen solchen Lebensbegriff der Starken hält Schweitzer für überzeichnet und für beschränkt. Auch das schwache Leben will leben und es ist in seinem Lebenswillen zu respektieren und ihm ist in und mit Ehrfurcht zu begegnen. Schweitzer entgrenzt entsprechend den Lebensbegriff ins Universale, freilich um den Preis der Aporie, dass auch das sich anderem Leben hingebende Leben wieder
schen Ansatzes verliert an Schärfe, wenn man die Ethik Albert Schweitzers eher als einen Appell an unsere moralische Sensibilität versteht, denn als argumentativ ausgearbeitete Theorie«. Zusätzlich ist auch ausgesprochen worden, dass die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als starkes Prinzip unzulänglich und in ihrer Anwendungsrelation geradezu absurd sei (vgl. Groos, Schweitzer, 598). 147 Vgl. Keyserling, Buchbesprechung, 56. 148 Schneider, Über-Leben und Tod, 22. 149 Barth, K., Kirchliche Dogmatik, III/4, 367: »Es ist klar, dass eine theologische Ethik das [sc. Schweitzers ethisches Grundprinzip] nicht mitmachen kann. Wo bei Schweitzer das Leben steht, da steht bei uns Gottes Gebot«.
Dietrich Bonhoeffers theologischer Lebensbegriff
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Leben überwindendes Leben sein wird. Dies verleiht dem Lebensbegriff Schweit150 zers bei aller Weite und der angestrebten Universalität einen tragischen Zug.
III.
Dietrich Bonhoeffers theologischer Lebensbegriff
Dietrich Bonhoeffer worde am 4. Februar 1906 in Breslau geboren und am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbrück hingerichtet. Er hat sich als habilitierter Theologe, Pfarrer (u.a. in der Deutschen Gemeinde in London), Kirchenmann und Seminarsleiter, als Verfasser von Gedichten sowie als Exponent der Bekennenden Kirche und Widerständler gegen das Naziregime in Deutschland einen Namen gemacht. Es liegt auf der Hand, dass im Rahmen dieser Untersuchung v.a. der Theologe Bonhoeffer von Interesse ist. Denn neben Albert Schweitzer gehört Dietrich Bonhoeffer zu den wenigen Theologen des 20. Jahrhunderts, die sich dem Begriff des Lebens aus dezidiert theologischer Perspektive genähert haben. Leben gilt dabei nicht unbedingt als der Zentralbegriff der Theologie Bonhoeffers, aber »[d]em Begriff des Lebens wird entscheidende theologische Qualität beigemessen«151. V.a. in der Spätphase des Denkens Bonhoeffers, also in der ›Ethik‹ aber auch in der so genannten ›Tegler Theologie‹, finden sich Ausarbeitungen zum Le152 bensbegriff. Dabei ist es keineswegs so, dass Bonhoeffer vollkommen unbelastet an den Lebensbegriff herantritt. Vielmehr lässt sich deutlich ein lebensphilosophischer Hintergrund v.a. auch ein Rückgriff auf Nietzsche ausmachen. In diesem Sinne hat bereits Ernst Feil darauf aufmerksam gemacht, »dass Bonhoeffer nachhaltig von der sog[enannten] ›Lebensphilosophie‹ beeinflußt war. Er gab [...] niemals den ›lebensphilosophischen Ansatz‹ auf. Bonhoeffer hat [...] 150 Vgl. Schneider, Über-Leben und Tod, 19: »Hierin besteht für Schweitzer die Tragik des Lebens, zumindest des menschlichen: auf der einen Seite über das moralische Gefühl der Ehrfurcht vor dem Leben zu verfügen, auf der anderen Seite dem Zwang unterworfen zu sein, den Gegenstand der Ehrfurcht ständig zu schädigen und zu vernichten«. 151 Wüstenberg, Glauben als Leben, 193. 152 Zum Lebensweg Bonhoeffers und den einzelnen Werkphasen vgl. ausführlich die grosse Biographie von Eberhardt Bethge. Er unterscheidet drei grosse Phasen. In einer ersten artikuliert sich Bonhoeffer als akademischer Theologe. Die wichtigen Texte dieser Zeit sind die Dissertation ›Sanctorum Communio‹ (1927) und die Habilitation ›Akt und Sein‹ (1931). Denkerisch geht es Bonhoeffer dabei darum, die göttliche Offenbarung in Jesus Christus in ihrer Konkretion in der Gemeinde sichtbar zu machen. Im darauf folgenden Abschnitt vollzieht Bonhoeffer dann den Überschritt zum Christen und Kirchenmann; es entstehen ›Nachfolge‹ (1937) und ›Gemeinsames Leben‹ (1939). Hier ist es ihm v.a. darum zu tun, ein seiner Einschätzung nach entleertes Gnadenverständnis (billige Gnade) v.a. im Rekurs auf die Bergpredigt wieder positiv zu füllen. Geistiche Kommunitäten (wie z.B. das von ihm geleitete Predigerseminar) scheinen ihm geeignete Zellen für eine Erneuerung der Kirche mit durchaus weltabgewandten Zügen. Die letzte Phase – für sie stehen die Ethik-Fragmente und die Gefangenschaftsbriefe – hat sich Bonhoeffer von diesen Abgrenzungstendenzen befreit und nach Wegen gesucht, das Christentum in einer religionslos gewordenen Welt entsprechend religionslos zu interpretieren. Vgl. dazu auch Fischer, H., Systematische Theologie, 178ff.
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Der Theologische Lebensbegriff
F. Nietzsche mit großer Extensität und Intensität gelesen, er kannte [...] G. Simmel 153 und in gewissem Ausmaß auch W. Dilthey« . Tiemo R. Peters hat in dieser Bezie154 hung besonders den Einfluss Nietzsches herausgestrichen. Demzufolge sind es v.a. eine bleibende Reserve gegenüber der soziologischen Grösse der Masse, das Plädoyer für einen neuen Adel, die Kritik an verhärteten Moralsystemen und die Forderung nach neuen Tafeln, das Motiv des großen Mittags als des erfüllten Augenblicks und die Vision einer in Nietzsches Übermenschen erkennbaren neuen Menschlichkeit, die Bonhoeffer (wie auch Adolf von Harnack) mit dem neuen 155 Menschen des Neuen Testaments in Verbindung bringt. Der entscheidende Unterschied zu Nietzsche besteht darin, dass Bonhoeffer grundlegende Theoreme konsequent christologisch interpretiert: »Überhaupt steht Christus bei ihm [sc. Bonhoeffer] dort, wo bei Nietzsche der ›Übermensch‹ steht: im Konvergenzpunkt aller auf der Erde, ihre Diesseitigkeit und Tiefe, ihre auf zukünftige Menschlichkeit 156 und Mündigkeit bezogenen Wertschätzungen und Erwartungen« . Dies schlägt sich auch nieder bis in die spezifische Ausgestaltung des Lebensbegriffes selber, 157 der durchaus als christologischer Lebensbegriff angesprochen werden kann. Und bezüglich der ›Tegler Theologie‹ hat Ralf K. Wüstenberg dann v.a. auf den Einfluss Wilhelm Diltheys hingewiesen, insbesondere auf dessen ›Weltanschauung 158 und Analyse‹, die Bonhoeffer in der Tegler Haft ausführlich studiert hat. Bonhoeffers Beschäftigung mit dem Begriff des Lebens dient keinem Selbstzweck, sondern sie zeichnet sich ein in ethische Überlegungen, die angesichts eines fragwürdigen Umgangs mit dem Leben ethische Orientierung aus erklärt christlicher Perspektive ermöglichen soll. Insofern dient als Grundlage der Rekonstruktion des theologischen Lebensbegriffs Bonhoeffers in erster Linie seine 159 ›Ethik‹. Das bedeutet nicht, dass der Lebensbegriff allein in der ›Ethik‹ eine Rolle spielt. Auch in ›Widerstand und Ergebung‹ ist das Leben ein »bedeutungsvoller Be153 Feil, Theologie Bonhoeffers, 132 (Anm. 20). 154 »Fasziniert hat ihn nie irgendeine vage Lebensmystik – die er in ihrer Gefährlichkeit durchschaute! –, sondern das kritische, auf irdische Wirklichkeit und die schaffende Freiheit des Menschen gerichtete Denken Nietzsches« (Peters, Präsenz des Politischen, 128). 155 Vgl. dazu ausführlich Peters, Präsenz des Politischen, 133–144. 156 Peters, Präsenz des Politischen, 142. Vgl. auch a.a.O., 143: Die Gestalt des neuen Menschen, die er an Christus identifiziert, ist vielmehr im Zuge einer betont nicht-metaphysischen und nichtreligiösen Interpretation gewonnen«. Zur Christus-Zentriertheit der Theologie Bonhoeffers vgl. v.a. Feil, Theologie Bonhoeffers, 157–213 u. Green, Freiheit, 191–250. 157 Vgl. Wüstenberg, Theologie des Lebens, 139: »Der Lebensbegriff wird zum christologischen Begriff im religionskritischen Kontext«. Und ebd.: »Philosophisch betrachtet, ist das Leben mehrdeutig; eindeutig wird es erst im Blick auf Jesus Christus. Leben ist nicht mehr irrationaler Zauber, sondern wird christologisch interpretiert zum Erkenntnisgegenstand von Sünde und Rechtfertigung«. 158 Vgl. Wüstenberg, Glaube als Leben, 174–187 u. 224–235 sowie Wüstenberg, Theologie des Lebens, 136–-148. Zudem stellt Wüstenberg einen Einfluss des spanischen Philosophen José Ortega y Gasset heraus. Vgl. Wüstenberg, Theologie des Lebens, 130–136. 159 »Die Lebensthematik steht offenbar im Zusammenhang mit der Ethik« (Wüstenberg, Glaube als Leben, 188). Die Manuskripte der Ethik Bonhoeffers sind zwischen 1940 und 1943 entstanden.
Dietrich Bonhoeffers theologischer Lebensbegriff
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griff« . Diesbezüglich sei noch einmal auf die genannten Arbeiten Ralf K. Wüstenbergs verwiesen, der in dieser Beziehung mit Blick auf ›Widerstand und Ergebung‹ auf das Verhaftetsein Bonhoeffers in lebensphilosophischen Kontexten eingegangen ist. Ziel der folgenden Rekonstruktion ist es, die Konturen des theologischen Lebensbegriffs v.a. der ›Ethik‹ sichtbar werden zu lassen. Dazu soll in einem ersten Schritt Bonhoeffers Begriff des Natürlichen untersucht werden, um vor diesem Hintergrund seinen Begriff des natürlichen Lebens zu entfalten. In einem zweiten Schritt sollen dann Bonhoeffers praktische Forderungen im Hinblick auf die ihm zeitgenössische Praxis von Euthanasie und Zwangssterilisation in den Blick genommen werden. Denn zusätzliche Konnotationen des Lebensbegriffes treten zutage, wenn gemäß der Situativität der Bonhoefferschen Ethik auch auf von ihm behandelte Spezialprobleme eingegangen wird.161 III.1
Der Lebensbegriff in Bonhoeffers ›Ethik‹
Den Überlegungen zum Lebensbegriff im engeren Sinne sind in der ›Ethik‹ einlei162 tende Reflexionen zum Begriff des Natürlichen vorgeschaltet. Es ist wichtig, sich hierbei vor Augen zu halten, dass Bonhoeffer, wenn er vom Natürlichen redet, bei Lichte besehen immer schon das natürliche Leben vor Augen hat. Dass er dennoch allein vom Natürlichen spricht, hat primär methodische Gründe. Sie bestehen in erster Linie darin, dass er die Sphäre des Natürlichen sowohl von der des Unnatürlichen als auch von der des Kreatürlichen abgegrenzt wissen will. Dies wiederum hat seinen sachlichen Anknüpfungspunkt in einer von Bonhoeffer ausgemachten Entdifferenzierung, die im Horizont der evangelischen Ethik eine tief greifende Krise des Natürlichen ausgelöst hat. Der Kern der Krise besteht kurz gesagt darin, dass die Sphäre des Natürlichen der evangelischen Ethik schlicht abhanden gekommen ist. Dafür gibt es Bonhoeffer zufolge zwei Gründe, die sich alternativen theologischen Begründungsfiguren verdanken. Die eine hat den Begriff des Natürlichen schöpfungstheologisch überhöht und die andere ihn harmatologisch abgewertet. 160 Wüstenberg, Glaube als Leben, 188. 161 Zur Situativität der Ethik Bonhoeffers vgl. Bonhoeffer, Ethik, 178: »Das ethische Reden ist kein System an sich richtiger Sätze, über das jeder jederzeit und allerorts verfügen kann, sondern es ist entscheidend an Personen, Zeiten und Orte gebunden«. Vgl. dazu Dramm, Bonhoeffer, 121: »Christliche Ethik als konkrete Ethik vermeidet hehre Gebote am hohen Himmel der Ideale. Aber sie versucht, Gottes Gebot in der konkreten Situation wahrzunehmen und ihm zu entsprechen. Konkrete Ethik ist insofern prinzipienlose Ethik, als sie keine Prinzipienreiterei ist. Aber sie taumelt auch nicht gottesverloren von Situation zu Situation«. Vgl. auch a.a.O., 122: »Christliche Ethik ist konkrete Ethik angesichts der – konkreten – Wirklichkeit. Sie ist ausgespannt zwischen den Polen der Liebe Gottes und der Verantwortung des Menschen. Sie lebt von der Freiheit und riskiert Schuld«. 162 Zum folgenden vgl. auch Feil, Theologie Bonhoeffers, 300ff.; Green, Freiheit, 327f. und Neugebauer, M., Bonhoeffers theologischer Lebensbegriff, 147–155.
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Der Theologische Lebensbegriff
Beide kommen in dem ausgemachten Befund überein, dass sie den Bereich des Natürlichen so weitgehend aus der ethischen Theoriebildung ausgelagert haben resp. 163 wie Bonhoeffer sagt, ihn »völlig aus dem evangelischen Denken ausschied[en]« . Schwerwiegender, weil theologisch folgenreicher, ist für Bonhoeffer der zweite Fall: die harmatologische Abwertung des Natürlichen. Denn die hiermit verbundenen negativen Konnotationen des Natürlichen führten zu einer Entdifferenzierung im Hinblick auf den Bereich des Natürlichen, der infolge nur noch pauschal als sündig in den Blick gerät. Verantwortlich für die pauschale Versündigung des Reiches des Natürlichen ist nach Bonhoeffer eine unangemessene Überbetonung der 164 Gnadenlehre (billige Gnade). Der Sache nach schließt sich Bonhoeffer (trotz aller sonst wahrnehmbaren Kritik) hier implizit einem von Albrecht Ritschl vorgetra165 genen Argument an. Bekanntlich hatte es Ritschl in kritischen Auslassungen geäußert, dass es theologisch inkonsistent sei, zum Zwecke der Etablierung einer starken Heils- und Gnadenlehre als negatives Pendant eine entsprechende Sündenlehre vorgängig in Stellung zu bringen, die die natürlichen Anteile und Voraussetzungen humaner Existenz negativ bewertet. Ritschls leidenschaftliche Polemik gegen die Erbsünde steht so durchaus in sachlicher Nähe zu der von Bonhoeffer 166 diagnostizierten »völlige[n] Auflösung im Bereich des Natürlichen« . 163 Bonhoeffer, Ethik, 1953, 93. 164 Vgl dazu jüngst Eberhardt Schockenhoff, der sich aus einer bemerkenswerten Positionierung der katholischen Moraltheologie heraus einem solchen Urteil aus erklärt ethischer Perspektive anschließt: »Ohne die ethischen Implikationen des Evangeliums verkommt die Botschaft des Christentums zum Angebot einer ›billigen Gnade‹ (Dietrich Bonhoeffer) und eines falschen Trostes, in dem die neuzeitliche Religionskritik zu Recht einen Missbrauch der Religion erkannte« (Schockenhoff, Grundlegung, 16). 165 Zum Verhältnis Bonhoeffer/Ritschl vgl. Feil, Theologie Bonhoeffers, 217f. (bes. auch Anm. 7). 166 Bonhoeffer, Ethik, 93. Die mit der Erbsünde ausgedrückte Sündigkeit des Menschen krankt nach Ritschl an mehreren Fehlern. Zum einen wird laut Ritschl dabei notorisch vergessen, dass Augustin »den Begriff der Erbsünde gebildet [hat], um den sacramentalen Charakter der Kindertaufe aufrecht zu erhalten, also als Folgerung aus dem besonderen Werth dieses Organs der göttlichen Heilsoffenbarung« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III3, 312). Damit zusammenhängend ist es insgesamt der Zug zur theoretischen Instrumentalisierung der Sünde, der Ritschl irritiert. Für ihn hingegen steht fest: »[D]ie Erbsünde ist kein Vehikel des Heils« (Ritsch, Rechtfertigung und Versöhnung, III3, 311). Im Gegenteil erschließt sich das Theologumenon der Sünde nicht als Mittel zum »höchsten sittlichen Gut« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III3, 312), sondern nur als dessen Gegenteil. Das heißt, die Sündenlehre darf und kann nicht herhalten, um die Heilsgehalte zu präzisieren, sondern allein umgekehrt kann sich aus deren vorgängiger Erkenntnis ein Verständnis der Sünde herleiten: »Es ist also widersinnig, die dem Christenthum entsprechende Schätzung der Sünde im Allgemeinen wie in der Theorie, vor Auffassung und Anerkennung jenes sittlichen Ideals gewinnen zu wollen« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III3, 312 [Hervorhebung v. Vf.]). Insofern verbietet sich für Ritschl per se ein harmatologischer Naturalismus: »Der Begriff der Sünde als Ausdruck eines durch Naturnotwendigkeit in jedem Einzelnen gesetzten Hanges des äußeren Widerspruches gegen das Gute als Ganzes, und als Ausdruck der hierin enthaltenen persönlichen Verschuldung des höchsten Grades verbürgt nicht die vollständige christliche Auffassung und Beurtheilung der wirklichen Sünde im Ganzen, und wird durch praktische Selbstbeurtheilung, welche man in Hinsicht der eignen Sünde übt, widerlegt« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung III3, 326 (Hervorhebungen v. Vf.). Statt dessen erkennt Ritschl gemäß sei-
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Die Folgen dieser Entwicklung sind für Bonhoeffer angesichts akuter Verirrungen der nationalsozialistischen Ideologie ruinös: Sie führten zu einer prinzipiellen Orientierungslosigkeit in alltagspraktischen Fragen hinsichtlich dem natürlichen Leben, das infolge dessen der Verantwortung vor Gott entzogen wurde und der 167 »Willkür und Unordnung« preisgegeben wurde. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose erkennt es Bonhoeffer als seine Aufgabe, den Begriff des Natürlichen wieder für die evangelische Ethik fruchtbar zu machen; und zwar, wie er dezidiert 168 festhält, vom Evangelium her. Wichtig hierbei sind zunächst drei Abgrenzungen mit deren Hilfe Bonhoeffer den von ihm anvisierten Begriff des Natürlich einer ersten gedanklichen Einkreisung unterzieht. Zunächst wird deutlich, dass Bonhoeffer kein abstrakter oder metaphysisch hoch aufgeladener Begriff des Natürlichen vorschwebt. Gegenbegriff zum Natürlichen ist seiner Meinung nach nicht Geist resp. eine seiner Meinung nach schiefe Alternative von Wort Gottes und Natürlichem. Hier lässt sich eine deutliche Reserve gegenüber im weitesten Sinne idealistischen Denkfiguren erkennen.169 Ein starker Natur-Geist-Dualismus, wie er für idealistische und spätidealistische Ansätze grundlegend ist, verbietet sich für Bonhoeffer, weil damit exakt 170 die kritisierte Extremenbildung faktisch vorbereitet würde. Genau dieser will Bonhoeffer durch zwei weitere Zusatzbestimmungen entgegenwirken. So wird der Begriff des Natürlichen vom Geschöpflichen unterschieden. Grund dieser Distinktion ist das Bestreben, die mit dem Bild des Sündenfalls ausgedrückte Dimension des Natürlichen mit in den Blick zu bekommen. Auf der anderen Seite ist das Natürliche eben nicht mit dem Sündhaften gleichzusetzen, denn damit würde dann wieder das Geschaffen-Sein des Natürlichen konterkariert.
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nem in der Interaktion von Denken, Fühlen und Wollen zum Stehen kommenden Religionsbegriffs in der Sünde eine verfehlte, weil partikular ausgerichtete Gestalt voluntaristischer Selbstbestimmung: »Sünde ist [...] kein ursprüngliches Gesetz des menschlichen Willens, da sie das widergöttliche Streben, Begehren und Handeln ist; sie wird im einzelnen Menschen zum Grundsatz der Willensrichtung, indem sie als Resultat einzelner Begehrungen und Neigungen sich fixiert. Denn als persönlicher Hang im Leben jedes Einzelnen entsteht sie [...] aus dem sündigen Begehren und Handeln, welches als solches seinen zureichenden Grund in der Selbstbestimmung des einzelnen Willens findet« (Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III3, 331). Zum Religionsbegriff Ritschls und seiner angeschlossenen Sündenlehre vgl. Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, 65–109. Bonhoeffer, Ethik, 93. Vgl. dazu Feil, Theologie Bonhoeffers: »Den Begriff des Natürlichen für die evangelische Ethik zu reklamieren scheint uns ein besonderes Verdienst Bonhoeffers zu sein. Richtig hat er erkannt, daß eine Verkürzung des Natürlichen, des Vorletzten das Letzte selbst in Gefahr bringt, ohne daß damit ›das Menschliche und Gute für sich einen Wert bekommen‹ soll. Denn das Vorletzte ist ›nicht unser Weg zu ihm [sc. Christus], sondern sein Weg zu uns‹«. Zur diesbezüglichen Entwicklung Bonhoeffers vgl. Wüstenberg, Glaube als Leben, 75–89 und Feil, Theologie Bonhoeffers, 30ff. Feil spricht in dieser Beziehung von einer von Bonhoeffer wahrgenommenen Aporie des idealistischen Ansatzes, die darin besteht, dass das vorausgesetzte SubjektObjekt-Schema ständig in Gefahr läuft, den Gottesgedanken zu unterminieren. Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 168.
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Bonhoeffer sucht also eine Vermittlungsfigur zwischen schöpfungstheologischer Überhöhung und armatologischer Verzerrung des Natürlichen. Diese findet er in einer christologischen Interpretation, die insbesondere auf das Moment des Kreatürlichen appliziert wird. In diesem Sinne entwickelt Bonhoeffer einen Vorbegriff des Natürlichen: »Das Natürliche ist das nach dem Fall auf das Kommen Jesu 171 Christi hin Ausgerichtete« . Das Gefallen-Sein des Natürlichen entspricht dabei genau einer produktiven Integration der Armatologie und das Auf-Christus-Ausgerichtet-Sein, der Kreatologie. Es entspricht dem Fragmentcharakter der ›Ethik‹, dass an dieser Stelle ein essentieller Gedanke fehlt resp. in diesem Abschnitt nur am Rande resp. im Hinter172 grund steht. Aus den vorgetragenen Ausgangsdistinktionen ergibt sich mitnichten, dass das Natürliche das auf das Kommen Christi hin Ausgerichtet sei. Der Sache nach begründet sich diese zentrale These darin, dass das Natürliche für 173 Bonhoeffer in den Bereich des von ihm so genannten Vorletzten fällt. Der zunächst schillernde Ausdruck des Vorletzten wird definitorisch erschlossen als das, »was dem Letzten – also der Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein – vo174 rangeht und von dem gefundenen Letzten her als Vorletztes angesprochen wird« . Das Letzte wird also als das rechtfertigende Wort Gottes erkennbar, das sich in Je175 sus Christus manifestiert. Es ist bezeichnend, dass Bonhoeffer dieses Letzte als dasjenige bezeichnet in dem »Ursprung und Wesen alles christlichen Lebens [...] 176 beschlossen« liegen. Dieses rechtfertigende Wort, das in Christus zu den Menschen tritt, richtet das menschliche Leben vollkommen neu aus und rückt es in die
171 Bonhoeffer, Ethik, 168. Vgl. dazu Green, Freiheit, 327f.: »Mit dem Natürlichen meint Bonhoeffer das Kreatürliche, das nach dem Fall nichtsdestoweniger auf Christus ausgerichtet ist, während das Unnatürliche gegen Christus verschlossen ist«. 172 Zum Fragmentcharakter vgl. Dramm, Bonhoeffer, 116f.: »Diese posthum unter dem Titel Ethik erschienene Buch stellt jedoch [...] bei weitem nicht das Buch in seiner Endfassung dar, wie sie Bonhoeffer vorgeschwebt haben mochte. Es besteht aus recht verschiedenenartigen Elementen. Teilweise sind es in sich konsistente, gründliche und weitgehend komplette Abhandlungen, teilweise aber auch nur angedachte, vorläufige, in jedem Fall: unvollständig gebliebene Textstücke. Die Komposition, die er sich für sein Buch vorgestellt hatte, ist in Ansätzen sichtbar, aber wir haben letztlich nur Einzelteile, von denen einige in sich und nach außen hin relativ abgeschlossen wirken, andere lediglich fragmentarischen Charakter haben«. 173 Vgl. das »Natürliche in seinem Charakter als Vorletztes« (Bonhoeffer, Ethik, 94). Die Dialektik von Letztem und Vorletztem hat Bonhoeffer zunächst in der ›Nachfolge‹ entwickelt. Rückblickend hat Bonhoeffer jedoch festgestellt, dass er dort die Unterscheidung von Letztem und Vorletztem »nur angedeutet (im ersten Kapitel) und nachher nicht richtig durchgeführt« (Bonhoeffer, Wiederstand und Ergebung, 226) habe. Vgl. dazu Peters, Präsenz des Politischen, 59 u. 107. 174 Bonhoeffer, Ethik, 85 (Hervorhebung v. Vf.). 175 Vgl. dazu Feil, Theologie Bonhoeffers, 297ff. 176 Bonhoeffer, Ethik, 75 (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. auch ebd.: »Hier ist die Länge und die Breite des menschlichen Lebens in einem Augenblick, in einem Punkt zusammengefaßt, die Ganzheit des Lebens ist in diesem Ereignis umschlossen« (Hervorhebung v. Vf.).
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Sphäre der Sündlosigkeit und Ewigkeit Gottes. Dieses Letzte als das »gerechtfer178 tigte[] Leben« hat als das entschieden letzte Wort Gerichtscharakter, es bedeutet »den vollständigen Abbruch alles Bisherigen, Vorletzen [...] derart, daß es niemals das natürliche oder notwendige Ende des bereits begangenen Weges, sondern sei179 ne völlige Verurteilung und Entwertung ist« . Das Letzte ist das neue Leben in Gott und Jesus Christus. Es entspricht der spezifischen von Bonhoeffer etablierten Dialektik von Letztem und Vorletztem, dass das Vorletzte vom Letzten gerade nicht aufgehoben wird. Vielmehr hält Bonhoeffer fest, dass das Vorletzte durchaus bestehen bleibt, obwohl 180 es durch das Letzte aufgehoben und außer Kraft gesetzt wurde. »Das Vorletzte wird verschlungen vom Letzten und doch behält es seine Notwendigkeit und sein Recht, solange die Erde steht. Christliches Leben ist der Anbruch des Letzten in 181 mir, das Leben Jesu Christi in mir« . Die Begriffe Vorletztes und Letztes lassen sich so als Interpretamente der neutestamentlichen Verschränkung von SchonJetzt und Noch-Nicht begreifen, die in Korrelation mit dem Begriff des Natürlichen erste Konturen des Lebensbegriffes hervortreten lassen. Bonhoeffer geht ersichtlich davon aus, dass es ein vollendetes Leben gibt. Dieses vollendeten Leben verfügt über eine eschatologische Dimension (das Letzte); ihm eignet die Qualität des Ewigen und entspricht, wie Bonhoeffer mit zahlreichen biblischen Reminiszenzen deutlich macht: einem Leben ohne Sünde aus Gott (1. Joh 39), dem »neue[n] Leben, das in Christus eins ist«182 oder kurz: dem »Chris183 tusleben« (Gal 220). Demgegenüber gibt es für Bonhoeffer das Natürliche resp. das natürliche Leben. Wie gesagt fixiert Bonhoeffer dieses folgendermaßen: »Das Natürliche ist das nach 184 dem Fall auf das Kommen Jesu Christi hin Ausgerichtete« . Damit wird zunächst zweierlei deutlich: erstens, dass das natürliche Leben nicht identisch ist mit dem vollendeten Leben im Sinne des Christuslebens, und zweitens, dass das Natürliche aber auch nicht gleichzusetzen ist mit dem Sündhaften. Vielmehr steht der terminus des Natürlichen exakt für die von Bonhoeffer angestrebte Vermittlungsleistung. Das Natürliche meint das geschaffene und gefallene Leben, das sich aber wieder als auf Christus resp. das Christusleben ausgerichtet repräsentiert. 177 Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 75: »Das Leben erkennt sich ausgespannt und gehalten von einem Grund der Ewigkeit zum anderen, von der Erwählung vor der Zeit bis zum ewigen Heil, es erkennt sich als Glied einer Gemeinde und einer Schöpfung, die das Lied des dreieinigen Gottes singt«. 178 Bonhoeffer, Ethik, 75 (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. auch a.a.O., 76: »Auf Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi hin leben, ist Rechtfertigung eines Lebens vor Gott«. 179 Bonhoeffer, Ethik, 77. 180 Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 78. 181 Bonhoeffer, Ethik, 91 (Hervorhebung v. Vf.). 182 Bonhoeffer, Ethik, 170 (Hervorhebung i. Orig.). 183 Bonhoeffer, Ethik, 77 (Hervorhebung v. Vf.). 184 Bonhoeffer, Ethik, 93. Vgl. auch a.a.O., 94: »Das Natürliche ist die von Gott der gefallenen Welt erhaltenen Gestalt des Lebens, die auf Rechtfertigung, Erlösung und Erneuerung durch Christus ausgerichtet ist«.
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Der so gefasste Begriff des Natürlichen wird hinsichtlich seiner formalen und inhaltlichen Seite abgestimmt. Der Form nach ist das Natürliche gekennzeichnet durch die benannte Bestimmt- und Ausgerichtetheit auf Christus. Dies wird nun dahingehend präzisiert, dass es nicht nur das Ausgerichtet-Sein auf Christus ist, das in formaler Hinsicht für das natürliche Leben signifikant ist, sondern dass die185 sem ebenso der »Erhaltungswillen Gottes« entspricht. Damit wird deutlich, dass Bonhoeffer zunächst das Leben vor dem Fall weitgehend mit dem Christusleben 186 identifiziert. Schwieriger zu fassen ist die inhaltliche Seite. Bonhoeffer hält fest, dass sie in der »Gestalt des erhaltenen Lebens selbst, wie sie das ganze Menschengeschlecht 187 umfaßt« besteht. Es legt sich nahe hier an die individuelle Repräsentation der formalen Struktur des Natürlichen zu denken. Ort dieser Repräsentation ist die humane Vernunft, die so als integraler Bestandteil des Natürlichen selbst einsehbar wird. Das Natürliche wird sich in der Vernunft selbst als formell bestimmt und ausgerichtet gewahr. Die zentralen mentalen Leistungen, die im Zuge der Selbstrepräsentation des Natürlichen tätig werden, sind Erkenntnis und Lebenswille. 188 Erkenntnis hebt die Seinsgestalt des Natürlichen ins Bewusstsein. Lebenswille ist die Bejahung des Natürlichen im Vollzug des erhaltenen Lebens. Beide befinden sich in einem Entsprechungsverhältnis: »So entspricht der Erkenntnis des Natürlichen durch die ›Vernunft‹ die Bejahung des Natürlichen durch den ›Grundwillen‹ des 189 erhaltenden Lebens« . Dieser Entsprechung korrespondiert nach Bonhoeffer eine interne Schutzfunktion des Lebens gegenüber dem Unnatürlichen. Bedroht ist das Natürliche nämlich permanent vom Unnatürlichen. Das Unnatürliche ist dritter und letzter Aspekt der Bonhoefferschen Lebenskonzeption. Es ist der direkte Gegenbegriff zum Natürlichen, das Bonhoeffer ganz analog konstruiert: »Das Unnatürliche ist das nach dem Fall dem Kommen Jesu Christi sich Ver190 schließende« . Denn, so Bonhoeffer, dem Leben nach dem Fall eignet eine relative Selbständigkeit. Es kann sich eben dem Natürlichen gegenüber öffnen oder eben auch verschließen, je nach dem zu welcher Repräsentationsgestalt es sich entschließt. Repräsentiert sich Leben als das Unnatürliche, so kommt es nach Bonhoeffer al191 lenfalls auf »biologische und ideologische Abstraktionen« . Das birgt eine präzise beschreibbare Gefahr: Das Unnatürliche, das sich seinem Grund (göttlicher Liebe) 185 Bonhoeffer, Ethik, 94. 186 Das kreatürliche Leben wird entsprechend ebenso als »Gottesunmittelbarkeit der Kreatur« (Bonhoeffer, Ethik, 94) angesprochen. Und weiter wird die Klimax klar: »Durch den Fall wird die ›Kreatur‹ zur ›Natur‹«. 187 Bonhoeffer, Ethik, 95. 188 Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 95: »Natürliches und Bewusstsein verhalten sich zueinander wie Seins- und Bewusstseinsgestalt des erhaltenen Lebens«. 189 Bonhoeffer, Ethik, 96. 190 Bonhoeffer, Ethik, 93. 191 Bonhoeffer, Ethik, 170.
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und seiner Bestimmung (Jesus Christus) verweigert, verabsolutiert sich als Lebensgestalt. Es macht sich zur Quelle seiner selbst und perpetuiert sich in artifiziellen Organisationsformen, die zeitweilig das Natürliche nachhaltig zu schädigen vermögen. Allerdings ist Bonhoeffer bedingt optimistisch, dass sich über kurz oder lang das Natürliche gegenüber dem Unnatürlichen durchsetzen wird. Hintergrund dieser Überzeugung ist die These, dass das Natürliche die »dem Le192 ben selbst innewohnende und dienende Gestalt« repräsentiert. Das Natürliche gestaltet das Leben und die starke These lautet: Das Natürliche in der benannten Form ist das einzige dem Leben gemäße Gestaltprinzip. Leben ist demnach Gestaltung des natürlichen Seins durch Erkenntnis und Bejahung von dessen Grund und Ziel. Gestaltet sich das Leben anders als dem Natürlichen gemäß, so die negative Gegenthese, zerstört es sich selbst. Bonhoeffer exemplifiziert dies an zwei Extremen: dem Vitalismus und dem Mechanismus. Die Wahl der Beispiele verdankt sich einer Transformation der im Begriff des Natürlichen angetroffenen Dualität. Und zwar war es ein Charakteristikum des Natürlichen, dass es sich in relativer Selbständigkeit seinem transzendenten Grund und Ziel öffnet. Dieses Ineinander von relativer Freiheit und Abhängigkeit, von medialer Einordnung in seine Bestimmtheit und relativ autonomem Selbstvollzug taucht nun auf als Zweiheit von Selbstzwecklichkeit und Funktionalisierung des Lebens, die auf die extremen Theorielagen von Vitalismus und Mechanismus hin konzentriert wird. Beim Vitalismus handelt es sich um eine Verabsolutierungsstrategie, die die Selbstzwecklichkeitsdimension des Lebens unzulässig zum metaphysischen Kardinalsprinzip erhebt. Umgekehrt wird der Mechanismus als Konzept der Überhöhung des Lebensnutzwertes thematisch. Am Einzelnen wie an der Gemeinschaft zeigt Bonhoeffer die aus seiner Sicht lebenshinderlichen Konsequenzen von Vitalismus und Mechanismus auf und unterbreitet thetisch wiederum ein Vermittlungsangebot: »Das natürliche Leben steht zwischen den Extremen des Vitalismus und der Mechanisierung, ist zugleich Leben als Selbstzweck und als Mittel zum Zweck«193. Begründet ist diese These wieder in der Struktur des Natürlichen selbst. Denn Selbstzwecklichkeit weist zurück auf das Geschaffen- und Gefallensein des Natürlichen und die Zweck-Mittel-Rationalität auf das Bestimmt194 sein. Die Differenz zwischen Natürlichem und Unnatürlichem lässt sich schließlich auch freiheitstheoretisch wenden. Sie besteht in einem differenten Umgang mit der benannten relativen Freiheit resp. Selbständigkeit. Beides sind nämlich Erscheinungen die im Zuge des Falls den Status reiner Kreatürlichkeit verlassen haben. Damit sind sie von der Gottunmittelbarkeit in die relative Freiheit übergegan192 Bonhoeffer, Ethik, 97. 193 Bonhoeffer, Ethik, 98. 194 Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 98: »[V]on Jesus Christus her [wird] die Selbstzwecklichkeit des Lebens als Geschöpflichkeit und das Leben als Mittel zum Zweck als Teilnahme am Gottesreich verstanden«.
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Der Theologische Lebensbegriff
gen. Diese relative Freiheit kann nun auf zweifache Weise gebraucht werden. Bonhoeffer spricht von einem echten und von einem verfehlten Freiheitsgebrauch. Echt ist der Gebrauch der Freiheit wieder, wenn das Natürliche sich positiv zu Jesus Christus verhält, verfehlt, wenn es sich Christus verschließt. Vom Unnatürlichen muss entsprechend gesprochen werden, wenn sich das Natürliche als gefallene Schöpfung seinem Grund und seiner Bestimmung verweigert. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann Bonhoeffer schließlich seinen Vorbegriff des Natürlichen präzisieren: »Das Natürliche ist die von Gott der gefallenen Welt erhaltende Gestalt des Lebens, die auf Rechtfertigung, Erlösung und Erneuerung durch Christus ausgerichtet ist«195. Die so in den Begriff des Lebens implementierte Strukturen des Kreatürlichen, Natürlichen und des Christuslebens runden Bonhoeffers Begriff des Lebens ab und fungieren gleichermaßen als Konstruktionsprinzip der projektierten Rechte- und Pflichtenlehre. Die am Orte des natürlichen Lebens erlebbare Selbstzwecklichkeit wird von Bonhoeffer theologisch als Argument für die Entwicklung von Lebensrechten gewendet und die Zweck-Mittel-Rationalität als Grund für die Etablierung 196 eines Pflichtenkataloges eingeführt. Bonhoeffer betont dabei in Opposition gegenüber der idealistischen Denktradition den Primat der Rechtslehre. Theologisch gesprochen handelt es sich hier um die Integration des evangelischen Ineinander von Indikativ und Imperativ. Bekanntlich ist Bonhoeffer nicht mehr dazu gekommen, die Pflichtenlehre auszuarbeiten, sondern es liegen nur die Ausarbeitungen zur Rechtenlehre vor. Und auch sie sind unabgeschlossen. Sie brechen in den Ausführungen zu den ›natürlichen Rechten des geistigen Lebens‹ ab. III.2
Ethische Implikationen
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Bonhoeffers Ethik in letzter Instanz als christozentrische Ethik angesprochen werden kann. Das Christusleben in Korrelation zum Schöpfungsglauben fungiert als konzeptioneller Leitgedanke und entsprechend kann Bonhoeffer es auch als die Leitfrage der Ethik benennen, »wie Christus unter uns heute und hier Gestalt gewinne«197. Exakt in diesem Sinne ver195 Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 94. 196 Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 98: »[I]m Rahmen des natürlichen Lebens [findet] die Selbstzwecklichkeit ihren Ausdruck in den Rechten und das Leben als Mittel zum Zweck seinen Ausdruck in den Pflichten, die dem Leben gegeben sind«. 197 Bonhoeffer, Ethik, 28 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. dazu Green, Freiheit, 315: Jesus Christus ist das Leben, und der Christ lebt in der Dialektik von Gnade und Gericht der Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Christi«. Vgl. dazu auch a.a.O., 328: »Das bedeutet: in ihrem [sc. der Ethik] Zentrum steht die Person Jesus Christus, der menschgewordene Gott, in dem die Welt mit Gott versöhnt ist. Wenn von der Schrift, von Mandaten und Ämtern und natürlichen Rechten und Pflichten als Komponenten von Bonhoeffers Alltagsethik die Rede ist, so haben diese keine alternativen von Christus unabhängigen Grundlagen. Vielmehr sollen der Vorgang und die Inhaltsele-
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steht Bonhoeffer »Ethik als Gestaltung« . Die zentralen ethischen Implikationen, die Bonhoeffer aus dem skizzierten Lebensbegriff ableitet, kondensieren im Begriff Verantwortung. Menschliches Leben im Vollsinne – als Antwort auf das Christusleben – realsiert sich in der Struktur verantwortlichen Lebens, die als wesentliche Momente Stellvertetung, Wirklichkeitsgemäßheit, Selbprüfung und das Wagnis der Entscheidung umfasst: »Dieses Leben als Antwort auf das Leben Jesu Christi 199 [...] nennen wir ›Verantwortung‹« . Sphären dieser Verantwortungübernahme sind die von Bonhoeffer so genannten Mandate, die Bonhoeffer in dieser Kompilation der Bibel entnimmt: »Die Schrift nennt vier solche Mandate: Die Arbeit, Die 200 Ehe, die Obrigkeit, die Kirche« . Stellvertretung meint dabei ganz konkret das Handeln an Stelle anderer Menschen, das aber dabei in Orientierung an Christus das eigene Leben vollkommen in 201 den Dienst des anderen stellt. Wirklichkeitsgemäßheit meint eine Begrenztheit verantwortlichen Handelns durch die konkrete Handlungssituation. Sie steht in
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mente ethischer Gestaltwerdung Christi im menschlichen Leben in Kirche und Gesellschaft konkret aufgewiesen werden«. Vgl. auch die Zusammenfassung Dramms: »Die Wirklichkeit Gottes wurde konkret in Jesus Christus – wie wird sie konkret in dieser Welt?« (Dramm, Bonhoeffer, 113). Vgl. endlich auch Wüstenberg: »In seiner christologischen Tendenz hat der Lebensbegriff erkenntnistheoretische Bedeutung: Der lebensphilosophische Erkenntnisgrund Diltheys, der in der Frage nach dem Rätsel des Lebens gründet, wird bei Bonhoeffer zum Rätsel des christlichen Lebens als der Teilnahme am Sein Jesu« (Wüstenberg, Theologie des Lebens, 139. [Hervorhebung i. Orig.]). Wüstenberg hat den lebens-christologischen Fokus in sachlicher Nähe zu Bonhoeffers Idee des nichtreligiösen Interpretierens biblischer Begriffe analysiert: »Die nichtreligiöse Interpretation ist eine lebens-christologische Interpretation, die den christlichen Glauben und das mündige Leben aufeinander bezieht« (Wüstenberg, Theologie des Lebens, 148). So die Überschrift des ersten Teils der ›Ethik‹ in der ersten Druckfassung nach dem Krieg. Sein spezifischen Gestaltbegriff, der immer schon eine Mit-Christus-Gleichgestaltet-Werden in der Trias von Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung impliziert, erschließt Bonhoeffer dabei folgendermassen: »Nicht um Weltgestaltung durch Planung und Programme geht es ihr in erster Linie, sondern es geht ihr bei aller Gestaltung allein um die eine Gestalt, die die Welt überwunden hat, um die Gestalt Jesu Christi. Gestaltung gibt es nur von ihr aus, und nun wiederum nicht so, daß die Lehre Christi oder die sog. christlichen Prinzipien in direkter Weise auf die Welt angewendet und die Welt gestaltet werden sollte. Gestaltung gibt es vielmehr allein als eine Hineingezogensein in die Gestalt Christi, als Gleichgestaltung mit der einzigen Gestalt des Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen« (Bonhoeffer, Ethik, 24 [Hervorhebung i. Orig.]). Zu Bonhoeffers Kritik des Prinzipiellen vgl. a.a.O., 11ff. Bonhoeffer, Ethik, 172. In systematischer Nähe zu Ritschl und seiner Interpretation der Theologischen Meisterfrage von Freiheit und Abhängigkeit fasst Bonhoeffer dabei Stellvertretung und Wirklichkeitsgemässheit als Momente der »Bindung des Lebens an Mensch und Gott« (Bonhoeffer, Ethik, 174) auf und Selbstprüfung und Wagnis als Erscheinung der »Freiheit des eigenen Lebens« (Bonhoeffer, Ethik, 174). vgl. dazu Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnuung III3, 275–279. Bonhoeffer, Ethik, 70 (Hervorhebung und Grossschreibungen i. Orig.). »Daß Verantwortung auf Stellvertretung beruht, geht am deutlichsten aus jenen Verhältnissen hervor, in denen der Mensch unmittelbar genötigt ist, an der Stelle anderer Menschen zu handeln, also etwa als Vater, als Staatsmann, als Lehrmeister. [...] Stellvertretung und also Verantwortlichkeit gibt es nur in der vollkommenen Hingabe des eigenen Lebens an den anderen Menschen. Nur der Selbstlose lebt verantwortlich, und das heißt, nur der Selbstlose lebt« (Bonhoeffer, Ethik, 175 [Hervorhebung i. Orig.]). Vgl. dazu Green, Freiheit, 316.
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Der Theologische Lebensbegriff
Abgrenzung von prinzipienethischen Ansätzen für die christlich-ethische Kompetenz, »das in der gegebenen Situation Notwendige, ›Gebotene‹ zu erfassen und zu tun. Die gegebene Situation für den Verantwortlichen ist nicht einfach Stoff, dem er seine Idee, sein Programm aufzwingen, aufprägen wollte, sondern sie wird als 202 die Tat mitgestaltend in das Handeln mit einbezogen« . Das, was Bonhoeffer unter Selbstprüfung versteht, entfaltet er im Versuch der Reformulierung des protestantischen Gewissensverständnisses. Das Gewissen hat zwar seinen »Ursprung und sein Ziel in der Autonomie des eigenen Ichs«, wird aber aus der Perspektive der Teilhabe an Christus zum »in Jesus Christus befreiten Gewissen, das zur Einheit 203 mit sich selbst in Jesus Christus ruft« . Das Wagnis der konkreten Entscheidung besteht endlich darin, die gegebene Freiheit im Wissen um die Möglichkeit des Verfehlens des Guten zu riskieren. Das Unprinzipielle und Situative der Bonhoefferschen Ethik kennt keine Erfolgsgarantie. Weil es kein letztes Wissen um das Gute gibt, ist jeder Versuch der Realisierung risikobehaftet. Aber im Wagnis des Risikos stellt sich der Handelnde mit seiner Tat Gottes Führung anheim: »Freie Tat erkennt sich zuletzt als Gottes Tat, Entscheidung als Führung, Wagnis als göttliche 204 Notwendigkeit« . Abschließend soll auf von Bonhoeffer selbst diskutierte Konkretisierungen des umrissenen Ansatzes eingegangen werden. Es ist wiederum dem Fragmentcharakter der Ethik geschuldet, dass diese nicht immer in systematischer Korrelation mit der vorausgesetzten Konstruktion entfaltet werden. Hinzu kommt, dass es gemäß dem situativen Anspruch der Ethik Bonhoeffers keine eindeutigen systematischen Entsprechungen geben kann. Die in dieser Sache interessanten Konkretisierungen finden sich in den Skizzen zur bereits benannten Rechtslehre. Dass Bonhoeffer den theologisch nicht unbelasteten Gedanken natürlicher Rechte für sich reklamiert, ist schöpfungstheologisch und christologisch begründet. Dies war genau der Einsatzort der Rechtenlehre und zu dieser Begründung sieht sich Bonhoeffer durch die am Begriff des natürlichen Lebens profilierte Rückgewinnung des Bereiches des Natürlichen berechtigt, was einem positiv-integrativen Rekurs auf Schlüsselmomente der Naturrechtstradition gleichkommt.205 »Daß es ein natürliches Recht des Einzelnen gibt, folgt aus dem Willen Gottes, den Einzelnen zu schaffen und ihm das ewige Le206 ben zu schenken« . Qua seiner Geschaffenheit und Ausgerichtetheit ist das natürliche Leben also gewissermaßen apriori wertvoll. Bezugsgröße dieses Rechtes ist der Leib. Es entspricht der benannten Tendenz zur positiven Integration des Natürlichen, dass Bonhoeffer entgegen geradezu leibfeindlichen Traditionssträngen auch der evangelischen Ethik, der Leiblichkeit äu202 203 204 205 206
Bonhoeffer, Ethik, 177. Bonhoeffer, Ethik, 188f (Hervorhebung i. Orig.). Bonhoeffer, Ethik, 194. Zu Bonhoeffers Rezeption der Naturrechtslehre vgl. Feil, Theologie Bonhoeffers, 359ff. Bonhoeffer, Ethik, 101.
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ßerst positiv gegenüber steht. Leiblichkeit und Menschsein gehören für ihn untrennbar zusammen und die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Freuden des Leibes, wie Wohnung, Essen und Trinken, Mode, Spiel und Geschlechtlichkeit werden entsprechend betont. Die Freuden des Leibes sind dabei in letzter Konsequenz hin organisiert auf die verheißene eschatologische Freude und alle mit den Freuden des Leibes verbundenen kulturellen Formierungen haben dementsprechend eine über ihren primären Zweck hinausweisende Bedeutung. So ist die Wohnung nicht nur Behausung, sondern auch Ort der Geborgenheit und Begegnung. Die Kleidung erfüllt nicht nur eine Schutzfunktion, sondern dient der Verschönerung des Leibes. Essen und Trinken fungieren nicht nur als Sicherstellung der physischen Existenz, sondern bilden Möglichkeiten leiblichen Genusses. Das Spiel ist Ausdruck einer in sich zurückgezogenen Selbstzwecklichkeit des Leibes. Und auch die Sexualität wird nicht nur im Hinblick auf die Fortpflanzung thematisch, sondern erscheint auch als Ort der Freude und des gemeinsamen Erlebens. Methodisch dient diese Betonung der Freuden des Leibes auch einer indirekten Absicherung des Lebens selbst. Die Schädigung des Leibes bedeutet gleich eine starke Einschränkung der Fähigkeit zur Freude. Das natürliche Leben ist in seinem Ausgerichtetsein auf Jesus Christus ein freudiges Leben. Im Hinblick auf den Leib im engeren Sinne unterscheidet Bonhoeffer zwei Grundrechte. Das erste lautet: »Das erste Recht des natürlichen Lebens besteht in der Bewahrung des leiblichen Lebens vor willkürlicher Tötung«207. Wichtig ist hierbei festzuhalten, dass Bonhoeffer keineswegs für einen absoluten Lebensschutz plädiert. Vielmehr räumt er in Spezifizierung des terminus »willkürlich« ein, dass das Töten im Krieg, die Todesstrafe und Töten im Sinne von Kolateralschäden nicht mitgemeint sind. Das zweite Lebensrecht heißt: »Der Leib des Menschen hat 208 in sich ein Recht auf Unantastbarkeit« . Im Zuge der Exposition dieser elementaren Lebensrechte erörtert Bonhoeffer die Problemfelder von Euthanasie, Suizid, Schwangerschaftsabbruch, Geburtenkontrolle (hierbei auch die Zwangssterilisati209 on) und Freiheitsberaubung. Der Umgang mit der Euthanasieproblematik lässt erkennen, dass Bonhoeffer durchaus mit der Praxis der NS-Euthanasie vertraut war. Es ist darüberhinaus aus anderen Quellen bekannt, dass sich Bonhoeffer mit dieser für ihn aktuellen The210 matik gründlich auseinandergesetzt hat. Ab Ende 1939 hatten die Nationalsozialisten begonnen, Schwerst- und Geisteskranke zu konzentrieren und umzubringen. Der Befehl zur Vernichtung des so genannten lebensunwerten Lebens kam von Hitler persönlich. Bereits zu Kriegsbeginn, am 1. September 1939, erschien der so genannte ›Euthanasiebefehl‹, der unheilbar Kranken den zynisch so bezeichneten Gnadentod gewähren sollte. Daraufhin wurden Geisteskranke, ansonsten Körper207 208 209 210
Bonhoeffer, Ethik, 103. Bonhoeffer, Ethik, 122. Zu den Bsp. vgl. jeweils kritisch Dramm, Bonhoeffer 124ff. Vgl. dazu Gerrens, Medizinisches Ethos, 121ff.
