Zentrierte Theologie: Karl Barths Beitrag zur Verständigung der theologischen Disziplinen [1 ed.] 9783666557996, 9783525557990


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Zentrierte Theologie: Karl Barths Beitrag zur Verständigung der theologischen Disziplinen [1 ed.]
 9783666557996, 9783525557990

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Karl Barths Beitrag zur Verständigung der theologischen Disziplinen

Georg Pfleiderer / Christiane Tietz / Matthias D. Wüthrich (Hg.)

Theologische Anstöße

Zentrierte Theologie

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© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

Theologische Anstöße

Herausgegeben von Michael Beintker, Johannes Eurich, Günter Thomas, Christiane Tietz und Michael Welker

Band 10 Georg Pfleiderer / Christiane Tietz /  Matthias D. Wüthrich (Hg.) Zentrierte Theologie © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

Georg Pfleiderer / Christiane Tietz /  Matthias D. Wüthrich (Hg.)

Zentrierte Theologie Karl Barths Beitrag zur Verständigung der theologischen Disziplinen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

Gefördert durch den SNF und die Karl Barth Stiftung Basel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz erlaubten Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Stellbrink graphik design, Bielefeld Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: o Hubert & Co, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9643 ISBN (Print) 978-3-525-55799-0 ISBN (PDF) 978-3-666-55799-6 https://doi.org/10.13109/9783666557996

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Vorwort

Im Karl Barth-Jahr 2019 fand vom 13. bis 15. Februar unter dem Titel Zentrifugale Christozentrik? Karl Barths Beitrag zur Verständigung der theologischen Disziplinen auf dem Landgut Castelen der Römerstiftung Dr. René Clavel in Augst / BL in der Schweiz ein internationales Symposion statt. Durchgeführt und organisiert wurde es vom Karl Barth-Zentrum für reformierte Theologie (KBZ) der Universität Basel in Kooperation mit dem Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR) der Universität Zürich. Das Symposion fragte nach der zeitgeschichtlichen Verortung und der gegenwärtigen Aktualität von Barths dogmatischer Theologie im Blick auf die anderen theologischen Disziplinen (Exegese, Theologiegeschichte, Ethik, Praktische Theologie) und ihren enzyklopädischen Zusammenhang. Die Beiträge, die im vorliegenden Band versammelt sind, bilden das Ergebnis und die reflektierte Fortführung dieser Diskussion ab. Über ihre Relevanz und Einordnung in aktuelle Debattenlagen informiert die Einleitung von Matthias D. Wüthrich. Jörg Frey geht die Thematik aus einer neutestamentlich-exegetischen Perspektive an; Gerhard Bergner reflektiert die Funktion von Barths Schriftauslegung. Peter Opitz setzt sich mit Barths Verständnis der Kirchengeschichte auseinander, Christophe Chalamet mit seiner Historischen Theologie. Friedrich Lohmann und Rebekka A. Klein analysieren Barths Ethik bzw. deren Grund­ legung. Die beiden anschließenden Beiträge denken in unterschiedlicher Weise dem Praktischwerden von Barths Christozentrik nach: einerseits in Barths Biographie (Marco Hofheinz), andererseits in seiner pastoralen Praxis, indem die Bedeutung der Barthschen »Wort Gottes«-Theologie für das Pfarramt reflektiert wird (Niklaus Peter). Der Band wird abgerundet durch die Beiträge von Notger Slenczka und Günter Thomas, die in verschiedener Weise Grundlagen der Theologie Barths und ihre Enzyklopädie behandeln. Mit diesen Einzelstudien ist selbstverständlich keine vollständige Erforschung von Barths interdisziplinärem und enzyklopädischem Denken beansprucht. Die Arbeiten geben ausgewählte Impulse, die dazu anleiten, umfassender nach der Tragfähigkeit und Relevanz der Theologie Barths zu fragen. Sie richten ihre Aufmerksamkeit darauf, wie Barth von seiner Dogmatik her stets das Gesamte der Theologie mitbedacht hat. Der vorliegende Band leistet damit einen Beitrag nicht nur zu einem wenig diskutierten Feld der Barthforschung, sondern auch zur Verständigung der theologischen Disziplinen. Denn Barths Überlegungen sind für die heutige akademische Theologie ebenso anstößig, aufregend wie herausfordernd! Wir bedanken uns bei den Autoren und der Autorin herzlich für die interessanten Beiträge und für ihre Bereitschaft, sich auf unsere Forschungsfrage nach Barths Beitrag zur Verständigung der theologischen Disziplinen einzulassen. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

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Vorwort

Unser Dank gilt sodann dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF), der die Finanzierung des Castelen-Symposions mitermöglicht hat. Ebenso dankbar sind wir für finanzielle Unterstützung seitens der Karl Barth-Stiftung und des Institutes für Hermeneutik und Religionsphilosophie. Für die Mithilfe bei der Organisation der Tagung danken wir Dr. Harald Matern und für die redaktionelle Mithilfe Dominik von Allmen-Mäder und Manuela Steine­ mann. Schließlich sei auch Frau Jehona Kicaj vom Verlag BRILL Deutschland GmbH / Vandenhoeck & Ruprecht für die kompetente Unterstützung bei der Drucklegung gedankt. Zürich / Basel, 17.  November 2022 Georg Pfleiderer, Christiane Tietz, Matthias D. Wüthrich

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Matthias D. Wüthrich Einleitung. Zum besonderen Profil von Barths theologischer Enzyklopädie . . . . . . 9 Jörg Frey Christozentrik und neutestamentliche Theologie. Überlegungen zur biblisch-theologischen Verankerung des theologischen Ansatzes von Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Gerhard Bergner »Je länger ich die Bibel zu mir reden ließ«. Die Funktion der Schriftauslegung in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik . 45 Peter Opitz Dialektisch-theologische Reformatoreninterpretation und die Frage nach der Sachbezogenheit der Kirchengeschichte . . . . . . . . . 62 Christophe Chalamet Karl Barth und die Praxis der Historischen Theologie. Schatten und Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Friedrich Lohmann »Die große Störung«. Karl Barths Ringen um die theologische Grundlegung der Ethik . . . . . 104 Rebekka A. Klein Theo-Politik. Barths Ideologiekritik und die Krise(n) der Demokratie in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Marco Hofheinz Vom Praktisch-Werden der Christozentrik. Oder: Wie Barth und Bultmann Weihnachten feiern . . . . . . . . . . . . . 151 Niklaus Peter Karl Barths »Wort Gottes«-Theologie in der pastoralen Praxis . . . . . . . 185

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Inhalt

Notger Slenczka »Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen …«. Gott als souveränes Subjekt der Theologie und das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit – der enzyklopädische Ansatz Karl Barths im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Günter Thomas Das Ende der intellektuellen Gemütlichkeit. Theologie unter der Voraussetzung der Lebendigkeit Gottes . . . . . . . . 228 Über die Herausgebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

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Matthias D. Wüthrich

Einleitung Zum besonderen Profil von Barths theologischer Enzyklopädie

Im Karl Barth-Jahr 2019 wurde auf vielen kirchlichen und akademischen Konferenzen und Veranstaltungen nach der Tragfähigkeit und Relevanz der Theologie Karl Barths gefragt. Eine Besonderheit des Karl Barth-Jahres darf dabei im Umstand gesehen werden, dass sich etliche Konferenzen und Veranstaltungen an der Ersterscheinung des Römerbriefkommentares von 1919 orientiert oder zumindest Barths Römerbriefkommentaren von 1919 und 1922 eine wichtige Bedeutung beigemessen haben. Dadurch rückte Barths Bibelbezug wieder stärker in den Fokus, insbesondere seine Paulusexegese, die teilweise auch von neutestamentlichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern reflektiert wurde.1 Trotz dieser Besonderheit beschränkte sich der Jubiläumsdiskurs  – soweit ich sehe  – weitgehend auf die innersystematische Tragfähigkeit und Relevanz der Theologie Barths und blieb sein Anspruch, das Ganze der Theologie in den Blick zu nehmen, kaum bedacht. Ich meine damit nicht nur den für Barths Theologie konstitutiven Bezug von Dogmatik und Ethik, sondern auch seine Reflexion auf das Verhältnis der Dogmatik zu ihren innertheologischen Nachbardisziplinen, insbesondere der biblischen Exegese, der Kirchengeschichte und der Praktischen Theologie – und deren enzyklopädischen Zusammenhang.2 Dieses Wahrnehmungsdefizit ist in doppelter Weise auffällig. 1 Vgl. z. B. die Tagungsbände: Chalamet / Dettwiler / Stewart-Kroeker, Karl Barth’s Epistle to the Romans; Dugan / Ziegler, The Finality of the Gospel. – Natürlich ist Barths Umgang mit den biblischen Texten bereits zu Lebzeiten und auch nach seinem Tod (v. a. seitens der Systematischen Theologie)  oft reflektiert und untersucht worden. Vgl. zum Beispiel die Monographien von Bächli, Das Alte Testament in der »Kirchlichen Dogmatik«; Bergner, Um der Sache willen; Bourgine, L’hermeneutique théologique de Karl Barth; Burnett, Karl Barth’s Theological Exegesis; Gignilliat, Karl Barth and the Fifth Gospel; Kirschstein, Der souveräne Gott und die Heilige Schrift; Miller, Seeing by the Light; Mützlitz, Gottes Wort als Wirklichkeit. 2 Im Blick auf die jüngere Barthforschung ist in dieser Hinsicht immerhin ein Bemühen zu beobachten, das Verhältnis zur Exegese zu reflektieren, vgl. etwa (neben den bereits genannten Monographien, die teilweise auch jüngeren Datums sind): Barths theologische Exegese (ZDTh 37.1 [2021]); Burnett, Barth and Theological Exegesis; ders., Exegesis; Gignilliat, Barth and Biblical Studies; Trowitzsch, Exegetische Arbeiten; Watson, The Bible; Wood, Exegesis. Auch einzelne Untersuchungen zum Verhältnis zur Kirchen- und Theologiegeschichte oder zur Praktischen Theologie lassen sich ausmachen: Vgl. für die theologie- und kirchengeschichtlichen Bezüge: Korsch, Theologiegeschichte; ferner die Beiträge zu »Barth

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Matthias D. Wüthrich

1. Barth hat den interdisziplinären Austausch praktiziert. Barths Theologie ist aus der Predigtnot des Pfarramtes geboren und war stets auf die Verkündigung der Kirche bezogen, war also eine im eminenten Sinne praktische, praxisbezogene Theologie3 (auch wenn sie keine Praktische Theologie war). Auch intensive Debatten mit der und über die Praktische Theologie und ihrer Rückwirkung auf die Anlage der Dogmatik sind nicht zu übersehen.4 Zugleich hatte Barth im Safenwiler Pfarramt intensiv exegetisch gearbeitet, sowohl für seine Predigten als auch für den Unterricht – und natürlich an seinem Römerbriefkommentar. Zudem hielt Barth während seiner Professuren in Göttingen, Münster, Bonn und vereinzelt in Basel auch exegetische Lehrveranstaltungen zu neutestamentlichen Briefen (und auch zur Bergpredigt).5 Die biblischen Schriften bilden nach Barth den »eigentlichen Grundtext«6 der Dogmatik und es verwundert darum nicht, dass sich in seiner Kirchlichen Dogmatik immer wieder ausgreifende exegetische Passagen zu den einschlägigen dogmatischen Sachfragen – mit für die Argumentation teilweise normativ-prägender Funktion – finden und mit diesen konstitutiv verbunden sind.7 Wie auch immer man die exegetische Qualität dieser Passagen aus heutiger Sicht beurteilen mag, für Barths Theologie sind sie entscheidend wichtig. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Barth auch einen intensiven Bezug zur Kirchengeschichte gepflegt hat, zumindest insofern sie auch Theologiegeschichte ist und als solche eine Zeugnis- und Zeugengeschichte des Evangeliums. Seine historischen Bemühungen um eine Erschließung des Heidelberger

and Patristic Theology«, »Barth and Mediaeval Theology«, »Barth and Reformation Theology« sowie »Barth and Protestant Orthodoxy« in: Jones / Nimmo, The Oxford Handbook of Karl Barth. Vgl. zu praktisch-theologischen Bezügen: Osmer, Barth and Practical Theology; Deborah Hunsinger, Barth and Interdisciplinary Method. – Die genannten Studien fokussieren dabei jedoch jeweils nur auf die Beziehung der Dogmatik zu einer Fachdisziplin und nicht auf das enzyklopädische Gesamt. Auch die Leuenberger Barthtagung von 2019, die insbesondere Barths Einführung in die evangelische Theologie von 1962 in den Blick nahm, hat diese enzyklopädische Dimension kaum thematisiert: Theologie – wie geht das? (ZDTh 35.2 [2019]). 3 Zu dieser Praxis gehört auch die »kerygmatisch-persuasive« Argumentationsstruktur von Barths Texten, vgl. Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie. 4 Erinnert sei hier – neben Barths intensivem Austausch mit seinem Freund, dem Praktischen Theologen Eduard Thurneysen – zum Beispiel an Barths Auseinandersetzung mit Emil Brunner über das Verhältnis der Fragen des »Was?« und »Wie?« in der Theologie, die auch Fragen der Praktischen Theologie betraf. Die Auseinandersetzung wurde u. a. durch Brunners Aufsatz Die andere Aufgabe der Theologie (1929) befördert und spitzte sich im Streit um die natürliche Theologie 1934 zu. Vgl. Barth, Nein!, 518–527, bes. 524 ff. 5 Für einen Kurzüberblick vgl. Trowitzsch, Exegetische Arbeiten. – Die Auseinandersetzungen Barths mit Rudolf Bultmann waren teilweise nicht nur dogmatischer, sondern auch exegetischer Natur. 6 KD I/1, VII. 7 Man denke etwa an die Auslegung der beiden Schöpfungsberichte in KD III/1, ­103–258.258–377.

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Einleitung

Katechismus (WS 1921/22), der Theologie Calvins (SS 1922), der Theologie Zwinglis (WS 1922/23) und der Theologie der reformierten Bekenntnisschriften (SS 1923)8 ist vor diesem Hintergrund ebenso zu würdigen wie seine prägnante und eigenwillige Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts.9 2. Doch Barth hat den interdisziplinären Dialog im Konzert der Theologie nicht nur praktiziert, sondern auch theologisch reflektiert. Zu denken ist dabei zunächst an seine umfangreiche Besprechung der Enzyklopädie Friedrich Schleiermachers (1923/24),10 später dann insbesondere an seine Äußerungen in der Kirchlichen Dogmatik11 und in seiner letzten Vorlesung Einführung in die evangelische Theologie (1962).12 Barth hat beim Nachdenken über das Verhältnis der theologischen Fachdisziplinen versucht, das Ganze der Theologie in den Blick zu nehmen. Dass dieses Bemühen trotz der Fokussierungen auf die beiden Römerbriefkommentare auch im Jubiläumsjahr kaum wahrgenommen wurde, mag darum tatsächlich erstaunen. Andererseits ist es vielleicht doch nicht so verwunderlich. Denn wenn man sich die einschlägigen Äußerungen in Barths Kirchlicher Dogmatik und in seiner Einführung in die evangelische Theologie genauer ansieht, so sticht ins Auge, dass diese für Barths Verhältnisse auffällig kurz gehalten sind. Und diese Beobachtung ist umso irritierender, wenn man sieht, wie intensiv Barth sich in frühen Jahren mit Schleiermachers Enzyklopädie auseinandergesetzt hat. War ihm die Verhältnisbestimmung der Dogmatik zu den anderen theologischen Fachdisziplinen und ihr enzyklopädischer Zusammenhang schlicht nicht wichtig genug? Konnte er ihr keinen wesentlichen intrinsischen theologischen Wert für die Dogmatik abgewinnen? Ich vertrete hier die These, dass Barth der Verhältnisbestimmung der Dogmatik zu den anderen theologischen Fachdisziplinen und der theologischen Enzyklopädie durchaus dogmatisches Gewicht beigemessen hat. Ihre dezente Darstellung ist nicht Ausdruck ihrer Geringschätzung, sondern der Art und Weise, wie Barth diese interdisziplinären Relationierungen konzipiert hat! Diese These sei im Folgenden anhand von zentralen Aussagen Barths erläutert. Ihre Erläuterung bildet zugleich eine Heranführung an die Thematik des Bandes: a) Im Kontext seiner Ausführungen zur Frage nach der »reinen Lehre als Problem der Dogmatik« in KD I/2, § 22.2 kommt Barth etwas ausführlicher auf die fachdisziplinäre Struktur der Theologie zu sprechen.13 Er betont dabei die innere Einheit dieser Disziplinen, die, wie bereits eingangs von KD I/1, § 1, 8 Vgl. Barth, Die Theologie Calvins; ders., Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften; ders., Die Theologie Zwinglis. 9 Barth, Die protestantische Theologie. 10 Barth, Die Theologie Schleiermachers, § 4, 245–317. 11 Vgl. besonders KD I/1, 1–10; KD I/2, 857–867 (zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik bes. KD I/2, 875–890); KD IV/3, 1007–1011. 12 Barth, Einführung, bes. 187–200. 13 Vgl. KD I/2, 857–867.

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Matthias D. Wüthrich

allein in der Dreigestalt von biblischer, dogmatischer und praktischer Theologie besteht – die Kirchengeschichte stellt für Barth also hier wie dort keine eigenständige Disziplin dar.14 Er unterscheidet dabei im Bereich der biblischen Theologie nicht zwischen alt- und neutestamentlicher Wissenschaft, im Bereich der dogmatischen Theologie nicht zwischen Dogmatik und Ethik15 und im Bereich der praktischen Theologie nicht zwischen Homiletik / Liturgik, Seelsorge und Religionspädagogik. Barths Betonung liegt ganz auf der Einheit des Vollzuges theologischer Reflexion, die in einer exegetischen explicatio anhebt, in der praktisch-theologischen applicatio zum Ziel kommt und im dogmatischen Übergang des Nachdenkens zwischen beiden ihre kritisch-konstruktive Mitte hat. In dieser dogmatischen Mitte, wo es um die inhaltliche Was-Frage geht, herkommend von der exegetischen Woher-Frage und endend in der praktisch-theologischen Wie-Frage, befindet man sich »im eigentlichen Zentrum der ganzen Theologie«.16 Barth versteht darum die Dogmatik als »theologische[] Zentraldisziplin«.17 In der Mitte zwischen Bibel und Kirche ist sie, wie die Exegese und die Praktische Theologie, ganz auf das Reden der Kirche, auf ihre am Ereignis des Wortes Gottes auszurichtende reine Verkündigung in den vielfältigen kirchlichen Praxisfeldern orientiert. Nur in diesem Gegenüber zur Kirche, in deren Raum sie immer schon steht, ist sie »ordentliche« Dogmatik und kann sie dann auch ihrer Funktion als »zusammenhaltende Mitte« der anderen theologischen Disziplinen nachkommen.18 Ohne diese Mitte drohte nämlich die Exegese »sich aufzulösen in der Kirchengeschichte« und die Praktische Theologie »in einer Sammlung von mehr oder weniger willkürlich gewählten und erteilten technischen Ratschlägen«.19 Barth richtet sich gegen diese Auflösungserscheinungen, die aus einer Zeit stammen, die ihm zufolge »noch nicht weit zurück« liegt und die durch ein geringes »wissenschaftliche[s] Selbstbewusstsein« der Theologie und Dogmatik geprägt war.20 Dieser Zeit gegenüber zeichnet Barth in den Prolegomena der Kirchlichen Dogmatik das Bild einer in ihrem genuinen Sinn wissenschaftlichen Theologie, die im Raum der Kirche in der Dogmatik ihr Zentrum hat, die im Wesentlichen aus nur drei theologischen Fachdisziplinen besteht, die durch die

14 Vgl. KD I/1, 3. Später schreibt Barth: »Der enzyklopädische Grundriß der Theologie muss lauten wie in §I.1 angegeben: exegetische, dogmatische und praktische Theologie.« (KD I/1, 367.) Barth führt diese Dreistruktur – vor dem Hintergrund von Luthers Unterscheidung von »Grammatica, Dialectica und Rhetorica« – sogar auf die Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes bzw. die innere Logik des Offenbarungsbegriffes zurück (ebd., 367)! 15 Barth erläutert den differenzierten Zusammenhang von Dogmatik und Ethik gleich im anschliessenden Abschnitt § 22.3 unter dem Titel »Dogmatik als Ethik«. 16 KD I/2, 858. 17 Ebd., 864. 18 Ebd., 863. 19 Ebd. 20 Ebd.

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Einleitung

Dogmatik zentral vereinigt sind, und die im Blick auf ihre Aufgaben in diesem Raum »völlig, oder fast völlig ineinanderliegen«!21 b) Gegenüber diesen enzyklopädischen Ausführungen in den Prolegomena zeichnet sich in Barths Spätwerk eine Verschiebung ab. Sie wird zunächst in KD IV/3, § 72.4 greifbar, wo Barth im Kontext des Dienstes der Gemeinde auch kurz auf die Theologie zu sprechen kommt, die auf diesen Dienst bezogen ist. Wie bereits angedeutet, hat Barth die Kirchengeschichte in KD I/1 als »die unentbehrliche Hilfswissenschaft der exegetischen, der dogmatischen und der praktischen Theologie« bezeichnet, die nicht als selbständige Disziplin aufzufassen ist.22 In KD IV/3, § 72.4 zählt Barth hingegen neben der exegetischen, der systematischen23 und der praktischen Theologie auch die »Kirchen- und Dogmengeschichte nebst Symbolik und Konfessionskunde« zu den theologischen Disziplinen.24 Zudem fällt auf, dass Barth nicht mehr von einer Zentralstellung der Dogmatik bzw. systematischen Theologie spricht, sondern von einer konstitutiven reziproken Verwiesenheit der vier genannten Disziplinen ausgeht. Barth schreibt: Keines dieser vier Elemente [sc. der vier Fachdisziplinen] darf fehlen und keines von ihnen darf der Beziehung zu den drei anderen entbehren, wenn Theologie auf der ganzen Linie kritische Wissenschaft im Zusammenhang des Dienstes der christlichen Gemeinde sein und bleiben soll: Vollzug der ihr in jeder Zeit und an jedem Ort bitter nötigen Selbstprüfung.25

Problematisch wird es für die Theologie dann, wenn es »zu einem Auseinanderbrechen ihrer vier Grundelemente in ein Verhältnis gegenseitiger Indifferenz oder eines latenten oder manifesten Widerspruchs kommt«.26 Und das geschieht nach Barth da, wo sie in irgendeiner der Disziplinen ihres Themas verlustig geht, wo sie nicht mehr wortgottesgemäße Reflexions- und Prüfungsinstanz im Zusammenhang des Dienstes der Gemeinde ist. Auch in KD IV/3 ist also die enzyklopädische Einheit der Theologie über ihren Sachbezug gesteuert, doch sie ist nicht mehr über die Dogmatik vermittelt. c) Ein ähnliches Bild ergibt sich in der drei Jahre später publizierten Einführung in die evangelische Theologie. Wie Barth selber andeutet,27 hat er in dieser seiner letzten Vorlesung nicht nur, aber auch eine kleine und durchaus konzise theologische Enzyklopädie vorgelegt. Dass Barth sein Buch nicht »Einführung in die evangelische Dogmatik«, sondern »… in die evangelische Theologie« genannt hat, ist auf der ganzen Linie beabsichtigt. Barth hat in seiner 21 Ebd., 857. 22 KD I/1, 3. 23 Barth spricht nicht mehr von einer dogmatischen Theologie, versteht aber unter der systematischen Theologie insbesondere die Dogmatik, vgl. KD IV/3, 1009. 24 Ebd., 1008. 25 Ebd., 1009. 26 Ebd. 27 Barth, Einführung, 19.

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Vorlesung durchaus das Gesamt der Theologie im Blick. Umso mehr erstaunt es, dass er abgesehen von wenigen Andeutungen erst im letzten Teil (Teil IV, Kap. 15) auf die verschiedenen Disziplinen der Theologie zu sprechen kommt, und da bemerkenswert kurz!28 Barth geht auch an dieser Stelle von den vier erwähnten theologischen Fachdisziplinen in ihrer konstitutiven reziproken Verwiesenheit aus.29 Und wiederum steht bei allen vier Disziplinen in gleicher Weise der Gegenstandsbezug im Vordergrund, der der Theologie ihren »Ort« vorgibt, nämlich: »die ihr von innen zugewiesene, von ihrem Gegenstand her notwendige Ausgangsposition, von der her sie in allen ihren Disziplinen – den biblischen, den historischen, den systematischen, den praktischen  – vorzustossen hat«.30 Dieser Gegenstand meint – und da bleibt sich Barth über die Jahre hin treu – Gott in seiner Selbstoffenbarung, also letztlich Jesus Christus als das eine Wort Gottes, auf das hin und von dem her das kirchliche Reden zu prüfen ist. Das bedeutet: Der Forschungsgegenstand der Theologie setzt selbst eine an ihm und von ihm her gewonnene normative Perspektivierung seiner selbst voraus. Rückblickend auf die eben skizzierte dynamische Entwicklung31 von Barths Verständnis der theologischen Enzyklopädie lassen sich vier wesentliche Punkte festhalten: 1. Barth räumt den theologischen Fachdisziplinen und ihrer sachlichen Relationierung in seiner dogmatischen Darstellung auffällig wenig Raum ein. Diese bemerkenswerte Kürze hängt aber nicht an der Irrelevanz der enzyklopädischen Thematik, sondern an der sachlich sehr engen Verwobenheit der theologischen Teildisziplinen im Hinblick auf ihren sie gleichermaßen konstituierenden Gegenstandsbezug. Denn nach Barth ist es so, dass ihre Aufgaben, wie erwähnt, »völlig, oder fast völlig ineinanderliegen«.32 2. Trotz der Verschiebung innerhalb der Kirchlichen Dogmatik kann der Gegenstandsbezug aller theologischen Disziplinen in gleicher Weise als das im Rahmen der Selbstprüfung kirchlichen Redens zu bedenkende Wort Gottes, als Jesus Christus, bestimmt werden. Es ist also eine spezifische Christozentrik, die sowohl das inhaltliche Profil als auch den enzyklopädischen Zusammenhalt der theologischen Disziplinen konstituiert und auch reguliert. 3. Zusammengenommen kann man die beiden erstgenannten Punkte eigentlich nur dahingehend interpretieren, dass Barth sich dezidiert gegen eine weitere fachwissenschaftliche Ausdifferenzierung der Theologie wehrt bzw. die Theologie angesichts ihrer bereits bestehenden disziplinären Ausdif28 Ebd., 187–200. 29 Die Gleichwertigkeit der Disziplinen dürfte hier auch dann gelten, wenn Barth durch die Unterscheidung von Haupt- und Nebengespräch eine gewisse Gewichtung vornimmt (vgl. ebd., 190). Er ordnet freilich die Funktion des Hauptgespräches nicht einfach einer der Disziplinen direkt zu, auch nicht den biblisch-exegetischen Fächern (vgl. ebd., 191). 30 Ebd., 24. 31 Vgl. zu dieser Entwicklung auch den Beitrag in diesem Band von Christophe Chalamet, Karl Barth und die Praxis der Historischen Theologie: Schatten und Licht. 32 KD I/2, 857.

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Einleitung

ferenzierung auf ihren allen Disziplinen gemeinsamen Gegenstandsbezug hinweist, sie zu ihrer »Sache« ruft. Dass Barth gegen die zentrifugalen Kräfte der ›Fach­verwissenschaftlichung‹ der einzelnen theologischen Disziplinen gerade die zentripetalen Kräfte stark macht, ist Programm, bzw. gehört zum Gegenprogramm seiner spezifisch christozentrisch zentrierten Offenbarungstheologie! Die von Gerhard Ebeling später in seiner theologischen Enzyklopädie beklagte »Orientierungskrise«, nach der der »Zugang zum Einen und Ganzen gestört« und der »Gegenstands- und Aufgabenbereich der Theologie in ein verwirrendes Konglomerat von einzelnem« zerbröckelt,33 dürfte Barth ebenfalls vor Augen gestanden haben, auch wenn er sie inhaltlich und genetisch anders bestimmt hat. 4. Da im vorliegenden Band nur ganz am Rande darauf eingegangen wird, sei es auch hier nur kurz angedeutet: Barths zentrisch-theologische Enzyklopädie hängt natürlich engstens mit seinem Wissenschaftsverständnis zusammen. Nach Barth ist für die Wissenschaftlichkeit der Theologie ihre Sachgemäßheit entscheidend, d. h. ihr dem Wort Gottes entsprechender Gegenstandsbezug.34 Ob und inwiefern die Theologie und ihre Disziplinen vor diesem Hintergrund auch als »Wissenschaft« in einem allgemeinen Sinne anzusprechen sind, ist ihm zufolge keine »Lebensfrage für die Theologie«.35 Entsprechend hält er später die Konzeptionierung ihrer universitären Einbettung für eine »cura posterior«.36 Gerade an diesem Punkt liegt nach Barth eine Differenz zu Friedrich Schleiermacher, bei dem er eine »Auslieferung der Theologie an den allgemeinen Wissenschaftsbegriff« kritisiert.37 In der Tat ist nicht zu übersehen, dass Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1811/1830) die Theologie gerade als »positive« Wissenschaft weit stärker an das zeitgenössische universitäre Wissenschaftsverständnis anschließt38 und entsprechend gründlich dann auch die interne Ausdifferenzierung der Fachdisziplinen darstellt und reflektiert. Ähnlich verhält es sich auch mit späteren theologischen Enzyklopädien, wie etwa derjenigen Gerhard Ebelings oder Wolfhart Pannenbergs.39 Beide, so grundlegend sie sich auch voneinander unterscheiden, sind doch um ein viel intensiveres Gespräch bezüglich des Wissenschaftscharakters 33 Ebeling, Studium, 1 f. 34 Vgl. KD I/1, 1–10. Vgl. Barth, Einführung, 58 f. 35 KD I/1, 5. 36 Barth, Einführung, 24. 37 KD I/1, 8 f. 38 Man denke beispielsweise an § 6, der den Bezug auf die universitären Wissenschaften voraussetzt: »Dieselben Kenntnisse [sc. die wissenschaftlichen Kenntnisse der christlichen Theologie], wenn sie ohne Beziehung auf das Kirchenregiment erworben und besessen werden, hören auf theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalte nach angehören.« Schleiermacher erläutert: »Diese Wissenschaften sind dann der Natur der Sache nach Sprachkunde und Geschichtskunde, die Seelenlehre und Sittenlehre nebst den von dieser ausgehenden Disciplinen der allgemeinen Kunstlehre und Religionsphilosophie.« (Schleiermacher, Kurze Darstellung, 142 f.) 39 Vgl. Ebeling, Studium; Pannenberg, Wissenschaftstheorie.

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der Theologie und ihrer Fachdisziplinen bemüht. Mit diesen Beobachtungen sei keineswegs bestritten, dass Barth einen selbstbewussten Geltungsanspruch der Theologie im Rahmen des an den Universitäten geführten Wissenschaftsdiskurses vertritt.40 Doch die Begründung und die interne Rationalität dieses Anspruches unterliegen nicht den Voraussetzungen und Kriterien allgemeiner Wissenschaftsbegriffe bzw. dem, was Barth im Anschluss an Heinrich Scholz als »Wissenschaftsbegriff unserer Zeit«41 interpretiert. Darum bedarf dann – das scheint zumindest Barths Annahme zu sein – auch der je spezifische Bezug der einzelnen Fachdisziplinen auf diesen Wissenschaftsbegriff keiner ausführlichen Darstellung. Fragt man heute nach der Tragfähigkeit und Relevanz der Theologie Barths, so kommt man nicht umhin, Barths Versuch, das Ganze der Theologie zu denken und zu begründen, einzubeziehen. Man muss dann fragen, wie Barths Verhältnisbestimmung der Dogmatik zu den anderen theologischen Disziplinen und das entsprechende enzyklopädische Verhältnis aller Disziplinen untereinander zu beurteilen ist. Konnten Barths diesbezügliche christozentrisch-offenbarungstheologische Bestimmungen damals von den Fachdisziplinen nachvollzogen werden? Sind sie aus heutiger Sicht noch tragfähig und sinnvoll – aus der Sicht der Systematischen Theologie und aus der Sicht der anderen theologischen Disziplinen (sofern heute wohl jede theologische Enzyklopädie eine disziplinär multiperspektivische sein muss42)? Ermöglicht oder verhindert Barths christozentrischer Ansatz ein Gespräch zwischen den theologischen Disziplinen? Ist Barths Position fähig, die theologischen Disziplinen so auf ihren Sachbezug zu konzentrieren, dass sie nicht um ihr eigentümliches fachwissenschaftliches Profil gebracht werden? Verfügt Barths Ansatz über ausreichende Bindekräfte, damit die unbestreitbar notwendigen fachwissenschaftlichen Expertisen sich nicht so verselbständigen, dass sie das eigentümliche Gesamt der Theologie auseinanderbrechen lassen? War und ist Barths Enzyklopädie universitär anschlussfähig, und wenn ja, inwiefern? Der vorliegende Band widmet sich diesen und weitere Fragen und möchte damit einen Beitrag zur Barthforschung und zur Verständigung der theologischen Disziplinen leisten. 40 Vgl. KD I/1, 9 f. Erinnert sei hier zudem an die vielzitierte Aussage Barths, dass »alle Wissenschaften in ihrer Spitze Theologie sein« könnten (ebd., 5). 41 Vgl. ebd., 7. 42 Vgl. den dialogisch angelegten Sammelband: Albrecht / Gemeinhardt, Themen. – Zu den Anforderungen einer zeitgemässen Enzyklopädie dürfte zudem gehören, dass der Fächerkanon nicht nur ausdifferenziert (im Falle der Praktischen Theologie z. B. in Seelsorge, Liturgik, Religionspädagogik), sondern auch erweitert (etwa um die Disziplinen Religionswissenschaft und Philosophie) und im Verhältnis zu angrenzenden Bezugswissenschaften (im Falle der Seelsorge etwa die Psychologie) und aus deren Perspektive reflektiert wird. In dieser Hinsicht ist der zitierte Band von Albrecht / Gemeinhardt ebenfalls vorbildlich, wenn auch nicht im Blick auf alle Fächer. Ansätze zu diesen diskursiven Ergänzungen finden sich freilich schon in: Ebeling, Studium.

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Einleitung

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Jörg Frey

Christozentrik und neutestamentliche Theologie Überlegungen zur biblisch-theologischen Verankerung des theologischen Ansatzes von Karl Barth

Unter dem Thema ›zentrierte Theologie‹ soll in diesem Band der Beitrag Karl Barths zu den unterschiedlichen Fächern der Theologie und damit auch das Verhältnis der Theologie Barths zur neutestamentlichen Exegese und Theologie ausgeleuchtet werden. Dabei geht es nicht primär um Barth als Exegeten, um die Korrektheit seiner Auslegungen im Einzelnen, vom ersten Römerbrief bis zur Johannes-Vorlesung und den exegetischen Exkursen in der Kirchlichen Dogmatik.1 Es geht vielmehr grundlegender um die biblisch-theologische Bezogenheit und Angemessenheit seiner dogmatischen Gesamtperspektive und um die Verantwortbarkeit einer an Barth angelehnten Theologie vor dem biblischen und v. a. neutestamentlichen Gesamtzeugnis. Dazu kann ich nur sehr skizzenhafte Überlegungen bieten und muss auf Detailbegründungen weithin verzichten. 1.

Karl Barth als Schriftausleger und die Christozentrik seiner Theologie

In der heutigen Exegese wird Karl Barth nur am Rande wahrgenommen. Er gilt als Dogmatiker, und Dogmatik oder gar Dogmatismus hat in gegenwärtigen Diskursen einen schlechten Ruf. Gelegentlich werden prononcierte Dicta aus seinen Auslegungen zitiert, aber vornehmlich als wirkungsgeschichtliche Beigaben, seltener als scharfsichtige Formulierungen, die das Wesentliche eines Textes präzise auf den Punkt bringen. Seine Exegesen sind fast hundert Jahre alt, formuliert in einem völlig anderen Forschungskontext als dem gegenwärtigen, in Bezug auf heute überholte Hypothesen und mit einem dezidiert theologischen, nicht historisch-erklärenden Interesse. Keine Theologie, auch wenn sie noch so ›biblisch‹ sein will, verwendet die biblischen Schriften gleichgewichtig und ›gleich gültig‹, vielmehr ist in jeder theologischen Interpretation eine je anders bestimmte Perspektivität wahrnehmbar. Waren es bei Luther die Paulusbriefe, v. a. der Galaterbrief, die den 1 Die Exegesen Barths wurden schon mehrfach und unter unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht. Vgl. den Forschungsbericht bei Bergner, Um der Sache willen, 22–39; und die dort genannten Arbeiten, insbesondere Sharp, The Hermeneutics of Election; Kim, Die Universalität der Versöhnung; Denker, Das Wort Gottes wurde messianischer Mensch.

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Jörg Frey

Schlüssel zur theologischen Erkenntnis boten, so ist es bei Barth ungeachtet des gesamtbiblischen Reichtums der von ihm zitierten und interpretierten Schriften und seines intensiven Hörens auf sehr unterschiedliche Zeugnisse neben Paulus besonders die johanneische Theologie.2 Johannes, und hier konzentriert der Prolog, nimmt für Barths Theologie eine Schlüsselfunktion ein.3 Dieser Text, in dem Gott und Christus in unüberbietbarer Weise im Uranfang und im Ausgangspunkt des Schöpfungs- und Heilsgeschehens zusammengedacht werden, ist für Barths Denken in der Schriftlehre in KD I/1 wie auch der Erwählungslehre in KD II/2 schlechterdings grundlegend. Vom Johannesprolog aus (Joh 1,18) ist der lapidare dogmatische Grundsatz »Jesus Christus ist die Offenbarung Gottes«4 begründet. Die ganze Offenbarung Gottes subsistiert in der Wirklichkeit, ja der Geschichte Jesu Christi,5 und in diesem Text ist zugleich die Gottheit Jesu Christi (Joh 1,1 f.18) wie auch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus (Joh 1,14) und damit die Prädikation Jesu Christi als Mensch und Gott begründet. Wenn man hier biblischtheologisch zu Recht den Ausgangspunkt theologischen Denkens und Redens sehen kann, dann ist auch ein ›christozentrischer‹ Ausgangspunkt gegeben. Es ist kein Zufall, dass Barth auch in der christologischen Grundlegung sei­ner Erwählungslehre eine breite Exegese von Joh 1,1–2 bietet,6 wobei er die Aussagen des Johannesprologs durchaus sachgemäß mit den Aussagen des Kolosserhymnus (Kol 1,15.17.19), des Proömiums des Hebräerbriefs (Hebr 1,3) und des Epheserbriefs (Eph  1,10.23) zusammen liest. Die Erwählung Jesu Christi und die Erwählung der Menschheit zum ›ewigen Leben‹ (vgl. Joh 3,16) werden so im Uranfang, neben oder hinter dem es kein ›Zuvor‹ geben kann, verankert, in Barths Worten: Jesus Christus ist »der erwählende Gott« und »der erwählte Mensch«.7 Dabei sieht Barth (auch gegenüber den Exegeten seiner Zeit) zu Recht, dass Joh 1,1 f nicht nur von einem logos asarkos redet, von einem Wirken des Logos ›vor‹ seiner Inkarnation, in der Schöpfung oder in Israel, sondern bereits im Blick auf das geschehene Kommen, Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu formuliert ist und so bereits den ganzen Jesus Christus im Blick hat. Ob man sich dabei ›historisierend‹ einen präexistenten ›Gottmenschen‹ Jesus Christus vorstellen sollte,8 sei dahingestellt. Doch geht es Barth hier ebenso wenig wie dem Johannesevangelium um protologische Spekulation, sondern um eine evangeliumsgemäße und eben darin christliche Reformulierung der Erwählungs- und zugleich der Gotteslehre. Damit wird 2 Vgl. Krötke, Die Christologie Karl Barths, 10 f. 3 Vgl. Denker, Das Wort wurde messianischer Mensch, der »die verschiedenen Auslegungen des Johannes-Prologs als Wegmarken der theologischen Entwicklung Barths« beschreibt (Bergner, Um der Sache willen, 37). 4 KD I/1, 142. 5 Vgl. Schelhas, Christozentrische Schriftauslegung, 276. 6 KD II/2, 102–106. 7 Ebd., 157. 8 Vgl. zu den Implikationen der Exegese Barths und der Kritik Brunners: Wüthrich, Präexistenz Jesu Christi, 338–340.

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der oft als ›mythologisch‹ abgewerteten Rede von der Erwählung »vor Grundlegung der Welt« (Eph 1,3; vgl. Joh 17,24) ihr theologischer Ort zuerkannt, insofern durch sie die Botschaft vom Heil in Christus durch die Verankerung in Gottes vorauslaufenden Liebeswillen in ihrer eschatologischen Gültigkeit bekräftigt wird. Die Sendung Christi zur Rettung der Welt (Joh 3,16 f ) ist mithin nicht nur eine Episode im Verlauf der Heilsgeschichte, oder gar eine Maßnahme des Schöpfers, nachdem andere Maßnahmen in der Heilsgeschichte scheiterten, so dass deren Gültigkeit dann ebenfalls nur unter Vorbehalt formuliert werden könnte. Vielmehr ist das zugesprochene ›ewige Leben‹, zusammen mit der Inkarnation und Sendung Jesu in Gottes uranfänglichem Willen begründet, der in der uranfänglichen Einheit von Vater und Sohn als Liebe bestimmt ist. Gerade wenn die Offenbarung Gottes allein in der Sendung und der Geschichte Jesu Christi zu finden ist, dann ist Jesus Christus Ausgangs-, Mittel- und Zielpunkt allen theologischen Denkens, was nach dem Johannesevangelium natürlich nicht ›in Konkurrenz‹ zu Gott dem Vater zu denken ist, sondern auf der Basis der liebenden Einheit von Vater und Sohn und ihres uranfänglichen Beieinander als einer ›binitarischen‹ (wenngleich noch nicht trinitarischen) Struktur.9 In der Konsequenz daraus legt sich eine christozentrische Struktur des theologischen Denkens nahe, doch stellt sich die Frage, wie diese Christozentrik vor dem Gesamtzeugnis des Neuen Testaments und der ganzen Bibel mit ihren vielfältigen und häufig auch spannungsreich gegeneinanderstehenden Aussagen zu rechtfertigen ist. Führt dies nicht zu einem ›Christomonismus‹, der andere Aspekte wie die Trinitätslehre oder auch die weltliche Lebenswirklichkeit ausblendet oder abwertet? 2.

Christozentrik als biblisch-theologisches Problem

Mit der Frage nach der Christozentrik ist biblisch-theologisch eine Vielzahl von Spannungsfeldern berührt: so natürlich zwischen Altem und Neuem Testament, evtl. auch zwischen unterschiedlichen theologischen Entwürfen innerhalb des Neuen Testaments und auch sachlich zwischen Schöpfung bzw. Weltwirklichkeit und Erlösung. Implizit stellt sich mit der theologischen Exegese Barths die im späten 20. Jh. v. a. in Tübingen heftig diskutierte Frage nach der Möglichkeit einer gesamtbiblischen Theologie.10 Wie können wir all diesen Fragen gerecht werden? Ist die theologische Frage nach einer möglichen Einheit oder Kohärenz der biblischen Tradition überhaupt zu beantworten, ist sie überhaupt legitim? Die exegetische Wissenschaft hat in den letzten zwei Jahrhunderten eher das Spiel der immer weitergehenden Differenzierung betrieben und den Mut zur Synthese verloren, zur 9 Vgl. Frey, Between Jewish Monotheism and Proto-Trinitarian Relations, 218–221. 10 Vgl. insbesondere die Ansätze von Gese, Zur Biblischen Theologie; Stuhlmacher, Biblische Theologie I–II.