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behinderte, Epileptiker, Blinde, Gehörlose, Alkoholiker und z.T. auch politische Gegner systematisch erfasst, es wurden Gutachten erstellt und ein Gremium von Obergutachtern entschied über Verlegung in eine Tötungsanstalt, z.B. Schloss Grafeneck. Die gesamte Operation trug den Decknamen ›T4‹ (benannt nach der Zentrale in der Tiergartenstrasse 4 in Berlin). Bis 1941 fielen ihr schätzungsweise 80.000–100.000 Menschen zum Opfer. 1941 wurde die Aktion auf Druck der Öffentlichkeit offiziell eingestellt, aber inoffiziell und weitgehend unkontrolliert weiterverfolgt. Flankiert wurde die Operation T4 durch die Maßnahme 14f13. Das war die Bezeichnung für die Ermordungen Geisteskranker in den Konzentrationslagern, die ebenfalls dem T4-Personal oblag. Bonhoeffer bezieht angesichts dieser Vorgänge eine denkbar klare Position. Grundsätzlich gilt: Das Leben hat ein Vorrecht gegenüber seiner Vernichtung. Das bedeutet die Begründungslast wird an die Euthanasiebefürworter delegiert. Für die Euthanasie kann es dabei nur zwei Motivationen geben, die Bonhoeffer einer kritischen Analyse unterzieht. Die erste Möglichkeit besteht darin, die Tötung eines Patienten mit dem Verweis auf den Kranken selbst zu begründen. Indiskutabel sind dabei die Fälle, wo kein erklärter Todeswunsch des Kranken selbst vorliegt, wie bei geistig Behinderten oder Depressiven. In diesen Fällen ist die Tötung willkürlich und dies entspricht einer Verletzung des zugrunde gelegten Lebensrechtes. In dem Fall, in dem eine Willenserklärung des Todkranken vorliegt, ist die geistige Klarheit des Patienten zu prüfen. Ist diese tatsächlich gegeben, so stellt sich die Sachfrage als eine des assistierten Suizids, der aktiven Euthanasie (Töten), der passiven Euthanasie (Sterbenlassen) oder es selbständigen oder assistierten Suizids. Es liegt in der Tendenz der Ausführungen Bonhoeffers, dass er der aktiven Euthanasie eine Absage erteilt, wohl aber der passiven ein gewisses Recht einräumt, da nicht immer alle denkbaren Mittel zur Vermeidung des Todes aufgeboten werden können. Allerdings erweist sich auch diese als wenigstens problematisch. In Bezug auf die aktive Euthanasie diskutiert Bonhoeffer eine zeitgenössische Begründungsstrategie, die mit Verweis auf die Gesunden operiert. Der Wert eines Lebens wird hierbei durch seinen Nutzwert für die Gemeinschaft bestimmt. Ist dieser nicht oder nicht mehr gegeben, so lässt sich daraus ein Argument für die Tötung ableiten, die dann im direkten Interesse der gesunden und leistungsfähigen Lebensgemeinschaft liegt. Das von Bonhoeffer vorgetragene Gegenargument lautet wie folgt: Dergestaltige Werturteile über den Wert menschlichen Lebens sind in höchstem Masse willkürlich und laufen notorisch dem eingeräumten Lebensrecht konträr. Dies gilt auch für Erbkrankheiten sowie dem Versuch, geistig Behinderten das Menschsein absprechen zu wollen. Alle diese Urteile sind willkürlich; genauso wie übrigens auch die dahinter stehende Verabsolutierung der Gesundheit. Größeren Spielraum erkennt Bonhoeffer in Bezug auf die Selbsttötung. Es liegt in der direkten Flucht der Gedankenentwicklungen Bonhoeffers, dass er sich einen Fall vorstellen kann, in dem die Selbsttötung begründbar ist. Und zwar dann, wenn
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nicht das Eigeninteresse des Kranken im Blick ist, sondern der eigene Tod als Opfer um anderer willen kalkuliert wird. Er notiert: »Wenn ein unheilbar Kranker sehen muss, dass seine Pflege den materiellen und seelischen Zusammenbruch seiner Familie zur Folge hat, und durch eigenen Entschluß die Seinen von dieser Last befreit, so mögen gewiß manche Bedenken gegen so eigenmächtiges Handeln bestehen, dennoch wird eine Verurteilung auch hier nicht möglich sein. Eine Absolutsetzung des Verbotes der Selbsttötung gegenüber der Freiheit des Lebens211 opfers läßt sich angesichts solcher Fälle schwerlich begründen« . Wichtig ist, dass dieser Fall keineswegs die Begründung der Euthanasie mit Rücksicht auf den Kranken bedeutet und so resümiert Bonhoeffer: »Es ergibt sich somit, daß die Rücksicht auf den Kranken nicht als zureichender Grund für die Notwendigkeit 212 der Tötung menschlichen Lebens gelten kann« . Euthanasie erweist sich in letzter Instanz als lebenshinderlich, sie gehört in den Bereich des Unnatürlichen. Bemerkenswert ist ein von Bonhoeffer konstruierter Grenzfall: Auf einem Boot ohne Isolierungsmöglichkeit bricht die Pest aus und die Gesunden können nur durch den Tod der Kranken gerettet werden. Bonhoeffer merkt hier an: »In diesem 213 Fall müsste die Entscheidung offen bleiben« . Dies ist wohl so zu interpretieren, dass an dieser Stelle das Dilemma nicht vom Grundsatz des Primats des Lebensvorrechts her entschieden werden kann. Hier steht Leben gegen Leben. Und es gibt weder gute Gründe für noch gegen die Selbst- oder Fremdtötung. In der Phalanx der Gedankenentwicklung Bonhoeffers müssten sich entweder die Kranken an dieser Stelle opfern, oder die Entscheidung obliegt dem Risiko der freien Verantwortung des Agenten, der an dieser Stelle wirklichkeits- wie sachgemäß zu handeln hat und gegebenenfalls Schuld zu übernehmen und vor seinem Gewissen zu verantworten hat. Hier gilt dann, was Bonhoeffer im Hinblick auf den Suizid resümiert: »Wer aber wollte sagen, daß Gottes Gnade nicht auch das Versagen unter dieser härtesten Anfechtung zu umfassen und zu tragen vermöchte?«214. Weniger eindeutig sind die Stellungnahmen Bonhoeffers zur Sterilisation. Bereits am 14. Juli 1933 wurde in Nazideutschland das ›Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹ erlassen. Der Sache nach handelte es sich um ein Sterilisationsgesetz, das für von Geburt an Schwachsinnige, Schizophrene, ManischDepressive, Epileptiker, Blinde und Taube und schwer Missgebildete galt. Über Sterilisation hatte das Erbgesundheitsgericht (Amtsrichter, Beamter, Arzt) oder die betroffene Person selbst zu befinden. Der Sache nach war ein Einspruch gegen eine Entscheidung möglich, kam jedoch kaum vor. Auch im Hinblick auf die Sterilisation erörtert Bonhoeffer zwei Varianten. Zum einen die Sterilisation aus pathologischen Gründen und zum anderen infolge staatlicher Verordnung. Im Hinblick auf beide gilt der Grundsatz, dass es ein Recht auf 211 212 213 214
Bonhoeffer, Ethik, 115. Bonhoeffer, Ethik, 108. Bonhoeffer, Ethik, 110. Bonhoeffer, Ethik, 166.
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Unantastbarkeit des Leibes gibt. Die Sterilisation ist grundsätzlich als eine Verletzung dieses Rechtes anzusehen. Allerdings geht Bonhoeffer im Hinblick auf eine medizinisch motivierte Sterilisation von der Überzeugung aus, »daß die Sterilisati215 on in bestimmten Fällen ärztlich sinnvoll und zweckmäßig ist« . Dies betrifft genau Fälle, bei denen eine Selbst- und Fremdgefährdung nicht ausgeschlossen wer216 den kann und eine Selbstkontrolle des Betroffenen unmöglich ist. Auch einer gesetzlich verordneten Sterilisation steht Bonhoeffer nicht pauschal ablehnend gegenüber. Vor dem Hintergrund einer (vom Staat her gesehen) prinzipiellen Begrenztheit des Unversehrtheitsrechtes, kann er – aus staatlicher Perspektive – die Motivation, nämlich das Interesse an der »Erhaltung des allgemeinen völ217 kischen Lebens« rational nachvollziehen. Freilich greift auch an dieser Stelle der Grundsatz des Rechtes auf körperliche Unversehrtheit und er wird flankiert durch ein Dammbruchargument. Die Einführung einer staatlich verordneten Sterilisation ginge einher mit der Gefahr, die Unantastbarkeit des Lebens dann immer weiter bis hin zur Willkür aufzuweichen. Um die Gefahr eines Dammbruches auszuschließen, empfiehlt Bonhoeffer die Internierung derer, die sich nicht freiwillig 218 219 dem »direkten leiblichen Eingriff« unterziehen. Der Sache nach findet Bonhoeffer im Matthäusevangelium einen klassischen Beleg für seine Argumentation. Er notiert: »Die Grenze aller dieser Überlegungen ist erreicht vor dem Wort Jesu: ›Ärgert dich dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen 220 werde‹ [Mt 529]« . Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Bonhoeffer die beiden Problemfelder von Euthanasie und Sterilisation unterschiedlich bewertet. Das natürliche Leben, das qua seiner Geschaffenheit durch und Bestimmtheit auf Gott hin ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit beanspruchen darf, kann diese Rechte nicht verabsolutieren. Es gibt kein absolutes Tötungsverbot, genauso wenig wie es einen absoluten Anspruch auf körperliche Integrität gibt. Allerdings: Euthanasie ist für Bonhoeffer grundsätzlich problematisch. Egal, ob auf Verlangen oder nicht, ob aktiv oder passiv: Sie gerät faktisch immer in Gefahr, Willkür gegenüber dem Leben walten zu lassen und damit das theologisch begründete Lebensrecht strukturell zu verletzen. Dies trifft auch für das Selbstopfer zu, das allerdings dann nicht verurteilbar ist. Freilich räumt Bonhoeffer ein, dass es
215 Bonhoeffer, Ethik, 122 (Anm. 12). 216 Es stellt sich hier die Frage, was genau gemeint ist. Meint Bonhoeffer an dieser Stelle nicht eigentlich die Kastration, weil eine Sterilisation das pathologische Triebpotential faktisch nicht abbauen würde? 217 Bonhoeffer, Ethik, 123. 218 Bonhoeffer, Ethik, 123. 219 Im Hintergrund dürfte wieder ein Opfer-Argument stehen. Eigentlich müsste von den Kranken Enthaltsamkeit oder freiwillige Sterilisation als Opfer an die Gemeinschaft erwartet werden. 220 Bonhoeffer, Ethik, 124.
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auch quasi unentscheidbare Dilemmasituationen geben kann. Trotzdem ist Euthanasie unnatürlich. Bezüglich der Sterilisation erkennt Bonhoeffer einen gewissen Spielraum. Dies dürfte sich der nicht gänzlich unrealistischen Position verdanken, dass die körperliche Integrität weder in ihrer natürlichen Ausstattung vor Korruption durch Krankheit sicher ist, noch ein durch Krankheit korrumpiertes Leben in sozialen Kontexten absolut gesetzt werden kann. III.3
Würdigung
Eine Würdigung des theologischen Lebensbegriffes Bonhoeffers fällt nicht leicht, schon gar nicht in einer Zeit in der die Aufmerksamkeit zum 100. Geburtstag Bonhoeffers ihre volle publizistische Wirkung entfaltet hat. Kurioserweise entspricht dieser Aufmerksamkeit, die v.a. auf die Biographie und den Lebensweg Bonhoeffers abstellt, nicht eine, die sich auch seinem theologischen Nachdenken in wissenschaftlicher Absicht in gleicher Extensität stellte. An dieser Stelle gilt es festzuhalten, dass Bonhoeffer (wie Schweitzer im Übrigen auch) im wissenschaftlichen Sinne als theologischer Außenseiter gilt.221 Und es steht nicht zu erwarten, dass sich dies in absehbarerer Zeit ändert: Bonhoeffer war eben nur zu einem Teil Wissenschaftler – ebenso war wenigstens Kirchenmann und Widerständler – und auch da ist vieles unabgeschlossen geblieben. Dennoch soll es versucht werden, auf mögliche positive Gehalte des hier skizzierten Lebensbegriffes Bonhoeffers hinzuweisen. Erstens: Das Erfrischende an Bonhoeffers Lebensbegriff ist zunächst, dass es ein dezidiert theologischer Lebensbegriff ist. Dies ist umso höher einzuschätzen, weil es so etwas wie einen tragfähigen theologischen Lebensbegriff von Seiten der evangelischen Ethik zurzeit nicht gibt. Abgesehen von Albert Schweizer dürfte Bonhoeffer einer der wenigen sein, die sich im 20. Jahrhundert der Aufgabe eines theologischen Lebensbegriffs gestellt haben. Der Lebensbegriff Bonhoeffers reagiert dabei auf eine bestimmte theologische Problemlage und versucht diese hin auf eine auch heutzutage noch relevante Polarität zu entfalten. Bei Bonhoeffer ist es die Polarität von Vitalismus und Mechanismus und es dürfte unstrittig sein, dass das Leben strukturell etwas ist, das sowohl mit naturwissenschaftlichen wie mit geisteswissenschaftlichen, besser theologischen Kategorien beschreibbar ist. Und: Bonhoeffer kann diese Polaritäten ganz unverkrampft in einer Christozentrik zusammenbringen, die im Christusleben den entscheidenden Fluchtpunkt verantwortlicher Lebensführung erblickt. Zweitens: Damit zusammenhängend ist es begrüßenswert, dass Bonhoeffer sich der Sphäre des Natürlichen produktiv stellt. In dieser Beziehung erweist er sich als
221 Zu Schweitzer vgl. z.B. Brück, Ethische Mystik, 194; zu Bonhoeffer z.B. Fischer, H., Systematische Theologie, 179.
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Der Theologische Lebensbegriff
jemand, der die Gefahren einer theologischen Überhöhung resp. Abwertung des Natürlichen deutlich gesehen hat. Das Natürliche als integraler Bestandteil des menschlichen Lebens, im engeren Sinne der Leib, muss integraler Bestandteil der ethischen Reflexion sein. Menschlich und sympathisch an dieser Stelle: die prinzipielle Aufgeschlossenheit gegenüber den Freuden des Leibes. Drittens: Hinzu kommt in positiver Hinsicht die dezidiert praktische Orientiertheit und Zeitgemäßheit. Die spezifische Fassung des Lebensbegriffs weiß sich als das Ergebnis einer bewussten Reflexion auf akute Probleme. Sie will nicht abstrakte Probleme durchklären, sondern sich ganz in den Dienst aktueller Problembewältigung stellen. Viertens: Schließlich besticht auch ein gewisser Realismus des Lebensbegriffes. Bonhoeffer ist sich im Klaren darüber, dass seine spezifische Fassung des Lebensbegriffs nicht universal ist und für alle Fälle gleichermaßen ethische Orientierungskompetenz für sich beanspruchen darf. Insofern konzediert er Grenzfälle, bei denen sich Grauzonen der Unentscheidbarkeit ergeben und bei denen das Risiko der Verantwortungsübernahme und des Schuldigwerden unausweichlich werden. Allerdings lassen sich im Hinblick auf die genannten Punkte auch Bedenken formulieren. Erstens: So lässt sich im Hinblick auf die spezifische Fassung und Begründung des theologischen Lebensbegriffs Bonhoeffers fragen, inwieweit die in letzter Instanz schöpfungstheologische Absicherung noch vermittelbar ist. Bonhoeffer inszeniert sie als allgemein verbindliches und vorauszusetzendes Fundament. Unter den Bedingungen von Säkularisierung und Religionspluralismus erscheint es nur schwer möglich, Glaubensgehalte unreflektiert im gestus der Allgemeinverbindlichkeit zu argumentieren. Ein theologischer Lebensbegriff, der Gehör finden will, muss die hermeneutischen Rahmenbedingungen und Konsequenzen der Vermittlung seiner selbst methodisch und inhaltlich reflektieren: sei es als eine ihrer Grenzen bewusste Auslegung des christlichen Ethos oder als wissenschaftstheoretische Selbstbesinnung. Die Anleihen an die Naturrechtstradition sind ein Schritt in diese Richtung, aber nicht konsequent durchgeführt. Zweitens: Wenn Bonhoeffer die Sphäre des Natürlichen positiv integriert, so ergibt sich mit Blick auf die konkrete Gestalt desjenigen, was Bonhoeffer als natürliches Leben entwirft, das Problem, ob dies überhaupt mit den gängigen Sprachregelungen und Vorstellungen des Natürlichen kompatibel ist. Lässt sich möglicherweise Bonhoeffers Begriff des Natürlichen als bereits theologisierte oder inkulturierte Natur enttarnen, und das, was Bonhoeffer als das Unnatürliche bezeichnet, als das, was üblicherweise unter Natur oder dem Natürlichen verstanden wird? Kurz: Wie natürlich ist Bonhoeffers Begriff des Natürlichen eigentlich noch? Drittens: Dies betrifft den allgemeinen Punkt der Zeitbedingtheit. Bonhoeffer reagiert mit seiner Theorie auf eine sehr exzeptionelle Situation. Auch wenn von den diskutierten Problemfeldern Bonhoeffers Erörterung der so genannten Euthanasie die aktuellen Sterbehilfedebatten teilweise berührt, ist grundsätzlich darauf
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
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hinzuweisen, dass die Transformation zeitbedingter Einsichten niemals unkritisch vorgenommen werden darf. Viertens: Sicher ist es realistisch auf Grenzfälle und sich daraus ergebende Alterierungen hinzuweisen. Aber letztlich bedeuten Grenzfälle immer auch ein gewisses theoretisches Risiko. Wer Grenzfälle einräumt, gerät in die Verantwortung, die Grenzfälle entsprechend zu spezifizieren. So entstehen Bedingungskataloge, die zwar die Subsumption von Fällen gestatten, aber zu einer Entindividualisierung der ethischen Entscheidung führen. Dies hat im Hinblick auf die individuelle Situation z.B. Sterbender fatale Konsequenzen.222 Im letzten Abschnitt der Arbeit wird dann auch darauf zu sehen sein, ob und inwieweit Anstöße Bonhoeffers mit in die Reformulierung eines theologischen Lebensbegriffes einfliessen können. Dann soll es v.a. darum gehen, im kritischen Rückgriff auf die diskutierten Konzepte (den organismischen Lebensbegriff, den metaphysischen Lebensbegriff, den molekularbiologischen Lebensbegriff) Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffes zu entwickeln. Zuvor ist jedoch noch auf einen Autor einzugehen, der den wohl komplexesten theologischen Lebensbegriff bislang entwickelt hat: Paul Tillich.
IV.
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
Paul Johannes Tillich wurde am 20. August 1886 in Starzeddel bei Guben geboren und verstarb am 22. Oktober 1965 in Chicago/Il (USA). Er gilt als einer der bedeutensten Theologen und Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts und hat insbesondere mit seiner dreibändigen Systematischen Theologie (1951ff./dt. 1955ff.) großen Einfluss auf die theologische Entwicklung nach dem Zweiten 223 Weltkrieg in Europa und Amerika genommen. Der Begriff des Lebens spielt dabei für das theologische und philosophische Denken Paul Tillichs eine gleichsam unverzichtbare Rolle und zwar quer durch sein gesamtes Schaffen hindurch. Bereits in den frühesten und frühen Texten hat der Lebensbegriff eine zentrale Stellung inne. So beginnt eine 1906 verfasste Se224 minararbeit mit einer Exposition des »menschlichen Geisteslebens« . Und in seiner theologischen Lizenziaten-Dissertation ›Mystik und Schuldbewußtsein in 222 Vgl. dazu Fischer, J., Suizidbeihilfe und die Rolle der Ethik, 4. 223 Damit steht Tillich auch in einer Reihe mit den großen Lutherischen Theologen, die dem Religionsbegriff entsprechende Aufmerksamkeit schenken. Der Religionsbegriff begegnet zuerst bei Abraham Calov, vgl. Calov, Systema I, 91ff.: Religion ist, wie Calov am Beispiel des Christentums exemplifiziert, »ratio a Deo praescripta, qua homo a Deo alienus ad Deum, per fidem in Christum Deum et hominum, perducitur, ut eo aeternitatem fruatur«. Zum Religionsbegriff Calovs vgl. auch Jung, Das Ganze der heiligen Schrift, 249ff. 224 Gemeint ist die Arbeit ›Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium‹ (Zit. a.a.O., 4; Hervorhebung v. Vf.). Das menschliche Geistesleben bestimmt Tillich dabei als Ineinander von Denken und Wollen (vgl. a.a.O., 4f.).
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Der Theologische Lebensbegriff
Schellings philosophischer Entwicklung‹ von 1912 erachtet es Tillich als seine 225 Aufgabe, »die ernsthaftesten Angelegenheiten des geistigen Lebens« , und ge226 meint ist konkret die bedrohte »Einheit des religiösen Lebens« , im Anschluss an 227 Schelling durchsichtig zu machen. In den nachfolgenden wegweisenden Texten (v.a. in der ›Systematischen Theologie‹ von 1913, der ›Marburger‹ resp. ›Dresdner 228 Dogmatik‹ von 1925–27 und v.a. in der späten ›Systematischen Theologie‹) 229 avanciert der Terminus Leben nachgerade zu einem Fundamentalbegriff. Es liegt auf der Hand, dass im Rahmen der spezifischen Konfiguration dieses Kapitels eine erschöpfende Darstellung des Lebensbegriffes Paul Tillichs in seinen systematischen Voraussetzungen, geistesgeschichtlichen Referenzen und konzeptionellen Reichweiten nicht geleistet werden kann, geht es doch primär um eine vergleichende Rekonstruktion und Darstellung von theologischen Konzeptualisierungen des Lebensbegriffs vor dem Hintergrund der behandelten Konfigurationen des organismischen, metaphysischen und molekularbiologischen Lebensbegriffs mit dem Ziel, Grundkoordinaten eines theologischen Lebensbegriffes v.a. auch in ethischer Perspektive zu erarbeiten. Das bedeutet des Näheren, dass auf eine umfassende werkgeschichtliche Annäherung verzichtet werden muss. Davon ist in erster Linie Tillichs Lebensbegriff in der ›Dresdner Dogmatik‹ von 1925–27 betroffen. An dieser Stelle kann auf die ausführliche Rekonstruktion Tom Kleffmanns verwiesen werden, der dem Lebensbegriff der ›Dresdner Dogmatik‹ insbesondere in sei-
225 Tillich, Mystik und Schuldbewußtsein, 16 (Hervorhebung v. Vf.). 226 Tillich, Mystik und Schuldbewußtsein, 22 (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. auch a.a.O., 101: »Die Religion ist keine Geistesfunktion neben anderen, noch kann sie als Appendix einer der genannten Funktionen [sc. Denken, Handeln, Anschauen] aufgefaßt werden. Sie begründet das Leben, die Substanz des Geistes vor aller Funktion« (a.a.O., 101 [Hervorhebung v. Vf.]). 227 In der philosophischen Dissertation von 1910 ›Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien‹ wird der terminus Leben nicht in dieser Form explizit. Wohl aber setzt sich Tillich in einer längeren Partie mit Schellings Philosophem des unendlichen Lebens des Alls auseinander. Das von Tillich dabei bearbeitete Problem ist das von Zeit und Ewigkeit, das seiner Meinung nach eine im Zusammenhang einer religionsaffinen Geschichtsphilosophie unbedingt zu klären ist: »Jede Geschichtsphilosophie, die das reale Eingehen Gottes in die Geschichte behauptet, muß das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit untersuchen« (Tillich, Religionsgeschichtliche Konstruktion, 255). Dass dies für Schelling zutrifft, hängt u.a. mit der Einschätzung Tillichs zusammen, dass »der Idealismus nicht nur eine wissenschaftliche, sondern vor allem eine religiöse Bewegung« ist (Tillich, Religionsgeschichtliche Konstruktion, 159). 228 Tillich hielt allein den ersten Teil der fraglichen Vorlesungen (Dogmatik I) in Marburg, und zwar in seinem letzten Marburger Semester (Sommersmester 1925). Diese Vorlesung wiederholte er dann in seinem ersten Semester an der Sächsischen Technischen Hochschule in Dresden (Wintersemester 1925/26) und setzte sie dort bis zum Wintersemster 1926/27 fort. Aufgrund dieses Sachverhaltes haben Werner Schüßler und Erdmann Sturm vorgeschlagen, die ›Marburger Dogmatik‹ besser als ›Dresdner Dogmatik‹ anzusprechen (vgl. Schüßler/Sturm, Vorwort, V und Schüßler/Sturm, Historische Einleitung, XXI). Diesem Vorschlag wird hier gefolgt. Schüßler/Sturm vermuten, dass Tillich die Vorlesung zeitgleich auch in Leipzig gehalten hat (Schüßler/Sturm, Historische Einleitung, XXIX). 229 Vgl. Danz, Religion als Freiheitsbewusstsein, 275.
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ner Reaktion auf die Philosophie Nietzsches detailliert nachgegangen ist. Und auch der Lebensbegriff der späten ›Systematischen Theologie‹ kann keinesfalls umfassend ausgeleuchtet werden. In dieser Beziehung ist auf die systematisch klare wie hochstufige Interpretation von Christian Danz aufmerksam zu machen, der (im Gespräch mit den Tillich-Interpretationen von Gunther Wenz, Joachim Ringleben und Falk Wagner) unter primärer Fokussierung auf die späte ›Systematische 231 Theologie‹ eine »idealtypische Rekonstruktion der Theologie Tillichs« vorgelegt hat, die sie unter erklärter produktiver Berücksichtigung von deren subjektivitätstheoretischen Voraussetzungen als Theorie der Konstitutionsbedingungen endli232 cher Freiheit expliziert. An dieser Stelle soll und kann es in erster Linie darum gehen, den Lebensbegriff in der Theologie Paul Tillichs strukturell zu rekonstruieren und seine spezifisch theologische Handhabe des Lebens aufzuarbeiten. Um das charakteristische Profil des theologischen Lebensbegriffs Tillichs dabei prägnant hervortreten zu lassen, ist in einem ersten Schritt zunächst ein Blick in die frühe ›Systematische Theologie‹ von 1913 zu werfen. Dies nicht nur, weil der Lebensbegriff der frühen ›Systematischen Theologie‹ von 1913 bislang noch nicht im Zentrum der Forschung stand, sondern v.a. auch deshalb, weil sich dort einerseits das spezifische Oszillieren des Tillichschen Lebensbegriffes im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie paradigmatisch nacharbeiten lässt und andererseits bereits eine Grundstruktur des Lebendigen herausgearbeitet werden kann, die auch noch für den späten Tillich charakteristisch ist.233 Genau dem reifen Tillich wird sich ein zweiter Schritt zuwenden und den Lebensbegriff der späten ›Systematischen Theologie‹ fokussieren. Dabei lässt sich nicht nur zeigen, dass eben grundlegende Momente des spezifi230 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 410–499. Die ›Systematische Theologie‹, insbesondere der dritte Band, wird von Kleffmann nur gestreift und ausdrücklich nur »[e]rgänzend herangezogen« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 410 [Anm. 4]. Kleffmann konzentriert dabei den Lebensbegriff Tillichs auf die spekulative Figur von Selbstunterscheidung und schöpferischer Selbstvermittlung. Darin erkennt er einen bleibenden Schatten der Tillichschen NietzscheRezeption, der damit dessen Gedanken der schöpferischen Selbstüberwindung produktiv verarbeitet (Vgl., a.a.O., 495ff.). In Bezug auf das Spätwerk erklärt Kleffmann: Der in der ›Systematischen Theologie‹ entwickelte Lebensbegriff lässt sich verstehen als »komplexe Weiterentwicklung des Lebensbegriffes der Marburger Dogmatik«. 231 Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 9. 232 Verdienstvoll ist an der Rekonstruktion Danz' v.a. die Aufarbeitung der transzendentalphilosophischen Fundamente und Referenzen des Tillichschen Denkens. Dahin gestellt sein muss bleiben, ob es stimmt, dass Tillich im Gefolge dieser Theorielagen als Theologe der Freiheit im engeren Sinne in Anspruch genommen werden kann. V.a. ist hier zu bedenken, dass Tillich Freiheit als endliche Freiheit immer in ihren kalamen Verstrickungen denkt und ihm ein Freiheitspathos im streng idealistischen Sinne weitgehend fremd ist. 233 Hinzu kommt, dass die ›Systematische Theologie‹ von 1913 »anders als die die dreisemestrige Vorlesung von Dresden, die ein Fragment blieb, ein abgeschlossenes Manuskript« (Schüßler/Sturm, Historische Einleitung, XXI) ist. Dass Tillich in seinen späteren Texten auf die ›Systematische Theologie‹ von 1913 keinen Bezug nimmt und sie nie veröffentlicht hat, bleibt laut Schüßler und Sturm »ein Rätsel« (ebd.).
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Der Theologische Lebensbegriff
schen Theoriedesigns des Lebens sich bis in die späte ›Systematische Theologie‹ durchhalten, sondern dort auch kreativ weiterentwickelt werden. Endlich soll in einem letzten Schritt auf die ethischen Implikationen des Tillichschen Lebensbegriffes abgehoben werden. IV.1
Philosophie und Theologie 234
Leben gilt weithin als ein Fundamentalbegriff v.a. der späten Theologie Tillichs. Ist Theologie – wie der reife Tillich ausdrücklich festhält – ein »umfassende[s] Sys235 tem der menschlichen Selbstinterpretation und Lebensdeutung« , erscheint es geradezu als selbstverständlich, dass der Begriff des Lebens eine zentrale Rolle spielt. Indes ist die gewählte Rede von einem theologischen Lebensbegriff nicht ganz unproblematisch. Ähnlich wie bei Albert Schweitzer, stellt sich auch in Bezug 236 auf Tillichs Lebensbegriff die Frage nach dessen spezifisch theologischen Profil. Es ist unstrittig, dass Tillich nicht nur ein philosophisch außerordentlich begabter und ambitionierter Denker war, sondern auch, dass er im strengen Sinne philosophische Gedanken in unverkrampfter Weise in sein theologisches Denken einfließen ließ; und umgekehrt. Und bekanntlich ist Tillichs starkes philosophisches Interesse und seine Arbeitsweise keineswegs auf ungeteiltes, geschweige denn allein positives Echo gestoßen. Bereits im Zuge der Habilitation Tillichs in Halle (Saale) stellte der Erstgutachter Ferdinand Kattenbusch fest, dass Tillichs Arbeit als eine »mehr philosophische als theologische«237 anzusprechen sei, wobei er in seinem Gutachten eine auf diese Feststellung bezogene Auseinandersetzung geflissentlich 238 sistierte. Anders verfuhr schon der Zweitgutachter Friedrich Loofs, der sich dezidiert gegen eine Annahme der Habilitationsschrift Tillichs aussprach. Auch er fokussierte auf den seiner Meinung nach eingenommenen »Standpunkt[] der Phi239 losophie« . Diesen kritisiert er jedoch nicht in seiner Konsistenz, sondern er mo240 nierte v.a. eine fehlende Auseinandersetzung mit der theologischen Tradition.
234 Vgl. Danz, Religion als Freiheitsbewusstsein, 275. 235 Tillich, RFdMH, 16. Tillich bezieht diese Formulierung explizit auf seine späte ›Systematische Theologie‹ (Hervorhebung v. Vf.). 236 Vgl. dazu oben unter D.II.1. 237 Zit. nach Graf, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance, 56. 238 Die von Tillich eingereichte Arbeit trug den Titel ›Das Übernatürliche im älteren Supranaturalismus‹. Vgl. dazu Graf, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance, 53ff. 239 Zit. nach Graf, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance, 57 (Hervorhebung i. Orig.). 240 Die philosophische Begabung Tillichs wird von Loofs im Gegenteil ausdrücklich anerkannt. Loofs spricht von einer »außergewöhnlichen philosophischen Schulung«, die von »einer geistigen Kraft [zeuge], die größer [sei] als diejenige vieler, die sich mit Ehre habilitiert[en]« (Zit. nach Graf, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance, 56). Hinter den Vorbehalten Loofs steht eine Bestimmung der Habilitationsstatuten der Hallenser Theologischen Fakultät. Demgemäß mussten sich angehende Privatdozenten, da die Fakultät »eine Habilitation für systematische Theologie nicht kenn[t], sich exegetisch oder historisch ausweisen«
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
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Bekanntlich konnte sich Tillich nach einem für ihn positiven Drittgutachten von Wilhelm Lüttgert am 22. Juli 1916 erfolgreich habilitieren. Hingegen tauchte der Verdacht, er sei insgeheim mehr Philosoph denn Theologe, immer wieder auf. Es sei hier nur erinnert an die Auseinandersetzung zwischen Tillich und Karl Barth in den 1920er Jahren, in der Barth öffentlich äußerte, »daß 241 Tillich als Theologe [...] mir ein Rätsel ist« . Auf Seiten der Philosophie ist Tillichs philosophische Profiliertheit hingegen z.T. mit großem Interesse und weitreichenden Erwartungen gesehen worden. So gab der philosophische Lehrer Tillichs, Fritz Medicus, in seiner Zürcher Zeit 1929 zu Protokoll, dass für ihn »Tillich der ›kom242 mende Mann‹ in der Philosophie sei« . Tillich selbst hat aus seinen philosophischen Ambitionen keinen Hehl ge243 macht. Vielmehr hat er positiven wie negativen Voten durchaus Nahrung gegeben, wie etwa mit der berühmten wie umstrittenen, an Karl Barth adressierten Feststellung aus dem Jahre 1923, die gegenwärtige Lage (und gemeint ist die als Krisis gedeutete Wirklichkeit der Zeit nach dem ersten Weltkrieg) zwinge dazu, 244 »als Theologe nicht Theologe, sondern Kulturphilosoph zu sein« . Und auch mit Blick auf seinen Lebensbegriff hat er Berührungen zu philosophischen Diskursen durchaus offen gelegt. So hat Tillich in Bezug auf den vierten Teil seiner Systematischen Theologie (›Das Leben und der Geist‹) geäußert, dass diese eine Lebensphi245 losophie enthalte, die er von seinem Lehrer Schelling übernommen habe. Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, Tillichs Verhältnis zur Philosophie in extenso auszuleuchten. Das von Tillich im Selbstbezug in Anwendung gebrachte 246 Stichwort der »Grenze« kann dabei als die zutreffendste Etikettierung gelten. Denn »[a]ls Theologe versuchte [er] Philosoph zu bleiben und als Philosoph Theo-
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(zit. nach Graf, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance, 56). Für Tillich kam dementsprechend ein historischer Ausweis infrage und genau den hat Loofs vermisst. Barth, K., Paradoxie des »positiven Paradoxes«, 238 (Hervorhebung v. Vf.). Zur Auseinandersetzung zwischen Barth und Tillich in den 20er Jahren des 20. Jhs. vgl. Pangritz, Unsichtbarwerden der Theologie, 57ff. und Track, Tillich und die Dialektische Theologie, 139–154. Track hält dabei fest: »Paul Tillich hält in seiner Konzeption entschlossen am Geschehnischarakter der Offenbarung, ihrer Unverfügbarkeit fest. Rechtfertigung ist die ›unmögliche Möglichkeit‹, die von Gott her für uns zur Wirklichkeit wird. Insofern trifft Tillich der Vorwurf Barths, die Rechtfertigungsaussage in einen philosophischen Erklärungshorizont eingepaßt zu haben, nicht« (a.a.O., 150). Medicus, Zu Paul Tillichs Berufung, 564. Die Formulierung entstammt einem Artikel in der NZZ, dessen genaue Datierung laut Abdruck im XIII. Band von Tillichs ›Gesammelten Werken‹ unbekannt sei. Wie jedoch Friedrich W. Graf präzisieren konnte, war es die Abendausgabe vom 19. März 1929, Nr. 527 (vgl. Graf, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance, 70). So bekennt Tillich retrospektiv in ›Auf der Grenze‹: »Philosoph zu werden war mein Wunsch seit den letzten Gymnasialjahren. Jede freie Stunde wurde benutzt, um philosophische Bücher zu lesen, die mir zufällig in die Hand fielen« (Tillich, Grenze, 31). Und dezidiert sagt er weiter von sich aus, er sei »jemand, der auf der Grenze von Theologie und Philosophie steht« (a.a.O., 35). Tillich, Antwort, 242. Vgl. dazu Pangritz, Unsichtbarwerden der Theologie, 64f. So in einem Interview mit Clark Williamson. Vgl. Pauck, Tillich, 245. Vgl. dazu Tillich, Grenze, 131ff.
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Der Theologische Lebensbegriff 247
loge« . Was auf dem Grenzgrat auch klar wird: Tillich wusste sich auf der Höhe und er suchte und sah lichtumströmte Aussichten. Um sich über das theologische Profil des Lebensbegriffs Tillichs klarer zu werden, scheint es hilfreich, die spezifische Konfiguration seines Theologiebegriffs resp. seines Theologieverständnisses schärfer zu stellen. In dieser Optik bietet sich – wie angedeutet – zunächst ein Eingehen auf einen der früheren Texte Tillichs an. Es handelt sich um die ›Systematische Theologie‹ von 1913, in der (der damals 27jährige) Tillich erstmals seine philosophischen und theologischen Reflexionen systematisch konzentriert und erläutert hat.248 IV.2
Leben in der frühen ›Systematischen Theologie‹ (1913)
Tillich hatte in seiner Frühphase (bis zum Ersten Weltkrieg) vor dem Hintergrund der Problemstellungen und Begründungsfragen v.a des deutschen Idealismus einen vom Gedanken der absoluten Wahrheit ausgehenden Religionsbegriff erarbei249 tet. Dessen Entwicklung zeichnet sich ein in die Grundlegung eines umfassenden systematischen Entwurfs, die ›Systematische Theologie‹ von 1913, die sich in ihrer Grundlegung im Modus einer Analyse des Geistes vom Standpunkt des Absoluten (Position der Vernunft, des νοῦς resp. des intellectus [§§ 1–15]) über den Standpunkt der Reflexion oder des Relativen (Position des Verstandes, der διάνοια resp. der ratio [§§ 16–21]) hindurcharbeitet zum Standpunkt des Paradoxes (Position der Vermittlung von Intuition und Reflexion [§§ 22–29]). Letzteres repräsentiert exakt den Standpunkt der Theologie und mündet in der konstruktiven Exposition eines theologischen Prinzips.250 Religion wird von Tillich dabei zunächst im Zuge einer abstrakten Strukturbestimmung des Geistes (Standpunkt der Intuition) bestimmt als ein »Doppelver251 hältnis der Freiheit zur Wahrheit« . Die These, die Tillich ausdrücklich als religi247 Tillich, Auf der Grenze, 37. 248 »Mit der ›Systematischen Theologie‹ von 1913‹ steht man vor einem Werk, das für das Verständnis der intellektuellen Biographie Paul Tillichs unerlässlich ist. In ihm bündelt sich der Ertrag der theologischen und philosophischen Reflexionen des damals 27jährigen« (Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 253.). 249 Zum folgenden vgl. auch ausführlich Danz, Theologie als normative Religionsphilosophie, 74ff. und Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 252ff. 250 Diesen ersten Teil seiner ›Systematischen Theologie‹ von 1913 nennt Tillich ›Apologetik‹. Ihm folgt die ›Dogmatik‹. Abgerundet wird das System von der ›Ethik‹. Diese drei Teile verhalten sich zueinander wie begründender, entwickelnder und durchführender Teil. Vgl. Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 253. 251 Tillich, ST (1913), 291. Vgl. dazu Danz, Theologie als Religionsphilosophie, 77 und Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 266. Systematischer Anknüpfungspunkt dieser These ist die wahrheitstheoretische Prämisse der frühen ›Systematischen Theologie‹ »Prinzip der Wahrheit ist die Wahrheit selbst« (Tillich, ST [1913], 278 [i. Orig. hervorgehoben]), die insofern zum Ausgangspunkt der Systementwicklung genommen werden kann, weil die in der Ausgangsthese postulierte Einheit der Wahrheit insofern ein Differenzmoment in sich enthält, als ihr gegenüber die »absolute Identität von Denken und Wahrheit als dem Prinzip des Denkens« (ST (1913), 281 (i. Orig. her-
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onsphilosophische und nicht explizit theologische einführt, wird dahingehend 252 entschränkt, dass die Freiheit (oder der Geist ) in ihrem abstrakten Vollzug die 253 Wahrheit (oder Gott ) einerseits negiert, insofern sie sich selbst als Freiheit (oder Geist) bejaht, andererseits sich aber verneint, indem sie die Wahrheit (oder Gott als absolute Wahrheit) affirmiert. Religion erweist sich in diesem abstrakten Sinne 254 (Tillich kann in dieser Beziehung auch von »Vernunftreligion« im Gegensatz zu 255 »konkreter Religion« sprechen) als Ort, in der die Freiheit ihrer Identität und Differenz mit der absoluten Wahrheit in ihrer unmittelbaren und dynamischen Lebendigkeit einsichtig wird: »Die Intuition [schaut] das Abstrakte und Konkrete, 256 den Begriff und das einzelne in lebendiger Einheit« . Wird diese abstrakte Struktur unter den Bedingungen begrifflich-diskursiven 257 Denkens thematisch (Standpunkt der Reflexion ), aktualisiert sich m.a.W. diese Struktur am Orte eines endlichen Geistes oder der »Subjektivität einzelnen Den-
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vorgehoben) steht. Die damit gewonnene Duplizität von Wahrheit und Denken bildet dann den eigentlichen Motor der weiteren systematischen Entfaltung (die deshalb auch als »lebendig[]« [ST ], 282] gilt) und die dann nichts anderes darstellt als die Explikation der Verhältnisbestimmungen von Wahrheit und Denken. Die zwei basalen Relationen von Wahrheit und Denken sind Natur (die Wahrheit bestimmt das Denken) und Geist resp. die Freiheit (das Denken bestimmt die Wahrheit). Der Geist resp. die Freiheit kann sich dann wieder in dreifacher Hinsicht zur Natur verhalten: »Die Grundformen der Freiheit ergeben sich aus den verschiedenen Stellungen der Freiheit zur Natur. Insofern die Freiheit sich unmittelbar als naturbestimmend setzt, ist sie Kultur, insofern sie sich selbst als Freiheit bestimmt, ist sie Sittlichkeit, insofern sie sich und die Natur aufhebt zur absoluten Wahrheit, die jenseits des Bestimmenden und Bestimmten liegt, ist sie Religion« (Tillich, ST [1913], 289). Genau aus der letztgenannten Relation ergibt sich die oben genannte religionsphilosophische Grundthese. Vgl. dazu Danz, Theologie als Religionsphilosophie, 75f. und Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 256f. Dem Vorwurf, die wahrheitstheoretische Ausgangsthese sei blosse Tautologie, tritt Tillich entgegen, indem er zwar konstatiert, dass Wahrheit und Wahrheitserkenntnis theoretisch im Sinne von Formal- und Materialprinzip differenzierbar seien, aber diese Differenzierung scheitert in seinen Augen daran, dass sie immer schon einen nachträglichen und prinzipzersplitternden Reflex auf die Voraussetzung eines Prinzips sei. Einher damit geht ein Abweis der Fokussierung auf die Erkenntnistheorie v.a. in der neukantianischen Schule, in der sich Tillich im Übrigen ganz mit Lotze einig weiss. Tillich kann in dieser Phase seines Denkens die Begriffe Freiheit und Geist durchaus synonym verwenden. Vgl. dazu Neugebauer, G., Tillich frühe Christologie, 266, Anm. 506. Vgl. Tillich, Systematische Theologie (1913), 290: »Religionsphilosophie ist derjenige Teil der Geistesphilosophie, in der die absolute Wahrheit vom Denken als Gott bestimmt wird, d.h. als das Absolute vom Standpunkt des Geistes« (i. Orig. hervorgehoben). Vgl. dazu Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 266: Die »absolute[] Wahrheit« ist in ihrer »religionsphilosophische[] Fassung der Gottesbegriff«. Tillich, ST (1913), 329. Tillich, ST (1913), 329. Tillich, ST (1913), 308 (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. Danz, Theologie als normative Religionsphilosophie, 77. Vgl. auch Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 269: »Die Religion erscheint als Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein gegenüber dem Absoluten« (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. Tillich, ST (1913), 307: »Dem absoluten Standpunkt gegenüber steht der Standpunkt der Relativität oder Reflexion, d.h. derjenige Standpunkt, für den die Einheit des absoluten Systems aufgehoben ist und der Widerspruch herrscht«.
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kens« , treten die Relate Denken und Wahrheit auseinander. Dies, weil es für die endliche Reflexion (und gemeint ist damit – wie Tillich appendixartig hinzufügt – 259 v.a. die Reflexionskultur »der griechischen und der modernen Aufklärung« ) typisch ist, mithilfe kategorialer Fixierungen (Raum, Zeit, Ursache und Wirkung) nicht mehr auf intuitive Einheit, sondern auf konkrete Einzelheit, nicht mehr auf das Absolute, sondern auf das Relative zu gehen. Die innere Problematik des Reflexionsstandpunktes rührt dabei daher, dass sie in der Herausnahme und kategorialen Bestimmung des Einzelnen die Bestimmungsleistungen selbst wieder absolut setzt, was nach Tillich auf nichts anderes hinausläuft den bestimmenden 260 »Formen eine Macht über das einzelne« zu geben, »die ihnen nicht zukommt« . Das absolute System der Intuition zerbricht so am Orte der Reflexion, es erfährt 261 »Unrecht« und geht dabei seiner idealen Einheit und auch seiner unmittelbaren Lebendigkeit verlustig. Für die religionsphilosophische Grundthese bedeutet dies, dass die Freiheit, die auf der Stufe der intuitiven Einsicht trotz ihrer aussagbaren Differenz gegenüber der Wahrheit mit dieser immer noch eine »Einheit des Wider262 spruchs« bildete, nun in Gegensatz zur Wahrheit resp. Freiheit tritt, sich von die263 sen entfremdet. Der Standpunkt der Reflexion konstituiert sich so als Widerspruch zum Standpunkt der Intuition, die endliche Freiheit als Freiheit ohne Wahrheit; oder, wie Tillich auch schreiben kann: »Auf dem Standpunkt der Refle264 xion aber hat die Freiheit sich selbst verloren« . Niederschlag dieses – für Tillich 265 266 267 irrationalen wie kontingenten Schritts – sind »Tragik« , »Pessimismus« , »sys268 269 tematischer Zweifel« , »ästhetische Dekadence« und in spezifisch religiöser 270 Hinsicht ein auf dem »Standpunkt der Sündhaftigkeit« stehender »systemati271 sche[r] Atheismus« . 258 259 260 261 262 263
264 265
266 267 268 269 270 271
Tillich, ST (1913), 307. Tillich, ST (1913), 313. Tillich, ST (1913), 310. Tillich, ST (1913), 310. Tillich, ST (1913), 281. Vgl. Tillich, ST (1913), 311: »[D]arum ist die Freiheit dem Reflexionsstandpunkt fremd« (Hervorhebung v. Vf.). Wenn hier der Ausdruck entfremdet gebraucht wird, so ist dies keineswegs im Sinne Hegels gemeint. Vielmehr hat Tillich das Entfremdungsparadigma Hegels im Rekurs auf Schelling einer massiven Kritik unterzogen. Vgl. dazu Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 260f. Tillich, ST (1913), 310. Vgl. Tillich, ST (1913), 307: »Der Standpunkt der Relativität ist [...] zugleich im System und gegen das System; er ist nur möglich aufgrund dessen, dem er widerspricht«. Vgl. dazu Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 259f. Neugebauer macht dabei wahrscheinlich, dass sich diese Gedankenoperation Tillichs allein vor dem Hintergrund seiner Schelling-Rezeption verstehen lässt. Zentral ist dabei das Schellingsche Theorem des Sprungs (vgl. a.a.O., v.a. Anm. 490). Tillich, ST (1913,), 311. Tillich, ST (1913), 310 (i. Orig. hervorgehoben). Tillich, ST (1913), 312 (i. Orig. hervorgehoben). Tillich, ST (1913), 312 (i. Orig. hervorgehoben). Tillich, ST (1913), 312 (i. Orig. z.T. hervorgehoben). Tillich, ST (1913), 314.
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
309
Die am Orte der Reflexion aufbrechende Widersprüchlichkeit wird überwunden auf dem Standpunkt des Paradox, der nun explizit als »Standpunkt der Theolo272 273 gie« eingeführt wird. Das Paradoxale dieses Standpunktes besteht dabei darin, dass der relative und im Widerspruch gefangene Reflexionsstandpunkt, die Freiheit ohne Wahrheit, nun wieder als Moment der Intuition resp. der Wahrheit erfasst wird, ohne den Reflexionsstandpunkt aufzugeben, absolute und relative Wahrheit in ein Verhältnis gesetzt werden, ohne die relative Wahrheit aufzuheben. Das Paradox ist somit das Urbild des religiösen Bewusstseins als endlichem Bewusstsein. Der Sache nach beschreibt dies einen Akt der Transzendierung resp. 274 der Selbsttranszendierung. Dies kann nach Tillich freilich nur in den Bezügen einer konkreten geschichtlichen Religion geschehen, weil einerseits die Position der Reflexion ob ihrer Opposition zur absoluten Wahrheit von sich aus nicht eine derartige Transzendierungsoperation leistet und andererseits eine konkrete, ge275 schichtliche Religion weder den Standpunkt der Reflexion aufgibt und auf die Stufe der Intuition oder der absoluten Wahrheit zurückgeht, noch das Relative als Relatives zementiert, sondern für eine – eben paradoxale – Vermittlung beider steht: »Die Sphäre des Paradox ist die Religion; denn die Religion ist die Rückkehr der Freiheit zur Wahrheit, des Relativen zum Absoluten ohne Aufhebung der Frei276 heit und Relativität« . Die Struktur dieser Vermittlung kann Tillich endlich auch als das theologische Prinzip kennzeichnen. Das theologische Prinzip erweist sich dabei als Schnittpunkt von Religionsphilo277 sophie, Geschichtsphilosophie und Theologie. Aufgabe der Religionsphilosophie ist eine allgemeine geistphilosophische Bestimmung des Wesens der Religion (abstrakte, absolute Position). Die Theologie hingegen bestimmt den Begriff der christlichen Religion (konkrete, relative Position). Die Geschichtsphilosophie endlich steht für die synthetische Verbindung von allgemeinem Religionsbegriff und konkreter geschichtlicher Religion. 272 Tillich, ST (1913), 317. 273 Vgl. Tillich, ST (1913), 326: »Der Standpunkt des Paradox ist der theologische; ›Theologie‹ enthält schon dem Begriff nach etwas Paradoxes in sich: Sie ist Wissenschaft von Gott, d.h. das, was Objekt des Glaubens ist, soll Objekt des Wissens werden, ohne das der Glaube als solcher verneint wird«. 274 Tillich gebraucht in der frühen ›Systematischen Theologie‹ diese Terminologie noch nicht. Dort spricht er von »über sich selbst hinausführen« oder von »Selbstüberwindung« (Tillich, ST [1913], 316). Vgl. dazu Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 265f. 275 »Es muß der Ort des Paradox also eine konkrete Religion sein, die aber der Dialektik der Reflexion nicht preisgegeben ist, weil sie ohne sich aufzugeben über sich hinausführen kann, in sich selbst ein Prinzip der Selbstüberwindung hat« (Tillich, ST [1913], 316). Entsprechend verortet Tillich die Geburtsstunde der Theologie in der Alten Kirche, als die Apologeten den griechischen λόγοςBegriff zum christologischen Grundbegriff transformierten. 276 Tillich, ST (1913), 315. 277 »Das von Tillich zugrunde gelegte theologische Prinzip beschreibt eine methodische Verschränkung von Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und Theologie« (Danz, Theologie als normative Religionsphilosophie, 93). Vgl. auch a.a.O., 95: »Damit sind sowohl die Religionsphilosophie als auch eine Geschichtsphilosophie der Religion Bestandteile von Tillichs Theologiebegriff«.
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Der Theologische Lebensbegriff
Tillich hat diese Grundlegung strukturell beibehalten, ab 1918 im Briefwechsel mit Emmanuel Hirsch zunächst sinntheoretisch umgeformt, in der ›Dresdner Dog278 matik‹ von 1925/26 rechtfertigungstheoretisch und offenbarungstheologisch expliziert und endlich in der späten ›Systematischen Theologie‹ vor dem Hintergrund 279 des Existenzialismus modifiziert. Dies kann im Einzelnen hier nicht nachvollzogen werden. Für die zum Ausgangspunkt genommene Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie ist die rekonstruierte Position insofern aufschlussreich, als deutlich wird, dass für Tillich klar ein »Oszillieren[] seines Denkens zwischen 280 Theologie und Philosophie« erkennbar wird. Dies steht dabei nicht nur für eine disziplinenübergreifende Öffnung der Theologie hin zur Kulturtheorie, sondern auch für die Vermittlung einer Offenbarungstheologie, die weiter dem Interesse dient, das wissenschaftliche Recht der Theologie als Dogmatik und später dann als Systematische Theologie durchsichtig zu machen. Die Philosophie, besser die Religionsphilosophie, erweist sich so als gleichsam unverzichtbare Begründung des Theologiebe281 griffs. In diesem Sinne ist es nicht abwegig, Tillich im Anschluss an Adolf von 282 Harnack als ein »Genie[] der Summation« anzusprechen. Für den hier infrage stehenden Zusammenhang des Lebensbegriffes ist diese Grundlegung der ›Systematischen Theologie‹ von 1913 ebenfalls unmittelbar einschlägig. Dies wird insbesondere sichtbar in Bezug auf Tillichs spezifische Fassung 283 des Gottesgedankens oder wie Tillich auch sagen kann des »Gottesberiffs « , von dem her Tillich die Disposition der Materialdogmatik entwirft, die sich schlussendlich im Ganzen als Prozess der Selbstexplikation des göttlichen Lebens verstehen 284 285 lässt. So konstatiert Tillich im §1 des zweiten Teils (›Dogmatik‹ ): »Gott ist der 286 lebendige: Er ist die Einheit der unendlichen Mannigfaltigkeit« . Entsprechend 278 Zur ›Dresdner‹ resp. ›Marburger Dogmatik‹ vgl. insbesondere auch Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 423ff. 279 Vgl. dazu Barth, U., Sinntheoretische Grundlagen des Religionsbegriffs, 89ff.; Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 306ff.; Danz, Theologie als normative Religionsphilosophie, 80ff. u. 89ff. Zu Tillichs Verhältnis zum Existentialismus vgl. auch ausführlicher Kodalle, Auf der Grenze?, 301. 280 Pangitz, Unsichtbarwerden der Theologie, 73. 281 Vgl. Danz, Theologie als normative Religionswissenschaft, 95. 282 Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 391. Neugebauer bezieht sich dabei auf eine Formulierung der Dogmengeschichte (Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 652). 283 Tillich, ST (1913), 330. 284 Unmissverständlich hält Tillich in diesem Sinne fest: »Für die theologische Methode ergibt sich [...] die wichtige Folgerung, daß es notwendig ist, an jedem Punkt mit dem Gottesgedanken zu beginnen; es ist geradezu untheologisch und letztlich auch unreligiös, mit einem Begriff vom Menschen zu beginnen und dann die Übertragung dieses Begriffs auf Gott zu rechtfertigen bzw. entschuldigen zu wollen« (Tillich, ST [1913], 336). 285 Der zweite Teil der ›Systematischen Theologie‹ von 1913 ist untergliedert in die Abschnitte ›Der Hervorgang der Welt aus Gott bis zum vollendeten Widerspruch‹ (§§ 29–36), ›Das Eingehen Gottes in die Welt des Widerspruchs‹ (§§37–43) und ›Die Rückkehr der Welt zu Gott bis zur vollendeten Einheit‹ (§§ 44–49). 286 Tillich, ST (1913), 328 (i. Orig gesperrt; Hervorhebung hier v. Vf.). Tom Kleffmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass in dieser (auch in der ›Dresdner Dogmatik‹ wiederkehrenden) These
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
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der skizzierten Grundlegung stellt Tillich jedoch sofort klar, dass diese These zu287 nächst auch als eine strikt religionsphilosophische zu verstehen ist. Die ange288 zeigte Lebendigkeit besteht dabei analog zur »lebendige[n] Einheit« aus der ›Apologetik‹ (Grundlegung) in einer dynamischen Einheit von Identität und Differenz. Und diese lebendige Einheit ist – auch wieder in Übereinstimmung mit der Grundlegung – zunächst eine allein abstrakte. Der konkrete Standpunkt der Reflexion (Tillich kann ihn jetzt auch den »Einzel289 standpunkt« nennen) unterwirft die lebendige Einheit am Orte eines endlichen Bewusstseins kategorialen Fixierungen (Raum, Zeit, Ursache und Wirkung). Damit tritt sie ihr gegenüber in einen Gegensatz. Der Gegensatz der Reflexion ist der von abstrakter und konkreter von absoluter und bestimmter Lebendigkeit. Konkrete und bestimmte Lebendigkeit Gottes ist dabei zunächst »die Verschiedenheit Gottes ganz nach Art des Reflexionsstandpunktes in Veränderungen in Raum und Zeit, 290 Verschiedenheit der Gefühle, Vorsätze und Handlungen Gottes« . Die durch den Einzelstandpunkt evozierten Differenzmomente werden – in Übereinstimmung mit der Grundlegung – überwunden durch den theologischen Standpunkt, der entsprechend wieder als der des Paradoxes erscheint. Hier beginnt nach Tillich denn auch die theologische Arbeit im strengen Sinne, die exakt
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die Auseinandersetzung Tillichs mit dem Lebensbegriff Nietzsches kulminiert. Während für Tillich Gott eben der Lebendige ist, ist für Nietzsche das Leben Gott. Anerkennung fand Tillich hingegen für Nietzsches Blick auf die dämonische Dimension des Lebens (vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 490). Irritierend ist, dass Kleffmann behauptet, dass Tillich sich »Gottes ewige Einheit nicht als sich in der Selbsttranszendenz vermittelnde denken [kann]«. Und: »Entsprechend ist auch nur von der Lebendigkeit als zu prädizierender Eigenschaft überhaupt, nicht eigentlich vom Leben Gottes die Rede« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 491 [Hervorhebung i. Orig.]). In Bezug auf die ›Systematische Theologie‹ von 1913 stellen sich hier Bedenken ein. Nicht nur der Ausdruck »Leben Gottes« (Tillich, ST [1913], 331), sondern auch die nämliche Vermittlungsfigur lässt sich finden: »Im ewigen Leben Gottes ist das einzelne in unmittelbarer Einheit mit Gott; wo es aber vollendet ist als Freiheit und Geist, da hat es sich der unmittelbaren Einheit widersetzt und ist zur Strafe dafür eingegangen in die Welt der Einzelheit, der Auflösung und des Todes. Durch die Tat Gottes, der folgte in die Welt der Sündhaftigkeit, ist es zurückgekehrt in die Einheit mit Gott. Aber diese Einheit ist eine andere als die erste, sie ist bewußt, frei; sie hat die Selbstbehauptung des einzelnen in sich, aber zugleich unter sich; sie ist Gemeinschaft. Das ist der Sinn des Weltprozesses, der Sünde und des Sterbens und der Erlösung, daß aus der Einheit Gemeinschaft werde, aus dem Leben Gottes Reich Gottes« (Tillich, ST [1913], 376). Ebenso ist in der späten ›Systematischen Theologie‹ von »Gott als Leben« (Tillich, ST I, 280 [i. Orig gesperrt] u.ö.), vom »göttlichen Leben« (Tillich, ST I, 281 u.ö.) und von »Gottes Leben« (Tillich, ST I, 289 u.ö.) ganz selbstverständlich die Rede, genauso wie die angezeigte Vermittlung gedacht wird. Vgl. Tillich, ST (1913), 328: »Die Dogmatik setzt den Gottesbegriff der Religionsphilosophie voraus«. Tillich, ST (1913), 308. Tillich, ST (1913), 333 Tillich, ST (1913), 329. Tillich denkt dabei konkret an die verschiedenen Gotteskonzepte des Alten Testaments: Der fast emotional zu nennende Gott der Väter (»Bald ist er nah, bald fern, bald zornig, bald zerstrört er, bald rettet er. Das Gebet stimmt ihn um, ihn reut sein Zorn, er faßt einen neuen Entschluß« [Tillich, ST ), 329]), der universale Gott Deuterojesajas und der Gott des gesetzlichen Judentums.
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Der Theologische Lebensbegriff
darin besteht, das Paradox auf entsprechende Einzelbestimmungen zu applizieren. Das Paradox ist demnach anzuwenden zunächst auf den Gottesgedanken, der Gott als den Lebendigen aussagt. Das Ergebnis ist (in Anlehnung an die Spätphilosophie Schellings) zunächst der Eintrag eines immanenten Prinzipiendualismus und einer folgenden Artikulationsdynamik in das göttliche Leben. Soll der Standpunkt der Reflexion, die Differenz von Absolutem und Konkretem überwunden werden, so muss das absolute Leben Gottes das konkrete Leben bereits in sich tragen; mit den Worten Tillichs: »In sich selbst muß Gott den Unterschied von sich selbst tragen«291. Trägt das absolute göttliche Leben das konkrete Leben in sich, so kann es auch aus sich herausgesetzt werden. Vermittelt ist dies durch eine christologische Reflexion, die die göttliche Einheit von absolutem und konkretem Leben in einem Einzelwesen so verwirklicht denkt, dass dabei das absolute Leben vollkommen unter den Bedingen des konkreten, dieses konkrete Leben dabei aber immer noch in 292 der Einheit mit dem absoluten Leben steht. Die spezifische Installation dieser christologischen Reflexion (die auf Schellings Frühwerk und seine λόγος-Lehre zu293 rückgreift ) reformuliert gleichsam das Theologoumenon der Schöpfungsmittlerschaft, also »die biblisch-kirchliche Aussage, daß die Welt durch den Sohn resp. in 294 dem Sohn geschaffen ist« . Ist das göttliche Schaffen durch das Paradoxon des Christus vermittelt, kann auf der Höhe des theologischen Standpunkts auch die Schöpfung selbst als Inbegriff des geschaffenen Lebens thematisch werden. Diese 295 gerät zunächst in den Blick im modus der »Welt [als] das einzelne als einzelnes« 291 Tillich, ST (1913), 331. Vgl. auch Tillich, ST (1913), 331 »Gott ist lebendig, d.h. er ist ein Verschiedener und doch der Eine: [...] In Gott ist ein Moment der Einheit und ein Moment des Unterschieds oder der Vielheit; die Einheit aber ist das Umfassende, die Tiefe der Gottheit (= das Absolute), aus der die Vielheit geboren wird. Das ist das Leben Gottes, die unendliche Fülle, das pleroma alles Seienden in sich setzend und wieder aufhebend in die Einheit seines Wesens« (Hervorhebung i. Orig.). Zum Schellinghintergrund dieses Gedankens vgl. Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 276: »Dass hier Schelling im Hintergrund steht, wird deutlich, wenn Tillich das Differenzmoment als die ›Natur in Gott‹ bestimmt«. 292 Vgl. Tillich, ST (1913), 348: »In Jesus von Nazareth ist das theologische Paradox in einem Einzelwesen verwirklicht. Die Einheit Gottes und des historischen Jesus ist bedingt von Gott aus durch das vollkommene Eingehen des konkreten Momentes Gottes in den Zustand der Sündhaftigkeit, von Jesus aus durch die vollkommene Aufhebung seiner Selbstheit in die Einheit des göttlichen Lebens«. Vorbereitet ist dies in der Apologetik, die die Christologie dort als zweites Moment des theologischen Prinzips bestimmt hatte, und zwar im § 25: »Das Urteil, daß in Jesus von Nazareth das Absolute sich herabgelassen hat zum Relativen und das Relative zurückgekehrt ist zum Absoluten, ist der Inhalt des konkreten Momentes des theologischen Prinzips«. Vgl. dazu Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 273. 293 Schelling geht in seinem Frühwerk, v.a. in der ›Freiheitsschrift‹, in Anlehung an die stoische Logoslehre von einer dreifachen Wirksamkeit des λόγος aus: gottimmanent (λόγος ἐνδιὰθετος), in der Schöpfung (λόγος προφορικός) und in der Geschichte (λόγος ἔνσαρκος). Die Schöpfungsmittlerschaft rekurriert exakt auf den λόγος προφορικός. Vgl. dazu Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 91–99. 294 Tillich, ST (1913), 334. 295 Tillich, ST (1913), 334.
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und sodann in Gestalt des Menschen als »Darstellung [der] konkrete[n] Einheit 296 des göttlichen Lebens« . Die entscheidende Pointe dieses vom theologischen Standpunkt geleiteten Zugriffs auf das geschaffene Leben dürfte darin zu sehen sein, dass es Tillich dabei v.a. darum geht, den notorisch gedoppelten Charakter des endlichen Lebens (Tillich wird dies später als Zweideutigkeit bezeichnen) möglichst scharf herauszuarbeiten. Für die Welt als Inbegriff des Einzelnen als Einzelnes bedeutet dies, dass sie in ihrer Einzelheit und ihren Formen dennoch an das absolute Leben gebunden 297 und von ihm abhängig ist. Für das am Ende des Schöpfungsprozesses stehende menschliche Leben – und damit ist der Ort der theologischen Anthropologie be298 zeichnet – heißt dies, dass das menschliche Leben sich in theologischer Perspektive als Darstellung des göttlichen Lebens begreifen kann. Und weil dieses bestimmt ist als Einheit von Absolutem und Konkretem resp. (im Rückgriff auf die Apologetik) von Freiheit in ihrer Identität und Differenz mit der absoluten Wahrheit, der Mensch aber unhintergehbar als Einzelwesen angesprochen werden muss, ist es die Aufgabe der theologischen Anthropologie am Orte des menschlichen Lebens das paradoxe Ineinander von Absolutem und Konkretem als kalame Verschränkung von Freiheit und Unfreiheit durchsichtig zu machen. In diesem Sinne lautet die zentrale paradoxe These der theologischen Anthropologie der ›Systematischen Theologie‹ von 1913: »Insofern der Mensch Einzelwesen ist, steht er in den Formen der Einzelheit, ist unfrei; insofern der Mensch absolutes Einzelwesen ist, erhebt er sich über die Formen der Einzelheit, ist frei«299. Ihre wohl neuralgischste Zuspitzung erfahren diese theologischen Grundbestimmungen humanen Lebens in ihrer Parenthese. Denn diese besagt nicht nur, dass das menschliche Leben (wie alles andere Geschaffene auch) in einem Verhältnis der Abhängigkeit zum Absoluten steht, sondern auch, dass es (im Gegensatz zur übrigen Mitschöpfung) als Darstellung des absoluten Lebens sich diesem gegenüber als frei aussagen kann, wenn 300 es sich als Einzelnes selbst behauptet. Dies bestimmt Tillich als Sünde und diese 301 ist für Tillich unhintergehbar kontingent. 296 Tillich, ST (1913), 335. 297 Vgl. Tillich, ST (1913), 334: »Gott setzt das Einzelne als Einzelnes, aber es bleibt an ihn gebunden«. 298 Vgl. Tillich, ST (1913), 335: »Die theologische Anthropologie ist die Übertragung des Paradox auf den Menschen«. 299 Tillich, ST (1913), 335 (i. Orig. hervorgehoben). 300 Tillich stellt ausdrücklich fest, dass es sich dabei um eine dezidiert theologische Grundlegung handelt. Der Gegensatz zur Religionsphilosophie besteht darin, dass diese Mensch und Freiheit als identische Begriffe behandelt und der zum Standpunkt der Reflexion, dass dort Mensch und Unfreiheit zusammenfallen. 301 Vgl. Tillich, ST (1913), 337: »Sünde ist die Selbstbehauptung des Einzelwesens als Einzelwesen und die Ablehnung der göttlichen Liebe« (i. Orig. hervorgehoben). Die Sündenlehre des 1913er Systems, v.a. die zentrale systematische These, »daß für den theologischen Standpunkt die Sünde schon immer vorausgesetzt ist« (Tillich, ST [1913], 340 [i. Orig hevorgehoben]) kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Nur soviel: Die Sünde wird von Tillich (wieder im Anschluss an
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Der Theologische Lebensbegriff
Wird menschliches Leben in seiner Selbstbehauptung als Einzelnes als Sünde bestimmt und besteht diese näherhin in einem »Sich-Entziehen der Einheit des 302 göttlichen Lebens« , so liegt darin auch eingeschlossen die Möglichkeit, dass dieses Leben auch wieder in die Einheit mit dem absoluten Leben zurückkehren kann. Mehr noch: Für das endliche menschliche Leben als Einzelwesen gilt nach Tillich: »[Es] ist von Gott gesetzt, aber mit der Bestimmung, zu Gott zurückzukeh303 ren« . Es ist dabei wichtig zu sehen, dass das im Widerspruch zum Absoluten stehende menschliche Leben im Nachkommen dieser Bestimmung nicht einfach in eine ursprüngliche Einheit mit dem absoluten Leben zurückkehrt. Zwar gilt: »Das einzelne kehrt zu dem zurück, was es wesentlich ist, in Ewigkeit in Gott ist und nie 304 aufgehört hat zu sein, ein Moment in dem ewigen Prozeß des göttlichen Lebens« . Allerdings handelt es sich bei der Einheit mit dem absoluten Leben, in die es zurückkehrt, um eine Einheit, in der »das Moment der Einzelheit erhalten [bleibt], freilich nicht als widersprechendes und zu überwindendes, sondern als gerechtfer305 tigtes und erlöstes« . Wie die zuletzt aufgenommene Terminologie es bereits andeutet, ist für Tillich auch dieser Prozess durch eine christologische Reflexion vermittelt; diesmal aber nicht im Sinne der Schöpfungsmittlerschaft, sondern von Rechtfertigung und Versöhnung. Ihre Zentren findet die nun in einer hochkomplexen Vermittlung von Offenbarungs- und Heilsgeschichte entfaltete Christologie in Inkarnation, 306 Kruzifikation und Resurrektion. Materialdogmatisch gesprochen ist die Christologie dabei korreliert mit der Soteriologie, die in Ekklesiologie und Ethik zerfällt, und der Eschatologie, die den Tod, Auferstehung und Gericht sowie das Reich Gottes (Trinität) ausführt. Letzteres steht schließlich für das »ewige Leben« als »die 307 ewige Gemeinschaft des einzelnen mit Christus in der Einheit mit Gott« .
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Schelling) als transzendentale Sünde verstanden. Tillich diskutiert in diesem Zusammenhang in Anlehnung an seine theologische Promotion von 1912 ›Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung‹ auch ausführlicher das fundamentale Problem des Verhältnisses Gottes zur Sünde. In Anlehnung an die schon in der Promotion eingenommenen Position Schellings kommt er zu dem Resultat, dass in dieser Frage nicht etwa Gottes Allmacht beschränkt werden kann, sondern »die Sünde in Gott selbst hineinzulegen ist«, im Abheben auf das das »Paradox, daß Gott das der Einheit widersprechende Wesen dennoch aufgenommen hat in die Einheit seines Wesens, daß Gott die Sünde zugleich bejaht und verneint« (Tillich, ST [1913], 338f.). Vgl. dazu ausführlich Neugebauer, G., Tillichs frühe Christololgie, 276–278. Tillich, ST (1913), 338. Tillich, ST (1913), 338. Tillich, ST (1913), 372. Tillich, ST (1913), 365. Zur tragenden Rolle der Christologie der ›Systematischen Theologie‹ von 1913 vgl. ausführlich Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, 275-295. Tillich, ST (1913), 375 (i. Orig. gesperrt). Vgl. auch Tillich, ST (1913), 366: »Die Überwindung des Zustandes der Sündhaftigkeit, die durch das Eingehen Gottes in diesen Zustand prinzipiell geschehen ist, verwirklicht sich durch die Vereinigung der Menschheit mit dem erhöhten Christus in einem Organismus, dessen Lebensprinzip der von Christus ausgehende heilige Geist ist (Kirche)«
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
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Damit endet der gedankliche Bogen der ›Dogmatik‹ des 1913er Systems. Leben in umfassender Perspektive wird jetzt erkennbar als Prozess der Selbstexplikation und -vermittlung des Absoluten, des unendlichen und ewigen Lebens Gottes. Der theologische Standpunkt reformuliert das göttliche Leben als einen Prozess von Selbstunterscheidung und -vermittlung, der in den drei Elementen Einheit, Verän308 derung und Rückkehr beschrieben wird. Genau diese drei Momente bilden die tragende Systematik der ›Dogmatik‹. Durchgangspunkt dieser Vermittlung ist der endliche menschliche Geist, der sich dabei seiner Unfreiheit wie Freiheit bewusst 309 wird (»Freiheit in der Unfreiheit« ) und sich in seiner Zerrissenheit zur paradoxalen Einheit mit dem ewigen Leben Gottes erheben kann. Am Ende der ›Dogmatik‹ der ›Systematischen Theologie‹ von 1913 hat Tillich diesen konzeptionellen Bogen in einer glanzvollen Sentenz festgehalten: »Im ewigen Leben Gottes ist das einzelne in unmittelbarer Einheit mit Gott; wo es aber vollendet ist als Freiheit und Geist, da hat es sich der unmittelbaren Einheit widersetzt und ist zur Strafe dafür eingegangen in die Welt der Einzelheit, der Auflösung und des Todes. Durch die Tat Gottes, der folgte in die Welt der Sündhaftigkeit, ist es zurückgekehrt in die Einheit mit Gott. Aber diese Einheit ist eine andere als die erste, sie ist bewußt, frei; sie hat die Selbstbehauptung des einzelnen in sich, aber zugleich unter sich; sie ist Gemeinschaft. Das ist der Sinn des Weltprozesses, der Sünde und des Sterbens und der Erlösung, daß aus der Einheit Gemeinschaft werde, aus dem Leben Gottes Reich Gottes«310. Für die in diesem Kapitel im Zentrum stehende Frage nach einem theologischen Lebensbegriff kann vor diesem Hintergrund als das wohl wichtigste Ergebnis der ›Systematischen Theologie‹ von 1913 festgehalten werden, dass das Leben nicht per se einen Gegenstand theologischer Reflexion darstellt. Die Philosophie, besser die Religionsphilosophie vermag es genauso (wie auch die Naturwissenschaften), das Leben zum Thema theoretischer Konzeptualisierung zu machen. Wohl aber vermag es die Theologie, eine eigenständige Perspektive auf das Leben zu entwickeln. Diese Perspektive ist für Tillich der Standpunkt des theologischen Paradoxons, der das Leben am Orte humanen Vollzugs in seiner inneren Aporetik aber auch in der Möglichkeit von deren Überwindung durchsichtig macht. Leben in theologischer Hinsicht wird so erkennbar als Ernstnahme seiner Tiefendimension. Es geht dabei immer um das Verhältnis des gelebten Lebens zu dieser Tiefendimension, um die Entfremdung von dieser und die Wiedergewinnung einer neuen Einheit.
(i. Orig gesperrt). Kirche wird von Tillich sogleich näher bestimmt als »das Leben desjenigen Organismus, in dem die Vereinigung der Menschheit mit Christus vollzogen ist« (ebd.). 308 »Es handelt sich bei dem Verständnis der Lebendigkeit Gottes um zwei Momente, die Einheit und den Unterschied [...]. Das dritte ist die Einheit der beiden [...], das Prinzip der Rückkehr des Unterschieds zur Einheit« (Tillich, ST [1913], 332). 309 Tillich, ST (1913), 335. 310 Tillich, ST (1913), 376.
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Der Theologische Lebensbegriff
Tillich hat die skizzierten Momente im Laufe seines Schaffens immer weiter ausgearbeitet und im modus der Abarbeitung an und mit anderen Theorielagen profiliert. Was in dieser Beziehung die ›Dresdner Dogmatik‹ von 1925 und die dort präsente Entfaltungsgestalt des Lebensbegriffs Tillichs anbelangt, so kann (wie schon gesagt) auf Tom Kleffmanns Rekonstruktion hingewiesen werden. Im Rahmen dieser Untersuchung ist deshalb im Folgenden nun auf die Figuration der lebenstheoretischen Disposition zu sehen, die Tillich ihr in der späten ›Systematischen Theologie‹ gegeben hat. Dabei wird insbesondere deutlich werden, dass in Bezug auf den Lebensbegriff die im 1913er System erarbeitete Disposition (die Etablierung einer Tiefendimension des Lebens, die Bestimmung des Verhältnisses des gelebten Lebens zu dieser Tiefendimension als Entfremdung und die Wiedergewinnung einer neuen Einheit) weiterhin das Grundmuster der Bearbeitung der Lebensthematik bildet. IV.3
Der Lebensbegriff in der späten ›Systematischen Theologie‹
Die späte ›Systematische Theologie‹311 gilt als das »Hauptwerk«312 und »opus 313 magnum« Paul Tillichs. In ihr bündeln sich die zentralen theologischen Denkli314 nien und sie bildet »den krönenden Abschluss seiner beruflichen Laufbahn« . Tillich hat weit mehr als zehn Jahre an ihr gearbeitet und sie in seinen späten und spätesten Texten immer wieder als ausführliche Referenz aufgerufen, wenn er 315 Einzelprobleme in anderen Kontexten entfaltet hat. Mit Blick auf die oben diskutierte ›Systematische Theologie‹ von 1913 lassen dabei sowohl Kontinuitäten als auch Brüche bezeichnen. Es sei hier auf v.a. drei Momente hingewiesen: In Bezug auf die Methodik hat Tillich in der späten ›Systematischen Theologie‹ die »Methode 316 der Korrelation« in Ansatz gebracht. Gemeint ist damit eine Frage-AntwortSchema, dass die Spannung von »existentiellen Fragen und theologischen Antwor317 318 ten« in ihrer »Einheit von Abhängigkeit und Unabhängigkeit« aufbaut und wissenschaftlich bearbeitet. Die existentiellen Fragen evozieren sich dabei aus der Wirklichkeit der endlichen menschlichen Existenz selbst, die theologischen Antworten richten die am Orte der Existenz aufbrechenden Aporien aus auf Gott, 311 Der erste Band (Teil I und II ›Vernunft und Offenbarung‹ und ›Sein und Gott‹) erschien im Sommer 1951, der zweite (Teil III ›Die Existenz und der Christus‹) folgte 1957 und der dritte und letzte Band (Teil IV und V ›Das Leben und der Geist‹ und ›Die Geschichte und das Reich Gottes‹) wurde 1963, zwei Jahre vor dem Tode Tillichs publiziert. In deutscher Sprache erschien der erste Band 1955, der zweite 1958 und der dritte postum 1966. 312 Vgl. Pauck, Tillich, 242. Zur Entstehungsgeschichte der späten ›Systematischen Theologie‹ vgl. a.a.O., 214–253. 313 Schüßler/Sturm, Tillich, 178 (Hervorhebung v.Vf.). 314 Schüßler/Sturm, Tillich, 178. 315 Vgl. z.B. RFdMH, 16. 316 Tillich, ST I, 9. 317 Tillich, ST II, 19. 318 Tillich, ST II, 19 (Hervorhebung i. Orig.).
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
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Christus, den göttlichen Geist und das Reich Gottes. In Bezug auf das diskutierte 1913er System lässt sich in der Methode der Korrelation eine Abschattung des Ineinander von Relativem und Absolutem erkennen. Wie mit der Rede von existentiellen Fragen bereits angezeigt wird, ist in der späten ›Systematischen Theologie‹ gegenüber dem frühen System unverkennbar ein existentialistischer Sound, der sich v.a. der Auseinandersetzung Tillichs mit der Existentialphilosophie im Gefolge Heideggers verdankt, die Tillich ausdrücklich als »Glücksfall für die christliche 320 321 Theologie« bezeichnet. Mit ihrer Hilfe gelingt sachlich eine Schärferstellung dessen, was im frühen System unter dem Standpunkt der Reflexion firmierte. Vor allem aber wahrnehmbar in der späten ›Systematischen Theologie‹ ist ein verstärk322 tes Interesse an der Ausarbeitung einer dezidiert »theologische[n] Ontologie« , wie sie ihm bereits seit den 1920er Jahren vorschwebte, wobei eine (im Sinne des Standpunktes der Intuition) entwickelte philosophische Ontologie im Durchgang durch die Existenz (im Sinne des Sandpunktes des Reflexion) vermittelt wird mit theologischen Paradoxien, wie sie anhand der Person Jesus als des Christus offen323 bar geworden sind (im Sinne des Standpunktes der Theologie). Dem Begriff des Lebens wird in der späten ›Systematischen Theologie‹ eine bleibend zentrale systematische Stellung zugewiesen. Im Lebensbegriff, der v.a. im dritten Band ausführlich entfaltet wird, bündelt sich gleichsam der Eintrag und Import der genannten Gesichtspunkte, was systematisch in der terminologischen Verklammerung der nun zentralen, aber bereits in der ›Systematischen Theologie‹ 324 von 1913 begegnenden Dualität von »Potentialität und Aktualität« als Konzept 325 der vieldimensionalen Einheit des Lebens durchgeführt wird. Die im 1913er System begründete Schematik des Lebens (Etablierung einer Tiefendiemsion des Lebens, die Bestimmung des Verhältnisses des gelebten Lebens zu dieser Tiefendimension als Entfremdung und die Wiedergewinnung einer neuen Einheit) erfährt 319 Vgl. Schüßler/Sturm, Tillich, 181 320 Tillich, ST II, 33. Zu den verschlungenen Wegen von Tillichs Rezeption der ihm neueren philosophischen Strömungen (Husserl, Lask, Lotze, Rickert, Simmel, Sigwart, Scheler und Windelband) vgl. ausführlich Barth, U., Sinntheoretische Grundlagen, 97–123. 321 Vgl. dazu die autobiographischen Reminiszenzen aus ›Auf der Grenze‹: »Ich selbst war in dreifacher Weise zur Aufnahme dieser Philosophie [sc. der Existentialphilosophie] vorbereitet. Einmal durch die genaue Kenntnis von Schellings Spätperiode, in der er im Kampf mit Hegels Wesensphilosophie einer Existentialphilosophie den Weg zu bahnen suchte. Zweitens durch eine, wenn auch begrenzte Kenntnis von Kierkegaard, dem eigentlichen Begründer der Existentialphilosophie, drittens durch meine Abhängigkeit von der Lebensphilosophie« (Tillich, Grenze, 36). 322 Tillich, Eschatologie und Geschichte, 74. 323 »Tillichs spätes Hauptwerk, die Systematische Theologie, zeichnet sich durch die Eigentümlichkeit aus, daß sie eine philosophische Ontologie mit einer Offenbarungstheologie zu verbinden sucht« (Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 13). Vgl. dazu auch Schüßler/Sturm, Tillich, 183f. 324 Tillich, ST (1913), 299. 325 »Das Konzept der vieldimensionalen Einheit des Lebens, welches eine Duplizität von Leben und Geist voraussetzt und welche Tillich durch das aristotelische Begriffspaar Potenz und Akt konzeptionalisiert, kann als Reformulierung des Organismuskonzeptes angesehen werden« (Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 293).
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in der späten ›Systematischen Theologie‹ gleichsam ihre geschärfteste Durchführung. Die Bedeutung des Lebensbegriffs im späten System unterstreicht die Tatsache, dass der dritte Band der späten ›Systematischen Theologie‹, der den Höhepunkt des Systems bildet, eben mit einer Exposition des Lebensbegriffes ein326 setzt. Der thetische Ausgangspunkt der Tillichschen Lebenskonzeption in der späten ›Systematischen Theologie‹ kann in folgender konzentrierten Formulierung erblickt werden: »Leben ist der Prozeß, in dem potentielles Sein zu aktuellem Sein 327 wird« . Tillich spricht in dieser Beziehung ausdrücklich von einem »Lebensbe328 329 griff« , genauer von einem »ontologischen Lebensbegriff« . In dieser Beziehung 330 schließt er sich zunächst Aristoteles an. Eine wichtige Präzisierung gegenüber Aristoteles besteht jedoch darin, dass Tillich dessen ontologischen Lebensbegriff, wie er vor dem Hintergrund der angesprochenen Existentialismus-Rezeption sagt, 331 existentialistisch gebraucht. Ein existentialistischer Gebrauch thematisiert das Leben konsequent vor dem Hintergrund der Dualität von Essenz und Existenz, von essentiellem und existentiellem Sein, eine Dualität, die Tillich im zweiten Band der ›Systematischen Theologie‹ explizit als Prinzip seines systematisch-theologischen 332 Denkens bezeichnet hat. 326 »Der dritte und letzte Band der ›Systematischen Theologie‹ bildet den Höhepunkt von Tillichs System. Von ihm aus, insbesondere vom Begriff des Lebens und des göttlichen Geistes aus, erschließen sich die anderen Teile« (Schüßler/Sturm, Tillich, 191). 327 Tillich ST, I, 280. Vgl. auch ebd.: »Leben ist die Aktualisierung des Seins oder genauer: der Prozeß, in dem potentielles Sein zu aktuellem Sein wird«. Vgl. auch ST III, 42: »Leben wurde als Aktualisierung von Sein definiert«. Vgl. endlich auch ST III, 44: »In dem Prozeß der Aktualisierung vom Potentiellen zum Aktuellen, den wir Leben nennen [...]«. Es handelt sich dabei nicht um eine Definition im strengen Sinne, sondern um die Angabe einer Adäquatheitsbedingung, was v.a. die folgenden Präzisierungen zu Essenz und Existenz deutlich machen. 328 Tillich, ST III, 21. 329 Tillich, ST III, 22. Tillich kann diesen Lebensbegriff auch als universalen Lebensbegriff ansprechen, wenn er nicht auf ein bestimmtes Gebiet, wie das des Organischen beschränkt wird. Vgl. dazu Danz, Religion als Freiheitsbewusstsein, 275. 330 »Leben ist die ›Aktualisierung des Seins‹ (Aristoteles)« (Tillich, ST III, 21). 331 »Philosophiegeschichtlich könnte man sagen, daß ich die aristotelische Unterscheidung von dynamis (Potentialität) und energeia (Aktualität) existentialistisch gebrauche. Damit bin ich nicht weit von Aristoteles' Auffassung entfernt, der die dauernde ontologische Spannung zwischen Materie und Form in allem, was existiert, betont« (Tillich, ST III, 22 [Hervorhebungen i. Orig.]). 332 Dort spricht Tillich von der »Kluft zwischen essentiellem und existentiellem Sein, und [das] ist das Prinzip, das diesem ganzen theologischen System zugrunde liegt« (Tillich, ST II, 130 [Hervorhebung v. Vf.]). Das an die Duplizität von Essenz und Existenz anschließende Aufbauschema der ›Systematischen Theologie‹ lässt sich im Anschluss an Christian Danz folgendermaßen entschlüsseln: Die im ersten Band entfaltete Gotteslehre in Gestalt einer »ontologischen Strukturtheorie« (Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 277) steht für die Explikation des Seins als Essenz und der zweite Band dafür, »das unableitbare Faktum der Existenz zu explizieren« (ebd.). Bei beiden Entwicklungen handelt es jedoch insofern um Abstraktionen, als die Entfaltung der Essenz absieht von ihrer aktualen Realisierung als Existenz und umgekehrt die Darstellung der Existenz unabhängig erfolgt von den Bestimmungen der Essenz in der Ontologie. Notwendig waren diese methodischen Abstraktionen, um eine möglichst klare Analyse der Freiheit in beiden Bereichen zu
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
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Leben wird dementsprechend immer einmal in seiner Essenz (das Was-Sein; τὶ ἐστι, quidditas) und in das andere Mal in seiner Existenz (das Das-Sein; τὸ ποιόν, 333 haecceitas ) thematisch und Leben ereignet sich genau dann, wenn essentielle Potentialität in existentielle Aktualität übergeht. Genauer betrachtet geht es nicht allein um ein transeuntes und monodirektionales Übergehen von Potentialität resp. Essenz in Aktualität resp. Existenz, sondern um einen dynamischen Prozess von Selbstunterscheidung und Selbstvermittlung der ontologischen Strukturen des 334 Seins: »Diese Elemente [sc. die Strukturelemente des Seins] bewegen sich in jedem Lebensprozeß divergierend und konvergierend. Sie trennen und vereinigen 335 sich zugleich« . Insofern diese Strukturen immer in der doppelten Perspektive von Essenz und Existenz thematisch werden, kann Tillich auch etwas großzügiger formulieren: »Ich gebrauche das Wort ›Leben‹ als Ausdruck für eine ›Mischung‹ 336 von essentiellen und existenziellen Strukturen« . In Zuge dieser Grundexposition grenzt sich Tillich in zweifacher Hinsicht ab. Zum einen richtet er sich gegen die lebensphilosophischen Ansätze, zu denen er ausdrücklich Nietzsche, aber auch Wilhelm Dilthey, Henry Bergson, Georg Simmel und Max Scheler zählt. Der Lebensphilosophie hält Tillich zugute, dass sie erkannt 337 hat, dass das Leben nicht einem (im Sinne Tillichs) »beherrschenden Erkennen« unterworfen werden kann, sondern vielmehr Gegenstand eines (in seiner Diktion) 338 »einenden Erkennens« sein muss. Indem jedoch das einigende Erkennen der Le-
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gewährleisten. Da aber Essenz und Existenz grundsätzlich im Verhältnis einer irreduzibelen Doppelheit stehen, folgert Danz: »Damit ergibt sich, daß der im dritten Band der Systematischen Theologie dargestellten Pneumatologie die Funktion zukommt, die beiden gegenläufigen Gedankenfiguren von Essenz und Existenz in ihrer unreduzierbaren Doppelheit zu explizieren« (a.a.O., 278). Danz weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich Konzeption des Aufbaus an Einsichten der Spätphilosophie Schellings anschließt, insofern er einerseits (mit Schelling) an einer Essenztheorie festhält, andererseits jedoch (gegen Hegel) nicht von einer Ableitung der komplementären Existenztheorie aus der Essenztheorie ausgeht, sondern beide in Gestalt einer Theorie des relativen a priori unterscheidet und verbindet (vgl. a.a.O., 282ff.). Zu diesen Kategorien vgl. Aristoteles, Metaphysik Δ (Buch V, 7), 1017a, 23-27: »ὁσαχῶς γὰρ λέγεται τοσαυταχῶς τὸ εἴναι σημαίνει. ἐπεὶ οὖν τῶν κατηγορουμένων τὰ μὲν τί ἐστι σημαίνει, τὰ δὲ ποιόν, τὰ δὲ ποσόν, τὰ δέ πρός τι, τὰ δὲ ποιεῖν ἤ πάσχειν, τὰ δὲ ποῦ, τὰ δὲ πότε, ἐκάστῳ τούτων τὸ εἴναι ταὐτὸ σημαίνει«. Gemeint sind die in der Ontologie entwickelten Strukturen von Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal. Vgl. dazu Tillich, ST I, 206–218. Tillich, ST I, 280. Tillich, ST III, 22. Vgl. auch ebd.: »In allen Lebensprozessen ist ein essentielles und ein existentielles Element [...]. Das Leben umfaßt immer essentielle und existentielle Elemente«. Erkennen besteht Tillich zufolge in der Einheit von einem erkennenden Subjekt und einem erkennten Objekt. Im Falle eines beherrschenden Erkennens (wie es für eine technische Vernunft typisch ist) geschieht dies, indem das Erkenntnissubjekt sich das Erkenntnisobjekt unterwirft: »Beherrschendes Erkennen verbindet Subjekt und Objekt, um die Herrschaft des Subjekts über das Objekt aufzurichten. Es verwandelt das Objekt in ein völlig bedingtes und berechenbares ›Ding‹ und beraubt es jeder subjektiven Qualität« (Tillich, ST I, 117f.). Vgl. Tillich, ST I, 118f.: »Einendes Erkennen ist weder aktuell noch potentiell durch die ZweckMittel-Beziehung bestimmt. Einendes Erkennen nimmt das Objekt in sich selbst, in die Einheit mit
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Der Theologische Lebensbegriff
bensphilosophie eben von einer emotiv-intuitiven Basis ausgeht (hier denkt Tillich v.a. an Bergson), fehlt ihr die Möglichkeit einer methodisch kontrollierten Verifizierung der erfassten Erkenntnisgehalte. Zum anderen wendet sich Tillich gegen die Prozessphilsophie (William James, John Dewey und Alfred N. Whitehead) als adäqute Lebenswissenschaft. Der zentrale Einwand an dieser Stelle besteht darin, dass Prozesshaftigkeit nicht allein charakteristisch ist für Lebenserscheinungen, 339 sondern auch im strengen Sinne totes Sein betreffen kann. In die geschilderte Exposition des Lebensbegriffes (Leben als Aktualisierung von Potentialität) ist (wie auch schon im frühen 1913er System) nahtlos der Gottesgedanke eingepasst. Tillich geht dabei aus von der Prämisse, »daß Gott ein le340 bendiger Gott ist« . Das heißt zunächst, dass auch das göttliche Leben durch die basale Struktur der wechselseitigen Vermittlung von Potentialität in Aktualität resp. von Essenz in Existenz charakterisiert ist, allerdings jenseits von Endlichkeit und Geschichtlichkeit: »Wir behaupten, daß er [sc. Gott] der ewige Prozeß ist, indem sich fortgesetzt Trennung vollzieht und durch Wiedervereinungung überwun341 den wird« . Das Spezifische des göttlichen Lebens besteht allerdings nicht allein in der Ewigkeitsdimension, sondern darüber hinaus in einer prinzipiellen Unterschiedslosigkeit von Potentialität und Aktualität. D.h. – und an dieser Stelle dürfte ein bleibender Schatten der Schelling-Rezeption des frühen Tillich zu erblicken 342 sein –, dass der Gottesgedanke in der spezifischen Formatierung Tillichs gleichsam für das Ineinander von Einheit und Polarität, von Essenz und Existenz resp. Potentialität und Aktualität steht. »Der polare Charakter der ontologischen Elemente ist gegründet im göttlichen Leben, aber das göttliche Leben ist dieser Polari343 tät nicht unterworfen« . Gott ist in diesem Sinne Geist, das göttliche Leben ist Le344 ben als Geist. Und dieser Geist als einheitlicher Grund der Differenz von Aktualität und Passivität erweist sich gleichermaßen als Ur-Grund allen anderen 345 Lebens. Endlich-geschichtliches Leben ist demgegenüber sehr wohl der Dualität von Essenz und Existenz unterworfen. Potentialität und Aktualität treten hier in sehr dif-
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dem Subjekt auf. Das schließt ein emotionales Element ein, von dem sich das beherrschende Erkennen so weit wie möglich zu lösen versucht. Emotion ist die treibende Kraft für das einende Erkennen«. Vgl. dau die Ausführungen zur Kristallbildung unter C.II.1. Tillich, ST I, 280 (Hervorhebung v. Vf.). Zum Gottesgedanken der ›Marburger‹ resp. ›Dresdner Dogmatik‹ vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 490ff. Vgl. dazu die These aus der frühen ›Systematischen Theologie‹ »Gott ist der lebendige« (Tillich, ST [1913], 328 [i. Orig. gesperrt]). Tillich, ST I, 280 (Hervorhebung v. Vf.). Tillich ergänzt: »In diesem Sinne lebt Gott«. Zur Schelling-Rezeption Tillichs vgl. ausführlich Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, passim. Tillich, ST I, 281. Vgl. auch Tillich, ST II, 41: »Gott ist vollkommen, weil er jenseits von Essenz und Existenz steht«. Vgl. Tillich, ST I, 289. Vgl. dazu Nietzsches Konzeption des Ur-Einen unter B.II.1. sowie zu Tillichs Nietzsche-Rezeption Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 411-423.
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ferenten Konstellationen auseinander. Im Zuge einer Analyse des endlichgeschichtlichen Lebens als Aktualisierung von Potentialität erkennt Tillich verschiedene Dimensionsfelder, mit denen er das Reich des endlich-geschichtlichen 346 Lebens absteckt. Es sind im Wesentlichen drei: die Dimensionen im anorganischen und organischen Bereich, der Geist als Dimension des Lebens und die Dimensionen, die sich aus dem Verhältnis des Geistes zu den vorausgehenden Di347 mensionen ergeben. Die Dimension des Anorganischen meint eine Aktualisierung von Potentialitäten, die raum-zeitlich gemessen und physikalisch hinsichtlich ihrer Substanz und 348 nach Kausalverbindungen analysiert werden können. Die herausragende Bedeutung dieser Dimension besteht darin, dass sie die unverzichtbare Voraussetzung für die Aktualisierung aller weiteren Potentialitäten darstellt. Die Dimension des Organischen umfasst die Aktualisierungen von Vegetativem und Animalischen. Sie besteht wesentlich in einer Konstellationenverschiebung der zentralen Existenzkategorien (Zeit, Raum, Kausalität und Substanz). Der Raum und die Kausalität werden zur partizipativen Einheit wechselseitig voneinander abhängender Elemente, die Zeit zum Wachstumsprozess und die Stofflichkeit zur »individuellen Substanz mit einer bestimmenden Identität«349. Die entscheidenden Charakteristika des Organischen bestehen in Selbstbezüglichkeit, Erhaltungstrieb, dem Drang über sich hinaus zu wachsen und Fortpflanzung. Im Falle höheren animalischen Lebens rechnet Tillich bzgl. der Dimension des Organischen bereits mit dem zusätzlichen Aktualisieren der Dimension des Psychi350 schen als der »Dimension des Bewußtseins« . Für sie ist es typisch, dass Zeit nicht 351 messbare, sondern »erlebte Zeit« ist. Und der Raum ist nicht einfach Platz, sondern die Sphäre von innen her gerichteter Bewegungen. Die Kausalität indes bleibt 346 Mit Dimensionen meint Tillich im Gegensatz zu hierarchischen Schichten Aktualisierungsmöglichkeiten des Lebens. Im Gegensatz zu einem Schichtenmodell können jedoch die Dimensionen des Lebens als Einheit gedacht werden: die vieldimensionale Einheit des Lebens. In jedem Leben sind alle Daseinsmöglichkeiten angelegt, aber nicht alle aktualisiert. Das Spezifische der Dimensionen besteht in einer »Art, wie unter ihrer Vorherrschaft die Kategorien Zeit, Raum, Kausalität und Substanz eine besondere Prägung erhalten« (Tillich, ST III, 28). Die Aktualisierung von Dimensionen ist an bestimmte Bedingungen gebunden, so die Aktualisierungen der Dimensionen des Organischen an die des Anorganischen. Aktualisiert sich eine Dimension und gewinnt die Vorherrschaft, so spricht Tillich von einem Bereich. Je mehr Dimensionen in einem Leben kopräsent aktualisiert sind, desto einer höheren Grad an Wert gewinnt es. Werte versteht Tillich dabei als »Grade an Seinsmächtigkeit« (Tillich, ST III, 28). 347 Tillich ist dabei bewusst, dass er keineswegs eine vollständige Beschreibung liefert. Vielmehr ist er sich der Vorläufigkeit und Revisionsfähigkeit seiner Kompilation sehr wohl bewusst. 348 Damit wird deutlich, dass Tillich seinen Lebensbegriff nicht allein auf organisches Leben reduziert: »Der universale Lebensbegriff befreit das Wort ›Leben‹ von seinen Bindungen an den organischen Bereich und erweitert es zu einem Fundamentalbegriff, der in einem theologischen System verwendet werden kann, allerdings nur, wenn er existentiell interpretiert wird« (Tillich, ST III, 22). 349 Tillich, ST III, 369. 350 Tillich, ST III, 31. 351 Tillich, ST III, 362.
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Der Theologische Lebensbegriff 352
noch »der ›Gefangene‹ der Substanz« ; d.h. die Kausalität vermag es nicht, die Grenzen der Substanz zu überwinden. Die Dimension des Geistes als Lebens-Aktualisierung ist wieder durch eine veränderte Kategorienkonstellation gekennzeichnet. Raum und Zeit werden in der 353 Spannung von Unendlichkeit und konkreter Begrenztheit repräsentiert. Die Kau354 salität wird zur »schöpferischen Kausalität« . Und die Substanz erweist sich am Orte geistigen Lebens als »Geist-bestimmte Substanz; das Zentrum des Bewußt355 seins wird zum persönlichen Selbstbewußtsein« . Zusammenfassenden Ausdruck findet dies in der Dualität von schöpferischer Macht und Sinn: »Geist als eine Dimension des Lebens [ist] Einheit von Seins-Macht und Seins-Sinn. Geist kann defi356 niert werden als Aktualisierung von Macht und Sinn in ihrer Einheit« . Herrscht diese Konstellation in einem Organismus vor, in dem sie sich aktualisiert, so 357 spricht Tillich von Mensch. Die Dimensionen des Geistes in ihrem Verhältnis zu den vorangehenden Dimensionen schließlich besteht auch in einem Zweifachen: einmal im Verhältnis des Geistes zur psychischen und biologischen Dimension und das andere Mal ist sie »die geschichtliche Dimension [als] letzte und allumfassende Dimension des Le358 bens« . Das Verhältnis des Geistes zum physischen Material fixiert Tillich als Freiheit: Freiheit einmal als Erkenntnisakt, da Erkenntnis im strengen Sinne die Distanz zum zu erkennenden Material voraussetzt; und das andere Mal Freiheit als moralischer Akt. Der moralische Akt ist dabei keine Resultante von psychischen Zuständlichkeiten und Einstellungen, sondern deren von einem zentrierten Selbst getragenes transzendierendes Abwägen und Entscheiden. Die geschichtliche Dimension des Lebens endlich trägt der »vorwärtstreibende[n] Kraft des Lebens«359 Rechnung. Geistiges Leben als schöpferische und freie Macht schafft unentwegt Neues. Der geistigen Dimension des Lebens gilt Tillichs besonderes Augenmerk in der ›Systematischen Theologie‹, steht doch sein ontologisch-universaler Lebensbegriff nicht zuletzt für eine Befreiung des Wortes »›Leben‹ von seinen Bindungen an den 360 anorganischen Bereich« . 352 Tillich, ST III, 369. 353 »Die Zeit des schöpferischen Geistes vereint ein Element abstrakter Unbegrenztheit mit einem Element konkreter Begrenztheit« (Tillich, ST III, 362). Und: »Der Raum des schöpferischen Geistes vereint ein Element abstrakter Unbegrenztheit mit einem Element konkreter Begrenztheit« (Tillich, ST III, 362). 354 Tillich, ST III, 370. 355 Tillich, ST III, 370. 356 Tillich, ST III, 134. 357 Entsprechend ist Tillich der Auffassung, dass »wir den Menschen als den Organismus definieren, in dem die Dimension des Geistes vorherrscht« (Tillich, ST III, 37). 358 Tillich, ST III, 36. 359 Tillich, ST III, 36. 360 Tillich, ST III, 22.
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
IV.3.1
323
Die Hauptfunktionen und die Zweideutigkeit des Lebens
Leben, das sich als Aktualisierung von Potentialität in den beschriebenen Dimensionen vollzieht, ist nach Tillich durch drei Elemente gekennzeichnet, die wiederum in drei Hauptfunktionen überführt werden. Diese drei Elemente ergeben sich aus der vorausgesetzen Grundstruktur des Lebens als Übergehen von Potentialität in Aktualität im Sinne eines dynamischen Prozesses von Selbstunterscheidung und Selbstvermittlung. Die drei Elemente sind – im losen Anschluss an das 1913er System – formaliter: Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sichSelbst. Die erste Funktion des Lebens, die Tillich aus dem vorausgesetzten Schema gewinnt, ist die Selbst-Integration, als die »Kreisbewegung des Lebens«361. Sie ist Ausdruck des »Wesen[s] des Lebens selbst« und die Bewegung der Etablierung eines Zentrums, das dann aus sich heraustritt, sich qua Aufnahme von Gehalten bereichert und so verändert wieder in sein Zentrum zurückkehrt. Prinzip dieser Funktion ist Zentriertheit. In der Dimension des Organischen erscheint diese Zentriertheit als Gesundheit und in der Dimension des Geistes als Moralität i.S.v. 362 personaler Integration in einer Gemeinschaft von Personen. Die zweite Funktion des Lebens betrifft weniger das zentrierende und zirkuläre Moment, als vielmehr das Aus-sich-Heraustreten im Sinne einer horizontalen Be363 wegung. Tillich nennt dies die »Funktion des Sich-Schaffens« , weil in der Aktualisierung des Lebens außerhalb seines Zentrums quasi neue Zentren geschaffen werden. Leben ist in diesem Sinne schöpferische Kraft, die sich aber immer auf einen schöpferischen Grund bezogen weiß. In der Dimension des Organischen erscheint diese Funktion als Wachstum und in der Dimension des Geistes als Kultur. Die dritte Funktion endlich – Tillich bezeichnet sie als die »selbst-transzen364 dierende Funktion« und sie ist nur für die Dimension des Geistes typisch – ist vertikal ausgerichtet. Ihr Prinzip ist das Heilige, weil das geistige Leben Tillich zufolge per se über sich hinaussteigt. Sie bedeutet eine Selbstbewegung des Lebens, 365 in der »die Beziehung eines jeden Endlichen zum Unendlichen bewußt wird« . Ihr spezifischer Bereich ist die Religion. Die beschriebenen Funktionen werden von Tillich vor dem Hintergrund des in der Sündelehre der im zweiten Band der ›Systematischen Theologie‹ entfalteten 366 Struktur des »Übergang[s] von der Essenz zur Existenz« präzisiert. Dort hat Til361 Tillich, ST III, 43. 362 Vgl. Tillich, ST III, 51: »Der Akt, in dem der Mensch seine essentielle Zentriertheit verwirklicht, ist der moralische Akt. Moralität ist die Funktion des Lebens, durch die der Bereich des Geistes konstituiert wird. Ein moralischer Akt ist [...] ein Akt, in dem das Leben sich in der Dimension des Geistes integriert, und das bedeutet, daß es sich als Person in einer Gemeinschaft von Personen konstituiert«. 363 Tillich, ST III, 43. 364 Tillich, ST III, 43. 365 Tillich, ST III, 107. 366 Tillich , ST II, 36.