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Suche nach dem Gemeinsamen in den verschiedenen »Theologien« des Neuen Testaments11 oder gar in der gesamten biblischen Traditionsbildung, im christlichen Kanon. Zudem ist heute mehr denn je die Problematik der Prozesse der Kanonbildung bewusst, die nicht nur eine ›Geschichte der Sieger‹12 abbilden, sondern auch von vielen ›Zufällen‹ im Detail bestimmt sind, so dass jede Rede von der Einheit der Schrift nur als Postulat erscheint, und von der dahinter stehenden ›providentia Dei‹ nur im Sinne eines Glaubenssatzes gesprochen werden kann. Lässt sich in diesem Gefüge eine ›Mitte‹ bestimmen, und kann ›Christus‹ als diese bestimmt werden? Und was wäre dann mit ›Christus‹ gemeint? Etwa die explizite Rede von Jesus, die Reflexion von dem erhöhten Christus her, eine wie auch immer auf ihn bezogene ›Botschaft‹, oder auch nur sein im Alten Testament vorauslaufender ›Schatten‹? Drei Differenzierungsprozesse erschweren die Rede von der Christozentrik: a) Altes und Neues Testament sind spätestens im frühen 20. Jh. durch die Trennung der theologischen Disziplinen auseinandergetreten. Dass im Alten Testament nicht explizit von Jesus Christus gesprochen wird, ist klar, und eine christologische Lektüre des Alten Testaments, wie sie noch Barths Zeitgenosse Wilhelm Vischer praktizierte,13 lässt sich heute nicht mehr durchführen. Auch der ›heilsgeschichtliche‹ Ansatz, mit dem der große Entwurf von Gerhard von Rad14 die alttestamentliche Theologie ausgehend vom Motiv des göttlichen Rettungshandelns in der Geschichte erfasste, um dann in der Offenheit für ein neues, eschatologisches Gotteshandeln einen Anknüpfungspunkt für die Christusoffenbarung zu sehen, ist heute entscheidend problematisiert.15 Spätere Entwürfe haben die Mitte des Alten Testaments in der Namensoffenbarung,16 der Bundesformel17 oder im ersten Gebot18 lokalisiert, und zunehmend traten die Entwürfe später Redaktionsschichten19 und die Verknüpfung 11 So dezidiert Hahn, Theologie des Neuen Testaments. Der Verzicht auf die Suche nach Gemeinsamkeiten und das relativ unverbundene Nebeneinander divergenter ›Theologien‹ kennzeichnet demgegenüber das Werk von Schnelle, Theologie des Neuen Testaments. 12 So z. B. Judäa vs. Samaria (in der Sammlung der jüdischen Schriften); Hebräische Schriften vs. weitere griechische Schriften (in der jüdischen Fixierung des Kanons der ›Hebräischen Bibel‹); paulinische Mission und paulinischer Einflussbereich vs. andere Missionen (im Schwergewicht des neutestamentlichen Kanons), etc. 13 Vgl. Vischer, Das Christuszeugnis des Alten Testaments, Teil 1; ders., Das Christuszeugnis des Alten Testaments, Teil 2. Dazu Felber, Wilhelm Vischer. 14 von Rad, Theologie des Alten Testaments. 15 Dass dabei die Weisheit randständig blieb, zeigt etwas von den Problemen des geschichtstheologischen Ansatzes. Erst spät hat von Rad diese noch ›eingeholt‹, vgl. von Rad, Weisheit in Israel. 16 Vgl. Zimmerli, Grundriß der alttestamentlichen Theologie. 17 Vgl. Smend, Die Bundesformel. 18 Vgl. Schmidt, Das erste Gebot. 19 Dies wurde v. a. durch den Zürcher Alttestamentler Odil Hannes Steck energisch vorangetrieben, vgl. etwa Steck, Studien zu Tritojesaja; ders., Der Abschluss der Prophetie.

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Christozentrik und neutestamentliche Theologie

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der verschiedenen Traditionskomplexe ins Zentrum des theologischen Interesses.20 Gegenüber Überlegungen, nach denen die Eschatologie oder der Messianismus ein Fluchtpunkt oder gar Christus die »externe Mitte« des Alten Testaments21 sei, ist man heute weithin zurückhaltend, denn die christliche Lektüre des Alten Testaments ist letztlich nur eine Rezeptionsform neben anderen.22 Eine explizit christologische Auslegung des Alten Testaments ist durch die für die neuzeitliche Exegese verpflichtende Orientierung am ›ursprünglichen‹ Sinn der Schriften unmöglich geworden. Freilich ist auch dieser in letzter Zeit zumindest aufgeweicht worden: Ist der ›ursprüngliche‹ Sinn der Sinn eines rekonstruierten ›echten‹ Prophetenwortes, der Sinn einer Redaktionsschicht, der Sinn des abgeschlossenen Buches oder des Buches in seinem kanonischen Rahmen? Welcher Text und welcher Sinn theologisch maßgeblich ist, wurde unklar, und die Frage des theologisch Verbindlichen ist mithilfe komplexerer hermeneutischer Überlegungen zu reflektieren. Hinzu kommt als Folge der im 16. und 17. Jh. fixierten Kanonentscheidungen, dass sich die protestantische Exegese am Kanon der Hebräischen Bibel orientierte, während die ›deuterokanonischen‹ Schriften bzw. ›Apokryphen‹ zumindest im Protestantismus weithin bedeutungslos wurden,23 womit nicht nur die textliche, sondern auch die sprachliche ›Brücke‹ zwischen den Testamenten verloren ging. Sprachlich basieren nämlich die neutestamentlichen Schriften weithin auf der Septuaginta, die bis zur Reformationszeit faktisch den christlichen Kanon des Alten Testaments markierte, während die ›Hebräische Bibel‹ niemals ein christlicher Kanon war. Aufgrund der Übernahme des jüdischen Kanons konnte sich unter neuzeitlichen Bedingungen der Eindruck der Abständigkeit der alttestamentlichen Schriften verstärken.24 Die Versuche der Rekonstruktion einer gesamtbiblischen Theologie – am prominentesten bei Peter Stuhlmacher25 – setzen daher zu Recht beim durchgehenden Bezug der neutestamentlichen Autoren auf die Schriften Israels, d. h. bei der Rezeption an, beziehen aber deren Vermittlung durch die Septuaginta und andere jüdische Traditionen ›zwischen den Testamenten‹ ein. So kann nicht zuletzt die neutestamentliche Christologie fast vollständig aus alttestamentlich-frühjüdischen Sprachformen ver20 Vgl. Schmid, Gibt es Theologie im Alten Testament; vgl. auch ders., Schriftgelehrte Traditionsliteratur. 21 Vgl. Hermisson, Jesus Christus als externe Mitte des Alten Testaments. 22 Hier ist insbesondere die aus dem christlich-jüdischen Dialog herausgewachsene Rede vom ›doppelten Ausgang‹ oder der ›zweifachen Nachgeschichte‹ des Alten Testaments – in der jüdischen und der christlichen Rezeption – von Bedeutung (vgl. Koch, Der doppelte Ausgang). 23 Zur Geschichte dieser Verdrängung vgl. Frey, The Contribution of the Septuagint. 24 Erinnert sei nur an die von dem Berliner Dogmatiker Notger Slenczka angestoßene Diskussion um die Bedeutung des Alten Testaments (vgl. ders. Vom Alten Testament und vom Neuen; dort der Aufsatz: Die Kirche und das Alte Testament, ebd. 49–84; zur kritischen Auseinandersetzung aus exegetischer Sicht vgl. bes. Hartenstein, Zur Bedeutung des Alten Testaments). 25 Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 7–10.

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standen werden, die natürlich über den Ursprungssinn der hebräischen Texte hinaus gehen, und zugleich aus ihnen ihre Legitimität beziehen. b)  Auch in der neutestamentlichen Wissenschaft ist eine fortschreitende Tendenz zur Differenzierung zu beobachten, die es erschwert, Gemeinsam­ keiten oder gemeinsame Grundlinien zwischen den neutestamentlichen Autoren und Schriften festzuhalten. Die vor allem bei Examenskandidaten einflussreiche Theologie des Neuen Testaments von Udo Schnelle stellt eingangs gleich fest, dass es »die neutestamentliche Theologie im Singular gar nicht geben« könne,26 sondern nur eine Pluralität von Theologien im Neuen Testament. Während sich Schnelle damit der Aufgabe des theologischen Zusammendenkens der unterschiedlichen Traditionen und Positionen und damit der Aufgabe einer neutestamentlichen Theologie verweigert,27 hat Ferdinand Hahn in seiner Theologie des Neuen Testaments mit sehr viel mehr Gründlichkeit nach Einheit und Vielfalt im Neuen Testament gefragt und dabei im bleibenden Bewusstsein der Differenzen in einzelnen Sachfragen (so etwa der Rechtfertigungslehre, der Ekklesiologie oder der Eschatologie) doch die Kohärenz zwischen den großen Entwürfen z. B. in der Christologie herausgearbeitet.28 Eine solche Denkbemühung ist für die neutestamentliche Wissenschaft essentiell, wenn sie auch gesamttheologisch rezipiert und ernstgenommen werden will. c) In der neueren Exegese wurde in den letzten Jahrzehnten – v. a. im römisch-katholischen Kontext und beeinflusst durch christlich-jüdische Dialoge – vermehrt auf die Spannung zwischen der in der theologischen Tradition dominant gewordenen Christozentrik und einer für die neutestamentlichen Texte fundamentalen Theozentrik hingewiesen und für die Rückgewinnung dieser theozentrischen Dimension in Exegese und Theologie plädiert.29 In der Tat zeigt sich in den Entwürfen neutestamentlicher Christologie »ein betont theozentrisches Profil«, denn »ihre Tiefenstruktur bildet […] das monotheistische Bekenntnis«, so dass »die christozentrische Perspektive […] auf einem theozentrischen Wurzelwerk« aufruht.30 Gott ist der Ausgangspunkt des Geschehens der Sendung Jesu (Gal 4,4 etc.; Joh 3,16) und auch das Ziel des eschatologischen Lobs (Phil 2,6–11; Röm 11,33–36; 1 Kor 15,23–28). Erst in der weit entwickelten Christologie des Johannesevangeliums wird von der Einheit von Vater und Sohn (Joh 5,22 f; 10,30 u. ö.) in einer Weise gesprochen, welche dazu führt, dass schon im Text des Evangeliums die Frage im Raum steht, ob 26 Schnelle, Theologie des Neuen Testaments. 27 Vgl. Frey, Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments. 28 Vgl. Hahn, Theologie des Neuen Testaments II. 29 Vgl. grundlegend Thüsing, Per Christum in Deum; ders., Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus; zu Markus vgl. Dechow, Gottessohn und Herrschaft Gottes; zur Apokalypse vgl. Söding, Gott und das Lamm; zum Hebräerbrief vgl. Backhaus, Per Christum in Deum; hermeneutisch differenziert vgl. Vollenweider, Christozentrisch oder theozen­ trisch. 30 Ebd., 22. Vgl. ferner Söding, Ich und der Vater sind eins; Scholtissek, Ich und der Vater; zuletzt Frey, Between Jewish Monotheism and Proto-Trinitarian Relations.

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Christozentrik und neutestamentliche Theologie

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damit das grundlegende Bekenntnis zum einen Gott angetastet wird.31 Die Diskussion verlangt, von einer Christozentrik hermeneutisch reflektiert zu reden, ohne den für das frühe Christentum fundamentalen Monotheismus zu gefährden. Im Folgenden sollen in einigen knappen und groben Strichen die gemeinsamen Linien der neutestamentlichen Hauptzeugen in Bezug auf Christus aufgezeigt werden. Christozentrik soll damit als Thema einer neutestamentlichen Theologie begründet werden, bevor dann in einem weiteren Teil noch etwas präziser auf die johanneische Theologie eingegangen werden muss, die für Karl Barth in besonderem Maß formgebend war. Daraus lassen sich dann wieder Aspekte für die weitere theologische Diskussion um Barths Christozentrik gewinnen. 3.

Christozentrik als Thema einer Theologie des Neuen Testaments

3.1

Der fundamentale Christusbezug aller neutestamentlichen Traditionskomplexe

Die neutestamentliche Traditionsbildung hat sich von den ersten Anfängen an als Antwort auf und Zeugnis von dem Kommen, Wirken und v. a. Sterben und Auferstehen Jesu von Nazareth entwickelt. Am Anfang stand nicht eine Lehre, weder eine Christologie noch eine Eschatologie oder Soteriologie. Am Anfang stand vielmehr das irdische Wirken Jesu von Nazareth als Exorzist, Heiler und Verkündiger der Gottesherrschaft, der von manchen in Israel im Rahmen der vielfältigen zeitgenössisch-jüdischen Restitutions- und Heilserwartungen in messianischen Kategorien gesehen wurde und Anhänger gewann,32 hingegen von den Oberen seines Volkes denunziert und aufgrund einer politisch brisanten Anklage von der römischen Herrschaft unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde. Fundamental für jede weitere Wirkung dieses Geschehens – das sonst wohl bald in Vergessenheit geraten wäre – sind vielfältig bezeugte Erfahrungen der (Wieder-)Begegnung mit dem Gekreuzigten in einer neuen Lebendigkeit. Durch diese wurden die davon Betroffenen – Anhänger wie Distanzierte – von der Wahrheit des göttlichen Handelns in Jesu Wirken und Tod und von der fortwährenden Heilswirksamkeit Gottes durch den ›Erhöhten‹ und seinen Geist überzeugt.33 Nur so lässt sich die Dynamik der Ausbreitung der Jesusbewegung nach seinem Tod erklären. a)  Am Anfang der Traditionsbildung stehen Bekenntnisse wie »Jesus ist der Herr (κύριος)« (Röm 10,9)34, d. h. in eine neue Lebendigkeit bei Gott er31 Vgl. Frey, Theology and History in the Fourth Gospel, 13–27. 32 Vgl. Frey, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien. 33 Zum Verständnis der Rede von der Auferstehung Jesu vgl. Frey, Biblisch-theologische Reflexionen zum Bekenntnis zur Auferstehung Christi. 34 Vgl. auch die schon im Aramäischen formulierte und von Paulus als Fremdwort verwendete Anrufung »Maranatha!« (= Unser Herr, komm!) in 1 Kor 16,22.

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höht, oder »Jesus ist der Christus«,35 d. h. aus jüdischem Denken heraus: ›der Messias‹.36 Unter diesen Vorzeichen wurden seine Worte und weitere Erinnerungen an sein Wirken, Leben und Sterben weitergegeben und im Licht der Glaubenstraditionen Israels, der Schriften, gedeutet. Bei aller Unterschiedlichkeit der Christusbezüge im Detail haben alle neutestamentlichen Traditionskreise gemeinsam, dass sie auf dasselbe Geschehen antworten, es erinnernd bezeugen und aktualisierend deuten, d. h. diesem vergangenen Geschehen eine gegenwärtige Bedeutung für die Lebenswirklichkeit ihrer Adressaten und Zeitgenossen beimessen. Die Modelle der Deutung Jesu Todes oder auch der Deutung seiner Person sind zunächst durchaus unterschiedlich, weil auf dem Weg der Suche nach einem Sinn dieses Geschehens in den Schriften unterschiedliche Paradigmen und Modelle aufgenommen und kombiniert wurden.37 Diese Vielfalt entspricht der Pluralität von Vorstellungen eschatologischer Gestalten, wie wir sie bereits aus dem zeitgenössischen Judentum kennen. Herrscherliche, prophetische und priesterliche Züge des Messianismus standen nebeneinander und wurden kombiniert, und dementsprechend ist auch die neutestamentliche Christologie nicht einheitlich, sondern ein Mosaik unterschiedlicher Modelle der Deutung seines Todes und seiner Auferstehung, seiner Herkunft, seiner Vollmacht und seiner eschatologischen Identität. Von dem »mehr als Jona« (Mt 12,41) oder »mehr als Salomo« (Mt 12,42 par Lk 11,31) hin zur Rede von der Inkarnation des Logos (Joh 1,14) ist es ein weiter und in sich vielfältiger Weg,38 der dennoch zusammengehalten wird von dem Ringen um das Verstehen des Wirkens und der Bedeutung Jesu. Hier liegt kein radikaler Bruch vor, auch keine ›Verfälschung‹ der ursprünglichen Botschaft durch pagane Einflüsse, sondern nur ein fortschreitendes Nachdenken dessen, dass Jesus der eine und einzige Vermittler der Gottesherrschaft bzw. des eschatologisch gültigen, ›ewigen‹ Lebens ist. b) Unsere ältesten schriftlichen Zeugnisse, die Briefe des Apostels ­Paulus, wurden in einer medialen Innovation als ›Ersatz‹ für die Anwesenheit des Missionars und Apostels bei seinen Gemeinden und zur seelsorgerlichen Nachbetreuung der entstandenen Missionsgemeinden verfasst. Diese Briefe thematisieren das Leben und Wirken des irdischen Jesus kaum, wenngleich gewisse Kenntnisse darüber bei Paulus und in seiner Missionsverkündigung vorauszusetzen sind. Sie gründen hingegen primär auf der Botschaft von Jesus als dem Gekreuzigten und Auferstandenen, thematisieren seine eschatologische 35 Röm 1,1.4; 2,16; 3,22; 1 Kor 2,2.16; Apg 2,38; 3,6. Das Bekenntnis begegnet in zwei Formen, die beide einen Nominalsatz bilden: Χριστὸς Ἰησοῦς (d. h. Messias ist Jesus), und Ἰησοῦς Χριστός (Jesus ist der Messias). Man kann hier fast von einer Namensformel sprechen (so Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 185). 36 Vgl. Hengel, Jesus der Messias Israels. 37 Vgl. Frey, Probleme der Deutung. 38 Diesen Weg von dem eschatologischen Selbstanspruch des irdischen Jesus habe ich knapp nachgezeichnet in Frey, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, 79–83.

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Parusie39 und rechnen mit der Gegenwart des Erhöhten im Geist. Sie erörtern Konsequenzen aus dem Christusgeschehen für den Glauben und das Leben der Adressaten und halten so die bleibende Bedeutsamkeit Christi fest: des Erhöhten, aber auch des Irdischen, nämlich des Gekreuzigten, des Evangeliums »von Jesus Christus« (Röm 1,3) und auch der von ihm her neu formulierten und autorisierten Weisungen (Gal 6,2 etc.). An einzelnen Stellen wird bereits – in noch tastender Terminologie – darüber gesprochen, dass der Messias Jesus aus dem göttlichen Bereich gesandt, ja »in göttlicher Gestalt« war (Phil 2,6), an anderen wird das jüdische Gottesbekenntnis (»der Herr unser Gott, der Herr ist einer«) so entfaltet, dass in einem Atemzug die beiden Gestalten, »ein Gott und ein Herr Jesus Christus« (1 Kor 8,6), nebeneinander genannt werden können. Der zur Parusie Erwartete wurde schon sehr früh im Gebet angerufen, in einem aramäischen Ruf, den Paulus in 1 Kor 16,22 als ein in seinen heidenchristlichen Gemeinden bekanntes ›Fremdwort‹ aufnimmt (»maran-atha«: »unser Herr, komm!«; vgl. Apk 22,20), welches zeigt, dass er als Lebendiger, ja im göttlichen Bereich Weilender, angesehen wurde. Diese ›hohe‹ Christologie ist mithin nicht eine erst spät, auf synkretistischem Boden erwachsene Sekundärbildung,40 die das schlichte Bild des rein-menschlichen Predigers Jesu verfälscht. Vielmehr ist sie nach der Einsicht der neueren, v. a. angelsächsischen Exegese früh und erstaunlich schnell entstanden, nämlich bereits im Kontext jüdischer Jesusnachfolger, im semitischen Sprachumfeld und auf der Basis der Schriften Israels.41 Schon bei Paulus findet sich mithin ein »binitarischer Monotheismus«42, d. h. eine noch durchaus jüdische Form exklusiv-monotheistischen Denkens, bei dem doch in engster Verbindung von Gott und dem Kyrios bzw. von Gott und »seinem Sohn« gesprochen werden kann, wobei letzterer an der göttlichen Art in einer noch nicht völlig geklärten Weise teilhat. Der fundamentale jüdische Monotheismus ist dabei aber keineswegs in Frage gestellt. Zwischen ›Theozentrik‹ und ›Christozentrik‹ besteht mithin kein Gegensatz, vielmehr bildet sich die Christozentrik im monotheistischen Rahmen der jüdischen Tradition und mit deren sprachlichen Bausteinen heraus. c)  In den nachpaulinischen neutestamentlichen Briefen wird die Bedeutung des Christusgeschehens ausgeweitet. Dies geschieht im Kolosserbrief im Kontext eines weisheitlichen Weltverständnisses (Kol 2,3) in dem Sinne, dass der Person Christi universale, sogar kosmische Bedeutung zugeschrieben wird und Christus mit der eschatologischen Beseitigung der zerstörerischen Mächte verbunden wird (Kol 2,13 f ). Im Epheserbrief und im 1. Petrusbrief kommt 39 Dieser Aspekt tritt im ältesten erhaltenen Brief, dem 1. Thessalonicherbrief, besonders hervor, doch bleibt die Erwartung der Parusie auch in den späteren Briefen (z. B. Phil und Röm) erhalten. 40 So die Thesen der Religionsgeschichtlichen Schule, die von der Schule Rudolf Bultmanns übernommen wurden (vgl. Frey, Eine neue religionsgeschichtliche Perspektive, 131–136). 41 Vgl. grundlegend Hengel, Studien zur Christologie; und die einflussreiche Gesamtdarstellung von Hurtado, Lord Jesus Christ. 42 So der von Hurtado geprägte Terminus (vgl. ders., Lord Jesus Christ, 151–153).

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er als derjenige in den Blick, der auch das »Gefängnis« (Eph  4,8–10) oder Totenreich (1 Petr 4,19 f ) erreicht oder befreit, als derjenige, dessen Wirken bereits im Kreuz die ganze Schöpfung erfasst (Eph 1,10). Damit wird weit über die Soteriologie hinaus die universale, kosmische Bedeutung Jesu Christi zur Geltung gebracht. d) Die Perspektive der synoptischen Evangelien ist entsprechend der Gattung dieser Texte eine andere. Sie bieten eine narrative Vita Jesu in unterschiedlicher Gestalt, doch ist diese seit dem ältesten erreichbaren Text, dem Markusevangelium, ausgerichtet auf das Geschehen der Passion und des Todes Jesu. Das vergangene Leben und Wirken Jesu sowie seine Passion und die österlichen Ereignisse werden dabei in allen Evangelien nicht als bloß historisierende Reproduktion vergangener Ereignisse präsentiert, sondern unter der Voraussetzung des Osterglaubens und zugleich als eine Grunderzählung, welche die Existenz von Gemeinden von Jesus-Nachfolgern in der späteren Zeit begründet und ausrichtet. In unterschiedlicher Form kommt in den Evangelien zur Sprache, dass Jesu Wirken in göttlicher Vollmacht erfolgte, z. B. in der Zusage der Sündenvergebung (Mk 2,1–12) oder in der Stillung des Sturmes (Mk 4,35–41), so dass in Jesus von Nazareth die Zuwendung des biblischen Gottes selbst, der Gott-mit-uns, der Immanuel begegnet (Mt 1,23; 28,20). Auch das stark judenchristlich geprägte Matthäusevangelium kann in seinem Schluss zur Sprache bringen, dass diesem Jesus, dem Auferstandenen und Erhöhten, »alle Vollmacht im Himmel und auf Erden« zukommt, auch wenn diese ihm natürlich von Gott »gegeben« ist. Ob und inwiefern diese Macht nur eine temporär Verliehene, auf ein letztes »Gott alles in allem« (1 Kor 15,28) zulaufende ist, wird in Mt 28,20 nicht gesagt. Die Frage der Zuordnung von Herrschaft Gottes und Herrschaft Christi, ja von Gott und Christus, bleibt hier noch in einer Schwebe, die erst in der späteren theologischen Entwicklung des 2. bis 4. Jh. gelöst wird. e) Auch das vierte Evangelium nimmt, wohl in Kenntnis des Markusevange­ liums, die Gattung Evangelium auf und bietet eine Vita Jesu vom Beginn seines Auftretens im Umkreis Johannes des Täufers bis zu den Osterereignissen, wobei die dramaturgische Ausgestaltung verstärkt ist und die Reden Jesu verbreitert und dialogisiert werden. Dabei erfolgt die johanneische Erzählung noch programmatischer als seine Vorgänger unter Voraussetzung der österlichen Erkenntnis der in Passion und Tod erfolgten Verherrlichung Jesu, wobei dem Schriftzeugnis (bes. Jes 52,13 LXX) zentrale erschließende Kraft zukommt.43 Dabei wird der grundlegende Bezug auf den Irdischen und ›Inkarnierten‹ keineswegs preisgegeben, auch wenn dessen Wirken durch den Prolog

43 In Jes 52,13 LXX ist in einer futurischen Aussage über den Gottesknecht von dessen Erhöhung (ὑψοῦσθαι) und Verherrlichung (δοξάζεσθει) die Rede. Damit sind in einem einzigen prophetischen Satz, der dann auf Jesus bezogen werden konnte, die beiden zentralen Interpretamente für die johanneische Deutung des Todes Jesu vorgebildet (vgl. Joh 3,14; 8,28, 12,23.32; 13,31 f; 17,1 u. ö.).

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in eigentümlicher Weise mit dem Anfang der Welt, ja dem ewigen Ratschluss Gottes verknüpft und darin verankert ist. Offenbar ist auch für Johannes das Problem des ›richtigen‹ Verständnisses des Todes Jesu – und damit verbunden seiner wahren Identität – Dreh- und Angelpunkt der Interpretation. Dabei erfolgt die johanneische Interpretation des Todes Jesu nicht erst, wie in manchen späteren Texten, durch eine nachträgliche oder himmlische Offenbarung, sondern literarisch in der Form von Abschiedsreden, d. h. auf der Grenzlinie zwischen seinem irdischen Wirken und seiner nachösterlichen Abwesenheit. Hermeneutisch zeigt sich hier besonders deutlich das Bewusstsein, dass diese Darstellung aus der erst nachösterlich gewonnenen Erkenntnis, der ›Erinnerung‹ (Joh 2,22; 12,16) durch den Geist (Joh 14,25 f; 16,13–15), und aus den Schriften gespeist ist und damit nicht einfach das Geschehen wiedergibt, das zeitgenössischen Beobachtern offen vor Augen gelegen hätte.44 An die Stelle des entzogenen irdischen (oder gar ›historischen‹) Jesus tritt hier der erinnerte, vom Geist vergegenwärtigte Jesus. Doch wird gerade so, z. B. in den Ich-bin-Worten Jesu, eine fiktionale Unmittelbarkeit der Anrede und eine enorme christologische Konzentration erreicht. f ) Die Apostelgeschichte sieht nicht nur die Kirche als von dem von Gott gesandten Geist geleitet, sondern auch in der Verkündigung und im Wirken der Apostel Christus selbst am Werk. Ihre Wundertaten sind letztlich Taten Jesu Christi.45 Zwar wird an einzelnen Stellen auf das irdische Wirken und v. a. den Tod Jesu verwiesen, und natürlich konzentriert sich der Autor auf das Wirken der Zeugen und den Gang der Verkündigung, doch das eigentliche Subjekt der Mission sind Jesus Christus als der zur Rechten Gottes Erhöhte und der von ihm gesandte Geist. g) Die Apokalypse führt dezidiert den erhöhten Christus als Herrn der Gemeinde vor Augen (Apk 1,12–20), als das Lamm auf dem Thron, welches das Buch der Geschichte zu öffnen vermag und somit der Herr der Geschichte ist (Apk 5). Auch wenn das irdische Auftreten Jesu hier fast nicht erwähnt wird, ist doch das Geschehen seines heilvollen Todes (Apk 5,6: »wie geschlachtet«) und seiner Erhöhung (Apk  12,10) vorausgesetzt und Christus wird in der engsten Gemeinschaft mit dem thronenden Gott, ja als dessen Throngenosse (Apk 5,6), präsentiert. Die enge Verbindung zwischen Gott und dem erhöhten Christus kommt somit gerade in einem Werk zur Sprache, das extrem dicht von jüdischen bzw. judenchristlichen Traditionen geprägt und gegenüber jeder Form paganen Kultes resistent ist. Auch hier lässt sich zwischen Theozentrik und Christozentrik kein Gegensatz konstruieren, und die zentrale Stellung Christi hält sich durch bis in das eschatologische Schlussbild vom Neuen Jerusalem, in dessen Mitte Gott und das Lamm in ›binitarischer‹ Einheit thronen (Apk 22,2). In der Verschiedenheit der Bezüge auf den Irdischen, den Erhöhten, z. T. auch den Präexistenten, stimmen letztlich alle neutestamentlichen Zeugen 44 Vgl. Frey, The Gospel of John as a Narrative Memory of Jesus. 45 Vgl. Avemarie, Acta Jesu Christi.

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überein in ihrem fundamentalen Bezug auf das Jesus-Christus-Geschehen, an dessen Anfang das irdische Auftreten, Wirken, Leiden und Sterben Jesu von Nazareth steht und das im Licht des Osterglaubens als bleibend grundlegend und für die jeweilige Gegenwart bedeutsam verkündigt wird. Dabei wird in einem sich stetig ausweitenden Interpretationsprozess ausgehend von Jesu Tod und den österlichen Bekenntnissen zunehmend ausgegriffen auf die eschatologische und die kosmische Dimension des Christusgeschehens, sein Verhältnis zum biblischen Gott und zu seinem uranfänglichen Wort. 3.2

Der bleibend fundamentale Gottesbezug und das christologische Paradox

Grundlegend für alle neutestamentlichen Traditionen ist der fundamentale Bezug auf den Gott Israels. Das Wirken und die Verkündigung Jesu von Nazareth stehen im unmittelbaren und expliziten Bezug auf Gott, den Gott Israels, der in den Schriften bezeugt ist. Dieser Gott ist es, von dem Jesus in Gleichnissen und Logien sprach und dessen Herrschaft er ansagte. Er ist es, zu dem er im Vertrauen – bis in die Passion – betete und zu beten lehrte. Wenn Jesus als Messiasprätendent gekreuzigt wurde, steht im Hintergrund bei Jesus selbst und bei seinen Zeitgenossen eine in sich vielfältige Erwartung eines endzeitlichen Handeln Gottes, d. h. die Eschatologie des zeitgenössischen Judentums. Der Rahmen des israelitisch-jüdischen Gottesglaubens und der Schriften Israels war es auch, in dem Jesu Anhänger nach seinem Tod und den österlichen Erfahrungen nach einem Sinn seines Leidens und Sterbens suchen konnten. Denn nur wenn diese Ereignisse im Rahmen des Glaubens an den Gott Israels verstehbar waren, konnte festgehalten werden, dass Jesus als der Gesandte Gottes aufgetreten und als solcher gestorben war und dass er dann von Gott in seiner Sendung bestätigt und in seine Herrschaft eingesetzt wurde. Nur im Rahmen des Glaubens an den Gott Israels konnte Jesus Christus selbst zum Gegenstand des Glaubens werden. Dieser fundamentale Gottesbezug ist auch gewahrt, wenn in neutestamentlichen Briefen der erhöhte und für die Gemeinde im Geist gegenwärtige bzw. in seiner Parusie erwartete Herr im Zentrum steht. Denn diese Sprachformen sind nicht nach dem Modell eines paganen »göttlichen Menschen« (θεῖος ἀνήρ) gebildet, sondern in einem jüdischen Kontext entstanden, in dem die eschatologische Erwartung und nicht zuletzt der Gesang und die Relecture von Psalmen (z. B. Ps 110) wesentliche Inspirationen lieferte.46 Für Paulus ist das Evangelium das »Evangelium Gottes«, das seinen Sohn zum Inhalt hat (Röm  1,1–3). Die Verkündigung des heilvollen Charakters des Kreuzesgeschehens, das Wort vom Kreuz (1 Kor 1,18), ist ein Wort, das von Gott selbst ausgeht und mit dem er die Weisheit der Welt, gerade im Blick auf die Beurteilung Jesu Christi als des Gekreuzigten, umkehrt. Der erhöhte Christus steht in seinem eschatologischen Handeln stets in Verbindung 46 Vgl. ausführlich Hengel, Setze dich zu meiner Rechten.

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mit und im Gegenüber zu Gott, dem er nach der apokalyptischen Tradition 1 Kor 15,23–28 am Ende sogar seine Herrschaft wieder übergeben soll. Dieser primäre Bezug auf die Schriften und den Gott Israels bleibt auch erhalten, wenn in den späteren frühchristlichen Texten nicht mehr das jüdische Gesetz der Kernpunkt der Auseinandersetzung ist. Mit der Heranziehung der Schriften zur Deutung des Christusgeschehens bleibt der exklusive Bezug auf den biblischen Gott, seine Erwählung (Eph 1,4) und sein Vollendungshandeln (Apk 21,1–5) durchgehend im Blick. Solange von Christus noch nicht eigens als ›Gott‹ gesprochen wird, ist dieses Gegenüber zum Gott Israels fraglos gegeben. Erst wo Autoren es wagen, neben Gott dem Vater auch von dem Logos oder von Jesus Christus als ›Gott‹ zu reden,47 wird das Verhältnis beider klärungsbedürftig. Diese Klärung erfolgt innerhalb des Neuen Testaments lediglich in Ansätzen und wird später in der Herausbildung der altkirchlichen Trinitätslehre unter deutlich anderen Denkvoraussetzungen vorgenommen. Die Schwierigkeit liegt in einem Doppelten: Für jüdisches und judenchristliches Denken war die Identifikation eines Menschen, auch eines auferweckten Gekreuzigten, mit Gott undenkbar, und eine solche Rede konnte als Blasphemie erscheinen. Dennoch gab es in der jüdischen Tradition eine Reihe von Ansätzen, von obersten Engeln, zum Himmel erhöhten Patriarchen, oder anderen Mittler-Hypostasen zu reden, und auch messianische oder eschatologische Heilsgestalten wurden in einzelnen Texten in übermenschlichen, sogar göttlichen Zügen gezeichnet,48 so dass die Herausbildung einer hohen Christologie auf jüdischer Grundlage und ohne direkte pagane Einflüsse erklärbar ist. Umgekehrt ist aber für griechischrömisch geprägte Menschen die Erscheinung eines Gottes oder Gottessohnes nicht mit einer realen Menschlichkeit, einer ›Inkarnation‹ oder gar einem realen Tod zu verbinden. Die Kritik der Christentumsgegner Celsus oder Porphyrius im 2. bzw. 3. Jh. zeigt dies ebenso wie die vielfältigen Versuche, die irdische Erscheinung Jesu im Sinne einer eingeschränkten Leiblichkeit, einer zeitlich begrenzten Epiphanie oder einer polymorphen Erscheinungsweise zu beschreiben.49 Das Paradox, dass Jesus wirklicher Mensch und doch zugleich der ewige Logos, ja Gott, ist, bietet somit sowohl jüdischem Denken als auch griechisch-römischem (v. a. platonischem) Denken einen Anstoß.50 Im Gegensatz zu Johannes formulieren andere neutestamentliche Texte, wie z. B. der Philipperhymnus (Phil  2,6: »in göttlicher Gestalt«) oder auch die Pastoral47 Vgl. Joh 1,1.18; 20,28; 1 Joh 5,20; Tit 2,13; 2 Petr 1,1; 3,24; s. auch 2 Clem 1,1 und häufig bei Ignatius. Ob eine solche Redeweise in Röm 9,5 vorliegt, ist strittig. In Hebr 1,8 liegt ein Schriftzitat vor. 48 Dazu jetzt die Arbeit meines Promovenden Ruben Bühner, Hohe Messianologie. 49 Zu diesen, nur unangemessen mit dem Terminus ›Doketismus‹ zu erfassenden, Phänomenen vgl. Frey, Docetic-like Christologies and the Polymorphy of Christ. 50 Zum Verständnis der Inkarnation bei Johannes vgl. Frey, Joh 1,14, die Fleischwerdung des Logos und die Einwohnung Gottes.

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briefe (1 Tim 3,16: »offenbart im Fleisch«) diesbezüglich noch unbestimmter. Dadurch sind sie gegen das Verständnis des Kommens Jesu im Sinne einer Epiphanie eines göttlichen Wesens, das temporär auf Erden erscheint und dann wieder zurückkehrt, weniger gut abgesichert. Das christologische Paradox, das Teile der späteren Theologiegeschichte bestimmen sollte, ist mit dem Johannesprolog am klarsten formuliert. 4.

Konkretisierung: Die Christozentrik des Johannesevangeliums

Daher möchte ich die christozentrische Perspektive und ihre Implikationen nun anhand der johanneischen Theologie konkretisieren, da diese für die Theologie Karl Barths in besonderem Maße formgebend war. Ich habe selbst an anderer Stelle die johanneische Theologie als »Klimax« der neutestamentlichen Theologie bezeichnet,51 und zwar deshalb, weil darin wesentliche Linien der neutestamentlichen Traditionsbildung – der Jesusüberlieferung der Synoptiker, aber auch der im paulinischen Umfeld entwickelten Perspektiven – weiter- und zusammengeführt werden, und weil sie zugleich für die Ausbildung des altkirchlichen Dogmas, v. a. der Trinitäts- und Zweinaturenlehre, maßgebliche Orientierungspunkte liefert. 4.1

Jesus Christus als die eine Offenbarung Gottes

Im Johannesevangelium ist Jesus Christus von Anfang bis Ende Gegenstand der Erzählung, und als das »Wort« Gottes zugleich ihr Subjekt. Er ist die Offenbarung Gottes (Joh 1,18) und so der manifeste Grund der Gotteserkenntnis. Das zeigt sich zunächst im Prolog. Obwohl der Name Jesus Christus erst in Joh 1,17 erwähnt wird, ist schon zuvor von diesem die Rede, natürlich in 1,14 (›das Wort wurde Fleisch‹), aber letztlich schon von Beginn an, nämlich in der Rede von dem Wort, das im Uranfang ›bei Gott‹ war (1,1–5). Die Schlusswendung des Prologs zeigt, wie programmatisch dieser Text als Leseeinleitung des Evangeliums zu verstehen ist: Gott, den niemand jemals gesehen hat, hat er, der Einziggeborene, der ›Gott‹ ist, »kundgemacht«, d. h. in gültiger Weise offenbart (ἐξηγήσατο). Dies wird bekräftigt, wenn Jesus später in Joh 14,7.9 als das Bild des Vaters präsentiert wird, so dass wer ihn gesehen hat, den Vater gesehen hat und kennt. Dabei geht es gerade nicht um eine bloße Aufnahme von Zügen des biblischen Gottesbildes, sondern um eine dezidierte Neuinterpretation.52 Das »Sehen« und »Kennen« ist nämlich nicht auf statische ›Eigenschaften‹ bezogen, sondern auf den ganzen Weg Jesu, seine Geschichte, seinen Gang in den Tod als Akt der liebenden Hingabe für die von ihm Geliebten, seine »Freunde« (Joh 15,13). In diesem Weg der Liebe (Joh 13,1.3), die dann im τετέλεσται am Kreuz (Joh 19,30) zum Ziel kommt, liegt einerseits 51 Vgl. Frey, Die johanneische Theologie als Klimax. 52 Vgl. Frey, Was trägt die johanneische Theologie.

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der Maßstab der Jüngerschaft (Joh 13,34 f ), aber darin zeigt sich letztlich auch das Wesen Gottes selbst. Am deutlichsten wird dies in 1 Joh 4,8 f formuliert, wenn in Erläuterung der nominalen Prädikation Gottes als »Liebe« festgestellt wird, dass diese Liebe Gottes darin unter uns offenbart wurde, dass er seinen Sohn gesandt hat »zur Sühne für unsere Sünden«, d. h. auf den als heilvoll verstandenen Todesweg. Im Weg Jesu in den Tod, der von Anfang an im Liebeswillen Gottes gründet (Joh 3,16), hat sich Gottes innerstes Wesen gültig und unabänderlich manifestiert. Das ist in der Tat eine biblische Spitzenaussage, die für das Denken Karl Barths von größter Bedeutung ist: Gottes Wesen ist letztlich ›undualistisch‹, es bleibt nicht ambivalent in Zorn und Gnade, sondern hat sich in seiner Offenbarung in Christus unmissverständlich und eschatologisch gültig als Liebe erwiesen. Dahinter und daneben gibt es keine dunklen Flecken, und diese Liebe ist – so sehr sie im Weltgeschehen schwer fassbar und verborgen sein mag – manifest und offenbar geworden in Jesus Christus, seinem Kommen und seiner Lebenshingabe. Mit dem Weg Jesu ist damit zugleich Gottes gültige Offenbarung vor Augen geführt im Text des Evangeliums. 4.2

Jesus Christus als der Gegenstand des Zeugnisses der Schriften

Damit verbindet sich im Johannesevangelium ein – für heutiges Toleranzdenken sperriger, aber theologisch konsequenter – christologischer Exklusivismus. Wenn Gott sich eschatologisch gültig und zum Heil der Glaubenden und der Welt im Jesus-Christus-Geschehen offenbart hat, können andere vermeint­ liche Wege zum Vater nicht gleichermaßen wahr sein (Joh 14,6). Das gilt nicht nur für vermeintlich direkte (visionäre, apokalyptische) Offenbarungen, wie sie in einigen Schriften des zeitgenössischen Judentums beschrieben werden (vgl. Joh 1,18; 3,13), sondern letztlich auch für die Schriften Israels selbst, deren Zeugnis aus johanneischer Perspektive eben ein Christuszeugnis ist: Mose (Joh 5,39.46) hat von Jesus geschrieben, Jesaja von ihm geredet (Joh 12,38– 40; vgl. Jes 6,10; 53,1 LXX), und Abraham sollte seinen Tag sehen (Joh 8,56). Natürlich steht eine solche Inanspruchnahme der Schriften im Widerstreit mit anderen Lektüreweisen, doch bleibt sie methodologisch im Rahmen inspirierter Schriftrezeption, wie sie im zeitgenössischen Judentum, z. B. in Qumran, und dann auch in der Jesusbewegung praktiziert wurde. 4.3

Jesus Christus als der alleinige Bevollmächtigte des Vaters

Der johanneische Jesus hält seinen Gesprächspartnern entgegen, dass sie Gottes »Gestalt« nie gesehen hätten (Joh 5,37), hingegen beansprucht er, als der vom Vater Gesandte, ihn »gesehen« (Joh 5,19 f ) und »gehört« (Joh 5,30) zu haben, von ihm bevollmächtigt zu sein (Joh 5,22 f.26 f ) und damit legitim vom Vater zu zeugen, ja seine Werke zu tun. Am deutlichsten ist die Verbindung mit dem Vater in der Kern-Aussage »Ich und der Vater sind eins« (Joh 10,30) bzw. da wo das Ich-bin entfaltet wird durch die Aussage »Ich bin nicht allein, © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

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sondern der Vater, der mich gesandt hat, ist bei mir« (Joh 8,16). Hier ist mehr als nur eine Wirk- und Willens-Einheit ausgesagt. Gegen Bultmanns Abwehr jeder ontologischen Dimension53 ist in der Perspektive des vierten Evangeliums eine das Sein Jesu betreffende Einheit, d. h. eine ontische Teilhabe Jesu an Gott dem Vater, beansprucht. Diese begründet auch den christologischen Exklusivismus. Im Hintergrund dieses Motivs steht der Sendungsgedanke: Jesus ist derjenige, »den der Vater gesandt hat« (Joh 3,17 u. ö.). Diese Motivik ist im Evangelium und im ersten Johannesbrief belegt und nimmt schon (vor-)paulinische Formulierungen auf. Dabei legt sich bei Johannes nicht nahe, das Motiv im Rahmen einer ›niederen‹, subordinatianischen Christologie zu deuten, als wäre Jesus ›nur‹ der Gesandte, der den Auftrag des Senders ausführt und ihm dann die gehorsame Ausführung berichtet.54 Vielmehr ist im Sendungsmotiv das Element der Bevollmächtigung entscheidend: Der Gesandte tritt in der Vollmacht des Sendenden auf, seine Worte sind Worte Gottes, er handelt in der ihm gegebenen Vollmacht und tut die opera propria Dei, nämlich Leben zu geben und das Gericht auszuüben (Joh  5,26 f ). Ihm ist Vollmacht über »­alles Fleisch« gegeben (Joh 17,2), und dadurch ist seine Rede als authentische Offenbarung ›von oben‹ autorisiert. Somit ist auch das Sendungsmotiv im Rahmen des einzigartigen Anspruchs der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu verstehen, in der allein das Wesen des unsichtbaren Gottes gültig zum Vorschein kommt. 4.4

Jesus Christus in nachösterlicher Vermittlung und sprechendem Geist

Allerdings unterscheidet sich dieses Christusbild markant vom synoptischen, und im Licht der historischen Rückfrage ist anzunehmen, dass jenes dem irdischen Jesus sehr wahrscheinlich näherkommt: Dort verkündigte Jesus Gott und seine Königsherrschaft, während er im vierten Evangelium sich selbst verkündigt. Die johanneische Sprache beruht bereits auf einer Transformation der älteren Verkündigungstradition, und auch die johanneischen Erzählszenen sind in spezifischer Weise so ausgestaltet, dass in ihnen die hohe Christologie dieses Evangeliums zur Sprache kommt. Nicht zuletzt spiegelt das recht uniforme Bild der ›Juden‹ als Gegner Jesu offenkundig nicht die Verhältnisse der Zeit Jesu, sondern Verhältnisse späterer Zeit. Verliert das johanneische Christusbild dadurch seine Legitimität? Der johanneische Autor scheint sich durchaus bewusst gewesen zu sein, dass er nicht ein Bild dessen zeichnet, was Jesu Zeitgenossen zugänglich gewesen wäre. In Joh 2,22, nach dem rätselhaften Tempelwort, das dann auf den 53 Zur Rekonstruktion der johanneischen Christologie bei Bultmann vgl. Frey, Johannine Christology and Eschatology. 54 Zur Interpretation des Sendungsmotivs vgl. Frey, Wer mich sieht, der sieht den Vater, 195 f.