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Der Theologische Lebensbegriff
lich in einer psychologisierenden Interpretation der als Mythos verstandenen Sündenfallerzählung den schicksalhaften Weg vom potentiellen Sein (träumende Unschuld als das allein virtuelle Durchspielen von Seinsmöglichkeiten ohne deren Aktualisierung) über ein Spannungsmoment zwischen Potentialität und Aktualisierung (erregte Freiheit als mit dem Freiheitsbewusstsein verbundenes konfligierendes Ineinander von Wunsch nach Aktualisierung und der Angst da367 vor ) hin zur Aktualisierung (Fall als Selbstverwirklichung, die mit dem Verlust der reinen Potentialität und der entsprechenden Daseinsmöglichkeiten einhergeht) aufgezeigt. Der beschriebene Übergang von der Essenz zur Existenz ist dabei von Tillich nicht als singuläres Geschehen im Sinne der klassischen Erbsündenlehre gedacht, sondern als universale Erfahrung des menschlichen Lebens, die dann nachgerade schicksalhaft auftritt, wenn menschliches Lebens sich seiner endlichen Freiheit 368 bewusst wird. Das, was Tillich dabei schicksalhaft resp. »Schicksal« nennt, ist zu verstehen als eine Quasi-Notwendigkeit, die die Indisponibilität der humanen Freiheitssituation artikuliert. In diesem Sinne ist »der Übergang von der Essenz zur 369 Existenz eine universale Qualität des menschlichen Seins« . Eine entscheidende Pointe, die ebenfalls mit dem Schicksalsbegriff assoziiert ist, besteht darin, dass mit der Aktualisierung endlichen Lebens gleichsam eine Kluft zwischen Essenz und Existenz entsteht in dem Sinne, dass sich das aktualisierte endliche Leben in seiner Aktualisierung von seinem essentiellen Grund entfernt. Dies entspricht einem tragischen Element des Übergangs von Essenz in Exis370 tenz, das Tillich im Anschluss an Hegel als Entfremdung bezeichnet und das 367 Im Anschluss an Kierkegaard kann Tillich diesen Zustand der Angst in zweifacher Hinsicht bestimmen: einmal die Angst, sich durch Nichtverwirklichung der Potentialität zu verlieren und das andere Mal, sich in der Verwirklichung der Potentialität zu verlieren (Selbstbewahrung versus Selbstverwirklichung). Die Angst vor Nichtverwirklichung, also am Leben nicht teilzunehmen, erweist sich nach Tillich als die grössere und ausschlaggebende. 368 Tillich, ST II, 40. 369 Tillich, ST II, 43. Vgl. auch ST, II, 45: »[D]er Übergang vom essentiellen zum existentiellen Sein [liegt] im Charakter der Existenz«. 370 Zum Begriff der Entfremdung bei Hegel vgl. Hegel, PhdG, 39: »Der Geist [aber] ist diese Bewegung, sich ein Anderes, d.h. Gegenstand seines Selbsts zu werden, und dieses Anderssein aufzuheben. Und die Erfahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrne, d. h. das Abstrakte, es sei des sinnlichen Seins oder des nur gedachten Einfachen, sich entfremdet, und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückgeht, und hiermit jetzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewußtseins ist« (Hervorhebung teilw. i. Orig.). Zu Tillichs Aufnahme und Interpretation dieses terminus vgl. Schüßler/Sturm, 187f.: »Der Begriff ›Entfremdung‹ geht auf Hegel zurück. Tillich gibt ihm aber eine besondere Note: ›Der Mensch ist seinem wahren Sein nicht fremd. Es ist sein Sein, von dem er nicht loskommen kann, auch wenn er möchte – wie er sich auch von Gott nicht losmachen kann, da er zu Gott gehört‹. Der Begriff ›Entfremdung‹ soll aber den Begriff der Sünde nicht ersetzen. Das Wort ›Sünde‹ bringt den persönlichen Entscheidungscharakter zum Ausdruck. ›Es betont die persönliche Freiheit und Schuld im Gegensatz zur tragischen Schuld und dem universalen Schicksal der Entfremdung‹. Entfremdung und Schuld sind in ihrer Konsequenz Selbst-Zerströrung. Alle Wege einer Selbst-Erlösung müssen scheitern. Eine ganz neue Wirklichkeit wird erwartet«.
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überdies mit einem Sich-Verstricken in Schuld verbunden ist: »Der Übergang von 371 der Essenz zur Existenz endet in persönlicher Schuld und universaler Tragik« . Dies hat Tillich dann im weiteren Fortgang der Gedankenentwicklung der Sünden372 lehre als Unglaube (als ganzheitliches Abwenden vom Seinsgrund ), Konkupiszenz (als lebensgierige Selbsthypostrophierung durch unbegrenzte Assimilation 373 von Umwelt ) und Hybris (als »Selbsterhebung des Menschen in die Sphäre des 374 Göttlichen« ) exemplifiziert. In der Pneumatologie des dritten Bandes der ›Systematischen Theologie‹ werden die in der Sündenlehre gewonnenen Strukturelemente des Übergangs von Essenz in Existenz exakt für eine Präzisierung der beschriebenen Funktionen des Lebens (Selbst-Integration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung) fruchtbar gemacht. Denn Selbst-Integration, Sich-Schaffen und Selbst-Transzendierung als Aktualisierungsmodi des endlichen Lebens unterliegen ebenso den Strukturmo375 menten der »existentielle[n] Entfremdung« , die Tillich zusammenfassend als Zweideutigkeit des (endlichen) Lebens fixiert. Zweideutigkeit meint hier (und so wurde der Begriff im Rahmen der Ontologie des ersten Bandes thetisch eingeführt) 376 die »Zweideutigkeit unserer geschichtlichen Existenz« , die darin besteht, dass das 377 endlich-geschichtliche Leben »zugleich Sein ausdrückt und ihm widerspricht« , d.h. die »existentielle Aktualisierung von endlich-geschichtlichem Leben sich gegen ihren unendlich-ungeschichtlichen essentiellen Grund richtet. Zweideutigkeit ist so eine 378 »Mischung von essentiellen und existentiellen Elementen« . In der Aktualisierung der jeweiligen Lebensfunktionen tauchen Alterierungssyndrome auf, die eine mit sich identische Selbstvermittlung des Lebens unterminieren und dem existentiel379 len Leben so einen zweideutigen und tragischen Zug verleihen. 371 Tillich, ST II, 52. 372 »Der menschliche Unglaube ist die Entfremdung von Gott. [...] Unglaube ist letztlich identisch mit Nicht-Liebe« (Tillich, ST II, 56). 373 »›Konkupiszenz‹ [ist] die unbegrenze Sehnsucht, das Ganze der Wirklichkeit dem eigenen Sein einzuverleiben« (Tillich, ST II, 60). 374 Tillich, ST II, 58. Vgl. auch ST III, 114f.: Hybris ist die Selbsterhebung der Großen über die Grenzen ihrer Endlichkeit, die zur Zerstörung anderer und ihrer selbst führt« (Hervorhebung i. Orig.). 375 Tillich, ST III, 44. 376 Tillich, ST I, 76. 377 Tillich, ST I, 237. 378 Tillich, ST III, 117. 379 »Tillich vertritt damit nicht etwa die These, daß es Lebensvollzüge gibt, welche scheitern können im Gegensatz zu solchen, welche gelingen, sondern die weitaus stärkere These, daß jeder Lebensvollzug als solcher schon zweideutig ist« (Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 353). Danz erwägt in diesem Zusammenhang und in Bezug auf eine Formulierung aus der ›Systematischen Theologie‹ (ST III, 378: »Leben [...] kann [...] sich auflösen, [...] kann sich zerstören, [...] kann der Profanierung verfallen« [Hervorhebungen von Danz]) eine starke und eine schwache Lesart der Zweideutigkeit. Nach der ersten wäre die Zweideutigkeit irreduzibel, nach der zweiten prinzipiell aufhebbar. Insofern Danz jedoch davon ausgeht, dass laut Tillich die Zweideutigkeit eben nicht zum Verschwinden gebracht werden, sondern in einer neuen Einheit integriert werden sollte, spricht er sich für die stärkere Lesart aus (vgl. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 354f.).
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So ist die Lebensfunktion der Selbstintegration alteriert durch Desintegration, die Funktion des Sich-Schaffens durch Zerströrung und die Selbst-Transzendie380 rung ist durch Profanisierung und Dämonisierung bedroht: »Jeder Lebensprozeß steht in der Zweideutigkeit, in der positive und negative Elemente gemischt sind, und zwar so, daß eine endgültige Trennung des Negativen vom Positiven nicht 381 möglich ist: das Leben ist in jedem Augenblick zweideutig« . Die sich daraus ergebenden Zweideutigkeiten werden von Tillich extensiv und mit weitem wie präzisem Blick auf die Dimensionen des Lebens diskutiert. Dies kann hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Nur soviel sei hier angedeutet: Desintegration als Bedrohung der Lebensfunktion der Selbst-Integration zeigt sich in der organischen und psychischen Dimension des Lebens als Krankheit und in der geistigen Dimension als unvermeidliche Opferung von Lebens- und Handlungsmöglichkeiten. Zerstörung als alterierendes Moment des Sich-Schaffens wird in der Dimension des Organischen und Bewussten erfahrbar an den Grenzen von Tod sowie Verfall und im Konflikt mit anderem Leben; in der Dimension des Geistes in Gestalt eines nicht mehr kontrollierbaren schöpferischen Chaos. Profanisierung und Dämonisierung endlich sind in Gestalt von erstens Institutionalisierung und reduktiver Kritik (Profanisierung als Widerstand gegen die Selbst-Transzendierung) und zweitens im »Anspruch eines Endlichen, unendlich und von göttlicher Größe zu sein«382 (Dämonisierung als die Verfälschung der Selbst-Transzendierung) erhebbar. IV.3.2
Das unzweideutige Leben
Es entspricht der genannten korrelativen Methodik des theologischen Denkens der ›Systematischen Theologie‹, dass der Exposition eines zweideutigen Lebens die 383 Antwort eines unzweideutigen Lebens gegenübersteht. Ist es für das zweideutige Leben die schicksalhafte Charakteristik, Trennung und Ineinander von essentiellen und existentiellen Momenten aushalten zu müssen, so bedeutet das unzweideutige Leben demgegenüber exakt eine »Wiedervereinigung von essentiellem und 384 existentiellem Sein« . Die im Ausdruck Wiedervereinigung mitgeführte Einheitsvorstellung spezifiziert Tillich als eine transzendente Einheit; wie er immer wieder
380 Gleichzeitig sind die Funktionen in Korrelation zu den im ersten Band entfalteten Polaritäten des Seins entwickelt: Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal und Selbst und Welt (vgl. Tillich, ST I, 206-218). 381 Tillich, ST III, 44. Vgl. auch ST III, 55: »Das menschliche Leben vereint zweideutig essentielle Zentriertheit und existenzielle Zerrissenheit. Es gibt keinen Augenblick im menschlichen Lebensprozeß, in dem das eine oder das andere ausschließlich vorherrschte«. 382 Tillich, ST III, 125. Vgl. auch ebd.: »Wo der Anspruch auf Göttlichkeit erhoben wird, sprechen wir vom Dämonischen«. 383 Tillich kann die für das unzweideutige Leben charakteristische Wiedervereinigung von essentiellem und existentiellem Sein explizit als die »direkte Antwort auf die Fragen, die in den Zweideutigkeiten der Funktion der Selbst-Transzendierung liegen« (Tillich, ST III, 154), ansprechen. 384 Tillich, ST III, 154.
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
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385
festhält, als die »transzendente Einheit […] unzweideutigen Lebens« . Transzendente Einheit meint dabei eine Einheit von Widerspruch und Einheit dergestalt, dass der in der Existenz aufbrechende Widerspruch von Essenz und Existenz aufgehoben wird in eine neue, überwidersprüchliche Einheit: eben die transzendente und unzweideutige Einheit von Essenz und Existenz des göttlichen Lebens resp. 386 des göttlichen Geistes. Die Grundstruktur des unzweideutigen Seins erschließt Tillich dabei wie folgt: »Unzweideutiges Leben kann beschrieben werden als Leben in der ›Gegenwart des 387 göttlichen Geistes‹, als Leben im ›Reich Gottes‹ und als ›Ewiges Leben‹« . Alle 388 drei Momente verkörpern spezifische Überwindungsmomente. Die Gegenwart des göttlichen Geistes steht dabei konkret für die Überwindung der Zweideutigkei389 ten in der Dimension des Geistes. Reich Gottes symbolisiert die Überwindung 390 der Zweideutigkeiten in der Dimension der Geschichte. Und das ewige Leben repräsentiert die Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens jenseits der Ge391 schichte. Die drei zentralen Momente werden dabei explizit als Symbole einge392 führt, die jeweils mit der Qualität der transzendenten Einheit besetzt sind. Und diese drei Symbole regieren im Folgenden den weiteren und im einzelnen hochkomplexen Aufbau des dritten Bandes der ›Systematischen Theologie‹. Die Unterabschnitte II. und III. des vierten Teils (›Das Leben und der Geist‹) explizieren zunächst das erste Symbol der Gegenwart des göttlichen Geistes, wobei der zweite Unterabschnitt die Gegenwart des göttlichen Geistes im menschlichen Geist und 385 Tillich, ST III, 153. 386 Tillich, ST III, 309: »Der göttliche Geist verwirklicht in unzweideutiger Weise das Essentielle im Existentiellen«. 387 Tillich, ST III, 132. 388 »›Gegenwart des göttlichen Geistes‹ [steht] für die Überwindung der Zweideutigkeiten in der Dimension des Geistes, ›Reich Gottes‹ für die Überwindung der Zweideutigkeiten in der Dimension der Geschichte und ›Ewiges Leben‹ für die Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens jenseits der Geschichte« (Tillich, ST III, 133). Zum terminus der Überwindung vgl. auch das unter B.II Ausgeführte. 389 Vgl. auch Tillich, ST III, 324: »Die Gegenwart des göttlichen Geistes ist die Gegenwart Gottes in einer bestimmten Weise: Es ist nicht die Gegenwart Gottes, wie sie im Symbol der Schöpfung oder im Symbol der Erlösung ausgedrückt wird, obwohl Gegenwart des göttlichen Geistes beide voraussetzt und vollendet. Gegenwart des göttlichen Geistes heißt: Gott im Geist des Menschen ekstatisch gegenwärtig (und implizit in allem, was die Dimension des Geistes konstituiert)«. Vgl. auch Tillich, ST III, 138: »Der göttliche Geist ist [...] eine sinntragende Macht, die den menschlichen Geist in einer ekstatischen Erfahrung ergreift«. 390 Das Reich Gottes ist in diesem Sinne das »soziale Symbol, das der geschichtlichen Dimension entstammt« (Tillich, ST III, 132). 391 Tillich kann auch die letzten beiden Momente verbinden und von der »transzendenten Seite des Reiches Gottes: dem Ewigen Leben« sprechen (Tillich, ST III, 448) 392 Vgl. Tillich, ST III, 154: »›Transzendente Einheit‹ ist eine Qualität des unzweideutigen Lebens und darum der Symbole für das unzweideutigen Leben: ›Gegenwart des göttlichen Geistes‹, ›Reich Gottes‹ und ›Ewiges Leben‹«. Zu Tillichs Symboltheorie vgl. ausführlich Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 341–347, Müller, Symbol, 127-143 und Murgerauer, Symboltheorie und Religionskritik, 26–43.
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Der Theologische Lebensbegriff
in der geschichtlichen Menschheit entfaltet. Und der dritte Unterabschnitt macht die Gegenwart des göttlichen Geistes im Gegenüber der Dimensionen des Geistes (Religion, Kultur und Moral und deren Zusammenschau) thematisch und schließt mit einer Re-Interpretation des trinitarischen Symbolismus (IV.). Der fünfte und letzte Teil des Systems (›Die Geschichte und das Reich Gottes ‹) behandelt zunächst ausführlich das Symbol des Reiches Gottes, das zunächst in seinem Verhältnis zur Geschichte (I.), dann in der Geschichte (II.) und schließlich als Ziel der Geschichte verhandelt wird (III.). Letzteres entspricht konkret der Explikation des dritten Symbols des Ewigen Lebens. Es liegt auf der Hand, dass diese ziselierte wie vertrackte Symbolik des unzweideutigen Lebens hier nicht ausführlich rekonstruiert und interpretiert werden kann. Denn dies würde den Rahmen der hier angestrebten Übersicht bei weitem überschreiten. Für das Verständnis des Lebensbegriffs einschlägig ist an dieser Stelle, dass das in Anklang gebrachte unzweideutige Leben, das Tillich auch mit dem terminus »das neue Sein«393 ansprechen kann, in seiner Explikation orientiert ist an der Person und dem Leben Jesu als der Christus. Jesus als der Christus bringt das unzweideutige neue Leben mit seinem Leben zum Ausdruck, das – wie auch im 1913er System – paradoxe Züge trägt, die die Strukturen von Essenz und Existenz, von Freiheit und Bedingtheit und von Endlichkeit und Unendlichkeit aushalten und eben als Paradox vermitteln: »Der paradoxale Charakter seines [sc. Jesu] Seins liegt in der Tatsache, daß er, obwohl er endliche Freiheit ist und unter den Bedingungen von Raum und Zeit steht, vom Grunde seines Seins nicht entfremdet ist«394. Im Glauben können Menschen an diesem Sein Anteil nehmen. Entsprechend erscheint das unzweideutige Leben – resp. das neue Sein – als ein »Sein in 395 Jesus dem Christus als die Überwindung der Entfremdung« . Die Teilhabe am unzweideutigen Leben ereignet sich im Lebensprozess in der Vereinigung der essentiellen und existentiellen Elemente. Unzweideutiges, wahres Leben entsteht, wenn das aktuelle Sein zum wahren Ausdruck des essentiellen Seins wird. Die Struktur des unzweideutigen Lebens ist die einer transzendenten Einheit, einer Einheit vor 396 dem Unbedingten in Sein und Sinn. Diese Einheit fällt aber nicht wieder in die träumende Unschuld zurück, sondern repräsentiert einen Weg von Entfremdung,
393 Tillich, ST II, 130. Vgl. ebd.: »Das Neue Sein ist das essentielle Sein unter den Bedingungen der Existenz, das Sein, in dem die Kluft zwischen Essenz und Existenz überwunden ist«. Vgl. auch ebd.: »Das Neue Sein ist neu, insofern es die unverzerrte Manifestation des essentiellen Seins unter den Bedingungen der Existenz ist. [...] Es ist in der Existenz und überwindet die Entfremdung der Existenz«. 394 Tillich, ST II, 137. Vgl. auch die Formulierung, aus dem dritten Band, »daß sich im Christus die ewige Einheit von Gott und Mensch unter den Bedingungen der Existenz verwirklicht, ohne von ihnen überwunden zu werden« (Tillich, ST III, 309). 395 Tillich, ST II, 137 (i. Orig. hervorgehoben und Überschrift B 2; Hervorhebung hier v. Vf.). 396 »Glaube ist der Zustand des Ergriffenseins durch das, worauf sich die Selbsttranszendierung richtet: das Unbedingte in Sein und Sinn« (Tiilich, ST III, 155).
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Auseinandersetzung und Entscheidung. Erlebt wird diese Einheit als Glaube 398 (»der Zustand des Ergriffenseins von der transzendenten Einheit« ) und als Liebe 399 (»der Zustand des Hineingenommenseins in die transzendente Einheit« ). Das von Tillich in der späten ›Systematischen Theologie‹ beschriebene Leben wird so als ein Prozess einsichtig, »als de[r] Weg von der Essenz über die existentielle Ent400 fremdung zur Essentifikation« und hat zum Ziel, die »Bejahung der absoluten 401 Ernsthaftigkeit des Lebens im Lichte des Ewigen« . IV.4
Moralische Implikationen und Einschätzung
Grundsätzlich gilt für Tillich, dass die Ethik integraler Bestandteil der Systemati402 schen Theologie ist. Allerdings hat Tillich in verschiedenen kleineren Texten 403 ethische Probleme, wie z.B. die Frage der Werte, gesondert behandelt. Von besonderem Interesse ist an dieser Stelle die Schrift ›Das religiöse Fundament des moralischen Handelns‹ von 1963, die als eine Art Abriss der Tillichschen Ethik gelesen werden kann. Es ist dabei das Bemerkenswerte des ethischen Ansatzes Tillichs, dass er in vollkommener Analogie zu dem v.a. in der späten ›Systematischen Theologie‹ entwickelten ontologischen Schematismus entfaltet ist, was insbesondere vor dem Hintergrund des rekonstruierten Lebensbegriffes deutlich wird. Denn, und das soll im Folgenden skizziert werden, zum Schluss koinzidiert das von Tillich in ethischer Hinsicht erarbeitete ethische Grundprinzip, die Liebe, exakt mit dem Leben als Einheit von Essenz und Existenz. Entsprechend setzt Tillich seine ethischen Überlegungen mit einer Orientierung am Lebensbegriff ein. Zunächst macht es genau die prozessuale und vorwärtstreibende Verfasstheit des Lebens erforderlich, dass es Normen gibt, an denen sich aktualisierendes Leben orientiert. Diese Normen sind es nach Tillich allererst, die es der geistigen Dimension des Lebens möglich macht, in Freiheit schöpferisch und selbstmächtig 397 »Deshalb bedeutet Schöpfung unzweideutigen Lebens die Wiedervereinigung dieser Elemente [sc. der essentiellen und existentiellen] im Lebenprozeß. Wiedervereinigung bedeutet, daß das aktuelle Leben der wahre Ausdruck des essentiellen Lebens ist. Wiedervereinigung ist nicht Rückkehr zu dem Stand der ›träumenden Unschuld‹, sie wird vielmehr auf dem Wege über Entfremdung, Kampf und Entscheidung erreicht. In der Wiedervereinigung von essentiellem und existentiellem Sein wird das zweideutige Leben über sich hinausgehoben zu einer transzendenten Einheit, die es aus eigener Kraft nicht hätte erreichen können. [...] Die transzendente Einheit erscheint im menschlichen Geist als das ekstatische Erlebnis, das von der einen Seite gesehen, Glaube, von der anderen gesehen, Liebe genannt wird« (Tillich, ST III, 154). 398 Tillich, ST III, 154. Vgl. auch Tillich, ST III, 156: »Glaube ist der Zustand des Ergriffenseins durch das Neue Sein, wie es in Jesus als dem Christus erschienen ist«. 399 Tillich, ST III, 154. 400 Tillich, ST III, 475. 401 Tillich, ST III, 476. 402 Vgl. Tillich, RFdMH, 13: »›Theologische Ethik‹ ist ein Element der systematischen Theologie und ist implizit in jedem ihrer Teile enthalten«. 403 Vgl. dazu den Text von 1957 ›Ist eine Wissenschaft von den Werten möglich?‹. Der deutsche Text erschien 1961 in der ZEE (ZEE 5 [1961], 171–176).
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Der Theologische Lebensbegriff
dem physischen Material gegenüberzustehen. Tillich unterscheidet drei mögliche Varianten, diese Normen zu konzeptualisieren: Pragmatismus, Wertphilosophie und Ontologie. Seinem ontologisch präzisierten Lebensbegriff gemäß spricht er sich für einen Primat der ontologischen Antwort aus. D.h., »daß die Normen für das Leben im Bereich des Geistes aus dem Leben selber stammen müssen – sonst kön404 nen sie für das Leben keine Bedeutung haben« . Flankiert wird dies durch Einsichten des Pragmatismus, der Tillich zufolge richtig gesehen hat, dass das Leben seinen Maßstab in sich selbst trägt, und von Erkenntnissen der Wertphilosophie, der laut Tillich darin Recht zu geben ist, dass Normen objektive Geltung im Sinne eines Wertehimmels zuerkannt werden muss. Tillich bildet aus diesen drei Gedanken ein kühnes Integral: Die Normen, die dem Pragmatismus entsprechend aus dem Leben selber stammen, werden als objektive Strukturelemente der Potentialität des Lebens selbst einsichtig: »Die essentielle Natur des Seienden, die logosbestimmte Struktur der Wirklichkeit [...] ist der ›Himmel der Werte‹«405. Normen sind so gesehen Ausdruck der essentiellen Struktur der Wirklichkeit und stehen entsprechend für essentielle Bestimmungen. Tillich macht dabei unmissverständlich klar, dass Normen in diesem Sinne nichts zu tun haben mit dem, was unter göttlichen oder menschlichen Gesetzen und Geboten firmiert: »[E]in moralischer Akt [ist] kein Gehorsamsakt gegen ein äußeres Gesetz, sei es ein menschliches, sei es ein göttliches. Er ist das innere Gesetz unseres wahren Seins, unserer essentiellen oder geschaffenen Natur, die von uns fordert, daß wir uns in Richtung auf sie verwirklichen«406. Normen bezeichnen – wie es in der späten ›Sys407 tematischen Theologie‹ heißt –, allein das »das, was sein soll« . Und mit Blick auf personale Selbstgestaltung formuliert Tillich dies folgendermaßen: »Der moralische Imperativ ist die Forderung, das zu werden, was man potentiell ist – eine Per408 son in einer Gemeinschaft von Personen« . Der moralische Imperativ – und zu betonen ist, dass es sich um einen moralischen und nicht einen ethischen Impera-
404 Tillich, ST III, 41. 405 Tillich, ST III, 41. Vgl. dazu Danz, Religion als Freiheitsbewusstsein, 301. Zur Frage der Werte vgl. auch Tillich, Wissenschaft von den Werten, 103ff. Tillich ist der Meinung, dass es freilich eine Wissenschaft von den Werten gibt. Exakt in der Schematik von Essenz und Existenz bleibend, geht es Tillich dann darum, »die Wurzel eines Wertes in der Struktur des Seins-Selbst aufzuzeigen« (103). Und weiter heißt es: »Werte müssen von den Essentialstrukturen des Seins abgeleitet werden, die – wenn auch verzerrt – innerhalb der Existenz erscheinen« (ebd.). 406 Tillich, RFdMH, 18. Vgl.auch ST III, 51: »Ein moralischer Akt ist daher nicht ein Akt, in dem göttliche oder menschliche Gebote befolgt werden «. 407 Tillich, ST III, 53. 408 Tillich, RFdMH, 17 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. auch Tillich, ST III, 51: »Der Akt, in dem der Mensch seine essentielle Zentriertheit verwirklicht, ist der moralische Akt. Moralität ist die Funktion des Lebens, durch die der Bereich des Geistes konstituiert wird. Ein moralischer Akt ist daher nicht ein Akt, in dem göttliche oder menschliche Gebote befolgt werden, sondern ein Akt, in dem das Leben sich in der Dimension des Geistes integriert, und das bedeutet, daß es sich als Person in einer Gemeinschaft von Personen konstituiert. Moralität ist die Totalität derjenigen Akte, in denen ein potentiell Personenhaftes aktuell zur Person wird«.
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tiv handelt – ist nach Tillich nichts anderes als der normative Ausdruck des essen409 tiellen Seins von Personalität. Und dieses essentielle Sein entspricht in dieser 410 Form dem Willen Gottes: »Der ›Wille Gottes‹ ist für uns unser essentielles Sein« . Der moralische Imperativ ruft dazu also auf, dass zu werden, was der Mensch ohnehin essentiell resp. potentiell ist: Eine Person in der Gemeinschaft von Perso411 nen. Der von Tillich intendierte Personenbegriff meint dabei ein zentriertes Selbst, das als ein zentriertes Selbst der Welt gegenüber steht, in der handelnden 412 Bezugnahme auf die Welt jedoch wieder ein Teil von ihr ist. Tillich sieht selber in Bezug auf diese Exposition der Ethik, dass sie äußerst abs413 trakt und formal ist und »keine Richtschnur in concreto gibt« . Dem moralischen Imperativ sind entsprechend Prinzipien an die Seite zu stellen, »die, obwohl als Prinzipien abstrakt, dennoch zugleich so konkret sind, daß Grundlagen für morali414 sche Entscheidungen von ihnen abgeleitet werden können« . Tillich sucht an dieser Stelle also die Vermittlung eines ethischen Relativismus mit einem ethischen Universalismus. Die Prinzipien, die diesen Spagat leisten können sind für Tillich die Gerechtigkeit (die allerdings mit den Problemen der Äußerlichkeit und der 415 Distanznahme behaftet ist ) und v.a. die Liebe, die nach Tillich eben genau dadurch ausgezeichnet ist, dass sie gleichzeitig universal und konkret ist: »Liebe als das letzte Prinzip der Moralität bleibt sich immer gleich. Liebe, die in der Macht des göttlichen Geistes auf die besondere Situation eingeht, ist wandelbar, da sie sich 416 der jeweiligen Situation anpaßt« . Die Liebe enthält vier verschiedene Qualitäten, die alle immer gleich präsent sind, wenn auch eine davon dominiert. Die wichtigste Qualität ist die ἀγάπη, die 409 In diesem Sinne kann Tillich den moralischen Imperativ auch als »Strukturgesetz seines essentiellen Seins« bezeichnen. Und weiter: »Dieses Strukturgesetz gehört zu ihm« (Tillich, RFdMH, 41). In Bezug auf den moralischen Imperativ erkennt Tillich eine religiöse Geltungsdimension: »Die religiöse Dimension des moralischen Imperativs ist sein Unbedingtheits-Charakter. [...] »Der unbedingte Charakter der moralischen Entscheidung bezieht sich nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form der moralischen Entscheidung« (Tillich, RFdMH, 20). 410 Tillich, RFdMH, 21. 411 Vgl. Tillich, RFdMH, 18: »Der moralische Imperativ ist also die Forderung, das zu werden, was man essentiell und daher potentiell ist«. Vgl. auch Tillich, Wissenschaft von der Werten, 106: »Die sittlichen Imperative sind weder willkürliche Befehle eines transzendenten Tyrannen, noch bestimmte Nützlichkeitserwägungen oder Konventionen von Gruppen. Sie sind bestimmt durch das, was der Mensch essentiell ist. Das moralische Gesetz ist die essentielle Natur des Menschen, die als fordernde Autorität erscheint. Wäre der Mensch mit sich und seinem essentiellen Sein geeint, gäbe es keine Forderung«. 412 »Person [ist] ein voll zentriertes Selbst, das der Welt als Selbst gegenübersteht, der Welt, zu der er gehört und von der er gleichzeitig geschieden ist« (Tillich, RFdMH, 17). 413 Tillich, RFdMH, 27 (Hervorhebung i. Orig). 414 Tillich, RFdMH, 27. 415 »Jedoch erweist sich die bisherige Formulierung des Prinzips der Gerechtigkeit als unzureichend. Die Anerkennung eines Menschen als Person bleibt ein äußerlicher Akt, der mit juristischer Distanz und kühler Objektivität vollzogen werden kann« (Tillich, RFdMH, 33). Zum Theorem der Gerechtigkeit vgl. auch Rawls ›Theorie der Gerechtigkeit‹ (dt. 1975). 416 Tillich, RFdMH, 38.
332
Der Theologische Lebensbegriff
den religiösen Teil der Liebe darstellt und rein geistig aufzufassen ist. Sie stellt das Kriterium für die ἐπιθυμία (die Begehrens- oder Libidoqualität), die φιλία (die Freundschaft-Qualität) und den ἔρος (die mystisch schöpferische Qualität) dar. Wie angedeutet ist die ἀγάπη die zentrale Qualität. Die ἀγάπη meint dabei die Inblicknahme der Person unabhängig von den Kalamitäten und Endlicheiten ihres Daseins. Der Blick der ἀγάπη transzendiert die endliche Person (ἀγάπη »transzen417 diert die endlichen Möglichkeiten des Menschen« ) und sieht sie im Lichte aller ihrer Potentialitäten resp. im Lichte ihres essentiellen Seins. Ἀγάπη wird – und das ist der Punkt, an dem sich Tillichs ethischer Ansatz ganz eng mit seinem Lebensbegriff berührt – die ἀγάπη wird in Übereinstimmung mit dem unzweideutigen Leben erkennbar als eine unzweideutige Liebe im Sinne eines Hineingenommenseins in die transzendente Einheit des neuen und unzweideutigen Lebens. Das Spezifikum des Blickes der ἀγάπη ist es, dass sie trotz und ob der faktischen Aporien und Zweideutigkeiten einen einheitlichen Blick auf den Menschen und sein Leben generieren kann. Wie das Neue Sein auf eine Einheit des aktuellen mit dem potentiellen Sein geht, so die Liebe in ethischer Hinsicht auf eine Einheit der moralischen Essenz mit der gelebten Existenz. Tillich hat die hier überdeutlich werdende Strukturisomorphie zwischen seiner spezifischen Fassung und Handhabe des Liebesparadigmas und dem Lebensbegriff am Ende seiner Schrift selbst unmissverständlich angemerkt. Die Liebe erscheint hier explizit als das Leben in seiner verwirklichten und einheitlichen Gestalt. Tillich hält fest: »Sie [sc. die Liebe] ist das Leben selbst in seiner verwirklichten Einheit. Die Formen und Strukturen, in denen Liebe sich selbst verkörpert, sind die Formen und Strukturen, in denen Leben möglich ist, in denen es seine selbstzerrstörerischen Kräfte überwindet. Und das ist der Sinn der Ethik: die Weisen auszudrücken, in denen die Liebe sich verkörpert und das Leben erhalten und gerettet wird«418. Die gerade mitaufgeführte Rede von den selbstzerstörerischen Kräften des Lebens, macht auf ein Moment aufmerksam, auf das abschließend Bezug zu nehmen ist. Denn der Hinweis auf die selbstzerstörerischen Kräften des Lebens weist darauf hin, dass wie auch das Leben selbst in seiner Performation immer ein gefährdetes Leben ist (erinnert sei nur an die Alterierung der Lebensfunktion der Selbstinte419 gration durch Desintegration) , so auch der moralische Akt oder die Perpetuierung moralischer Akte sich als in sich fragil erweist. Tillich spricht an dieser Stelle denn auch genauso von Desintegration: »Er [sc. der Mensch als zentrierte Person] 420 kann desintegrieren«. Es geht also im moralischen Handeln nicht allein um die Zentrierung der Person inmitten von Personen, sondern genauso auch darum, den desintegrierenden Tendenzen Widerstand entgegen zu setzen: »Jeder moralische Akt ist ein Akt, in dem ein Selbst sich als Person konstituiert und gleichzeitig den 417 418 419 420
Tillich, RFdMH, 35. Tillich, RFdMH, 81. Vgl. dazu unter D.IV.3.1. Tillich, RFdMH, 17.
Der Lebensbegriff Paul Tillichs
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desintegrierenden Tendenzen Widerstand leistet« . In diesem Sinne hat Tillich in der ›Systematischen Theologie‹ auch eine klare Analogie zwischen antimorali422 schen Akten und körperlichen Krankheiten herausgearbeitet. Durch diese Gefährdung bleibt die Moral und das moralische Handeln – wie auch das Leben selbst –, v.a. immer auch eins: ein Wagnis. Tillichs Theologie im Allgemeinen wie auch der in ihr entwickelte Lebensbegriff, dessen Aufarbeitung hiermit zum Abschluss kommt, hat große Resonanz erfahren. Viele der von ihm eingeführten termini (etwa das Neue Sein oder die Zweideutigkeit) sind nachgerade zu theologischen Schlag- und Modewörtern geworden und haben die theologischen Debatten weitreichend positiv wie negativ angeregt. Beeindruckt hat dabei (in positivem wie negativem Sinne) Tillichs Anspruch und Versuch, »den Glauben verstehbar zu machen und dabei auf die Fragen der kritischen Vernunft zu achten«423. Die dabei vorgeführte Weite seines Horizonts und seine großen analytischen und systematischen Fähigkeiten haben ihm dabei 424 u.a. den Ruf eines »Origenes unserer Zeit« eingetragen. Und Bewunderung hat auch hervorgerufen sein großartiger Versuch einer Verbindung von philosophi425 scher Ontologie und Offenbarungstheologie. Wie aber am Anfang dieses Kapitels auch schon angesprochen, ist es der mit dem gestus des philosophischen Theologen resp. theologischen Philosophen verbundene Anspruch Tillichs, für die Theologie dann relevant gemachte Grundannahmem als allgemeingültig auszuweisen, gewesen, der Widerspruch provoziert hat. So resümiert Joachim Track: »Sein Anspruch jedoch, – zumindest für die Erkenntniswilligen – die transzendentalen Bedingungen (und ontologischen Grund426 annahmen) allgemeingültig aufzuzeigen, muß zurückgewiesen werden« . Und an anderer Stelle heißt es: »Tillichs Ansatz scheitert jedoch darin, daß er dem Menschen in der Entfremdung seine Fraglichkeit ›denknotwendig‹ als Angewiesenheit auf Gott auslegen will. Tillich weiß darum, daß die Notwendigkeit der Frage nach 427 Gott niemandem andemonstriert werden kann« . Es kann an dieser Stelle aller421 Tillich, RFdMH, 18. Vgl. auch Tillich, RFdMH, 18: »[E]in antimoralischer Akt ist nicht die Überschreitung einer oder mehrerer genau definierter Forderungen, sondern ein Akt, der der Selbstverwirklichung der Person als Person widerspricht und zur Desintegration führt«. 422 Vgl. Tillich, ST III, 46f. und RFdMH, 19. 423 Track, Ansatz, 421. Vgl. auch a.a.O., 343: »Tillichs Intention, die ›denknotwendigen Voraussetzungen‹ aufzuzeigen, erscheint [...] gerechtfertigt« (i. Orig. z.T. hervorgehoben). 424 Zit. n. Pauck, Tillich, 251. Das Original entstammt Niebuhrs Schrift ›Biblical Thought and ontological Speculations‹. 425 »Tillichs spätes Hauptwerk, die Systematische Theologie, zeichnet sich durch die Eigentümlichkeit aus, daß sie eine philosophische Ontologie mit einer Offenbarungstheologie zu verbinden sucht« (Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, 13). 426 Track, Ansatz, 343. 427 Track, Ansatz, 421. Vgl. dazu auch Track, Tillich und die Dialektische Theologie, 152: »Deutlicher aber müssen wir erkennen und anerkennen, daß die Frage nach Gott nicht jedermann als lebensnotwendig aufgewiesen werden kann. Man kann sich dieser Frage mit ›guten Gründen‹ entziehen. Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, sich diese Situation einzugestehen«.
334
Der Theologische Lebensbegriff
dings nicht darum gehen, in eine fundamentaltheologische Diskussion um die Theologie Tillichs einzusteigen. Dies ist an anderen Stellen ausführlich gesche428 hen. Worum es hier nur abschließend gehen kann, ist auf für die Konzeption eines theologischen Lebensbegriffs wesentliche und weiterführende Momente aufmerksam zu machen. Dies sind wesentlich drei: Erstens ist es die Stärke des theologischen Lebensbegriffs Paul Tillichs, dass er prägnant sowohl die Eigenständigkeit und das Recht einer theologischen Thematisierung des Lebendigen als auch dessen spezifisches Profil herausarbeitet. Dabei sieht Tillich klar, dass der theologische Blick auf das Leben kein umfassender, sondern ein Blick neben denen v.a. von Philosophie und Naturwissenschaft ist. Tillich leistet es dabei zu zeigen, dass die Theologie in Anlehnung an philosophische Fundamentalüberlegungen eine sehr eigenständige Perspektive auf das Leben zu entwickeln vermag. Diese Perspektive ist für Tillich der theologische Standpunkt des Paradoxons, der das Leben am Orte humanen Vollzugs in seiner inneren Aporetik aber auch in der Möglichkeit deren Überwindung durchsichtig macht. In seiner Spätphase hat er die innere Aporetik des Lebens präzis auf Zweideutigkeiten und deren Überwindung im Neuen Sein konzentriert. Zweitens liegt eine Bedeutung des Tillichschen Zugriffs auf das Leben darin, dass er das Leben in theologischer Hinsicht immer mit Blick auf eine Tiefendimension entfaltet. Das theologische Verständnis des Lebens rechnet nach Tillich notorisch mit der Transzendenz des Lebens. Trotz der Endlichkeit und trotz der Aporien und Zweideutigkeit des gelebten Lebens gibt es eine unendliche Essenz des Lebens zu der das Leben in Beziehung steht. Die theologische Hinsicht wird so erkennbar als die Ernstnahme der Tiefendimension des Lebens. Drittens ist es ein konstruktives Moment des Lebensbegriffes Paul Tillichs, dass er ein weiteres Spezifikum der theologischen Konzeptualisierung klar herausarbeitet. Es ist dies das Einheits- resp. Sinnmoment des religiösen Erlebens, das Thema theologischer Re-interprertation nicht nur des Lebendigen ist. Wie gesehen geht Tillich davon aus, dass es das Spezifikum des theologischen Blicks ist, trotz und ob der faktischen Aporien und Zweideutigkeiten einen einheitlichen resp. sinnvollen Blick auf den Menschen und sein Leben zu generieren. So steht das Neue Sein für eine sinnerschließende Einheit des aktuellen mit dem potentiellen Sein und die Liebe in ethischer Hinsicht für ein ganzheitliches Konvergieren der moralischen Essenz mit der gelebten Existenz. Mit der Betonung des Einheit stiftenden Charakters der theologischen Konzeptualisierung des Lebens steht Tillich im Übrigen auch wieder in der am Anfangs dieses Kapitels aufgerufenen und markant von Ritschl vertretenen Tradition, die betont, dass es ein entscheidendes Spezifikum der religiösen Perspektive ist, »daß sie auf die Vorstellung von einem Ganzen angelegt ist«429. Auch für Tillich verbürgt letztendlich der Gottesgedanke die Einheits- und Ganzheitsperspektive des
428 Vgl. dazu die einschlägigen Untersuchungen von, Danz, Wagner, Wenz, Track und Ringleben. 429 Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III1, 171 (Hervorhebung v. Vf.).
Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs
335
theologischen Zugangs und entsprechend kann er seinen Ansatz auch als einen 430 »›eschatologische[n] Pan-en-theismus‹« bezeichnen.
V. V.1
Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs Zur Diskussion um einen theologischen Lebensbegriff
Richard Rothe hat in der 2. Auflage seiner ›Theologischen Ethik‹ (1869) den Vorschlag gemacht, den Begriff des Gewissens aus der wissenschaftlichen Ethik grundsätzlich auszuscheiden. Rothe begründete sein gegenüber der ersten Auflage deutlich modifiziertes Vorgehen ausführlich: So ist es seiner Meinung nach v.a. die wissenschaftliche Unanwendbarkeit dieses terminus, die in erster Linie aus der Unterbestimmtheit des logischen Gehaltes resultiert, welche seine Zurückhaltung begründet. Insofern dieser terminus eben keinen »klaren und deutlichen Begriff 431 bezeichne[]« , sondern im Sprachgebrauch vielmehr »ungeheuer chaotisch und 432 vage[]« sei, zieht Rothe die für ihn zwingende Konsequenz, »[d]aß wir uns 433 grundsätzlich desselben enthalten« . Dieser Vorschlag Rothes könnte vorderhand auch auf den Lebensbegriff übertragen werden, ja möglicherweise trifft er an dieser Stelle noch grundsätzlicher: Phänomenologische Vielgestaltigkeit, logische und semantische Uneindeutigkeit, die damit verbundene Unmöglichkeit einer erschöpfenden Definition, Ubiquität und Inflation seines Gebrauchs, eine erkenntnistheoretische Unschärfe des Gegenstands, seine ausufernde positive wie negative Illustrationsfunktion und die Disparatheit der Theorieentwicklungen sind allesamt Besonderheiten die in der bisherigen Aufarbeitung des Lebensbegriffes mit hervorgetreten sind; was Augustin vom Glück gesagt hat, gilt eben auch für das Leben: »res enim multum obscura est«434. Und so wundert es kaum, dass in den neueren und aktuellen systematisch430 431 432 433
Tillich, ST III, 475 (Hervorhebung v. Vf.). Rothe, Theologische Ethik, II, §177, 21. Rothe, Theologische Ethik, II, §177, 21. Rothe, Theologische Ethik, II, §177, 21. Dass Rothe den Begriff des Gewissens zurückstellt, bedeutet nicht, dass er an der Phänomenologie des Gewissens vorüberginge. Vielmehr stellt er im Hinblick auf mögliche Verstörungen seiner Leser fest: »Diesem natürlichen Befremden [sc. gegenüber der Ausscheidung des Gewissensbegriffes] gegenüber möchte ich den Leser zunächst darauf aufmerksam machen, daß er in dieser Ethik (wenn sie nämlich vollendet sein wird) ungeachtet ihr der Begriff des ›Gewissens‹ fehlt, gleichwohl von demjenigen nichts vermissen wird, was in anderen Moralsystemen unter dem Namen ›Gewissen‹ zusammengefaßt und aus dem Gewissen abgeleitet zu werden pflegt. Wir haben also die Sache auch ohne den Namen ›Gewissen‹ und (wie es sich für eine spekulative Arbeit geziehmt,) unabhängig von ihm« (ebd. [i. Orig. z.T. hervorgehoben]). Rothe behandelt in dieser Beziehung eine Achtheit: »moralisches Gefühl, moralischer Sinn, moralischer Trieb und moralische Kraft, und: religiöses Gefühl, religiöser Sinn, religiöser Trieb und religiöse Kraft (göttliche Mittätigkeit)« (a.a.O., 23). 434 Augustinus, De beata vita, §1, 6 (Hervorhebung v. Vf.).
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ethischen Debatten auch und v.a. auf Seiten der Theologie eine entsprechende Verabschiedung des Lebensbegriffes diskutiert und gefordert wurde. So hat auf Seiten der Dogmatik Werner Elert in seinem ›Abriss der Lehre des Luthertums‹ ausdrücklich den Vorschlag gemacht, auf den Begriff des Lebens zu verzichten und durch den der Lebendigkeit zu ersetzen: »Die Vieldeutigkeit und verwirrende Pluralität ist ein Grund, den Begriff des Lebens aufzugeben und durch 435 den der Lebendigkeit zu ersetzen« . V.a. aber in der theologischen Ethik lässt sich im Hinblick auf den Lebensbegriff, dessen diskursive Explikation, systematische Handhabe oder mögliche ethische Implikationen insgesamt größere Zurückhaltung und Vorsicht ausmachen. So hat Christofer Frey auf die Problematik einer erschöpfenden Definition von Leben ausdrücklich hingewiesen. Er hält fest: »Bereits 436 eine Definition des ›Lebens‹ ist eine fast unmögliche Aufgabe« . Die angezeigte Unmöglichkeit gründet sich dabei für ihn in der nicht stringent logischen Fassbarkeit der dem Begriff des Lebens referenziellen Sachverhalte: »Wir können nicht davon ausgehen, daß er [sc. der Lebensbegriff] Sachverhalte in einer logisch durchstrukturierten Art abbildet, wie es etwa dem logischen Atomismus des frühen 437 Wittgenstein und seiner Nachfolger entspräche« . Auch Ulrich H.J. Körtner weist auf eine notorische Opakheit beim Gebrauch des Lebensbegriffs in ethischen Diskursen hin. Er notiert: »Bei genauerem Hinsehen zeigt sich freilich, daß der Begriff des Lebens, auf den gegenwärtig kaum ein Ethiker glaubt verzichten zu können, vieldeutig und ungenau ist. Zu beklagen ist ein geradezu inflationärer Gebrauch des Wortes ›Leben‹. Was man genau unter ›Leben‹ zu verstehen hat und welches Leben inwiefern Gegenstand menschlicher Verantwortung und ethischer Rechenschaft sein soll, wird oftmals nicht genau gesagt. Der ethischen Urteilsbildung ist dieser Umstand freilich abträglich«438. Ein theologischer Ethiker, dessen Denken in ganz besonderer Weise um den Begriff des Lebens kreist, begegnet mit Trutz Rendtorff. In Rendtorffs ethischer Theologie, wie er sie v.a. in seiner ›Ethik‹ entfaltet hat und die auf der Überzeugung 439 fußt, dass die Ethik eine »Grunddimension der Theologie« repräsentiert und dass das Christentum endgültig in sein ethisches Zeitalter eingetreten sei, dominiert der 440 Begriff der menschlichen Lebensführung. »Ethik ist die Theorie der menschli441 chen Lebensführung« . Lebensführung meint dabei zunächst ganz allgemein den verantworteten Vollzug eines (menschlichen) Lebens in der multiplen Rela435 436 437 438 439 440
Elert, Lehre des Luthertums, 144f. Frey, Verständnis des Lebens, 10 [Hervorhebung i. Orig.]. Frey, Verständnis des Lebens, 11. Körtner, Bioethik und Biopolitik, 478. Rendtorff, Ethik I, 7. Zur Genese der auch die Ethik tragenden Christentumstheorie Rendtorffs vgl. jetzt auch die luzide wie verdienstvolle Aufarbeitung der Genese der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs von Martin Laube (Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zur Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs, Tübingen 2006). 441 Rendtorff, Ethik, I, 9, 13 (Hervorhebung v. Vf.).
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tionalität von Selbst und Anderen, in begrenzten und umfassenden sozialen Strukturen, in Handeln und Gestalten, im Miss- oder Gelingen. Diese Bestimmung von Lebensführung wird von Rendtorff sukzessiv mit Folgeimplikaten angereichert. Da Lebensführung es essentiell mit Lebenspraxis zu tun 442 hat, impliziert der »Begriff der menschlichen Lebensführung« zunächst Handeln – Rendtorff spricht an dieser Stelle von einem »unlöslichen Zusammenhang von 443 Handeln und Lebensführung« . Insofern die als Praxis verstandene Lebensführung immer das Führen eines Lebens in Relation mit dem Vollzug anderer Lebensläufe meint, sind nächstens die Handlungen einer Lebensführung dem Urteil und der Kritik der anderen Lebensführungen ausgesetzt. Daraus resultiert nach Rendtorff eine »Nötigung, sich recht444 fertigen zu müssen« . D.h., dass in Alltagssituationen der Lebensführung der Autor dieses Lebens mit ethischer und moralischer Kritik konfrontiert wird und daraufhin einzelne Handlungen zu rechtfertigen und zu verantworten genötigt 445 ist. »Zwischen dem praktischen Handeln und seiner ethischen Beurteilung be446 steht so […] ein unlöslicher Zusammenhang« . Aus dem Ineinander von Kritik und Rechtfertigung ergibt sich das, was 447 Rendtorff in Anlehnung an Jürgen Habermas einen »Diskurs« nennt und der einerseits die Funktion hat, »die Kommunikation über die gemeinsame Lebensfüh448 rung in Gang zu halten« und andererseits ein »Bewusstsein gemeinsamer Lebens449 führung bilde[t]« , das Bewusstsein also, dass alle einzelnen Fälle auf die 450 »Gesamtheit der Lebensführung« bezogen sind. Der Diskurs im Bewusstsein einer gemeinsamen Lebensführung führt schließ451 lich darauf, die »menschliche Lebensordnung überhaupt« als unverzichtbare Ba452 sis und »Bezugsebene […] ›außerhalb‹ der Situation« zu statuieren. Notwendig ist nach Rendtorff dieser Bezug auf eine externe Bezugsebene, weil der Versuch einer internen Selbst- und Weltkonstitution schon allein daran scheitert, dass individuelles Leben in seiner Gestaltung (Lebensführung) immer auch von Voraussetzungen
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446 447 448 449 450 451 452
Rendtorff, Ethik I, 9. Rendtorff, Ethik, I, 10. Rendtorff, Ethik, I, 10. Die Differenz zwischen Moral und Ethik bestimmt Rendtorff analog zu der von intentional und extentional: »›Moralisch‹ ist ein Urteil über Willen, Absichten, Einstellungen, Neigungen von Personen; ›ethisch‹ ist ein Urteil über Handlungen, Handlungsfolgen und Handlungsziele und ihre sozialen Rahmenbedingungen« (Rendtorff, Ethik, I, 11). Rendtorff, Ethik, I, 11. Rendtorff, Ethik, I, 10. Rendtorff, Ethik, I, 10. Rendtorff, Ethik, I, 11. Rendtorff, Ethik, I, 11. Rendtorff, Ethik, I, 11 (Hervorhebung v. Vf.). Rendtorff, Ethik, I, 11.
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mitkonstituiert ist, die es selbst nicht verantwortet hat. Ethik kann die Lebensführung niemals allein auf einzelne Handlungsvollzüge und -situationen reduzieren. Ethik als Theorie menschlicher Lebensführung erweist sich als notorisch überindividuell: »In der Ethik geht es darum, was eine Handlung im Zusammenhang der Lebensführung bedeutet. Ethik bezieht das Handeln des Menschen auf überge454 ordnete Zusammenhänge, um zu bewerten und zu beurteilen« . Erst mit dem Einbezug dieser externen Ebene wird das Reich des Ethischen im strengen Sinne betreten. Denn der Rekurs auf eine Basis ausserhalb der Situation unterscheidet allererst Ethik von Moral. Während für Rendtorff Moral eher intentional ein Urteil ist »über 455 Willen, Absichten, Einstellungen, Neigungen von Personen« , bezieht sich Ethik 456 extensional auch auf übergeordnete Rahmenbedingungen. Diese überindividuellen Rahmenbedingungen sind in einem hochkomplexen Netz von soziokulturellen Referenzobjekten auszumachen, wie Sprache, die Struktur gegenseitiger Aner457 kennung, politische und ökonomische Ordnung, Wissenschaftskultur; kurz: die 458 ganze sogenannte »moralische[] Welt« . Und insofern es in dieser moralischen 459 Welt um eine »gute Ordnung der Welt überhaupt geht« , kommt der Ethik grund460 sätzlich ein »weltanschaulicher Charakter« zu. Und da dieser weltanschauliche Charakter nicht nur das lebensweltliche Verhaftetsein in einer Ordnung der Welt, sondern auch die prospektive Dimension individuellen wie sozialen Handelns berührt, erhalten die aufgeworfenen ethischen Probleme den Status von umfassen461 den »Lebensfragen« , Fragen, die »die menschliche Lebensordnung überhaupt tangieren und, wenn man die Konsequenzen voll auszieht, Ordnung und Bestand 462 der Welt im Ganzen betreffen« . Genau dies macht es Rendtorff möglich, von ei463 ner »religiöse[n] Dimension der Ethik« zu sprechen. Im strengen Sinne theologisch endlich wird die Ethik, wenn diese Fragen in »ihrem Zusammenhang mit ei-
453 »Verantwortung muß in dem Wissen darum gegründet sein, daß der Mensch als handelndes Subjekt von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht geschaffen hat« (Rendtorff, Ethik I, 9). 454 Rendtorff, Ethik I, 14. 455 Rendtorff, Ethik I, 11. 456 Rendtorff, Ethik I, 11. 457 Zur politischen Ethik Rendtorffs vgl. auch Grotefeld, Religiöse Überzeugungen, 104–128. 458 Rendtorff, Ethik I, 12. 459 Rendtorff, Ethik I, 12 (Hervorhebung v. Vf.). 460 Rendtorff, Ethik I, 12. Vgl. auch a.a.O.: »Ethische Fragen repräsentieren Elemente einer guten und richtigen Weltordnung im Ganzen«. 461 Rendtorff, Ethik I, 12. Vgl. a.a.O., 18: »Ethische Fragen sind Lebensfragen, die dem Menschen im Vollzug des Lebens begegnen und zu denen er in der Realität des eigenen Lebens Stellung nehmen muß« (i. Orig. hervorgehoben). 462 Rendtorff, Ethik I, 11. 463 Rendtorff, Ethik I, 11. Religion bestimmt Rendtorff »als Ausdrücklichwerden der Gottesbeziehung des Menschen« (Rendtorff, Ethik I, 68).
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nem spezifisch theologischen Wirklichkeitsverständnis« diskutiert und reflektiert werden. Das Rekurrieren auf übergeordnete Bezugsebenen bedeutet nun nicht, dass Rendtorff die Ethik resp. die ethische Theologie in die Sozialethik oder Sozialtheorie auflösen würde. Der ethische Ansatz Rendtorffs macht genauso stark ein individuelles Element. Und das individualethische Moment seines Ansatzes fixiert 465 Rendtorff im ethischen Postulat »individueller Freiheit. Das Postulat der Freiheit ist dabei direktes Implikat der Voraussetzung, dass im Zuge der Lebensführung einzelne Handlungen verantwortet resp. gerechtfertigt werden müssen. Die Struktur Verantwortung liefe ins Leere, wäre sie nicht mit dem Postulat der Freiheit ver466 bunden. Von daher kann Freiheit auch nicht missverstanden werden als absolute Freiheit. Freiheit meint (dezidiert aus der Perspektive der theologischen Tradition) eine im Glauben erfahrbare Freiheit von den Eigendynamiken der Weltläufe. Die Welt scheidet damit als Garant von Freiheit aus. Freiheit wird im Gegenteil als Gabe vetsanden: »Die ethische Theologie begreift Freiheit als ›Gabe‹. Sie wird dem Menschen zuerkannt, und zwar in einem unbedingten Sinne, von ›Gott‹, nicht von 467 der ›Welt‹« . Bewegt sich menschliche Lebensführung immer in der Spannung von Individuellem und Überindividuellem, von Auf-andere-und-anderes-angewiesen-Sein und individueller Freiheit, so geht es nicht allein um Vermittlung beider Sphären, sondern Rendtorffs Ansatz zielt auf den Aufbau eines ethischen Subjekts: in der Le468 bensführung geht es um die Ausbildung eines »ethischen Bewusstseins« . Das bedeutet des Näheren, dass die Ethik den Menschen als einen thematisiert, der – wie Rendtorff zu verstehen gibt –, »zu sich und seiner Welt in ein ausdrückliches Ver469 hältnis tritt« . Und die Situation des Stellung-Nehmens bezeichnet Rendtorff 470 exakt als die »Situation eines ethischen Subjektes« . Ethisch ist diese Situation, weil die Stellungnahme im modus der Frage nach dem guten oder richtigen Han471 deln; kurz in Gestalt der Frage »Was soll ich tun?« erfolgt. Das an dieser Stelle mit der Rede vom ethischen Subjekt und mit dem Aufruf der ersten Person Ich evozierbare Missverständnis einer individualistischen Engführung der Ethik entkräftet Rendtorff mit dem Hinweis, dass die Rede vom Ich oder vom Menschen »immer die Bedeutung von ›alle Menschen‹ und zugleich ›jeder 464 465 466 467 468 469
Rendtorff, Ethik I, 37. Rendtorff, Ethik I, 16. Zum Verantwortungsparadigma vgl. auch Hans Jonas ›Prinzip Verantwortung‹ (1979). Rendtorff, Ethik I, 16. Rendtorff, Ethik I, 7. Rendtorff, Ethik I, 20 (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. auch a.a.O.; »Ein ethisches Subjekt zu sein heißt, sich selbst, seine Lebensführung bzw. seine Welt zum Gegenstand der Stellungnahme zu haben«. 470 Rendtorff, Ethik I, 20 (Hervorhebung i. Orig.). 471 Rendtorff, Ethik I, 20. Vgl. auch a.a.O., 21: »Er [sc. der Mensch] wird zum ethischen Subjekt, indem er sich diese Frage stellt«.
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Mensch‹, oder auch ›ich‹ und ›der andere‹« hat. Genau deshalb kann Rendtorff die Ethik an die faktisch vorfindliche ethische Lebenswirklichkeit, das jeweils schon gelebte Ethos (und schließlich die moralische Welt) anbinden, aber dies kann und darf nicht alleiniger Bezugspunkt der Ethik sein. Das Ethos hat sein Recht, insofern Ethik im Ethos konkret wird (dies nennt Rendtorff dann die 473 »Ethosqualität der ethischen Frage« ). Aber Ethik als Theorie der menschlichen Lebensführung kann nicht mit dem Ethos identifiziert werden, weil erstens Lebensführung im ethischen Sinne nicht vorschnell mit vorgegebenen Lebensformen identifiziert werden darf und zweitens diese den Menschen nicht von einer eigenen Stellungnahme diesen gegenüber suspendiert. Den dennoch hohen Stellenwert, den Rendtorff dem ethischen Subjekt zubilligt, unterstreicht die Tatsache, dass der Mensch in der Ethik angeredet und herausgefordert wird: »Der Anrede und Aufforderungscharakter der ethischen Sprache nötigt konzeptuell zu der Annahme, Ethik beziehe sich auf Subjekte, die zu einer eigenen Stellungnahme fähig und gefordert sind«474. Dieses Aufgefordert- und Angesprochensein ist nun nicht einlinienar im Sinne einer normierenden Gebots475 ethik zu interpretieren, sondern richtet sich an ein »ethisches Bewußtsein« , das 476 sich demgegenüber als autonomes und verantwortliches zeigen kann. Die entscheidende Pointe der Rendtorffschen Emphase der Autonomie besteht darin, dass die Autonomie des ethischen Subjekts ihrerseits in den Begründungszusammen477 hang von Ethik mit einbezogen wird. Autonomie meint nicht – wie bei Kant die Fähigkeit sich qua praktischer Vernunft vernünftig selbt zu bestimmen –, sondern Autonomie steht bei Rendtorff auch und v.a. für innere, selbständige und überzeugte Zustimmung gegenüber Aufforderung und Anspruch, die in der Moderne nicht nur prinzipiell plural verfasst, sondern auch immer der Kritik und dem Diskurs ausgesetzt sind. Ethische Autonomie bedeutet so ein »ethisches Bewusstsein, das auf eigene, selbständige Weise den Sinn des Verpflichtungsgehaltes von Gesetzen, Geboten, Normen erfassen kann, also hinter den ausdrücklichen formulierten Gebotscharakter zurückzugehen weiß auf den Grund bzw. die Gründe, die in den
472 473 474 475 476
Rendtorff, Ethik I, 21. Rendtorff, Ethik I, 22. Rendtorff, Ethik I, 24. Rendtorff, Ethik I, 24. Sie ergibt sich aus der Forderung, »daß der Angeredete den Sinn des Gebotes bzw. der Norm zu erfassen bereit und fähig ist und deswegen auf eigene Weise und selbständig die jeweiligen Konkretionen in bestimmten Situationen der Lebensführung vorzunehmen in der Lage ist« (Rendtorff, Ethik I, 25). Ebenso wie Freiheit für Rendtorff keine absolute Freiheit ist, so bedeutet auch Autonomie nicht, »daß der einzelne Mensch sich auf beliebige, ihm jeweils gefällige Weise nun selbst Gesetz sei und nur selbsterwählten Zielen folge unabhängig von einem ethischen Verpflichtungsgehalt« (Rendtorff, Ethik I, 26). 477 Vgl. Rendtorff, Ethik I, 24: »Die Ethik gilt dem Menschen nicht nur als Empfänger ethischer Weisungen, sondern auch als mitverantwortlich und mitbeteiligt in der Begründung von normativen Geltungsansprüchen«.
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Geboten zum Ausdruck kommen« . Dies ist für Rendtorff genau auch die innere Begründung von Ethik überhaupt, deren Fundament nicht in einem absoluten Gesetz oder einem theonomen Grundsatz, noch allein in der Vernunft oder der Rationalität des Menschen, sondern allein im ethischen Bewusstsein in der aufgezeigten Spannung aufgesucht werden kann. Aktualisiert sich das ethische Bewusstsein in Zustimmung oder Ablehnung, im Eintreten für oder gegen bestimmte normative Anmutungen, konstitutiert sich das ethische Subjekt. »Der Mensch wird dadurch als ethisches Subjekt konstituiert, daß er selbst für den Sinn der ethischen Forderung einzutreten vermag«479. Die im Aufbau des ethischen Subjekts angetroffene Spannung von Dimensionen des Individuellem und Überindividuellem, von Auf-andere-und-anderes-angewiesen-Seins und individueller Freiheit, von Norm und Zustimmung begegnet endlich auch am engeren Orte des Lebensbegriffes. Das Leben selbst resp. das Leben überhaupt wird begrifflich geschärft als Gegenbegriff des eigenen Lebens, d.h. das subjektive Leben, das Leben eines ethischen Subjekts ereignet sich analog in der 480 Spannung von eigenem Leben und Leben überhaupt. Diese drei Momente werden von Rendtorff unter den Titularen das Gegebensein des Lebens, das Empfangen des Lebens und die Annahme des eigenen Lebens kunstvoll entfaltet. Mit dem ersten, dem Gegebensein des Lebens, soll dem Sachverhalt Rechnung getragen werden, dass dem Menschen das Leben unhintergehbar gegeben ist, inso481 fern »niemand [...] sich selbst das Leben geben kann« . Dies drückt in den Augen Rendtorffs keineswegs eine triviale Tatsache aus. Das Gegebensein des Lebens hat normatven Charakter und wird in ein Konzept normierter Situativität überführt, insofern jede handlungsrelevante Lebenssituatiation bereits durch den fundamentalen Sachverhalt des Gegebenseins des Lebens herausgefordert ist. Die normative Dimension besteht darin, dass situationsbezogenes Handeln vor dem Gegebensein des Lebens in seiner »elementare[n] Verbindlichkeit« und »[s]einem unausweich482 lichen Appell« verantwortet werden muss. Das Gegebensein des Lebens steht für 483 den unhintergehbaren Aufgaben- resp. Auftragscharakter des Lebens selbst.
478 Rendtorff, Ethik I, 25. Vgl. auch Rendtorff, Ethik I, 27: »Die Grundeinsicht ethischer Theologie besagt: die Zustimmung zum sittlichen Gesetz muß auf die Zustimmung zu Gott als dem Gesetzgeber hin transzendiert werden«. 479 Rendtorff, Ethik, I, 28 (Hervorhebung i. Orig.). 480 »Theologische Arbeit an der Ethik setzt ein mit der Rekonstruktion der Frage, die mit dem Leben selbst gestellt ist und auf die der Mensch eine Antwort schuldig ist« (Rendtorff, Ethik I, 48 [Hervorhebung v. Vf.]). Vgl. auch Rendtorff, Ethik I, 38: »Der eigene, spezifische Beitrag der Theologie zur Ethik gilt primär nicht Einzelfragen der Lebensführung«. 481 Rendtorff, Ethik I, 63 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. dazu Luthers Ausführungen zum 1. Artikel (WA XXX/1, 183f.). 482 Rendtorff, Ethik I, 65. 483 Rendtorff spricht auch von der »Appellstruktur des empfangenen Lebens selbst« resp. vom »Gedanken, daß das Leben ein Beruf ist« (Rendtorff, Ethik, I, 65).
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Dieser Appellcharakter des Lebens, »die Appellstruktur des empfangenen Le484 bens selbst« impliziert eine reflexive Stellungnahme seitens des Subjekts der Lebensführung. Diese kommt in der elementaren Forderung zum Stehen: »Der 485 Mensch muß das Leben empfangen« . Das Empfangen des Lebens steht dabei für eine basale Gestalt der Stellungnahme zum Leben selbst, die sich einerseits bedingt weiß vom Herausgefordertsein durch das Leben selbst resp. das Leben überhaupt als »Lebenswirklichkeit [...] von der er als Handelnder abhängig ist und 486 bleibt« , weil sie sowohl den transzendenten Grund als auch den unhintergehbaren (relationalen und sozialen) Rahmen individuell handelnder Lebensgestaltung repräsentiert. Das Leben selbst wird so erkennbar als Inbegriff transzendentaler Gegründetheit und sozialer Bedingtheit von individueller Lebensführung. Als solches erweist es sich als radikal kontingent: »Im Verhältnis zur empirischen Allgemeinheit ›aller‹ Menschen ist das eigene Leben [...] kontingent, nicht not487 wendig« . Das Gegebensein des Lebens ist notwendig, aber das Leben des individuell gegebenen Lebens nicht. Im individuellen Leben des gegebenen Lebens ist 488 das eigene Leben »selbständig« . Andererseits wird in dieser Stellungnahme zum Leben selbst die »Realität indi489 vidueller Freiheit« evident, weil dem ethischen Subjekt nie das Leben selbst ge490 geben ist, sondern immer »das ›eigene‹ Leben« . Als eigenes Leben ist es kategorial vom Leben selbst abgrenzbar, weil es individuelles, je eigenes Leben ist, das jeweils nur vom jeweiligen Subjekt vertreten werden kann. Frei ist es in einem zweifachen Sinne: Einmal, weil es sich mit Blick auf die Gattung Mensch (als der Gesamtheit allen menschlichen Lebens) nicht als notwendig repräsentiert und das andere Mal, weil es sich als individuell unvertretbare Lebensführung selbständig konstituieren kann und muss. Im Verhältnis zum Leben selbst als überindividueller Lebenswirklichkeit konstituiert sich so (im Abweis absoluter Autonomie) die »Freiheit einer individuellen Lebenswirklichkeit«491. Diese Freiheit endlich impliziert eine reflexive Stellungnahme von Seiten des damit ethischen Lebens. Die Grundgestalt reflexiver Stellungnahme zum Gegebensein des Lebens als individuellem Leben im Gegegnüber zum Leben überhaupt ist die »Annahme des ei492 genen Lebens« . Die Annahme des eigenen Lebens steht für die reflexive Stellungnahme zum eigenen, individuellen Leben im Verhältnis zum Leben über484 Rendtorff, Ethik I, 65. 485 Rendtorff, Ethik I, 64 (Hervorhebung i. Orig.). Dabei gilt: »Das empfangene Leben ist nicht schon identisch mit der biologischen Existenz« (Rendtorff, Ethik I, 65). 486 Rendtorff, Ethik I, 65. 487 Rendtorff, Ethik I, 66f (Hervorhebung v. Vf.). 488 Rendtorff, Ethik I, 67. 489 Rendtorff, Ethik I, 66. 490 Rendtorff, Ethik I, 66. An dieser Stelle zeigt sich eine Nähe zu Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Freiheit und Abhängigkeit (vgl. Rohls, Geschichte der Ethik, 699). 491 Rendtorff, Ethik I, 67 (Hervorhebung v. Vf.). 492 Rendtorff, Ethik I, 67.
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haupt. Individuelle Lebenswirklichkeit – als individuelle Lebensführung – ereignet sich immer in überindividueller Lebenswirklichkeit. Um individuelle Lebensführung in überindividueller Lebenswirklichkeit zu ermöglichen, muss sich das Individuum der Lebensführung als Subjekt konstituieren. Dafür steht die Chiffre Annahme. Annahme meint dabei konkret die Herstellung einer individuellen 493 Konfiguration der mit dem Gegebensein des Lebens selbst gestellten Aufgabe. Diese wird von Rendtorff dann ausführlich in drei Grundelementen der Lebensführung expliziert: eben dem Gegebensein des Lebens (das Rendtorff theologisch auf die Geschöpflichkeit des Menschen appliziert), dem Geben des Lebens (das mit der Rechtfertigung des Lebens und der damit verbundenen Sozialität korreliert ist) und der Reflexivität des Lebens (die Rendtorff als den Glauben auf das zukünftige Gelingen des Lebens interpretiert). Umfassende Konkretisierungen dieser drei Momente jeweils in den Sphären von Ehe, Politik, Ökonomie, Kultur und Religion runden das Projekts Rendtorffs ab, das an dieser Stelle nicht ausführlicher diskutiert werden kann. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Lebensbegriff in der Theorie Rendtorffs grundsätzlich positive Aufnahme und konstruktive Verwendung findet. Mit Hilfe der Trias von eigenem Leben, Leben überhaupt und subjektivem (ethischem) Leben gelingt es ihm, zentrale Momente des Lebens theologisch handhabbar zu machen und das Leben in einen umfassenden theologischen Theoriehorizont einzuzeichnen. Bei näherem Hinsehen wird jedoch erkennbar, dass der Begriff des Lebens selbst nicht diskursiv expliziert wird. Mehr noch: Insofern der Schlüsselbegriff der Lebensführung von Anfang an konsequent mit der Ausbildung eines ethischen Bewusstseins verknüpft ist, wird der Begriff des Lebens bei näherem Hinsehen als Statthalter einer ethischen Theorie der Subjektivität erkennbar. Der Ausdruck Lebensführung impliziert immer schon den Gedanken des Menschen als eines individuellen ethischen Subjekts. Genauer: Die Grundelemente der Lebensführung sind eine Art ethische Subjektivitätstheorie bezogen auf die Struktur des individuellen ethischen Subjekts. Sie sind verklammert durch die Kategorie der Verantwortung. Nach Rendtorff kann es eine Ethik ohne individuelle Subjekte und eine Lebensführung ohne Bewusstsein nicht geben. Das ist kein Schade, sondern die Stärke und das Programm Rendtorffs. Der Begriff des Lebens allerdings, so prominent er in der ›Ethik‹ Rendtorffs ist, bleibt so strukturell und in seinen systematischen und geistesgeschichtlichen Hintergründen zumindest teilweise unterbestimmt.494 493 Das heißt konkret, »daß er [sc. der Mensch als individuelles Subjekt von Lebensführung] seine Aufgabe im Leben überhaupt und so auch in der Mitmenschlichkeit überindividueller Sozialität allein auf eigene, nämlich individuell bestimmte Weise wahrnehmen kann« (Rendtorff, Ethik, I, 68). 494 Was die Hintergründe anbelangt, so ist freilich zunächst an Max Weber und seinen Begriff der Lebensführung zu denken (vgl. z.B. Weber, Protestantische Ethik, 113). Rendtorff selbst gibt einen Hinweis der auf Gerhard Ebeling verweist: »Der hier gewählte Ansatz beim Begriff des Lebens befindet sich in Übereinstimmung mit G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens« (Rendtorff, Ethik I, 64). Dies kann hier nicht erörtert und nachvollzogen werden. Nur soviel sei angemerkt:
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Explizit und ausführlicher hat sich auch Johannes Fischer mit dem Begriff des Lebens auseinander gesetzt. Er befasst sich mit dem Lebensbegriff dabei einerseits allgemein in wissenschaftstheoretischer Hinsicht und andererseits speziell mit dessen ethischer Reichweite im Kontext der theologischen Ethik. Was das erste anbelangt, so hat Fischer an verschiedenen Stellen dargelegt, dass die Theologie in seinen Augen grundsätzlich nicht als Wissenschaft im exakten Sinne angesprochen 495 werden kann. Insofern er die wissenschaftliche Theologie im Ganzen als eine hermeneutische Wissenschaft bestimmt, legt er ihr eine »Zurückhaltung [...] 496 hinsichtlicht ihrer eigenen Erkenntnisansprüche auf« , die sich eben aus der spezifischen Erkenntnishaltung der Theologie ergibt. Dies hat Fischer z.B. im Spannungsfeld von Schöpfung und Naturwissenschaft erläutert. So ist es seiner Meinung nach kaum möglich, dass ein Verständnis der Welt als Schöpfung einer naturwissenschaftlichen Sichtweise zu plausibilisieren ist. Dies insofern nicht, weil bei derartigen Versuchen die kategoriale Differenz von Handeln und Ereignis nicht beachtet und von innerweltlicher Kontingenz auf freiheitliches und schöpferisches Handeln Gottes geschlossen wird, was auf nichts anderes hinausläuft, als dass entweder die Schöpfung aus dem Bereich der göttlichen Freiheit extrapiert oder letztere in ein Muster von Kausalursachen eingezeichnet wird.497 Dergestaltige Vermengungen gründen sich nach Fischer in einer unterbelichteten Wahrnehmung der jeweiligen kommunikativen Dimension beider PerEbeling entwickelt im ersten Band seiner ›Dogmatik des christlichen Glaubens‹ eine Schematik des Lebens, die umfasst: Selbstentfaltung (als Entfaltung des Lebens in der Spannung von [z.B. genetischer] Determination und Autonomie), Potentialität (als spannungsreiches Ineinanander von vergangenen und zukünftigen Lebensmöglichkeiten), Endlichkeit (als Begrenztheit des Lebens durch den Tod und eine lokal und temporal eingeschränkte Präsenz), Irreversibilität (als Unumkehrbarkeit der temporären Struktur des Lebens), Interdependenz (als Mitbedingkeit des Lebens durch Umwelt und weitere ins Offene gehende Konstitutionsbedingungen), Individualität (als Spannung zwischen zwischen Einzelwesen und Gattung), Identität (als Spannung von genetischer Einzigartigkeit und deren Stabiblisierung im Lebensprozess), Internität (als Fähigkeit, sich als Inneres von der Außenwelt anbzugrenzen und sie von daher mitzugestalten), Bildsamkeit (als Lernfähigkeit des Menschen) und Sprachlichkeit (als Medium der Wahrheit, das seine Lernfähigkeit steigert, ihn aber auch angweisen und empfänglich für das Wort macht, das ihn zur Wahrheit bringt). Vgl. Ebeling, Dogmatik, 89–104. Vor dem Hintergrund der Lutherstudien Ebelings wäre es sicher reizvoll, zu sehen, inwieweit Ebelings Lebensverständnis von Luther mitinspiriert ist, dessen Theologie in einigen Momenten hier wieder erkannt werden kann, v.a. seine Thesen ›de homine‹, die sich energisch gegen das Aristotelische materia-forma-Schema stemmen (vgl. dazu Ebeling, Luthers Auffassung vom Menschen, 326ff.). Überhaupt steht die Rekonstruktion des Lebensverständnisses Luthers in weiten Teilen noch aus. Der Lebensbegriff jedenfalls ist omnipräsent; von der ersten These an: »Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo ›Penitentiam agite etc.‹ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit« (WA I, 233 [Hervorhebung v. Vf.]). 495 Vgl. Fischer, J., Zwischen Glauben und Wissen, 94ff., Fischer, J., Theologische Ethik, 34ff. 496 Fischer, J., Theologische Ethik, 34. 497 »Der Anspruch, der naturwissenschaftlichen Vernunft die Welt als Schöpfung verständlich zu machen, erfordert, daß das Schöpfungshandeln Gottes in die Ereignisperspektive der Naturwissenschaft übersetzt und an den Naturvorgängen identifiziert wird« (Fischer, J., Welt als Schöpfung, 494).
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spektiven (Ereignis und Handlung), die er im Versuch einer weiterführenden Präzisierung dahingehend bestimmt, dass es sich im ersten Falle um einen »Dialog der 498 Kausalerklärung« handelt, bei dem Beobachter ein und desselben Phänomens sich über Kausalrelationen von Ursachen und Wirkungen austauschen und beim 499 zweiten um einen »Dialog mit dem Handelnden« , bei dem Handlungsgründe und 500 Handlungen selbst im Zentrum des Interesses stehen. Beide Kommunikationsformen sind nicht aufeinander abbildbar und verhalten sich insofern zueinander inkommensurabel, es sei denn, es wäre möglich, dass ein Akteur gleichzeitig Handelnder und nicht beteiligter (handelnder) Beobachter seiner Aktivität wäre. Fi501 scher hält jedoch fest: »Beides zugleich aber ist offensichtlich nicht möglich« . Denkanstrengungen, die Welt der naturwissenschaftlichen Vernunft als Schöpfung plausibel zu machen, versuchen es nach Fischer jedoch, genau diese dritte Perspektive einzunehmen, was in sich aporetisch ist und der benannten Extripation oder Vermengung gleichkommt. Fischer schließt: »Aus der Unmöglichkeit dieser dritten Perspektive folgt, daß die Theologie den Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt ihrer Rede von Gottes Handeln nicht an der durch die Vernunft erkannten Wirklichkeit verständlich oder einsichtig machen kann. Gottes Wirklichkeit ist in diesem Sinne welttranszendent«502. Entscheidend für die Wahrnehmung göttlichen Handelns ist allein die kommunikative Perspektive des Glaubens, der sich auf Gottes Handeln bezieht. Der Gefahr, dass damit Glaube und Wissen in unzulässiger Weise auseinandergespreizt würden, wirkt Fischer dadurch entgegen, dass er auf der Ebene des Glaubens die Möglichkeit einer kommunikativen Beziehung von naturwissenschaftlichem Weltbild und der Haltung des Glaubens etabliert in dem Sinne, dass den Glauben nichts hindert, »die Welt, wie die Wissenschaften sie beschreiben, in Lob, Dank oder Bitte vor Gott zu bringen und damit in die kommunikative Perspektive von Gottes Handeln zu rücken« resp. »die Welt kommunikativ in den Horizont von Gottes Handeln zu stellen«503, wie dies etwa in den Schöpfungspsalmen oder in modernen Nachdichtungen der Fall ist. Hier kann – in bewusstem Gegensatz zum durch den Subjekt-Objekt-Gegensatz regierten und »in sich selbst gegründeten 504 505 Denken[]« – Gott ganz unmittelbar in der Welt wahrgenommen werden.
498 Fischer, J., Welt als Schöpfung, 498. 499 Fischer, J., Welt als Schöpfung, 498. 500 Fischer illustriert dies anhand des Beispiels einer Armbewegung, die in beiden Kommunikationssituationen unterschiedlich bestimmt wird. So kommt der Kausaldialog an dieser Stelle zur Feststellung eines durch Nervenreize und Muskelkontraktionen verursachten raum-zeitlichen Ereignisses, der Bewegung des Armes. Der Handlungsdialog hingegen erhabt ein Zeigen oder Winken, das als deutliche Handlung durch spezifische Handlungsgründe bestimmt ist (vgl. Fischer, J., Welt als Schöpfung, 499). 501 Fischer, J., Welt als Schöpfung, 500. 502 Fischer, J., Welt als Schöpfung, 503. 503 Fischer, J., Welt als Schöpfung, 505. 504 Fischer, J., Welt als Schöpfung, 506.
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Entscheidend ist für Fischer näherhin der kommunikative Charakter resp. der 506 Geist von dem die Bezugnahme auf die Weltwirklichkeit geleitet ist. Der Erhärtung dieser These dient folgende Überlegungskette: Alle gegenständliche Wirklichkeit wird kommunikativ erschlossen, insofern liegt die Kommunikation über gegenständliche Wirklichkeit derselben voraus und kann nicht durch die gegenständliche Wirklichkeit bestimmt und geleitet sein. Das aber, was die Kommunikation leitet und bestimmt, kann als Geist konzeptualisiert werden, der sich des Näheren in der dezidiert nichtgegenständlichen Erfahrung von Freude, Trost, Glaube, 507 Hoffnung etc. äußert. Dies wird schlussendlich expressis verbis auch auf das Leben hin appliziert: »In den Schöpfungserzählungen und Schöpfungspsalmen begegnet der Geist eines elementaren Grundvertrauens in die Wirklichkeit und die 508 Gewährleistung des Lebens« . Für die wissenschaftliche Thematisierung des Lebens hat diese Herangehensweise weit reichende Folgen. So kann es einen theologischen Begriff des Lebens im strengen Sinne nicht geben, weil der Zugriff auf das Leben immer schon durch eine kommunikative Situation und einen ihr spezifischen Geist gesteuert ist. Der theologische Lebensbegriff wird so unter der Hand zu einem christlichen Lebensverständnis; das Leben selbst zum unerkennbaren Leben an sich. Fischer hält fest: »Das Leben ist kein möglicher Erkenntnisgegenstand irgendeiner Wissenschaft. Übrigens auch nicht der theologischen. Denn auch diese reflektiert nicht unmittelbar auf das Leben, sondern vielmehr auf das Verständnis, das der christliche Glaube und die christliche Tradition von dem Leben haben, also auf das christliche Lebensverständnis«509. Dieses christliche Lebensverständnis entnimmt Fischer schließlich der Bibel und konzentriert es auf die Vorstellung Gottes des Lebendigen: »Leben ist nach christlichem Verständnis ein Gottesprädikat. Als solches bezieht es sich in einem ursprünglichen Sinne auf das Sein Gottes als der Lebendige und ewig Lebende (Dtn 5,23; 2 Kön 19,4; Ps 42,3; Dtn 32.40 u.ö.) und gehört 510 nicht zu den geschaffenen Dingen« . Das heißt näherhin, »daß Gott seinen Geschöpfen an seinem Leben teilgibt. Alles, was lebt, lebt eben dadurch, daß es an Gottes Lebensfülle teilhat. So begriffen ist das Leben als das Eine und Selbige [...] Gottes verborgene Präsenz im Leben 505 »Wahrnehmung Gottes und Wahrnehmung der Welt verschmelzen hier miteinander, und im Unterschied zu den Anstrengungen und Verzwungenheiten metaphysischen Denkens geschieht dies hier auf die denkbar müheloseste und selbstverständliche Weise« (Fischer, J., Welt als Schöpfung, 505). 506 Geist ist für Fischer diejenige Kommunikationsebene, die Leben konstituiert und von der Menschen schöpfungsmäßig schlechthinnig abhängig sind (vgl. dazu Ohly, Sterbehilfe, 225f.). 507 »Eben dies in der Kommunikation bestimmend Erfahrende soll durch den Begriff des Geistes bezeichnet werden« (Fischer, J., Welt als Schöpfung, 509). 508 Fischer, J., Welt als Schöpfung, 510 (Hervorhebung v. Vf.). In diesem Sinne steht der Psalm 104 dafür, »allen gegenläufigen Kontingenzerfahrungen zum Trotz eine geistlich fundiertes Grundvertrauen in die Welt zu vermitteln, ohne das menschliches Leben nicht möglich ist« (ebd.). 509 Fischer, J., Christliches Lebensverständnis, 137 (Hervorhebung i. Orig.). 510 Fischer, Christliches Lebensverständnis, 139 (Hervorhebung i. Orig.).
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seiner Geschöpfe«. Damit wendet sich Fischer gleichzeitig gegen metaphysische oder lebenswissenschaftliche Reste im theologischen Zugriff auf das Leben, die das Leben als Prinzip verabsolutieren würden: »[N]ach christlichem Verständnis [ist] nicht ›das Leben‹ letztes Prinzip und letzter Bezugspunkt für das Verständnis aller natürlichen und geistigen Prozesse. [...] Vielmehr ist das Leben seinerseits noch 511 einmal von anderswoher qualifiziert, nämlich von seinem Ursprung in Gott« . Das heißt aber nicht, dass Fischer insgesamt einen biblischen Lebensbegriff ans Licht setzen würde, der primär am alttestamentischen Schöpfungsgedanken anknüpfen 512 würde. Allerdings macht er sehr wohl deutlich, dass ein christliches Lebensverständnis das Leben auf die biblische Vorstellung der Lebendigkeit Gottes bezieht. Diesem spezifisch theologischen resp. christlichen design des Lebensverständnisses stehen andere Konzeptualisierungen ungewichtet gegenüber. Fischer rechnet dabei mit drei grundlegenden Formatierungen von Leben: Er spricht von »dem Leben, mit dem wir umgehen, dem Leben, das wir führen und dem Leben, an dem 513 wir teilhaben« . Wichtig für den hier infrage stehenden Zusammenhang ist dabei, dass Fischer darüber hinaus nicht mit einem einheitlichen und zusammenschlie514 ßenden Lebensbegriff, besser Lebensverständnis rechnet. Das theologische resp. 511 Fischer, Christliches Lebensverständnis, 139 (Hervorhebung i. Orig.). 512 In dieser Beziehung sei auf Roman Globokar verweisen. Globokar entwirft Grundlinien einer theologischen Ethik des Lebens, die sich in ihrer Zielperspektive in der Spannung von Schöpfungsglauben und Heilsgeschichte bewegt.Vgl. Globokar, Verantwortung für alles, 549ff.; bes.: 563f.: »Die Botschaft des biblischen Schöpfungsverständnisses bietet der theologischen Ethik des Lebens eine tragende Grundlage. Gott ist der Schöpfer des Alls. Die Natur ist deshalb nicht bloß ein Gegenstand, welcher der menschlichen Machbarkeit zur beliebigen Verfügung steht, sondern ihr ist zuerst als das Werk des guten Gottes, als Schöpfung zu begegnen. Die Schöpfung ist also eine Wirklichkeit, die den Menschen überragt und die deshalb von ihm eine tiefe Ehrfurcht erfordert. Sie setzt dem menschlichen Handeln die Grenzen, die nicht ignoriert und nicht überschritten werden dürfen. Der Mensch ist ein Geschöpf inmitten von Geschöpfen. Seine Existenz wird ihm – wie allen Geschöpfen – von Gott gewährt und er verwirklicht sie in einer inneren Verbundenheit mit allen Geschöpfen. Die gegenseitige Abhängigkeit aller Geschöpfe und ihre grundlegende Zusammengehörigkeit fordern den Menschen zum solidarischen Umgang mit ganzer [sic!] Schöpfung auf. Noch mehr, als Geschöpf, das nach dem Abbild Gottes erschaffen wird, tritt er als Mandatar Gottes in der Schöpfung auf. Mit dem Auftrag, sich die Erde zu unterwerfen und sie zu beherrschen (Gen 1,28) wird dem Menschen keine absolute Herrschaft verliehen, sondern es werden ihm Sorge und Verantwortung für die Erde anvertraut«. Freilich sieht auch Globokar deutlich: »Aus dem biblischen Verständnis der Schöpfung und des Menschen lassen sich zwar keine direkten Handlungsnormen für den konkreten Umgang des Menschen mit dem Leben in der heutigen wissenschaftlich-technischen Zivilisation ableiten. Der Glaube an Gott den Schöpfer des Alls, der sein Werk zur eschatologischen Vollendung bringen wird, führt den Gläubigen zur Grundhaltung des Empfangens«. 513 Fischer, Christliches Lebensverständnis, 135. 514 So führt Fischer aus, »daß mit einem Einheitsbegriff ›Leben‹, der alle drei hier skizzierten Bedeutungen von Leben umfaßt und also insbesondere das biologische und das religiöse Lebensverständnis zusammenschließt, nicht zu rechnen ist« (Fischer, J., Christliches Lebensverständnis, 138). Damit wird gleichermassen deutlich, dass Fischer die biologische Basis des Lebens aus dem theologischen Lebensverständnis weitgehend zurückdrängt. Vgl. dazu Ohly, Sterbehilfe, 228: »Fischer drängt damit eine biologische Kriteriologie des Lebens zurück«.
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christliche Verständnis des Lebens erscheint als eines neben anderen, ist aber von diesen dadurch unterschieden, dass es das Leben auf seinen ewigen Ursprung in Gott bezieht. Damit steht Fischer in einer Reihe mit den behandelten theologischen Anläufen zu einem theologischen Lebensbegriff. Sowohl Albert Schweitzer als auch Bonhoeffer und Tillich haben das Leben in letzter Instanz auf ein göttliches Leben bezogen. Darüber hinaus steht Fischer strukturell auf einer ähnlichen Ebene wie Tillich. Auch Tillich hatte, wie gesehen, scharf herausgearbeitet, dass der theologische Standpunkt das Leben im Gegenüber zu anderen Zugängen in einer spezifischen Weise zum Thema macht.515 Allerdings hatte Tillich noch darauf insistiert, dass der theologische Standpunkt gegenüber anderen Standpunkten (v.a. gegenüber dem Standpunkt der Philosophie) plausibilisierbar und anschlussfähig bleibt. Dies ist offenbar für Fischer nicht mehr wichtig. Damit einher geht der wohl bewusste Verzicht auf begriffliche Hintergrundklärungen eines Lebensverständnisses, das bewusst nicht Begriff sein will. Wie genau das ewige Leben Gottes zu denken, besser als Verständnis zu verstehen ist, das verbleibt so im Unklaren, genauso, wie sich das ewige Leben Gottes zu dem Geist, in dem es sich repräsentiert, verhält. Der von Fischer ins Zentrum gerückte Geist gewinnt so einen offenbar gewollt esoterischen Zug. Auf der anderen Seite ist es freilich kaum zu überschätzen, dass Fischer am Orte des Lebensbegriffs vor einer vorschnellen Vermengung von Erkenntnishinsichten und -kompetenzen warnt und an dieser Stelle an möglichst klaren Grenzziehungen interessiert ist. Der hier gewichtige Hinweis, dass vorschnelle Amalgame zu vermeiden und interdisziplinäre Interferenzen immer zu rechtfertigen sind, wird im kommenden Abschnitt noch eine wichtige Rolle spielen. Von einer Verabschiedung des Lebensbegriffes im Sinne und im Anschluss an den am Anfang dieses Kapitels diskutierten Vorschlag Richard Rothes – komplexe Begriffe, wie den des Gewissens aus der theologischen Theoriebildung auszuscheiden – kann jedenfalls nicht die Rede sein. Obwohl es wieder Paul Tillich gewesen ist, der den benannten Vorschlag Richard Rothes in einem seiner späteren Texte als »verständlich«516 bezeichnete. Allerdings spricht sich Tillich trotz seines Verständnisses gegen eine Aufnahme des Vorschlags von Richard Rothe aus. Vielmehr gilt es in seinen Augen, dass auch ein prima vista opaker terminus dennoch »auf eine bestimmte Wirklichkeit hin[weist], die trotz ihres komplexen Charakters adäquat beschrieben werden muß und kann, zumal die Geschichte der Gewissensidee trotz ihrer 517 verwirrenden Vielfalt einige klare Typen und bestimmte Tendenzen aufweist« .
515 Für Tillich war der theologische Standpunkt der des Paradoxons im Gegenüber zu dem der Reflexion. Vgl. dazu unter D.IV.2. Schweitzer und Bonhoeffer rechnen hingegen je auf ihre Weise mit einer Universalität ihres theologischen Lebensbegriffes. 516 Tillich, RFdMH, 56: »Wenn wir nicht nur den populären Gebrauch des Wortes [sc. Gewissen] und dessen völligen Mangel an Klarheit betrachten, sondern auch seine verworrene Geschichte, ist dieser Vorschlag verständlich«. 517 Tillich, RFdMH, 56.
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Auch an dieser Stelle kann dies weitgehend auf die Problematik des Lebensbegriffs abgebildet werden; ging es doch im Verlauf dieser Untersuchung weitgehend um die Aufarbeitung signifikanter Typologien und Tendenzen in Bezug auf den Le518 bensbegriff. Und nicht nur die Aufarbeitung der großen Konzeptualisierungen eines theologischen Lebensbegriffs (Schweitzer, Bonhoeffer, Tillich), sondern auch der Blick in neuere Denkfiguren (v.a. Rendtorff und Fischer) haben gezeigt, dass in Bezug auf den Lebensbegriff einem Vorschlag in Anlehnung an Rothe faktisch nicht nur nicht gefolgt wurde, sondern dass das Leben in eminenter Weise einer theologischen Bearbeitung zugänglich ist. Insgesamt ist an dieser Stelle also festzuhalten, dass in theologischer Hinsicht (im Anschluss auch an Heidegger) davon auszugehen ist, dass die »verwirrende Vieldeutigkeit des Wortes ›Leben‹ nicht Anlaß werden [darf], es einfach auszusetzen«519. Freilich heißt dies auch, dass mit dem einen theologischen Lebensbegriff nicht zu rechnen ist. Auch die hier im Folgenden vorgeschlagenen Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs verstehen sich als eine Anregung unter anderen. Bevor abschließend Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs entwickelt werden, ist zuvor noch allgemein auf die theologische Motivation einer Konzeptualisierung des Lebens einzugehen. V.2
Motivationen eines theologischen Lebensbegriffes
Wenn es im Folgenden um theologische Motive in der Beschäftigung mit dem Leben geht, so ist dem voranzuschicken, dass damit keineswegs ein primär apologetisches Interesse verbunden ist. Wie u.a. im Kontext der Theologie Tillichs gezeigt werden konnte, ist die theologische Perspektive (bei Tillich der theologische Standpunkt) eine Perspektive unter anderen. Beim theologischen Zugriff auf das Leben handelt es sich mitnichten um eine Super-Perspektive, die gleichsam über allen anderen Zugängen auf das Lebendige stünde und das abschließende Wort spräche. Nichts wäre fataler als das. So wenig von einem einheitlichen und homogenen theologischen Lebensbegriff ausgegangen werden kann, so wenig wird eine theologische Perspektive als theologische Perspektive sich selbst absolut setzen
518 Vgl. dazu Herms, Leben, 97: »In allen aus der Begriffsgeschichte bekannten Fällen bezeichnet der Ausdruck ›Leben‹ einen spezifischen, innerkosmisch ausdifferenzierten Prozeß des Werdens, nämlich des Werdens von unterschiedlichen generativen Ordnungen von Organismen, die beide – also sowohl die generativen Ordnungen als auch die Ordnungen selbst – unter der Bedingung stehen, sich selbst als Individuen für eine bestimmte (eben durch ihre Bedingungen begrenzte) Dauer im kontinuierlichen Wandel der Gegenwart zu erhalten«. Inhaltlich hält Herms sechs konstitutive Momente fest: werdende Prozessualität, immanente Gerichtetheit, organologische Basis, innerkosmische Bedingtheit, art- und gattungsspezifische Gestuftheit sowie entscheidungsgebundene Selbststeuerung (vgl. a.a.O., 97f.). 519 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, 240.
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Der Theologische Lebensbegriff 520
können und wollen. Eine theologische Perspektive im Hinblick auf das Leben ist eine Perspektive neben anderen. Als alternative Grundzugänge wurden im Rahmen dieser Untersuchung das Organismuskonzept, der metaphysische Zugriff und die molekularbiologische Konzeptualisierung beachtet. Was allerdings motiviert zu einem gesonderten theologischen Zugang? Dazu ist Folgendes zu bemerken. Erstens: In der christlichen Religion und Theologie ging und geht es immer auch um das Leben: Der christliche Glaube rechnet fundamen521 tal mit dem Gott der Lebenden. Der christliche Glaube thematisiert das Leben entschieden in seiner Gottesberührung und sich daraus ergebenden Perspektiven: »Leben ist ein Zusammenspiel von Meßbarem und Unmeßbarem und weitet sich in 522 der Gottesberührung zum Unermeßlichen« . Wie die Aufarbeitung der Lebensbegriffe Albert Schweitzers, Dietrich Bonhoeffers und Paul Tillichs gezeigt hat (und zuletzt im Kontext der Behandlung des Lebensverständnisses Johannes Fischers sichtbar wurde) werden Gottes- und Lebensbegriff dabei in eine innere Affinität zueinander gebracht: der unendliche Lebenswille als Inbegriff des unendlichen Lebens Gottes bei Schweitzer, Bonhoeffers Christusleben als das neue Leben in Gott, das absolute göttliche Leben bei Paul Tillich und das Leben als Gottesprädi523 kat bei Fischer. Zweitens: Die theologische Beschäftigung mit dem Leben wird dem Umstand gerecht, dass das Leben nach Deutung verlangt: »Das Leben schreit geradezu nach Deutung. Die Endlichkeit des Daseins, seine Riskiertheit, Fallibilität und Unerfülltheit, aber auch sein Geschenktsein, seine Erhaltung und sein Gelingen, all dies bie524 tet einen schier unerschöpflichen Stoff zu tieferer Betrachtung« . Im Horizont der hier behandelten theologischen Zugänge zum Leben waren es dabei speziell das kalame Ineinander natürlicher und sittlicher Kräfte des Lebens bei Albert Schweitzer, Bonhoeffers kritische Spannung von natürlichem und unnatürlichem Leben und die Zweideutigkeiten des Lebens im Entwurf Tillichs. Drittens – und für die hier intendierten Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs am wichtigsten – kommt es auf ein Moment der begrifflichen Konzeptualisierung des Lebens an, das im Zuge der Aufarbeitung der basalen Zugänge 520 In der Tat wiederholt sich das Problem der Pluralität im konzeptualisierenden Zugriff auf das Leben auch auf dem Gebiet der Theologie. Wie gesehen sind die Ansätze Albert Schweitzers, Dietrich Bonhoeffers und Paul Tillichs sehr unterschiedlichen Zuschnitts. Allein macht letzteres nicht nur auf die Pluralismusfähigkeit als Wesenszug des Protestantismus (vgl. Graf, Wohlgeprüfte Wahrheit, 265) aufmerksam, sondern auch darauf, dass das Leben vordergründig oder subkutan immer referenzieller Gegenstand religiöser und theologischer Reflexion war und ist. 521 »οὐκ ἐστιν θεὸς νεκρῶν ἀλλὰ ζώντων« (Mk 12, 27). Vgl. dazu Neugebauer, F., Gott der Lebenden, 394ff. 522 Neugebauer, F., Gott der Lebenden, 394. 523 Auch bei Kleffmann findet sich die angezeigte Affinität: »Das wahre Leben, zugleich das Wesen des Lebens, zu dem der Mensch ursprünglich bestimmt ist, liegt in der Kommunikation mit Gott, wie sie in Christus identisch und darin im Glauben antizipiert ist« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 582). 524 Barth, U., Theoriedimensionen des Religionsbegriffes, 76.
Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs
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immer wieder wahrnehmbar wurde. Insbesondere die kritische Rekonstruktion der am Organismusbegriff geleiteten Theorien des Lebendigen Kants, Hegels und Lotzes hat erkennbar werden lassen, dass der Lebensbegriff als Begriff in seiner konzeptualisierten Fassung sich in unterschiedlichen Weisen und Momenten als unscharf und unterbestimmt erwiesen hat. Das ist jedoch kein Schade, sondern liegt ganz in der Natur der Sache; nur dass das fragliche Syndrom sich am Orte des Lebensbegriffs in nachgerade überdeutlicher Weise zeigt. Denn grundsätzlich ist es so, dass freilich kein Begriff immer und überall einen randscharf fixierbaren und eindeutig auf sein Referenzobjekt oder seine Referenzobjekte beziehbaren intellektuellen Gehalt repräsentiert. In gesteigertem Maße gilt dies freilich für den Begriff des Lebens. Sicher: Kant hatte freilich großes Zutrauen in die Kraft und Schärfe des Begriffs.525 Erinnert sei an die formale Definition des Begriffes wie sie Kant im Anschluss an die ihm vorgängige Tradition der rationalistischen Logik fixiert hat: »Die allgemeine Logik hat also nicht die Quelle der Begriffe zu untersuchen; nicht wie Begriffe als Vorstellungen entspringen, sondern lediglich, wie gegebene Vorstellungen im Denken zu Begriffen werden; diese Begriffe mögen übrigens etwas enthalten, was von der Erfahrung hergenommen ist, oder auch etwas Erdichtetes, oder von der Natur des Verstandes Entlehntes. – Dieser logische Ursprung der Begriffe – der Ursprung ihrer bloßen Form nach – besteht in der Reflexion, wodurch eine, mehreren Objekten gemeine, Vorstellung (conceptus communis) entsteht, als diejenige Form, die zur Urteilskraft erfordert wird«526. Begriffe sind demnach das Ergebnis eines Reflexionsgefüges, das auf eine Vorstellungsmenge intellektuell reagiert. Diese kann entweder empirisch gegeben (conceptus datii) oder unab527 hängig von Erfahrung im menschlichen Geist erzeugt (conceptus factii) sein. Begriffe als conceptus communis sind demnach intellektuelle Gebilde, die in Bezugnahme auf Vorstellungsmengen im Ineinander von Komparation, Reflexion und Abstraktion für den Erkenntnisaufbau diskursiv hochbrauchbare und abbil528 dungsstarke Elemente generieren. Es ist indes kein geringerer als der Kant-Bewunderer und -Kritiker Johann Gottfried Herder gewesen, der in seiner 1799 erschienenen ›Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft‹ Kant auf notorische Risse seiner Begriffstheorie hingewiesen hat. Herder rekurriert dabei auf eine (schon damals) lebhaft geführte sprachphilo529 sophische Debatte. Und Herder unterscheidet feinsinnig zwischen abstraktem 525 526 527 528
Zu Kants Begriffs-Logik vgl. Prien, Kants Logik der Begriffe, v.a. 14ff. u. 47ff. Kant, Logik, §5, A 144f. (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. Kant, Logik, §4, A 143, Vgl. Kant, Logik, §6, A 145f. Kant gebraucht in der ›Logik‹ an dieser Stelle den Ausdruck Reflexion in einem doppelten Sinne. Einmal meint er Reflexion im weiteren Sinne als das bezeichnete Ineinander von Komparation, Reflexion und Abstraktion und das andere Mal im engeren Sinne als Reflexion »wie verschieden Vorstellungen in Einem Bewußtsein begriffen sein können« (ebd.). 529 Herder, Verstand und Erfahrung, Vernunft und Sprache (Metakritik der reinen Vernunft), 171, Anm.*).