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»Tempel seines Leibes« bezogen wird, und in 12,16, nach der königlichen Begrüßung Jesu beim Einzug in Jerusalem, findet sich zweimal die signifikante Notiz, dass »seine Jünger dies noch nicht verstanden«, sondern sich erst als er auferstanden bzw. verherrlicht war »erinnerten« und glaubten. Die nachösterliche Erinnerung ist entscheidend, denn offenbar wurden durch sie das Christuszeugnis der Schrift, das Geschick Jesu und seine Worte in ihrem wahren Sinn allererst erschlossen. Das Motiv des ›Erinnerns‹ verbindet sich zugleich mit der Rede vom Geist-Parakleten, der nach Joh 14,26 »an alles erinnern und lehren« soll. Mit diesem Konzept legt das Johannesevangelium offen, dass die in ihm präsentierte christologische Erkenntnis sich einem Prozess der nachösterlichen Relecture der Geschichte und der Worte Jesu im Licht der Schrift verdankt, deren Subjekt der Heilige Geist ist. ›Autor‹ der johanneischen Theologie ist also der Geist, der bei Johannes in prominenter Weise personal und worthaft als Lehrer und Erinnerer (und zugleich als Beistand) der Jünger gezeichnet wird.55 Das vierte Evangelium präsentiert seine hohe Christologie mithin dezidiert nicht als eine nach ›historischen‹ Kriterien zu beurteilende. Vielmehr ist sich die johanneische Verkündigung dessen bewusst, dass das Verständnis Jesu und seiner Geschichte, v. a. seines Todes, erst nach Ostern erschlossen wurde, und zwar pneumatologisch. Die johanneische Darstellung bietet daher nicht einfach ein Bild des damals vor Augen Liegenden, sondern eine theologische Tiefenschau. Zugleich weist Joh 16,13–15 den Gedanken ab, dass dieses Lehren und Erinnern des Geistes eine eigenmächtige, illegitime Tätigkeit wäre. Auch der Geist wird in seinem Wirken in engster Verbindung zu Jesus gesehen, er redet nicht eigenmächtig, »aus sich selbst«, sondern nimmt nur das auf, was zu Jesus gehört. Die Geschichte des johanneischen Jesus ist also keine andere als die des irdischen Jesus, es ist dieselbe Geschichte in nachösterlich-geistgewirkter Durchdringung. Auch in der Verkündigung des Geistes bleibt Christus Grund, Mitte und Maßstab. 4.5

Prototrinitarische Theologie

Mit dem bei Johannes besonders personal gefassten Geist stehen wir an der Quelle und am Nerv des johanneischen Denkens. Von diesem Geist wird – nicht nur in den Parakletsprüchen der Abschiedsreden – in einer Weise gesprochen, die diesen einerseits in seinem Wirken mit dem irdischen oder erhöhten Christus parallelisiert, jedoch zugleich ›personal‹ von jenem unterscheidet: Er soll bei den Jüngern als Platzhalter Jesu sein (Joh 14,16 f ), sie lehren (14,26) und leiten (16,13). Diese Personalität des Heiligen Geistes, die hier im Neuen Testament am deutlichsten hervortritt, bildet einen Ausgangspunkt bzw. Grundstock für die spätere trinitarische Reflexion. Sie zeigt, dass die Dualität von Gott und Jesus bzw. Vater und Sohn nun in eine dreiseitige Bezogenheit ausgeweitet ist. Zu55 Vgl. Frey, How Did the Spirit Become a Person.

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gleich ist deutlich, dass eine Verhältnisbestimmung im Sinne eines schlichten Modalismus oder umgekehrt eines Di- oder gar Tritheismus unmöglich ist, da sowohl die Bezogenheit von Vater und Sohn als auch die nun zusätzlich reflektierte Wirksamkeit des personal handelnden göttlichen Geistes für Johannes im Rahmen des Glaubens an den einen und einzigen Gott Israels steht. Damit liegt bei Johannes eine »prototrinitarische« Theologie vor.56 Ohne dass das monotheistische Grundkonzept preisgegeben wäre, ist von der göttlichen Würde Jesu die Rede (Joh 1,1.18; 20,28). Doch steht dieses ›binitarische‹ Verhältnis nun in einem weiter elaborierten Beziehungsgeflecht: Jesus ist – gerade als θεός – eins mit dem Vater, doch ist die Erkenntnis seiner göttlichen Würde vermittelt durch den lehrenden Geist, der seinerseits der von Jesus gesandte bzw. vom Vater erbetene ist. Vergleicht man dieses differenzierte Gefüge mit den im 2. Jh. auch belegten, relativ schlichten Theologien, bei denen Jesus als Gottwesen ohne klare Unterscheidung von dem einen Gott bezeichnet wird, eben jenen Theologien, auf die Knut Schäferdieck einmal das Etikett »Christomonismus« anwenden wollte,57 dann besteht hier ein signifikant großer Abstand. Es ist kein Wunder, dass die altkirchliche Christologie und Trinitätslehre an die im vierten Evangelium vorgeführte Differenzierungsleistung anknüpft. Gerade dort, wo im Neuen Testament die Christozentrik am konsequentesten durchgeführt wird, liegen auch die elaboriertesten Grundlagen einer prototrinitarischen Reflexion vor, in der Jesus Christus in der nachösterlichen Zusammenschau seines ganzen Weges in engster Verbindung mit Gott dem Vater erscheint und der Geist in engstem Bezug auf beide als der präsentiert wird, der die hier vorliegende Christuserkenntnis erschlossen hat. 4.6

Weltlose Christozentrik?

Angesichts der Fokussierung auf Christus und den heilvollen Glauben an ihn und zumal angesichts der negativen Konnotationen der Rede von der ›Welt‹ (κόσμος) in den johanneischen Abschiedsreden und im ersten Johannesbrief muss die Frage aufkommen, ob der johanneische Glaube nicht ›weltlos‹ bleibt, einem spirituellen Wolkenkuckucksheim verhaftet und ›naiv doketisch‹.58 Im Blick auf Christus selbst ist es v. a. der Inkarnationsgedanke, der jeden Zweifel an der konkreten Leiblichkeit und auch der Realität seines Todes auszuschließen vermag.59 Der Prolog steht jeder Welt-Abwertung klar entgegen. Die geschaffene Welt hat nicht wie in späteren gnostisierenden Entwürfen einen inferioren Ursprung, und das Heil besteht daher auch nicht in ›Entwelt­ 56 Vgl. Frey, Die johanneische Theologie als Klimax, 826–831. 57 Schäferdieck, Herkunft und Interesse der alten Johannesakten, 266. 58 So die vieldiskutierte Einschätzung in der wichtigen Studie von Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17. Zur Diskussion des Streits zwischen Bultmann und Käsemann vgl. auch Frey, … dass sie meine Herrlichkeit schauen. 59 Vgl. Frey, Leiblichkeit und Auferstehung im Johannesevangelium.

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lichung‹.60 Johannes setzt keinen weltanschaulichen Dualismus voraus, sondern verwendet dualistische Sprachformen in einer spezifischen rhetorischen Absicht.61 Im Blick auf die Glaubenden und ihre reale Lebenswelt ist weiter festzuhalten, dass das Evangelium Menschen in realen Lebenskontexten anspricht, konkret wohl Gemeindekreise mit Erfahrungen der Bedrängnis oder Abweisung. Sie sollen durch die Erinnerung an den Weg Jesu Christi ihre eigene Lebensangst überwinden.62 Konkrete ethische Konsequenzen sind dann v. a. in den Johannesbriefen erkennbar, während das Evangelium in der Orientierung an der Liebe und dem Vorbild Christi im Blick auf ethische Konkretionen eher unergiebig erscheint. Doch sollte man die Christozentrik des Evangeliums nicht als ›weltlos‹ ansehen. Dies würde sowohl der inkarnatorischen Wirklichkeit des sich mit der Welt ›einlassenden‹ Gottes als auch der Konkretheit nachösterlichen wirksamen Geistes entgegenstehen. 5.

Johanneische Christozentrik an Scharnierstellen der Kirchlichen Dogmatik

Kommen wir von hier aus zurück zu Barths Auslegung und Inanspruchnahme des Johannesevangeliums in seiner Kirchlichen Dogmatik. Dass seine Lektüre eine theologische und keine historisch oder rein philologisch interessierte ist, muss hier nicht mehr näher begründet werden. Schon in seiner frühen Erklärung des Johannesevangeliums formuliert er, dass das Evangelium, das wir zu studieren haben, »nur das uns angehende«63 und im Raum der Kirche gelesene64 sein kann. Als solches erhält das vierte Evangelium in Barths Dogmatik immer wieder einen besonderen Stellenwert im Blick auf die Konstruktion des Ganzen sowie auf einzelne Leitgedanken und Argumentationen. Immer wieder nimmt Barth gerade Johannes pars pro toto für das ganze Neue Testament in Anspruch.65 Unter allen johanneischen Texten kommt dem Prolog besonderes Gewicht zu, ist doch in ihm nicht nur das christologische Paradox der wahren Gottheit und der wahren Menschheit Christi prägnant zur Sprache gebracht, sondern auch der für Barths Ansatz (in der Tradition Calvins) entscheidende Ausgangspunkt bei der göttlichen Gnadenwahl markiert: Das Christusgeschehen und 60 In diesem Sinne jedoch die Interpretation von Schottroff, Heil als innerweltliche Entweltlichung. 61 Vgl. dazu eingehend Frey, Zu Hintergrund und Funktion des johanneischen Dualismus, bes. 450–477. 62 So die These von Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. 63 Barth, Erklärung des Johannesevangeliums, 5. 64 Vgl. Barth, Erklärung des Johannesevangeliums, 10. 65 Vgl. nur KD I/1, 179: »Und es ist gerade das Johannesevangelium, in welchem die Erkenntnis der Gottessohnschaft Jesu so explizit wird wie nirgends sonst.«; I/1, 474: »die eigentümliche aber sicher für das Verständnis des ganzen Neuen Testamentes bedeutsame Lehre des Johannesevangeliums: …«; weiter I/1, 476; IV/3, 265 u. ö.

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damit das ganze Heil wurzelt im uranfänglichen, göttlichen Sein, ja in der göttlichen Liebe (Joh 3,16) und ist so menschlichen Zufällen und Ambivalenzen enthoben. So wird entschieden festgehalten, dass neben diesem einen Wort bei Gott nichts anderes Platz hat, »daß es also in diesem Bereich keine Zeit gibt, die nicht in seiner Ewigkeit beschlossen wäre, keinen Raum, der nicht in seiner ›Allgegenwart‹ seinen Ursprung hätte, der also nicht von ihm begrenzt wäre, keine Möglichkeit, es zu umgehen oder ihm zu entfliehen«.66 Die Eindeutigkeit Gottes und seiner Offenbarung in Christus ist mit dem ersten Satz des Evangeliums eindrücklich und wegweisend bezeugt, und Barths Interpretation zeugt von einer tiefgründigen Durchdringung der Implikationen des Prolog-Anfangs. Exegetisch sachgemäß sieht er hier klar die Gottheit Christi zur Sprache gebracht, zugleich seine Schöpfermacht und mithin seine kosmische Bedeutung.67 Hier findet Barth den angemessenen Ausgangspunkt für das theologische Denken überhaupt, denn als Lesende sind wir »aufgerufen, Gottes Wort, Beschluß und Wahl im Anfang aller Dinge und also auch im Anfang unseres eigenen Seins und Denkens und so auch im Grund unseres Glaubens an Gottes Wege und Werke im Namen und in der Person Jesu Christi zu erkennen – oder umgekehrt: eben in dieser Person das Wort, den Beschluß, die Wahl Gottes in ihrem Anfang«.68 In Joh 1,1–2 ist nicht nur die Erwählung Jesu Christi begründet, sondern damit auch die Erwählung des Menschen: »Jesus Christus ist Gottes ewiges Wort, Gottes ewiger Beschluß, Gottes ewiger Anfang allem dem gegenüber, was außer Gott wirklich ist.«69 Die Bedeutung des Johannesprologs für Barths Dogmatik liegt darin, »dass er daraus die Frage nach dem Verhältnis des deus in se und des deus pro nobis aufnimmt und in Folge dessen die dogmatischen Loci der Trinitätslehre, der Zweinaturenlehre und der Inkarnationslehre mit der Versöhnungslehre neu in Beziehung setzt«.70 Ein zweiter zentraler Ort der Johannesrezeption findet sich dort, wo Barth aus der johanneischen Christologie nun auch die Grundlegung seiner christlichen Anthropologie gewinnt.71 Jesus Christus ist als der Inkarnierte wirklicher Mensch, und an ihm lässt sich erkennen, was der Mensch in Wahrheit ist.72 Dabei betont Barth – exegetisch wiederum scharfsichtig und im Kontrast zu anderen Auslegern seiner Zeit – dass es gerade die Geschichte Jesu ist, die sein Menschsein in besonderer Prägnanz zur Sprache bringt: »Es muß also seine Geschichte eine menschliche Geschichte inmitten der Geschichte 66 KD II/2, 102. 67 Ebd., 106 wird dazu v. a. der Kolosserbrief (Kol 1,15.17.18) mit herangezogen. 68 Ebd., 106. 69 Ebd. 70 So Denker, Das Wort Gottes wurde messianischer Mensch, 121. 71 KD III/2, 74–77. 72 Ebd., 74: »Wer und was der Mensch ist, ist in seiner Fülle darin wirklich und sichtbar, daß Gottes Sohn in Jesus Mensch geworden, der Mensch in ihm so völlig zur Verfügung Gottes gestellt ist. Gerade hier ist er der wirkliche und der in seiner Wirklichkeit erkennbare Mensch.«

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aller Menschen sein. Jesus ist beides, und zwar […] nicht in zwei getrennten Sphären, […] Gottes Sohn, indem er Mensch, Mensch, indem er Gottes Sohn ist.«73 Das christologische Paradox wird hier streng festgehalten. Die Ableitung der Anthropologie aus der Christologie geht allerdings deutlich über das im vierten Evangelium Gedachte hinaus. Der Unterschied liegt darin, dass Barth den Menschen und damit jeden Menschen unter dem Gesichtspunkt der Erwählung und damit als Glaubenden betrachtet, was im johanneischen Text so nicht begründet ist und in der Welt seiner Adressaten auch kontrafaktisch anmuten würde. Auch christologisch liegt bei Johannes der Akzent trotz des zentralen Inkarnationsgedankens doch eher auf dem Aspekt, dass Jesus zugleich als der »Ich bin« von allen anderen Menschen fundamental unterschieden ist. Als letzter Punkt in Barths Kirchlicher Dogmatik, an dem das Johannesevangelium grundlegende Bedeutung gewinnt, soll der Abschnitt über »die Herrlichkeit des Mittlers« und damit über das prophetische Amt Christi in der Versöhnungslehre genannt werden. Der auf die Barmer Theologische Erklärung zurückgreifende Leitsatz74 greift implizit noch einmal den Johannesprolog auf. Im weiteren Verlauf will Barth gerade die Christologie dynamisch als Geschichte verstehen75 und beansprucht dabei, dass die sieben von ihm genannten Aspekte der Geschichte des Wirkens Jesu Christi und seines ›prophetischen Amtes‹76 anhand des Johannesevangeliums beschrieben werden könnten. Dieses sei mit seinen Leitbegriffen Wort, Licht, Offenbarung, Rede und Zeugnis gerade »das besondere Evangelium vom Evangelium als solchem, nämlich von dem prophetischen Werk Jesu Christi«.77 Im Durchgang durch die johanneische Jesusgeschichte unter den genannten Leitbegriffen stellt Barth wieder in erstaunlicher exegetischer Sensibilität fest: »Das Johannesevangelium erzählt, indem es die Geschichte dieses einzigen Offenbarers erzählt, keine vergangene, sondern in ihrem einmaligen Gehalt gegenwärtige Geschichte.«78 Diese eindrückliche Kurzexegese der ganzen johanneischen Jesusgeschichte bietet so das Material, aufgrund dessen dann in diesem Paragraphen der Kirchlichen Dogmatik die Rede vom prophetischen Amt Christi entfaltet wird.

73 Ebd., 77. 74 KD IV/3, 1: »Jesus Christus, wie er uns in der heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.« 75 Ebd., 189. 76 Ebd., 264: »So hebt die Geschichte der Prophetie Jesu Christi an: (1) in und mit seiner eigenen – (2) seiner für sich selbst sprechenden Geschichte – die (3) allem sonstigen Geschehen gegenüber eine besondere – die (4) in ihrer ganzen Einmaligkeit wohl gewesene aber nicht vergangene, sondern gegenwärtige – die (5) mitten in der Welt von Gott – und (6) von ihm in seiner souveränen Freiheit inaugurierte – und die (7) eindeutig die seine Gnade offenbarende Geschichte ist.« 77 Ebd., 265. 78 Ebd., 267.

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6. Fazit Es konnte hier nicht darum gehen, die Theologie Karl Barths biblisch-theologisch zu ›rechtfertigen‹. Dies würde ihre Eigenständigkeit und synthetische Kraft nicht hinreichend würdigen. Systematisches Denken hat das Recht und die Pflicht, über die biblischen Texte hinauszudenken, so sehr es letztlich an sie zurückgebunden ist. Was ich zu zeigen versucht habe ist, dass eine Christozentrik in variabler Form praktisch alle Traditionskomplexe des Neuen Testaments bestimmt und auch der frühchristlichen Rezeption der Schriften Israels – wenngleich nicht dem Ursprungstext der hebräischen Bibel – entspricht. Als christlich-theologische Perspektive ist christozentrisches Denken eine legitime, und wohl auch die im Blick auf die neutestamentlichen Zeugnisse angemessenste, Perspektive. Innerhalb des Neuen Testaments ist es in besonderer Konzentration das Johannesevangelium, das die Fokussierung auf Jesus Christus (den Präexistenten, den Irdischen und den Erhöhten) in einzigartiger Dichte repräsentiert, allerdings in einem spezifischen Modus der nachösterlich-geistgeleiteten Rückschau und Erinnerung. Eine ›protologische‹ Perspektive, die gleichsam den Blickwinkel aus dem Uranfang bzw. aus Gottes ewigem Ratschluss einnehmen wollte, ist damit dezidiert ausgeschlossen.79 Karl Barth hat mit dem Johannesprolog und insbesondere den Versen Joh 1,1–2 exegetisch durchaus sachgemäß eine christozentrische Perspektive aufgenommen, und zwar in einer Form, die zugleich den Aspekt der Theozentrik ernst zunehmen vermag, weil sie trinitarisch denkt. Mit dem kräftigen Akzent auf Joh 1,14 und seiner kühnen Ausweitung auf die Anthropologie gelingt es ihm zugleich, das christologische Paradox so festzuhalten, dass der Glaube und das Heil nicht in ›weltlosen‹ Kategorien gedacht werden, sondern die inkarnatorisch begründete Weltzugewandtheit des biblischen Gottes zur Geltung kommt. Karl Barth hat namentlich das Johannesevangelium, das er immer wieder als Summe oder charakteristischen Zeugen für die Gesamtheit des Neuen Testaments anführt, an entscheidenden Scharnierstellen seiner Kirchlichen Dogmatik zur Geltung gebracht. Ungeachtet dessen, ob man in seinen breiten biblischen Exkursen jeder einzelnen Bezugnahme und Interpretation folgen kann – das wäre im Blick auf jeden umfassenden Entwurf eine unrealistische Forderung – ist dabei auch für den Exegeten immer wieder erstaunlich, mit welcher Klarsicht und Sensibilität für textliche Zusammenhänge Barth hier argumentiert. Gelegentlich nimmt er vorweg, was die Johannesexegeten seiner Zeit in ihrer Befangenheit in literarkritischen und religionsgeschichtlichen 79 Eine solche Gefahr besteht ja gerade für ein bei der Erwählungslehre ansetzendes Denken, wie der Blick auf Calvins Prädestinationslehre (die dann auch in seiner Johannes­exegese durchschlägt) zeigen kann. Barth kann dieser Gefahr dadurch besser entgehen, dass er Joh 1,1–2 als durch den ganzen Weg Jesu Christi qualifiziert versteht und damit schon hier die Erwählung der Menschheit aus der Liebe Gottes einbezogen sehen kann.

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Modellen nicht wahrzunehmen vermochten und was erst spätere exegetische Ansätze, z. B. unter dem Einfluss der Narratologie, zu sehen lehrten. Gerade indem sie nicht historische Exegese sein will, sondern dezidiert theologische Schriftauslegung, nötigt Barths biblisch-theologisch inspirierte und ›gesättigte‹ Theologie auch einem mehr philologisch und historisch orientierten Exegeten, sofern er sich für die Sache der biblischen Texte interessiert, höchsten Respekt ab. Literatur Avemarie, Friedrich, Acta Jesu Christi. Zum christologischen Sinn der Wundermotive in der Apostelgeschichte, in: J. Frey / C. K. Rothschild / J. Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie (BZNW 162), Berlin / New York 2009, 539–562. Backhaus, Knut, Per Christum in Deum. Zur theozentrischen Funktion der Christologie im Hebräerbrief, in: Ders., Der sprechende Gott (WUNT 240), Tübingen 2009, 49–75. Barth, Karl, Erklärung des Johannesevangeliums. Vorlesung Münster 1925/1926 und Bonn 1933, GA II/9, hg. v. W. Fürst, Zürich 1976. –, Die Kirchliche Dogmatik I–IV, Zollikon-Zürich 1932–1967 (= KD). Bergner, Gerhard, Um der Sache willen. Karl Barths Schriftauslegung in der Kirchlichen Dogmatik (FSÖTh 148), Göttingen 2015. Bühner, Ruben A., Hohe Messianologie. Übermenschliche Aspekte messianischer Heilsgestalten im Frühjudentum (WUNT II/523), Tübingen 2020. Dechow, Jens, Gottessohn und Herrschaft Gottes. Der Theozentrismus des Markusevangeliums (WMANT 86), Neukirchen-Vluyn 2000. Denker, Jochen, Das Wort Gottes wurde messianischer Mensch. Die Theologie Karl Barths und die Theologie des Johannesprologs, Neukirchen-Vluyn 2002. Felber, Stefan, Wilhelm Vischer als Ausleger der heiligen Schrift. Eine Untersuchung zum Christuszeugnis des Alten Testaments, Göttingen 1999. Frey, Jörg, Between Jewish Monotheism and Proto-Trinitarian Relations. The Making and Character of Johannine Christology, in: M. V. Novensen (ed.), Monotheism and Christology in Greco-Roman Antiquity (NT.S 180), Leiden 2020, 189–221. –, Biblisch-theologische Reflexionen zum Bekenntnis zur Auferstehung Christi, in: J. Herzer / ​A. Käfer / J. Frey (Hg.), Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage, Tübingen 2018, 325–349. –, The Contribution of the Septuagint to New Testament Theology, in: R.  Deines / ​ M. Wreford (ed.), Epiphanies of the Divine in the Septuagint and the New Testament. V.  International Symposium of the Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, 14–17 May 2015, Nottingham (WUNT), Tübingen 2023 [forthcoming]. –, »… dass sie meine Herrlichkeit schauen« (Joh  17,24). Zu Hintergrund, Sinn und Funktion der johanneischen Rede von der δόξα Jesu, in: Ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften I (WUNT 307), hg. v. J. Schlegel, Tübingen 2013, 639–662. –, »Docetic-like« Christologies and the Polymorphy of Christ. A Plea for Further Consideration of Diversity in the Discussion of ›Docetism‹, in: J. Verheyen etc. (ed.), Docetism in the Early Church: The Quest for an Elusive Phenomenon (WUNT 402), Tübingen 2018, 27–49. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

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Gerhard Bergner

»Je länger ich die Bibel zu mir reden ließ« Die Funktion der Schriftauslegung in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik

1. Einleitung Kein Theologe der Neuzeit hat in seiner Dogmatik ähnlich viel biblische Exegese betrieben wie Karl Barth. Der folgende Aufsatz will zunächst aufzeigen, wie dieser Umstand biographisch zu erklären ist, um dann zu einer präzisen Beschreibung der Funktion von Barths Schriftauslegung für die dogmatische Arbeit zu gelangen. Im Vorwort zum zweiten Band seiner Schöpfungslehre, KD III/2, immerhin schon dem sechsten Teilband seiner Dogmatik, findet sich eine interessante Selbstbeschreibung Barths hinsichtlich seiner exegetischen Arbeit. Beinahe entschuldigend schreibt er: Ich musste zum Nachweis meiner Grundlagen auch diesmal viel, sehr viel biblische Überlegungen sichtbar machen […]. Man kann wohl sagen, daß ich dabei besonders im ersten Abschnitt von § 47 arg weit ausgeholt habe. Aber es ging nicht gut anders. […] die Zeit scheint noch nicht da zu sein, wo der Dogmatiker sich darum mit gutem Gewissen und Vertrauen auf die Ergebnisse seiner alt- und neutestamentlichen Kollegen beziehen können wird, weil es dann vielleicht auf beiden Seiten wieder klar sein wird: der Dogmatiker hat auch exegetische, aber der Exeget hat auch dogmatische Verantwortung! Solange so viele Exegeten ihren Teil an dieser gemeinsamen Lektion noch nicht besser gelernt oder jedenfalls noch nicht besser in Übung gesetzt haben, solange es Manche von ihnen noch für einen Ruhm zu halten scheinen, hinsichtlich der dogmatischen Voraussetzungen und Konsequenzen ihrer Aufstellungen möglichst unbefangen, weil ahnungslos in die Landschaft hineinzureden, bleibt dem Dogmatiker nichts übrig, als sich seinen ›Schriftbeweis‹– seinerseits in der ganzen Gefährdung des Nichtfachmanns – selber zu erarbeiten. Auf einem anderen Blatt steht dann freilich, daß mir gerade dieser eigentlich nur stellvertretend übernommene Teil der Arbeit persönlich bei aller Sorge auch ganz besondere Freude macht.1

Die exegetische Arbeit in der Kirchlichen Dogmatik wird in dieser Selbstbeschreibung einerseits als eine Art Notmaßnahme beschrieben. Barth sieht die Zeit noch nicht gekommen, um auf Exegeten seines Vertrauens einfach zurückgreifen zu können, und meint, der Dogmatiker müsse sich deshalb seinen Schriftbeweis selbst erarbeiten. Andererseits bekennt er, dass ihm persönlich gerade diese exegetische Arbeit besondere Freude bereite. 1

KD III/2, VIIf.

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Gerhard Bergner

Dass ein solches Bekenntnis gerade im Vorwort zu KD III/2 zu stehen kommt, ist kein Zufall. Dieser Band ist reich an exegetischen Exkursen. Noch mehr sticht aber sein Vorgängerband KD III/1 durch intensive und extensive exegetische Überlegungen hervor. KD III/1 behandelt den ersten Teil der Schöpfungslehre, das Werk der Schöpfung. Von den 476 Seiten, die er umfasst, sind allein 270 Seiten, knapp sechzig Prozent, der fortlaufenden Auslegung der ersten beiden Kapitel der biblischen Genesis gewidmet. Nach etwa hundert Seiten Einleitung, in denen Barth das Verhältnis von Schöpfungsglaube und Christusglaube sowie die von ihm präferierte Gattungsbezeichnung von Gen 1 und 2 als Schöpfungssagen in Abgrenzung zum Mythos und zum historischen Bericht erläutert, bilden die genannten 270 Seiten Einzelversauslegung zu Gen 1–2 den Hauptteil des Paragraphen, in welchem Barth sein Verständnis vom Werk der göttlichen Schöpfung als einer »Wohltat« für den Menschen darlegt. Anschließend folgen noch einmal ungefähr hundert Seiten, in denen dieses Verständnis mit bestimmten Positionen der Dogmengeschichte in einen zumeist kritischen Dialog gebracht wird. Mit anderen Worten: Die Schriftauslegung ist hier, in KD III/1, nicht bloß Teil der Dogmatik, sie ist deren wesentlicher Inhalt. Nun ist klar: Auch für den Dogmatiker Barth ist eine solche Gewichtsverteilung ein Sonderfall. Kein anderer Band innerhalb der Kirchlichen Dogmatik ist in ähnlicher Weise aufgebaut. Allerdings ist jene Selbsterklärung aus dem Vorwort von KD III/2, die zu Beginn zitiert wurde, so allgemein formuliert, dass sie sich eindeutig auch auf die Vorgängerbände der KD bezieht. Und, das ist zu ergänzen, Barth hat auch in den Folgebänden nicht damit aufgehört, »sich seinen ›Schriftbeweis‹ […] selber zu erarbeiten«. Als eine Notmaßnahme, die ihm bei aller Sorge angesichts fehlender Expertise zugleich eine ganz besondere Freude bereitet. Der Hinweis auf die Freude macht deutlich: Schriftauslegung ist für Barth mehr als nur Mittel zum Zweck. Sie ist nicht bloß eine Technik zur Erlangung bestimmter Kenntnisse und insofern erfüllt die Schriftauslegung nicht nur eine bestimmte Funktion in der dogmatischen Arbeit von Karl Barth. Gleichzeitig gilt: Barths Schriftauslegung innerhalb der Kirchlichen Dogmatik geschieht im Kontext bestimmter dogmatischer Fragestellungen und sie dient letztlich immer der Erhellung dessen, was Barth wahlweise als Gottes Offenbarung, als »Sache der Heiligen Schrift« oder, je später desto häufiger, einfach als »Jesus Christus« bezeichnet. In diesem Sinne geschieht sie nicht um ihrer selbst willen, nicht nur zur Freude ihres Verfassers oder zur Aufhellung bestimmter philologischer oder historischer Zusammenhänge, sondern sie steht im Dienst einer bestimmten Sache und erfüllt damit immer auch eine ganz bestimmte Funktion.2

2

Vgl. hierzu grundsätzlich Bergner, Um der Sache willen.

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»Je länger ich die Bibel zu mir reden ließ«

2.

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Durch Exegese zum Dogmatiker: Zum biographischen Hintergrund der Fragestellung

Karl Barth wurde im Februar 1921 von der Kanzel einer Schweizer Dorf­ gemeinde auf den Katheder einer Honorarprofessur für Reformierte Theologie an der Universität Göttingen berufen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt weder ein Promotions- noch ein Habilitationsverfahren durchlaufen, sondern verdankte die Anfrage einem Kommentar zum Römerbrief des Apostels Paulus. Die Entstehungsgeschichte dieses Kommentars ist hinlänglich bekannt, sie ist aber auch für unser Thema aufschlussreich und sei deshalb noch einmal kurz skizziert: Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, stellte Barth zu seinem Entsetzen fest, dass die meisten seiner theologischen Lehrer mit der Kriegspolitik des Deutschen Reiches konform gingen, sie sogar im Oktober 2014 mit ihrer Unterschrift unter das Manifest der 93 unterstützten, so etwa Wilhelm Herrmann, Adolf von Harnack und Adolf Schlatter. Für Barth war das ein Anlass, nicht nur an den theologischen Grundlagen seiner Lehrer, sondern an seinen eigenen theologischen Grundlagen zu zweifeln.3 Die Frage, wie man als Theologe überhaupt von Gott reden könne, stellte sich ihm neu und er suchte und fand Antworten auf diese Frage eben im Römerbrief des Paulus.4 Aus den Notizen zur Lektüre wurde ein Buch, das 1919 in erster Auflage erschien und seinem Verfasser neben einem gewissen Bekanntheitsgrad auch den Ruf an die Universität Göttingen bescherte. Der plötzliche Rollenwechsel vom Pfarrer zum Professor brachte es mit sich, dass Barth in seinen ersten Göttinger Jahren unter erheblichen Selbstzweifeln litt.5 In seinen Briefen in die Heimat beklagte er sein mangelhaftes theologisches Wissen, auch und gerade in Bezug auf den Gegenstand seines Lehrauftrags: Einführung in das reformierte Bekenntnis, die reformierte Glaubenslehre und das reformierte Gemeindeleben. Es war ein Lehrstuhl in erster Linie für Dogmatik und Dogmengeschichte, aber gerade auf diesen Gebieten sah Barth bei sich selbst große Lücken. So ist es wohl als eine Entlastungsstrategie zu verstehen, dass Barth in seinen Göttinger Semestern neben einer dogmatischen oder dogmengeschichtlichen Vorlesung immer auch eine exegetische Vorlesung anbot. In der Exegese fühlte er sich sicherer, die eingehende, auch akademische Beschäftigung jedenfalls mit den neutestamentlichen Schriften war ihm erst recht seit der RömerbriefAuslegung vertraut. Sein zweiter Ruf nach Münster im Jahr 1925 geschah folgerichtig auf einen Lehrstuhl für Dogmatik und neutestamentliche Exegese und seine erste vierstündige Hauptvorlesung in Münster war der Auslegung des Johannes-Evangeliums gewidmet. Erst auf seiner dritten Station in Bonn verzichtete Barth auf seine Entlastungsstrategie. Zwar hielt er in den ersten 3 4 5

Vgl. Tietz, Karl Barth, 89 ff. Vgl. ebd., 99. Vgl. ebd., 113 ff.

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beiden Bonner Semestern noch einmal exegetische Vorlesungen über den Jakobusbrief und den Philipperbrief, doch ab dem Sommersemester 1931 endete die Reihe der exegetischen Vorlesungen, gleichzeitig begannen die Vorlesungen zur Kirchlichen Dogmatik. Man kann also zeigen, dass Barth in seiner theologischen Biographie durch die Exegese zum Dogmatiker wurde, und damit hängt es eben auch zusammen, dass er sich in seiner Arbeit an der Kirchlichen Dogmatik jederzeit in der Lage sah, sich seinen »Schriftbeweis« selbst zu erarbeiten. Auf zwei werkgeschichtliche Entwicklungen möchte ich kurz aufmerksam machen: 1. Barths exegetische Vorlesungen zwischen 1921 und 1931 beziehen sich ausschließlich auf Schriften des Neue Testaments, die exegetischen Exkurse in der Kirchlichen Dogmatik dagegen decken fast das ganze Spektrum der biblischen Schriften ab. Man hat sogar den Eindruck, dass Barth im Lauf der Zeit an der Auslegung des Alten Testaments besondere Freude gewinnt. Schon in KD II/1, in der Gotteslehre, ist die Auslegung der alttestamentlichen Texte zur Beschreibung der göttlichen Vollkommenheiten wesentlich intensiver, lebendiger, auch eigenständiger als die der neutestamentlichen Texte.6 2. Die Exegese innerhalb der Kirchlichen Dogmatik nimmt so richtig an Fahrt auf ab KD II/1. Zwar finden sich schon in den beiden Bänden von KD I sehr viele kurze exegetische Bemerkungen, Schriftverweise, Wortuntersuchungen und kurze Auslegungen einzelner biblischer Texte. Diese exegetischen Exkurse umfassen aber in der Regel nur wenige Sätze. Der längste exegetische Exkurs in KD I umfasst sechs Seiten und ist damit schon eine echte Ausnahme.7 Barth betont zwar zu Beginn seiner Trinitätslehre in KD I/1, dass die Trinitätslehre letztlich nichts anderes sei als Schriftauslegung,8 und man kann schwer bestreiten, dass sie das bei ihm auch ist. Aber er beschränkt in KD I seine eigenen exegetischen Ausführungen im engeren Sinn, jedenfalls in Bezug auf deren Umfang. Längere exegetische Exkurse von über zehn Seiten tauchen zum ersten Mal in KD II/1 auf, eben in der Beschreibung jener zwölf Vollkommenheiten Gottes. Und in der Erwählungslehre in KD II/2 begegnen dann zum ersten Mal Exkurse von sechzig Seiten und mehr, darauf werden wir zurückkommen. 3.

Der Ort der Exegese im dogmatischen Arbeitsprozess

Kommen wir zur eigentlichen Fragestellung: Worin besteht die Funktion der Schriftauslegung im Ganzen der dogmatischen Arbeit? Mit anderen Worten: Wie ist das Verhältnis zwischen Exegese und Dogmatik bei Barth genauer 6 Zu Barths Verhältnis zum Alten Testament vgl. Bächli, Das Alte Testament in der Kirchlichen Dogmatik. 7 Vgl. KD I/1, 420–426. 8 Vgl. ebd., 352: »Sie ist tatsächlich Exegese dieses Textes.«

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»Je länger ich die Bibel zu mir reden ließ«

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zu beschreiben? Ich möchte diese Frage von drei verschiedenen Perspektiven aus beleuchten, indem ich erstens nach dem Ort der exegetischen Arbeit im Konstruktionsprozess der Kirchlichen Dogmatik frage, zweitens die konkreten inhaltlichen Auswirkungen der Schriftauslegung an zwei Beispielen vorführe und schließlich drittens die Frage nach der kritischen Funktion der Exegese für die dogmatische Arbeit stelle. Das Schriftbild der Kirchlichen Dogmatik unterscheidet bekanntlich zwischen groß gedruckten und klein gedruckten Abschnitten. In den groß gedruckten Abschnitten entfaltet Barth die im Leitsatz zu jedem Paragraphen aufgestellten Thesen, in den klein gedruckten Abschnitten setzt er sich zum einen mit Positionen der Theologiegeschichte auseinander, zum anderen geht er hier auf die biblischen Texte ein, die für die jeweilige dogmatische Ausarbeitung von Bedeutung sind. Dadurch, dass die klein gedruckten Passagen in der Regel erst nach den thematisch zugehörigen Ausführungen im Großdruck stehen, entsteht der Eindruck, als diene die Exegese lediglich einer nachträglichen Begründung von bereits feststehenden, unabhängig von der Exegese gewonnenen Erkenntnissen. Dass dieser Eindruck nicht der Realität entspricht, lässt sich aus mindestens drei Gründen feststellen: Zum einen spricht schon der reine Umfang der exegetischen Ausführungen dagegen. Damit ist weniger die Anzahl der ca. 2000 Exkurse und ca. 15.000 biblischen Bezüge9 gemeint (diese Zahlen sind freilich auch beeindruckend, müssen aber in Relation zum Gesamtumfang der KD von über 9000 Druckseiten gesehen werden) als vielmehr die Länge einzelner Exkurse: 270 Seiten Auslegung zu Gen 1–2 in KD III/1, neunzig Seiten Auslegung zu Röm 9–11 in KD II/2, sechzig Seiten biblischer Exkurs über die Erwählten und die Verworfenen im Alten Testament in KD II/2, neunzig Seiten biblischer Exkurs über die Erwählten und die Verworfenen im Neuen Testament, ebenfalls in KD II/2. Meine These ist: Wer solche exegetischen Exkursionen unternimmt, der tut dies nicht nur, um seine eigenen Überlegungen nachträglich noch ein wenig biblisch zu unterfüttern, sondern er tut dies, weil er sich gerade von der Exegese entscheidende Erkenntnisse für seine dogmatische Arbeit erhofft. Ein zweites Argument ergibt sich, wenn man auf die Einleitungssätze der exegetischen Exkurse achtet. Zwei Beispiele aus KD III/2, also jenem Band, aus dem wir bereits die Selbstbeschreibung des Exegese treibenden Dogmatikers zu Beginn gehört haben, seien hierzu genannt: In § 45 (Der Mensch in seiner Bestimmung zu Gottes Bundesgenossen) beschreibt Barth – unübersehbar vor dem Aufkommen der Gender-Frage innerhalb der theologischen Wissenschaft  – das Verhältnis zwischen Mann und Frau als die »einzige strukturelle Differenzierung« (344), in der der Mensch existiere. Gerade in ihrer Verschiedenheit seien sich Mann und Frau Mitmenschen und daher sei die Ehe die erste und vollkommene Erfüllung der »Mitmenschlichkeit«. In zwei kurzen alttestamentlichen Exkursen greift Barth auf 9

Vgl. Wharton, Karl Barth as Exegete, 6.

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die bereits genannte Auslegung zu Gen 1–2 in KD III/1 zurück, um dann die christologische Pointe zu setzen: In Christus und der Gemeinde sei das Urbild jener Gemeinschaft zwischen Mann und Frau gegeben. Diese Pointe wird auf zwei Seiten vorgestellt und dann in einem zwanzigseitigen exegetischen Exkurs beschrieben, der folgendermaßen beginnt: »Es ist am Platz, wenn wir [das] neutestamentliche Zeugnis in seinen entscheidenden Aussagen nun auch noch selbständig und in seinem eigenen Zusammenhang zu Worte kommen lassen.«10 Es folgen Auslegungen zu 2 Kor 11,2–3; Röm 7,1–6; 1 Kor 6,12–20 und Eph 5,22–33. Was auffällt: Die Reihenfolge der Darstellung unterscheidet sich offensichtlich von der Reihenfolge im Arbeitsprozess. Barth lässt in seinem exegetischen Exkurs jenes biblische Zeugnis »auch noch selbständig« und »in seinem eigenen Zusammenhang zu Worte kommen«, das von Anfang an den Hintergrund seiner Ausführungen bildet. Die Sätze im Großdruck sind gewissermaßen eine vorgezogene Zusammenfassung dessen, was im exegetischen Exkurs ausführlich erläutert wird. Das zweite Beispiel stammt aus § 47 (Der Mensch in seiner Zeit): Fast am Ende seiner Anthropologie erläutert Barth die durch Christus begründete Hoffnung im Tod. Der entsprechende zwölfseitige exegetische Exkurs beginnt mit den Worten: »Die biblische Begründung dieses weiteren Schrittes auf unserem Wege ist nun schon in unsrer dogmatischen Darstellung in ihren Grundrissen sichtbar geworden. Sie soll aber auch noch selbständig zur Geltung kommen.«11 Wieder ist deutlich: Die exegetischen Ausführungen stehen zwar in der Druckfassung der Kirchlichen Dogmatik am Ende des thematischen Abschnitts, sie bilden aber eigentlich das Gerüst des Ganzen. Anders gesagt: Die Reihenfolge, in der dogmatische Teile und exegetische Teile präsentiert werden, entspricht nicht der Reihenfolge, in der das Ganze von Barth erarbeitet wurde. Diese Einschätzung wird schließlich noch einmal erhärtet, wenn man drittens auf einige Selbstaussagen achtet, in denen Barth seine Vorgehensweise in allgemeiner Form erläutert. In KD IV/3, § 70, dem dritten Teil seiner Sündenlehre über des Menschen Lüge, schreibt Barth im einleitenden ersten Abschnitt Der wahrhaftige Zeuge: Und ich will offen gestehen, daß ich in diesem Gedankengang sekundär, vordergründlich eine überaus denkwürdige Figur des alttestamentlichen Zeugnisses vor Augen hatte, die uns hier nun auch auf unserem weiteren Weg begleiten soll: Hiob. […] Und es war so, daß ich zur Vorbereitung auf das Thema dieses Paragraphen diesmal zunächst nur Hiob und einige seiner vielen Erklärer gelesen und dann erst, im Blick auf diesen Text, über unser Thema und seine Entfaltung nachgedacht habe. Es soll also weniger der Illustration dienen, mehr so etwas wie eine Quellenangabe darstellen, wenn ich im Zusammenhang dieses Paragraphen an den geeigneten Stellen an die Aussagen dieses Textes erinnern werde.12 10 KD III/2, 363. 11 Ebd., 749. 12 KD IV/3, 443 f.