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Der Theologische Lebensbegriff
Begriff sowie dessen Genese und deren Verwendung als sprachliches Wort. Er notiert: »[N]ie dürfen wir uns, wenn von einem Begriff die Rede ist, seines Heroldes und Stellvertreters, des ihn bezeichnenden Wortes schämen. Oft zeigt uns dieses, wie wir zu dem Begriff gelangt sind, was er bedeute, woran es ihm fehle. […] Ein großer Theil der Mißverständnisse, Widersprüche und Ungereimtheiten also, die man der Vernunft zuschreibt, wird wahrscheinlich nicht an ihr, sondern an dem mangelhaften oder von ihr schlecht gebrauchten Werkzeuge, der Sprache liegen, 530 wie das Wort Widersprüche selbst sagt« . Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass Herder zufolge Begriffe notorische Unschärfesyndrome aufweisen, die aus fehlerhaftem oder schlicht schlechtem usus linguae resultieren. Der Einwand wiegt nach Herder. Aber er verbindet seine Kritik sofort auch mit einer nicht weniger ernst zu nehmenden Befürchtung, dass nämlich in Überernstnahme des ausgemachten sprachlichen Defizits die 531 »feinste Kritik zur Grammatik würde« . Herder, der sich u.a. auf Aristoteles beruft, ist nicht der erste und der letzte, der einer Unschärfesyndromatik des Begrifflichen das scharfe oder unscharfe Wort geredet hat. Es seien hier aus der komplexen Diskussion nur ausschnittweise wiedergeben als z.T. in dieser Arbeit auch behandelte Stationen: Schleiermachers – ohne weiteres an spätere Beispiele erinnernde – Überlegungen zum »Ausdruck Sprach532 533 kreis« , Hegels kontinuierliches Projekt der Reinigung von Begriffen, Nietzsches Pathos der großen Begrifflichkeiten und sein Abheben auf deren interpreta534 torischen Charakter (s)einer Selbst-Welt, Freges Idee des Begriffsumfangs und Wittgensteins nicht ganz unbekante Sentenz: »Wer glaubt, gewisse Begriffe seien schlechtweg die richtigen […], der möge sich gewisse sehr allgemeine Naturtatsachen anders vorstellen, als wir sie gewohnt sind, und andere Begriffsbildungen als 535 die gewohnten werden ihm verständlich sein« . Nun: Es liegt ganz in der Natur der Sache, dass das Leben als Naturtatsache – und nicht nur als diese – in unterschiedlichen Herangehens- und Sichtweisen sehr anders und sehr unterschiedlich vorgestellt wird. Es ist geradezu das Faszinierende aber auch die Hypothek, die jede Reflexion auf das Leben herausfordern und begleiten, dass sich am Orte des Lebensbegriffs die unterschiedlichsten Erkenntnisinteressen und -ambitionen überschneiden.
530 Herder, Verstand und Erfahrung, Vernunft und Sprache (Metakritik der reinen Vernunft), 171 (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. dazu auch Herders Untersuchung ›Abhandlung über den Ursprung der Sprache‹ von 1770, bes. 90ff. 531 Herder, Verstand und Erfahrung, Vernunft und Sprache (Metakritik der reinen Vernunft), 171 (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. dazu auch Herders Untersuchung ›Abhandlung über den Ursprung der Sprache‹ von 1770, bes. 90ff. 532 Schleiermacher, Dialektik, 16 (i. Orig. z.T. gesperrt; Hervorhebung hier v. Vf.). 533 Vgl. dazu unter A. III.3.3. 534 Vgl. dazu unter B.IV.2. 535 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 578.
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Eine Veräußerung des Lebens an erklärt unbegrifflich verfasste gedankliche Ventilationen erscheint im Kontext dieser Untersuchung als Scheinlösung. Zwar wird z.B. die Metapher Leben oder das Leben als Metapher illuster und geschmeidig in lebensweltlichen Kontexten aufgearbeitet, aber es stellt sich die Frage, was hinter der rhetorischen Fassade als Erklärungs- resp. Explikationsfortschritt bleibt. Und auch die damit verbundene Gefahr, dass ein Denken nicht mehr betrieben wird zur Wissensvermehrung und zum Gedankenfortschritt, sondern um sich interessant zu machen, ist zu sehen. Herders Angst ist an dieser Stelle keineswegs untertrieben und überaus aktuell und ernst zu nehmen. Für die Arbeit an einem theologischen Lebensbegriff hat dies freilich Konsequenzen. U.a. mit Volker Gerhardt wird daran festgehalten, dass in wissenschaftlichen Herangehensweisen das Begrifflich-Diskursive unhintergehbar ist: »Die Philosophie kann auf das Begreifen nicht verzichten; und da jeder Begriff ursprünglich auf etwas Allgemeines zielt, liegt in ihm selbst schon von selbst ein Vorbegriff auf einen prinzipiell erkennbaren Zusammenhang. Man denkt immer schon systematisch, sofern man nur denkt, auch wenn man die abschließenden Systeme mit guten Gründen verwirft. Mit jedem Begriff ist die bloß sinnliche Gegenwart überschritten und der Keim zum System gelegt«536. Das begriffliche Denken ist nie (im klassischen Sinne) Idiotie gewesen und wird es nie sein. Die begriffliche Konfiguration des Lebensbegriffes wird indes – in Ernstnahme des immanenten Problempotentials – folgendermassen aufgeschlüsselt werden können: Das Leben als Begriff ist Gegenstand multipler Erkenntnishinsichten, -optionen, -interessen und auch -ansprüche wie -hoheiten. Beim Leben ist es eben nicht so, dass wie bspw. beim Referenzobjekt Atom die Erkenntnis- und Aussage537 kompetenz heutigentags zu 90% der Atomphysik überlassen und zuerkannt wird. Am Orte des Lebensbegriffes arbeiten und konkurrieren differente Erkentnishinsichten. Das ist richtig und das ist wichtig, denn in Bezug auf das Leben stimmt es: Leben ist unendlich in seiner Endlichkeit und endlich in seiner Unendlichkeit. Das soll nicht heißen, dass das Leben ob seiner unendlichen Endlichkeit und endlichen Unendlichkeit einen quasi per se theologischen Untersuchungsgegenstand repräsentierte. Es ist vielmehr Ausdruck der dem Lebensbegriff immanenten Einladung, gewissermaßen unerschöpflicher Gegenstand aller zur Verfügung stehenden Erkenntnishinsichten, -interessen, -optionen und auch -ansprüche wie -hoheiten zu sein. Das Kalame dabei ist: Es verhält sich so, dass in Hinsicht auf den Lebensbegriff nicht nur – wie bei Augustinus – jede Frage und jedes theoretische Interesse durch eine Antwortperspektive geleitet ist, sondern es besteht darin, dass am Orte des Lebensbegriffs die eine fachwissenschaftliche Einsichtnahme auf der einen Seite Gedankenfortschritt und tiefere Einsicht in den Gegenstand Leben ermöglichen 536 Gerhardt, Nietzsche, 65. Zum Gedanken des semantischen Überschusses vgl. Habermas’ Begriff des sematischen Potentials (vgl. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 23 u. 183). 537 Vgl. dazu Demokrit bei Diels, 375f.
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Der Theologische Lebensbegriff
wird, was aber auf der anderen Seite immer auch heißt, dass andere auch wesentliche Dimensionen überblendet oder schlicht vernachlässigt werden. Diese werden freilich als beliebtes Ressort des Untersuchens wieder aufgenommen und zu eigenem fachwissenschaftlichem Gegenstand. Et vice versa. Summa: Das Leben als Gegenstand des Denkens taugt nicht zur Einseitigkeit. Begriffshoheit gibt es hier nicht. Orientierte Gedankenanstregungen um die Erschließung des Lebens haben immer etwas Überintensives, sofern sie eine Perspektive auf unendliche Perspektivität lenken. Aber keineswegs sind solcherlei Ansätze zu vernachlässigen. Kein intellektueller Annäherungsveruch an das Lebendige ist fruchtlos. Diese Versuche entziehen und bereichern gleichsam. Es geht in dem im weitesten Sinne intelligenten Ringen um das Verständnis des Lebens um das, was immanente Begriffsbalance genannt werden kann. Keine Fassung des Begriffs des Lebens wird überzeugen können, die allein z.B. auf molekularbiologische Sachverhalte abstellt. Und umgekehrt kann ein erklärt metaphysischer oder positivistisch biblisch-theologischer Standpunkt wohl kaum uneingeschränkt Evidenz für sich verbuchen. Der Lebensbegriff ist eben ein Balancebegriff und als solcher von eminenter Bedeutung. Er steht für eine Figur, die immer bestimmungslogische Defizite und semantisch-systematische Überschüsse aufweist. Das ist Schicksal und Chance. Und genau das ist im Rahmen der Arbeit immer wieder begegnet. Und wenn im Folgenden Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs thematisch werden, so kann dies nur vor der Einicht geschehen, dass an einer Ausbalancierung auch von theologischer Seite mitzuhelfen ist.538 Die Anknüpfungspunkte sind nachgerade theorie- wie sinnenfällig. Wenn Kant mit Blick auf sein am Gedanken des Naturzwecks geleitetes Ver539 ständnis des Lebendigen sagt, es sei »überschwenglich« , Hegels systematischer Überschuss der reflexionslogischen Fassung des Lebensbegriffs und Lotzes Statuierung einer über die organologischen Abläufe hinausweisenden »Würde des Le540 bens« , dann macht dies auf den angezeigten und für den Lebensbegriff fundamentalen Sachverhalt aufmerksam, dass die jeweilige theoretische Formatierung des Lebens immer jeweils sowohl auf ein bestimmungslogisches Defizit als auch auf 541 einen semantisch-systematischen Überschuss verweist. Dies konnte indes nicht nur am Orte der organismischen Fassungen des Lebensbegriffes studiert werden, 538 An dieser Stelle kann sehr wohl auch an Otto Neuraths berühmtes Beispiel gedacht werden (Neurath, Protokollsätze, 206). 539 Kant, KdU, B 331; 342f. Vgl. dazu unter A.II.3. 540 Lotze, APdKL, §13, (114), 137. 541 Ein Theoriedesign in gedanklicher Nähe zu hermeneutischen Ansätzen im Sinne Hans Blumenbergs würde darin die Einladung zu einer strikt metaphologischen Fassung des Lebendigen sehen. Eine solche Herangehensweise fände entsprechend auch in Nietzsche und seiner (auch hier ausführlich behandelten) Aphoristik einen Vorläufer. Wie bereits festgestellt wird u.a. mit Volker Gerhardt wird jedoch daran festgehalten, dass in wissenschaftlichen Herangehensweisen das Begrifflich-diskursive unhintergehbar ist.
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sondern ebenso im Zusammenhang der Behandlung des metaphysischen und des molekularbiologischen Lebensbegriffes. So steht Nietzsches metaphysischer Lebensbegriff nicht allein für eine grandiose Konzentration auf ein universales metaphysisches Paradigma und dessen Durchdringung (den unendlichen Lebenswillen als dem Willen zur Macht), sondern gleichermaßen – trotz des Anspruchs, auch den biologisch-naturhaften Dimensionen des Lebens gerecht zu werden – für eine Unterbelichtung des Organismus und dessen interner Prozessualitäten und gleichzeitig – und dies ganz bewusst im Gefolge seiner Gott-ist-tot-These – für eine radikale Verabschiedung jedweder theologischen Vertiefung des Lebendigen, die eigenartig kontrastiert erscheint mit einer Hinwendung zur Unendlichkeit der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Und auch für die hochstufige Fokussierung auf biologische Makromoleküle und deren biophysikalische und biochemische Interaktion auf Seiten der Molekularbiologie, wie sie anhand der theoretischen Zugänge von Schrödinger, Monod und Eigen in den Blick gerieten, war nicht nur eine Konzentration auf sehr bestimmte und relativ einfache Lebensformen und Experimentalorganismen typisch, sondern über Weiten auch eine Ausklammerung nichtnaturwissenschaftlicher Erklärungsanläufe und Implikate, die, wenn überhaupt, theorieüberschreitende Prolongate repräsentieren. Die angezeigte Signatur gilt freilich auch für den oben in nuce skizzierten theologischen Lebensbegriff. Auch für den theologischen Lebensbegriff ist es charakteristisch, dass er bestimmungslogische Defizite und semantisch-systematische Überschüsse aufweist. Wie sich der hier intendierte theologische Lebensbegriff zu den behandelten Ansätzen des Organismuskonzeptes, des metaphysischen und molekularbiologischen Lebensbegriffs verhält, ist kurz zu erläutern. Um es noch einmal zu sagen: Der theologische Lebensbegriff im hier vorgestellten Sinne – der (wie gesagt) nicht als Überbietung der anderen behandelten Zugänge und auch nicht als letztes Wort in der pluralen theologischen Meinungsbildung missverstanden werden soll –, erweist sich als Teilnehmer am Balanceunternehmen Lebensbegriff. Wichtig ist, dass dabei das Schema balance im theologischen Lebensbegriff selbst antreffbar ist. Ein so verstandener theologischer Lebensbegriff vertieft die in den alternativen Zugängen wahrnehmbaren Verweisungsmomente, ohne jedoch für eine Vertiefung der Ausgangskonzepte selber zu stehen. In dieser Beziehung lässt sich eine Matrix von insgesamt fünf Aspekten aufmachen, die für Dimensionen des Lebensbegriffes stehen, die im eminenten Sinne einer theologischen Deutung zugänglich sind und die exakt für die anvisierten Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffes stehen. Es handelt sich dabei um einen Kontingenzaspekt, einen Transzendenz- resp. Unendlichkeitsaspekt, einen Endlichkeitsaspekt, einen Gestaltungs- resp. Handlungsaspekt und einen Wertaspekt. Diese Aspekte stehen dabei im besagtem Sinne für Dimensionen des Lebensbegriffs, die integraler Bestandteil des Balance-Gefüges des Lebensbegriffes sind und die – gemäß der vorausgesetzten Struktur von Überschuss und Defizit – immer schon in den behandelten Perspektiven des organismischen, metaphysischen und
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Der Theologische Lebensbegriff
molekularbiologischen Lebensbegriffes zusammenstimmend mitthematisch waren, doch eben nicht immer in einer expliziten oder vordergründigen und vereinheitlichenden Hinsicht. Und auf keinen Fall waren sie jeweils als das zentrale theorierepräsentierende Moment anzusprechen. Aufgrund der – auf das jeweilige Theoriedesign gesehen – angesprochenen Dezentralität kommen die benannten Perspektiven an den Rändern der fraglichen Konzepte zum Stehen resp. in den Fugen zwischen den diskutierten Theorielagen und von daher ergeben sich auch in der systematischen Zusammenschau die angezeigten Überschneidungen. Genau dies rechtfertigt es auch, mit Blick auf den hier intendierten theologischen Lebensbegriff von einem Balancebegriff zu sprechen. Die Rede von der balance ist dabei nicht zu verstehen als ein Vereinheitlichungsinstinkt. Hier greift Johannes Fischers Eintreten für Trennschärfe. Und es stimmt: Einheit ist und war immer kontrovers. Platon geht in seinem ›Parmenides‹ den Dimensionen des Einheitsgedankens ziseliert nach. Und er kommt zu dem Ergebnis, dass das Eine nie ohne dessen Gegenteil – die Vielheit – vorgestellt werden kann.542 Vielmehr stellt diese Relation für ihn ein grundsätzliches Bedingungsverhältnis dar: balance. Gleiches gilt hier, nur mit der expiziten Kautele, dass sich Perspektiven theologisch verstanden im Aus- und Hinblick auf Gott entwerfen. Theologische Perspektiven bringen Momente des Lebens immer in eine Affinität zum Gottesgedanken und repräsentieren auf diese Weise durchaus Einheitsgebilde. Und diese Einheit kann antizipiert, an ihr kann partizipiert und sie kann teloszipiert werden. Dies wird am Ende der Erörterung der Matrix von Kontingenzaspekt, Transzendenz- resp. Unendlichkeitsaspekt, Endlichkeitsaspekt, Gestaltungs- resp. Handlungs- und Wertaspekt noch beschäftigen, die – und das ist ein Moment der Vielheit – keinesfalls beanspruchen kann, in sich wieder ein logisches Einheitsgebilde darzustellen.543 Im Folgenden ist nun abschließend zu explizieren, wie sich die benannten Momente von Kontingenzaspekt, Transzendenz- resp. Unendlichkeitsaspekt, Endlichkeitsaspekt, Gestaltungs- resp. Handlungsaspekt und Wertaspekt zu den diskutierten Ansätzen des Organismuskonzeptes, der Metaphysik und Molekularbiologie verhalten und wie sie sich vor dem Hintergrund der untersuchten theologischen Zugänge als Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffes entfalten lassen. V.3 V.3.1
Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffes Der Kontingenzaspekt
Kontingenz ist ein äußerst schillernder Begriff. Er wurde bereits von Aristoteles in den philosophischen Diskurs eingeführt und bezeichnet in der ›Metaphysik‹ als die 542 Vgl. Platon, Parmenides, 166a/b: »ἅνευ γὰρ ἑνός πολλὰ δοξάσαι ἀδύνατον«. 543 Vgl. dazu unter D.V.3.5.
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τὰ ἐνδεχόμενα eine doppelseitige Möglichkeit, also etwas, das als Seiendes die Möglichkeit hat, nicht zu sein und als Nichtseiendes die Möglichkeit des Seins be544 sitzt (symmetrische Kontingenz). Damit ist auch für Aristoteles durch die damit inkludierte Nichtnotwendigkeit ein Moment des Zufälligen miteingeschlossen, das in der verzweigten Begriffsgeschichte dieses Philosophems sich mit unterschiedli545 chen Konnotationen durchhält. Die Bedeutungen des Nichtnotwendigen resp. des Zufälligen zeigen sich auch in Bezug auf die behandelten Ansätze des organismischen, metaphysischen und molekularbiologischen Lebensbegriffs. So ereignet sich das Leben im Horizont der durch den Organismusgedanken gesteuerten Konzeptualisierung im Gebundensein an nicht als notwendig aufweisbare Strukturen und deren Eigendynamiken. Bei Kant speiste sich das kontingente Moment zu546 nächst aus der Struktur des diskursiv verfahrenden Verstandes selbst. Und darüber hinaus weiß Kant auch um die »Zufälligkeit der Zeugungen, die bei Menschen, so wie beim vernunftlosen Geschöpfe, von der Gelegenheit, überdem aber auch oft vom Unterhalte, von der Regierung, deren Launen und Einfälle, oft sogar vom Las547 ter abhängt« . Im Kontext der Theorie Hegels war der Versuch einer naturgesetzlichen Deutung des Lebendigen insofern nichtnotwendig verfasst, weil derjenige Referenzbereich, an dem Gesetze entwickelt werden können, nicht schon durch 548 Gesetze fixiert und also zufällig ist. Und bei Lotze war das Moment der Kontingenz wahrnehmbar in Gestalt der Vorstellung einer beliebigen Außenwelt, zu der 549 Lebewesen durch die Endlichkeit ihrer Natur in Stellung gebracht sind. Im Zusammenhang des metaphysischen Lebensbegriffes wurde der Kontingenzaspekt markant greifbar in Gestalt der Nietzscheschen Überzeugung, dass das allgemeine Geschehen, in dem sich Leben ereignet, an sich grundlos, zufällig und irrational 550 verfasst ist. Und die Behandelten molekularbiologischen Ansätze schließlich rechneten entweder mit dem Zufall als Einsicht, dass das Leben thermodynamisch betrachtet einen höchst unwahrscheinlichen und keinesfalls notwendigen Zustand
544 Vgl. Aristoteles, Met. Θ (IX), 3, 1047a: »ὥστ’ ἐνδέχεται δυνατὸν μέν τι εἶναι μὴ εἶναι δὲ, καὶ δυνατὸν μὴ εἶναι εἶναι δὲ, ὀμοίως δὲ καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων κατηγοριῶν δυνατὸν βαδίζειν ὄν μὴ βαδίζειν, καὶ μὴ βαδίζον, καὶ μὴ βαδίζον δυνατὸν ἒιναι βαδίζειν« (Hervorhebung v. Vf.). Zur Verwendung des Begriffes des Kontingenz bei Aristoteles vgl. Hoering, Kontingenz, 1928. 545 Vgl. dazu Hoering, Kontingenz, 1029ff. 546 »Diese Zufälligkeit findet sich ganz natürlich in dem Besonderen, welches die Urteilskraft unter das Allgemeine der Verstandesbegriffe bringen soll, denn durch das Allgemeine (unseres Verstandes) ist das Besondere nicht bestimmt; und es ist zufällig, auf wie vielerlei Art unterschiedene Dinge, die doch in einem gemeinsamen Merkmale übereinkommen, unserer Wahrnehmung vorkommen können« (Kant, KdU, B 246f. [i. Orig. z.T. gesperrt]). 547 Kant, KrV, B807. 548 »Wenn aber das Gesetz nicht in dem Begriffe seine Wahrheit hat, so ist es etwas Zufälliges, nicht eine Notwendigkeit, oder in der Tat nicht ein Gesetz« (Hegel, PhdG, 192 [Hevorhebung v. Vf.]). 549 Vgl. dazu unter A.IV.3.3. 550 Gerhardt spricht in dieser Sache von einer allgemeinen »Grundlosigkeit alles Geschehens« (Gerhardt, Nietzsche, 46).
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Der Theologische Lebensbegriff 551
repräsentiert (Schrödinger) , oder ganz explizit mit einem Ineinander von Zufall 552 553 und Notwendigkeit (Monod) resp. Notwendigkeit und Zufall (Eigen) . Die theologischen Annäherungen an das Leben haben diesen (in den diskutierten Entwürfen mehr oder weniger randständigen) Aspekt der Kontingenz je auf ihre Weise zum eigenständigen Moment der Reflexion erhoben. Erkennbar ist dabei die Tendenz, dass das Kontingenzproblem entzerrt wird, indem zunächst das Leben in Relation und Bedingtheit zum göttlichen Leben gedacht wird. An dieser Stelle haben dann die traditionellen theologischen Ausdrucksweisen des Geschaffenseins resp. des Gegebenseins oder Geschenkseins des Lebens ihren Sinn. Sie stehen für die fundamentale Einsicht, dass kein Lebender sich sein Leben selbst verdankt.554 Der (christliche) Schöpfungsglaube kann dabei verstanden werden als eine Symbolisierung oder Deutung des Gegebenseins des Lebens resp. der Erzeu555 gung eines Grundvertrauens in Wirklichkeit und Gewährleistung des Lebens. Allerdings wird mit dieser Einsicht aber gerade kein theistischer Determinismus postuliert. Denn auf der einen Seite kann nicht mit einer vollständigen rationalen Aufklärung des unendlichen göttlichen Lebens gerechnet werden. Auch dort verbleibt immer ein dunkler Fleck. Auf der anderen Seite ist es nicht möglich die menschliche Freiheit vollständig in die Bewegungen des universalen resp. unendlichen göttlichen Lebens aufzulösen. Der Kontingenzaspekt des Lebens wird so in theologischer Hinsicht reflektiert in Variationen der (von Ritschl so ernannten) »theologische[n] Meisterfrage«556 von Abhängigkeit und Freiheit. Im Rahmen der diskutierten theologischen Theorien wurde dies sichtbar im Ineinander von Hingebung und Selbstvervollkommnung bei Albert Schweitzer, von Kreatürlichkeit und relativer Freiheit bei Dietrich Bonhoeffer und im Doppelverhältnis der Freiheit 557 zur Wahrheit resp. im Verhältnis von Schöpfung und Schicksal bei Paul Tillich. Innerhalb der hier vorgeschlagenen Matrix des theologischen Lebensbegriffes nimmt der Kontingenzaspekt eine zentrale Stellung ein. Er fungiert als der syste-
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Vgl. dazu unter C.II.1. Vgl. dazu unter C.III.1. Vgl. dazu unter C.IV.1. Vgl. auch Cottingham, Diffenrence, 408: »Man is not self-creating«. Fischer, J., Welt als Schöpfung, 510 (Hervorhebung v. Vf.). In diesem Sinne steht der Psalm 104 dafür, »allen gegenläufigen Kontingenzerfahrungen zum Trotz ein geistlich fundiertes Grundvertrauen in die Welt zu vermitteln ohne das menschliches Leben nicht möglich ist« (ebd.). 556 Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung III3, 277. Vgl. auch a.a.O., 276f.: »Zunächst nämlich fragt es sich, wie die Abhängigkeit von Gott als Form des menschlichen Handlens aus Liebe mit der Freiheit vereinbar ist, in welcher es ebenso nothwendig ist dieses Handeln zu denken, als dieselbe durch das Selbstgefühl bezeugt wird« (i. Orig. z.T. gesperrt). Vgl. dazu Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, 88-108. 557 Auch Rendtorff kann an dieser Stelle angeführt werden: »Im Verhältnis zur empirischen Allgemeinheit ›aller‹ Menschen ist das eigene Leben [...] kontingent, nicht notwendig« (Rendtorff, Ethik, I, 66f [Hervorhebung v. Vf.]). D.h.: Das Gegebensein des Lebens ist notwendig, aber das Leben des individuell gegebenen Lebens nicht. Im individuellen Leben des gegebenen Lebens ist das eigene Leben »selbständig« (Rendtorff, Ethik, I, 67).
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matische Operator, der die benannte Balancefunktion des Lebensbegriffes in Gang bringt und hält. Momente der Zufälligkeit resp. der Kontingenz werden nicht im Sinne des Nietzsche der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ oder Monods als Inbegriff eines Horizontverlustes bestimmt, sondern der theologische Lebensbegriff erkennt im Kontingenzaspekt das Moment der fundamentalen Angewiesenheit des Lebens auf Deutung, insofern die darin ausgedrückte Fragmentalität des Lebens in theologischer Perspektivität notorisch auf Defragmentierung aus ist. Insofern die theologische Reflexion des Kontingenzaspektes in diesem Sinne einen Bezug auf ein unendliches oder universales göttliches Leben impliziert, birgt dies den nexus zum Transzendenz- resp. Unendlichkeitsmoment des theologischen Lebensbegriffs. V.3.2
Der Transzendenz- resp. Unendlichkeitsaspekt
Der Transzendenzgedanke (vom griechischen ἀναβαίνειν oder μεταβαίνειν resp. lateinischen transcendere) als die Übersteigung des Seins auch in seiner Totalität geht auf die Philosophie Platons zurück.558 Transzendenz ist dabei sowohl ein erkenntnistheoretischer Begriff, der das Ziel des Philosophierens als Überschreitung des Seins auf das Unbedingte bestimmt als auch ein ontologischer terminus, der 559 das Unbedingte selbst (»τὸ ἀνυπόθετον« ) thematisch macht; beides bündelt sich 560 für Platon in der hyperbolischen Idee des Guten. Nachgerade klassisch und namengebend ist der Transzendenzgedanke in der Philosophie Kants und der an ihn anschließenden Denkrichtungen des deutschen 561 Idealismus geworden. Kant selbst bezeichnet seinen Ansatz als transzendentalphilosophisch in dem Sinne, dass die Erfahrung überschritten wird hin zu einem 558 Vgl. dazu und zur Begriffsgeschichte von Transzendenz Halfwassen, Transzendenz, 1442ff. 559 Vgl. Platon, Politeia, 511 bc: »Τὸ τοίνυν ἕτερον μάθανε τμῆμα τοῦ νοητοῦ λέγοντά με τοῦτο οὖ αὐτός ὁ λόγος ἅπετεται τᾐ τοῦ διαλέγεσθαι δυμάμει. τὰς ὑποθέσεις ποιούμενος οὐκ ἀρχάς, ἀλλά τῷ ὄντι ὑποθέσεις, οἵον ἐπιβάσεις τε καὶ ὀρμάς, ἵνα μέχρι τοῦ ἀνυποθέτου ἐπὶ τὴν τοῦ παντὸς ἀρχὴν ἰών, ἀψάμενος αὐτῆς, πάλιν αὗ ἐχόμενος τῶν ἐκείνης ἐχομένων, οὕτως ἐπὶ τελευτὴν καταβαίνῃ, αἰσθητῷ παντάπασιν οὐδενὶ προσχώμενος, ἀλλ’ εἴδεσιν αὐτοῖς δι’ αὐτῶν εἰς αῦτά, καὶ τελευτᾷ εἰς εἴδη« (Hervorhebung v. Vf.). Zur Charakteristik des platonischen Denkens vgl. Barth, U., Gott ähnlich werden, 39-50. Barth hält insgesamt sieben Punkte fest: Philosophie ist für Platon demnach kritische Selbstprüfung, begründetes Denken, systematische Begriffsarbeit, Letzbegründungsdenken, kommunikative Bewährung der Reflexionskompetenz, einsichtsgeleitete Lebensführung und die Wahrnehmung politischer Verantwortung. 560 Vgl. dazu Barth, U., Gott ähnlich werden, 51: »Die Transzendenz der Idee des Guten ist ebensowohl erkenntnistheoretischer wie ontologischer Art«. In Bezug auf die Begründung der Transzendenz der Idee des Guten, die Platon als die größte bezeichnet (»ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα μέγιστον μάθημα« [Platon, Politeia, 505a]) werden nach U. Barth in der neueren Diskussion drei Modelle vorgeschlagen: das henologische Modell (E.A. Wyller), das axiologische Modell (H.J. Krämer) und das subsumptionslogische Modell (W. Wieland) (Vgl. Barth, U., Gott ähnlich werden, 52f.). 561 Zur Verwendung des Begriffs Transzendenz im Mittelalter vgl. Aertsen, Transzendentalphilosophie, 1358ff. und Honnefedler/Möhle, Transzendentalphilosophie, 1365ff. Zur frühen Neuzeit vgl. Leinsle, Transzendentalphilosophie, 1372ff.
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Der Theologische Lebensbegriff
System apriorischer Begriffe als der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigen. Ein System solcher Begriffe 562 würde Tranzendental-Philosophie heißen« . In Relation zum Lebensbegriff wurde dieses Verständnis von Transzendenz wahrnehmbar, indem Kant den Lebensbegriff im Sinne eines Grenzbegriffs bestimmt, da für ihn ein Verständnis organisierter Lebewesen gerade nicht von deren empirisch erfahrbarer Basis her möglich ist. Vielmehr hat deren gedankliche Erschließung immer »nach einem besondern Prin563 zip« zu erfolgen, dass – wie gesehen – Kant in regulativer Reflexion des apriori564 schen Prinzips der Zweckmäßigkeit gewinnt. Im sich an Kant anschließenden deutschen Idealismus, für den exemplarisch im Kontext des hier aufgearbeiteten organismischen Lebensbegriffs v.a. Hegel steht, trat der Transzendenzaspekt zum Vorschein in der Tatsache, dass (im Anschluss 565 an Kants »synthesis intellectualis« ) die Vernunfterkenntnis in sich selbst leben566 dig verfasst ist. Die reflexive Identitätsstruktur konnte in der ›Phänomenologie 567 des Geistes‹ als ein lebendiger Prozess von Distinktion und Synthese rekonstruiert werden, in dem das Leben als reflexive Identitätsstruktur in der Bezugnahme auf einzelnes Sein seine Selbstidentität durchbricht, damit Differenzmomente in sich einträgt und sich durch diese hindurch neukonstituiert, indem durch die Dif562 Kant, KrV, A25 (i. Orig. z.T. hervorgehoben). Vgl. auch a.a.O., B80: »Und hier mache ich eine Anmerkung, die ihren Einfluß auf alle nachfolgenden Bemerkungen erstreckt, und die man wohl vor Augen haben muß, nämlich: daß nicht eine jede Erkenntniß a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich angewandt werden oder möglich sind, transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse« (i. Orig. z.T. hervorgehoben). Zu Kants Begriff des Transzendenten vgl. Höffe, Kants Kritik, 57ff., Hinske, Transzendentaphilsophie, 1379ff.; Simek, Idee des Transzendentalismus, 21-34, bes. 33: »Ihren [sc. der transzendentalen Reflexion] Gegenstand bildet nicht so sehr das ›Wissen‹ selbst – wie in der herkömmlichen ›Erkenntnistheorie‹ – als vielmehr die ›Bedingungen der Möglichkeit‹ jedes epistemischen Wissens, d. h. eines subjektivenWissens-vom-Objekt. Die transzendentale Frage ist also keine Frage nach der ›Erkenntnis‹, sondern nach der möglichen Erkennbarkeit, nach den Bedingungen und der notwendigen Struktur des Erkenntnisverhältnisses selbst«. 563 Kant, KdU, B295. 564 Vgl. dazu unter A.II.2. 565 Kant, KrV, B151 (Hervorhebung i. Orig.). Kant erklärt an dieser Stelle weiter: »Diese Synthesis des mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung, die a priori möglich und notwendig ist, kann figürlich (sythesis speciosa) genannt werden, zum Unterschiede von derjenigen, welche in Ansehung des Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt in der bloßen Kategorie gedacht würde, und Verstandesverbindung (synthesis intellectualis) heißt; beide sind transzendental, nicht bloß weil sie selbst a priori vorgehen, sondern auch die Möglichkeit anderer Erkenntnis a priori gründen«. Vgl. dazu Cesa, Transzendentalphilosophie, 1393. 566 Zum Transzendenzbegriff im Deutschen Idealismus vgl. Kopper, Transzendentales Denken, 17ff. (Schelling); 49ff. u.192ff (Fichte); 110ff. u. 228ff. (Hegel). 567 Gerade für die ›Phänomenologie des Geistes‹ gilt, dass der Begriff der Transzendenz unterpräsentiert ist.
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ferenzmomente hindurch eine interne Restrukturierung der reflexiven Identitäts568 struktur erfolgt. Exakt die damit ausgedrückte emanative Verfasstheit der reflexiven Identitätsstruktur Leben steht bei Hegel für das transzendente Moment des 569 Lebensbegriffes. Für Lotze schließlich war es (in Abgrenzung in erster Linie von Hegel aber auch von Kant) signifikant, dass er zunächst Transzendenz im Sinne eines »Anschein[s] einer die physischen Gesetze übersteigenden Eigenthümlichkeit[,] zu verban570 nen« suchte. In gedanklicher Nähe zur oben berührten platonischen Transzendenzvorstellung realisieren sich aber seiner Meinung nach Resultanten naturgesetzlicher Prozesse in Naturideen: »Wir müssen daher als die letzte methodische Forderung an jede Theorie diese aussprechen, dass man zwar die legislative Gewalt vorbestimmter Naturideen anerkenne, diese aber nie an sich, sondern nur insoweit für vollziehende Kräfte halte, als sie in den mechanischen gegebenen Bedingungen 571 bereits materiell begründet sind« . Hinter belebten Resultantensystemen (als offenen Systemen) steht für Lotze entsprechend die Naturidee des Lebens, die es ihm in Vermittlung seiner Psychologie schließlich erlaubt, von einer »Würde des 572 573 Lebens« zu sprechen. 568 Zum Transzendenzverständnis in der ›Phänomenologie des Geistes‹ vgl. Kopper, Transzendentales Denken, 228ff. 569 Vgl. dazu unter A.III.3. 570 Lotze, Selbstanzeige APdKL, 519. 571 Lotze, LKK, 174. So ist Lotze z.B. auch der Meinung, dass »auch die Idee der Gattung nur so weit [wirkt], als sie in den vorhandenen Prämissen mechanischer Art vorhanden ist« (Lotze, LLK, 169.). Vgl. dazu auch Pester, Lotzes Teleomechanismus, 14. 572 Lotze, APdKL, §13, (114), 137. Vgl. auch APdKL, §13, (114), 138. 573 Vgl. dazu unter A.IV.4. Im Anschluss an den Hinweis auf Lotzes Psychologie ist darauf hinzuweisen, dass Lotze bereits im Grundaufbau des menschlichen Geistes ein transzendentes Moment denkt. Das menschliche Denken, so die Meinung Lotzes, vergleicht jeden aktualen gedanklichen Inhalt mit einer im Geist innewohnenden Ahnung resp. Meinung (vgl. Met. [1841], §2, 5). Auf diese Ahnung hin werden im Vollzug menschlichen Denkens alle aktualen Gedankeninhalte unwillkürlich transzendiert. Diese vorprädikative Einsicht, die – indem sie den Geist nötigt, über das faktisch Gegebene hinauszugehen – eigentlich ein bloßes Mittel des Erkennens darstellt, in Erkenntnis zu überführen, ohne dabei die Arbeit der Naturwissenschaften zu unterminieren, ist wesentliches Ziel der Philosophie Lotzes (vgl. ebd.: »Die Gesetze dieser Tätigkeit aus einem Mittel der Erkenntnis zum Gegenstand derselben, aus der natürlichen Tätigkeit des Geistes zum Inhalt seines Bewußtseins zu machen, ist die Aufgabe der Philosophie zu nennen«. Vgl. auch Met. (1841), §4, 10: »Aufgabe der Philosophie ist es […], innerhalb des Allen gemeinsamen Elementes der Erkenntnis die in der Meinung und Ahnung gegenwärtige Wahrheit zum Gegenstand des Besitzes zu machen, dem Gemüte zu zeigen, was der Inhalt seiner selbst ist und es über den Traum aufzuklären, der es verfolgt«). Denn da jener Ahnungsgehalt in letzter Konsequenz für die übergreifende sittliche Bestimmung vernünftiger endlicher Wesen steht, die Lotze auch mit der Chiffre »Reich des Guten« (Met. [1841], §67, 328) apostrophieren kann, tut sich mit deren Explikation die Möglichkeit einer sinnvoller Selbstverortung auf. Und damit restituiert Lotze nach eigenem Anspruch die »Würde der Subjectivität« (Met. [1841], §65, 317) gegenüber der latenten Gefahr der Auflösung allen Geschehens nach Maßgabe einer naturwissenschaftlich überprüfbaren Prozessualität. Vgl. dazu Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, 19ff. Zu Lotzes Begriff des Transzendenten in der Logik vgl. Poggi, Transzendentalphilosophie, 1401f.
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Der Theologische Lebensbegriff
Aber nicht nur im Horizont des organismischen Lebensbegriffs, sondern auch im Zusammenhang der Diskussion der metaphysischen und molekularbiologischen Lebenskonzepte ist der Transzendenzaspekt begegnet. Pointiert wurde ein transzendentes Moment zunächst wahrnehmbar in Form der formalen Bestimmung des Lebens als die Struktur Selbstüberwindung als ein Aus-sich-selbst-sich574 selbst-Überwinden. Korreliert war dies mit der ebenfalls in diesen Gesichtskreis gehörigen Lehre von der ewigen Wiederkunft alles Gleichen, die als letzte Kontrolle der Realisierung eines selbstmächtigen Lebens einen gleichsam transzendenten Hintergrund repräsentiert, vor dem sich das Leben auf die Ewigkeit seiner selbst hin übersteigt. Und im Zusammenhang der molekularbiologischen Zugänge zum Leben zeigte sich ein Transzendenzmoment einerseits im Kontext der Quanten575 rhetorik, die zum Hintergrund hat das abstrakte Prinzip »Ordnung aus Ordnung« (Erwin Schrödinger) und andererseits in den wechselseitigen Überschussmomen576 ten im Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit (Jaques Monod) resp. Notwen577 digkeit und Zufall (Manfred Eigen) . Wenn hier in Bezug auf den theologischen Lebensbegriff von einer transzendenten Dimension gesprochen wird, dann zunächst im Sinne eines direkten Implikats der Bestimmung des Lebensbegriffs als Balancebegriff resp. in komplimentärer Betrachtung als Überschussbegriff. Dies ist zu präzisieren im Anschluss an die behandelten theologischen Ansätze, wobei erkennbar wird, dass sowohl die am Anfang dieses Abschnittes benannte und dann bei Lotze wieder aufgespürte platonische Hinsicht des Transzendenzparadigmas als auch die kantisch-idealistische zusammengeführt werden. Nach diesem Verständnis wird im Sinne der kantischidealistischen Tradition nach den unhintergehbaren Konzeptualisierungsmöglichkeiten des Lebens gefragt, die dann im Sinne Platons und Lotzes am Gedanken eines unbedingten Gehalts und das heißt im Horizont der Theologie am Gottesgedanken festgemacht werden.578 So weiß sich bei Albert Schweitzer partikulares Leben im modus eines zu Ende 579 befragten Rationalismus zum »universellen Willen zum Leben« bestimmt und das Wollen ist permanent auf diesen universalen Willen zum Leben hin zu konzentrie574 575 576 577 578
Vgl. dazu unter B.IV.1. Schrödinger, Was ist Leben, 141. Vgl. dazu unter C.II.1. Vgl. dazu unter C.III.1. Vgl. dazu unter C.IV.1. Auch für Platon konvergieren der Gehalt der Idee des Guten und der Gottesgedanke. Vgl. Barth, U., Gott ähnlich werden, 62: »Gott ist wesenhaft und auf eine schlechthinnige Weise gut – das ist der oberste Grundsatz der Theologie Platons. [...] Der Gedanke des schlechthinnigen und wesenhaften Gutseins Gottes bildet Platons religiöse Grundüberzeugung«. Vgl. auch a.a.O., 63: »Die Theologie des Guten markiert den grundsätzlichen religiösen Gehalt allen dialektischen Umgangs mit der Idee des Guten und umgekehrt: Die Philosophie des Guten bezeichnet die innere Affinität der religiösen Überzeugung vom wesenhaften und schlechthinnigen Gutsein Gottes zur Aufgabe der Dialektik«. 579 Schweitzer, Kulturphilosophie I, 70. Vgl. auch Kulturphilosophie II, 302 den »geheimnisvollen Willen zum Leben«. »Das Wesen des Willens zum Leben ist, daß er sich ausleben will« (ebd).
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ren und sich in diesem begreifbar zu machen. Und das Leben als der unendliche Lebenswille ist für Schweitzer zum Schluss Inbegriff des unendlichen Lebens: 581 Gott. Bonhoeffer fragte nach den Möglichkeiten eines Lebens angesichts des Letzten. Er kommt im Vollzug der angezeigten Synthesefigur zum Ergebnis, dass es ein vollendetes Leben gibt. Dieses vollendete Leben verfügt über eine eschatologische Dimension, wie Bonhoeffer mit zahlreichen biblischen Reminiszenzen deutlich macht: einem Leben ohne Sünde aus Gott (1. Joh 39), dem »neue[n] Leben, 582 583 das in Christus eins ist« oder kurz dem »Christusleben« (Gal 220). Tillich entwi584 ckelte schließlich explizit eine »selbst-transzendierende Funktion« des Lebens und sie firmiert in der Dimension des Geistes. Sie fragt in transzendentaler Absicht nach dem Grund und der Tiefe des Seins bzw. nach dem was uns unbedingt angeht, eine für Tillich unausweichliche Frage, weil das geistige Leben Tillich zufolge per se über sich hinaussteigt. Relat der Transzendierung ist Gott als das Absolute resp. das Unendliche. Die Transzendierung bedeutet so eine Selbstbewegung des Lebens, in der »die Beziehung eines jeden Endlichen zum Unendlichen bewußt 585 586 587 wird« und zu einem »Leben im Sinn« resp. zum »neuen Sein« führt. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Transzendenzperspektive des Lebens im Horizont des theologischen Lebensbegriffs für eine Beziehungsmöglichkeit des Lebens auf eine übergeordnete und letzte Wirklichkeit steht. Leben fragt hier in transzendenter Hinsicht nach den unhintergehbaren Möglichkeiten seiner selbst und versichert sich seiner selbst in einem Unbedingten. Religiös findet dies seinen kulminierenden Ausdruck traditionell im Gottesgedanken als theologischer Konzeptualisierung des Unendlichen und Ewigen. Sachlicher Anknüpfungspunkt ist der jedem bewusst Lebenden zugängliche Unendlichkeitssinn. Aufgabe und Funktion ist es, das einzelne Leben als Erscheinung einer es übersteigenden Wirklichkeit begreifbar zu machen und sich in Bezug auf diese personal und sinnerfüllt zu konstituieren.588 Weil die Transzendenzperspektive die faktisch-endliche Existenz 580 »Spricht das Erkennen einzig nur aus, was es erkennt, so lehrt es den Willen fort und fort ein und dasselbe Wissen: Daß hinter und in allen Erscheinungen Wille zum Leben ist« (Schweitzer, Kulturphilosophie II, 329). 581 Vgl. dazu Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 387. 582 Bonhoeffer, Ethik, 170 (Hervorhebung i. Orig.). 583 Bonhoeffer, Ethik, 77. 584 Tillich, ST III, 43. 585 Tillich, ST III, 107. 586 So Tillich bereits im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch von 1918 (Brief Tillichs vom 9. Mai): »Geistiges Leben ist Leben im Sinn oder unablässige schöpferische Sinngebung« (Tillich, Briefwechsel,125). Vgl. dazu auch ST III, 347–350. 587 Tillich, ST III, 262f.: »[I]n dieser Weise kann man zu den Menschen unserer Zeit sprechen und ihnen in Analogie zu der klassischen Form des Rechtfertigungsgedankens sagen, daß sie im Zweifel von der Wahrheit, und im Erlebnis der Sinnlosigkeit vom letzten Sinn ergriffen sind«. 588 »Personsein ist [...] relational konstituiert [...] in theologischer Perspektive: Über die Beziehung, mit der Gott sich auf ihn bezieht« (Fischer, Christliches Lebensverständnis, 143). Gegen eine Überdehnung der angezeigten Relation hat sich z.B. Hartmut Kreß ausgesprochen: »Seit Karl Barth deuten Reflexionen evangelischer Theologie den Menschen allzu einseitig, nämlich gerade-
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Der Theologische Lebensbegriff
übersteigt, ist sie sowohl mit der Kontingenz- als auch mit der Endlichkeitsperspektive korreliert. V.3.3
Der Endlichkeitsaspekt
In der Christologie seiner ›Summa Theologica‹ schreibt Thomas von Aquin: »Sed 589 omne ceratum est finitum« (»Denn alles Geschaffene ist endlich«) und er kennzeichnet diesen Satz gleichsam als allgemeine Weisheit, wenn er im Anschluss Sap. 590 1121 zitiert: »Omnia in numero, pondere et mesura disposuisti« (»Alles hast du nach Zahl, Gewicht und Maß geordnet«). Der damit angezeigte Endlichkeitsaspekt des Geschaffenen dürfte in der hier vorgestellten Matrix eines theologischen Lebensbegriffes der am einfachsten zugängliche sein. Und wie bei Thomas die Verbindung von creatum und finitum anzeigt, steht die Endlichkeit als Attribut des geschaffenen Lebens in enger Verbindung zum oben erörterten Kontingenzaspekt, der seine theologische Zuspitzung im Schöpfungsgedanken findet. Der Endlichkeitsaspekt steht auf der anderen Seite für die unausweichlichste aller Kontingenzen: der Tod. Ebenso unübersehbar ist der gedankliche Zusammenhang zur gerade diskutierten Perspektive des Transzendenten; erweist sich doch das Moment der Endlichkeit als gleichsam notwendiges Relat des Transzendenz- resp. Unendlichkeitsaspekts. Im Zusammenhang des Lebensbegriffes wurde entsprechend die Endlichkeit als Attribut des Lebens in allen behandelten Ansätzen gleichsam unthematisch aber damit auch grosso modo unhinterfragt mitgeführt. Bei Kant ist die Finalität des Lebens, die Endlichkeit der menschlichen wie nichtmenschlichen Lebenszeit unbestrittene Voraussetzung: So erklärt Kant in der ›Kritik der Urteilskraft‹, dass es das Schicksal auch der rechtschaffensten Lebewesen sei, »durch die Natur [...] allen Übeln des Mangels, der Krankheit und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab zu nur als ein ›Verhältniswesen‹, welches ›niemals bei sich selbst‹ finde und keine ›Identität als Selbstidentifikation‹ besitze. Damit haben evangelisch-theologische Formulierungen den Menschen in seinen Beziehungen geradezu aufgehen lassen und die Eigenständigkeit, das Selbst-Sein, das Werden des Einzelnen aus sich selbst heraus bzw. seine Individuation sowie die kontinuitätsverbürgenden Daseinsstrukturen des Menschseins gedanklich an den Rand geschoben« (Kreß, Ethischer Immobilismus, 124f.). 589 Thomas von Aquin, ST III, q 7, 11 (3) (Hervorhebung v. Vf.). Zur Interpretation von ST III, 1ff. vgl. Gorman, Metaphysische Themen, 382ff. 590 Thomas von Aquin, ST III, q 7, 11 (3) (Hervorhenung v. Vf.). Der weitere Kontext ist die Frage nach der Unendlichkeit der Gnade Christi. Wenn die Gnade Christi etwas Geschaffenes wäre, wie alle andere Kreatur, dann wäre sie freilich nicht unendlich (so der Zwischeneinwand aus ST III, q 7, 11 [3]). Wie Thomas aber im Folgenden ausführt ist die Gnade Christi zweifacher Gestalt: die gratia unionis, die unendlich ist, und die gratia habitualis, die als Sein betrachtet (secundum quod est quoddam ens) endlich ist, aber als Wesen (secundum propriam rationem gratiae) wieder unendlich ist. Insgesamt geht es in den qq 9-11 um die »Lehre vom Wissen der menschlichen Seele Christi« (Berger, Summa theologieae, 108).
Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs
365
sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt, und sie [...] in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück wirft, aus dem sie 591 gezogen waren« . Der Tod erweist sich so auch als »notwendige[] Schranke[] der 592 Menschheit als endlicher Natur« . In Form des Negativen ist die Endlichkeit (wie der Tod) bei Hegel integraler Bestanteil des Denkens. Hegel kann den Tod in diesem Sinne auch dezidiert als die »Energie des Denkens« ansprechen. Darüber hinaus fand die am Organismuskonzept orientierte Reflexion eine kritische Grenze, insofern sich der reflexionslogische Lebensbegriff nicht vollständig am Orte organisierter Lebewesen bewähren ließ. Genau dies hat zum Schluss deren unhintergehbare Endlichkeit nachdrücklich unterstrichen. Bei Lotze schließlich trat der Aspekt der Endlichkeit deutlich zu Tage in der von ihm erarbeiteten Position, dass die das Leben vertretenen Naturideen in ihrer Realisierung notorisch an eine endliche materielle Basis gebunden bleiben, dass also auch der Organismus als System sein Leben nur verwirklicht »insoweit [...] vollziehende Kräfte [...] in den mechanischen gegebenen Bedingungen bereits materiell begründet sind«593 Die Naturideen (und eben auch die Idee des Lebens) sind für Lotze eben nicht allein abstrakt wirkende Ursachen, sondern bestimmende Muster, wobei die Realisierung eines solchen Musters nur im Durchgang durch sie be594 dingende mechanische Kräfte und Prozesse möglich ist. Für Nietzsche als Exponenten des metaphysischen Lebensbegriffs kam die Endlichkeit des Lebens markant zum Vorschein in der Tatsache, dass das sich realisierende Leben gefährdet und begrenzt ist von »einem todten Meere von Nacht und 595 Vergessen« . Genau dies motiviert für Nietzsche auch den Wagnischarakter des Lebens, das immer auch im Versuch seiner Selbstüberwindung vom Zugrundegehen bedroht ist: »[S]tecke Dir selber Ziele, hohe und edele Ziele und gehe an ihnen zu Grunde! Ich weiss keinen besseren Zweck als am Grossen und Unmöglichen zu 596 Grunde zu gehen: animae magnae prodigus« . Die in Augenschein genommenen molekularbiologischen Ansätze rechnen ebenfalls je auf ihre Weise mit der Endlichkeit des von ihnen konzeptualisierten Lebens. So galt für Schrödinger das Entropiemaximum, zu dem alle biophysikalischen Prozesse letztendlich streben, als Inbegriff des das Leben begrenzenden To591 Kant, KdU, B428. 592 Kant, Theodizee, A202. Nicht diskutiert werden kann hier, dass dies freilich korreliert ist mit seiner Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. 593 Lotze, LKK, 174. So ist Lotze z.B. auch der Meinung, dass »auch die Idee der Gattung nur so weit [wirkt], als sie in den vorhandenen Prämissen mechanischer Art vorhanden ist« (Lotze, LLK, 169). Vgl. dazu auch Pester, Lotzes Teleomechanismus, 14. 594 Vgl. Lotze, LLK, 171. 595 Nietzsche, UB II, 1., 1, 253 (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. dazu auch Meyer, Ästhetik des Historischen, 97. Die Möglichkeit, dass ein Mensch vollkommen vergessen könne, schließt Nietzsche ausdrücklich aus (vgl. UB II, 1., 1, 250). 596 Nietzsche, N (1873), 29 [54]; 7, 651 (Hervorhebung z.T. i. Orig.)
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Der Theologische Lebensbegriff
des. Gehen Lebenserscheinungen in den thermodynamischen Gleichgewichtszustand über, so sterben sie. Im Sterben befinden sich die Organismen auf dem Weg in Richtung des thermodynamischen Gleichgewichts: Tod bedeutet entsprechend 597 »den Zerfall in das thermodynamische Gleichgewicht« . Jaques Monod machte den Endlichkeitsaspekt sichtbar als katalystische, regelnde und aufbauende Prote598 infunktionen, die Substratauswahl und -anordung festlegen. In diesen Strukturen erkannte Monod den Kern des Lebens: die spontane stereospezifische Assoziation von mokelularen Protein-Sequenzen, die durch ihre spezifische Gestalt die makroskopische Erscheinung eines Organismus als endliche Erscheinung determinie599 ren. Manfred Eigens Theorie des Hyperzyklus steht ebenso – nur mit den geschilderten umgekehrten Vorzeichen – für eine deterministische resp. endliche Dimension des von ihm rekonstruierten (primitiven) Lebens. Anhalt finden konnte der Endlichkeitsaspekt in den analysierten theologischen Theorien in Albert Schweitzers Einsicht, dass jede Performation von Leben sich verbraucht und auf Kosten von Leben geht sowie deren Komplement in Gestalt des Primats des geistig-ethischen Moment des Göttlichen. In der Gestalt Jesu ist für Schweitzer der göttliche Liebeswille als der für Menschen bestimmende in bezwingender Weise offenbar geworden ist. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erweist sich so als »die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe. Sie ist die als denknotwendig erkannte Ethik Jesu«600. Bei Bonhoeffer hat sich die theologische Konzeptualisierung der Endlichkeit niedergeschlagen in der Spannung von Natürlichem und Unnatürlichem, die ihre Entschränkung findet im übergegensätzlichen und überzeitlichen Christusleben. Die Endlichkeit bei Tillich kondensierte endlich
597 Schrödinger, Was ist Leben?, 128. Vgl. ebd: »die wunderbare Fähigkeit eines lebenden Organismus, den Zerfall in das thermodynamische Gleichgewicht (Tod) zu verzögern«. Weitere Endlichkeitsmomente benennt Schrödinger in genetischem Defekt, Krankheit und des Gebundenseins durch Stoffwechsel. 598 »Die Proteine erfüllen ihre ›dämonische‹ Funktion dank ihrer Fähigkeit, zusammen mit anderen Molekülen non-kovalente stereospezifische Komplexe zu bilden« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 78 [Hervorhebung i. Orig.]). 599 »Die ultima ratio aller teleonomischen Strukturen und Leistungen der Lebewesen ist also in den verschiedenen Sequenzen von Radikalen der Polypeptid-Ketten enthalten – in den ›Embryos‹ jener biologischen ›Maxwellschen Dämonen« (der globulären Proteine). In einem sehr realen Sinne ruht das Geheimnis des Lebens, so es eines gibt, auf dieser Stufe der chemischen Organisation« (Monod, Zufall und Notwendigkeit, 120 [Hervorhebung v. Vf.]). Vgl. a.a.O., 122: »Unter allen möglichen Gesichtspunkten scheint es, als sei diese Botschaft durch den Zufall diktiert«. 600 Schweitzer, Leben und Denken, 241. Der Geist Jesu (als Kern der christlichen Religion) könnte dann auch meinen »den universalen Willen zum Leben als Willen zur Einheit des Lebens« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 401). Vgl. ebd: »Der Geist Jesu ist der Geist, in dem sich der Wille auf eine mystische Weise zur Liebe, der Einzelne zur Selbsthingabe an die Anderen gefordert weiß«. Dieser Geist wäre aber ob seiner Denknotwendigkeit prinzipiell auch ohne Jesus artikulierbar (vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 401). Der Wert des Auftretens Jesu besteht dann in der öffentlichen Offenbarung der an sich denknotwendigen Lebensmystik, die er in Gleichnissen souverän in die Lebenswirklichkeit übersetzt.
Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs
367
im Theologumenon des ontologischen Schocks im Gegenüber zum »Neuen 601 Sein« . Innerhalb der Matrix des hier entwickelten Lebensbegriffes ist die Endlichkeitsperspektive Ausdruck einer Stellungnahme zur faktischen Sterblichkeit des Lebens und dem Wissen darum. Theologische Konzeptualisierung ist traditionell der Tod als das Negative des Lebens, dem Jenseits- resp. Ewigkeitsvorstellungen entgegengehalten werden. Der Tod wird zum Durchgangspunkt und aufgehoben in die Vorstellung eines ewigen Lebens. Sachlicher Anknüpfungspunkt ist die Gebundenheit des Lebens an eine endliche und krankheitsanfällige Organisationsform (leibliche Verfassung) und die faktische Sterblichkeit Lebender. Insofern ist sie mit der Kontingenz-, der Transzendenz- und der Gestaltungsperspektive korreliert. Aufgabe ist die kulturelle Gestaltung und Reflexion des Sterbens und eine Auseinandersetzung mit dem Tod. V.3.4
Der Gestaltungs- resp. Handlungsaspekt
»ὁ δὲ βίος πράξις ἐστιν«602 (»Das Leben aber ist Handeln«) heißt es im vierten Kapitel des ersten Buches der Aristotelischen ›Πολιτεία‹ (›Politik‹) und das gilt nach 603 Aristoteles sowohl für das göttliche als auch für das menschliche Leben. Der damit angezeigte nexus von Leben und Handeln ist auch insgesamt für alle im Rahmen dieser Untersuchung behandelten Ansätze typisch. Wenn (wie in der obigen Überschrift) von einem Gestaltungs- resp. Handlungsaspekt die Rede ist, dann um der Tatsache gerecht zu werden, dass die jeweils rekonstruierten organologischen, metaphyischen und molekularbiologischen Systeme über eine immanente Bildungskraft resp. einen Bildungstrieb verfügen, die noch nicht mit Recht als Handeln angesprochen werden können. Von Handeln im strengen Sinne kann erst die Rede sein im Zusammenhang mit der bewussten Repräsentation des Lebens am Orte humaner Entitäten. Auf den ersten Blick mag es etwas sperrig wirken, dass dabei Gestaltfunktionen, die im Zuge der Analyse der molekularbiologischen Ansätze angetroffen wurden, hier vergleichsweise unverkrampft mit einem Handlungsaspekt zusammengestellt
601 Tillich, ST III, 132: »Das Neue Sein ist das essentielle Sein unter den Bedingungen der Existenz, das Sein, in dem die Kluft zwischen Essenz und Existenz überwunden ist«. Hinsichtlich der Geschichte betrachtet erweist es sich als überzeitlich und ewig: und ›Ewiges Lebens‹ [steht] für die Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens jenseits der Geschichte« (Tillich, ST III, 133). Vgl. auch ST II, 130: »Das Neue Sein ist neu, insofern es die unverzerrte Manifestation des essentiellen Seins unter den Bedingungen der Existenz ist. [...] Es ist in der Existenz und überwindet die Entfremdung der Existenz«. 602 Aristoteles, Politeia, 1254 a 7. Mit dieser These ist bei Aristoteles wesentlich ein Dreifaches gemeint: erstens, dass das Leben keinen ruhenden Zustand repräsentiert, zweitens, dass sich das Leben nicht in der θεορία erschöpft und drittens, dass das Leben eben Handeln (πράξις) und nicht Herstellen (ποίησις) ist (vgl. Schütrumpf, Anmerkungen, 240). 603 Vgl. dazu Aristoteles EN, 1175a12 und 1178b8.
368
Der Theologische Lebensbegriff
werden. Der Sache nach wäre es auch möglich, diese mit unter dem Kontingenzaspekt zu verbuchen. Da aber die dargestellten Protagonisten jeweils aus dem grundlegenden Gestaltmoment auch immer handlungstheoretische Implikationen ableiten, sind sie an dieser Stelle in Anklang gebracht, scheinen sie doch die grade aufgerufene Dualität nicht konsequent zu performieren. Auf die Problematizität 604 der jeweiligen Transfers wurde an entsprechender Stelle hingewiesen. Dass das Leben handlungstheoretische Implikationen besitzt, wurde zunächst deutlich bei Kant im Gefolge der Erstreckungsthese, dass der Begriff des Naturzwecks dazu anleitet, die zweckorientierte Auffassung von Organismen (Naturzwecke) auf die gesamte Natur zu erstrecken, womit sich notwendig auch die Frage 605 nach einer letzten Ursache und einem »letzten Zwecke der Natur« auftat, den Kant dann im Menschen als moralischem Wesen festmachte, der das »reine Sitten606 gesetz« zum obersten Bestimmungsgrund seines Willens und damit seines Handelns machen kann. Im Zusammenhang der Analyse des im Kontext der Organismuskonzeption begegnenden Lebensbegriffs in der ›Phänomenologie des Geistes‹ wurden das Handeln betreffende Anschlusstheoreme sichtbar in der Vorstellung Hegels, dass das um die Durchsichtigkeit seiner selbst bemühte Selbstbewusstsein gerade im Anschluss an sein Scheitern am Organischen über sich hinaustreibt hin zur Selbstkonzeptualisierung als moralisches Selbstbewusstsein. Wie bei Kant – nur eben unter den aufgearbeiteten geistphilosophischen Vorzeichen im Hegelschen Sinne – ist es die praktische Autonomie resp. die Freiheit in der sich perspektivisch das Selbstbewusstsein dann als Geist eine »sittliche Welt«607 schafft, 608 in der sich die Moralität vergegenständlicht. Und bei Lotze gab es die Überzeugung von einem auch hinter den Erscheinungen des Lebens stehenden letzten sittlichen Grund der Wirklichkeit. Den Inbegriff dieses letzten Gehaltes erkannte er in 609 610 der »Idee als das sein Sollende« resp. in demjenigen »was sein soll« . Dieses unbedingt »Sein-Sollende« ist in seiner abstraktesten Erfassung dann als die »Idee des Guten« anzusprechen und rechtfertigt als handlungsorientierendes Grundprinzip 611 die Selbstetikettierung seines Systems als ethisch-teleologischer Idealismus. Im Zusammenhang der Rekonstruktion des metaphysischen Lebensbegriffes im Durchgang durch das Nietzschesche Gesamtwerk wurde der Handlungsaspekt deutlich anhand der These, dass das Leben als das metaphysische Paradigma des Willens zur Macht immer auch etwas Schöpferisches und Schaffendes repräsen604 605 606 607
608 609 610 611
Vgl. dazu unter C.V. Kant, KdU, B388. Kant, KpV, A58. Hegel, PhdG, 328 (i. Orig. hervorgehoben und Überschrift von A.a.) Vgl. auch a.a.O., 442: »Es [sc. das Selbstbewusstsein] ist absolut frei darin, daß es seine Freiheit weiß, und eben dies Wissen seiner Freiheit ist seine Substanz und Zweck und einziger Inhalt«. Vgl. dazu unter A.III.4. Lotze, Met. (1841), §34, 132. Lotze , Met. (1879), 604 (Schluß; im Orig. z.T. gesperrt). Vgl. dazu Lotze, Met. (1841), §67, 329.
Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs
369
612
tiert. Diesem Gedanken korrespondierte bei Nietzsche eine parallel entwickelte Tugendlehre des Lebens, die v.a. Redlichkeit, Tapferkeit, Großmut und Höflichkeit umfasste und in ›Also sprach Zarathustra‹ im Konzept der »Schenkende[n] 613 Tugend« gipfelte. Die in Augenschein genommenen molekularbiologischen Theorien haben zunächst den Gestaltaspekt in den Vordergrund gerückt, wenn sie dezidiert auf strikt unbewusste Lebensprozesse am Orte makromolekularer Interaktion hingewiesen haben. Für die angesprochenen Gestaltmomente stehen in den diskutierten Modellen Schrödingers Negantropie als Metabolismus im Sinne der Aufrechterhaltung einer energetisch aufwendigen Ordnungsstruktur, die katalytischen Momente von autonomer Morphogenese und invarianter Reproduktion und den damit zusammenhängenden Proteinfunktionen bei Jaques Monod und bei Manfred Eigen Reproduktion, Mutation und Metabolismus als Grundbestimmungen des Lebens sowie die Vorstellung einer Selbstorganisation von Information im Kontext seiner Theorie des Hyperzyklus. Von besonderem Interesse aber war, wie oben gesagt, dass alle behandelten Ansätze auch je auf ihre Weise handlungsrelevante Implikationen in ethische Anschlusskonzepte überführten. Es seien hier nur stichwortartig in Gedächtnis gerufen die Ethik des Quantensprungs (Erwin Schrödinger)614, die 615 materialistische Ethik der Erkenntnis (Jaques Monod) und der geno-morphe 616 Vernunft-Humanismus (Manfred Eigen) . Was den im Rahmen dieser Untersuchung vorgestellten theologischen Lebensbegriff anbelangt, so gilt auch hier, dass ein nexus von Leben und Gestalten resp. Handeln in Anklang zu bringen ist. Dies zunächst allgemein: »Der Begriff des Lebens gilt [...] häufig als eine Möglichkeit dafür, dass eine umfassende moralische 617 Perspektive eröffnet werden kann« . Gezeigt werden konnte dies anhand Albert Schweitzers und seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, die ein Handeln tätiger Hingabe und in Verantwortung für alles, was lebt, intendiert. Bonhoeffer machte den Gestaltbegriff (in theologischer Aufladung) explizit zum Grundbegriff handelnder Weltbegegnung. Ethik als Gestaltung ist für ihn Gestaltung des Lebens im Horizont des Maßstabes des Christus-Lebens, das konzeptualisiert ist in der Struktur des verantwortlichen Lebens. Und bei Tillich schließlich ergaben sich handlungsrelevante Anschlüsse aus dem in der Essenz des Lebens festgeschriebenen un-
612 »Wollen befreit: denn Wollen ist Schaffen: so lehre ich. Und nur zum Schaffen sollt ihr lernen« (AsZ III, Von alten und neuen Tafeln [16.], 4, 258 [i. Orig. teilw. gesperrt]). Vgl. auch den »Schaffens-Willen« in AsZ II, Auf den glückseligen Inseln, 4, 111. 613 AsZ III, Von den drei Bösen 2., 4, 237. Zum Bösen vgl. auch die instruktive Untersuchung von Ingolf U. Dalferth ›Das Böse‹ (2006). 614 Vgl. dazu unter C.II.2. 615 Vgl. dazu unter C.III.2. 616 Vgl. dazu unter C.IV.2. 617 Huppenbauer, Theologie und Naturethik, 100; vgl. dazu Fischer, J., Über moralische und andere Gründe, 31.
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Der Theologische Lebensbegriff
bedingten moralischen Imperativ, das zu werden, was man ist: Eine Person inmitten von Personen, was in einer theologischen Interpretation der Liebe mündete. Für den hier zu entwickelnden theologischen Lebensbegriff bleibt in Anschluss daran festzuhalten: Gestaltung resp. Handeln muss in dreifacher Hinsicht thematisiert werden: erstens im Sinne eines natürlichen Gestaltungspotentials, zweitens in individueller und drittens in sozialer Hinsicht. Die zuerst genannte Hinsicht referiert auf die Kontingenz- und Endlichkeitsperspektive, was v.a. in der Thematisierung von Deformationen, Krankheit und Tod zum Tragen kommt. Die individuelle Hinsicht ist hingegen korreliert sowohl mit der Kontingenz- als auch mit der Transzendenzperspektive und kann theologisch konzeptualisiert werden als das schöpferische und beauftragte Leben. Theologischer Ausdruck in der jüdisch-christlichen Tradition ist das dominium terrae, das im Sinne Schweitzers und Bonhoeffers zu flankieren ist mit dem Prinzip der Verantwortung und im Anschluss an Tillich mit dem Gedanken der Liebe. Der dritte Punkt, die soziale Hinsicht, findet theologischen Ausdruck im Gedanken einer ethisch-religiösen Totalitätsidee. Im Christentum ist das die sittliche Idee eines Reiches Gottes, das im Anschluss an Ritschl bestimmt werden kann als »die extensiv und intensiv umfangreichste Vereinigung der Menschheit durch das gegenseitige sittliche Handeln ihrer Glieder, welches über alle natürlichen und particularen Bestimmungsgründe hinausgreift«618. Zentral und mit am wichtigsten für die theologische Thematisierung der Gestaltungs- resp. Handlungsperspektive ist endlich die Einsicht, dass sich individuelles und soziales Handeln (notwendig) in Widersprüche und Kalamitäten verstrickt. Dies kann theologisch interpretiert werden als Schuld und kompensiert werden durch Vergebung. Hierher gehört schließlich das theologische Begriffspaar von Erlösungsbedürftigkeit und Erlösung. V.3.5.
Der Wertaspekt und die Heiligkeit des Lebens
Friedrich v. Schiller lässt am Ende seiner ›Braut von Messina‹ den Chor nach dem 619 Selbstmord des Don Cesar singen: »Das Leben ist der höchsten Güter nicht« . Es soll an dieser Stelle weniger um den damit angesprochen Güteraspekt des Lebens gehen, sondern vielmehr um den angezeigten axiologischen Aspekt und gleicher618 Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, III1, 244. Vgl. auch a.a.O., 250: »Das Reich Gottes also ist […] die Verbindung der Menschen zum gegenseitigen und gemeinschaftlichen Handeln aus Liebe […], welche sich nach der Einheit der geistigen Bestimmung und nicht mehr nach den natürlichen Bedingungen der engeren Zusammengehörigkeit von Menschen richtet«. Vgl. schließlich auch Art. RG, 604: Das Reich Gottes ist »die gegenseitige Beziehung zwischen Mensch und Gott, welche in der christlichen Religion das höchste Gut und zugleich die Aufgabe des Lebens bildet«. Vgl. dazu Neugebauer, M., Lotze und Ritschl, 97ff. 619 Schiller, Braut von Messina, 385 (i. Orig. z.T. gesperrt). Die Fortsetzung des Zitats lautet: »Der Übel grösstes ist die Schuld« (ebd. [i. Orig. z.T. gesperrt]). Damit endet das Werk. Vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen Albert Schweitzer und Oskar Pfister (Schweitzer, Briefwechsel, 559ff. Vgl. dazu unter D.II.3.
Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs
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maßen um den Sachverhalt, dass Schiller das Leben in einer Wertskala nicht an die oberste Stelle zu setzen scheint. Der damit nun berührte Gesichtspunkt des Wertes dürfte dabei in der angezeigten Matrix den wohl schwierigsten und umstrittensten darstellen. Gleichwohl ist er im Zuge der Untersuchung auch schon thematisch geworden. Bezüglich des diskutierten organismischen Lebensbegriffs konnte eine Wertdimension extrapoliert werden bei Kant in Gestalt der Überzeugung, dass nicht allein das Leben als in sich zweckmäßig verfasste Agglomeration von Prozessen einen Wert besitzt. Leben ist für Kant eben kein sich perpetuierender Selbstzweck, sondern am Orte endlich vernünftigen Leben kommt alles darauf an, »dem Leben durch Handlungen einen Wert zu geben«620. Die entscheidende Repräsentationsgestalt endlich vernünftigen Lebens kondensiert bei Kant in praktischer Autonomie, die endlich auch sein Konzept der Personenwürde begründet. Auch Hegel rechnete bezüglich der ethischen Implikationen des Lebensbegriffs mit einem »Wert des 621 selbstbewussten Lebens« . Und Lotze sprach explizit von einem Wert des Lebens. Ihm zufolge ist es prinzipiell unmöglich, den Erscheinungen des Lebens gleichgültig gegenüberzustehen. Denn sich selbst als Lebensform wahrnehmend und empfindend, lösen andere Erscheinungen des Lebens ein Werturteil dergestalt aus, dass diese unwillkürlich eine positive Resonanz auslösen, mithin eine eigene 622 »Würde des Lebens« einsichtig wird, die sich im Verfolg eines höchsten und unbedingten Sollens realisiert. Auch der anhand Nietzsches entfaltete metaphysische Lebensbegriff ging nicht von einem intrinsischen Wert der Struktur Lebendigkeit aus: »Jeder Glaube an Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist allein dadurch möglich, dass Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Mensch623 heit sehr schwach im Individuum entwickelt ist« . Der Abweis eines Eigenwertes des Lebens hat allerdings nicht zur Folge, dass das Leben nun im Gegenteil als 624 grundsätzlich wertlos zu beschreiben sei. Das, was Werte am Leben verkörpert wird von ihm transformiert in Grade von Mächtigkeit, in denen sich das Leben aber dann als werteschaffend repräsentiert. Es geht Nietzsche dabei darum, in der Performation von Leben selbstmächtig zu werten, aus der Perspektive des Willens zur 625 Macht selbstmächtig Werte zu setzen. Die parallel entwickelten Tugenden wurden so einsichtig als Explikationen einer werteschaffenden Praxis des Lebens als Willen zur Macht. Die Realisierung des Lebens in diesem Sinne setzt schließlich auch wieder einen Wert ans Licht, was Nietzsche u.a. mit dem Wertprädikat eines 620 621 622 623 624
Kant, MAdMG, Schlussbemerkung. Hegel, PhdG, 250. Lotze, APdKL, §13, (114), 137. Nietzsche, MA I, 1. (33), 2, 52. »Wenn ihr bisher an den höchsten Werth des Lebens geglaubt habt und euch nun enttäuscht seht, so müsst ihr es denn jetzt gleich zum niedrigsten Preis losschlagen?« (MA II, 1. [1], 2., 381). 625 »[Eure] Tugend diene dem Sinn der Erde, meine Brüder: und aller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt!« (AsZ I, Von der schenkenden Tugend 2., 4,100.)
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Der Theologische Lebensbegriff 626
»neuen Adel[s]« zum Ausdruck bringt resp. dadurch, dass die werteschaffenden Lebenstugenden als Herren- oder auch Aristokratentugenden erscheinen. Axiologische Aspekte zeitigte auch die Aufarbeitung der molekularbiologischen Herangehensweisen an das Lebendige. Sie wurden primär wahrnehmbar in Gestalt von Wertfunktionen, die die Perpetuierung von Leben steuern. Für Schödinger 627 fungierte als eine solche Wertfunktion die Ordnung aus Ordnung. Jaques Monod ließ (in gedanklicher Nähe zu Nietzsche) erkennen, das im Hinblick auf den Menschen im Universum des Zufalls gilt, »daß [die Werte] allein seine Sache 628 sind« . Das axiomatische Moment generierte sich aus seiner Ethik der Erkenntnis, die ihre Mitte in der ethischen Entscheidung für das Objektivitätspostulat und da629 mit für die wahrhafte Erkenntnis findet. Sie figuriert als Wertfunktion wenn der Mensch »sie sich selbst auferlegt, indem er sie axiomatisch zur Bedingung für die 630 Authentizität, die Wahrhaftigkeit aller Rede und aller Handlungen macht« . Und für Manfred Eigen schließlich erwies sich in seiner Interpretation des Selektions631 paradigmas die Auslese dezidiert als präbiotische »Wertfunktion« . Im Hinblick auf die hier vorgestellten Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs haben die geschilderten Positionen zunächst einen Wert, insofern sie es zu illustrieren vermögen, dass es nicht ohne weiteres möglich ist, dem Leben als solchem einen intrinsischen Wert zuzusprechen. Dies steht prima vista quer zu der in der Theologie und ihren Traditionen weit verbreiteten Vorstellung von einer Heiligkeit des Lebens. Die Statuierung einer Heiligkeit des Lebens ist indes auch in den rekonstruierten theologischen Ansätzen begegnet. So stößt Albert Schweitzers Vorstellung, das Leben resp. der unendliche Lebenswille sei Gegenstand einer quasi-religiösen Ehrfurcht vor zur Diktion einer »Heiligkeit allen Lebens«632. Und für Tillich gilt: »Das Christentum bejaht [...] den Wert und die Würde der Persön633 634 lichkeit« . Es kennt das »Wert-Gebiet des Heiligen« , richtet sich aber in dessen
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630 631
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AsZ III, Von alten und neuen Tafeln (11.), 4, 254 (i. Orig. gesperrt). Vgl. dazu unter C.II.1. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 211. Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 215: »Die Aufstellung des Objektivitätspostulats als Bedingung wahrer Erkenntnis stellt offensichtlich eine ethische Entscheidung und nicht ein Erkenntnisurteil dar, denn dem Postulat zufolge konnte es vor dieser unausweichlichen Entscheidung keine ›wahre‹ Erkenntnis geben. Das Objektivitätspostulat stellt die Norm für die Erkenntnis auf und legt einen Wert fest, der in der objektiven Erkenntnis selbst besteht. Wenn man das Objektivitätspostulat akzeptiert, dann trifft man folglich das grundlegende Urteil einer Ethik – der Ethik der Erkenntnis« (Hervorhebungen i. Orig.). Monod, Zufall und Notwendigkeit, 215 (Hervorhebungen i. Orig.). Eigen, Stufen zum Leben, 59. Und: »›Fittest‹ ist durch eine Wertfunktion bestimmt. Sie basiert auf dynamischen Parametern, die unabhängig von Populationszahlen meßbar sind« (Eigen, Stufen zum Leben, 60). Schweizer, Predigt 1919, 13. Vgl. auch Schweitzer, Kulturphilosophie II, 331: »Das Leben als solches ist ihm [sc. dem von der Ehrfurcht Ergriffenen] heilig«. Tillich, Christentum und Marxismus, 170. Tillich, RFdMH, 22.
Grundlinien eines theologischen Lebensbegriffs
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theologischer Ausformulierung gegen die »alte Werttheorie« : Ihre Fehler sind erstens das Problem der Objektivität der Werte und zweitens die Erkennbarkeit der 636 höchsten postulierten Werte. Die Lösung liegt nach Tillich innerhalb der von ihm vorgestellten Ontologie: »Werte müssen von den Essentialstrukturen des Seins ab637 geleitet werden« und zwar in dessen Ausgerichtetheit auf das Unendliche (Heilige), denn profane Strukturen sind für den unbedingten Sinn nur bedingt interessant. Auch Bonhoeffer ist an dieser Stelle von Interesse. Er hält im Hinblick auf das Heiligkeitsparadigma fest: »Die ursprüngliche Botschaft, daß es eine Heiligkeit des Menschen weder im Sakralen noch im Profanen an sich, sondern allein durch das 638 gnädige sündenvergebende Wort Gottes gibt, ist in tiefe Vergessenheit geraten« . Allerdings erweist sich – wie gesehen – auch schon das natürliche Leben durch 639 sein Geschaffenheit und Ausgerichtetheit als gut resp. als apriori wertvoll. Diese Voten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gedanke von einem intrinsischen Wert des Lebens im Sinne des Heiligkeitsparadigmas keinesfalls unumstritten ist. Insbesondere und gerade im Anschluss an neuere biopolitische und -ethische Debatten haben sich hier divergente Positionen abgezeichnet. Diese Debatte kann hier nicht umfassend aufgearbeitet werden. Nur soviel sei angemerkt: In jüngster Zeit hat es nicht an Stimmen gefehlt, die dem Heiligkeitsparadigma weniger aufgeschlossen gegenüber stehen. In diesem Zusammenhang ist zunächst das traditionelle Fundament dieser Vorstellung hinterfragt worden. So stellt Reiner Anselm fest: »Eine monistische Sichtweise, die von einem einzigen alles umfassenden Zusammenhang von Gott, Welt und Mensch ausgeht und in jedem Leben zugleich die Präsenz Gottes erblicken möchte, ist dem christlichen Glauben fremd. Dem entsprechend ist nach biblischer Überzeugung Gott allein heilig. Auch die Tatsache, dass Gott der Schöpfer alles Lebens ist, führt nicht dazu, dass die Prädikate Gottes auf seine Geschöpfe übertragen werden. Eine Vorstellung von der Heiligkeit als einer besonderen, intrinsischen Qualität des Lebens, auch des menschlichen Lebens, beruft sich zu Unrecht auf die Tradition des
635 Tillich, Wissenschaft von den Werten, 101. 636 »Wenn ich die Bemühungen der Wertphilosophen betrachte, so komme ich zu dem Schluß, daß die ganze Theorie gescheitert ist an der Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen relativen Werten, die zu Wertungen reduziert werden können, und absoluten Werten, die eine andere Begründung brauchen« (Tillich, Wissenschaft von den Werten, 101). 637 Tillich, Wissenschaft von den Werten, 103. 638 Bonhoeffer, Ethik, 36. 639 »Zurückkehrend zu der Frage nach dem Guten, können wir vorläufig soviel sagen, daß es sich dabei jedenfalls nicht um eine Abstraktion vom Leben, also etwa um die Verwirklichung bestimmter vom Leben unabhängiger Ideale oder Werte handelt, sondern um das Leben selbst. Gut ist das Leben als das was es in Wirklichkeit, das heißt in seinem Ursprung, seinem Wesen und seinem Ziel ist, also Leben im Sinne des Wortes: Christus ist mein Leben. Gut ist nicht eine Qualität des Lebens, sondern das ›Leben‹ selbst. Gutsein heißt ›leben‹« (Bonhoeffer, Ethik, 252. Vgl. auch a.a.O., 11, 94 u.115).
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Christentums« . Auch Johannes Fischer richtet sich gegen eine vorschnelle Verheiligung des Lebens von Seiten der Theologie, wenn er feststellt, dass das Leben »nicht um seiner selbst schützenswert [ist], wie dies etwa die Rede von der Heiligkeit des Lebens suggeriert, sondern um des Menschen willen, dessen Leben es 641 ist« . Auf katholischer Seite hat sich insbesondere Eberhard Schockenhoff gegen theologische Anläufe gewandt, die das Leben mit einer besonderen Dignität resp. mit einem besonderen Wert qua Verweis auf dessen Heiligkeit oder das Hoheitsrecht Gottes versehen. Er macht darauf aufmerksam, dass derartige Strategien zum einen in einer pluralen Gesellschaft keine allgemeine Verbindlichkeit mehr beanspruchen können. Binnenchristliche Geltungskraft besitzen sie zum anderen auch nur insofern, als dass sie Christinnen und Christen »die christliche Haltung 642 der Dankbarkeit und Gelassenheit gegenüber Gott« erläutern. Es ist aber Schockenhoffs Meinung zufolge kaum möglich, aus der Rede vom Leben als Geschenk und Leihgabe Gottes normative Folgerungen zu ziehen. Dies hängt primär damit zusammen, dass dergestaltige Aussagen allein rein explikative Aussagen repräsentieren. Schockenhoff illustriert dies, indem er feststellt, dass der Satz »Du darfst dich nicht töten, weil du dadurch Gottes Hoheitsrecht über dein Leben verletzt« strukturell auf der gleichen Ebene steht, wie die Aussage »Du darfst kein 643 fremdes Eigentum stehlen, weil es nicht dir gehört«. Die Wertdimension des Lebens im Horizont des hier vorgestellten theologischen Lebensbegriffes schließt sich dem angezeigten behutsamen Umgang mit dem Heiligkeitsparadigma an. Behutsam heißt aber nicht, dass der Wertaspekt des Lebens gleichsam zum überflüssigen oder rein rhetorischen Explikat würde. Behutsam bedeutet zunächst, dass es nicht darum gehen kann, dass Heiligkeitsparadigma vorschnell und unbesehen zu verabsolutieren. Aber es bedeutet ebenso, dass es nicht angezeigt ist, die Kategorie der Heiligkeit vorschnell im Kontext des Lebensbegriffes zu verabschieden. Denn: Die Heiligkeitsvorstellung hat durchaus einen theologischen Sinn. So hat Ulrich Barth darauf aufmerksam gemacht, dass es bei der Heiligkeit in eminentem Sinne »um die ethische Funktion des religiösen Tabus«644 geht. Eigenart des angesprochenen Tabuisierens qua Religion ist es, etwas der Profanität und Verfügbarkeit zu entziehen und der Sphäre des Heiligen zu übereignen: »Indem das religiöse Bewußtsein einen Gegenstand oder Bereich für tabu erklärt, übereignet es ihn der 640 Anselm, Kunst des Unterscheidens, 63f. Anselm fährt fort: »Vielmehr verdankt sich die besondere Qualifizierung der Geschöpfe und insbesondere der Menschen erst der Beziehung, die zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf konstituiert wird und in der das Handeln dessen sichtbar wird, der sie geschaffen hat. Diese Beziehung ist dabei immer eine Beziehung zwischen zwei Individuen. Geschöpflichkeit ist keine Gattungskategorie, sondern jeder Einzelne ist Geschöpf und gerade dadurch in seiner unverwechselbaren Identität konstituiert«. 641 Fischer, J., Christliches Lebensverständnis, 143. 642 Schockenhoff, Ethik des Lebens, 185 (Hervorhebung i. Orig.). 643 Vgl. Schockenhoff, Ethik des Lebens, 186. 644 Barth, U., Menschenwürdekonzept, 367 (Hervorhebung v. Vf.).
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Sphäre des Religiösen und entzieht ihn so menschlicher Manipulation. Es wächst ihm eine aus dem Göttlichen selbst kommende Unverletzlichkeit zu, die ihn zugleich zu etwas Unberührbaren macht. Die Tabuisierungskraft der Religion gehört in der Tat zu deren urwüchsigsten Funktionen quer durch alle geschichtlichen Ge645 stalten« . Argumentatives Rückrad des auf die Menschenwürde zielenden Arguments ist die Kategorie des Unbedingten. Heiligkeit wird so einsehbar als eine religiöse Unbedingtheitskategorie, die keinen Bedingungen unterworfen werden kann 646 und soll. Gerade an dieser Stelle aber evozieren sich Störgeräusche. Denn es hat z.T. den Anschein, als ob die Kategorie des Heiligen gerade in den aktuellen bioethischen und -politischen Debatten an Anschlussevidenz eingebüßt hat, wie es in ausgesprochen apologetischer und nicht immer ausreichend informierter Weise z.B. im en647 geren Feld der Sterbehilfedebatte bei Helga Kuhse exemplarisch sichtbar wird. Es sei hier dahingestellt, ob an solcher Stelle Immunisierung gegenüber der Heiligkeit sich einem erklärten sakrosankten Eigeninstinkt streng medizinischen Denkens verdankt oder ob derartige Impfungsversuche tatsächlich der Prophylaxe ei648 ner vorliegenden epidemischen Bedrohung geschuldet sind. Und genauso kann hier nicht diskutiert werden, ob und inwieweit es sich bei dergestaltigen Tabuisierungsambitionen gegenüber dem Heiligen um den Etablierungsansatz neuer Heiligkeiten handelt, dass also die injizierte Substanz alternierenden Gesundheits649 visionen dienen soll. Vergleichbare Therapie-Instinkte wurden im Kontext der 650 Diskussion des Lebensbegriffs Nietzsches bereits beobachtet und interpretiert. Was heißt das? Zunächst: Die Kategorie der Heiligkeit ist eine Chance. Die Chance und das Intuitionskonforme des Heiligen – und dieser Gedanke ist bereits bei Lotze begegnet – bestehen zunächst darin, dass Lebende ihrem Leben in der
645 Barth, U., Menschenwürdekonzept, 367. 646 Vgl. Barth, U.: Menschenwürdekonzept, 368. An dieser Stelle kann es nicht um eine Diskussion des Menschenwürdeparadigmas gehen, sondern im engeren Sinne um den Sinn einer Rede von der Heiligkeit des Lebens. 647 Vgl. Kuhse, Heiligkeit, passim. 648 Vgl. Dawkins, God Delusion, 253. Dawkins erkennt in der Religion nachgerade eine Krankheit, die den Geist krank (mad) macht. Die auf das Christentum ausgemünzte These des »barking mad« bezieht sich konkret auf die christliche Satisfaktionslehre. »Barking mad« ist für Dawkins dabei die Vorstellung, dass Gott in Jesus inkarniert, um anschließend für die Sünden der Welt zu sterben und dann wieder in den Himmel aufzufahren: eine fatale Zirkularität. Dawkins polemisiert dagegen, dass es ja einfacher gewesen wäre, hätte Gott der Welt die Sünden ohne den Umweg über die Inkarnation einfach so vergeben. Dass es auch innertheologische Debatten um das Satisfaktionsparadigma gegeben hat und gibt, hat er nicht vor Augen. Überhaupt scheint ihm, wenn es um das Christentum geht, in der Regel ein nordamerikanischer Vulgärprotestantismus vor Augen zu stehen. Origenes und Nietzsche waren an dieser Stelle wenigstens geistreicher. Vgl. dazu unter B.III.2.1. Insgesamt scheint es, dass Dawkins nicht die Religion ins Visier nimmt, sondern vielmehr deren Verzerrungen in Form von Fundamentalismus. 649 Vgl. dazu Roth, Fühlen, Denken Handeln, 545ff. 650 Vgl. dazu unter B.III.2.2.
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Regel nicht gleichgültig gegenüber stehen. Aber auch das gibt es – und in diesem 652 Sinne trifft das oben zitierte Schiller-Wort –, dass Menschen nicht leben wollen. Wie auch die zeitgenössischen Debatten zur Sterbehilfe und assistiertem Suizid deutlich machen, gibt es gerade am Lebensende Situationen, in denen das Leben nicht mehr als das höchste Gut angesehen wird, sondern vielmehr ein guter Tod an 653 diese Stelle tritt. Die Gestaltung des Lebensendes mit Berufung auf eine absolute 654 Heiligkeit des Lebens zu behindern, wäre kontraintuitiv. Genauso kontraintuitiv wäre es aber auch, das Leben konsequent zu entheiligen und gleichsam beliebiger Verfügbarkeit auszusetzen. Die Heiligkeit des Lebens kann also nur ein relativer Begriff begrenzter Reichweite sein. Diesem Umstand wird Rechnung getragen, wenn die Kategorie der Heiligkeit als 655 Handlungskategorie interpretiert wird. Hier zeigt sich innerhalb der hier erarbeiteten Matrix eines theologischen Lebensbegriffs eine Korrelation des Wert- und des Handlungsaspektes im Gegenüber zu Anläufen, die die Kategorie des Heiligen dem Ethischen zu entziehen versucht haben. Denn dies war doch genau eine der Einreden gegenüber Rudolf Ottos Interpretation des Heiligen als das Numinose, »das 656 dann bezeichnen soll das Heilige minus seines sittlichen Moments« . Dem wurde entgegengehalten, dass die Heiligkeit am Orte des Lebens immer auch mit der Heiligung zusammenhängt. In diesem Sinne taucht der Heiligkeitsgedanke bereits im ›Neuen Testament‹ auf: Heiligung ist hier eine »Handlungskategorie, die auf der
651 Vgl. dazu unter A.IV.4. 652 Vgl. Grotefeld, Sterben, 35: »Normalerweise wollen Menschen leben. Aber es kann sein, dass sie in eine Situation geraten, in der sie lieber sterben als leben wollen. Dieser Wille kann im Einklang mit ihrer Lebenseinstellung stehen, und sofern er rational und autonom zustande gekommen ist, verdient er Respekt. Wer dagegen einwendet, das menschliche Leben an sich sei heilig und verlange absoluten Schutz, beruft sich seinerseits auf eine bestimmte Weltanschauung«. 653 Einen guten, aber knappen Überblick über die gegenwärtige Debatte, die Grundpositionen und argumente bieten Woeller/Schmiedebach, Sterbehilfe, passim. 654 Die EKD-Erklärung ›Sterben hat seine Zeit‹ vermeidet den Ausdruck der Heiligkeit und redet statt dessen von einer unantastbaren Würde des Menschen: »All diesen Überlegungen und Regeln liegt die christliche Einsicht zugrunde, dass der Mensch eine Bestimmung hat, die über dieses Leben und diese Zeit hinausreicht in Gottes Ewigkeit. Das verleiht dem begrenzten, sterblichen Menschen seine unantastbare Würde« (EKD, Sterben hat seine Zeit, 8). Daraus leitet der Text ab, dass die Haltung des Wartens auf den Tod, die dem Christlichen angemessene Haltung sei: »Leben und Sterben der Menschen liegen nach christlichem Verständnis in Gottes Hand. Deshalb ist das Abwarten des Todes die angemessene Haltung im Blick auf das – eigene und fremde – Sterben« (EKD, Sterben hat seine Zeit, 6). Gestaltungsspielraum sieht die EKD in Gestalt einer Patientenverfügung. Zur Kritik der Einstellung des Wartens auf den Tod vgl. Kodalle, Tod als ›Geschick‹?, 223ff. Wie schon erwähnt: Auf eine Diskussion zur Menschenwürde soll hier nicht abgestellt werden. Vielmehr soll es im engeren Sinne um den Sinn einer Rede von der Heiligkeit des Lebens gehen. 655 Vgl. dazu Luthers Auseinandersetzung zum Beispiel vom guten Baum und den guten Früchten in seiner ›Freiheitsschrift‹ (vgl. WA VII, 32): Dort wird eben immer auch davon ausgegangen, dass der Mensch auch böse Werke tut aufgrund seines Böseseins, was im Horizont der vorliegenden Auseinandersetzung für das Fehlen von Ante-, Parti- oder Teloszipationsstrukturen steht. 656 Otto, Das Heilige, 6 (Hervorhebung i. Orig.).
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Statuskategorie der Heiligkeit basiert« . Das bedeutet, dass es die Heiligkeit erstens mit der Heiligung zu tun hat. Heilig ist in dem Sinne das Leben, das sich im Handeln aktiv heiligt. Und diese Heiligung hat es formal mit der Aktualisierung des göttlichen Willens zu tun. Das macht darauf aufmerksam, dass die Heiligkeit als eine Partizipationskategorie zu denken ist: »Der Partizipation der Glaubenden und Getauften am heiligen Gott durch die Gabe des Heiligen Geistes entspricht die Hei658 ligung des Lebens« . An dieser Stelle zeigt sich innerhalb der Matrix des theologischen Lebensbegriffs eine Korrelation von Wert-, Handlungs-, Transzendenz und Unendlichkeitsaspekts. In der handelnden Aktualisierung des heiligen Geistes resp. des göttlichen Willens nimmt der Akteur gleichsam am heiligen Willen Gottes teil und verbindet sich mit diesem. Fehlt diese Partizipation in Gestalt einer Beziehungslosigkeit gegenüber Gott oder der Gemeinde, dann kann im Sinne Hölderlins vom sozialen und theologischen Tod gesprochen werden, wie er ihn im ›Tod des Empedokles‹ vor Augen hatte: »Allein zu sein und ohne Götter, dies ist er, ist der Tod«659. Wird die Heiligkeit des Lebens so als ein relativer und partizipativer Handlungsbegriff begrenzter Reichweite interpretiert, ist auch deutlich auf die damit implizierten Grenzen hinzuweisen. Denn es liegt auf der Hand, dass im strikten Sinne dann nur bewusstes und im Handlungssinne aktualisierbares Leben als heiliges Leben angesprochen werden kann. Hier ist auf drei Begrenztheiten hinzuweisen. Die erste ergibt sich direkt aus dem oben Gesagten. Denn nicht jedes bewusste und aktualisierte Leben kann im theologischen Sinne als heiliges Leben gelten. Vielmehr kommt dabei alles darauf an, dass dieses Leben sich in seiner bewussten Aktualisierung im heiligen Willen Gottes gegründet weiß. Denn auch die bewusste Aktualisierung des Lebens kann sich als unheilig performieren. Mann muss an dieser Stelle nicht reflexartig an die großen Politverbrecher der 20. Jhs. wie Hitler, Stalin, Idi Amin oder Pol Pot denken. Den Verlust der Heiligkeit in der Artikulation von Leben als eine menschliche Erfahrung hat wiederum Schiller eindrucksvoll beschrieben. So heißt es in seinem berühmten ›Lied von der Glocke‹: »Da werden Weiber zu Hyänen / Und treiben mit Entsetzen Scherz, / Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, / Zerreißen sie des Feindes Herz. / Nichts Heiliges ist mehr, es lösen / Sich alle Bande frommer Scheu, / Der Gute räumt den Platz dem Bösen, / Und alle Laster walten frei«660. 657 Schnelle, Heiligung, 1571. 658 Schnelle, Heiligung, 1573. 659 Hölderlin, Empedokles, I, 4.: Empedokles antwortet damit auf die Frage des Pausanias: »Den Tod, ich kenn' ihn wenig nur, / Denn wenig dacht ich seiner« (ebd.). 660 Schiller, Glocke, 170 (Hervorhebung v. Vf.). Schiller spielt dabei auf die Entartung an, die das Fanal der der französischen Revolution in der sogenannten Jakobinischen Revolution gezeitigt hat. Wichtig ist dabei die im Hintergrund stehende Theorie des Bösen, die Schiller dichterisch klar bennent. Das Böse ist das, was im Namen höherer Mächte Lebenswidriges in Kauf nimmt: »Weh denen, die dem Ewigblinden / Des Lichtes Himmelsfackel leihn! / Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden / Und äschert Städt und Länder ein« (a.a.O., 171) .
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Die Rede von der Heiligkeit des Lebens als einer Handlungskategorie begrenzter Reichweite hat bezüglich der ersten angesprochenen Begrenzung im hier thematischen Sinne auch die Folge, dass bewusst aktualisiertes Leben von Atheisten im strengen Sinne nicht als heilig gelten kann. Es ist v.a. eine Erklärung, die hier in Anschlag zu bringen ist: Es verstört grundsätzlich die Phantasie eines heiligen Atheisten. Atheisten wollen im strengen Sinne ihr Leben nicht heiligen, sondern 661 streben, wenn, nach einem guten oder schönen Leben. Was also unterscheidet also ein heiliges vom guten Leben? Klären kann dies u.a. ein Blick auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 1029ff.). Das Gleichnis reflektiert genau den in Frage stehenden Sachverhalt. Denn die im dort geltenden Sinne heiligen Männer (der Priester und der Levit) heiligen ihr Leben grade nicht. Sie gehen in ihrer Heiligkeit vorbei. Zu beachten ist hier v.a. der Gleichnischarakter. Jesus sagt nicht, dass der Samariter ein heiliger Mann sei. Aber er illustriert eine Handlung, die Leben heiligen kann. Die differentia specifica zwischem einem heiligem und einem guten oder schönen Leben erschließt sich erst im Zusammenspiel von πίστις und πράξις – von Glauben und Handeln –, das untrennbar für ein heiliges Leben im hier thematischen Sinne zusammen gehört. Das genannte Zusammenspiel von πίστις und πράξις meint dabei konkret die oben angezeigte partizipative Struktur. Gutes Leben ist gut, aber es kann und will nicht in übergeordnete Strukturen eingebettet sein; trivial: πράξις sine πίστις (Handeln ohne Glauben). Die Alternative ist eine πράξις cum πίστις (Handeln mit Glauben), die den Vollzug heiligen Lebens ermöglicht und entsprechend heißt es in der dem Gleichnis unmittelbar vorgeschalteten Stelle: »τοῦτο ποίει καὶ ζήσῃ«662 (»Dies tue und Du wirst leben«). Die zweite angezeigte Begrenztheit betrifft das noch nicht bewusste und bewusst aktualisierte Leben. In diesem Falle kann eine Heiligkeit des Lebens antizipiert werden. Antizipation meint dabei, dass neu erlebtes Leben positiv in der Struktur von πράξις cum πίστις möglich ist: eine Präsumtion heiligen Lebens im Glauben, die im Sinne Schweitzers in innerer Spannung verbleibt, Bonhoeffer zufolge keine Erfolgsgarantien kennt und mit Tillich der Zweideutigkeit ausgesetzt ist. Das verweist auf das Erste und folgende Dritte. Das angezeigte Dritte betrifft das nicht mehr bewusste und nicht mehr aktualisierbare Leben. Es fällt schwer, ein siechendes und durch Krankheit zerfressenes Leben, das nicht mehr handeln kann und oft auch nicht mehr will, das Leben Langzeitkomatöser als Inbegriff der Heiligkeit des Lebens anzusprechen. Hier ist es dann möglich, das Leben in seiner Aufgehobenheit im heiligen Leben Gottes zu teloszipieren, wie es etwa in der Weisheit Salomos heißt: »Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand«663. Die Heiligkeit des Lebens lässt sich in der Zusammenschau der hier nur angerissenen Dimensionen eines relativen und partizipativen Handlungsbegriffs begrenz661 Vgl. dazu z.B. Schmid, Schönes Leben?, 18ff. 662 Lk 1028 (Hervorhebung v. Vf.) 663 Sap. Sal. 31.
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ter Reichweite in einer Dreiheit von Antizipieren, Partizipieren und Teloszipieren ausformulieren. Der Wertaspekt- resp. das Heiligkeitsparadigma schweißt in der hier vorgestellten theologischen Sicht auch und gerade durch seine anti-, partiund teloszipierende Struktur Fragmentmomente eines immer erschütterten Lebens mit dem Unendlichen und Unbedingten zusammen. Reizvoll wäre es, dies in bioethische und -politische Debatten einzuzeichnen, aber das wäre das Thema einer gesonderten Auseinandersetzung. Die Rede von der Heiligkeit des Lebens als ein relativer und partizipativer Handlungsbegriff begrenzter Reichweite bedeutet keinesfalls, dass damit das nicht in diesem Sinne als heilig bestimmbare Leben zur freien Disposition steht. Sie soll primär auf Grenzen und Chancen des Heiligkeitsparadigmas hinweisen. Dramatik gewinnt dies gerade am Lebensende. Der Tod ist prima facie hetronom, das Sterben auch. Ist Sterben tatsächlich noch ein Akt des Seins? Die Spielräume an dieser Stelle sind klein wie wichtig. Im Sterben einen letzten Aufschrei diesseitiger Autonomie an der Schwelle des jenseitigen Schweigens zum heiligen Schrei zu stilisieren, kann nur in den tiefsten Ausdruck der Menschen möglichen Verzweiflung münden: »ηλι ηλι λεμα σαβαχθανι»664 (»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«). Sterben selbst ist per se kein heiliger Akt. Es kann furchtbar sein. Autonomie bis zuletzt hat der zentrale Protagonist des christlichen Glaubens jedoch auch bewiesen, wenn er – im richtigen Sinne lakonisch – 665 sagt: »πάτερ, εἰς χεῖράς σου παρατίθεμαι τὸ πνεῦμά μου« (»Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist«). Der letzte Akt der Autonomie kann allein ihre autonome aber auch rücksichtsvolle wie hinblickende, also teloszipierende Aufhebung sein. In der Zusammenschau der interpretierten Momente der Heiligkeit des Lebens als relativer und partizipativer Handlungsbegriff begrenzter Reichweite kann ein theologisches Heiligkeitsgesetz des Lebens im Kontext der hier vorgestellten Matrix eines theologischen Lebensbegriffs und in der angezeigten Vorläufigkeit lauten:666 Kein Leben ist allein heilig, weil es Leben ist; und alles Leben ist heilig, weil es nicht allein Leben ist.