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»Je länger ich die Bibel zu mir reden ließ«

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Dies ist meines Wissens die einzige Stelle, an der Barth so explizit auf den Konstruktionsprozess eines bestimmten Paragraphen der Kirchlichen Dogmatik zu sprechen kommt, an der er sich quasi über die Schultern schauen lässt und erläutert, wie er sich auf die Erarbeitung des zu verhandelnden Themas vorbereitet hat. Nicht umsonst spricht er dabei von einem Geständnis. Laut diesem Geständnis bestand die Vorbereitung auf § 70 zuallererst in der Lektüre des Hiob-Buches und einiger Kommentare, also eine rein exegetische Vorbereitung auf ein Kapitel Dogmatik. Ebenfalls aufschlussreich sind zwei Bemerkungen aus dem englischsprachigen Kolloquium, welches Barth seit 1951 in Begleitung seiner Dogmatik-Vorlesungen in Basel anbot. Gefragt, weshalb er in seiner Engellehre in KD III/3 neue Wege gegenüber früheren Ausführungen eingeschlagen habe, antwortet Barth: »I have studied the whole question of angels in the Old and New Testament.«13 Das Studium der biblischen Texte habe zu einer Neuausrichtung der Engellehre geführt. Und im gleichen Forum nach seiner grundsätzlichen dogmatischen Methode in der Kirchlichen Dogmatik befragt, bekennt Barth: »If I understand what I am trying to do in the Church Dogmatics, it is to listen to what Scripture is saying and tell you what I hear.«14 Hier wird die dogmatische Arbeit in denkbar einfachen Worten auf den Punkt gebracht: Hören, was die Schrift sagt, und weitergeben, was ich höre. Interessant ist die Verwendung des present progressive »what Scripture is saying«, also die Betonung: Nicht, was die Schrift ein für alle Mal gesagt hat, sondern was sie je und je zu sagen hat, wenn man auf sie hört. Daraus lässt sich folgern: Die exegetische Arbeit an der Kirchlichen Dogmatik bestand nicht etwa darin, dass Barth lediglich auf frühere exegetische Arbeiten zurückgegriffen oder sich aus seinem berühmten »Zeddelkasten«15 bedient hätte. Letzterer wird zwar auch zur Verwendung gekommen sein, es ist aber davon auszugehen, dass Barths Exegese für die KD immer wieder neu ansetzte. Dafür spricht auch die Tatsache, dass im Verlauf der KD beinahe der komplette Römerbrief noch einmal Vers für Vers ausgelegt wird, eine Bezugnahme auf die frühe Auslegung aber höchst selten geschieht, und wenn, dann bisweilen auch zum Zweck der Selbstkorrektur.16 Schließlich ein letztes Selbstzeugnis zur Frage nach dem Ort der Exegese im dogmatischen Arbeitsprozess: Im Vorwort zu KD II/2 gibt Barth zu, dass er mit der in KD II/2 dargelegten Erwählungslehre stärker als bisher den Boden der dogmengeschichtlichen Tradition verlassen habe.

13 Vgl. Godsey, Karl Barth’s Table Talk, 72. 14 Vgl. Johnson, The Legacy of Karl Barth, 4. 15 Vgl. hierzu Selinger, Charlotte von Kirschbaum, 66. 16 Vgl. etwa KD II/2, 226. Eine Verteidigung der frühen Auslegung in einer konkreten Einzelfrage findet sich dagegen in KD IV/1, 701. Vgl. hierzu auch Bergner, Um der Sache willen, 292–299.

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Gerhard Bergner Viel mehr Sorge bereitet mir doch neben aller gebotenen Freude der Gedanke an den Inhalt dieses Halbbandes. Er ist darum ein besonderer, weil ich das Geländer der theologischen Tradition hier noch viel mehr loslassen mußte als in dem ersten Teil dieser Gotteslehre. Ich wäre in der Praedestinationslehre an sich viel lieber bei Calvin geblieben, statt mich nun so weit von ihm zu entfernen. Und ich würde mich auch in der Grundlegung der Ethik gerne auf gewohnteren Bahnen bewegt haben. Aber es ging und es geht nicht. Die Neuerung setzte sich bei mir, je länger ich die Bibel über diese Dinge zu mir reden ließ und was ich zu hören meine, bedachte, umso unwiderstehlicher durch. […] Eben im Blick auf diese gewisse Notlage mußten gewisse Partien des Alten und des Neuen Testamentes in diesem Halbband in so ausgedehnten Exkursen zur Sprache gebracht werden. Ich könnte mir übrigens wohl denken, daß das, was ich sagen möchte, diesem und jenem Leser in diesen Exkursen noch deutlicher werden möchte als im Haupttext.17

Barth beschreibt die theologische Tradition an dieser Stelle als ein Geländer, das er bereits in der Arbeit an KD II/1 immer wieder loslassen musste. Jetzt aber, in der Erwählungslehre, habe dieses Geländer sich als noch weniger hilfreich erwiesen, und zwar auf der Grundlage dessen, was er in den biblischen Texten glaubte verstanden zu haben. Aus exegetischen Gründen lässt er das Geländer los, so jedenfalls rechtfertigt er vor sich selbst und seiner Leserschaft die Abkehr von der Prädestinationslehre Calvins. Barth zeichnet hier das Bild eines mit den Texten der Bibel und der Tradition ringenden, und zwar über einen gewissen Zeitraum ringenden, Theologen, der gegen seine ursprüngliche Intention von biblischen Texten getrieben die dogmatische Tradition in einer zentralen Frage18 hinter sich lässt, sich also mit den biblischen Texten gegen die Tradition entscheidet. Dieses Bild ist natürlich alles andere als unproblematisch, wir werden im Schlussabschnitt darauf zurückkommen. Was sich an dieser Stelle festhalten lässt: Zumindest in seinem Selbstverständnis war Barth ein Dogmatiker, für den die Schriftauslegung am Anfang der dogmatischen Arbeit stand. Er verstand die Bibel als Quelle und nicht bloß als nachträgliche Legitimation oder Illustration seiner dogmatischen Leitsätze. In der Erwählungslehre lässt sich das gut nachvollziehen und darum verweilen wir jetzt im vierten Abschnitt nach diesem etwas anstrengenden Hin und Her zwischen den einzelnen KD-Bänden einen Moment bei KD II/2 und fragen, wie sich die laut Barth durch die biblischen Texte evozierte Abkehr von der dogmatischen Tradition inhaltlich beschreiben lässt. Wo lässt sich jene Abkehr beobachten, welche biblischen Texte haben dabei eine Rolle gespielt und welche exegetischen Erkenntnisse hat Barth in KD II/2 fruchtbar gemacht?

17 KD II/2, VII. 18 Alexander Schweizer spricht bekanntlich vom »Centraldogma« calvinischer Lehre, vgl. ders., Die protestantischen Centraldogmen, 16. Zur neueren Diskussion über diese Einschätzung vgl. McCormack, Die Summe des Evangeliums, 542–551.

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»Je länger ich die Bibel zu mir reden ließ«

4.

Der Ertrag der Exegese für Barths Dogmatik, dargestellt an zwei Beispielen

4.1

Die Erwählungslehre in KD II/2

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Karl Barth hat die Lehre von der göttlichen Gnadenwahl, wie bereits angedeutet, in Auseinandersetzung mit Calvins Lehre von der doppelten Prädestination entwickelt. Letztere gipfelt in dem berühmten Satz aus der Institutio christianae religionis in ihrer letzten Ausgabe von 1559: Unter Vorbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung (decretum), vermöge deren er bei sich beschloss, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. Wie also nun der einzelne zu dem einen oder anderen Zweck geschaffen ist, so – sagen wir – ist er zum Leben oder zum Tode ›vorbestimmt‹.19

Es ist hier nicht der Ort, um die Voraussetzungen dieser Lehre von der doppelten Prädestination ausführlich zu thematisieren, wichtig in unserm Zusammenhang ist der mehrfache Dualismus, der darin zum Ausdruck kommt: Hier die Erwählten, da die Verworfenen; hier der alles bestimmende aktive Gott, da der rein passive, die göttliche Entscheidung nur erleidende Mensch. Barths Anliegen in KD II/2 besteht darin, diesen Dualismus aufzubrechen, indem er die Lehre von Gottes Erwählung von der Christologie her neu denkt. Das bedeutet erstens: Jesus Christus ist Gottes Wahl im Anfang, es gibt kein göttliches Wirken und Wollen, das vor jener Wahl stattgefunden hätte und davon unabhängig wäre. Es bedeutet zweitens: Jesus Christus ist der erwählende Gott und der erwählte Mensch. Er ist Subjekt und Objekt der Erwählung. Kein unbekannter, unbeteiligter Despot wählt oder verwirft, sondern der in Christus bekannte, liebende Gott ist derjenige, von dem auch in der Erwählungslehre zu reden ist. Und er wählt als erstes den Menschen Jesus Christus und in ihm alle Menschen zu seinen Bundespartnern. Und es bedeutet drittens: Indem Gott den Menschen Jesus Christus wählt, wählt er für sich selbst »die Verwerfung, die Verdammnis und den Tod«, für alle anderen Menschen aber »die Erwählung, die Seligkeit und das Leben«20. Hier wird deutlich: Auch Barth lehrt die doppelte Prädestination, aber eben in jener christologischen Umformung. Das dunkle, rätselhafte Bild vom willkürlich vorherbestimmenden Gott wird abgelöst durch die Freudenbotschaft von dem die Menschen aus Liebe erwählenden Gott, die Erwählungslehre wird zur »Summe des Evangeliums, weil dies das Beste ist, was je gesagt und gehört werden kann: daß Gott den Menschen wählt«21. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist dies: Barth gewinnt seine christologische Umformung nicht irgendwo her, sondern er gewinnt sie aus 19 Inst. III, 21,5, zit. nach: Calvin, Unterricht in der christlichen Religion (1559). 20 KD II/2, 177, Hervorhebungen im Original. 21 Ebd., 1.

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dem Neuen Testament oder, wie er selber sagt, »ausgehend von Joh. 1,1 f«, also anhand einer Auslegung des Johannes-Prologs. Diese Auslegung steht (hier tatsächlich auch in der Druckversion) am Anfang des Paragraphen 33 über die Erwählung Jesu Christi. Viereinhalb Seiten, in denen neben einer Exegese von Joh  1,1–2 das gesamte biblische Zeugnis über die Präexistenz Christi ausgeleuchtet wird. Insgesamt zwanzig Belegstellen werden zitiert und das Ergebnis des Exkurses lautet: »Jesus Christus ist Gottes ewiges Wort, Gottes ewiger Beschluß, Gottes ewiger Anfang allem dem gegenüber, was außer Gott wirklich ist.«22 Die Grundentscheidung für Barths Erwählungslehre ist damit gefallen, er hat das Geländer der calvinischen Tradition losgelassen, und diese Grundentscheidung wird anschließend ausbuchstabiert in den langen Paragraphen 34 (Die Erwählung der Gemeinde) und 35 (Die Erwählung des Einzelnen). Diese beiden Paragraphen lösen die Aufgabe, die Barth sich selbst gestellt hat, indem er sich von der Tradition losgesagt hat. Es geht darum zu klären, wie das Verhältnis zwischen Erwählten und Verworfenen einerseits und das Verhältnis zwischen der Aktivität Gottes und der Aktivität des Menschen im Akt der Erwählung andererseits zu denken ist. Genau an dieser Stelle kommen eben jene »ausgedehnten Exkurse« zu stehen, die Barth im Vorwort des Bandes ankündigt, wie die folgende Tabelle auflistet: § 33: Die Erwählung Jesu Christi (101–214)

102–106: Auslegung zu Joh 1,1–2: Jesus Christus als Gottes Wort und Beschluss im umfassenden Sinn 113 f: Jesus Christus als Subjekt der Erwählung 126: Jesus Christus als Objekt der Erwählung

§ 34: Die Erwählung der Gemeinde (215–336)

Die Erwählung Israels nach Röm 9–11 222–226: Röm 9,1–5: Israel und die Kirche 235–256: Röm 9,6–29: Das Gericht und das Erbarmen Gottes 264–286: Röm 9,30–10,21: Die gehörte und die geglaubte Verheißung Gottes 294–336: Röm 11: Der vergehende und der kommende Mensch

§ 35: Die Erwählung des Einzelnen (336–563)

Erwählte und Verworfene im AT 391–393: Gottes Liebe zu den Verworfenen im AT 393–404: Typologische Auslegung des Kultgesetzes (Lev 14,4–7; 16,5–22) 404–434: Saul und David 434–453: Der Gottesmann aus Juda und der Prophet in Bethel (1 Kön 13) Erwählte und Verworfene im NT 464–498: Die Bestimmung des Erwählten: Der Apostolat 508–563: Die Bestimmung des Verworfenen: Judas

22 Ebd., 106.

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Was neben dem enormen Umfang der biblischen Exkurse in KD II/2 auffällt, sind die eher selten rezipierten alttestamentlichen Texte, auf die Barth eingeht. Ich weiß nicht, ob es überhaupt eine protestantische Dogmatik seit der Aufklärung gibt, in der die Bestimmung über die Opfergesetze in Lev 14 und 16 oder die Erzählung vom Gottesmann aus Juda in 1 Kön 13 ausgelegt werden. Interessant ist aber auch die inhaltliche Ausrichtung der jeweiligen Auslegungen. Sie dienen allesamt dazu, den Dualismus aufzubrechen, der die Prädestinationslehre jedenfalls bei Calvin kennzeichnet, und hierbei lassen sich neben der bereits erläuterten christologischen Grundausrichtung drei Strategien unterscheiden. Die Auslegung von Röm 9–11 läuft auf einen heilsgeschichtlichen Antidualismus hinaus. Israels Verwerfung sei eben kein letztes Wort, sondern am Ende werde sich zeigen, dass das scheinbar verworfene Gottesvolk schließlich doch zum Heil gelange und so aufs Neue als das erwählte Volk sichtbar werde. Die Auslegung zu den Erwählten und den Verworfenen im Alten Testament zielt darauf, Erwählte und Verworfenen in einer größtmöglichen Nähe zu zeichnen. In sehr eindrücklichen Nacherzählungen lässt Barth die jeweiligen Protagonisten auftreten. Er betont Gottes bleibende Fürsorge gerade für die scheinbar Verfluchten Kain, Ismael, Esau u. a. Er zeichnet ein betont positives Bild des scheinbar verworfenen Königs Saul und von dessen »mikroskopischen Sünden«. Die Sünden des bleibend erwählten Königs David dagegen bezeichnet er als »blutrot im Verhältnis zu dem, was Saul getan hat«.23 Man kann dieses Vorgehen als einen dialektischen Antidualismus bezeichnen, wieder von dem Anliegen bestimmt, den scharfen Dualismus zwischen Erwählten und Verworfenen zu überwinden. Beispielhaft ist jene Bemerkung über David und Saul, nach der David »ebenso eine Saulsseite wie Saul eine Davidsseite« habe.24 Und schließlich die Exkurse über die Erwählten und Verworfenen im Neuen Testament, stellvertretend dargestellt an den Personen der Apostel einerseits und des Judas andererseits: Wieder betont Barth einerseits die zahlreichen Verfehlungen der erwählten Apostel und unterstreicht andererseits – lange vor Walter Jens25 – die positive, ja heilsnotwendige Funktion des Judas-Verrats. Vor allem aber kommt Barth im Exkurs über den Apostolat zu einer positiven Beschreibung der freien Aktivität des erwählten Menschen, die in Anknüpfung an die Evangelien-Berichte als eine Freiheit für andere charakterisiert wird. Dass Barth gerade in diesem Exkurs einem gewissen Systematisierungszwang erliegt, wird man schwer bestreiten können: Er unterteilt die Berichte der Synoptiker in drei Phasen, nämlich Jesu Auftreten in Galiläa, seinen Leidensweg sowie die nachösterlichen Berichte. Jeder dieser drei Stationen ordnet er eines der Ämter Christi nach der traditionellen Lehre des munus triplex zu: In Galiläa werde Christus als Prophet beschrieben, auf seinem Leidensweg 23 Vgl. ebd., 421. 24 Vgl. ebd., 410. 25 Vgl. Jens, Der Fall Judas.

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als Priester und nach Ostern als König. Aber die Systematisierung geht noch einen Schritt weiter: Das Wirken der Apostel wird analog auf jene drei Phasen aufgeteilt: In Galiläa finde ihre Berufung statt, auf dem Weg nach Jerusalem komme ihre Funktion als Apostel zum Vorschein und nach Ostern ihr besonderer Auftrag. Das alles geht so glatt auf, dass man die Frage stellen kann und muss, ob in dieser Schematisierung nicht mindestens genauso die Dogmatik die Exegese beeinflusst wie umgekehrt. Ungeachtet dessen lässt sich festhalten: Die dogmatische Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gottes Erwählungsfreiheit einerseits und der aufgrund der Erwählung erst ermöglichten freien Aktivität des Menschen andererseits gewinnt durch den exegetischen Exkurs zweifellos an Plausibilität und Anschaulichkeit. Unter anderem schützt die Exegese Barth vor dem Missverständnis, als könne die Erwählung zum Apostel in irgendeiner Weise als ein Besitz oder ein besonderer Status verstanden werden. Erwählung, so die Aussage des Exkurses, ist die Bestimmung zur Solidarität mit all jenen, die ihre Erwählung noch nicht erkannt haben. Man kann von einem missionarischen oder diakonischen Antidualismus sprechen, der wiederum zuallererst auf exegetische Weise gewonnen und begründet wird. 4.2

Die Sündenlehre in KD IV/3

Um zu erläutern, was die Exegese inhaltlich für Barths Dogmatik austrägt, soll noch ein zweites Beispiel herangezogen werden. Dazu werfen wir einen Blick in Barths Sündenlehre, die sich auf die ersten drei Teilbände seiner Versöhnungslehre in KD IV/3 erstreckt. In Kontrastierung zu den christologischen Kapiteln über den Gehorsam des Gottessohns, die Erhöhung des Menschensohns und den wahrhaftigen Zeugen Jesus Christus wird die Sünde des Menschen dargestellt als Hochmut, Trägheit und Lüge. Anders als im Fall der Lüge unterscheidet Barth bezüglich des Hochmuts und der Trägheit noch einmal je vier Erscheinungsformen: Der Mensch will sein wie Gott, er will selber herrschen, er will sein eigener Richter sein und sein eigener Helfer – das sind die vier Formen des Hochmuts. Hinsichtlich der Trägheit unterscheidet Barth zwischen den Phänomenen der Dummheit, der Unmenschlichkeit, der Verlotterung und der Sorge. Die Ableitung dieser acht Erscheinungsformen geschieht nicht unmittelbar auf exegetischem Weg. Barth orientiert sich nicht am Dekalog, an den Forderungen der Bergpredigt oder einem der Tugendkataloge in den neutestamentlichen Briefen. Er findet diese Formen vielmehr im Umkehrverfahren: Die vier Formen des Hochmuts kontrastieren mit den vier Formen der Selbsterniedrigung, die der Gottessohn Jesus Christus auf seinem »Weg in die Fremde« auf sich nimmt. Christus verzichtet auf seine göttliche Macht, auf seine Herrschaft, er lässt sich richten und verzichtet auf jegliche Selbsthilfe. Der von Christus unterschiedene Mensch dagegen will sein wie Gott, will selber herrschen, will sein eigener Richter und sein eigener Helfer sein. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

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Im zweiten Fall, also zur Gewinnung der vier Formen der menschlichen Trägheit bezieht sich Barth auf jene vier Grundbeziehungen des Menschen, die er in der Anthropologie in KD III/2 unterscheidet: Die Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer, zu seinen Mitmenschen, zur Verfasstheit seiner Seele sowie zu seiner zeitlichen Begrenztheit. Sünde wird als Störung jener Grundbeziehungen verstanden und folglich definiert als Dummheit, Unmenschlichkeit, Verlotterung und Sorge. Interessant ist, dass Barth zu jeder dieser acht Erscheinungsformen der Sünde Beispielgeschichten aus dem Alten Testament findet, in denen er jeweils eine dieser Erscheinungsformen illustriert sieht und die er anhand eigener Nacherzählungen auslegt, wie die folgende Tabelle zeigt. Des Menschen Hochmut KD IV/1, § 60,2

Des Menschen Trägheit KD IV/2, § 65,2

1. Der Mensch will sein wie Gott.

Der Bundesbruch (Ex 32) KD IV/1, 470–479

5. Die Dummheit

David, Abigail und Nabal (1 Sam 25) KD IV/2, 481–486

2. Der Mensch will selber herrschen.

Der Aufstieg und Fall Sauls (1 Sam 8–31) KD IV/1, 485–494

6. Die Unmenschlichkeit

Die Botschaft des Propheten Amos KD IV/2, 502–509

3. Der Mensch will sein eigener Richter sein.

Ahab und Naboth (1 Kön 21) KD IV/1, 504–508

7. Die Verlotterung

David und Batseba (2 Sam 11,1–12,25) KD IV/2, 524–527

4. Der Mensch will sein eigener Helfer sein.

Die Ereignisse vor und nach der Eroberung Jerusalems (Jer 27–29; 37–45) KD IV/1, 520–531

8. Die Sorge

Die Aussendung der Kundschafter (Num 13–14) KD IV/2, 541–546

Es ist dies eine der wenigen Ausnahmen, in denen die Auslegung biblischer Texte als Illustration dogmatischer Aussagen fungiert und weniger als deren Quelle. Trotzdem ist sie auch hier unverzichtbar, weil wichtige Anliegen von Barths Sündenlehre erst in dieser Auslegung zur Geltung kommen. Dies gilt insbesondere für das Anliegen, dass Barth nicht abstrakt, sondern konkret von der menschlichen Sünde reden will. Sünde ist nach Barth konkreter Widerspruch des Menschen gegen den Versöhnungswillen Gottes, welcher in der »konkreten, einmal geschehen Christusgeschichte« Ereignis geworden ist.26 Sie ist kein von der Versöhnung unabhängiges moralisches Vergehen, auch kein ewiges Verhängnis, sondern konkreter Widerspruch, der sich je und je 26 Vgl. KD IV/1, 79 f.

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an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit und durch bestimmte Menschen ereignet. Dieses Verständnis der Sünde findet seinen Ausdruck in den narrativen exegetischen Exkursen innerhalb der Sündenlehre. Hier, in der Nacherzählung alttestamentlicher Erzähltexte kommt jene Konkretheit zum Tragen, auf die es Barth in seiner Sündenlehre ankommt. Darum gilt: Wer die exegetischen Exkurse in der Sündenlehre außer Acht lässt, läuft Gefahr, Barths Sündenlehre wie die gesamte Versöhnungslehre einseitig zu verstehen. Es wird dann gesagt, Barth habe »den kontingenten Charakter von Sünde und Versöhnung in Frage«27 gestellt bzw. die Gnade zu einem »Prinzip« erhoben, so dass »die Sünde selbst für Gott eine Notwendigkeit«28 sei. Barths Sündenlehre spricht eine andere Sprache und die exegetischen Exkurse stehen zentral für ein konkretes, kontingentes Verständnis von Beidem: Gottes Versöhnung und menschlicher Sünde. Nur am Rande sei erwähnt, dass Barth in seinen Auslegungen Erkenntnisse der modernen narratologischen Exegese vorwegnimmt, indem er unbewusst deren Analyseaspekte in seinen Auslegungen zur Geltung bringt.29 Dass diese Exkurse in ihrer narrativen Gestalt darüber hinaus ihre Leserinnen und Leser dazu einladen, sich selbst in den alten Geschichten zu verorten, sich mithin selbst als gerechtfertigte Sünder zu erkennen, ist mindestens eine von Barth wenn nicht vordergründig intendierte, so doch zumindest stillschweigend akzeptierte Begleiterscheinung seiner narrativen Exegese, nicht nur innerhalb der Sündenlehre.30 5.

Kritische Exegese

Lässt sich aus dem bisher Gesagten ableiten, dass Barths Schriftauslegung für die Kirchliche Dogmatik von fundamentaler Bedeutung war, so ist umso mehr die Frage nach ihrer kritischen Funktion zu stellen. Zu Klärung des Verhältnisses von Dogmatik und Exegese muss gefragt werden, ob die Exegese nur dazu da ist, um die Ergebnisse der Dogmatik nachträglich zu bestätigen oder ob sie tatsächlich eine eigenständige und damit eben auch kritische Funktion hat, indem sie Neues, bisher Unentdecktes ans Licht bringt. Auf den ersten Blick scheint diese Frage in Bezug auf Barths Schriftauslegung leicht zu beantworten. Wenn sich ein überzeugter Reformierter ausgerechnet in der Erwählungslehre schweren Herzens von Calvin lossagt und sich dabei auf die Auslegung der Heiligen Schrift beruft – oder: wenn jemand in seiner Tauflehre gegen die überwältigende, auch überkonfessionelle Mehrheit

27 28 29 30

Vgl. Härle, Sein und Gnade, 327 f. Vgl. Roth, Die fundamentalethische Bedeutung, 192. Vgl. Bergner, Um der Sache willen, 249–264. Beispielhaft genannt sei die narrative Auslegung von Röm 7 in KD IV/1, 648–659.

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und Tradition die Kindertaufe infrage stellt – und dies so gut wie ausschließlich exegetisch begründet,31 dann müsste die Frage nach dem kritischen Potential dieser Schriftauslegung doch schnell beantwortet sein. Ich gestehe: Je länger ich mich mit Barths Schriftauslegung beschäftigt habe, desto schwerer ist mir diese Antwort gefallen. Wenn Schriftauslegung nämlich eine kritische Funktion haben soll, dann bedeutet dies, dass die Auslegenden über ihre eigenen Voraussetzungen jedenfalls so weit im Bild sein müssen, dass sie in der Lage sind, mögliche Konflikte zwischen dem eigenen, mitgebrachten Standpunkt und dem, was sie in den Texten vorfinden, zu benennen. Die Vorstellung, dass das, was da steht, deckungsgleich sei mit dem, was als eigene Ansicht oder Erkenntnis mitgebracht wird, ist naiv, egal um welche literarische Quelle es sich handelt. Sie ist aber erst recht naiv mit Blick auf die Bibel und die Vielstimmigkeit ihrer Autoren. Barth hat diese Vielstimmigkeit wahrgenommen, er hat sie auch immer wieder stark gemacht in seinen Auslegungen. Es finden sich bei ihm zahlreiche synoptische Vergleiche und die Tatsache, dass die darin zur Geltung gebrachten Unterschiede in der Regel als sachlich untergeordnet betrachtet werden, ändert nichts daran, dass man ihm ein Problembewusstsein hinsichtlich der im engeren Sinne literarischen Aufgabe kritischer Schriftauslegung nicht gänzlich absprechen kann. Barth hat auch den historischen Abstand der biblischen Texte wahrgenommen, immer wieder das bekannte Lessing-Wort vom garstig breiten Graben zitiert.32 Und wenn seine Strategie, diesen Graben mittels narrativer Vergegenwärtigung zu überwinden, auch durchaus als eigenwillig bezeichnet werden kann, so ist zu seiner Verteidigung daran zu erinnern, dass er damit, wie schon erwähnt, seiner Zeit voraus war und letztlich in der Praxis durchführt, was die narratologische Exegese erst einige Jahrzehnte später theoretisch eingeholt hat. Auch Barths Kritik an der Suche nach den historischen Tatsachen, die den biblischen Texten zugrunde liegen, besonders pointiert in seiner wiederholten Kritik an der Suche nach dem historischen Jesus,33 kann gute Argumente für sich beanspruchen. Aber, und das ist das entscheidende Desiderat: Von Konflikten, die Barth als dogmatisch interessierter Exeget mit den Bibeltexten ausgefochten hätte, ist so gut wie nie etwas zu spüren. Es herrscht in seinen Auslegungen eine große, selbstverständlich angenommene Harmonie zwischen dem, was die Texte sagen, und dem, was eben Karl Barth in seiner Dogmatik sagt. Noch einmal sei an jene Selbsteinschätzung aus dem englischsprachigen Kolloquium erinnert: »If I understand what I am trying to do in the Church Dogmatics, it is to listen to what Scripture is saying and tell you what I hear.« So einfach ist das nach Barths Vorstellung. Ob es in der Tat so einfach ist, ist mehr als fraglich. Man erfährt so gut wie nie etwas von Bibeltexten, die einer 31 Vgl. KD IV/4, 49–75. 32 Vgl. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, 12 f. 33 Vgl. etwa KD I/2, 546, oder KD IV/2, 113 f.

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anderen Meinung wären als der von Barth vertretenen. Die Auswahl der ausgelegten Texte wird so gut wie nie begründet, ebenso wenig die Auswahl der einzelnen Auslegungsschritte oder die inhaltliche Schwerpunktsetzung der Auslegung. Es mag ja sein, dass David »ebenso eine Saulsseite wie Saul eine Davidsseite« hat, aber ist das wirklich das Entscheidende, was die biblischen Texte über diese beiden ungleichen Könige zu sagen haben? Weitere Fragen drängen sich auf: Welche Folgen hat es, wenn man aus dem Alten Testament besonders häufig die Erzähltexte heranzieht, die prophetischen Texte oder die Lehrbücher aber verhältnismäßig selten zu Wort kommen? Was geschieht, wenn nicht nur das Neue Testament vor dem Hintergrund des Alten ausgelegt wird, sondern bisweilen auch in der Auslegung alttestamentlicher Texte das Neue Testament die entscheidenden Argumente liefert?34 Solche hermeneutischen Fragen bleiben weitgehend im Dunkeln, und darum ist eine kritische Funktion von Barths Schriftauslegung nur teilweise zu konstatieren. Barths Schriftauslegung ist kritisch, indem sie die theologische Tradition kritisiert und im Zweifel auch hinter sich lässt. Sie ist nachkritisch, indem sie die Ergebnisse historisch-kritischer Schriftauslegung mal mehr, mal weniger interessiert zur Kenntnis nimmt und sich in großer Freiheit aus dem historisch-kritischen Werkzeugkasten bedient. Sie ist aber weitgehend unkritisch hinsichtlich der Unterscheidung ihrer selbst vom biblischen Zeugnis und hinsichtlich der hermeneutischen Grundentscheidungen, die sie trifft. Damit hängt es wohl auch zusammen, dass Barths Schriftauslegung bei aller Genialität und trotz aller Bewunderung, die sie auch unter Fachexegeten hervorgerufen hat,35 letztlich nie dazu geeignet war, Schule zu machen. Barth hat sich selbst in seiner Schriftlehre in KD I/2 über die »drollig[e]« Annahme lustig gemacht, biblische Exegese müsse in möglichst voraussetzungsloser »Unbefangenheit« geschehen. Er fordert stattdessen eine »von der Sache« ergriffene und beständig an der Sache orientierte Exegese.36 Man wird aber auch von Barths eigenem Offenbarungsverständnis her fragen müssen, ob nicht ein gerade von dieser Sache ergriffener Ausleger gut daran tut, um die bleibende Fremdheit und Widerständigkeit der biblischen Texte zu wissen und dieses Wissen in seiner Auslegung sichtbar zu machen. Davon unbeschadet bleibt die Einsicht, dass Barths exegetische Arbeit für die Kirchliche Dogmatik ungeheuer fruchtbar und gewinnbringend war und dass es auch heute noch sowohl in exegetischer als auch in dogmatischer Hinsicht ungeheuer fruchtbar und gewinnbringend – und nebenbei gesagt auch immer wieder höchst unterhaltsam – ist, die exegetischen Exkurse in der Kirchlichen Dogmatik zu studieren.

34 Vgl. etwa die christologische Zuspitzung in der Auslegung des Geschlechterverhältnisses in Gen 1–2 durch die Bezugnahme auf Epheser 5,21–32, KD III/1, 366–377. 35 Vgl. etwa Smend, Karl Barth als Ausleger; Lichtenberger, Das Ich Adams, 66. 36 Vgl. KD I/2, 520.

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Für Barth selbst und seine Dogmatik war die Schriftauslegung von kaum zu überschätzender Bedeutung. Die Kirchliche Dogmatik wäre ohne Schriftauslegung nicht nur eine völlig andere Dogmatik geworden. Ohne Schriftauslegung hätte es diese Dogmatik schlicht und ergreifend nicht gegeben. Literatur Bächli, Otto, Das Alte Testament in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 1987. Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik I–IV, Zollikon-Zürich 1932–1967 (= KD). Bergner, Gerhard, Um der Sache willen. Karl Barths Schriftauslegung in der Kirchlichen Dogmatik (FSÖTh 149), Göttingen 2015. Calvin, Johannes, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio christianae religionis, nach der letzten Ausgabe (1559) übersetzt und bearbeitet v. Otto Weber, Neukirchen 2 1963. Godsey, John D., Karl Barth’s Table Talk (SJTh.OP 10), Edinburgh 1963. Härle, Wilfried, Sein und Gnade. Die Ontologie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik (TBT 27), Berlin / New York 1975. Jens, Walter, Der Fall Judas, Stuttgart 91999. Johnson, Robert C., The Legacy of Karl Barth, in: D. L. Dickerman (ed.), Karl Barth and the Future of Theology. A Memorial Colloquium Held at the Yale Divinity School, January 28, 1969, New Haven, CT 1969, 1–4. Lessing, Gotthold E., Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), in: Ders., Werke, Bd. 8: Theologiekritische Schriften, III. Philosophische Schriften, in Zusammenarbeit mit K. Eibl u. a. hg. v. H. G. Göpfert, München 1979, 9–14. Lichtenberger, Hermann, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7 (WUNT 164), Tübingen 2004. McCormack, Bruce L., Die Summe des Evangeliums – die Erwählungslehre in den Theologien von Alexander Schweizer und Karl Barth, in: M. Welker / D. Willis (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, NeukirchenVluyn 1998, 541–566. Roth, Michael, Die fundamentalethische Bedeutung der Unterscheidung von Schöpfung und Erlösung. Bemerkungen zur Zwei-Regimenten-Lehre, NZSTh 46 (2004), 184–206. Schweizer, Alexander, Die protestantischen Centraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der reformierten Kirche, Bd. 1: Das 16. Jahrhundert, Zürich 1854. Selinger, Suzanne, Charlotte von Kirschbaum und Karl Barth. Eine biografisch-theologiegeschichtliche Studie, Zürich 2004. Smend, Rudolf, Karl Barth als Ausleger der Heiligen Schrift, in: Ders., Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien, Bd. 3 (BEvTh 109), München 1991, 216–246. Tietz, Christiane, Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch, München 2018. Wharton, James A., Karl Barth as Exegete and His Influence on Biblical Interpretation, USQR 28/3 (1972), 5–13.

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Peter Opitz

Dialektisch-theologische Reformatoreninterpretation und die Frage nach der Sachbezogenheit der Kirchengeschichte 1.

Die Aufgabe

Dass Karl Barth unter Kirchenhistorikerinnen und -historikern einen guten Ruf hätte, lässt sich kaum behaupten. Als Dogmatiker, der er sein Leben lang war, hat er bekanntlich die Kirchengeschichte, im 19. Jh. noch eine theologische Königsdisziplin, gleich zu Beginn seines opus magnum zu einer theologischen »Hilfswissenschaft« heruntergestuft, was ihm von Vertretern dieser Zunft bis heute nicht verziehen wird.1 Kurt Nowak verbindet mit seinem Namen geradezu den Abbruch der Beziehungen zwischen den beiden Disziplinen.2 Andererseits hat Barth seine akademische Lehrtätigkeit auf dem Lehrstuhl für »Reformierte Theologie« in Göttingen mit Streifzügen in die Geschichte begonnen. In den Vorlesungen über den Heidelberger Katechismus (WS 1921/22), die Theologie Calvins (SS 1922), die Theologie Zwinglis (WS 1922/23) und die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften (SS 1923) ging es um prägende Texte und Gestalten der reformierten Tradition. Darüber hinaus zieht sich das Gespräch Barths mit den Reformatoren bis in die letzten Bände der Kirchlichen Dogmatik hinein. Die mir zur Beantwortung aufgegebene Doppelfrage schließt hier an: Wie ist Barths Umgang mit den Reformatoren aus einer heutigen Sicht zu beurteilen, und ist ihm Relevanz abzugewinnen im Blick auf eine Kirchen- und Theologiegeschichte als einer theologischen Disziplin? Dass damit ein sehr weites Feld eröffnet ist, liegt auf der Hand, nicht nur aufgrund des Umfangs von Barths Oeuvre, sondern vor allem auch aufgrund der Vielschichtigkeit der Probleme, in die eine solche Untersuchung zwangsläufig führt. Im Besonderen gilt es, eine kirchengeschichtliche Perspektive mit einem Blick auf Barths theologisches Anliegen in seinem Umgang mit den Reformatoren Calvin und Zwingli zu verbinden oder doch miteinander ins Gespräch zu bringen. Zweifellos war es Barths Ziel in der Göttinger Zeit, sich besser mit den Gründergestalten der reformierten Theologie vertraut zu machen, aber auch, mit ihnen über sein eigenes theologisches Anliegen ins Gespräch zu kommen und sie nach Möglichkeit als Zeugen zu verwenden. Die verschiedenen Aspekte verschränken sich dabei in den Vorlesungen zu Calvin und Zwingli 1 2

KD I/1, 3. Vgl. Nowak, Historische oder dogmatische Methode, 294 f.

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Dialektisch-theologische Reformatoreninterpretation 

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in komplexer Weise. Was Barth nicht ohne Selbstironie im Blick auf seine Vorlesung über die Theologie Calvins formuliert hat, gilt in noch verstärktem Maße für seine Vorlesung über die Theologie Zwinglis und macht schon nur eine angemessene Präsentation dieser Vorlesungen in der erforderlichen Kürze schwierig: Sie ist »ein ziemliches Ungeheuer: Biographie, Theologie, Zeitgeschichte, Beleuchtung sub specie aeternitatis und noch ein bisschen der Gegenwart. Das alles schlingt sich ineinander zu einer einzigen Kugel, die langsam weiterrollt […] das ist im Einzelnen gewiss oft unergiebig und für die Zuhörer nur dadurch erträglich, dass ich es mit drohender, wichtiger Stimme vortrage.«3 2.

Barths Göttinger Vorlesungen zwischen Reformationsgeschichte und dialektisch-theologischem Anliegen

2.1

Eine reformationsgeschichtliche Perspektive

Wir werfen zunächst einen Blick auf Barths Vorlesungen über die Theologie Calvins (SS 1922) und über die Theologie Zwinglis (WS 1922/23) aus einer reformationshistorischen Perspektive.4 Dabei kann es nicht um eine Diskussion von einzelnen Behauptungen Barths gehen, auch wenn hier durchaus kein geringer Diskussionsbedarf besteht, sondern lediglich um die Frage, wie Barth die Reformatoren im Ganzen präsentiert und wie er sich dabei bemüht hat, ihnen gerecht zu werden. Aus verschiedenen Gründen lässt sich dies an Barths Zwinglivorlesung deutlicher illustrieren als an derjenigen über Calvin, weshalb ihr etwas mehr Raum gewährt werden soll. In beiden Vorlesungen geht Barth in seiner Darstellung jeweils zunächst biographisch-werkgeschichtlich vor. Er orientiert sich damit an Vorbildern, welche im Rahmen einer Lebensgeschichte eines Reformators gleichzeitig dessen Theologie behandelten. Auch sein Vater gehörte dazu.5 Gemeinsam ist beiden Vorlesungen zudem, dass sie Fragmente blieben. Aus Zeitgründen musste Barth im Verlauf des Semesters jeweils seinen Vorlesungsplan ändern und die Vorlesung schließlich abbrechen. In der Calvinvorlesung erreichte Barths Behandlung von Calvins Leben lediglich den Sommer 1538 und wird durch eine knappe Darstellung des Straßburger Aufenthalts beendet. Zu Calvins eigentlicher Wirkungszeit in Genf kommt Barth nicht. Calvins Theologie wird im Rahmen seiner Biographie behandelt, vor allem in Form einer ausführlichen Darstellung seiner ersten Institutio von 1536. Barth stellt sie kapitelweise vor und gibt so einen durch3 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 86 (Rundbrief Barths vom 28. Juni 1922). 4 Unter »historisch« soll im Folgenden einfach die Kernaufgabe »historischer« Arbeit verstanden werden, Anwalt der Quellen zu sein und Behauptungen über Ereignisse, Gestalten und Ideen der Vergangenheit an den vorhandenen Quellen kritisch zu prüfen (vgl. Kocka, Angemessenheitskriterien). 5 Vgl. GA 23, XI (Einleitung von Hans Scholl).

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aus erhellenden und zutreffenden Einblick in Calvins theologisches Denken. Gleichzeitig bewegt sich Barth auf der Ebene des Kommentators, der die präsentierten geschichtlichen Vorgänge und theologischen Gedanken Calvins dem Gegenwartspublikum erläutert und Befremdliches benennt und rechtfertigt. Als grundlegendes, die Periode des ersten Genfer Aufenthalts Calvins prägendes Thema arbeitet Barth, zweifellos zu Recht, Calvins Bestreben heraus, eine sichtbare nach Gottes Wort reformierte und geordnete Kirche aufzubauen. Barth bearbeitet es zugleich als fundamentales theologisches Problem: Es ist das »Problem des Verhältnisses von Religion und Ethik«.6 Barth kann es als die »paradoxe Beziehung jenseitiger Wahrheit auf die diesseitige Wirklichkeit«7 bezeichnen und als Problem des Übergangs von der »Vertikalen« der reinen Gottesbeziehung in die »Horizontale« des christlichen Lebensvollzugs in der Zeit mit eindrücklichen Bildern beschreiben.8 Anders als in der Calvinvorlesung unterteilt Barth seine Vorlesung über die Theologie Zwinglis9 in einen biographischen und in einen theologischen Teil. Der chronologische Erzählbogen im Kapitel zu »Zwinglis Leben«10 reicht von Zwinglis Anfängen in Zürich bis zur Abschaffung der Messe im Frühjahr 1525, wobei die einzelnen Ereignisse, Schriften und Themenbereiche unterschiedlich ausführlich referiert werden. Anschaulich und detailreich kommen die Disputationen von 1523 zur Sprache. Das Kapitel endet mit einem Blick auf die Ausbreitung der Reformation in der Eidgenossenschaft mit Schwerpunkt auf den Thesen der Berner Disputation von 1528, und mit einem Abschnitt zu Zwinglis Auseinandersetzung mit den Täufern. Dieser ganze biographische Teil zeugt von Barths Bemühen um eine eigenständige Quellenlektüre, wobei er verständlicherweise stark von der Sekundärliteratur zehrt.11 Bereits in diesem Teil referiert Barth die Grundgedanken einiger wichtiger Schriften Zwinglis (z. B. Die Klarheit und Gewissheit des Wortes Gottes oder Der Hirt) und skizziert damit theologische Grundanliegen des Zürcher Reformators. Obwohl sich Barth dabei generell stark an den Monographien von Staehelin und Baur orientiert, lassen Barths Formulierungen und Pointen Eigenständigkeit erkennen, wobei sein eigenes Anliegen unverkennbar durchscheint.12 Allerdings werden gerade die wichtigsten zusammenfassenden theologischen Schriften Zwinglis, etwa die Auslegung der Thesen oder der Commentarius – immerhin die erste reformierte »Dogmatik« elf Jahre vor Calvins erster Institutio und für diese Vorbild – nur knapp thematisiert oder lediglich 6 Barth, Die Theologie Zwinglis, 67. 7 Barth, Die Theologie Calvins, 481. 8 Vgl. etwa ebd., 65.98 f. 9 Im Folgenden: Barth, Die Theologie Zwinglis. 10 Ebd., 108–250. 11 Vgl. etwa Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 151 (Rundbrief Barths vom 28. Februar 1923). 12 Barth, Die Theologie Zwinglis 142–147.183–188. Vgl. Staehelin, Zwingli, Bd. I, ­240–243; Baur, Zwinglis Theologie, Bd. 2, 154–165.

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gestreift. Explizite Bekenntnisschriften Zwinglis wie die Fidei ratio oder die Fidei expositio werden nicht behandelt; sie stammen aus der Zeit nach dem Marburger Religionsgespräch. Barths eigentliche Beschäftigung mit Zwinglis Theologie nimmt in etwa die zweite Hälfte der Vorlesung ein und ist überschrieben mit: »Zwinglis Theologie im Rahmen des Abendmahls-Streites«.13 Damit sind Perspektive und Textauswahl gesetzt. Die Quellengrundlage bilden Zwinglis Abendmahlsschriften im Vorfeld und in der direkten Auseinandersetzung mit Luther. Die zum Verständnis Zwinglis wichtigen späten Abendmahlstexte werden von Barth für Zwinglis Theologie und Abendmahlsverständnis nicht herangezogen.14 Dasselbe gilt grundsätzlich für alle Schriften, in denen Zwingli sein theologisches Anliegen darlegt und entfaltet, anders als Barth selber im biographischen Teil noch in Aussicht gestellt hatte.15 Auch die von Barth im biographischen Teil in ihren theologischen Pointen durchaus treffend präsentierten Schriften spielen im »theologischen« Teil seiner Vorlesung keine Rolle mehr. Stattdessen ist der Abendmahlsstreit mit Luther als »Rahmen« für Zwinglis theologisches Denken gesetzt. Und nicht nur dies: Buchstäblich von der ersten bis zur letzten Seite des gedruckten Bandes bildet Luther den Referenzpunkt für Barths Zwinglidarstellung. Entsprechend beginnt Barth seine Zwinglivorlesung mit einem Abschnitt über »Zwingli im Urteil des Luthertums«, gefolgt von einem Abschnitt über »Das Problem der Reformation Zwinglis«.16 Hier referiert und diskutiert Barth kritische lutherische Stellungnahmen zu Zwinglis Theologie, bevor er, nach über einhundert Seiten Rede über Zwingli, sich erstmals dem Reformator und seinen Schriften selber zuzuwenden beginnt.17 Forschungsarbeiten zu Zwingli werden nicht besprochen. In der Präsentation des Abendmahlsdiskurses mit Luther arbeitet Barth Zwinglis theologisches Anliegen profiliert und sachlich zutreffend heraus, was auch für Luthers Anliegen gilt, dem Barth umfangmäßig in etwa gleich viel Raum gibt. Gleichzeitig tritt Barth nicht nur als Interpret der Gedanken Zwinglis oder Luthers auf, sondern, und im Verlauf der Darstellung zunehmend, auch als Kommentator. Dabei kann er einerseits auf das »Positive« hinweisen, das Zwingli zu sagen hatte, aber auch vor den »fatalen Dinge[n]« warnen, die man bei Zwingli zu lesen bekommt, oder auf die »Tragik« seiner Rolle als Reformator hinweisen, die mit der Begrenztheit seiner Einsicht in diese seine Rolle zusammenhing.18 Mit Recht insistiert Zwingli gemäß Barth im Abendmahlsstreit gegen Luther auf dem bleibenden Verheißungscharakter der Gegenwart Christi im Sakrament, dem vonseiten der Menschen das »sur13 Barth, Die Theologie Zwinglis, 251–510. 14 Etwa: Fidei ratio, Z VI.2, 790–817; De convitiis Eckii, Z VI.3, 249–291; Fidei expositio, Z VI.5, 50–162. 15 Barth, Die Theologie Zwinglis, 225. 16 Ebd., 3–107. 17 Ab ebd., 108. 18 Vgl. z. B. ebd., 354.358 f.444–446.

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sum corda« entspricht.19 Denn indem Luther, so Barth, aus Gottes Zusage im Sakrament eine Gabe macht, die nicht mehr verkündigt zu werden braucht, sondern schon gesetzt ist, ergibt sich bei ihm im Sakrament eine »mittlere Sphäre von oben eingestifteter und von unten aufgenommener Gottes­ wirklichkeit in Menschenhand.«20 Genau dies hatte Zwingli abgelehnt. Immer wieder lobend hervorgehoben wird das, was Barth als »das Beste« an der Theologie des Zürcher Reformators beurteilt: Zwinglis Lehre von den »Parallelen« bzw. Ebenen,21 die es ermöglichen, eine Relation zwischen Göttlichem und Menschlichem auszusagen und zugleich deren kategoriale Unterscheidung wahren.22 Umgekehrt erhält Zwinglis Interpretation der Zweinaturenlehre in diesem Zusammenhang Tadel. Sie ist zwar vollkommen auf der Linie des Chalcedonense und logisch stringent, gerade so aber droht sie, so Barth, letztlich das Paradox der Inkarnation aufzuheben, weshalb ihm die logisch gesehen haar­ sträubenden Thesen Luthers sympathischer sind, insofern Luther damit genau dieses Paradox festhalten wollte.23 Als das »krönende Schlussstück der zwinglischen Theologie im Rahmen des Abendmahlstreites«24 präsentiert Barth schließlich noch Zwinglis Schrift Über die Vorsehung. In dieser Schrift finden sich, so Barths Behauptung, die Zwingli »im letzten Grund bewegenden positiven theologischen Gedanken«.25 Nach dem Vorbild von Baur zeichnet Barth den Gedankengang von Zwinglis Vorsehungsschrift zunächst kapitelweise nach. Lobende Worte findet er für ihre »innere Geschlossenheit« und »Klarheit«, mit der sie die »positive These von der Freiheit und Majestät Gottes«26 zur Geltung bringt.27 Zugleich ist diese Schrift allerdings nicht nur »ganz gut«, sondern auch »ganz schlimm«,28 insofern Zwingli das Wirken Gottes in der Welt durch die Aufnahme philosophischer Termini und den Kausalitätsgedanken beschreibt und so den Anspruch zu erheben scheint, mit menschlicher Vernunft das nur paradox als 19 Ebd., 284.290–292. 20 Ebd., 293. 21 Ebd., 267.318.361.425.442. 22 Barth selber hat sich bekanntlich theologisch zunehmend in diese Richtung bewegt. Aus dem »Vogel im Flug« (Barth, Der Römerbrief [Zweite Fassung] 1922, 274) wird der pneumatologische Vorbehalt (Barth, Einführung, 207 f ), den nicht erst Zwinglis Nachfolger Bullinger (auch gegen Calvin!) geltend gemacht hat, sondern der bereits zur reformatorischen Grundüberzeugung Zwinglis selber gehörte, wie Barth gelegentlich durchaus bemerkt hat (Barth, Die Theologie Zwinglis, 319). 23 Ebd., 438–445. 24 Ebd., 464 f. 25 Ebd., 464. 26 Ebd., 486 f. 27 Ebd., 487–489. Das theozentrische Motiv im Sinne der Betonung von Gottes Souveränität in seinem Handel, dem der Mensch vollständig unterworfen ist, war Allgemeingut der Forschung des 19. Jh. Vgl. z. B. Sigwart, Zwingli, 225; Baur, Zwinglis Theologie, Bd. 2, 831. 28 Barth, Die Theologie Zwinglis, 489.

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Nicht-Wissen aussagbare Verhältnis Gottes zur Welt »logisch« explizieren und plausibilisieren zu können.29 Bei aller Anerkennung vor der intellektuellen Leistung Zwinglis fällt Barths Urteil für den Reformator Zwingli einigermaßen vernichtend aus: Im Unterschied zu den Reformatoren Luther und Calvin, die in eine Linie mit Paulus gehören, also in die Linie des biblischen Offenbarungszeugnisses wie Barth es neu zur Geltung bringen will, ordnet er Zwingli in eine Linie ein, die von den Namen Bonaventura, Thomas von Aquin und Schleiermacher bestimmt ist.30 Es ist ein theologisches Urteil, das ausschließlich auf Zwinglis philosophische Terminologie verwendender Vorsehungsschrift beruht. Schon nur die Berücksichtigung der Hinweise Zwinglis selber bezüglich seiner Argumentationsgrundlage und seines Ziels in der Vorsehungsschrift, oder ein genauerer Blick auf den Anfang des Commentarius, geschweige denn eine Einordnung von Zwinglis Vorsehungslehre in sein gesamtes reformatorisches Wirken und theologisches Schrifttum hätte Barth eines anderen belehren können.31 Anders als Barth behauptet, tritt Gott auch Zwingli als ein »Ich« entgegen.32 Seine scharfe Kritik an Zwinglis Vorsehungslehre steht denn auch in einer erheblichen Spannung zu Einsichten, die Barth in der ersten Hälfte der Vorlesung geäußert hatte, und ebenso zu seinen im Ganzen durchaus erhellenden früheren kurzen Präsentationen der theologischen Pointen Zwinglis.33 Während er Zwingli hier vorwirft, ein natürliches, nicht aus der Offenbarung gewonnenes Wissen von Gott zu besitzen,34 hatte er früher auf die radikale Unterscheidung zwischen dem Diesseits und dem »Jenseits Gottes« bei Zwingli hingewiesen, ebenso wie auf Zwinglis Lehre von der Unmöglichkeit menschlicher Gotteserkenntnis abgesehen von Gottes 29 Ebd., 494. Vgl. dazu Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 51 f.62.132. 30 Vgl. Barth, Die Theologie Zwinglis, 491 f; ders., Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 12 f. 31 Vgl. etwa Barth, Die Theologie Zwinglis, 492. Eine kritische Antwort auf seine verzerrte Zwinglidarstellung erhielt Barth zu seinem fünfzigsten Geburtstag (vgl. Courvoisier, Zwingli et Karl Barth; ferner ders., Zwingli, 60–65). Interessant ist, dass Courvoisier, obwohl Barth Zwingli kaum je ernsthaft und vorurteilslos gelesen hat, am Ende bemerkt: »Zwingli, ancêtre de Karl Barth« (ders., Zwingli et Karl Barth, 387). Jede sich von den klassischen Vorurteilen nicht beschränken lassende gründliche Zwinglilektüre wird feststellen, dass Barth trotz mangelhafter Quellenkenntnisse in seinen theologischen Grundentscheidungen spätestens von den 1930er Jahren an Zwingli sehr viel näher steht, als dies seine Göttinger Vorlesung zu erkennen gibt. Das Thema verdient eine ausführlichere Behandlung, die an anderer Stelle erfolgen muss (vgl. dazu auch Freudenberg, Nach Gottes Wort reformiert). Einige gelegentliche Bemerkungen seien aber erlaubt. 32 Vgl. Barth, Die Theologie Zwinglis, 495; dazu etwa: Z II, 219–229. Wenn Zwingli das Gebet gegen die zeitgenössische römische Werkfrömmigkeit als umfassenden existenziellen Vorgang skizziert, zeichnet er – wie alle Reformatoren trinitarisch denkend – die Linie vor für Barths christliches Leben in der Anrufung Gottes, nun in der Auseinandersetzung mit der »liberalen« Theologie mit stärkerer christologischer Zuspitzung formuliert, vgl. Barth, Das christliche Leben, 136–179. 33 Barth, Die Theologie Calvins, 122–138; ders., Die Theologie Zwinglis, 85–107. 34 Ebd., 493.

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Selbstkundgabe.35 Damit wird deutlich: Barths Vorlesung über die Theologie Zwinglis ist eine Begegnung und kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Texten Zwinglis, und Barths gelegentlich recht apodiktisch formulierten Werturteile beziehen sich jeweils auf seine Lektüre dieser konkreten Texte. Eine abgerundete Darstellung der Theologie Zwinglis ist Barths Vorlesung nicht, und dessen war sich Barth auch bewusst. Im Unterschied zu Calvin, mit dem sich Barth eingehend befasst hat, hat er offensichtlich in den Schriften Zwinglis lediglich – aber immerhin – »gestöbert«,36 was sich darin bemerkbar macht, dass sich seine Sicht auf den Zürcher Reformator nicht von den seine Zeit bestimmenden Zwinglibildern und -interpretationen lösen konnte, und sich von ihnen auch die Texte vorgeben ließ. Das Resultat liegt auf der Hand: Barth erlaubt es dem Zürcher Reformator nicht, sein eigenes theologisches Anliegen selbständig zu präsentieren. Stattdessen wird Zwingli von vorneherein ins lutherische Korsett bzw. ins Korsett der Schweizer liberalen Zwingliinterpretation gezwängt. Dies, obwohl Barth Zwingli ja gerade sowohl gegen die klassische Kritik aus dem Neuluthertum verteidigen und ihn zudem gegen seine kulturprotestantischen Interpreten wieder als Theologen, dem es zunächst einmal um Gott geht, ernst nehmen wollte. Bilanzierend aus reformationshistorischer Sicht könnte man formulieren: Die Präsentation der Theologie Calvins ist Barth aufgrund seiner Quellenkenntnisse und seiner Zuneigung zum Genfer Reformator nicht schlecht gelungen. Was ihn allerdings als einziges Thema wirklich interessierte, war kein inhaltlicher theologischer Locus, sondern sein eigenes Thema: Das Thema und Problem des Übergangs von der »Vertikalen« in die »Horizontale«, für das Calvins Wirken und Denken zahlreiche Veranschaulichungen bietet. Damit droht sich immer wieder ein echtes Befragen Calvins in ein Reden über Calvin zu verwandeln. Barths Behandlung der Theologie Zwinglis ist im Vergleich zur Calvinvorlesung sehr viel fragmentarischer. Unzureichende Quellenkenntnisse und der Einfluss gängiger Zwinglibilder, die dem Zürcher Reformator theologische Eigenständigkeit absprachen oder ihn für das liberal-theologische Anliegen eines Kulturprotestantismus in Anspruch nahmen, verhinderten eine einigermaßen faire oder auch nur in sich konsistente Darstellung des Denkens des Zürcher Reformators. Barths Vorlesungen über Calvin und Zwingli in der Göttinger Zeit sind keine Beiträge zur Reformationsforschung, sondern Zeugnisse von Barths eigenem theologischen Erkenntnisweg im Umgang mit der Reformation und darüber hinaus mit der Kirchengeschichte, dem wir uns nun zuwenden.

35 Z. B. ebd., 98–101.154; Barth, Die Theologie Calvins, 135. 36 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 124 (Rundbrief Barths vom 18. Dezember 1922).

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Der zeitgeschichtliche Hintergrund

Dazu gehört zunächst ein Blick auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund, der die bisherigen Beobachtungen zusätzlich erhellen kann. Als Vertreter der »refor­mierten« Theologie im lutherischen Göttingen hatte sich Barth in einem Klima zu bewegen, in welchem »die Reformation« insgesamt mit der Wittenberger Reformation identifiziert wurde und Luthers Urteil, dass Zwingli »in keinem Stück« des christlichen Glaubens recht gelehrt habe,37 deutlich nachwirkt. Durch die von Karl Holl angestoßene »Lutherrenaissance«38 hatte die direkte Beschäftigung mit Luther wieder größere Bedeutung erlangt und auch theologische Impulse gesetzt, allerdings nicht ohne lutherisch-konfessionalistische Tendenzen.39 Das damit gegebene Göttinger Klima veranlasste den reformierten Schweizer Barth, Zwingli gegen traditionelle lutherische Vorurteile zu verteidigen, bevor er überhaupt mit der Lektüre von Texten Zwinglis beginnen konnte – was ihm im entsprechenden Abschnitt grundsätzlich nicht schlecht gelungen ist. Trotzdem und auch gerade so, blieb Zwingli allerdings in Barths Vorlesung mehr oder weniger deutlich durchgehend auf der Anklagebank, und schon Barths Perspektive auf Zwingli einschließlich der ausgewählten Quellentexte dieser Kritik verhaftet. Dass das Verhältnis zu Luther »das Bezeichnendste am ganzen Zwingli ist«,40 war bereits Barths Überzeugung, bevor er sich überhaupt ernsthaft mit dessen Schriften zu beschäftigen begann und entsprach dem an deutschen Universitäten üblichen lutherischen Narrativ, wie es auch Barth auf seinem Bildungsweg als Selbstverständlichkeit begegnet ist. Prägende Faktoren für Barths Zwinglibild liegen allerdings nicht zuletzt im Schweizer Protestantismus selber.41 Denn hier, besonders innerhalb der protestantischen Pfarrerschaft, dominierte ein Zwinglibild, wie es einerseits durch den Religiösen Sozialismus und andererseits durch den theologischen Liberalismus bestimmt war, den beiden Strömungen, von denen sich Barth in der dialektischen Phase dezidiert lossagte.42 Besonders das »liberale« Zwinglibild prägte dasjenige Barths bereits in seiner Safenwiler Zeit. Barths auf den ersten Blick befremdliche Entscheidung, ausgerechnet in Zwinglis Vorsehungsschrift, um die es weder mit Luther noch mit römischen Theologen je einen Streit gab, unter Absehung von allen seinen Reformationsthesen, Bekenntnistexten und Streitschriften das Herz des Reformators Zwingli schlagen zu 37 Barth, Die Theologie Zwinglis, 7. 38 Dazu Assel, Der andere Aufbruch. 39 Vgl. Assel, Der andere Aufbruch. Mit Holls Luther als »Gewissenswecker« dafür, »dass es sich in der Religion nicht darum handelt, ob der Mensch von Gott, sondern umgekehrt ob Gott vom Menschen, von diesem einzelnen Menschen etwas wissen will«, teilte er immerhin die kritische Haltung gegenüber einer Einbettung der christlichen »Religion« in die »Kultur«, vgl. Holl, Luther, 109. 40 Barth, Die Theologie Zwinglis, 251. 41 Vgl. Freudenberg, Vorwort, VIII–XI. 42 Vgl. Leonhard Ragaz, Die Reformation (1917).

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sehen, kommt auf diesem Hintergrund nicht von ungefähr. Sie steht vielmehr in einer langen Tradition spekulativer Deutungen Zwinglis als einem letztlich philosophischen Geist. Zu erwähnen wäre etwa der Tübinger Philosoph Christoph Sigwart.43 Auch die von Barth konsultierte Forschungsliteratur hat ihn deutlich in diese Richtung gewiesen.44 Einflussreiche Schweizer Dogmatiker wie Heinrich Lang, Alois Biedermann oder Alexander Schweizer zitierten zudem mit besonderer Vorliebe aus Zwinglis Vorsehungsschrift, um ihn als Zeugen und Vorläufer dessen zu benutzen, was sie in ihren Dogmatiken als »protestantisches Prinzip« erläuterten.45 So ist es nicht verwunderlich, wenn sich Barth in Zwinglis Vorsehungsschrift an Schleiermachers philosophische Theologie und deren Absicht der Verbindung von Christentum und Kultur erinnert fühlt. Gemäß dem in Zürich lehrenden Reformationshistoriker Walter ­Köhler bestand Zwinglis Leistung darin, dass er »Christentum und Antike – die Grundlagen aller Bildung und Kultur«, und damit »die beiden Grössen, Glauben und Wissen, Theologie und Philosophie, Christentum und Antike … bei Wahrung beiderseitiger Eigenart in Beziehung zueinander zu setzen und darin zu erhalten«46 bestrebt war. Zu Barths Bildungsweg gehörte aber auch seine wachsende Zuneigung zu Calvin, bei dem es sich anders verhielt. Barths Beschäftigung mit dem Genfer Reformator, zu dessen Wirkungsgeschichte es aus leicht ersichtlichen Gründen gehört, dass er kaum je vom theologischen Liberalismus als Zeuge herangezogen wurde, gehen sicherlich auf die Zeit seines Vikariats in Genf zurück. Durch die Begegnung mit deutschen Reformierten konnte sein Interesse für Calvin nur bestärkt werden. Besonders das Calvinjubiläum 1909 hatte im deutschen reformierten Bereich zu einer Belebung der Beschäftigung mit Calvin geführt, dem dort eine mit Luther vergleichbare herausragende identitäts43 Sigwart hatte Zwinglis Vorsehungsschrift ins Zentrum seiner ihm gewidmeten Monographie gestellt, und die »Gottesidee« des Zürcher Reformators als theologisch-philosophische Spekulation von Pico de la Mirandola hergeleitet; er rückte Zwingli entsprechend in die Nähe von Schleiermacher und Spinoza (vgl. Sigwart, Zwingli, 66–69). Baur weist Sigwarts These allerdings scharf zurück (vgl. Baur, Zwinglis Theologie, Bd. 2, 687). Die These eines Einflusses von Pico de la Mirandola auf Zwingli wird in der heutigen Forschung kaum vertreten. 44 Vgl. Baur, Zwinglis Theologie, Bd. 2, 707 f, allerdings relativiert durch ebd., 819–826; Staehelin, Zwingli, Bd. 2, 457 f. Eindeutig allerdings Wernle, Zwingli, 304 f, der Zwingli als »Rationalist unter den Reformatoren« behauptet und in den Bahnen Troeltschs als universalistischen Religionsphilosophen deutet. Die Reformation war für ihn die »Renaissance des Christentums«, und seine Beschäftigung mit ihr war getragen von der Überzeugung, »dass die Gotteskräfte, aus denen unsere Religion entsprang, unversiegt vorwärts durch die Jahrhunderte rauschen« (Wernle, Renaissance, 37). 45 Der Begriff des protestantischen »Prinzips« hatte zu Barths Zeiten bereits eine lange Tradition und gehört in die Hegelsche Interpretation der Kirchen- und Reformationsgeschichte (vgl. Baur, Princip). Er erfreute sich bei nahezu allen der »liberalen« Tradition zuzurechnenden Theologen über Alexander Schweizer bis zu Ernst Troeltsch großer Beliebtheit. 46 Köhler, Zwingli, 70. Vgl. dazu Barth, Die Theologie Zwinglis, 354.

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stiftende Bedeutung zugemessen wurde.47 So ist es nicht Zufall, wenn sich Barth in der Zwinglivorlesung immer wieder nach Calvin sehnt, der, so Barth, zwar Zwinglis Grundanliegen teilte, aber auch für Luthers Anliegen mehr Verständnis zeigte, und der insgesamt alles viel besser als der Zürcher Reformator gesagt und dessen verlorene Sache endgültig gerettet hat.48 Calvin war Theologe, wie seine Institutio beweist, während das Zwinglibild, das ihm in der deutschen Schweiz entgegenkam, Zwingli als »Prototyp des Reformpfarrers [= liberalen Pfarrers]« präsentierte.49 2.3

Der hermeneutische Horizont: Reformation als »Besinnung« auf die uns in »Gericht und Gnade« anredende Wirklichkeit Gottes

Auf diesem Hintergrund sind Barths Vorlesungen zu Calvin und Zwingli und ebenso sein Umgang mit Luther durchgehend bestimmt von seinem eigenen aktuellen theologischen Anliegen, aber auch von den Denkformen, in denen er es zum Ausdruck zu bringen versuchte: denjenigen seiner »dialektisch-theologischen« oder »paradoxtheologischen« Phase. Barths Vorlesung über die Theologie Calvins begann am 27. April 1922, wenige Monate nach dem Erscheinen des zweiten Römerbriefs. Und nur wenige Wochen vor Beginn seiner Vorlesung über die Theologie Zwinglis am 2. November 1922 hatte er in Elgersburg erstmals seinen programmatischen Vortrag über Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie gehalten.50 Absicht des Römerbriefs war bekanntlich, die »Brücke zwischen Himmel und Erde«,51 die Schleiermacher und die in seinen Bahnen denkende, auf die Vermittlung zwischen christlichem Glauben und neuzeitlichem Selbstverständnis abzielende theologische Tradition errichtet hatten, niederzureißen. Stattdessen sollte wieder an die kategoriale Unterscheidung von Gott und Mensch52 erinnert werden, eine Unterscheidung, die sich theologisch gründet auf das unableitbar in Gottes freiem Ratschluss begründete Christusereignis, Gottes Selbstoffenbarung in Jesus. Als Ereignis in der Zeit hat es einen datierbaren geschichtlichen Ort, als Gottes Offenbarung ist es weder aus der Geschichte ableitbar oder als geschichtliches Phänomen aufweisbar, noch durch menschliche Vernunft versteh- oder gar plausibilisierbar. Um dieses denkend zu würdigen, sieht sich Barth genötigt, auf die Sprachformen von Paradoxie und Dialektik zurückzugreifen.53 Die Inkarnation muss als »paradoxes Faktum«54 gedacht werden. 47 Vgl. etwa Ulrichs, Der erste Anbruch einer Neuschätzung. 48 Barth, Die Theologie Zwinglis, 445.462. 49 Karl Barth an Eduard Thurneysen in einem Brief vom 25. März 1918 (Barth – Thur­ neysen, Briefwechsel, Bd. 1, 270). 50 Barth, Das Wort Gottes, 144–175. 51 Ebd., 158. 52 Ebd. 53 Auf die recht umfangreiche Forschungsliteratur braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. Einführend sei verwiesen auf: Ruschke, Diastasentheologie. 54 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 137.

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Es liegt auf der Hand, dass sich – indirekt vermittelt durch den Lutheraner Kierkegaard – unter den Reformatoren besonders Luther anbietet, als Zeuge gegen Schleiermacher ins Feld geführt zu werden. Schon im Römerbrief ist es denn auch der nominalistisch geprägte, wortgewaltige Luther, der als Reformator zugleich gegen die Anwendung der »Vernunft« auf Offenbarungsinhalte stritt, Zwinglis »Mathematik« tadelte55 und sich wie kein anderer Reformator der Dialektik und Paradoxie bediente,56 den Barth regelmäßig für seine Sache zu Wort kommen lässt. Exemplarisch sei auf Barths Auslegung von Röm 1,16 f (»Die Sache«) hingewiesen, wo auch die von Barth gezogene Verbindungs­linie zwischen Luther, Kierkegaard und Overbeck sichtbar wird.57 In Luthers scharfer Entgegensetzung von Gott und allem, was zum Bereich des menschlichen Tuns, aber auch Wollens und Denkens gehört, offenbarungstheologisch in dessen »theologia crucis« gipfelnd, sah Barth seinen eigenen Streit gegen eine Kirche und Theologie reformatorisch vorgebildet, »der das Verhältnis der Welt zum Göttlichen eine zum vorneherein feststehende, geordnete und sich selbst gleichbleibende Beziehung ist, die bloß der religiösen Erklärung und Verklärung bedarf«,58 also gegen jede Form dessen, was Barth dann als »natürliche Theologie« bezeichnet hat. Sowohl zu Beginn der Calvinvorlesung59 als auch in der Zwinglivorlesung60 stellt Barth umfangreiche reformations- und geschichtshermeneutische Überlegungen an, in denen er seinen Zugang zu den Reformatoren, aber auch seine Verhältnisbestimmung der (drei bekanntesten) Reformatoren untereinander erläutert. Grundlegend ist dabei die schon erwähnte Unterscheidung zwischen der »Vertikale[n] der Gotteserkenntnis in Christus« und der »Horizontale[n] des menschlichen Denkens und Tuns in der Zeit«.61 Für die Reformation folgt daraus die Unterscheidung zwischen der Reformation als einer geschichtlichen und geschichtlich fassbaren Reformbewegung einerseits, die sich nur relativ vom Mittelalter unterscheidet, und einer Reformation, in der es nicht um eine Reform auf der »horizontalen« Ebene, sondern um das als »vertikale« Dimension zu bezeichnende Gottesverhältnis geht. In ihrer Unterscheidung vom

55 Vgl. Köhler, Religionsgespräch, 31 f. 56 Bereits Erasmus beklagte sich in einem Brief an Zwingli über Luthers seiner Meinung nach unevangelischen Gebrauch paradoxer Rede (vgl. Z VIII, 114). 57 Vgl. etwa Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 58–71. 58 Barth, Vergangenheit und Zukunft, 531. Vgl. dazu Barth, Die Theologie Zwinglis, 492–495. 59 Barth spricht dort zunächst über die »Voraussetzungen« der Reformation, wendet sich dann dem Zusammenhang von »Reformation und Mittelalter« zu, gibt schließlich eine knappe Charakterisierung der drei klassischen Reformatoren Luther, Calvin und Zwingli (Barth, Die Theologie Calvins, 15–171). 60 Vgl. Barth, Die Theologie Zwinglis, 37–107 (bes. 39).231–235; vgl. Barth, Die Theologie Calvins, 1–13. 61 Barth gewinnt sie in einer Exegese von Luthers Heidelberger Disputation (vgl. ebd., 60–65).

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Mittelalter lässt sich – bei mancherlei Kontinuitäten – von der Reformation als einer geschichtlichen Reformbewegungen innerhalb eines einheitlichen Geschichts- oder auch Entwicklungszusammenhangs sprechen. Verstanden, worum es den Reformatoren eigentlich ging, hat man nach Barth allerdings erst, wenn der Grundgegensatz nicht Mittelalter und Frühe Neuzeit oder evangelisch und katholisch lautet, sondern Gott und Mensch.62 Insofern ist das »Neue« der Reformation nicht ein Neues, sondern das Neue schlechthin, das ganz Andere.63 Selbstverständlich sind auch die Reformatoren als geschichtliche Menschen stets nur in der Lage, das relativ Neue zu formulieren oder zu denken, niemals das »ganz Andere«, das als solches wie unserem so auch ihrem eigenen Denken und Empfinden »diametral« gegenüber stehen muss.64 Was sie aber nach Barth auszeichnet, ist, dass sie dieses ganz Andere, das uns als geschichtlichen Menschen nicht nur fremd ist, sondern uns zugleich »zwingend anredet«, zur Sprache bringen wollten. Das Selbstverständnis der Reformatoren war, nicht nur religiöse Selbstausleger, sondern Instrumente der göttlichen Selbstauslegung zu sein oder sein zu sollen.65 Besonders zu Beginn seiner Calvinvorlesung versucht Barth, in diesem Hori­zont auch das Verhältnis der drei klassischen Reformatoren Luther, Calvin und Zwingli in ihrer jeweils spezifischen Rolle in griffige Bilder zu fassen.66 So originell seine Konstruktion ist, so problematisch ist sie aus historischer Per­spektive: Die Zuwendung Gottes als unableitbarer Akt göttlicher Freiheit, auf die sich die Reformatoren wieder konsequent zu besinnen begannen, vor­ gestellt im geometrisch-physikalischen Bild einer »Vertikalen«, die auf die »Horizontale« der irdisch-menschlichen Welt trifft,67 endete, so Barths Erklärung der Differenz zwischen Luther einerseits und Zwingli und Calvin andererseits, in ihrer unvermeidlichen Brechung beim Auftreffen auf die menschliche Wirklichkeit mit theologischer Sachnotwendigkeit in einer Ellipse68 mit zwei aufeinander bezogenen, aber nicht ineinander überführbaren Brennpunkten. Während Luther, der »religiöse« Reformator in nuce, theologisch über die Wahrung der Reinheit der »Vertikalen« wachte und in Abwehr jeglicher »rationalistischer« Bemächtigungsversuche hartnäckig das »Paradox« der Inkarnation als Offenbarung festhielt, war die »reformierte« Reformation, allen voran ihre humanistischen Väter Zwingli und Calvin, in besonderer Weise am Übergang von der »Vertikalen« hin zur »Horizontalen« interessiert und damit am

62 Barth, Die Theologie Calvins, 21. 63 Ebd., 20 f. 64 Ebd., 22. 65 Barth kann den gemeinten Sachverhalt verschieden veranschaulichen, etwa mit dem Bild eines Kristalls (vgl. ebd., 56). 66 Feuer und Vorhang; Horizontale und Vertikale; Ellypse (vgl. ebd., 65.96–104; ders., Die Theologie Zwinglis, 62). 67 Vgl. Barth, Die Theologie Calvins, 65.96–104. 68 Barth, Die Theologie Zwinglis, 62.

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menschlich-christlichen Lebensvollzug in der Zeit.69 Damit werden Zwingli und Calvin zwar in gewisser Weise zu notwendigen Gestalten der Reformation, aber zugleich nur zu notwendigen Ergänzungen der Reformation Luthers. Was geschichtlich gesehen auf Calvin, der als Reformator der zweiten Generation im Auftrag des Genfer Rates eine konkrete Kirche aufzubauen hatte, in gewisser Weise zutrifft, wird so ohne Weiteres zum Definitionsmerkmal reformierter Theologie überhaupt: Es geht ihr nicht um die »Vertikale«, sondern nur um die Wendung zur »Horizontalen«. Damit begründet Barth gleichsam mit offenbarungstheologischer Notwendigkeit, dass Zwingli nur im Rahmen des Wirkens und Denkens Luthers behandelt zu werden verdient. Dass hier der Systematiker den Bezug zu den Quellen verloren hat und aus komplexen Gestalten in komplexen Situationen griffige dogmatische Karikaturen formt – im Hintergrund bestimmt durch das geschichtlich-kulturelle, nicht theologische Klima, nach dem Luther der »eigentliche« Reformator und alle anderen seine treuen oder untreuen »Schüler« waren – liegt auf der Hand. Was alle Reformatoren aber miteinander verbindet, und was die Reformation gegenüber anderen Epochen und Zeiten der Kirchengeschichte auszeichnet, ist nach Barth, dass hier in besonders intensiver Weise eine »Besinnung auf die Wirklichkeit Gottes«, auf Gottes Zuwendung stattgefunden hat, und damit auch eine »Besinnung des Menschen auf das, was er ist, und noch mehr auf das, was er nicht ist, darauf, dass […] er gerichtet und nur als Gerichteter allenfalls begnadigt«70 ist. Barth kann »Reformation« mit diesem Ausdruck definieren als »Besinnung auf die Zuwendung Gottes zum Menschen« in Gericht und Gnade.71 Der Begriff der »Besinnung« war für Barth insbesondere in der Periode zwischen dem Römerbrief von 1922 und dem Unterricht in der christlichen Religion von 1924 zentral.72 »Besinn dich!« ist geradezu Barths Auslegungsmethode der Bibel73 und meint die Würdigung der freien Selbstoffenbarung des unbekannten Gottes in Christus, schlechthin als »Voraus-Setzung, frei von allem greifbaren Inhalt«,74 aber so auch als letzte theologische Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gott und geschichtlicher Wirklichkeit.75 Barths hermeneutischer Zugang zu den Reformatoren und weiter zur (Kirchen-)Geschichte besteht damit in einer klaren theologischen Perspektive in der Tradition der Reformation. Die Rechtfertigungsbotschaft  – nicht in 69 Wie überhaupt das Problem von »Religion und Ethik« das Problem der Reformation war (vgl. ebd., 67). 70 Barth, Die Theologie Zwinglis, 39. 71 Ebd., 52, vgl. den Zusammenhang ebd., 39–57. 72 Zur theologischen Bedeutung vgl. besonders Barths Kommentar zu Röm 1,16 in: Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 59; ferner ebd., 20.208.593; Barth, Das Wort Gottes, 96; ders. Das christliche Leben, 30–37. 73 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 20. 74 Ebd., 58; Barth, Die Theologie Zwinglis, 52. 75 Vgl. Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 26–30 (Vorwort zur 3. Auflage). Vgl. die Abgrenzung zur heidnischen Tugend der »Besonnenheit« (ebd., 594).

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einer individualistisch-verengten Sicht, sondern in universaler, die gesamte Menschheit betreffenden und umfassenden Weite und Gültigkeit,76 wie sie etwa Paulus mit seiner Adam-Christus-Typologie von Röm 5 vorträgt,77 bildet für Barth den vorgegebenen Ausgangspunkt für jedes menschliche Reden von Gott78 und so auch den Horizont für jede Sicht auf die Kirchengeschichte. 3.

Kirchen- und Reformationsgeschichte als Begegnungsgeschichte im Horizont der freien Zuwendung Gottes in Gericht und Gnade

In seinem Überblick über die protestantische Theologie im Zeitalter des Historismus charakterisiert der Kirchenhistoriker Kurt Nowak Karl Barths Beitrag zur Kirchengeschichte als »offenbarungstheologische Kehre gegen den ›historisch-psychologischen Anthropozentrismus‹ der neueren protestantischen Theologie«. Damit werden, so Nowak weiter, die »in die Geschichte eingezeichneten Spuren religiöser Daseinserfahrung« »irrelevant«. Die Geschichte wird »in ihre Profanität« entlassen. »Das Prinzip des Verstehens des Vergangenen im Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung war damit ebenfalls erledigt. […] In seinen zahlreichen Studien zur Theologiegeschichte verteilte Barth dabei ausgiebig Zensuren.«79 Barths Göttinger Vorlesungen und hier exemplarisch seine Zwinglivorlesung von 1922/23 sind dazu eindrückliche Illustrationen. »Zensuren« hat Barth vor allem in der Zwinglivorlesung reichlich verteilt, und in der Tat hat Barth nicht nur die Kirchengeschichte, insofern sie menschliche Geschichte ist, gleichsam entsakralisiert, er hat sich zudem nicht für geschichtliche oder ideengeschichtliche Entwicklungen und Traditionen interessiert. Dass, um ein einziges Beispiel zu nennen, etwa Calvin in seiner Institutio keinen Gedanken formuliert, der sich nicht bereits in den Jahrzehnten zuvor abgefassten Schriften Zwinglis findet oder im Kreis der Schweizer-oberdeutschen Reformatoren diskutiert worden war, ist für Barths Reformatoreninterpretation ebenso wenig relevant wie die Tatsache, die ihm grundsätzlich durchaus bewusst war, dass neben den von ihm behandelten Gestalten weitere Reformatoren erheblichen Anteil an der Prägung reformierter Theologie besaßen. Die Reformationsgeschichte als komplexe Bewegung mit zahlreichen Akteuren nicht nur auf der sozialgeschichtlichen, sondern auch auf der – stets in dieser verankerten – ideen- und theologiegeschichtlichen Ebene, lag nicht im Interessebereich Barths, was zahlreiche Fehlurteile zur Folge hatte. Den Consensus Tigurinus etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, hat Barth stets falsch

76 Barths fester Ausdruck dafür ist später bekanntlich die »freie Gnade Gottes« (vgl. Heimbucher / Weth, Barmer theologische Erklärung, 42). 77 Vgl. Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 226–258. 78 Vgl. ebd., 226–258 (zu Röm 5, 12–21). Sie steuert auch Barths spätere Theologie. 79 Nowak, Historische oder dogmatische Methode, 294 f.

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interpretiert.80 Wenn sich Barth auf »Luther« und »Calvin« bezieht, setzt er, historikgeschichtlich betrachtet, in seiner Weise die besonders im 19. Jh. gepflegte Tradition fort, Geschichte an »großen Persönlichkeiten« festzumachen, die aufgrund der Wirkungsgeschichte ihrer Namen im Rückblick eine überragende, ihr gesamtes, sie überhaupt ermöglichendes Vor- und Umfeld aufsaugende Stellung erhalten,81 eine Stellung, die sie zu ihren Lebzeiten kaum besaßen. Während ihre Lehrer, Mitstreiter und Kommunikationspartner weitgehend im Dunkel verschwinden oder lediglich eine Statistenrolle zugewiesen erhalten, werden sie zu singulären Repräsentanten von wirkungsreichen Ideen. Nicht um eine faire historische Würdigung wirkungsreicher theologischer Ideengeber geht es Barths, sondern um die mit bestimmten Namen verbundenen Ideen selber – bezüglich der Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch. An einem für unsere Frage wichtigen Punkt ist Nowak allerdings zu korrigieren: Auch wenn Barths Blick auf die Reformations- und Kirchengeschichte auch in späteren Jahren stets aus seiner »dogmatischen« Sicht erfolgte und Barth gewiss auch kein Theoretiker der Kirchengeschichtsschreibung war, ­»irrelevant« werden geschichtliche Spuren religiöser Daseinserfahrung durch seinen theologischen Ansatz nicht,82 und damit auch die Gestalten der Kirchen­ geschichte nicht. Sie erhalten allerdings einen bestimmten Status und Ort. 3.1

Kirchengeschichte als Religionsgeschichte des Christentums

Barths scharfe Unterscheidung von Gottesgeschichte und M ­ enschengeschichte, wie sie im Bild von der Vertikalen und der Horizontalen deutlich wird – im Hintergrund steht seine oben erläuterte »reformatorische« Geschichtshermeneutik – verweist alles menschliche Handeln, Denken und Leiden in der Geschichte, auch dasjenige, das sich dabei auf »Christus« oder »das Christliche«83 beruft, in den Bereich der Ambivalenz und Fragwürdigkeit aller Geschichte. »Kirchengeschichte« im theologisch qualifizierten Sinn kann nicht ein phänomenal bestimmbarer Teil oder Ausschnitt der Geschichte sein.84 Ein Christentum, das diesen Anspruch erheben würde, könnte sich »nur kompromit­ 80 Keineswegs ging dort die Zwinglische Abendmahlslehre in der Calvinischen unter (Barth, Die Theologie Zwinglis, 361); im Gegenteil setzte sie sich gegen Calvin durch. Worauf Bullinger nicht nur gegen Luther, sondern auch gegen Calvin beharrte, war keineswegs eine »Kinderei« (Barth, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften, 272), sondern exakt Barths ureigenes theologisches Anliegen, das somit von der Zürcher Theologie besser vertreten wurde als von Calvin; eine Einsicht, der sich erst der »späte« Barth anzunähern begann (vgl. Barth, Das christliche Leben, 72.240 f ). 81 Dazu schon Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 404 (34. Aphorismus). 82 Aber im Horizont von Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 538. 83 Vgl. Beutel, Nutzen. 84 Dahinter steht die schon von Zwingli betonte Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, vgl. etwa Barth, Das Wort Gottes, 179.

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tieren«,85 denn »alle Religions- und Kirchengeschichte spielt sich ganz und gar in der Welt ab. Die sog. ›Heilsgeschichte‹ aber ist nur die fortlaufende Krisis aller Geschichte, nicht eine Geschichte in oder neben der Geschichte. Es gibt keine Heiligen unter Unheiligen«.86 Barth setzt sich damit im zeitgenössischen Diskurs ab von allen Varianten des theologisch in Anspruch genommenen Perfektibilitätsgedanken der Aufklärung. Dazu gehört die »organische« Geschichtsanschauung, wie sie einst Schleiermacher vertreten und gar als zum Wesen des Protestantismus gehörend behauptet hatte. Kirchengeschichte ist für ihn im Kern christlich-protestantische Frömmigkeitsgeschichte, und als solche – wenn auch hindernisreiche, so doch – »fortschreitende Entwicklung des religiösen Geistes«.87 Der Protestantismus der Gegenwart wird so auf das »von Christus ausgegangene neue Prinzip in der Menschheitsgeschichte«88 zurückgeführt. Die Wirkungsgeschichte dieses Gedankens war bekanntlich immens und prägte noch Barths Lehrergeneration.89 Zu einem theologisch interpretierten Entwicklungsgedanken bekannte sich aber auch der religiöse Sozialismus.90 Von großer Bedeutung war andererseits der Einfluss Hegels auf das protestantische Verständnis der Kirchengeschichte, angefangen bei Ferdinand Christian Baur bis hin zu Ernst Troeltsch, nach welchem die »christliche Geschichte« als »Fortentwicklung der Offenbarung« zu verstehen ist, innerhalb derer »die Reformatoren« eine »neue Stufe christlicher Offenbarung« darstellen.91 Es ist ein Gedanke, den er trotz mancherlei Unterschieden in der Durchführung, mit Schleiermacher92 und Harnack93 teilte. Wo Frömmigkeitsgeschichte und Gottesgeschichte letztlich zusammenfallen, fällt Gott als kritisches, aber damit auch als frei begnadigendes Gegenüber weg. Damit fällt aber genau das weg, was nach Barth die Reformatoren in den biblischen Zeugnissen wiederentdeckt hatten und wofür sie eingetreten waren. Barths viel kritisierte »Herabstufung« der Kirchen­ geschichte zu einer »Hilfswissenschaft« ist auf diesem Hintergrund zu lesen. Mit der Kirchengeschichte im Sinn von gelebtem Christentum  – zu dem 85 Barth, Die Theologie Calvins, 122. Es ist uns heute selten bewusst, in welchem Ausmaß dies ein Bruch nicht nur mit theologiegeschichtlich prägenden Gestalten wie Schleiermacher oder Hegel war, sondern mit einer kulturellen communis opinio von Jahrhunderten. Das Providenzvokabular und damit die Behauptung der göttlichen Leitung der Politikgeschichte war in der Geschichtsschreibung des 19. Jh. nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wo aber geschichtliche Vorgänge göttlich legitimiert werden, wird leicht auch Zwang göttlich legitimiert. 86 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 86. 87 Schleiermacher, Glückwünschungsschreiben, 65; vgl. dazu: Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, 63–90.382–391. 88 Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, 90. 89 Vgl. Harnack, Dogmengeschichte, Erster Band, 48–65. 90 Vgl. Ragaz, Reformation, 524. 91 Troeltsch, Glaubenslehre, 120. 92 Vgl. die Zusammenstellung bei Gerber, Schleiermachers Kirchengeschichte, 383–385. 93 Vgl. Harnack, Wesen des Christentums, 157–175.