664 Mt. 2746 (Ps 222). 665 Lk 2346. 666 Zum Heiligkeitsgesetz vgl. Preuß, Heiligkeitsgesetz, 713ff.
Anhang Abkürzungsverzeichnis Oft benützte Quellenschriften werden teilw. nach folgenden z.T. allgemein gebräuchlichen Abkürzungen zitiert. Aristoteles Metaphysik – Met. Nikomachische Ethik – EN Thomas von Aquin Summa Theologiae – ST Kant Kritik der reinen Vernunft – KrV Kritik der praktischen Vernunft – KpV Kritik der Urteilskraft – KdU Metaphysik der Sitten – MS Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft – MAdN Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte – MAdMG Die Religion innerhalb […] – Ri Hegel Phänomenologie des Geistes – PhdG Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften – EPhW Grundlinien der Philosophie des Rechts – GdPhdR Vorlesungen über die Geschichte der Religion – VGdR Wissenschaft der Logik – WdL Lotze Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens - APdKL Grundzüge der Metaphysik – GdM Grundzüge der Naturphilosophie – GdN Grundzüge der praktischen Philosophie – GdpP Grundzüge der Religionsphilosophie – GdR Kleine Schriften – KS Leben, Lebenskraft – LLK Medicinische Psychologie – MP Metaphysik (1841) – Met. (1841) Metaphysik (1879) – Met. (1879)
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Mikrokosmus – MK Streitschriften – SS Nietzsche Der Anti-Christ – AC Also sprach Zarathustra – AsZ Ecce Homo – EH Die fröhliche Wissenschaft – FW Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik – GdT Genealogie der Moral – GdM Götzen-Dämmerung – GD Jenseits von Gut und Böse – JGB Kritische Gesamtausgabe Briefe – KSB Morgen-Röthe – MR Menschliches, Allzumenschliches – MA Nachlass – N Unzeitgemässe Betrachtungen – UB Tillich Systematische Theologie (1913) – ST (1913) Systematische Theologie – ST Das religiöse Fundament des moralischen Handelns – RFdMH
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Namensregister A Abel, Günter 100–102 Aertsen, Jan 360 Aischylos 103, 106, 118 Anselm, Reiner 5f., 373f. Aquin, Thomas von 364 Aristophanes 107 Aristoteles 21–23, 39, 48, 56, 63, 71, 103, 125, 129, 208, 253, 318f., 344, 349, 352, 356f., 367 Aschheim, Steven E. 135 Audretsch, Jürgen 216 Augustinus 256, 286, 335, 353 Autenrieth, Ferdinand J.H. 72
B Ballauff, Theodor 21f. Baranzke, Heike 266, 277 Barrow, John D. 206f., 211, 235, 245 Barth, Karl 102, 256, 282, 305, 364 Barth, Ulrich 5, 23, 39, 101, 203, 241f., 310, 317, 350, 359, 362, 375 Bartuschat, Wolfgang 27f., 35 Baum, Manfred 42 Beethoven, Ludwig van 117 Berger, David 364 Bergson, Henry 95, 222f., 227, 267, 319 Berkowitz, Peter 154 Bernard, Claude 72 Bertanlaffny, Ludwig v. 91 Bethge, Eberhard 283 Bichat, M. François X. 72 Bloch, Ernst 232 Blumenbach, Johann Fr. 72 Blumenberg, Hans 240, 257, 354 Bohr, Nils 208f. Bollnow, Otto Fr. 267 Bona-Meyer, Jürgen 97 Bonhoeffer, Dietrich 20, 257, 283, 285– 300, 348f., 358, 363, 366, 370, 373, 378
Brück, Michael von 261f., 266f., 271f., 278, 299 Brusotti, Marco 154f., 161, 175f., 188f., 192 Bucher, Rainer 161, 166, 169 Bultmann, Rudolf 15f. Burckhardt, Jacob Chr. 168 Buri, Fritz 277
C Cairns, John 215 Calov, Abraham 301 Caspari, Otto 67 Caysa, Volker 186 Champfort, Nicolas 136 Cheung, Tobias 22 Christen, Hans R. 256 Christians, Ingo 170 Claesges, Ulrich 137 Colli, Giorgio 100–103, 143, 153, 167f., 184, 186 Cottingham, John 358 Crick, Francis 202
D Dalferth, Ingolf U. 369 Danz, Christian 302–304, 306f., 309f., 317f., 325, 327, 330, 333f. Darwin, Charles R. 169, 204, 236, 238f., 240 Davidson, Richard D. 101 Dawkins, Richard 375 Decher, Friedhelm 169 Delbrück, Max 202f., 206, 211, 213, 216 Demokrit 353 Descartes, René 139, 224, 230 Deussen, Paul 219 Dewey, John 320 Diels, Hermann 180, 353 Dieter, Theodor 253 Dilthey, Wilhelm 95, 267, 284, 293, 319 Dramm, Sabine 285, 288, 293, 295
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Anhang
Driesch, Hans 22, 71f., 95, 222 Düsing, Klaus 23, 26, 42, 66, 221
E Ebeling, Gerhard 161, 343, 344 Eigen, Manfred 18–20, 202–205, 215, 220, 225, 231, 233–245, 247–250, 254, 355, 358, 362, 366, 369, 372 Elert, Werner 336 Empedokles 377 Eucken, Arnold 233 Euripides 107, 112f. Ewers, Michael 21–23, 26
F Fäh, Heinz 21 Falckenberg, Richard 97 Fantini, Bernadino 205 Feil, Ernst 283–288, 294 Féré, Charles-Sansons 189 Feuerbach, Ludwig 232 Fichte, Immanuel H. 74, 90, 109 Fichte, Johann G. 42, 44, 66f., 74, 90, 109, 179, 270, 273, 301, 304f., 360 Figal, Günther 96 Fischer, Ernst P. 202f., 206, 215f. Fischer, Hermann 283, 299 Fischer, Johannes 5, 231, 301, 344– 347, 350, 356, 358, 369, 374 Fontanelle, Bernard de Bovier de 136 Forel, Auguste 218 Fosters, Michael 169 Foucault, Michel 39, 100 Frege, Gottlob 352 Freud, Siegmund 139, 141, 152, 178, 232 Frey, Christopher 266, 336 Frost, Walter 37 Fuchs, Nikolai 277
G Galindo, Martha Z. 167 Gerhardt, Volker 97–99, 101f., 109f., 115, 124, 127, 131, 136f., 141, 152,
154, 161, 163, 166f., 169f., 175f., 180f., 184–186, 343, 353f., 357 Gerrens, Uwe 295 Gervinius, Georg G. 97 Glatzeder, Britta M. 138 Globokar, Roman 278, 281, 347 Gödde, Günther 135, 141f., 166 Goethe, Johann W. von 7, 21, 97, 117, 132, 151 Goodman, Nelson 101 Graf, Friedrich W. 304f., 350 Green, Cliffoard J. 284f., 288, 292f. Groos, Helmut 259f., 282 Grotefeld, Stefan 5, 338, 376 Gründer, Karlfried 103
H Habermas, Jürgen 256, 337, 353 Halfwassen, Jens 359 Haller, Albrecht von 72 Hammer, Felix 184, 188 Hanslick, Eduard 87, 97 Hansmann, Otto 28, 35 Harnack, Adolf von 263, 284, 310 Hartmann, Eduard v. 120 Hasler, Ueli 67, 109 Haslinger, Reinhardt 141 Hegel, Georg, Fr. W. 16, 19f., 22–24, 42–71, 78, 92, 96f., 100f., 105, 115, 120, 124, 131, 133, 161, 223, 246, 254, 273, 281, 308, 317, 319, 324, 351f., 354, 357, 360f., 365, 368, 371 Heidegger, Martin 40, 100f., 317, 349 Heilbron, John L. 209, 213 Hein, Till 218 Heller, Edmund 136, 137 Heller, Erich 136, 142, 144, 163f., 168, 180 Heraklit 125, 153, 180 Herder, Johann, G. 351– 353 Hermann, István 25 Herms, Eilert 349 Herrmann, Wilhelm 259 Hesse, Peter G. 31 Hinske, Norbert 124, 360 Hiriyanna, Mysore 219
Namensregister
Hirsch, Emanuel 310, 363 Hoering, Walter 357 Höffe, Otfried 360 Hogh, Alexander 169, 180f., 194 Hölderlin, Friedrich 377 Holl, Karl 258 Homer 187 Honneth, Andreas 141, 167 Horstmann, Rolf-Peter 23, 42, 63 Hübner, Hans 15f. Humboldt, Alexander von 72 Hunt, Lester H. 170 Huppenbauer, Markus 6, 369 Husserl, Edmund 317
J Jacob, François 130, 204, 220, 233 James, William 202, 215, 224, 320 Janz, Curt Paul 104f., 115, 119f., 135, 137f., 144, 152, 158, 193 Jesus 16, 151, 259, 261, 266, 274–276, 280, 283f., 287–293, 295, 298, 312, 314, 316f., 328f., 344, 350, 363f., 366, 370, 373, 375, 378f. Johannes Paul II, Papst 231 Jonas, Hans 339 Jüngel, Eberhard 161, 256, 276
K Kaftan, Julius 23 Kant, Immanuel 20, 22–42, 48, 53, 56, 60–64, 66, 69, 75f., 93, 95–97, 101, 117, 131, 146, 178f., 244, 247, 249, 340, 351, 354, 357, 360f., 365, 368, 371 Kattenbusch, Ferdinand 304 Kay Lily E. 204, 239, 242 Kelso J.A. Scott 215 Kerger, Henry 185 Kern, Hans 144 Keyserling, Hermann 282 Kierkegaard, Sören A. 317, 324 Klages, Ludwig F.K.E.W 267 Kleffmann, Tom 42, 102, 104, 108, 117, 126f., 130, 134, 136, 138, 146,
409
147, 150, 152, 154, 158, 160f., 164, 166f., 171, 175, 184, 189, 261, 266, 270, 272, 274–277, 279, 281, 303, 310, 320, 350, 363, 366 Klein, Rebekka A. 183, 240 Kodalle, Klaus-Michael 310, 376 Kopper, Joachi 360f. Körtner, Ulrich H.J. 6, 280, 336 Kössel, Hans 202 Krämer, Hans J. 359 Kraus, Oskar 260 Kreß, Hartmut 364 Kropac, Ulrich 208f. Kuhse, Helga 375 Kunz, Ralph 253 Küppers 205, 210, 232f., 236, 238f., 240f. Kutschera, Franz von 253
L Labruyère , Jean de 135 Lang Hermann 141 LaRochefoucauld, François de 135 Lask, Emile 317 Latacz, Joachim 103–105, 108 Laube, Martin 336 Leibniz, Gottfried W. 21f., 39, 170, 208, 223, 266 Leinsle, Ulrich G. 360 Lenk, Hans 273, 277, 281 Levèfre, Wolfgang 56 Liebig, Justus von 72 Link, Christian 161 Loichinger, Alexander 231f. Loofs, Friedrich 304 Lotze, Rudolf Hermann 16, 19f., 22, 24, 41, 43, 67–93, 96–98, 109, 196, 204, 242, 254, 256, 258, 262, 307, 317, 351, 354, 357f., 361f., 365, 368f., 370f., 376 Löw, Reinhard 23 Löwith, Karl 105, 115, 120 Luria, Salvador, Ernst P. 202 Luther, Martin 137, 157, 161, 253, 258, 341, 344, 376 Lüttgert, Wilhelm 305
410
Anhang
O
Lwoff, André 220
M Maier, Mathilde 96 Mann, Thomas 95f., 131, 138, 141, 168 Markschies, Christoph 19, 254 Marx, Karl 223, 249, 373 Maxwell, James C. 224–226, 240, 366 Mayer, Julius R. 169 Mayr, Ernst 23 McDowell, John 63, 129 Meander 107 Medicus, Fritz 305 Meyer, Ahlrich 22 Meyer, Kathrin 17, 95, 120, 124, 126f., 129f., 365 Monod, Jaques 18, 20, 53, 204f., 220– 235, 239, 245, 247, 249, 355, 358, 362, 366, 369, 372 Montaigne, Michele de 135 Moore, George E. 249 Moritz Karl Ph. 97 Müller, Johannes 72 Müller, Karl O. 103 Müller, Wolfgang W. 327 Müller-Lauter, Wolfgang 100, 103, 125, 162, 169, 203 Murgerauer, Roland 327
N Neugebauer, Fritz 276, 350 Neugebauer, Georg 6, 306–310, 312, 314, 320 Neurath, Otto 354 Nietzsche, Friedrich W. 16f., 19f., 42, 93, 95–198, 201, 204, 218f., 223f., 228–230, 232, 247, 254, 257, 261, 263f., 266, 270, 272–279, 281–284, 303, 310f., 319f., 350, 352–355, 357, 359, 363, 365f., 369, 371f., 375f. Nigg, Walter 189 Norrish, Ronald, G.W. 233
Oermann, Nils O. 6, 261, 263 Ohly, Lukas 346f. Oken, Lorenz 72 Olby, Robert 215 Origenes 333, 375 Orsucci, Andrea 112 Ortega y Gasset, José 284 Ottmann, H. Henning 42 Otto, Rudolf 377
P Pangritz, Andreas 305 Pannenberg, Wolfgang 231 Pardee, Athur 233 Pauck, Marion 305, 316, 333 Pauck, Wilhelm 305, 316, 333 Paul, Jean 161 Paulsen, Friedrich 23 Paulus 274–277 Pester, Rudolf 75f., 78, 81–83, 86, 91, 361, 365 Peters, Tiemo 284, 288 Pfister, Oskar 279, 371 Pfleiderer, Georg 158 Philemon 107 Philo von Alexandria 187 Picht, Werner 260 Pieper, Annemarie 174 Pittendrigh, Colin 221 Pius XII, Papst 231 Planck, Max 209, 213 Platon 21, 125, 266, 356, 359, 362 Poggi, Stefano 362 Pokorny, Julius 15 Polanyi, Michael 223 Popper, Karl 242 Pörschke, Dietmar 204f., 239 Porter, George 233 Preuß, Horst-Dietrich 379 Prossliner, Johann 167f. Putnam, Hilary W. 101
Namensregister
R Rauchfuß, Horst 203, 211, 237, 240 Rawls, John 331 Rehmann-Sutter, Christoph 206, 242, 245, 250–252 Reil, Johann Chr. 72 Rendtorff, Trutz 336–343, 349, 358 Rethy, Robert 181 Rheinberger, Hans-Jörg 203, 231, 233f., 246f. Rickert, Heinrich 317 Ringleben, Joachim 303, 334 Rippe, Klaus Peter 253 Rist, Johann 161 Ritschl, Albrecht B. 24, 81, 87, 91, 98, 255–257, 259, 262, 286, 293, 334, 358, 362, 370 Rohls, Jan 342 Roth, Gerhard 376 Rothe, Richard 335, 348f. Roux, Wilhelm 169 Rutherford, Ernest 208f. Ryan, Lawrence 21
S Salehi, Djavid 253 Scheler, Max 17, 95f., 98, 258, 317, 319 Schelling, Friedrich W. J. 42, 66, 302, 305, 308, 312, 314, 319f., 360 Schiller, Friedrich von 279, 371, 376– 378 Schlegel, August W. 219 Schleiermacher, Friedrich D.E. 115f., 258, 262, 352 Schmid, Wilhelm 378 Schmiedebach, Heinz-Peter 376 Schnädelbach, Herbert 66f., 109, 111 Schneider, Manuel 274, 278–283 Schnelle, Udo 377 Schockenhoff, Eberhard 266, 286, 374 Schopenhauer, Arthur 72, 116f., 120, 169, 219, 247, 249, 266, 270, 278, 282
411
Schrödinger, Erwin 18, 20, 201, 205– 221, 226, 233–236, 245, 247, 249, 270, 279, 355, 358, 362, 366, 369 Schuller, Helmut 202 Schulte, Günter 26, 41, 158 Schüßler, Werner 302f., 316–318, 324 Schuster, Peter 203, 205, 233, 241, 245 Schwarke, Christian 248–250 Schwegler, Albert 64 Schweitzer, Albert 19f., 219, 257–283, 299, 304, 348–350, 358, 363, 366, 369, 370f., 373, 378 Scott, Charles E. 170, 186 Seifert, Albrecht 21 Seitz-Weinzierl, Beate 277 Sell, Annette 43 Sieb, Ludwig 42, 44, 53, 56f. 63, 66 Simmel, Georg 95, 284, 317, 319 Simon, Josef 62 Sitter-Liver, Beat 277, 280f. Skirl, Miguel 175, 185 Sokrates 107, 112f. Solies, Dirk 168 Sophokles 103, 106 Spencer, Herbert 223, 240 Spiekermann, Klaus 162, 170 Staudinger, Hermann 202 Staudinger, Magda 202 Stegmaier, Werner 100, 184–186 Stegmüller, Wolfgang 231f. Steiner, Andreas 271, 274, 277f. Steinmann, Michael 186 Stent, Gunther S. 214f. Stephan, Achim 72 Strauss, Daniel F. 115, 205, 211, 242 Strauß, David Fr. 115f. Sturm, Erdmann 167, 302f., 316–318, 324
T Tanner, Klaus 246, 248f. Tanner, Michael 135, 141, 167f. Teichert, Dieter 27, 35f. Thorgeirsdottir, Sigur 102
412
Anhang
Tillich, Paul 19f., 181, 256f., 301–335, 348–350, 358, 363, 367, 370, 373, 378 Timojejew-Ressowski, Nikolai W. 203 Track, Joachim 305, 333f. Treviranus, Gottfried R. 72f. Tsouypoulos, Nelly 71 Tuschling, Burkhard 42, 64
V Vauvenargues, Luc de Clapiers 136 Virchow, Rudolf 71 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 30, 34, 39, 138, 140 Vollmert, Bruno 215 Voltaire 136, 139
Weiße, Christian H. 67, 109 Wenz, Gunther 303, 334 Whitehead, Alfred N. 320 Wieland, Wolfgang 359 Wilamowitz-Möllendorf, Ulrich von 103f. Wildfeuer, Armin 71 Williamson, Clark 305 Windelband, Wilhelm 22, 67f., 89, 92f., 317 Windisch, Hans 187 Wittgenstein, Ludwig 101, 220, 336, 352 Wolf, Caspar Fr. 71, 281 Wolters, Gereon 71 Wüstenberg, Ralf K. 283–285, 287, 293 Wyller, Egil A. 359
W Wagner, Cosima 105 Wagner, Richard 99, 103, 105, 107, 115, 117f., 143f., 175, 193, 303, 334 Wagner, Rudolf 68, 72 Wahsner, Renate 66 Walde, Alois 15 Wartenburg, York von 108 Watson, James D. 202, 215 Weber, Max 343 Wehr, Gerhard 141, 144 Weil, Angela 23 Weinzierl, Hubert 277
X Xenophon 187
Y Yoxen, Edward 205
Z Zimmer, Karl G. 203 Zittel, Claus 107, 170, 181f.
Sachregister A Absolute, das 49, 90, 221, 272, 299, 306–309, 311–315, 342, 349, 363, 368 Adenin 202 Ahndung 81 AIDS 242 Aktivität 88, 158, 171, 173, 178, 203, 234, 262, 345 Aktualität 317–320, 323 Allgemeine, das 32, 34, 51, 53, 57, 66, 68, 72, 76, 79, 80, 83, 98, 103, 108, 122, 149, 171, 180, 245, 251, 286, 333, 353, 357 Altphilologie 104, 107 Altruismus 149, 218f., 247 Analytik 27, 31, 37 Anerkennung 65, 149, 157, 206, 231, 245, 251, 267, 281, 286, 311, 331, 333, 338 Animismus 223, 228–230, 249 Anschauung 27, 68, 84, 88, 360 Antikörper 202 Antizipation 26, 91, 114, 170, 350, 356, 378 Aphorismus 135–138, 147, 149, 152f., 155f., 159, 161, 163, 176, 179f., 354 Apollinische, das 106–108, 110, 126, 129, 130 Apologetik 306, 311–313, 349, 375 Aporie 178, 185, 269, 282, 287, 345 Aporizität 159 Apriori 25, 36, 294, 360, 373 Askese 17, 151, 183, 185–187, 196f., 230, 270 Ästhetik 17, 77, 95, 120, 124, 126f., 129f., 176, 195, 365 Atheismus 231f., 247, 308, 378 Atom 207, 236, 246, 353 Auferstehung 16, 275f., 292f., 314 Aufklärung 161, 220, 245, 251, 264, 308, 358
Autonomie 16, 23, 35, 39–41, 61–63, 66, 71, 73–75, 178, 197, 204, 221, 225, 245, 248, 294, 340, 342, 344, 368f., 371, 376, 379 Axiologie 82, 92, 359, 371
B Balancebegriff 19f., 132, 354–356, 362 Besondere, das 32, 34, 74, 103, 108, 180, 245, 251, 357 Besonderung 51 Bestimmtheit 55, 59, 79, 249, 265, 291, 298 Bewußtsein 44, 47–50, 53, 57f., 60f., 64, 80, 89, 105, 111f., 123, 240, 248, 256, 258, 290, 309, 337, 340, 343, 351, 375 Bhavagadgita 219 Bibel 15, 167, 289, 293, 312, 346f., 363, 374 Bildung 69, 98, 118, 176, 216, 224, 227, 237 Biochemie 68, 85, 201, 203, 205, 355 Bioethik 249, 280, 336, 375, 379 Biologie 21, 23, 65, 67, 93, 181, 196, 198, 201f., 204f., 207, 210, 213– 215, 217, 220, 222, 226, 230, 232f., 236–244, 246, 248–251, 280f., 290, 322, 342, 347, 355, 366
C Chaos 98, 181, 213, 326, 365 Chemie 18, 52, 71, 75, 85, 198, 201f., 204–207, 212f., 220, 223–227, 233, 236–241, 245f., 366 Chor 106–108, 111, 371 Christentum, christlich 99, 123, 143, 150f., 154f., 157, 185f., 192, 229f., 255, 266, 276f., 283f., 286, 288, 293f., 300f., 309, 317, 336, 343, 346f., 350, 358, 366, 370, 373–376, 379
414
Anhang
Christologie 274, 284, 288, 293f., 309, 312, 314 Christozentrik 292, 299 Chromosom 206, 210, 212–214, 217, 234, 247 Code, genetischer 203, 205, 237, 244, 251 Collagen 202 Cytosin 202
D Dämon 225, 240 Dämonisierung 326 Denken 21, 23, 36, 43, 63, 68, 81, 89, 95–98, 112, 119, 133, 135, 137f., 140, 145f., 166, 178, 259–261, 264f., 267–269, 271f., 274–277, 280, 284, 286f., 301f., 304, 306– 308, 336, 345, 351, 353, 359, 360f., 366, 371, 375f. Desintegration 326, 332f. Desoxyribonukleinsäure (DNS) 202, 215, 226f., 234, 236, 240, 251 Deutung 64, 88, 91, 101, 108, 112, 122, 136, 142, 163, 229, 257, 264, 273, 276, 350, 355, 357–359, 364 Dialektik 31f., 34, 37, 44f., 102, 170, 288f., 292, 309, 352, 363 Differenz 15, 21–23, 28, 42, 48, 50, 62, 70, 101, 131, 174, 183–185, 213, 255, 268, 291, 306–308, 311–313, 320, 337, 344 Diffusion 207 Dimension 43, 59, 86, 92, 110, 117, 130, 134, 145, 154, 156, 159, 164, 274, 287, 289, 311, 321–323, 326f., 329–331, 338, 341, 344, 362f., 366 Dipol 209 Diskontinuität 264 Doppelhelix 202, 215 Dualismus 274f., 287
E Egoismus 156, 182, 185, 217f., 247, 274
Ehre 98, 149, 251, 304 Ehrfurcht 128, 219, 258, 260f., 265, 267, 269, 271–274, 276–283, 347, 366, 369, 373 Einzelheit 48f., 308, 311, 313–315 Elektron 208f., 224 Endlichkeit 5, 15f., 20, 61, 253, 276, 303, 307, 309, 311, 313–316, 320, 324f., 328, 332, 334, 344, 350, 353, 357, 362, 364–367 Energie 17, 195, 209f., 212, 217, 222, 225, 232, 239, 272f., 277f., 282, 365, 369 Entelechie 21f. Entfremdung 111, 113f., 140, 147, 308, 315–317, 324f., 328f., 333, 367 Entität 28, 55 Entropie 211f., 215 Entwicklung 19, 23, 43, 46, 53, 74f., 77, 83, 86, 92, 96, 105, 124, 134f., 143, 147, 161, 168, 180, 186, 198, 206, 209, 211, 216–218, 227, 238f., 242, 246f., 251, 254, 264, 267, 271, 287, 292, 301f., 306, 314 Enzym 224, 232f. Epoche 67, 118 Erbsünde 286, 324 Erfahrung 31, 50, 79, 109, 116, 132, 154, 209, 259, 264, 271, 273, 280, 324, 327, 346, 351f., 360, 377 Erkennen 32, 34, 41, 52, 87, 161, 184, 256, 265–267, 269, 275, 281, 319, 363 Erkenntnis 39, 80f., 93, 106, 112, 117, 141, 147, 154f., 161, 175, 186, 202, 222, 225, 230–232, 238, 242, 245, 247f., 267, 274, 286, 290f., 322, 353, 360f., 372 Erlebnis 17, 126, 195, 259, 267, 269, 271, 273, 329, 363 Erlösung 151, 289, 292, 311, 315, 324, 327, 370 Essenz, essentiell 17, 105, 107, 109, 111, 129, 131, 136, 147, 170f., 180, 189, 195, 238, 240, 245, 248, 251, 288, 318–320, 323–326, 328–334, 337, 367, 370
Sachregister
Ethik 6, 15–18, 20, 24, 38, 41, 60, 63, 69, 89–91, 102, 108, 111–114, 121, 129, 131f., 134, 138, 140, 145, 148f., 158, 161, 164, 166, 169, 172, 175, 182, 184, 186, 188, 190–192, 195–199, 201, 205, 214, 216–219, 228–233, 241–244, 247–250, 253, 257–274, 276–295, 297–302, 304, 306, 314, 329–332, 334–344, 347, 358, 363, 366, 369–375 Ethik der Erkenntnis 18, 228, 230, 232, 247, 369, 372 Ethik des Lebens 17, 166, 195–197, 266, 347, 374 Ethikotheolologie 38, 41 Ethos 232, 247, 267, 295, 300, 340 Euthanasie 197, 285, 295–298, 300 Evolution 65, 203, 215, 217, 227, 231– 233, 235–238, 240f., 244f., 247 Ewigkeit 17, 80, 98, 109, 111, 114, 164–166, 170, 181, 186, 190, 195f., 217, 276, 289, 302, 314, 346, 362, 367, 376 Existentialismus 310, 318 Existenz 27, 29, 61, 74, 82, 116f., 120, 125, 128, 132, 228, 271, 286, 295, 316, 318–320, 323–325, 327–330, 332, 334, 342, 347, 364, 367 Experiment 54, 83
F Fiktion 181, 194 Form 22, 26f., 69, 102, 192, 203, 243, 255, 263, 269, 272, 331, 377 Freiheit 16, 25, 36, 55, 60, 62f., 66, 77, 85, 101, 116, 136, 139–142, 146– 150, 152, 154, 156, 158, 165, 170, 174, 178, 181, 189, 221, 235, 242, 244, 256, 262, 284f., 288, 291f., 293–295, 297, 303, 305–309, 311, 313, 315, 318f., 322, 324, 326, 328f., 339–342, 344, 358, 368, 378f.
415
G Ganze, das 23, 29, 35f., 46, 73, 75, 79, 87, 97, 139, 169, 260, 286, 301, 325 Gattung 28f., 51, 59, 86, 93, 154, 157, 217, 342, 344, 361, 365 Gen 203, 234, 246f. Genetik 93, 203, 205f., 215, 220f., 228, 234, 237, 242, 244–248, 251, 344, 366 Genotyp 207, 236 Geometrie 27 Geschichte 22, 59, 61, 65, 67–69, 71f., 79, 89, 97, 103, 116, 120, 122f., 124, 126, 127–133, 142, 237, 246, 263, 272, 302, 312, 316f., 327, 342, 348, 367 Gesetz 39, 53f., 58f., 62, 83, 90, 124, 193, 208, 226, 242, 287, 297f., 311, 330f., 340f., 357 Gesundheit 121, 124, 126, 140, 144, 148, 158f., 175, 193, 244, 296, 323 Gewalt 51, 59, 78, 86, 95, 134, 148, 210, 272, 361 Gewissheit 43f., 47, 49f., 127, 178 Glaube 16, 79, 90, 98f., 102, 107, 115f., 121, 123, 127, 145, 150, 228, 263, 265, 275, 277, 283–285, 287, 293, 309, 328f., 333, 339, 343–347, 350, 371, 374, 379 Glück 110, 112, 116, 134, 152–154, 157, 159, 174, 190–192, 280f., 335 Gott Gott 105, 107, 139, 151, 171, 184, 189, 214, 219, 255, 274, 287, 289, 292, 298, 314f., 333, 339, 345, 347f., 356, 363, 373f., 377 Gott als das Absolute 363 Gott als Geist 320 Gott als Leben 312 Gott als Lebenswille 275 Gott als Liebeskraft 275 Gott als Schöpfer 275, 374 Gott als Wahrheit 307 Gott der Lebenden 350 Gott der Lebendige 310, 312, 320, 346
416
Anhang
Gott ist tot 161, 165, 171, 355 Gottes Ewigkeit 314 Gottes Führung 294 Gottes Gnade 297 Gottes Handeln 344f. Gottes Heiligkeit 374 Gottes Hilfe 256 Gottes Kraft 274f. Gottes Leben 289, 315, 348, 350, 363, 379 Gottes Lebendigkeit 311, 347 Gottes Lebensfülle 346 Gottes Liebe 274f. Gottes Reich, Reich Gottes 276, 311, 314–317, 327f., 370 Gottes Stimme 185 Gottes Tat 294, 315 Gottes Verschiedenheit 311 Gottes Weisheit 91 Gottes Wille 275, 290, 294, 331, 377 Gottes Wort 287f., 373 Gottesbegriff 310 Gottesberührung 350 Gottesbeweis 39, 214 Gottesfurcht 260 Gottesgedanke 39, 274, 310, 312, 320, 334, 356, 362f. Gottesmystik 275 Gottlosigkeit 99 Gottunmittelbarkeit 292 Gräzistik 103–105 Grenzbegriff 40 Großmut 17, 157, 160, 162, 165, 174, 196, 230, 369 Guanin 202
H Handlung 21, 131, 173, 338, 345, 378 Handlungstheorie 85, 131, 368 Heiligkeit 91, 174, 257, 260, 279, 371– 379 Hermeneutik 100, 251, 344 Historie 17, 95, 115f., 119–124, 126– 132, 134, 142, 148 Historismus 263, 265f.
Höflichkeit 17, 155, 157, 162f., 165, 174, 196, 369 Humanismus 18, 231f., 241, 244, 247, 250, 369 Hyperzyklus 233, 239f., 242, 366, 369
I Idealismus 5, 42, 46–49, 64, 66, 75f., 81–84, 86, 90–92, 97, 107, 109, 111, 133, 145, 162, 177, 218f., 223, 249, 259, 265, 273, 287, 292, 302f., 306, 308, 360, 362, 369 Imperativ 17, 114, 129, 132f., 148, 165, 190, 196, 217, 244, 256, 292, 330f., 370 Indien, indisch 219, 260, 265, 267–269 Information 91, 233, 234–236, 238, 240–242, 245, 247f., 369 Interpretation 16, 39, 60, 91f., 101f., 131, 141, 158, 167, 178, 182, 196, 223, 231, 256, 280f., 284, 288, 293, 303, 324, 328, 364, 370, 372, 377 Invarianz 204, 220f., 223, 245, 248 Irrtum 99, 146, 181, 246
K Kategorien 33, 39, 47–49, 53, 76, 169, 178, 343, 360, 374–376 Kausalität 25f., 28f., 32f., 35, 98, 102, 178f., 243, 321, 322 Klima 68 Klimazonen 55 Kohlenstoff 202 Komödie 107, 113 Korrelation 38, 90, 104, 166, 235, 289, 292, 294, 316, 326, 376 Kraft 22, 31, 72, 77, 87, 112f., 120, 122f., 125f., 128, 130, 132–134, 139, 148, 151, 153, 164, 166, 169, 171, 179, 181, 186, 190, 195, 213, 264, 267, 271–275, 278f., 289, 304, 320, 322f., 329, 335, 351 Krankheit 120f., 124, 134, 138, 140f., 144, 148, 167, 194, 278, 299, 326, 365, 366, 370, 375, 378
Sachregister
Krieg 144, 216, 261, 293, 295 Krise 51, 92, 140, 147f., 158, 163, 218, 259, 263, 276, 285 Kristall, aperiodischer 206, 210f., 216, 226, 245, 270 Kultur 37, 103, 112–114, 119–121, 138, 142–145, 147, 164, 168, 228, 244, 247, 258, 260–264, 269, 273, 276, 282, 295, 307, 323, 328, 343, 367 Kunst 30, 51, 77, 83, 99, 103, 105f., 110–114, 117, 121, 125f., 137, 143f., 146f., 167, 176, 184, 194, 223, 374 Kunsttrieb 108–110
L Leben Begriff des Lebens 15f., 18–22, 24, 26, 30f., 42–44, 46, 53–55, 63, 65, 67f., 73, 78–81, 84, 86, 89, 91–93, 95–98, 102–104, 108, 111, 117, 119, 121, 126f., 129f., 134, 136– 138, 143–148, 150, 152, 154f., 158–161, 163–169, 171f., 175, 180–182, 184, 186, 188–198, 201f., 204–206, 210, 216, 233, 235, 240–242, 245–255, 257f., 260–262, 266, 269–272, 274– 277, 279–285, 289, 292f., 299– 301, 303–306, 310f., 315–318, 320–322, 328–330, 332–336, 341, 343f., 346–357, 359f., 362– 372, 374, 376, 379 Christusleben 289f., 292, 299, 350, 363, 367 Entstehung des Lebens 227, 232, 235, 241 Ewiges Leben 16f., 127, 150, 159, 164f., 170, 190, 196, 294, 314, 315, 327, 348, 367 Gefühl des Lebens 153, 196 Lebendiges 5, 15f., 18f., 21–25, 29– 35, 39–43, 46, 53–55, 63–65, 71, 73f., 77, 80–82, 85, 92f., 95f., 98, 114, 126f., 133, 150, 161, 196,
417
198, 201f., 204f., 208–211, 221, 224, 231, 233f., 240, 242, 245f., 248, 250f., 254, 259, 261, 265, 267, 273, 276f., 282, 303, 307, 310–312, 320, 334, 346, 349, 351, 354, 357, 360, 372 Lebendigkeit 16f., 41, 144, 150, 153, 156, 160, 164–166, 170, 188, 196, 307f., 311, 315, 336, 347, 371 Lebensende 376, 379 Lebenserscheinung 17, 32, 36f., 69, 73, 78f., 83, 90, 95, 146, 153, 169, 203, 207, 212, 235, 241, 270, 320, 366 Lebensfähigkeit 92f., 146 Lebensform 36f., 41, 90, 371 Lebensgeist 73 Lebenskraft 68, 72–74, 82, 113, 130, 149f., 153, 225 Lebensmaterie 72f. Lebensphilosophie 17, 93, 95f., 98, 101, 104, 198, 267, 283, 285, 293, 305, 317, 319 Lebensprinzip 73f., 314 Lebenstheorie 68f., 78, 84, 86, 89, 92, 97, 197, 220 Lebenstrieb 82, 160 Lebenswissenschaft 19, 90, 96, 254, 320, 347 Lebewesen 16, 23, 40f., 58, 61–63, 65, 75f., 92, 140, 179, 196, 204, 212, 220–222, 224–228, 232, 235, 237f., 245, 251f., 357, 360, 365f. Überleben der Stärksten (survival of the fittest) 239f. Ursprung des Lebens 78f., 227, 237– 239 Leib 22, 158, 174, 186, 294f., 298, 300 Leiden 145, 186, 229, 244, 262, 278f., 371 Letztbegründung 102 Liebe 61, 157, 174, 256, 267, 274–276, 280, 285, 291, 313, 325, 329, 331, 334, 358, 366, 370 Lignin 202 Logos 312, 330
418
Anhang
Loslösung 139f., 142, 146, 156, 158, 160, 165, 170 Lust 87–89, 110, 160, 164, 170, 174f., 184, 190, 256, 272
M Macht Macht der Geschichte 133 Macht, Ermächtigung 153 Machterweiterung 160 Machtgefühl 154, 156, 159–161, 164, 166, 170, 191, 195 Mächtigkeit 159, 372 Machtsphäre 160 Machtwillen, Wille zur Macht 17, 96, 97f., 100, 102f., 160, 166f., 169– 171, 173–183, 185–187, 189f., 192, 195–197, 218, 355, 372 Machtzuwachs 159 Makromoleküle 202 Makroskopisch 204, 209, 211, 214, 221, 225f., 366 Maschine 77, 98, 151, 214, 221, 224, 245 Materialismus 18, 263, 369 Materie 30f., 72, 211f., 223, 235f., 238, 240, 242, 245, 318, 365 Mathematik 27, 76, 130, 207, 220, 239, 253, 270 Maxime 23, 73, 79, 179, 194, 221f., 277f. Mechanismus 32, 34, 68, 76f., 85, 90f., 98, 203f., 208, 211, 214f., 220f., 224, 226, 228, 232, 240, 242, 245, 250, 291, 299 Medizin 18f., 67–69, 83, 121, 148, 205, 220, 254, 298, 375 Meiose 208 Mensch 16, 25f., 32, 34–37, 40f., 43, 68, 72, 77, 79, 81f., 98f., 105, 107– 109, 113, 115, 123f., 126f., 131f., 137, 140, 142f., 146f., 149f., 152f., 161, 164, 166f., 169, 171, 173, 178, 181, 183f., 187, 190, 194, 202, 216– 218, 223, 228–230, 234, 242, 244, 248, 256, 262, 264f., 267f., 272–
274, 276, 283, 287f., 293, 296f., 300f., 304, 313–316, 322–332, 336– 343, 346f., 350f., 358, 361, 364f., 367, 370, 372f., 375–377 Menschheit 99, 121, 123, 127, 133, 145f., 157, 159, 167, 223f., 229, 243f., 247, 250, 263–265, 270, 314, 328, 365, 370f. Metabolismus 212, 234, 240f., 245, 369 Metaphysik 5, 15f., 18–20, 24f., 34, 39f., 65, 67, 81, 89, 91, 93, 95f., 98– 103, 108f., 111, 113f., 125, 129f., 134, 138–140, 142, 145, 149f., 154f., 159, 161f., 164–166, 169, 175–177, 180f., 188, 195–198, 201, 204, 218f., 222–224, 227f., 254f., 284, 287, 291, 301f., 319, 346f., 350, 354–357, 362, 365, 369, 371 Mikroskopisch 203, 207, 211, 213, 225f., 255 Mitleid 110, 183, 219 Mitose 208 Molekül 201–203, 207f., 210, 214f., 224f., 234, 236, 238f., 245–248, 355 Molekularbiologie 15, 18–20, 91, 198, 201–205, 226, 231, 233, 242f., 245, 248, 250, 252, 254f., 301f., 355– 357, 362, 366–369, 372 Molekulardarwinismus 204, 233f., 238, 241, 243, 248 Monomer 202, 236 Moral 17, 36–39, 62f., 100, 112, 134, 137–140, 142, 146–155, 158, 161– 165, 167, 171, 175–177, 182–184, 185–188, 190–192, 195, 218f., 229f., 244, 253, 282f., 322f., 328– 332, 334f., 337f., 340, 368f. Moralkritik 112, 154, 165, 176f., 184, 186 Moralphilosophie 60, 62f., 129, 140, 144f., 148, 150, 177, 180 Morphogenese 204, 221, 225, 245, 248, 369 Musik 103–108, 114, 118, 141, 229 Mutation 208, 210, 227, 238–241, 245, 369
Sachregister
Mystik 109f., 219, 249, 259–262, 265– 269, 271–278, 280, 299, 301f., 314, 332, 366
N Nationalismus 261, 263 Natur Natur 23, 26, 28–39, 41, 43, 51, 53– 60, 62f., 65–67, 71, 74–76, 79, 83–85, 87f., 97, 106, 108f., 111f., 114, 124, 129, 131, 134, 142f., 151, 153, 163f., 178f., 190, 193f., 196, 206–208, 211, 217, 222f., 227f., 235, 238, 243, 245f., 250f., 253, 256, 259, 262, 266, 269, 274, 277, 281, 287, 290, 300, 307, 312, 330f., 347, 351f., 357, 365, 368 Naturansicht 81–83 Naturerklärung 83 Naturgesetz 28, 32, 53, 83, 213, 238, 357, 361 Naturidee 86, 91, 361 Naturphilosophie 24, 31, 43, 53, 66, 68f., 72, 75f., 78, 80, 86, 179, 232, 235 Naturprodukt 29–33 Naturrecht 294, 300 Naturwissenschaft 19, 31, 40, 65, 67– 69, 75, 81, 86, 91, 98, 162, 168, 169f., 198, 204, 208f., 214, 217, 219f., 222, 229, 232, 241, 247– 249, 250f., 254, 256, 265f., 299, 334, 344f., 362 Naturzusammenhang 75f., 81f. Negative, das 60, 212, 367 Negentropie 212 Norm 98, 104, 114, 119, 131, 134, 230, 242f., 248f., 257, 281, 306f., 309f., 331, 340f., 372, 374 Notwendigkeit 18, 53, 65, 83, 121, 146, 175, 204f., 220–231, 239, 272, 280, 289, 294, 297, 324, 333, 357f., 362, 366, 372f. Nukleotide 202, 227 Nützlichkeit 149
419
O Offenbarung 19, 118, 226, 254, 276, 283, 305, 316, 367 Ökonomie 262, 343 Ökumenische, das 150, 159 Ontologie 69, 71, 100, 148, 150, 317, 318f., 322, 325, 330, 333, 359, 373 Operon 234 Organismus 5, 15f., 18–24, 26, 29–32, 34–36, 38–43, 46, 50, 53, 55–68, 74–77, 83, 85, 91–93, 95–98, 145, 162, 169, 179, 181, 197, 201, 203– 206, 208, 211–214, 224–226, 236, 238, 242, 251, 254f., 264, 274, 295, 301f., 314, 321f., 326, 354f., 357, 360, 362, 365f., 371 Orientierung 246, 257, 265, 284, 293, 329
P Parallelmagnetismus 207 Paramoral 154, 165 Person 60, 112, 115, 117, 122, 130, 144, 149f., 153, 292, 297, 317, 323, 328, 330–333, 339, 364, 370 Perspektivität 63, 66, 119, 123–125, 140, 142, 151, 174f., 182, 190, 194, 206, 257, 354, 359, 368 Perzeption 22, 251 Pflanzen 16, 21, 51, 82, 157, 212 Pflicht 61, 244, 247, 250 Phänomenologie 42, 43f., 46f., 53, 55– 57, 60, 63–66, 87, 144, 279, 280, 335, 360f., 368 Phänotyp 203, 207, 236 Philologie 142 Philosophie 16f., 21–24, 26, 37, 41–43, 60–64, 66–69, 71, 75, 81, 86, 89– 91, 93, 95–98, 100, 104, 109, 111, 115–117, 119, 129, 133, 135–138, 141, 157, 159, 161, 166, 168, 170, 176, 180, 184, 187f., 192f., 195, 197f., 201, 216, 219f., 223f., 228, 230f., 250, 252, 256, 258–262, 266f., 278, 280, 301–306, 310,
420
Anhang
314f., 317, 333f., 348, 353, 356, 359, 361f. Physiologie 18, 68, 72, 76, 80, 89, 142, 169, 189, 194, 205, 220 Polyvinylchlorid 202 Potentialität 122, 317–320, 323f., 330, 344 Prinzip 27, 31, 40, 42, 62, 64, 71, 74, 76, 82, 91f., 96, 100, 213f., 216, 227, 235, 238f., 245, 273, 280f., 306, 309, 315, 318, 323, 331, 339, 347, 360, 362, 369f. Profanisierung 326 Prophet 104, 139, 167f., 172, 176 Protein 224–226, 238, 366 Prozess 46f., 55, 132, 139, 147, 171, 225, 234, 242, 246, 251, 261, 263, 310, 314f., 318–320, 329, 349, 361 Psychologie 125, 128, 138, 141–145, 148, 153, 164f., 172, 176, 185, 195, 197, 324, 361
Q Qualität 41, 63, 233, 235, 283, 289, 319, 324, 327, 331, 373f. Quantentheorie 18, 166, 208–210, 213f., 231, 253 Quasispezies 240, 245
R Rasse 159, 216 Raum 86, 92, 97, 101, 114, 135, 170, 195f., 206, 224, 270, 308, 311, 321f., 328 Recht 28, 54, 60, 63, 73f., 81f., 86, 101, 118, 126, 140f., 146, 152, 154, 157f., 193, 214, 232, 244, 286, 289, 294–296, 298, 310, 330, 334, 340, 367 Redlichkeit 17, 119, 155f., 162, 165, 174, 183, 186, 196, 230, 333, 365, 369 Reflexion 16, 21, 25, 32, 34f., 40, 45f., 49, 56, 64, 66, 95, 155, 216, 220,
306f., 309, 311–315, 317, 348, 350– 352, 358–360, 365, 367 Reiz 144, 156 Relationalität, Relation 25, 29, 34, 38, 44, 52, 58, 78, 111, 129, 159, 253, 275, 307, 337, 356, 358, 360, 364 Religion 7, 39, 91, 123, 126, 138–140, 142, 148, 150f., 155, 161, 164f., 176, 188, 190, 192, 228, 255–257, 259f., 267, 276, 284, 286, 293, 301– 304, 306–310, 317f., 323, 325, 327– 335, 338, 347, 350, 362, 366, 370, 373, 375 Reproduktion 29, 203, 239, 240f., 245, 369 Ribonukleinsäure (RNS) 202, 234, 239
S Schema 16, 49, 92, 131, 133, 149, 238, 287, 316, 323, 344, 355 Schicksal 215, 263, 278, 319, 324, 326, 354, 358, 365 Schmerz 160f., 164, 188 Schöpfung 28, 36–38, 74, 85, 168, 225, 289, 292, 312, 327, 329, 344–347, 358, 374 Schrödingers Katze 209 Seele 21, 67f., 73f., 87f., 102, 120, 139, 153f., 158f., 174, 241, 364f. Sein 37, 44–48, 54f., 58f., 65, 70f., 90, 101, 114, 159, 193, 251, 265–268, 271, 276, 279–281, 283, 287f., 290, 293, 316, 318–320, 324–326, 328f., 331–334, 339, 346, 361, 363f., 367f. Selbstbestimmung 62, 140, 221, 287 Selbstbewusstsein 43–45, 54, 57, 60, 63f., 66, 87, 368 Selbstkonstitution 153 Selbstmord 151, 295, 297, 371, 376 Selbstorganisation 29–32, 35, 41, 233, 235, 238, 241f., 369 Selektion 227, 238f., 372 Setzung 70, 145 Sinn 98, 105, 122, 128, 133, 152, 155, 167, 173, 177, 186, 194, 197, 218, 221, 228, 250, 255, 257, 259, 263,
Sachregister
265, 267, 281f., 311, 315, 322, 328, 332, 335, 340, 358, 363, 372f., 375f. Sinnenwelt 25, 28, 45 Sitte, Sittlichkeit 60–63, 113, 194, 307 Soteriologie 314 Sozialismus 231f., 247, 250 Sterben 110, 151f., 160, 212, 219, 276, 289, 366, 375f., 379 Sterilisation 295, 297–299, 388 Stoffwechsel 181, 212, 234, 238, 366 Subjekt 27, 35, 60, 66, 87, 89, 102, 109, 133, 148, 153, 155, 178, 195, 287, 319f., 338–343, 345 Subjektivität 45, 66, 68, 307, 343 Suizid 151, 295, 297, 371, 376 Sünde 192, 284, 286, 289, 311, 313– 315, 324f., 363 Sündenfall 112, 291, 324 Supranaturalismus 304 Symbol 106, 257, 327 System 19, 36f., 43, 58f., 67, 76f., 85, 102, 114, 137, 211f., 215, 229f., 234, 237, 239, 254, 285, 304, 306, 308, 316–318, 320f., 323, 328, 353, 360, 365
T Tapferkeit 17, 155–157, 160, 162, 165, 174, 196, 369 Tat 21, 44, 53, 105, 135, 141, 217, 238, 240, 253, 255, 269, 277, 294, 311, 315, 350, 357, 375 Technik 187, 262, 319, 347 Teleologie 21, 23–25, 27f., 31, 34–37, 39, 57, 75, 92, 130–133, 148, 203, 221, 229, 231, 255, 274, 369 Teleomechanismus 75, 78, 81–83, 86, 91, 361, 365 Teleonomie 23, 204, 220f., 223f., 226f., 235, 245, 248, 366 Teloszipation 356, 379 Teufel 139, 184 Theologie 5, 19, 25, 38f., 102, 116, 123, 192, 195, 208f., 230f., 254–256, 261, 276, 283–288, 293f., 299, 301– 307, 309–311, 313–318, 320, 322f.,
421
325–327, 329f., 333f., 336, 339, 341, 344f., 349f., 362, 364, 369, 372, 374 Theologische Ethik 187, 258, 282, 336, 344, 347 Thermodynamik 18, 206, 209–212, 214, 216, 221f., 225, 228, 231f., 234, 245, 248, 357, 366 Thymin 202 Tier 30, 39, 124, 131, 149, 270, 274, 277 Tod 31, 110, 151f., 161, 165, 171, 190, 212, 274f., 278–283, 296f., 311, 314f., 326, 344, 355, 364–367, 370, 376f., 379 Tragödie 99, 103–108, 111–113, 118, 123, 129, 135, 141, 143, 180, 264 Transzendenz 20, 81, 334, 355f., 359– 361, 364, 367, 377 Trieb 21, 108, 142, 152f., 270, 274, 335 Trinität 314, 328 Tüchtigkeit 17, 134, 155, 196 Tugend 17, 91, 134, 155–158, 160, 163, 165, 172–175, 182f., 187f., 190, 196, 369, 372
U Überkreuzung 208 Übermensch 171, 284 Überwindung 45, 96, 160, 164f., 170f., 173, 218, 243, 247, 263, 275, 282, 314f., 327f., 334, 367 Umwertung 163, 167, 175–177, 191 Unbedingte, das 328, 359 Unendlichkeit 5, 15f., 20, 27, 45, 49– 52, 62f., 65, 79, 178, 182, 222, 246, 253, 255, 260, 265, 267, 270f., 273– 275, 302, 310, 312, 315, 322, 325f., 328, 334, 350, 353–355, 358f., 363f., 373 Universalismus 123, 177, 195, 205, 226, 267, 272, 274–277, 280, 300, 311, 318, 321f., 324f., 331, 355, 358f., 363, 366 Universum 204, 228, 232, 237, 372
422
Anhang
Unlust 87–89, 256 Unmoral 133, 152, 182 Uracil 202 Urbild 113, 309 Ur-Eine, das 106, 109–111, 125, 129, 132, 148, 170, 181, 186, 189, 195, 320 Ursächlichkeit 38 Ursprung 78f., 99, 105, 107, 227, 237– 239, 288, 294, 347f., 351f., 373 Urteilskraft 23, 25, 27f., 31–37, 40, 42, 64, 179, 221, 351, 357, 365
V Vedanta 219, 249 Verantwortung 287, 293f., 297, 299, 300f., 336–341, 343, 370 Vernunft 18, 25, 28, 36–39, 46–54, 56, 58, 64, 139, 151, 161, 163, 166, 178, 241, 244, 247, 249, 259, 261f., 265f., 290, 306, 316, 319, 333, 340, 344f., 351f., 369 Verstand 32–36, 40–42, 47, 63f., 121, 147, 351f. Vielheit 48f., 59, 312, 356 Virus 242 Vitalismus 22, 68f., 71f., 74f., 83, 222f., 228, 291, 299 Vitalität 72, 106f., 109, 113, 126, 130, 132, 147, 170, 186, 194
W Wagnis 114, 156f., 165, 171, 293f., 333 Wahrhaftigkeit 17, 134, 155, 174, 183, 196, 230, 267, 372 Wahrheit 44, 47, 50f., 53f., 56, 60, 73, 81, 87, 99, 102, 105, 110–112, 150f., 159, 162, 167, 184, 189, 194, 229, 237, 246, 256, 265f., 277, 306– 309, 313, 324, 344, 350, 357f., 361, 363 Wärmebewegung 207 Welt 37, 61–63, 65f., 74f., 81, 98–100, 111, 117, 129, 141, 146, 150, 154, 156, 162, 167, 169, 177, 179, 180f.,
189, 204, 220, 228, 242f., 246, 249, 256, 259, 262, 265, 267–269, 271f., 276, 280, 282f., 289, 292f., 310– 313, 315, 326, 331, 338–340, 344– 346, 352, 358, 368, 373, 375 Weltanschauung 255, 260f., 265–269, 274, 278, 284, 376 Wert 41, 66f., 86–89, 98, 145f., 157, 160, 165, 173, 185, 194, 197, 216, 224, 230, 237, 250, 256, 258, 260, 265, 274, 276, 278, 286f., 296, 321, 367, 371–374, 376 Wertphilosophie 86, 256, 330 Wesen, Wesenheit 16, 31f., 34–39, 44, 47–52, 56, 58, 64, 70, 76, 88, 97f., 137, 150f., 154, 156, 183, 189, 219, 224f., 227, 251f., 258, 262, 265– 267, 270, 274, 279, 288, 309, 312, 314, 323, 350, 362–364, 368, 373 Widerspruch 28, 30f., 42, 158, 161f., 174, 177, 209, 222, 227, 279, 286, 307–310, 314, 327, 333 Wiedergeburt 107, 113, 118f., 135, 143, 264 Wiederkunft, ewige des Gleichen 17, 163, 165, 169, 171, 175f., 189, 196, 355, 362 Wirklichkeit 22, 25f., 28, 32f., 35, 37, 51, 61, 78, 81, 90, 96f., 102, 107, 110, 121, 160, 178, 181, 183, 193, 212, 217, 229, 247, 257, 261, 263– 266, 272, 284f., 293, 305, 316, 324f., 330, 345–348, 358, 363, 368, 373 Wirkungsquantum, Plancksches 208 Wissenschaft 23f., 40, 42, 64, 67f., 79, 82, 84, 98f., 103, 113–116, 124, 126, 130, 132, 135, 138, 143–145, 147, 152f., 157–163, 174f., 181, 185, 188, 201, 211, 220, 228f., 245f., 250, 253, 264, 270, 285, 309, 329–331, 344, 346, 359, 373 Wohl 150, 263, 269, 302, 315 Würde 86, 90f., 121, 251, 277, 280f., 354, 361f., 371, 373, 376
Sachregister
Z Zeit 33, 68, 92, 97, 101, 105, 118f., 120, 123, 128, 131, 133, 137, 152, 158f., 162, 176, 188, 206, 209, 243, 245f., 261, 263, 270, 274, 283, 289, 299, 302, 305, 308, 311, 321f., 328, 333, 363, 373, 376 Zelle 204, 206, 224f., 237, 240, 251 Zellulose 202
423
Zufall 18f., 53, 90, 204f., 220–232, 235, 237, 239, 245, 254, 357, 362, 366, 372 Zweck 16, 26–29, 35–38, 56f., 61f., 75, 78, 90, 92, 97, 119, 123, 133, 173, 195, 255f., 265, 291f., 295, 319, 366, 368 Zweckmäßigkeit 23, 26–28, 31, 33, 35f., 39–42, 56–58, 72, 76f., 92f., 146, 235, 278, 298, 360, 371 Zweideutigkeit 48, 161f., 281, 313, 323, 325f., 333f., 378