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auch das theologische Denken gehört – verhält es sich nicht anders als mit der christlichen Religion: Auch sie, so unumgänglich sie ist und das geschichtliche Christentum phänomenologisch ausmacht, steht im Licht der Zuwendung Gottes in Gericht und Gnade und bedarf stets der Rechtfertigung.94 3.2

Kirchengeschichte als Geschichte der »Zeugen«

Wie aber ist unter diesen Voraussetzungen »Kirchengeschichte« als Disziplin unter dem Dach einer theologischen Fakultät möglich und sinnvoll? Es ist evident, dass das theologische Problem der Kirchengeschichte bei Barth mit dem Problem der Ethik und des christlichen Lebens in der Zeit eng zusammenhängt, und damit mit der Frage nach der Aufgabe und Möglichkeit des christlichen Lebens in der »Horizontalen«. Im Römerbrief hatte Barth formuliert: »Nur Hinweis auf Gott, aber nicht göttlicher Anfang, göttlicher Same, Zellkern oder dergleichen können die Erwählten für die Anderen sein«. Ihre Aufgabe ist es, »das Reich Gottes nur anzukündigen, nicht aufzurichten«.95 Allerdings hat sich Barth bekanntlich selber später zwar keineswegs vom positiven theologischen Grundanliegen des Römerbriefs, wohl aber von der Weise, wie er es in der dialektisch-theologischen Phase zur Sprache gebracht hatte, distanziert. So kritisiert Barth etwa in den Gifford-Lectures von 1937/38 deutlich sich selber, wenn er nun formuliert: »Gnade ist nicht Willkür. Der Abgrund der göttlichen Güte ist nicht die wunderliche Tiefe eines sogenannten Paradoxons. Die göttliche Freiheit ist keine Tyrannenlaune […] Gott handelt nach seiner eigenen, unverbrüchlichen Ordnung«.96 Damit relativiert er auch seine Kritik an der »Verstandesmässigkeit« von Zwinglis Theologie,97 die ja gerade dieser Ordnung, mit den ihm verfügbaren Mittel seiner Zeit, nachdenken wollte. Dass Theologie für Barth die Betätigung von folgerichtigem Denken ist – unter spezifischen Bedingungen – hat er selber ja eindrücklich bewiesen. Barths explizite Distanzierung von Kierkegaard98 und seine spätere These von der Freundschaft zwischen dem »gesunden Menschenverstand« und dem Heiligen Geist99 zielen in dieselbe Richtung, die vermuten lässt, dass eine Zwinglivorlesung des »späten« Barth die Akzente anders gesetzt hätte. 94 Vgl. KD I/2, 304–397. 95 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 538. 96 Barth, Gotteserkenntnis, 97. Wenn Barth später für den theologischen Denkweg einer »Fides quaerens intellectum« eintritt, stellt er sich letztlich in die Linie, die Zwingli in seiner Vorsehungsschrift unter reformatorisch-theologischen Vorzeichen des 16. Jh. beschritten hatte: Ausgangspunkt menschlicher Rede von Gott ist »nicht irgendeine allgemein vorhandene oder zugängliche Überzeugung von Gott, sondern sein verkündigter und geglaubter Name. Dieser Name kann vom Menschen gehört und verstanden werden.« (Barth, Fides quaerens intellectum, 125.) 97 Vgl. Die Theologie Zwinglis, 487. 98 Vgl. KD IV/1, 165. 99 Vgl. KD IV/4, 31. 

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Und wenn Barth schon 1926 formulieren kann, dass »in der Wirklichkeit der göttlichen Gnade […] die Wahrheit der göttlichen Schöpfung mit enthalten und ans Licht gebracht« ist,100 konvergiert er mit der Intention von Zwinglis Vorsehungslehre. Die Konsequenzen dieser Verschiebung der Gewichte lassen sich im Blick auf Barths Verständnis der Kirchengeschichte an seiner Verwendung des Begriffs des Zeugnisses festmachen. Er ist bereits im Römerbrief präsent und gewinnt an Bedeutung bis in die letzten Kapitel der Kirchlichen Dogmatik hinein. Er wird ebenfalls in seinen verschiedenen Definitionen der Kirchengeschichte verwendet. Zwar steht auch weiterhin für Barth alles (christlich-)menschliche Tun in der Zeit unter Gottes Gericht und Gnade, woraus folgt, dass jede wahre, allein von Gott selber heraufgeführte Gottesbegegnung für alle »Geschichte der menschlichen Meinungen, Entschlüsse und Taten«,101 insbesondere aller christlich-religiösen Selbstgewissheiten und Selbstzuschreibungen eine kritische Störung bedeutet. So definiert Barth 1939 die Kirchengeschichte als »die Geschichte der […] immer neu drohenden Vergewaltigung des Wortes Gottes. Sie ist aber auch und noch viel mehr die Geschichte der Kritik, mit der es selbst seinen sämtlichen Auslegern immer wieder gegenübergetreten ist, und immer wieder gegenübertreten wird.«102 Als ihre phänomenologischen Indikatoren kommen damit zwangsläufig, wie Barth in seinen Gifford Lectures über das Schottische Glaubensbekenntnis von 1938 in traditioneller christlicher Terminologie formuliert, Buße und Umkehr in Frage. »Indem wir […] Busse tun, wird unser Handeln ein gutes Handeln.«103 Gleichzeitig und parallel zu seiner rückblickenden Selbstkritik an der Paradoxterminologie kommt aber nun zugleich auch der Mensch als Täter stärker in den Blick als »Reflex« des göttlichen Handelns und damit als »sekundäres Subjekt« in seinen »mehr oder weniger gelungenen Versuche[n], jener Selbstauslegung der Schrift nachzufolgen.«104 Die Kirchengeschichte besteht aus solchen verantwortlich handelnden »sekundären Subjekten«, deren Aufgabe darin besteht, Zeuge zu sein bzw. zu werden. Schon in den Göttinger Vorlesungen hatte Barth als Ziel formuliert, die Reformatoren nicht als religiöse Selbstausleger zu befragen, sondern darauf hin »ob sie uns wohl im Guten oder Bösen zum Zeugnis werden möchten von dem Anfang und Ziel aller Wege […] Was ist Luther, was ist Zwingli, neben dem, von dem sie zeugen?«105 Erst dann werden die Reforma100 Dass »in der Wirklichkeit der göttlichen Gnade […] die Wahrheit der göttlichen Schöpfung mit enthalten und ans Licht gebracht« ist, und damit auch Gottes »Menschenfreundlichkeit« als »bejahende Verheissung« Gottes an den Menschen »als sein Geschöpf und Ebenbild« auch nach dem Fall, wird Barth erst später formulieren (Barth, Die Kirche und die Kultur, 22 f ). 101 Barth, Gotteserkenntnis, 177. 102 KD I/2, 764. 103 Barth, Gotteserkenntnis, 131–133; vgl. ebd., 176–178. 104 Ebd., 178. 105 Barth, Die Theologie Zwinglis, 51.

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toren wahrhaft »historisch« verstanden, wenn durch sie hindurch Belehrung durch den »unsterblichen Gottesgeist« zustande kommt.106 Wenn christliches Handeln und Leben in der Periode des Römerbriefs noch bestenfalls Zeugnis werden konnte, betont Barth später zunehmend die Verpflichtung, ja »Lebensaufgabe«,107 denn sie ist begründet in der Berufung des Christen zum Zeugendienst, als »Partner« Gottes im geschichtlichen Existenzvollzug.108 In KD IV/3 spricht er unter dem Titel »Der Christ als Zeuge« von einem in Verantwortung zu vollziehenden Ministrantendienst, und nimmt dabei auch verschiedene Gestalten und Bewegungen der Kirchengeschichte in den Blick.109 Der christliche Lebensvollzug in der Zeit kann aber in seiner wahrhaften »Christlichkeit« weder an einem vorgegebenen Tugend- oder Handlungskatalog noch an einem abstrakten Sittengesetz gemessen werden. Er ist, wie Gottes Handeln, »Ereignis« und besteht in konkreten, selbstbestimmten Entscheidungen zum Tun des göttlichen Gebotes in je konkreten Situationen.110 Gerade so versucht Barth nicht nur, dem sich in Freiheit den Menschen zuwendenden Gott Rechnung zu tragen, sondern gerade auch der kontingenten geschichtlichen Wirklichkeit, in der sich jede menschlichchristliche Lebenstat zu vollziehen hat – und damit der Geschichtlichkeit der Kirchengeschichte. 3.3

Kirchengeschichte als Begegnungsgeschichte

Barth hat sich bekanntlich im langen Zeitraum seiner Arbeit an der Kirchlichen Dogmatik kaum noch mit explizit kirchen- oder theologiegeschichtlichen Gestalten oder Themen beschäftigt. Als Höhepunkt seiner Beschäftigung mit der Kirchengeschichte kann wohl seine Vorlesung zur Theologiegeschichte des 18. und 19. Jh. angesehen werden. Hier zeigt sich, wie sich Barth Kirchen­ geschichte nach seiner »paradoxtheologischen« Phase vorgestellt hat: Als Begegnungsgeschichte mit Gestalten der Vergangenheit im Horizont des Angesprochenseins durch Gottes Wort, und damit in der gemeinsamen »Besinnung«

106 Barth, Die Theologie Calvins, 4 f. 107 Barth, Das christliche Leben, 342. 108 Vgl. KD II/2, 565. Dabei nimmt Barth – abgesehen vom auf Zwingli zurückgehenden Bundesgedanken – zwei weitere charakteristische Motive Zwinglis auf: Das christliche Leben hat sich zu vollziehen in »Entsprechung« oder »Gleichförmigkeit« (KD II/2, 639; vgl. Z III, 383,11) zu Gottes Tun. Während Barth in der hier besprochenen Phase Gottes Zuwendung noch als »Gericht und Gnade« und damit im Grunde in lutherischen Bahnen beschreibt, kommt wenig später seine Zuwendung als »Gebot« dazu, das Barth schon in der Calvin­ vorlesung erwähnt (Barth, Der Römerbrief [Zweite Fassung] 1922, 12), aber nicht theologisch zur Geltung gebracht hatte (vgl. KD II/2, 608–615). Gottes freie Zuwendung ist immer auch »Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben« (vgl. Heimbucher / Weth, Barmer theologische Erklärung, 38). 109 KD IV/3, 637–703; vgl. 652 f.687 f.690. 110 KD II/2, 608 f; vgl. schon Barth, Ethik I, 126–129.

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auf die Wirklichkeit Gottes über alle Zeiten hinweg.111 Wenn aus historischer Sicht auch kritische Rückfragen zu den Porträts, die Barth dort malt, möglich sind, so ist doch die Richtung gewiesen: Unter der Voraussetzung eines gemeinsamen Horizontes »der Verlegenheit, der Besorgnis, aber auch des Reichtums und der Hoffnung, die uns mit den Theologen der Vorzeit […] verbindet«, geht es darum, danach zu fragen, welche Antwort frühere Gestalten des Christentums auf die sie wie uns betreffende Anrede Gottes gefunden und gegeben haben, was allerdings ein kritisches Bedenken dieser Antwort nicht aus- sondern einschließt.112 In diesem Sinn hat Barth dann auch in der Kirchlichen Dogmatik immer wieder, besonders bei Weichenstellungen, auf die Theologiegeschichte Bezug genommen. Damit wird Kirchengeschichte zur Begegnungsgeschichte. Nicht die Einordnung einer kirchen- oder theologiegeschichtlichen Gestalt und ihrer Gedanken in einen vom Historiker überschauten und konstruierten Entwicklungszusammenhang interessiert Barth, sondern die Begegnung mit früheren, fremden »Zeugen« im gemeinsamen Horizont der einen, übergreifenden Wirklichkeit Gottes. Im Dialog mit Gestalten der »christlichen« Vergangenheit werden diese daraufhin befragt, inwiefern sie von der in Gericht und Gnade begegnenden Wirklichkeit Gottes Zeugnis abgelegt haben und allenfalls für uns ablegen.113 Der Gedanke der Begegnungsgeschichte bzw. eines »dialogischen« Zugangs zu Gestalten der Vergangenheit, begegnet in gegenwärtigen Überlegungen zur Historik nicht selten.114 Der Hintergrund ist einerseits der Verlust eines allgemeinen Paradigmas der Geschichtsforschung, wie es im 19. und frühen 20. Jh. noch bestand, einer »interprétation totale«,115 verbunden mit dem Abschied vom Gedanken einer »wertfreien« Geschichtsinterpretation. Entscheidend ist dabei der gemeinsame Horizont und damit das gemeinsame Thema. Die gesamte Kirchengeschichte ist nichts anderes als »eine lange Reihe von Variationen über das eine Thema, das ihr in und mit ihrer Begründung durch deren Urkunde, die Heilige Schrift gegeben ist. Immer wieder, gut oder schlecht, musste sich die Kirche damit auseinandersetzen, dass sie von dorther kommt: von dem Christuszeugnis der Propheten und Apostel. Die Folge dieser Auseinandersetzungen bildet die Kirchengeschichte. Wenn sie nicht dieses Thema hätte, hätten wir kein Recht, die Kirchengeschichte von der allgemeinen Welt- und Kulturgeschichte zu trennen«.116 In dieser Ausrichtung und in dieser Klammer wird sie nach Barth zur »theologischen« Disziplin, und tritt in den Kreis der anderen theologischen Disziplinen ein, die in ihrer gemeinsamen Ausrichtung auf dieses eine, sie begründende »Thema«, über dessen Definition keine Disziplin und erst recht kein einzelner Dogmatiker verfügt, 111 Vgl. Barth, Protestantische Theologie, 3. 112 Vgl. ebd., 13. 113 Barth, Die Theologie Calvins, 122. 114 Vgl. z. B. Carr, Geschichte, 30.54; Iggers, Geschichtswissenschaft, 102 f; Gurevic, ­Dialog. 115 Vgl. Nowak, Wie theologisch ist die Kirchengeschichte, 8. 116 Barth, Gotteserkenntnis, 176.

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das aber jede »theologische« Disziplin an ihrem Ort in den Blick zu nehmen hat, miteinander verbunden sind.117 Allerdings ist es zugleich für die Geschichtswissenschaft auch heute noch konstitutiv, sich »gegen die Diktatur der Aktualität« zu wehren.118 Begegnungen leben davon, dass das Begegnende in gewisser Weise um seiner selbst willen interessant ist. Sie leben vom Respekt für das Gegenüber in seiner Andersheit und Fremdheit.119 Hier setzt das caveat des Historikers ein: Eine Begegnung mit einer Gestalt der Vergangenheit kann nur in Form eines Annäherungsprozesses mittels der (idealiter aller relevanten!) verfügbaren Quellen geschehen, in welchem es gilt, vergangene Ereignisse, Gestalten und Ideen in ihrer eigenen Zeit, Kultur und in ihrem eigenen Problem- und Diskurskontext aufzusuchen. Damit kommt die klassische Frage, »wie es eigentlich gewesen ist«120 bzw. was der Verfasser eines theologischen Traktats eigentlich gewollt und gemeint hat, unvermeidlich ins Spiel, ungeachtet des Bewusstseins, dass jeder Verstehensakt auch eine Konstruktionsleistung ist – und damit wieder »rational« verantwortete historische Methoden. Man wird von ihnen heute nicht mehr sagen, dass sie die eine objektive historische Wirklichkeit ans Licht zu bringen vermögen. Sie vermögen aber dem »Vetorecht der Quellen« bis zu einem gewissen Grad Geltung zu verschaffen, ebenso wie sie der Rechenschaftspflicht subjektiver Interpretationen gegenüber der Forschungsgemeinschaft Rechnung tragen.121 Barths Behauptung, dass eine Erkenntnis unserer Situation vor Gott uns »noch am ehesten in den Stand setzt, mit verhältnismäßig ruhigem Blick und sicherem Urteil zu sehen und zu verstehen, was gewesen ist«,122 wird in seiner Zwinglivorlesung eindrucksvoll widerlegt. Sie könnte ebenso aus dem Munde von »liberalen« Reformatoreninterpreten stammen, im Horizont ihrer eigenen Erkenntnis unserer Situation vor Gott. Barths dezidierte, paulinische und in der Folge reformatorische Grundeinsichten wieder ernst nehmende »theologische« Besinnung auf unsere Situation vor Gott hat es ihm ermöglicht, die Reformatoren wieder neu als von der Wirklichkeit Gottes betroffene Theologen zu lesen. Sie hat ihn aber nicht in die Lage versetzt, bestehende, auch ihn selber bestimmende – nicht zuletzt aussertheologische – Vorurteile und Narrative zu durchschauen und zu hinterfragen. Vielmehr hat er sie gar offenbarungstheologisch gerechtfertigt. Man ist einmal mehr versucht, Barth gegen Barth anzuführen: In seiner Einführung in die evangelische Theologie betont er, dass es in der Kirchengeschichte darum gehen muss, »die, die vor uns waren, dachten, redeten und wirkten, gerade so zum Wort kommen zu lassen«.123 117 Vgl. ebd., 177; Barth, Einführung, 187–200. 118 Lorenz, Konstruktion, 425. 119 Vgl. ebd., 150–153.367–400. 120 Ebd., 425. 121 Vgl. Kocka, Angemessenheitskriterien. 122 Barth, Die Theologie Calvins, 12. 123 Barth, Einführung, 194–197, hier 196. Eine gleichsam proleptische Selbstkritik Barths an seiner Zwingliinterpretation findet sich bereits in der Calvinvorlesung: Barth, Die Theologie Calvins, 136 f.

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Als auch historische Disziplin strebt Kirchengeschichte genau dies an. Dass sie dabei »Gotteszeugen« begegnet, kann nicht methodisch herbeigeführt werden, es kann sich aber, im Geist Barths formuliert, ereignen, sofern die Kirchengeschichte auf die ihr vorgegebene und sie allein legitimierende »Sache« ausgerichtet bleibt. Nur in dieser Haltung ist echte »Begegnung« möglich. So unbillig es wäre, von einem Dogmatiker zu verlangen, historisch zu fragen und den Bereich des Gesprächs mit theologischen Ideen der Gegenwart und Vergangenheit entschieden zu überschreiten, so unbillig wäre es, von Christentumshistorikern zu verlangen, sich auf die christliche Ideengeschichte zu beschränken und einen Dogmatiker als Vorbild für ihre Arbeit zu wählen. Ihre Aufgabe ist vielmehr, daran zu erinnern, dass es christlichtheologische Ideen nie ohne christliche Menschen in ihren leibhaft vermittelten kommunikativen und soziokulturellen Kontexten gibt. Dennoch: Ein Gesprächsabbruch zwischen Dogmatik und Kirchengeschichte ist gerade in der Theologie Barths nicht angelegt. Einerseits wäre sie selber ohne intensive Auseinander­setzung mit und Berufung auf theologische Ideen der Vergangenheit, besonders der Reformationsgeschichte, undenkbar. Gerade durch ihre Neuinterpretation der Reformations- und der neueren Theologiegeschichte hat sie diese auch belebt und ihr wichtige Impulse verliehen.124 Indem sie die historisch-menschliche und die im Sinne Barths »theologische«, nach Gottes eigenem Reden und Wirken fragende Perspektive nicht vermischt, sondern deutlich zu unterscheiden lehrt, entlastet sie die Kirchengeschichte und eröffnet ihr zugleich ihren disziplinären Raum. Literatur Assel, Heinrich, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), Göttingen 1994. Barth, Karl, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4. Fragmente aus dem Nachlaß. Vorlesungen 1959–1961, GA II/7, hg. v. H.-A. Drewes / E. Jüngel, Zürich 3 1999. –, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 72010. –, Ethik I. Vorlesung Münster Sommersemester 1928, wiederholt in Bonn Sommersemester 1930, GA II/2, hg. v. D. Braun, Zürich 1973. –, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms (1931), GA II/13, hg. v. E. Jüngel / I. U. Dalferth, Zürich 32002. –, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre. 20 Vorlesungen (Gifford Lectures) über das Schottische Bekenntnis von 1560, gehalten an der Universität Aberdeen im Frühjahr 1937 und 1938, Zollikon 1938. –, Die Kirche und die Kultur, in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1925–1930, GA III/24, hg. v. H. Schmidt, Zürich 1994, 6–40. –, Die Kirchliche Dogmatik I–IV, Zollikon-Zürich 1932–1967 (= KD). 124 Dies gilt zunächst für die Calvinforschung, etwa in Gestalt der von seinem Bruder Peter Barth begonnene Edition Calvini opera selecta (Bd. 1, München 1936).

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Peter Opitz

–, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, GA II/47, hg. v. C. van der Kooi / K. Tolstaja, Zürich 2010. –, Die Theologie Calvins. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1922, GA II/23, hg. v. H. Scholl in Verbindung mit A. Reinstädtler, Zürich 1993. –, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1923, GA II/30, hg. v. der Karl-Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Leitung: Eberhard Busch), Zürich 1998. –, Die Theologie Zwinglis. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1922/1923, GA II/40, hg. v. M. Freudenberg, Zürich 2004. –, Vergangenheit und Zukunft (1919), in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten ­1914–1921, GA III/48, in Verbindung mit F.-W. Marquardt (†) hg. v. H.-A. Drewes, Zürich 2012, 528–545. –, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, GA III/19, hg. v. H. Finze, Zürich 1990, 144–175. Barth, Karl  – Thurneysen, Eberhard, Briefwechsel, Bd. 1: 1913–1921, GA V/3, hg. v. E. Thurneysen, Zürich 1973. –, Briefwechsel, Bd. 2: 1921–1930, GA V/4, hg. v. E. Thurneysen, Zürich 21987. Baur, August, Zwinglis Theologie. Ihr Werden und ihr System, 2 Bde., Halle 1885/1889. Baur, Ferdinand Christian, Das Princip des Protestantismus und seine geschichtliche Entwicklung, in: Theologische Jahrbücher, 14 (1855), hg. v. F. C. Baur und E. Zeller, 1–137. Beutel, Albrecht, Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte. Begriff und Funktion einer theologischen Kerndisziplin, ZThJK 94 (1977), 84–110. Carr, Edward, Was ist Geschichte? Stuttgart 61981. Courvoisier, Jaques, Zwingli et Karl Barth, in: E.  Wolf / Ch. von Kirschbaum / R.  Frey (Hg.), Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag, Zürich 1956, 369–387. Freudenberg, Matthias, Nach Gottes Wort reformiert. Anmerkungen zu Karl Barths Rezeption der reformierten Theologie, Communio viatorum 39 (1997), 35–59. –, »… und Zwingli vor mir wie eine überhängende Wand«. Karl Barths Wahrnehmung der Theologie Huldrych Zwinglis in seiner Göttinger Vorlesung von 1922/23, Zwingliana XXXIII (2006), 5–27. –, Vorwort, in: K. Barth, Die Theologie Zwinglis (1922/1923), GA II/40, hg. v. M. Freudenberg, Zürich 2004, VII–XVI. Gerber, Simon, Schleiermachers Kirchengeschichte (BHTh 177), Tübingen 2015. Gurevic, Aaron J., Die Geschichte als Dialog mit den Menschen vergangener Epochen, in: P. Rossi (Hg.), Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1987, 266–273. Harnack, Adolf von, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde., Tübingen 41909/1910. Heimbucher, Martin / Weth, Rudolf (Hg.), Die Barmer Theologische Erklärung, Neukirchen-Vluyn 2009. Holl, Karl, Was verstand Luther unter Religion?, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1, Tübingen 61932 (1921), 1–90. Iggers, Georg G., Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 21996. Kocka, Jürgen, Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: R.  Koselleck / ​ W. J. Mommsen / J. Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. Theorie der Geschichte (Beiträge zur Historik 1), München 1977, 469–475. Köhler, Walter, Zwingli als Theologe, in: Ulrich Zwingli. Zum Gedächtnis der Zürcher Reformation 1519–1919, hg. v. Staatsarchiv / Zentralbibliothek / Stiftung für wissenschaftliche Forschung / Zwingliverein, Zürich 1919. –, Das Marburger Religionsgespräch 1529. Versuch einer Rekonstruktion, Leipzig 1929. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

Dialektisch-theologische Reformatoreninterpretation 

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Christophe Chalamet

Karl Barth und die Praxis der Historischen Theologie Schatten und Licht1 »Die Geschichte wird mit uns reden, und dabei wird es an den Tag kommen, wer wir selber sind.« Karl Barth2

1. Einführung Hat Karl Barth mit seinem christozentrischen dogmatischen Ansatz zum gegenseitigen Verständnis und Austausch zwischen den theologischen Disziplinen beigetragen oder nicht? Die Frage ist nicht so sehr, ob, sondern vielmehr, wie Barths Christozentrismus seine Art und Weise, Historische Theologie3 zu betreiben, beeinflusst und geformt hat, und im Gegenzug, auf welche Weise sein Verständnis und seine Praxis der Historischen Theologie zur Gesamtgestaltung seines dogmatischen Werkes beigetragen haben. Diese beiden Fragen stehen im Zusammenhang mit einer dritten Frage, welche die »enzyklopädische« Perspektive und Reichweite von Barths dogmatischer Theologie betrifft: Wie »passte« die Historische Theologie zu dieser Perspektive, und können wir seine Einschätzung sowie seine Praxis der Historischen Theologie auch heute noch empfehlen? Bei diesen Fragen, und vielleicht besonders bei der letzten, müssen wir vorsichtig vorgehen. So müssen wir uns fragen, ob Barths Theologie tatsächlich »enzyklopädisch« war, und wenn ja, in welchem Sinne. 2.

Barth als historischer Theologe: Die Vergangenheit ist lebendig

So viel ist klar: Während seiner gesamten akademischen Laufbahn hielt Barth mit einer gewissen Regelmäßigkeit Vorlesungen über Themen, die dem Genre angehören, das wir »Historische Theologie« nennen. Er widmete einen großen Teil seiner ersten Jahre als Theologieprofessor Vorlesungen über bedeutende Persönlichkeiten und Texte aus der Vergangenheit, insbesondere aus dem 16. Jh.: die Theologie Calvins (1922), die Theologie Zwinglis (1922–1923), 1 Der folgende Beitrag wurde von Matthias Gockel aus dem Englischen übersetzt. 2 Barth, Die Theologie Calvins, 12. 3 Mit dem Begriff »Historische Theologie« sei im Folgenden die Kirchengeschichte und insbesondere die Theologiegeschichte bezeichnet. Gegenüber diesen beiden fachdisziplinären Termini bringt der Begriff »Historische Theologie« zudem zum Ausdruck, dass die Geschichtsreferenz in einer dezidiert theologischen Perspektive vorgenommen wird.

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die Bekenntnisschriften der reformierten Kirchen (1923).4 Einige Jahre später, bis in die 1930er Jahre, folgte eine Reihe von Vorlesungen über die moderne protestantische Theologie, die zu dem Buch Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert führten.5 In den letzten Jahren seiner Lehrtätigkeit hielt Barth Seminare über Calvins Institutio und Schleiermachers Reden. So ist Barths lange akademische Laufbahn zweifellos von einem tiefen Interesse an der Geschichte der Theologie und an der Historischen Theologie geprägt. Gewiss hat er die Vergangenheit nicht als Historiker, sondern als Theologe erforscht. Er betrieb ganz bewusst eine theologische Historische Theologie, die nicht darauf beschränkt, die Vergangenheit um ihrer selbst willen zu studieren und zu verstehen. Vielmehr untersuchte er die Vergangenheit im Zusammenhang der theologischen Aufgabe der Gegenwart, mit dem Ziel, zu klären, was heute gesagt werden muss, wenn wir über die Bedeutung des christlichen Glaubens nachdenken. Barths Umgang mit der Geschichte hatte keinen Anflug von Positivismus. Er wusste, dass hinter jeder historischen Untersuchung eine Person steht, die Dokumente studiert und ein bestimmtes Bild der Vergangenheit aufstellt; eine Person mit spezifischen Voraussetzungen und Fragen sowie innerhalb einer bestimmten Kultur.6 Eine wohlüberlegte Methodologie der Erforschung der Geschichte hält sich ferne von der Vorstellung, dass das »Ich« des Historikers ganz und gar aufgehoben werden könne. Sie setzt vielmehr voraus, dass man die Subjektivität der forschenden Person, die während dieses Prozesses über die Vergangenheit nachdenkt und Fragen stellt, sorgfältig zur Kenntnis nimmt.7 Das bedeutet nicht, dass wir aufhören, auf die Geschichte und auf die Vergangenheit, wie sie war und wie sie sich uns darstellt, zu »­hören«. Barth war sich dessen wohl bewusst.8 Die Geschichte ist vitae magistra, »Lehrerin des Lebens«, wie Barth auf den Spuren Ciceros und Calvins in der Einführung zu seiner Vorlesung über Calvins Theologie sagte,

4 Barth, Die Theologie Calvins; ders., Die Theologie Zwinglis; ders., Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften. 5 Barth, Die protestantische Theologie. Im Vorwort von 1946 schreibt Barth, dass er diese Vorlesungen letztmalig im Wintersemester 1932–1933 und Sommersemester 1933 gehalten habe. 6 »Wir haben nicht die Möglichkeit, voraussetzungslos an die Geschichte heranzutreten […].« (Barth, Die Theologie Calvins, 12.) 7 Barth bringt das auf seine Weise zum Ausdruck: »Es gibt keinen Historiker, der etwa sich selbst los würde, der in der Geschichte nicht erstlich und letztlich sich selbst suchte und fände. Oder sind Sie je einem historischen Buch begegnet, das nicht vor allem Anderen ein Spiegel der Seele seines Autors gewesen wäre?« (Barth, Die Theologie Calvins, 11.) 8 »Wollen wir vernehmen, was er [Calvin] uns heute sagen will, so müssen wir uns an das halten, was er damals sagen wollte und bis zu einem gewissen Grade tatsächlich gesagt hat, in seiner ganzen historischen Notwendigkeit oder auch Zufälligkeit, in seiner Beschränktheit und Einzigartigkeit. Ihm müssen wir unsere erste und sehr ernsthafte Aufmerksamkeit zuwenden, von ihm aus weiterdenken, wenn wir überhaupt im Sinn haben, uns von ihm belehren zu lassen.« (Barth, Die Theologie Calvins, 6.)

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wobei er dieses Motto als methodologischen Grundsatz für die gesamte Vorlesung nahm.9 Wenn die Geschichte »Lehrerin des Lebens« ist, bedeutet dies, dass sie eine Lehrerin für unser eigenes kollektives und persönliches Leben heute ist. Barth findet in Calvin einen Verbündeten für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die untrennbar mit unserem heutigen Leben und mit unseren gegenwärtigen Aufgaben verbunden ist: »Bei der Suche nach der Vergangenheit müssen wir Gottes Werke betrachten, damit Gott durch uns verherrlicht werde«, betont Calvin in seinen Predigten zum Deuteronomium.10 Barth zitiert diesen Satz in der Einführung zu seiner Vorlesung über Calvin.11 Das bedeutet, dass die Geschichte für Barth nicht als etwas von uns weit Entferntes anzusehen ist. Sie spricht zu uns, sie hat uns etwas zu erzählen, und wenn wir genau hinschauen und daran interessiert sind, »Gottes Werke zu betrachten«, wie Calvin uns ermahnt, kann das Studium der Geschichte zur Verherrlichung Gottes führen. Wie genau das geschehen wird, bleibt abzuwarten. Aber die Absicht ist klar, und es ist auffallend, dass Barth bereits im April 1922 andeutet, was er einige Jahre später in seinen Vorlesungen über protestantische Theologie im 19. Jh. wiederholen wird, nämlich dass die Vergangenheit nicht »tot«, sondern »lebendig« ist und dass die Vergangenheit als solche uns einschärft, aufmerksam zu sein.12 »Der historische Calvin ist der lebendige Calvin«, betont Barth13, und will zeigen, dass es für wohlüberlegtes historisches Denken nicht ausreicht, wenn man sich damit zufrieden gibt, dass Calvin in seiner eigenen Zeit vielleicht dies oder jenes gesagt hat, ohne sich von Calvins Behauptungen »belehren« zu lassen: Die Geschichte würde aufhören, magistra zu sein, sie würde uns nicht länger etwas lehren, nicht bloß über die Vergangenheit, sondern über das Leben (vitae magistra), einschließlich unseres Lebens und – nicht zu vergessen – des Lebens der Welt heute. Geschichte ist für Barth »ebensosehr Subjekt wie Objekt, mindestens ebensosehr hier, in meinen Augen, wie dort in den Quellen.«14 »Darum ist uns die Vergangenheit so wichtig, nicht nur wahr,

9 Barth, Die Theologie Calvins, 1 und 3 (»historia vitae magistra«), mit Bezugnahme auf Cicero, De oratore 2,36 sowie Calvins Kommentare zum Römerbrief und zur Apostel­ geschichte, Corpus reformatorum (CO) 49,86 und 48,VII. 10 Vgl. CR 56 = CO 28, 683: »[N]ous enquerant du temps iadis, nous devons contempler les oeuvres des Dieu, afin qu’il soit glorifié par nous«. 11 Barth, Die Theologie Calvins, 3. 12 Barth, Die protestantische Theologie, 3. »Der historische Calvin ist doch nicht etwa fertig, abgeschlossen, tot, eingesperrt in das Gefängnis der Jahre 1509–1564, aus denen er nun nicht mehr herauskönnte? Die 59 Bände des Corpus Reformatorum, die seine Werke enthalten, sind doch nicht etwa heimlich sein Sarg? […] Sein Werk ist nicht nur geschehen, sondern es geschieht noch. In dem, was er einst gesagt hat, redet weiter, was er einst sagen wollte.« (Barth, Die Theologie Calvins, 8 f.) »Πάντες γὰρ αὐτῷ ζῶσιν, in ihm, dem Einen, leben sie alle […].« (Ebd., 10, als Zitat von Lk 20,38.) 13 Barth, Die Theologie Calvins, 4 f. 14 Barth, Die Theologie Calvins, 8.

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nicht nur interessant, nicht nur nützlich zu kennen, sondern lebensnotwendig, weil sie die Gegenwart bedeutet.«15 Einige der scharfsinnigsten Werke der Geschichtsphilosophie bestätigen diese Einsicht über die Geschichte als eine lebendige Realität und keine Sache der Vergangenheit. Geschichte ist weder nur objektiv noch nur subjektiv, sondern bringt eine komplexe, vielschichtige Artikulation dieser beiden Dimensionen mit sich.16 Das haben weder der Positivismus noch seine Gegner, die zum anderen Extrem (»Es gibt keine Wahrheit in der Geschichte, sie liegt lediglich im Auge des Betrachters«) neigen, verstanden. Daher gehören Barths Bemerkungen zur Bedeutung der Geschichtswissenschaft, wie er sie in der Einleitung zu seinen Vorlesungen über Calvins Theologie darlegt, zum »Licht« und nicht zum im Titel erwähnten »Schatten«. 3.

Barths Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts: Seine Einschätzung Albrecht Ritschls

Barth begann seine Tätigkeit als Professor mit Vorlesungen über Calvin, Zwingli und die reformierten Bekenntnisschriften. Später schenkte er der protestantischen Theologie des 19. Jh. große Aufmerksamkeit. Auch Theolo­ gen, die wenig Sympathie für Barths Dogmatik zeigten, lobten seine Theologiegeschichte des 19. Jh. Paul Tillich nannte Barths Vorlesungen über dieses Thema ein »schönes Buch«, das er als »Veranschaulichung größter Konvergenz zwischen seinem und meinem eigenen Denken«17 empfahl. Jaroslav Pelikan, einer der herausragenden Theologiehistoriker des 20. Jh., bewunderte Barths theologiegeschichtliche Gelehrsamkeit: »Als Karl Barth sich entschied, ein systematischer Theologe zu werden, verlor die protestantische historische Gelehrsamkeit möglicherweise den größten Dogmenhistoriker seit Adolf von Harnack.«18 Das sind markante Äußerungen, die nicht weiter kommentiert werden müssen. Stattdessen möchte ich zeigen, dass es auch gewisse »Schatten« in Barths Umgang mit seinen Vorgängern aus dem 19. Jh. gibt, darunter große Gestalten wie Friedrich Schleiermacher und Albrecht Ritschl, die beiden »Kirchenväter«, wie Barth sie in seinen Vorlesungen zur protestantischen

15 Ebd., 11. 16 Vgl. insbesondere die geniale Studie von Henri-Irénée Marrou: Ders., De la connaissance historique. Barth erklärt: »Ist denn die Geschichte, und ich möchte jetzt scharf pointiert sagen: gerade das Historische in der Geschichte nur gestern und ehegestern, ist es nicht auch heute und morgen?« (Barth, Die Theologie Calvins, 9.) 17 Tillich, A History of Christian Thought, 298; vgl. auch ebd., 388. 18 »When Karl Barth decided to become  a systematic theologian, Protestant historical scholarship lost a man who was potentially the greatest historian of doctrine since Adolf von Harnack.« (Pelikan, Introduction to K. Barth, 7.) Vgl. Jimenez, Karl Barth and the Study of the Religious Enlightenment, 8.

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Theologie des 19. Jh. nennt.19 In den folgenden Abschnitten konzentriere ich mich auf Albrecht Ritschl.20 In den 1920er Jahren bemerkten Gelehrte einer älteren Generation, wie Adolf von Harnack oder Martin Rade, die aus erster Hand von der durch Albrecht Ritschl in den 1870er und 1880er Jahren angestoßenen theologischen Erneuerung wussten, gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Theologie Ritschls und der aufkommenden »Wort-Gottes-Theologie«. Diese Ähnlichkeiten sind mit dem zeitlichen Abstand, den wir heute zu diesen Ereignissen haben, in den letzten Jahrzehnten neu erforscht worden, und dabei sind sehr wichtige Ähnlichkeiten zwischen Ritschl und seiner Schule einerseits, sowie Barth und seiner »Schule« andererseits deutlich geworden.21 Gleichwohl präsentierte Barth selbst in den 1920er Jahren Ritschl oft als einen Tiefpunkt der modernen protestantischen Theologie, die selbst dabei gewesen sei, die Orientierung bzw. ihren Gegenstand zu verlieren. Wenn man Barths Einschätzung ernst nimmt, dann gehört Ritschl in der protestantischen Theologie des 19. Jh. zu den schwächsten Gestalten. Es scheint, dass Barth einen eigenen Rat nicht befolgen konnte oder wollte, den er einmal so äußerte: Wir haben nun in der Theologie zweifellos nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht, uns darüber klar zu werden, in welchem Grad und in welcher Weise die besondere und andere Art wie wir selber dran sind, in einer früheren Zeit etwa auch schon vorhanden, das eigentümliche theologische Anliegen unseres eigenen geschichtlichen Ortes dort etwa auch schon gesehen und bearbeitet ist, oder aber inwiefern es dort übersehen und vernachlässigt wurde.22

Ritschl erscheint am Schluss der Reihe von Barths Porträts der Theologen des 19. Jh., auf nur acht Seiten, von denen die erste Hälfte eine Kritik ohne Zitate darstellt. Barth behauptet dort, die höchsten Ideale des Denkens Ritschls seien die Vernunft und der »moderne Mensch«:23 So klar hat sich vielleicht außer dem einen Wegscheider keiner vor und nach Ritschl dahin ausgesprochen, dass der moderne Mensch vor allem im besten Sinn vernünftig leben will und dass das Christentum ihm nur eine große Bestätigung und Bestärkung eben darin bedeuten kann.24

Das war Barths Lesart von Ritschl, über den er im Sommersemester 1928 eine ganze Vorlesung an der Universität Münster gehalten hatte. Natürlich war ihm Ritschls Bemühen als Interpret der christlichen Dogmatik und der Bibel be19 Barth, Die protestantische Theologie, 345. 20 Vgl. die ähnliche Einschätzung von Barths Sicht auf die moderne protestantische Theologie in meinem Aufsatz in The Oxford Handbook of Karl Barth : Chalamet, Barth and Liberal Protestantism. 21 Vgl. z. B. Weinhardt, Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule. 22 Barth, Die protestantische Theologie, 15. 23 Ebd., 598–605 (Kap. 29). 24 Ebd., 599.

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kannt, aber, so Barth, man dürfe sich durch die Ansicht dieses »umfangreichen biblischen und dogmengeschichtlichen Apparates«25 nicht ablenken lassen und meinen, dass sein Hauptanliegen die Erneuerung der reformatorischen Theologie gewesen sei. Denn laut Barth war Ritschl vor allem ein moderner Theologe. Er mag versucht haben, in Übereinstimmung mit den Reformatoren die »forensische« Dimension der Rechtfertigungslehre herauszustellen; er mag sowohl den römischen Katholizismus als auch die Täufer wegen deren Betonung der Unmittelbarkeit der menschlichen Beziehung zu Gott zurückgewiesen haben; dennoch verschwand in Ritschls Denken die Offenbarung letztlich in der Kultur.26 Was sollen wir von dieser negativen Einschätzung halten? Ich denke, dass man Ritschl anders lesen kann, als Barth es tat, und dass man ihn anders lesen muss, um ihn richtig zu verstehen. Eine korrekte Lesart impliziert die Anerkennung von Ritschls Versuch, eine bestimmte Religionspsychologie durch die Betonung der göttlichen Objektivität zu überwinden. Dabei geht es nicht um die tote Objektivität der Metaphysik, sondern um die Objektivität Gottes in Gottes Handeln. Barth war dieser Aspekt von Ritschls Denken durchaus bekannt. Das bestätigt ein Brief an Emil Brunner vom Juli 1916. Darin wird Ritschl für seinen Hinweis auf die »göttliche Objektivität« explizit gelobt, obwohl er für Barth (schon damals!) »keine sympathische Figur« darstellte.27 Das war 1916. In den folgenden Jahren war Barth allerdings so sehr darauf bedacht, dem Neuprotestantismus oder »Kulturprotestantismus« Einhalt zu gebieten, dass er dazu tendierte, Ritschl und andere moderne Theologen hart zu tadeln. Er intendierte einen klaren »Bruch«. Doch dabei wurde er diesen Denkern nicht gerecht. Wenn er etwa auf Ritschls »großes Verdienst« hinwies, dass dieser nämlich »durch seine Reaktion die Möglichkeit einer Preisgabe des Schleiermacher-Hegelschen Ansatzes auf den Plan geführt« habe, so wird bei einer genauen Lektüre deutlich, dass er diese »Reaktion« nicht genau genug darstellt.28 25 Ebd. 26 Vgl. ebd., 602. »Verschwindet sie [die Offenbarung] bei Ritschl nicht in der Kultur […]?« (Barth, Das erste Gebot als theologisches Axiom, 237.) 27 »Ritschl ist mir im Ganzen keine sympathische Figur, aber die Energie, mit der er über diesen toten Punkt der religiösen Psychologie hinausgewiesen hat auf die göttliche Objektivität, ist doch einfach ein entscheidender Fortschritt gewesen, hinter den wir unter keinen Umständen zurückwollen.« (Barth an Brunner, 9. Juli 1916, Barth – Brunner, Briefwechsel 1916–1966, 11 f.) 28 »Es ist Ritschls großes Verdienst, durch seine Reaktion die Möglichkeit einer Preisgabe des Schleiermacher-Hegelschen Ansatzes auf den Plan geführt und damit den Ausgangspunkt der ganzen Entwicklung, die vollendete Aufklärung, auf einen Augenblick scharf beleuchtet zu haben, um dann doch faktisch zu zeigen, dass die Theologie, wenn sie sich nicht allzusehr bloßstellen wollte, unter Voraussetzung jenes Ausgangspunktes nur mit dem SchleiermacherHegelschen Ansatz arbeiten konnte, dass ein anderer Ansatz als dieser die Wahl eines anderen Ausgangspunktes, d. h. aber eine wirkliche Überwindung der Aufklärung bedeuten musste.« (Barth, Die protestantische Theologie, 600.)

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Ich denke, dass Ritschls Denken in eine ganz andere Richtung geht und den Versuch darstellt, die reformatorische Theologie unter den Bedingungen der Moderne zur Geltung zu bringen. Barths Lob für Ferdinand Kattenbuschs Darstellung der protestantischen Theologie des 19. Jh., wo er Kattenbuschs Standpunkt beschreibt als einen, bei dem »alles Heil« von einer »Umkehr zu Luther, natürlich so, wie [er] ihn versteh[t]«, zu erwarten ist, ist durchaus zutreffend; aber dieses Lob müsste ebenfalls für Kattenbuschs Mentor, Albrecht Ritschl gelten.29 Daher frage ich mich, ob Barth in seinem »merkwürdig unmusikalischen«30 Kapitel über Ritschl eine Haltung einnimmt, die er selber in der Einführung des Buches kritisiert hat: Dass »man immer gegen die jeweils vorausgegangene Zeit besonders verschlossen und vielleicht undankbar zu sein pflegt.«31 Ritschls »Reaktion« richtete sich gegen subjektivistische und individualistische Theologien, die er im Denken Schleiermachers und bei pietistischen Theologien wahrnahm, gegen religionspsychologische Darstellungen des Glaubens, gegen konservativ-konfessionalistische Lutheraner oder Altlutheraner, aber auch gegen idealistisch-spekulative Tendenzen, die er etwa bei Isaak August Dorner erkannte, sowie gegen »liberale« Ansätze, die er etwa bei Otto Pfleiderer und Richard Adalbert Lipsius fand. Ritschls Haltung ist in der theologischen Landschaft seiner Zeit recht einzigartig, sie hält sich fern von Schulrichtungen und von den Etiketten »links«-»rechts«. Es scheint mir, dass diese Art der Positionierung einen Teil der Attraktivität ausmachte, die viele Theologiestudenten in den 1870er Jahren zu Ritschl zog. Am 15. August 1879 schrieb der 33-jährige Wilhelm Herrmann an Ritschl: Wäre ich nicht auf Ihre Bücher gerathen, so würde ich mich wahrscheinlich noch immer ängstlich und befangen mit Kleinigkeiten abquälen, während ich jetzt mich von einer Wahrheit ergriffen weiss, für die ich mit voller Freudigkeit eintrete. Das weiss ich ganz gewiss, dass ich mich früher wohl auch für christliche Gedanken echauffirt habe, aber aus der apologetischen Haltung bin ich doch nicht herausgekommen. Röm. 1,16 mit innerer Wahrheit zu sprechen, habe ich doch erst gelernt, seitdem ich mit Ihrer Hilfe für die Gewalt des Ganzen ein Verständnis gewonnen habe.32

Viele Studentinnen und Studenten Barths, von Göttingen in den frühen 1920er Jahren bis Basel in den 1960er Jahren, könnten etwas Ähnliches gesagt haben wie das, was Wilhelm Herrmann hier über das »Ergriffensein von einer Wahrheit«, der man sein Leben widmen darf, zum Ausdruck bringt. Das hängt damit zusammen, dass Ritschl eine Theologie der Offenbarung artikulieren wollte gegen die – in den Augen seiner Studenten – spekulativen Phantasien 29 Ebd., 10. 30 Webster, Barth’s Earlier Theology, 97. 31 Barth, Die protestantische Theologie, 9. Für eine ähnliche Bewertung, vgl. Lange, Entre foi et histoire, 167. Vgl. auch ders., La compréhension de la révélation. 32 W.  Herrmann an A.  Ritschl, 15. August 1879, Ritschl  – Herrmann, Briefwechsel ­1875–1889, 204.

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eines Dorner oder die individualistischen Neigungen bestimmter vom Pietismus beeinflusster Gelehrter, die als Folge ihres Fokus auf Gott und die Seele die Welt und die Gesellschaft vergaßen (zu diesem speziellen Punkt antizipiert Ritschl Barths ausführliche Darstellung des prophetischen Amts Jesu Christi und dessen Bedeutung für die christliche Gemeinde in KD IV/3).33 Im Frühjahr 1880 schrieb Wilhelm Herrmann an Ritschl im Zuge von Überlegungen zu einer zweiten Auflage seines Buches Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlichkeit (1. Aufl. 1879), dass er einige Änderungen vornehmen würde, u. a. »um die nothwendige Unabhängigkeit der Theologie mehr aus ihrer eigenen Position als aus den erkenntnistheoretischen 33 Vgl. Ritschls Brief an W. Herrmann vom 12. Mai 1884, in dem er einen pointierten Gedanken Wilhelm Herrmanns anspricht: die »Aufklärungsdogmen«, dass der Glaube auf ewigen Gegebenheiten beruhe und daher keine geschichtlichen Fakten als Grundlage benötige, bedürften dringender der Revision als die Dogmen der christlichen Kirche: »Den reinsten Ausdruck dafür habe ich nämlich bei Pufendorf gefunden, de habitu religionis christianae ad vitam civilem. Da heisst es ziemlich im Anfang: Quia religio relatio ad deum est, ad exercendam religionem non necessaria est per se coniunctio plurium hominum, nec eiusdem efficaciae salutari in homine unoquopium aliquid inde accedit, quod plures in eandem conspirent. Diese Formel deckt Melanchthon, die Mystiker und die schlechten Interpreten Schleiermachers ebenso wie die Pietisten und die Aufklärer. Weil also die Religion Relation zu Gott ist, so ist sie nicht zugleich Relation gegen die Welt und die menschliche Gesellschaft. Ist aber die Gesellschaft nur zufällig dabei, so ist auch die historische Art der christlichen Religion gleichgültig. Und weil die pietistischen Orthodoxen auf jener Position der Mystik und der pietistischen Bekehrung stehen bleiben wollen, so haben sie den Teufel der Aufklärung, den sie besiegen wollen, in ihrem eigenen Leibe.« (Ritschl – Herrmann, Briefwechsel 1875–1889, 344 f.) »Ich habe inzwischen mir die Disposition zu einer Broschüre entworfen, welche Kübels schönes Thema [Über den Unterschied zwischen der Positiven und der Liberalen Richtung in der modernen Theologie, 1881], ohne die Namen der Gegner zu nennen, bearbeiten soll. Aber wenn er über positive und liberale Theologie geschrieben hat, so kann ich von den beiden Ausdrücken nur den ersteren gebrauchen. Für den zweiten brauche ich einen Anderen, der das gemeinsame Element von Kübel, Kähler und Luthardt sowohl wie von Lipsius und Pfleiderer bezeichnet. Positiv und arbiträr klingt zu ungewöhnlich, obgleich es gerade das ausdrückt, was ich meine; wahrscheinlich werde ich positiv und subjectivistisch sagen.« (W. Herrmann an A. Ritschl, 29. September 1881, ebd., 268.) Es ist erhellend, dass Herrmann hier eine »arbiträre« und »subjektivistische« Theologie bekämpft, denn mit diesen Adjektiven kann man auch einige der Hauptgegner Barths bezeichnen. Ritschl stimmt Herrmanns Vorhaben nicht zu und schlägt einen anderen Weg vor: »Wenn Sie uns als die Positiven reclamiren, so gefällt mir die Bezeichnung ›Subjectivisten‹ nicht gut, um die Anderen damit zu belegen. Deshalb ist die Frage, ob es zweckmäßig sein wird, jenen Titel auf uns anzuwenden, zu dem sich kein deut­ licher Gegensatz in dem gebotenen Umfang gegnerischer Bestrebungen formulieren lässt. Was meinen Sie dazu: Offenbarungstheologie und Phantastische Theologie? Oder da die Gegner doch auch Offenbarung anerkennen, Positive Offenbarungstheologie und phantastische Offenbarungstheologie? Es gilt ganz gleich, ob die Einen eine präexistente Gottheit, die sich nicht mit Christus deckt, oder die anderen das Princip der Gottessohnschaft, von dem er der erste historische Fall ist, als die massgebende Formel aufstellen. Schlechter Idealismus, also unreelle Aufbietung der Phantasie ist das Gepräge beider fehlerhafter Ansätze.« (A. Ritschl an W. Herrmann, 24. Oktober 1881, ebd., 271 f.)

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Reflexionen klar zu machen«.34 Ritschl äußerte keine Einwände, denn er verstand die Aufgabe der Theologie ebenfalls in dieser Weise. Man kann sich der Schlussfolgerung kaum entziehen, dass Barth in den späten 1920er Jahren wie auch in anderen Phasen Ritschl nicht in bonam partem interpretierte. Dazu war er nicht in der Lage. Dennoch gibt es mindes­tens einen Punkt, in dem Barth Recht hatte: Ritschl hat tatsächlich die Theologie vereinfacht – wenngleich sein Schreibstil für uns heute nicht eindeutig ist und auch zu seiner Zeit nicht eindeutig war, wie wir aus Wilhelm Herrmanns Bemerkungen an seinen Mentor über die Möglichkeit, Ritschls Kompendium Unterricht in der christlichen Religion (1875) im Gymnasialunterricht zu nutzen, ersehen können.35 Ritschl postuliert die »Liebe« als die einzigartige, krönende göttliche Eigenschaft. Barth war dieser theologischen Entscheidung gegenüber zutiefst misstrauisch und fragte sich, was dann mit Gottes Heiligkeit, Gottes Gerechtigkeit oder Rechtschaffenheit geschieht? Sollten sie einfach der Liebe Gottes untergeordnet werden?36 Barths Frage ist auch heute noch wichtig für die Theologie und für das Leben der Kirche: Von Gott zu sprechen, kann nicht bedeuten, einfach nur von Gottes Liebe zu sprechen, es bedeutet, von Gottes Liebe in Verbindung mit Gottes Heiligkeit, Gottes Gerechtigkeit, Gottes Freiheit usw. zu sprechen. Darin besteht Barths charakteristischer Beitrag zu unserer eigenen Untersuchung der Vergangenheit der christlichen Theologie: Er stellt Fragen zu zentralen theologischen Problemen 34 W. Herrmann an A. Ritschl, April 1880, ebd., 228. 35 »Soviel ist sicher, dass es sehr wohl möglich ist, die Jungen in das Verständnis Ihrer Sätze einzuführen. Sie sprechen es zwar aus, dass sie ohne die Interpretation wenig davon verstehen würden. Das ist ja aber kein Fehler, da es der Interpretation des Lehrers den nöthigen Raum lässt. […] Schwierigkeiten bereitet ihnen hauptsächlich der tiefeingewurzelte Glaube, dass sie in dieser Stunde bisweilen auf einen vollständigen Gebrauch ihres Verstandes verzichten müssen. […] Dass es immer einige unter 40 geben wird, die gänzlich unbewegt bleiben, ist aus dem Unterschiede der Fähigkeiten leicht erklärlich, der hier an dem schwersten Unterrichtsgegenstande auch am schärfsten hervortritt.« (W.  Herrmann an A.  Ritschl, 9. Juni 1875, ebd., 52–54.) Herrmann benutzte Ritschls Text bereits vor dessen Veröffentlichung. Kurz darauf, am 18. November 1875, schrieb er an Ritschl: »Ich habe die feste Hoffnung, hier den Beweis liefern zu können, dass man mit dem Buche etwas anfangen kann, trotzdem die Schüler zunächst verblüfft vor dem gänzlich Ungewohnten stehen. […] Herr Direktor, der eben hier war, hat mir versprochen, am nächsten Montag mit in die Ober-Prima zu kommen, um zu hören, wie wir die Lehre von der Sünde noch einmal durchsprechen. Ich möchte gern an ihm einen Bundesgenossen gegen den Einwand haben, dass das Buch für den Gymnasialunterricht zu schwer sei. Diesen Einwand werde ich hier um so mehr hören müssen, als auch der Inhalt auf zahlreichen Widerspruch stossen wird.« (Ebd., 60.) 36 Barth, Unterricht in der christlichen Religion, 140: »Von einem Verschwinden oder Zurücktreten gerader dieser Eigenschaft Gottes [Gerechtigkeit] kann, wo er in actu erkannt wird, gar nicht die Rede sein. So wenig wie in Gottes Heiligkeit darf seine Gerechtigkeit aufgehen in seiner Barmherzigkeit, von der nachher zu reden. Es ist auch nicht wohlgetan, sie seiner Liebe zu subordinieren. Die moderne Dogmatik besonders seit Ritschl zeigt starke Neigung dazu.« Vgl. auch ebd., 146–147 zur Gefahr eines sentimentalen Verständnisses der Liebe und der Notwendigkeit, ihr »eine zweite Eigenschaft« zuzuordnen.

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im Hinblick auf unsere Rede von Gott. Dieses Verfahren wendet er im Gespräch mit allen Denkern, mit denen er sich befasst, an, unabhängig von der geschichtlichen Epoche, in der sie lebten. Auch das gehört zum »Licht« und nicht zum »Schatten« in Barths Zugang zur Geschichte und zur Art und Weise, wie er Historische Theologie praktizierte. 4.

Abwertung und Absorption der Geschichte?

Karl Barths Haltung zur Geschichtswissenschaft wurde oft und an verschiedenen Punkten kritisiert. Manche meinen, die berühmt-berüchtigte Bezeichnung der Kirchengeschichte als »Hilfswissenschaft« gleich zu Beginn der Kirchlichen Dogmatik, sei ein Beleg für die Herabwürdigung der Geschichtswissenschaft insgesamt.37 In der zweiten Hälfte seiner Prolegomena, veröffentlicht 1938, wurde die dogmatische Theologie in den Mittelpunkt des theologischen Unternehmens gestellt, umgeben von Exegese sowie Praktischer Theologie; die Kirchengeschichte war nirgendwo in Sicht.38 Es überrascht daher nicht, dass Paul Tillich 1957 vom »Schlummer der Barthianer« im Hinblick auf das historische Problem und vom durch das Entmythologisierungsprogramm Bultmanns seit 1941 ausgelösten Erwachen sprechen konnte.39 Andere Kritiker meinten, Barths dogmatische Theologie absorbiere einen Teil der anderen theologischen Disziplinen. Nach Walter Nigg wird Theologie bei den »Barthianern« auf Dogmatik, Exegese und Homiletik »reduziert«: Tendenziell werde die Kirchengeschichte im Curriculum der theologischen Studien stillschweigend verdrängt, weil man sie als Disziplin, die historistischen Ansätzen angehört oder diese fördert, betrachtet. Konsequenterweise würden die Studierenden nicht mehr auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau ausgebildet und urteilten über alles von ihrem eigenen dogmatischen, »neo-orthodoxen« Standpunkt aus.40 Walter Nigg, der 1919 mit Barth in persönlichen Kontakt gekommen war und zu seinen Göttinger Studenten gehörte, schrieb diese Worte 1937. Dass sie tatsächlich eine Haltung beschreiben, die bei Barths Schülern und Freunden zu finden war, bestätigt Barths eigenes Vorwort zu Die Protestantische Theo37 Vgl. KD I/1, 3: »Die sogenannte Kirchengeschichte antwortet auf keine selbständig zu stellende Frage hinsichtlich der christlichen Rede von Gott und ist darum nicht als selbständige theologische Disziplin aufzufassen. Sie ist die unentbehrliche Hilfswissenschaft der exegetischen, der dogmatischen und der praktischen Theologie.« 38 KD I/2, 862, vgl. auch ebd., 857 f. 39 Tillich, Systematische Theologie, 112. 40 Vgl. Nigg, Geschichte des religiösen Liberalismus, 399: »Die Kirchengeschichte ist aus dem Lehrplan der Neuorthodoxie als verpönter Historismus stillschweigend gestrichen worden, was ein rapides Sinken des wissenschaftlichen Niveaus des theologischen Nachwuchses zur Folge hat, indem die fromm gescheitelten Jünglinge, unbeschwert von allem soliden Wissen, direkt zur anmaßlichen Überheblichkeit und zur gewollten Engherzigkeit erzogen werden. Vgl. auch Wolff, Walter Nigg, 70.

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logie im 19. Jahrhundert, verfasst im September 1946. Dort schreibt er, dass der Hauptgrund für seine Entscheidung, diese Vorträge, die zuvor in verschiedenen Formen im Umlauf waren, zu veröffentlichen, darin bestand, dass er immer wieder Anlass habe, den heute Jüngeren und Jüngsten unter den protestantischen Theologen eine etwas andere Einstellung und Verhaltungsweise zu den uns unmittelbar vorangehenden Zeiten der Kirche zu wünschen und nahezulegen als die, die sie nun doch im Missverständnis der von mir empfangenen Anleitung oft und hitzig genug für normal zu halten scheinen. Ich sähe es gerne, wenn sie denen, die vor uns waren, bei aller Grundsätzlichkeit der Abgrenzung ihnen gegenüber – einfach gesagt: nun doch mehr Liebe zuwenden würden.41

Barth wiederholte diesen Wunsch in der Einleitung des Buches, im Abschnitt »Über die Aufgabe einer Geschichte der neueren Theologie«, der einige sehr interessante Passagen enthält.42 Er ermahnte seine Studentinnen und Studenten und damit auch seine Leserinnen und Leser, dass die Vergangenheit »gehört sein«43 wolle und dass dieses Hören unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen sollte. »Augustin, Thomas [von Aquin], Luther, Schleiermacher und alle die Anderen sind nicht tot, sondern lebendig. Sie reden noch und wollen als Lebendige gehört sein.«44 Die Worte »und alle die Anderen« sind wichtig: Barth sagt, dass wir die Vergangenheit, einschließlich der theologischen Vergangenheit, so breit wie möglich hören sollten, anstatt uns auf diejenigen Daten zu beschränken, die wir besonders überzeugend oder interessant finden.45 »Unvermutete« und sogar »unwillkommene« Stimmen können sich als höchst bedeutsam erweisen, wenn wir versuchen, das zu tun, was diese Gestalten der Vergangenheit in ihrer eigenen Zeit getan haben.46 Barth zeigt dann auf, wie schwierig es ist, die Vergangenheit wirklich zu hören und sie nicht nur auf der Grundlage der eigenen dogmatischen Überzeugungen zu beurteilen: Franz Hermann Reinhold von Frank, Erich S­ chaeder, Ernst Troeltsch, Wilhelm Herrmann, Werner Elert, Emil Brunner u. a. sei dies nicht gelungen, sondern sie zogen es vor, die Probleme älterer oder neuerer Theologien aufzuzeigen, um anschließend ihre »Lösung« anzubieten. So war z. B. das »Verhör«, dem Schleiermacher von Emil Brunner unterzogen wurde 41 Barth, Die protestantische Theologie, vi. 42 Ebd., 1–15. 43 Ebd., 2. 44 Ebd., 3. 45 Vgl. ebd., 3: »Die Theologie jeder Gegenwart muss stark und frei genug sein, nicht nur die Stimmen der Kirchenväter, nicht nur Lieblingsstimmen, nicht nur die Stimmen der klassischen Vorzeit, sondern die Stimmen der ganzen Vorzeit ruhig, aufmerksam und offen anzuhören.« 46 Vgl. ebd.: »Wir können nicht vorwegnehmen, welche Mitarbeiter der Vorzeit uns bei unserer eigenen Arbeit willkommen sind, welche nicht. Es kann immer so sein, dass wir dabei ganz unvermutete und unter diesen zunächst ganz unwillkommene Stimmen in irgend einem Sinn besonders nötig haben. So also kommt die Geschichte, die Kirchen-, Dogmen- und Theologiegeschichte in die theologische Werkstatt. So wird sie zur theologischen Aufgabe.«

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(1924), zu Ende, noch bevor er begonnen hatte: Schleiermacher hatte keine Chance.47 Was ist also der richtige Umgang mit der Vergangenheit? Für Barth besteht er darin, dass »Erkenntnis der Geschichte als Voraussetzung der eigenen Stellungnahme aufrichtig gesucht wird und nicht bloß zum Vorwand einer nachträglichen Verstärkung der eigenen schon bezogenen Stellung dient«.48 Die Vergangenheit stellt sich uns als »wehrlos« dar, daher müsse man mit Sorgfalt und »Ritterlichkeit« darauf achten, die Vergangenheit das sagen zu lassen, was sie uns sagen will.49 Unsere Begegnung mit der Vergangenheit solle so dialogisch wie möglich verlaufen und kein einseitiges Urteil des Historikers, der die Vergangenheit beobachtet, implizieren. Barth hoffte, dass seine eigene Vorlesung nicht bloß darstellte, was im vorangegangenen Jahrhundert alles falsch gelaufen war, bis dann die »dialektische Theologie« die hoffnungslose Situation bereinigte. Er betont: »So würde ich es machen, wenn ich es nach meinem eigenen Urteil allzu schlecht machen würde.«50 Welche Folgerungen ergeben sich daraus? Barths Darstellung des Ziels jeder historischen Untersuchung der Vergangenheit ist so fundiert und schön wie nur irgend möglich. Doch die lange Liste von Gelehrten, die dieses Ziel verfehlt haben, belegt die Schwierigkeit, es zu erreichen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Barth in seinen eigenen Vorlesungen die Umsetzung dieses Zieles gelungen ist. Sie erwecken den Eindruck, dass weite Teile der Theologie des 19. Jh. (mit Ausnahme von Hermann Friedrich Kohlbrügge, den beiden Blumhardts und vielleicht einigen anderen) nur eine Hinwendung zu »anthro­ pozentrischen« Ansätzen darstellte. Barth selbst spürte, dass er dem hohen Anspruch, den er an die Historische Theologie gestellt hatte, nicht ganz gerecht wurde. Im Vorwort des Buches erklärt er, dass es auf dem Hintergrund meiner Kirchlichen Dogmatik möglich und notwendig sein müsste, eine Gestalt wie etwa Schleiermacher ganz anders, viel schöner und eindrücklicher zum Leuchten zu bringen, als es etwa Horst Stephan auf dem Hintergrund seiner Theologie gegeben war. Den Einwand, dass ich in diesen Vorlesungen in dieser Richtung noch weit hinter der eigentlichen Aufgabe zurückgeblieben sei, werde ich als Zeugnis des Verständnisses für das, was ich auf diesem Feld eigentlich möchte und anstrebe, zum vornherein gelten lassen.51

Die Methode, die Barth der Geschichte innerhalb der Theologie zusprach, entspricht seinen Ausführungen über die Schrift, auch in seiner Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann: Wir sollten uns nicht auf ein »Vorverständnis« der Sache verlassen, sondern der Vergangenheit erlauben, aufs Neue zu uns zu sprechen: »Ein ausgesprochenes Urteil, die Meinung, dass wir mit diesem und 47 Vgl. ebd., 6 f. 48 Ebd., 8. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd., vi-vii.

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jenem im Guten oder Bösen ›fertig‹ seien, bedeutet so oder so immer, dass zu unserem eigenen Schaden, aber dann immer auch zum Schaden der Kirche, eine Türe zufällt, die offen bleiben, ein Ton verstummt, der weiterklingen sollte.«52 Das bedeutet nicht, dass die »Entschiedenheit« des eigenen Urteils abgeschwächt werden sollte! Barth lehnte eine rein irenische Grundhaltung ab, da sie in seinen Augen die Äußerung klarer und präziser Ansichten unmöglich machte.53 Doch unser Urteil ist und bleibt stets provisorisch, und dessen müssen wir uns jederzeit bewusst sein. 5.

Karl Barth und die Praxis der Geschichte

Karl Barth wusste, dass eine fundierte Kenntnis der Theologiegeschichte die Voraussetzung für eine solide dogmatische oder kirchliche Theologie bildet. Wenn er die Theologen der Vergangenheit im Hinblick auf seinen eigenen theologischen Entwurf las, stellte dies keine bloße Instrumentalisierung dar. Zumindest wollte er eine solche soweit wie möglich vermeiden. Die Vergangenheit verdient es, gehört zu werden  – nicht nur einmal, sondern immer wieder aufs Neue, auch wenn wir entscheiden mögen, die Werke dieser oder jener Gestalt der Vergangenheit könnten oder müssten »hinter uns« bleiben. Dieses Hören muss die (theologischen) Implikationen und Folgerungen, die in jedem Text vorhanden sind oder auf die in ihm angespielt wird, abwägen. »Geschichtserkenntnis, die reine Beobachtung und Feststellung oder auch reine Schau wäre, ist ein Widerspruch in sich selber.«54 Das ist nicht nur für die Historische Theologie, sondern auch für die Geschichtswissenschaft relevant. Barths Aussagen sind richtig. Aber er selber hat ein solches Programm nicht vollständig umgesetzt. Einer der Gründe für sein relatives Scheitern lag in seiner Ahnung, dass der Weg der protestantischen Theologie in den vorangehenden 300 Jahren ein Irrweg war. So bemerkt er in einem Brief vom Februar 1924: »Wo bleibt eigentlich die göttliche Vorsehung in der Geschichte der Theologie, wie wir sie jetzt sehen müssen? Drei Jahrhunderte Kitsch, das ist eigentlich an sich ein Problem.«55 Auch wenn diese Einschätzung teilweise zutreffen mag, so wirkte sie sich zugleich negativ auf Barths Interpretation wichtiger Gestalten, wie etwa Albrecht Ritschl, aus, so dass es für Barth schwierig, wenn nicht sogar unmöglich wurde, sie in bonam partem zu verstehen. 52 Ebd., 8 f. 53 Vgl. ebd., 9: »Ein Anderes ist die Entschiedenheit des eigenen Denkens, in der wir freilich nicht anders können, als die Anderen je und je ausgesprochenermaßen rechts oder links hinter uns liegen zu lassen – wieder ein Anderes, das Entscheiden über sie selber, das Urteil über sie in ihrer Andersheit, in ihrer Eigenheit, das Fertigsein mit ihnen, die Verschlossenheit ihrem Anliegen gegenüber.« 54 Ebd., 1. 55 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 224.

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Bevor wir uns kurz dem Thema der »theologischen Enzyklopädie« zuwenden, möchte ich auf Barths einleitende Bemerkungen zu seiner Vorlesung über Calvin zurückkommen: [D]ie Geschichte gibt mit verblüffender Gerechtigkeit jedem das Seine, suum cuique, das, was er ist, und darum sucht und darum findet: dem Anekdotiker seine Anekdoten, dem Dogmatiker seine Dogmatik und dem Zänker sein Waffenarsenal, dem Antiquar sein Museum und dem Kulturphilosophen seine schön geschwungenen Entwicklungslinien, dem Frommen Anlass zur Erbauung und dem Zweifler Anlass zu neuer Skepsis. […] Eben darum gilt aber auch das Andere, dass, wer nichts ist und nichts sucht, hier zweifellos auch seine Nichtigkeit findet.56

Barth suchte intensiv nach einer lebendigen Gegenwart, während er die Vergangenheit studierte. Er lehnte die vorgetäuschte Neutralität, die unter Historikern noch heute verbreitet ist, ab. Was hat er in der Vergangenheit gefunden? Seinen Christozentrismus fand er nicht in seinem Studium der modernen protestantischen Theologie. Vielmehr entwickelte er ihn über mehrere Jahrzehnte hinweg durch die intensive Lektüre der Bibel und ihrer Interpretation im Laufe der Geschichte sowie durch den kontinuierlichen Dialog mit theologischen Zeitgenossen (vgl. z. B. den Einfluss seines Freundes Pierre Maury im Zusammenhang mit Barths »christozentrischer« Interpretation von Gottes Erwählung und Verwerfung). 6.

Theologische Enzyklopädie

Haben Barths Theorie und Praxis der Historischen Theologie einen gegenseitigen Austausch zwischen den theologischen Disziplinen behindert? Sicherlich fühlten sich die Vertreter einiger Disziplinen aufgrund von Barths besonderer Vision der Aufgabe der Theologie an den Rand gedrängt, und sicherlich könnte man sich für eine alternative, mehr zirkuläre und kollegiale Sicht der Interaktion der theologischen Teildisziplinen einsetzen. Friedrich Schleiermacher z. B. lehnte es ab, die dogmatische Theologie als »die ganze Theologie« anzusehen, »so daß alle andern theoretisch theologischen Wissenschaften, die Schriftauslegung nämlich und die Kirchengeschichte beide im weitesten Umfang und mit ihren Zubehörungen nur Hülfswissenschaften von jener wären. Vielmehr scheinen diese alle einander in völlig gegenseitigem Verhältniß beigeordnet«.57 Dieser Vorschlag wird sicher von denjenigen, die vor allem friedliche theologische Fakultäten bevorzugen, unterstützt werden: Alle Disziplinen sind gleichberechtigt! Barth selber kam dieser Position in KD IV/3.2 nahe, als er die vier »Grundelemente« der christlichen Theologie in den Blick nahm: 1. die biblisch-exegetische Theologie; 2. die Kirchen- und Dogmen56 Barth, Die Theologie Calvins, 11 f. 57 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 12 f (§ 1.5).

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geschichte; 3. die systematische und dogmatische Theologie; 4. die praktische Theologie. Er schrieb: Keines dieser vier Elemente darf fehlen und keines von ihnen darf der Beziehung zu den drei anderen entbehren, wenn Theologie auf der ganzen Linie kritische Wissenschaft im Zusammenhang des Dienstes der christlichen Gemeinde sein und bleiben soll: Vollzug der ihr in jeder Zeit und an jedem Ort bitter nötigen Selbstprüfung.58

Kurz darauf heißt es: Gesund und heilsam ist sie dann, wenn sie in allen ihren vier Elementen ihr Problem und Thema unbeweglich im Auge hat und sichtbar macht. Ungesund und mehr schädlich als nützlich wird die Theologie da, wo sie, eben der Versuchung einer allzu menschlichen Hybris erliegend, ihr Problem und Thema aus den Augen verliert, wo sie sich also (was in sehr verschiedener Weise geschehen kann) im Sinn jener griechischen ›Erforschung Gottes und der göttlichen Dinge‹ absolut setzt, wo es infolgedessen zu einem Auseinanderbrechen ihrer vier Grundelemente in ein Verhältnis gegenseitiger Indifferenz oder eines latenten oder manifesten Widerspruchs kommt.59

Anschließend geht Barth darauf ein, was passiert, wenn eines der vier »Grundelemente« die Verbindung zu den anderen drei verliert. Weit davon entfernt, sich auf ihr eigenes Territorium zurückzuziehen und zu »eine[r] Art Vatikan innerhalb des Ganzen« zu werden, muss sich die biblische Exegese an ihre »Mitverantwortlichkeit in der Arbeit der systematischen Theologie« erinnern, so wie »vor allem die systematische Theologie« kaum mehr als ein »arbiträr ausgedachte[s] freischwebende[s] Gedankengebäude « sein wird, wenn sie sich »vom biblischen Zeugnis und dessen Geschichte in der Gemeinde entfernt«.60 Dies ist typisch für einen wiederkehrenden (und wichtigen) Aspekt von Barths Denken: die Kritik richtet sich in erster Linie gegen die eigene Position oder, wie im vorliegenden Fall, gegen das eigene Arbeitsfeld, und nicht gegen andere Personen. 1959 betont Barth auf hilfreiche Weise die gegenseitige Verbundenheit der vier »Grundelemente« der Theologie. Alle vier sind auf ihre Weise an der theologischen Aufgabe beteiligt und zur Zusammenarbeit aufgerufen. Keine Teildisziplin soll ihre Arbeit nur für sich betreiben. Folgt daraus, dass Barth seine frühere Bezeichnung der Kirchengeschichte als einer »Hilfswissenschaft« innerhalb der Theologie aufgegeben hatte? So einfach ist es nicht, wie seine letzte Vorlesung an der Universität Basel im Wintersemester 1961–1962 zeigt. Dort erklärt er, dass eine mit ständigem Blick auf »das concretissimum ihres Themas« aufgefasste und durchgeführte Kirchengeschichte, »sekundär und subsidiär auch […] der Sammlung, Auferbauung und 58 KD IV/3, 1009. 59 Ebd. Eberhard Jüngel kommt dieser Position recht nahe. Paul DeHart bemerkt dazu: »Because systematic theology considers all the disciplines in their unity, it must prevent their centrifugal drift toward purely secular status.« (DeHart, Eberhard Jüngel on the Structure of Theology, 58.) 60 KD IV/3, 1009 f.

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Sendung der Gemeinde« diene.61 Damit sind wir wieder in der Nähe der Aussagen zu Beginn der Prolegomena von 1932. Für uns heute ist es sinnvoll, der Betonung der Zusammenarbeit von gleichberechtigten Disziplinen zu folgen, anstatt von einem »sekundären« und »subsidiären« Dienst zu sprechen. Der Hauptgrund für dieses Vorgehen liegt darin, dass, wie Barth bereits erkannte, systematische Theologinnen und Theologen immer noch Schwierigkeiten haben, Theologinnen und Theologen der Vergangenheit wirklich zu verstehen. Die Kirchengeschichte und die Historische Theologie können Erkenntnisse in den Dialog der Disziplinen einbringen, welche die systematische Theologie von sich aus nicht entdecken würde, so wie systematische Theologinnen und Theologen die Kirchengeschichte über alle sachlichen Einzelfragen hinaus an das Thema oder die »Sache« der Theologie erinnern können. Die Hauptbotschaft, die Barth den Vertreterinnen und Vertretern der heutigen Exegese, Kirchengeschichte und systematischen Theologie mitzuteilen hat, besteht darin, dass wir wieder anfangen sollten, uns von Neuem aufeinander einzulassen. Wir tendieren heute nicht dazu, dass ein Teilgebiet der Theologie die anderen Teilgebiete dominiert oder ihnen diktiert, wie sie ihre Arbeit zu tun haben. Stattdessen existiert eine Tendenz zur Isolation voneinander. Die Vorstellung, dass die Theologie ein Hauptziel hat, zu dem alle Disziplinen beitragen, ist eher schwach ausgeprägt. Das ist indes nichts Neues; man könnte sagen, es ist die besondere Lage der akademischen Theologie in der Moderne und auch in der Spätmoderne. So bleibt für die einen die akademische Theologie in erster Linie auf den Dienst in der Kirche ausgerichtet, während ihr Ziel für andere nicht so eng mit dem kirchlichen Dienst und der Verkündigung des Evangeliums verbunden ist. Insgesamt hat die Theologie drei Öffentlichkeiten oder »drei verschiedene und miteinander verbundene soziale Wirklichkeiten«, wie David Tracy vorschlug: Gesellschaft, Akademie und Kirche.62 Aber in welcher Reihenfolge betrachten wir diese Öffentlichkeiten, und in welcher Beziehung stehen sie zueinander? Die Absicht, an diesem Punkt einen Konsens zu erzielen, dürfte illusorisch sein und wahrscheinlich auch eine Verarmung der theologischen Landschaft bedeuten. Wir sollten mit dieser Diskussion leben, anstatt sie beenden zu wollen. Wir befinden uns in einer herausfordernden Situation, die uns allerdings zugleich vor übereilten und oberflächlichen Schlussfolgerungen und Entscheidungen über die Gegenwart und Zukunft der akademischen Theologie bewahrt. Offene Diskussionen sind schließlich eine Bereicherung der Theologie.

61 Barth, Einführung, 195 f. 62 Tracy, The Analogical Imagination, 5. Die Reihenfolge stammt von Tracy.

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7. Folgerungen Barth war ein Freund der Geschichte (nicht nur der Kirchengeschichte!) und hatte, weitab von positivistischen Tendenzen, ein tiefes Verständnis für das Ziel der Geschichtswissenschaft. Die Geschichte hat uns etwas Wichtiges zu zeigen. Sie lehrt uns etwas über das Leben unserer Zeit und unser Leben in der Welt. Barth schätzte die Ziele der Geschichtswissenschaft sehr hoch ein – so hoch, dass er selbst nicht immer in der Lage war, sich daran zu halten. Gleichwohl bleibt sein Maßstab auch heute gültig. Barths Konzentration auf die Person und das Werk Jesu Christi, die tatsächlich nicht im Widerspruch zu wichtigen Ansätzen prominenter Theologen des 19. Jh. stand, sondern diese eher fortsetzte, führte zumindest für eine Weile zu einer vielversprechenden und sinnvollen Neugestaltung der theologischen Disziplinen. Alle Disziplinen sollten gemeinsam auf eine ständige, grundlegende Umgestaltung der Theologie in Richtung einer größeren Aufmerksamkeit für das »Problem und Thema« der Theologie hinarbeiten (um Barths eigene Sprache zu verwenden). Mehr als fünfzig Jahre nach Barths Tod befinden wir uns heute in einer sehr anderen Situation, die durch eine zunehmende Spezialisierung der Hauptdisziplinen der Theologie gekennzeichnet ist. In diesem Licht gibt uns das Werk Barths, insbesondere mit seinen Ausführungen in KD IV/3.2 (1959), wertvolle Hinweise, wie wir in unserer eigenen Situation aufs Neue damit beginnen können, Theologie gemeinsam zu studieren und zu praktizieren. Literatur Barth, Karl, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 92017. –, Das erste Gebot als theologisches Axiom, in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, GA III/49, hg. v. M. Beintker / M. Hüttenhoff / P. Zocher, Zürich 2013, 209–241. –, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zollikon-Zürich 1947. –, Die Theologie Calvins. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1922, GA II/23, hg. v. H. Scholl in Verbindung mit A. Reinstädtler, Zürich 1993. –, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1923, GA II/30, hg. v. der Karl-Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Leitung: Eberhard Busch), Zürich 1998. –, Die Theologie Zwinglis. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1922/1923, GA II/40, hg. v. M. Freudenberg, Zürich 2004. –, »Unterricht in der christlichen Religion«. Zweiter Band: Die Lehre von Gott / Die Lehre vom Menschen (1924/1925), GA II/20, hg. v. H. Stoevesandt, Zürich 1990. Barth, Karl – Brunner, Emil, Briefwechsel 1916–1966, GA V/33, hg. v. der Karl Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Leitung: Eberhard Busch), Zürich 2000. Barth, Karl  – Thurneysen, Eduard, Briefwechsel, Bd. 2: 1921–1930, GA V/4, hg. v. E. Thurneysen, Zürich 1974. Chalamet, Christophe, Barth and Liberal Protestantism, in: P. D. Jones / P. T. Nimmo (ed.), The Oxford Handbook of Karl Barth, Oxford 2019, 132–146. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

Karl Barth und die Praxis der Historischen Theologie

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Friedrich Lohmann

»Die große Störung« Karl Barths Ringen um die theologische Grundlegung der Ethik

»Die große Störung« – mit dem Titel meines Beitrags zitiere ich die Überschrift, die Karl Barth in seinem zweiten Römerbrief der Auslegung der ethischen Kapitel 12–15 des paulinischen Briefs gegeben hat. Diese Überschrift scheint mir relevant und treffend zu sein für einen Beitrag zu Barths Ethik, der noch dazu die Barthsche Sicht auf die Stellung der Ethik innerhalb des Zusammenhangs der verschiedenen theologischen Disziplinen beleuchten soll. Ja, die Ethik ist eine »große Störung«. Sie ist es, so Barths These, für jeden Menschen. Aber sie ist es ganz besonders für den Theologenmenschen, dem sie die Bodenlosigkeit seines gesamten Tuns vor Augen führt. Und gerade so, in ihrem verstörenden Hinweis auf die Relativität allen Tuns, zu dem auch das enzyklopädisch-ordnende theologische Denken gehört, nimmt sie eine eminent wichtige Rolle für das Unternehmen einer theologischen Enzyklopädie ein. Meine These ist, dass Barth in diesem Sinne die Ethik nicht nur in seinem zweiten Römerbrief als »große Störung« empfunden hat.1 Die Ethik, der Bezug des Denkens auf göttliches und menschliches Handeln, steht im Zentrum von Barths gesamtem Schaffen. Immer wieder hat er neue Anläufe gestartet, um die Ethik theologisch durch neue Kriteriologien in den Griff zu bekommen. Und immer wieder ist er dabei gescheitert, ohne das Ringen um die theologische Grundlegung der Ethik aufzugeben. Barths Verhältnis zur Ethik gleicht dem, das Jakob zu dem Engel hatte, der sich ihm am Jabbok entgegen gestellt hat: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn« (Gen 32,27). Gerade die Ethik verhindert, dass in der Theologie alles glatt aufgeht; sie macht den Übergang über den garstigen Graben, der sich zwischen Glauben und Denken auftut, schwierig – und gerade so wird sie für Barth zum geliebten Feind, mit dem er sich zeitlebens auseinandergesetzt hat. Ich werde im Folgenden dieses Ringen Barths mit der Ethik darstellen, indem ich in chronologischer Folge die verschiedenen Versuche darstelle, die er 1 Die Auslegung von Röm 12 in der Erstauflage von 1919 setzt ganz anders an. Gerade in der unterschiedlichen Auslegung von Röm 11,33–36 liegt eine entscheidende Differenz zwischen den beiden Auflagen des Barthschen Römerbriefs. Von einer »großen Störung« ist in der Erstauflage nicht die Rede. Im Gegenteil – alles erscheint klar: »Wir haben aus der Richtung und dem Charakter des universalen, objektiven göttlichen Waltens, die uns keine Geheimnisse mehr sind, die Folgerung zu ziehen für das kleine Stücklein Gottesweg, das nun gerade vor uns liegt. Wir haben uns zu ermahnen.« (Barth, Der Römerbrief [Erste Fassung] 1919, 462 f; hier wie in den übrigen Zitationen dieses Beitrags folgen die Hervorhebungen dem Original.)

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»Die große Störung«

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unternommen hat, um der theologischen Ethik ein denkerisch plausibles und nachvollziehbares Fundament zu geben – nur um einige Jahre später wieder ganz neu zu beginnen und, um Barths hier besonders gut passende Formel zu verwenden, erneut »mit dem Anfang anzufangen«. Es ist sicher kein Zufall, dass Barths letzter Versuch einer theologischen Grundlegung der Ethik beim Paraphrasieren des Vater Unser endet. Das ist nicht zuletzt ein Eingeständnis, dass das Problem der Ethik denkerisch nicht zu bewältigen ist. Wo Anselm seine theologische Reflexionsarbeit mit einem Gebet anfängt, hört Barths ethische Arbeit mit dem Gebet auf. Doch bevor ich in die Chronologie einsteige, möchte ich noch etwas beim zweiten Römerbrief verweilen, denn Barths Ausführungen zur »großen Störung« machen deutlich, was für ihn bei der Ethik überhaupt auf dem Spiel steht. 1.

Ethik als Kulminationspunkt der gesamten Theologie

Paulus kommt im Römerbrief wie in all seinen Briefen am Schluss auf ethische Fragen zu sprechen. Das mag der äußere Grund sein, warum Barth gegen Ende des zweiten Römerbriefs, in seiner Auslegung von Kapitel 12–15, die ganz große Keule herausholt. Es gibt aber auch einen inneren Grund für diese Kulmination anlässlich der ethischen Passagen des paulinischen Römerbriefs, der mit Barths Verständnis von Theologie zusammenhängt, wonach es in der Theologie keine neutrale Zuschauerhaltung gibt. Denn genau dafür, dass das Treiben von Theologie ein selbst-reflexiver Prozess ist, der nur mit innerer Anteilnahme vollzogen werden kann, steht seiner Auffassung nach unter den theologischen Disziplinen vor allem die Ethik. Anders gesagt: mit dem Übergang zu Röm 12 wird es existenziell. »Das Auftauchen des ethischen Problems bedeutet die Sicherstellung der oft betonten Existentialität der im Laufe dieses Gesprächs verwerteten Begriffe, die Gewährleistung, daß unsre bis zur Ermüdung wiederholte Formel ›Gott selbst, Gott allein!‹ nicht ein göttliches ›Ding‹, nicht eine gegenüberstehende Idealität bezeichnet, sondern die unerforschliche göttliche Relation, in der wir uns als Menschen befinden.«2 Barths Überlegungen beruhen hier auf einer ganz einfachen Folgerungskette. »Denn Denken ist, wenn es echt ist, Denken des Lebens und darum und darin Denken Gottes.«3 Und genau dieses Leben in seiner Realität ist Bezugspunkt der Ethik. Gerade die Ethik ist Denken des Lebens. Eine Theorie-Praxis-Dichotomie lehnt Barth für die Theologie ausdrücklich ab: »Keine ›Praxis‹ neben der Theorie soll hier empfohlen, sondern festgestellt soll hier werden, daß eben die ›Theorie‹, von der wir herkommen, die Theorie der Praxis

2 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 572. 3 Ebd. Vgl. hierzu KD I/2, 881: »Ist das ewige Sein, mit dem es die Glaubenslehre zu tun hat, nicht in sich in der Verwirklichung im Leben begriffen, was ist es dann?«

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Friedrich Lohmann

ist.«4 Wenn alle Theologie Theologie der Realität der Gnade und damit Theologie der Krisis ist, dann gilt dies ganz besonders für die Ethik: Ihr »Sinn« ist nichts anderes als »der absolute Angriff auf den Menschen«.5 Gerade beim Nachdenken über Ethik zeigt sich, dass Gott »die große Störung der Dogmatiker und der Ethiker«6 ist. An dieser organischen Zusammengehörigkeit von Dogmatik und Ethik hat Barth lebenslang festgehalten, gerade auch um die Verselbstständigung der Ethik – für Barth der enzyklopädische Sündenfall des Katholizismus und des Neuprotestantismus – zurückzuweisen. Von der Gottes- und Gnadenvorstellung und deren inhärentem Bezug auf die Realität des Lebens her ergibt sich für ihn gleichwohl, dass sich an der Ethik das Gelingen des gesamten enzyklopädischen Unternehmens der Theologie entscheidet. Gott ist, weil seine Lebendigkeit nur existentiell reflektiert werden kann, die große Störung der Theologie. Und das zeigt sich ganz besonders in der Disziplin der Ethik, die nun gerade das Leben durchdenken soll. Aber auch von der Seite des Menschen her weist Barth im zweiten Römerbrief der Ethik eine enzyklopädisch fundamentale Funktion zu. Barth unterscheidet zwischen einem primären und einem sekundären ethischen Handeln. Letzteres entspricht dem altbekannten Verständnis von Ethik als Beantwortung der Frage »Was soll ich tun?«. Das primäre ethische Handeln aber – und hier lässt Barth sich von der paulinischen Rede von der »Erneuerung des Denkens« in Röm 12,2 leiten – befasst sich mit der Haltung des gläubigen Menschen, die die Voraussetzung für solche sichtbaren Taten ist und damit auch für jeden theologischen Denkakt, gleich welcher Disziplin, die Grundlage abgibt. Dass die Theologie mit einem solchen selbstreflexiven Akt der Erneuerung, der Metanoia, der Buße beginnt, hat Barth auch später festgehalten. Im zweiten Römerbrief macht er klar, dass dieser grundlegende Denkakt in das Gebiet der Ethik fällt. Mit der Rede von einem primären ethischen Handeln erklärt Barth die Grundhaltung des Menschen, aus der heraus Theologie betrieben wird, zu einem Thema der Ethik.7 Mit Barths Betonung des Aktcharakters des Denkens sind wir bei einem dritten Punkt angelangt, der sich für die These von der Ethik als Kulminations­ punkt des Barthschen theologischen Denkens anführen lässt. Schon vielen Barth-Exegeten ist die besondere Relevanz von Akt- bzw. Handlungskategorien in seiner Theologie aufgefallen. Dietrich Bonhoeffer, Friedrich-Wilhelm Marquardt, Georg Pfleiderer und Paul Nimmo sind nur einige Namen, die dafür genannt werden können. Gerade das Buch Being in Action von Paul 4 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 575. 5 Ebd., 581. 6 Ebd., 591. 7 Man kann hier durchaus eine Kontinuität in Barths Denken bis hin zum Spätwerk der KD IV/4 erkennen: Denn dieser Band – der bekanntlich den Beginn der Ethik der Versöhnungslehre darstellt – behandelt die nötige Umkehr des Menschen und die Wassertaufe als deren Bekenntnis. In der Terminologie des zweiten Römerbriefs: Die Wassertaufe ist Ausdruck eines primären ethischen Handelns.

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Nimmo, das meiner Wahrnehmung nach in der deutschsprachigen BarthForschung noch unzureichend bekannt ist, möchte ich an dieser Stelle nennen. Nimmo interpretiert einschlägige Passagen der Kirchlichen Dogmatik und arbeitet dabei heraus, dass Barth von Gott und vom Menschen eher im Modus des Handelns als in Zustandsbeschreibungen spricht. »Barth operated with an actualistic ontology, in which, within the covenant of grace, the ethical agent as a being in action is called to correspond to the Being in action of God.«8 Leben, und zumal das göttliche Leben in der Trinität, vollzieht sich in Handlungen. Und von der göttlichen Existenz strahlt der Handlungsprimat über die Kategorie der Entsprechung auch auf den Menschen aus. Leben heißt Handeln, und auch die Umkehrung gilt: Handeln heißt Leben. Barth hat das nicht erst in der Kirchlichen Dogmatik zu einem zentralen Bestandteil seiner Theologie gemacht. Vielmehr will er schon im ersten Römerbrief Substantive durch Verben ersetzt wissen: »nicht Gedanken, sondern das Denken, nicht Erkenntnisse, sondern das Erkennen, nicht ein Programm, sondern eine Führung«.9 Und 1922 heißt es: »Leben heißt Tun, auch dann, wenn es zufällig ein Nicht-Tun sein sollte.«10 Die ideengeschichtliche Herkunft dieses aktorientierten Wirklichkeitsverständnisses wird in der Forschung diskutiert.11 Ich selbst habe in meiner Dissertation zu zeigen versucht, dass jedenfalls eine seiner Wurzeln in Barths Rezeption des Marburger Neukantianismus liegt, der das Sein eben auch ganz dynamisch im Sinne eines »being in action« deutet.12 Wie und woher auch immer inspiriert: Die gut belegte Akt-Orientierung des Barthschen Wirklichkeitsverständnisses legt nahe, dass die Ethik mit ihrem Handlungsbezug zum Kulminationspunkt guter Theologie wird. Denn erst im Handeln wird der Mensch laut Barth zum Menschen. Zusammengefasst: Sowohl die existenziell-praxis-realitätsbezogene Dimension der Theologie, die sich aus ihrem Bezug auf den lebendigen Gott ergibt, als auch ihre selbstreflexive Grundlegung in einem primären Denkakt der Erneuerung als auch Barths Sicht auf Gott in erster Linie als einen Handelnden mit der daraus folgenden ontologischen Aktzentrierung sprechen dafür, im Sinne Barths der Ethik eine ganz besondere Funktion im Zusammenhang der theologischen Disziplinen zuzuweisen. Bevor wir nun genauer und in chronologischer Abfolge anschauen, wie Barth diese für ihn ebenso zentrale wie verstörende ethische Reflexion konkret durchführt, möchte ich eine zweite allgemeine Vorüberlegung anschließen.

8 Nimmo, Being in Action, 1 f. 9 Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, 459. 10 Barth, Problem, 106. 11 Vgl. den Forschungsüberblick: Lohmann, Ethik des Politischen, 256–263. Dort begründe ich auch, warum ich (nur) von einer Akt-Orientierung, nicht aber von einem Aktualismus bei Barth sprechen möchte. 12 Vgl. Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus, bes. 309 f.

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Friedrich Lohmann

Die Grundlegungsfrage als die für Barth entscheidende theologische Frage

In der traditionellen, etwa von Eduard Thurneysen verbreiteten Deutung ist der Neubeginn von Barths Theologie, zunächst mit der Dialektischen Theologie, durch eine sog. »Predigtnot« ausgelöst worden: Das hergebrachte theologische Paradigma habe nicht mehr ausgereicht, um darauf Predigten zu gründen, die dem eigenen Anspruch genügten. Ist diese Legende die ganze Wahrheit? So etwas wie »Predigtnot« gibt es zweifellos im Leben eines Pfarrers oder einer Pfarrerin, und Barth hat seine entsprechenden Ausführungen in diesen allgemeinen Kontext gestellt: »Ich bin überzeugt, Sie alle kennen diese Lage und diese Plage.«13 Nun muss man aber darauf nicht unbedingt mit der Ausarbeitung eines neuen theologischen Paradigmas reagieren. Manche reagie­ ren darauf, indem sie den Pfarrerberuf an den Nagel hängen. Andere lesen Predigten ab, die sie im Internet gefunden haben, oder lesen Romane, die sie dann in ihren Predigten nacherzählen. Wenn Barth auf das Gefühl, seiner Hörerschaft nichts mehr sagen zu können, ganz anders, nämlich mit neuer Grundlagenarbeit reagierte, so sagt das einiges aus über seine theologischen Prioritäten. Insbesondere, wenn man hinzunimmt, dass diese Grundlagenarbeit im Obstgarten des Safenwiler Pfarrhauses gar nicht mit Bibelstudien, sondern mit Kant-Exegese begann: Im Brief an Thurneysen vom 26.6.1916 berichtet Barth von dieser Kant-Exegese als »Aufräumungsarbeit«, damit die neu zu beziehende »gewagte Position« »solid unterbaut« ist.14 Der Beginn bei Kant zeigt im Übrigen auch, dass Barths Interesse an Grundlagenarbeit nicht durch die Existenz als unzufriedener Pfarrer ausgelöst wurde. Denn mit Kant hatte er sich bereits vor seinem Studium in Marburg gründlich beschäftigt und in Marburg dann umso mehr.15 Bevor er nach Safenwil kam, ging ihm der Ruf voraus, dass er alle drei Kritiken Kants studiert habe. In diesem Zusammenhang kann auch auf das Fragment Ideen und Einfälle zur Religionsphilosophie aus Barths Studentenzeit verwiesen werden.16 Barths Interesse an Grundlagenreflexion lag also jeder realen oder idealisierten Predigtnot weit voraus. Des Weiteren zeigt z. B. eine Stellungnahme Barths zur Aargauer Kantonssynode 1914, dass seine theologische Unzufriedenheit zu dieser Zeit weit über das eigene Predigen hinausreichte.17 Das Ergebnis der Lese- und Schreibübungen im Pfarrgarten zeigt denn auch, dass Barths Neuansatz entscheidend als erkenntnistheoretischer Paradigmen­ wechsel interpretiert werden muss.18 Theologie soll von Gott aus betrieben

13 14 15 16 17 18

Barth, Not und Verheißung, 70. Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 1, 145. Vgl. Lohmann, Kant, Kierkegaard und der Neukantianismus, 42 f. Barth, Ideen. Barth, Kirchensynode, 6: »Sagen wir’s nur gleich: es war wieder nichts, gar nichts, Null!« Vgl. Lohmann, Gewissheit.

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werden; nicht ich erkenne, sondern ich werde erkannt;19 Thema der Theologie ist Gott und nicht der Mensch – wir kennen diese Formeln. Barths Suche galt dem, was er in der Tambacher Rede einen »archimedischen Punkt« nennt:20 einem »Standort« jenseits der Relativitäten des gegebenen Lebens, von dem aus erst sich theologische Gewissheit erschließen ließe. Barth griff dabei auf den Ursprungsgedanken Hermann Cohens zurück und übertrug ihn, im Anschluss an seinen Philosophen-Bruder Heinrich, auf Gott und die Grundlegung theologischer Erkenntnis.21 So heißt es im zweiten Römerbrief: »Die Geschichte selbst zeugt also von der Auferstehung, das Gegebene selbst von seiner nicht-gegebenen Voraussetzung, das menschliche Geschehen selbst von der Paradoxie des Glaubens als von seiner unveräußerlichen Grundlegung.«22 Die Grundlegung der Deutung des Geschehens hat von einem Punkt aus zu erfolgen, der selbst jenseits des Gegebenen liegt – unveräußerlich im Blick auf menschliche Willkür.23 Und Barth findet diesen Punkt zu jener Zeit in der – ganz unhistorisch gedachten – Auferstehung Christi.24 19 »Cogitor, ergo sum, ich werde gedacht, deshalb bin ich, mag es dann heißen und dieses cogitari, dieses Gedachtwerden, seine Logik, Konsequenz und Sicherheit wird sich an dem erkennenden Menschen geltend machen, auch wenn, ja gerade wenn das cogitare, das Selbstdenken mit seiner Logik darüber und daraus nur immer aufs neue und in immer neuen Formen zuschanden werden kann, auch wenn unser subjektives Erkennen dann offenkundig immer wieder aus einer Reihe von abgebrochenen, scheinbar ins Leere redenden Anfängen bestehen wird« (Barth, Auferstehung, 23). Zum Kontext vgl. Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus, 279 f, Anm. 273. 20 Barth, Christ, 575. 21 Vgl. Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus. Zur »Theologizität« dieses Rezeptionsprozesses vgl. auch ebd., 47 f. 22 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 162. 23 Der Willkürvorwurf war es, der entscheidend Barths Abkehr von seinen deutschen theologischen Lehrern im Zusammenhang des Kriegsausbruchs 1914 provozierte: »Damals ging es einem auf: Diese ganze Sache, diese immanente Theologie, das sind alles Protuberanzen von menschlichen Erlebnissen, und das ging nicht« (Barth, Brechen und Bauen, 113). 24 Vgl. Barth, Christ, 575; Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 272. Auch der Hinweis auf die Auferstehung(en) der Kirche am Ende von Barth, Not und Verheißung, 97 ist in dieser Hinsicht zu beachten. Dass die Auferstehung Jesu von Barth zu dieser Zeit als gänzlich unhistorisch gedeutet wurde, ergibt sich aus der von ihm in seiner dialektischen Phase bevorzugten Logik der Grundlegung: »Der anschauliche Sinn dieses Lebens ist nicht zu fassen ohne die Offenbarung und Anschauung der unanschaulichen Verherrlichung Gottes, die sich in ihm vollzogen hat. Diese Offenbarung und Anschauung ist die Auferweckung Jesu Christi von den Toten […]. Aber die Offenbarung und Anschauung dieser Umkehrung ist als solche die Grenze menschlich anschaulicher Geschichte, auch der menschlich anschaulichen Geschichte Jesu von Nazareth. Sie ist als solche nicht ein ›historisches‹ Ereignis neben den andern Ereignissen dieser Geschichte, sondern das ›unhistorische‹ Ereignis, das diese andern Ereignisse als ihre Grenze umgibt, auf das die Ereignisse vor und an und nach dem Ostertage hinweisen« (Barth, Der Römerbrief [Zweite Fassung] 1922, 280 f.). Es ist im Sinne dieser Logik präziser, wenn Barth an der zuletzt zitierten Stelle von der Auferweckung anstelle von der Auferstehung Jesu spricht.

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Dieser Grundgedanke einer Verankerung der Theologie in einem der Geschichte strikt Enthobenen hat Barths theologisches Schaffen weiter begleitet – sei es im »Deus dixit« der Christlichen Dogmatik im Entwurf oder in der ewigen Erwählung des Menschen in Jesus Christus, die seit KD II/2 zur noetischen und ontologischen Zentralinstanz seiner Theologie wurde.25 Geblieben ist auch Barths Interesse an Grundlagenreflexion. Sei es die Christliche Dogmatik im Entwurf, seien es die Ethik-Vorlesungen, sei es die Kirchliche Dogmatik, seien es viele von Barths Vorträgen: Immer nimmt die Frage des erkenntnistheoretischen Zugangs entscheidenden Raum ein. Auch die Deutung der reformatorischen Theologie durch Barth ist durch diesen Primat der Erkenntnistheorie geprägt. Sprechend ist der Vorwurf der intellektuellen Werkgerechtigkeit in der Auseinandersetzung mit Emil Brunner in den 1930er Jahren: Das rechtfertigungstheologische extra nos der Reformatoren wird von Barth auf die theologische Erkenntnistheorie bezogen. Indem eine von der Christusoffenbarung unabhängige Erkenntnismöglichkeit des Göttlichen von Brunner behauptet wird, macht er sich eines intra nos schuldig, gleichzusetzen mit einer Selbstrechtfertigung auf dem Gebiet der Erkenntnis. So erklärt sich jedenfalls für mich der Barthsche Vorwurf einer »intellektuellen Werkgerechtigkeit«26. Auch hinsichtlich der Ethik hat Barth am erkenntnistheoretischen extra nos festgehalten. Der Bezug der Barthschen Ethik-Konzeption zum Ursprungsgedanken Cohens ist im zweiten Römerbrief gut sichtbar, wenn es heißt: »Das Problem der Ethik erinnert uns eben daran, daß es nicht der Denkakt als solcher, sondern sein unanschaulicher Ursprung, seine reine Voraussetzung ist, die in ihrer Weltfremdheit dadurch gerechtfertigt ist, daß gerade sie der Fülle des Konkreten gerecht wird.«27 »Weltfremdheit« übersetzt hier das transzendentallogisch verstandene extra nos; und es wird zugleich deutlich, dass Barth gar keinen Widerspruch zwischen einer grundlagen-orientierten Unanschaulichkeit und empirischen Unkonkretheit der Ethik und ihrer Lebensdienlichkeit sieht: Gerade als Grundlagenreflexion ist die Ethik und ist auch die Theologie lebenszugewandt, indem sie sich nicht an einzelnen Phänomenen des konkreten Lebens abarbeitet, sondern zunächst den erkenntnistheoretischen Rahmen der ethisch-theologischen Reflexion erfasst. Aus all dem Gesagten sollte plausibel geworden sein, warum ich mich, wenn es im Folgenden um Barths Ethik geht, auf seine Überlegungen zur Grundlegung der Ethik fokussiere. Hier entscheidet sich für ihn die Güte eines ethischen Entwurfs, und gerade deshalb ist es so bezeichnend für das Ringen Barths mit der Ethik, dass er im Laufe seiner Schaffenszeit immer wieder neue Angebote in der Ethik-Grundlegung erarbeitet hat. Darauf werde ich nun eingehen. 25 Vgl. McCormack, Grace and Being. 26 Barth, Nein!, 38. Der Vorwurf wird kontextualisiert und aufgegriffen in einem interessanten Beitrag römisch-katholischer Provenienz in ökumenischer Absicht: KleinschwärzerMeister, Werkgerechtigkeit. 27 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 574.

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Barths Konzepte zur theologischen Grundlegung der Ethik

3.1

Leben in der Kraft der Auferstehung – Barths Ethik in der Dialektischen Periode

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Barths konzeptionell selbständiger Weg auch in der Ethik beginnt mit der Dialektischen Phase, die nach meiner Deutung allmählich in den Jahren des Ersten Weltkriegs heranreift, 1917 im Aufsatz Die neue Welt in der Bibel erstmals greifbar wird und dann mit dem zweiten Römerbrief voll zum Austrag kommt. Zuvor ließ sich Barths Theologie, Folkart Wittekind hat das gezeigt, noch gut, wenn auch durchaus originell, in das Paradigma kulturprotestantischer Reich-Gottes-Theologie einordnen.28 Barths Dialektische Theologie wird mit Recht auch als Theologie der Krisis bezeichnet. Dies zeigt sich auch und gerade an seinen Stellungnahmen zur Ethik aus dieser Zeit seines Denkens, die ich in die Jahre 1917 bis 1927 einordne. Auf die Störungs- und Angriffs-Metaphorik aus den ethischen Passagen des zweiten Römerbriefs bin ich ja schon eingegangen. Barths Ethik präsentiert sich in dieser Zeit hauptsächlich als Kritik aller Ethik. Sozialismus, Bürgertum, Pazifismus, Kriegsbegeisterung – sie alle werden von Barth als Verabsolutierungen des Relativen und Vorletzten gegeißelt. Auch eine naive biblische Nachfolgeethik bekommt ihr Fett weg. Im oben genannten Vortrag von 1917 formuliert Barth das folgendermaßen: »Die Bibel ist für die Schule und in der Schule eine Verlegenheit, ein Fremdkörper. Wie soll denn aus dem Vorbild und aus der Lehre Jesu etwas zu ›machen‹ sein für das ›praktische Leben‹? Ist es uns nicht, als wolle er uns auf Schritt und Tritt zurufen: was geht mich das an, euer ›praktisches Leben‹?«29 Und 1922, im Vortrag Das Problem der Ethik in der Gegenwart, der nun endgültig das nach dem Ersten Weltkrieg offen vor Augen stehende Scheitern des europäischen ethischen Zivilisationsprojekts reflektiert, schreibt Barth: »Uns aber hat die erwiesene Unmöglichkeit des Christentums gerade als Ethik oder vielmehr die erwiesene Unmöglichkeit unseres europäisch-menschlichen Tuns gerade gegenüber der Ethik des Christentums in eine Not und vor Fragen gestellt, die uns den Gedanken nahelegen, es möchten die Unmöglichkeiten der christlichen Dogmatik alten Stils der wirklichen Lage immer noch besser entsprechen als die so getrost vorgetragenen Behauptungen von der Möglichkeit der sog. Nachfolge Jesu.«30 Die Frage der Ethik ist unwiderruflich gestellt, aber alle positiven Antworten auf diese Frage versagen, auch die traditionell christliche. Oder, auf die philosophische Ethik bezogen: »Begreifen können wir nur die Unbegreiflichkeit des kategorischen Imperativs.«31 Barths dialektische Ethik wäre keine dialektische, wenn sie an diesem Punkt der Krisis und der »Not«, der »Krankheit zum Tode«32, stehenbliebe. Wie 28 29 30 31 32

Wittekind, Geschichtliche Offenbarung. Barth, Neue Welt, 329. Barth, Problem, 112. Ebd., 118. Ebd., 115.

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Barth den Umschwung dieser »paulinisch-reformatorische[n] Dialektik«33 in Worte fasst, variiert. Immer aber – und das weist auf seine spätere Theologie und Ethik voraus – ist es ein Handeln Gottes, das als »archimedischer Punkt«34 gegenüber dem Ungenügen aller menschlicher Versuche der Ethik-Grundlegung zur Geltung gebracht wird. In der Tambacher Rede und ihrem Umkreis ist es die »Kraft der Auferstehung«, die im Glauben an das alles neu machende Ereignis von Ostern eine neue ethische Perspektive aufzeigt. »Die Osterbotschaft wird Wahrheit, ist Bewegung und Wesen, indem sie ausgesprochen wird, oder es ist eben nicht die Osterbotschaft, die da ausgesprochen wird. Begnügen wir uns also damit, gemeinsam festzustellen, dass alle biblischen Fragen, Einsichten und Ausblicke von allen Seiten eben auf diesen Gegenstand hinzielen.«35 Kontinuität gegenüber dem Barth der Kirchlichen Dogmatik besteht darin, dass dieser archimedische Punkt von Theologie und Ethik als schlichtes Faktum zur Geltung gebracht wird: »Jesus lebt. Das ist der Standort[,] von dem aus wir an diese Frage [sc. nach den Grundlagen des christlichen Lebens] herantreten. […] Wir wollen uns nicht den Kopf zerbrechen über unsre persönl. Christlichkeit. Aber J. ist auferstanden von den Toten. […] Das Dogmatische u. Historische an d. Auf[erstehung] ist sehr gleichgiltig u. unser persönl. Erlebnis davon gleichfalls. Aber wir atmen tatsächlich Auf[erstehungs-]Luft.«36 Die Differenz zur Kirchlichen Dogmatik besteht darin, dass Barth dieses grundlegende Faktum in den Jahren um 1920 in größter Unanschaulichkeit festgehalten wissen will. Die Auferstehung Jesu ist »das ›unhistorische‹ Ereignis κατ’ ἐξοχήν«37, und genau darin nimmt sie in dieser dialektischen Phase Barths ihre grundlegende Funktion wahr, auch für die theologische Ethik. Diesen neuen Standort in der frischen und belebenden Luft der Auferstehung zu benennen, muss genügen. Positiven ethischen Bestimmungen verweigert sich der dialektische Barth. »Der Kreis einer Betrachtung über die Frage: Was sollen wir tun? muß an dieser Stelle offen bleiben.«38 Nur so viel ist klar: Treu zu seinem akt-orientierten Wirklichkeitsverständnis nimmt Barth die Auferstehungsluft als Anlass zur Bewegung wahr: »Mit diesem letzten Wort in offenen Ohren wollen wir unsere Hoffnung und unsere Not in uns bewegen. […] Die unselige Statik eines konstanten Verhältnisses zwischen Gott und Mensch ist überwunden.«39 Der Christenmensch ist zum Handeln aufgefordert, aber ein Mehr an Konkretion lässt die Theologie der Krisis nicht zu.

33 34 35 36 37 38 39

Ebd., 136. Barth, Christ, 575. Barth, Biblische Fragen, 693. Barth, Christliches Leben, 503 f. Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 283. Barth, Problem, 141. Barth, Christ, 576.

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3.2

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Die Ethik-Vorlesungen von Münster und Bonn

Barths einziger ausgeführter Entwurf einer Ethik ist in Münster anlässlich einer zweisemestrigen Vorlesung entstanden (1928/29) und wurde mit nur wenigen Änderungen in Bonn 1930/31 wiederholt. Abgesehen von einem vom Christlichen Studentenweltbund verbreiteten Abdruck der maschinenschriftlichen Fassung ist sie vor der Edition in der Karl Barth-Gesamtausgabe 1973 unveröffentlicht geblieben. Das hängt ausweislich von Barths Briefwechsel mit Thurneysen daran, dass Barth schon bald aufgrund der in einem völkisch geprägten theologischen Umfeld an Prominenz gewinnenden Theorie der Schöpfungsordnungen seinen eigenen Entwurf, der ebenfalls mit dieser Kategorie arbeitet, nicht mehr kritisch ausdrucksstark genug in dieser Richtung empfand. Man wird im Rückblick auf die spätere Kirchliche Dogmatik und deren dezidiert christozentrischen Ansatz aber auch sagen können, dass ihm die Ethik-Vorlesungen in einem allgemeineren als nur dem auf die Schöpfungsordnungen bezogenen Sinn zu wenig christozentrisch waren. Barth argumentiert hier noch insofern im Duktus seiner dialektischen Theologie, dass er phänomenbezogen zumindest auch bei der menschlichen Wirklichkeit ansetzt. Das geschieht zwar weniger als in der 1927 erschienenen »Christlichen Dogmatik im Entwurf«, aber die Rede von einem zu existenzbezogenen Fehlstart, mit der er dieses dogmatische Frühwerk sehr schnell bedachte, trifft auch die Ethik-Vorlesungen. Werfen wir einen Blick auf diese Vorlesungen. Ich muss mich dabei, dem Thema dieses Beitrags entsprechend, auf die Grundlegung der Ethik und die sich daraus ergebende enzyklopädische Positionierung der Ethik beschränken. Dass christliche Theologie »von Gott aus« zu treiben sei und damit eher von Gott als vom Menschen zu reden habe, war bereits in Barths dialektischer Theologie klar ausgesprochen worden. De facto freilich hatte sich Barths dialektische Theologie noch stark im Modus der menschlichen Selbstbeschreibung bewegt. Im Blick auf die Ethik sollte das oben deutlich geworden sein, etwa wenn Barth von der ethischen »Not« in der Gegenwart sprach oder von der »Unbegreiflichkeit« des moralischen Imperativs. Demgegenüber blieben die positiven Aussagen, wie denn von Gott aus über ethische Fragen zu reden sei, letztlich auf wenig konkrete Metaphern wie »Auferstehungsluft« beschränkt. Barth hat dieses eigene dialektisch-theologische Vorgehen in einem Vortrag von 1930 unter dem Stichwort »Ontologie des Hohlraums« verspottet.40 Er ist aber auch schon 1928, bei der Konzeption der Münsteraner Ethik-Vorlesungen, darüber hinaus. Barth hält darin fest: »Wenn die theologische Ethik vom Menschen redet, so meint sie damit nicht den Menschen, wie er sich selbst versteht, sondern wie er sich verstanden weiß, wie er sich angeredet findet durch das zu ihm gekommene Wort Gottes.«41 Oder allgemeiner formuliert, durchaus schon vorausweisend auf die Kirchliche Dogmatik: »Die Theologie 40 Barth, Theologie, 38. 41 Barth, Ethik II, 359.

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ist die Darstellung der Wirklichkeit des sich an den Menschen richtenden Wortes Gottes.«42 Mit diesem Wirklichkeitsbezug ist verbunden, dass Barth nun auch im positiven Sinne einige Überlegungen zu spezifisch ethischen Thematiken beisteuert. Er bleibt freilich in dieser Hinsicht noch zurückhaltend, was mit seinem weiterhin vorherrschenden primären Verständnis von Theologie als transzendentallogischer Begründungswissenschaft zusammenhängt. Barth hat das während der Zeit der Ausarbeitung der Vorlesungen in einem Brief an den Freund Thurneysen folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: »Es ist oft nicht leicht, den transzendentalen Standort unentwegt festzuhalten und dann doch das ganze Feld des Lebens wenigstens grundsätzlich beständig zu berühren und sich dann doch wieder aller Entscheidungen daselbst konsequent zu enthalten.«43 Gleichwohl ist deutlich, dass Barth zumindest in Frageform und als Problembestände in den Ethik-Vorlesungen den gesamten Raum ethisch zu treffender Entscheidungen durchmisst. Die Konzentration auf das Wort Gottes – die 1928 noch keine christologische Konzentration impliziert! – soll aber nicht nur Positives an die Stelle des »Hohlraums« setzen. Diese Absetzbewegung gegenüber der eigenen früheren Theologie geschieht in den Ethik-Vorlesungen nur implizit. Explizit wird der Bezug auf das Wort Gottes geltend gemacht gegenüber einer sich von der Dogmatik – und damit vom Wort Gottes – verselbstständigenden Ethik. Barth hat dabei einerseits protestantische Entwürfe seit der zweiten Generation der Reformatoren im Blick, andererseits die römisch-katholische Naturrechtsethik, die ihm in Münster in besonderer Weise ins Blickfeld getreten war. Barth ist der Meinung, dass bei einer solchen Verselbstständigung des Ethischen »eine bedenkliche Vertauschung des Subjekts [der Ethik] mit einem anderen Subjekt, nämlich Gottes mit dem Menschen stattfindet«44 und sieht darin das proton pseudos jeder apologetischen Theologie, die dann trotz des theologischen Anspruchs doch, wie er das ausgedrückt hat, nur in einem höheren Ton vom Menschen spricht und damit einerseits Gott als eigentlichen Gegenstand der Theologie aus den Augen verliert und zugleich die durch die Sünde gegebene Eingeschränktheit menschlicher autonomer Erkenntnisfähigkeit – und zwar gerade auch hinsichtlich des Guten – unterschätzt. Diese Abgrenzung, die später auch den Ansatz der Kirchlichen Dogmatik beherrschen wird, ist Barth in den Ethik-Vorlesungen sehr wichtig. Aus der Abwehr gegenüber solchen aus seiner Sicht verheerenden Verselbststän­ digungstendenzen der theologischen Ethik wird man zu verstehen haben, dass Barth zu Beginn der Ethik-Vorlesungen der theologischen Ethik den Charakter einer – bloßen – »Hilfswissenschaft« der Dogmatik zuweist.45 Aus dem Text selbst begründet ist diese etwas despektierliche Redeweise eigentlich 42 43 44 45

Barth, Ethik I, 18. Barth – Thurneysen Briefwechsel, Bd. 2, 588 (zu Ethik I, Brief vom 3.7.1928). Barth, Ethik I, 17 f. Ebd., 1.27 f.

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nicht. Denn Barth wiederholt dort die bereits oben genannte These von der Existenzialität der Ethik, die der Dogmatik gerade ihren Wirklichkeitsbezug sichert: »Nur der Täter des Wortes, d. h. der vom Worte Gottes auf frischer Tat ergriffene Hörer dieses Wortes, ist sein wirklicher Hörer. Weil es Gottes Wort an den wirklichen Menschen und weil der wirkliche Mensch der im Wirken, in der Tat seines Lebens begriffene Mensch ist, hört man es nicht abseits, sondern im Akt, und zwar nicht in irgendeinem Akt, sondern im Lebensakt, im Akt seiner Existenz, oder man hört es gar nicht.«46 Auch das akt-orientierte Wirklichkeitsverständnis ist weiterhin greifbar, und zwar sowohl auf Gott als auch den Menschen bezogen.47 Barth betont in den Vorlesungen zusätzlich, dass die theologische Ethik insofern der Dogmatik gleichgestellt ist, als auch sie vom Wort Gottes redet. Nur tut sie das eben unter dem Gesichtspunkt des Gebots und der Inanspruchnahme des Menschen. Insofern bringt der Text gerade Argumente für die organische Zusammengehörigkeit von Dogmatik und Ethik. Es heißt sogar schon im Sinne der späteren These der Kirchlichen Dogmatik von der »Dogmatik als Ethik«: »Aufgabe und Methode der Ethik sind dieselben wie die der Dogmatik. Theologische Ethik ist selbst Dogmatik, keine selbständige Disziplin neben der Dogmatik. Wir gehorchen nur einer unterrichtstechnischen Notwendigkeit, wenn wir sie hier gesondert von jener behandeln.«48 Gerade darin ist die Ethik von den anderen von Barth an dieser Stelle genannten »Hilfswissenschaften« der Dogmatik wie etwa Einleitung ins AT und NT oder Kirchengeschichte meilenweit entfernt. Die These von der Fortführung der Dogmatik in der Ethik ist auch in der Durchführung der Ethik-Vorlesungen und ihrer inneren Systematik gut greifbar. Barth entwickelt bereits hier die Struktur der Dogmatik von der trinitarischen Gotteslehre her, wie sie später die Kirchliche Dogmatik bestimmen wird. Nach der Einleitung wird zunächst von Gott selbst geredet und danach in den Teilen III–V von den drei opera ad extra her, nämlich der Schöpfung, Versöhnung und Erlösung. Bis in die Terminologie hinein ist dieser systematische Entwurf der Kirchlichen Dogmatik bereits für die Ethik-Vorlesungen bestimmend, und er wird auch – zumindest auf die Ethik bezogen – hier erstund letztmals vollständig durchgeführt. Denn der fünfte Band der KD wurde ja nie geschrieben, während die Ethik-Vorlesungen einen Teil zum »Gebot 46 Ebd., 23. 47 Vgl. ebd., 23.25: »Es ist nicht so, daß der Mensch existiert und dann u. a. auch noch handelt, sondern er existiert, indem er handelt. Sein Handeln, sein existere, sein Hervortreten ist seine Existenz.«; ebd., 103: »Die Wahrheit des Guten ist keine allgemeine und theoretische und darum keine bedingte Wahrheit. Sie offenbart sich in dem konkreten Ereignis unseres eigenen Handelns als unsere Entscheidung für oder gegen das uns gegebene Gebot des Guten.«; Barth, Ethik II, 168: »Wir setzen, wenn wir im Ernst so fragen, jedenfalls ein Doppeltes voraus: einmal das, daß auch das Gebot Christi, wenn es wirklich das Gebot Christi ist, mandatum concretissimum sein muß, in höchster Direktheit und Besonderheit gerade mich angehendes Gebot. Es geht, wenn Gottes Gebot ergeht, nur und streng um mein Aufgerufensein.« 48 Barth, Ethik I, 28 f.

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Gottes des Erlösers« enthalten, der erahnen lässt, wie Barth sich die Eschatologie seiner Kirchlichen Dogmatik vorgestellt hat. Kunstvoll und – aus meiner Sicht zumindest – teilweise auch systematisch überzeugender als später sind die internen Zuordnungen der einzelnen Teile der Ethik-Vorlesungen. Wie auch später in der Kirchlichen Dogmatik, aber in modifizierter Weise, versucht Barth, die traditionellen Topoi der theologischen Dogmatik und Ethik an die von ihm gewählte am Wort Gottes bzw. dessen Verkündigung anknüpfende Struktur anzupassen. Überzeugender als in der Kirchlichen Dogmatik erscheint mir insbesondere die unterschwellig sichtbare heilsgeschichtliche Struktur. Die Ethik der Schöpfung und die der Versöhnung werden deutlich durch die Dazwischenkunft der Sünde unterschieden, so dass Barth die traditionelle und ja auch theologisch gut nachvollziehbare Unterscheidung von Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen gut in seinen Entwurf integrieren kann. In der Kirchlichen Dogmatik – das sei hier im Vorgriff gesagt – verschwimmen diese Grenzen in der Ethik, was dort zu gekünstelten Herleitungen führt, indem Barth die eigentlich auch in KD III/4 nach wie vor an anthropologischen Schöpfungsstrukturen orientierte Ethik der Schöpfung mit christologischen Herleitungsversuchen kompromittiert. In den Ethik-Vorlesungen wird demgegenüber klar gesagt, dass das Wort Gottes als Wort des Schöpfers eben »schöpfungsmäßige Bestimmtheit[en]«49 impliziert, ohne dass ein Bezug zu Jesus Christus hergestellt werden muss. Andererseits wird Jesus Christus genau da mobilisiert, wo er trinitätstheologisch in erster Linie hingehört, nämlich in der Ethik der Versöhnung. Barth verbindet diesen christologischen Zug seiner Versöhnungsethik in der Münsteraner Vorlesung mit der Abwehr eines ethischen Idealismus und weist dabei dem Standort des bereits Geschehenseins, den wir aus Barths dialektischer Ethik schon kennen, eine entscheidende argumentative Rolle zu: »Wir haben diesen beiden nur scheinbaren Gesetzen [der Romantik und des Idealismus] gegenüber das wirkliche Gesetz verstanden als das Gesetz Christi, dieses aber als das Gesetz seiner Menschheit, dieses aber als das Gesetz seiner Nachfolge, dieses aber als das Gesetz des Opfers, dieses aber als das Gesetz des Nächsten.«50 Insgesamt lassen sich somit die Ethik-Vorlesungen als Zwischenstation in Barths Entwicklung im Blick auf die Grundlegung von Ethik verstehen: Sie fundieren die Ethik – nun auch positiv – im Wort Gottes, aber sie verstehen dieses noch nicht christozentrisch. Dass ich diese Zwischenstation als den eigentlichen Höhepunkt in Barths ethischer Entwicklung bewerte, dürfte bereits deutlich geworden sein. Ich möchte diese Wertung nun aber auch noch materialisieren, indem ich das fortgesetzte Ringen Barths mit der EthikGrundlegung während der kommenden 30 Jahre seiner akademischen Wirksamkeit beschreibe, die vor allem durch die Kirchliche Dogmatik geprägt sind. Ich werde dabei zeigen, wie Barth sich in dem richtigen, aber im Blick auf die 49 Ebd., 323. 50 Barth, Ethik II, 165.

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Klarheit der Ausführungen in den Ethik-Vorlesungen eigentlich unnötigen Bemühen, sich von einer falsch verstandenen Theorie der Schöpfungsordnungen abzugrenzen, in argumentative Unklarheiten und Denkschwierigkeiten verwickelt. Hinzu kommt, wie bereits angedeutet, eine Form des Systemzwangs durch die Methode der christologischen Konzentration, der sich gerade auf die ethischen Passagen der Kirchlichen Dogmatik negativ auswirkt.51 3.3

Die Kirchliche Dogmatik

Im ersten Band der KD, den Prolegomena, kommt Barth erst gegen Ende auf die Ethik zu sprechen. In KD I/2 wird das »Problem der Ethik«52 zunächst von seiner enzyklopädischen Seite her thematisiert, indem das Verhältnis von Dogmatik und Ethik behandelt wird. Der Titel des entsprechenden Abschnitts – »Dogmatik als Ethik«53 – macht bereits deutlich, dass es Barth hier um die Darstellung der organischen Zusammengehörigkeit beider Disziplinen geht. Dabei geht es gerade auch um die Grundlegung der Ethik. Denn Barth wendet sich, wie schon in den Ethik-Vorlesungen aus Münster und Bonn, gegen eine Verselbstständigung der Ethik von der Dogmatik, die mit der Behauptung eines selbstständigen Gegenstandsbereichs verbunden ist: Wo die Dogmatik das Handeln Gottes beschreibe, gehe es in der Ethik um das Handeln des Menschen. Barth sieht darin eine »fatale Vertauschung der Subjekte, nämlich Gottes und des Menschen«54, und wo diese, wie im Neuprotestantismus, »zum eigentlichen konstituierenden Prinzip der Ethik gemacht« werde, höre die entsprechende Ethik »auf, theologische Ethik zu sein«55. Als theologische Ethik ist die Ethik, so Barth, angewiesen auf die in der Dogmatik zu leistende grundlegende Reflexion des Wortes Gottes als Gegenstand der Theologie. Das Handeln Gottes und nicht das des Menschen ist das für die Grundlegung der Ethik relevante. Nach dieser Abgrenzung wendet sich Barth der positiven Bestimmung der differentia specifica der theologischen Ethik zu und findet diese, wie schon im zweiten Römerbrief, im Bezug der Ethik auf die menschliche Existenz.56 Barths theologische und ontologische Akt-Orientierung ist an dieser Stelle erneut greifbar: »Der Gegenstand des Wortes Gottes aber ist die menschliche Existenz, das menschliche Leben, Wollen, Handeln.«57 Wenn Theologie, wenn 51 Die Tatsache, dass Barth – im Guten wie im Schlechten – ein ungeheuer systematischer Denker war, wird oft übersehen. So auch im 2016 erschienenen Barth Handbuch, dem unter »Profile« auch ein Abschnitt zur »Theologie als systematische Wissenschaft« gut zu Gesicht gestanden hätte (gewürdigt werden lediglich Barths Profilierungen der Theologie als fröhliche, kritische und originelle Wissenschaft). 52 KD I/2, 885. 53 Ebd., 875–890. 54 Ebd., 884. 55 Ebd., 885. 56 Ebd., 886–889. 57 Ebd., 887.

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Dogmatik auch als Ethik betrieben werde und werden müsse, dann wegen des Wirklichkeitsbezugs, der dem Wort Gottes von sich aus innewohnt. »Die Dogmatik kann gar nicht anders: sie muß auch Ethik sein.«58 Denn: »Die Wirklichkeit, die sie etwa als den Menschen nicht angehende, ihn nicht in Anspruch nehmende, ihn nicht zur Verantwortung ziehende, ihn nicht zurecht bringende und insofern: als theoretische Wirklichkeit anschauen und darstellen wollte, würde bei allem möglichen Reichtum ihres Wesens und bei aller möglichen Tiefe ihrer Betrachtung auf keinen Fall die Wirklichkeit des Wortes Gottes sein.«59 Die methodische Konsequenz, die Barth aus dieser wechselseitigen Angewiesenheit von Dogmatik und Ethik zieht, ist bekannt: Die Ethik wird in die Kirchliche Dogmatik eingegliedert; die Kirchliche Dogmatik ist auch eine Ethik. Barth vollzieht diese Eingliederung, indem er jedem der vier geplanten weiteren Teile der Kirchlichen Dogmatik eine spezifische Ethik zuordnet: eine Ethik der Gotteslehre in KD II/2; eine Ethik der Schöpfung in KD III/4; eine unvollendet gebliebene Ethik der Versöhnung in KD IV/4; und eine eschatologisch geprägte Ethik der Erlösung im ungeschriebenen Teil V der KD. Barths weiter andauerndes Ringen um die theologische Grundlegung der Ethik zeigt sich darin, dass jede der drei geschriebenen Teil-Ethiken unterschiedlich grundgelegt ist. Die Ausführungen zur »Ethik als Aufgabe der Gotteslehre« in KD II/260 folgen in der Bestimmung der grundsätzlichen Fragestellung der Ethik dem Duktus dessen, was in diesem Beitrag bisher schon als Kern der Barthschen Ethik herausgearbeitet wurde: (1) Ethik begegnet primär als »Problem«61; (2) sie wird mit der Frage nach der menschlichen Existenz verknüpft;62 (3) die Frage nach der Grundlegung, nach dem »Weg«63 der theologischen Ethik steht ganz im Zentrum; (4) eine selbstständig, nicht im Zusammenhang der Dogmatik grundgelegte theologische Ethik wird abgelehnt. Neu ist allerdings die klare christologische Anbindung der Ethik. Wenn man irgendwo von einer christozentrischen Ethik bei Barth sprechen kann, dann hier: »Wir haben in dem einen Bild Jesu Christi wie das Evangelium, das uns mit Gott versöhnt, uns erleuchtet und tröstet, so auch das im Unterschied zu allen anderen, selbst gefundenen oder selbst erdachten Gesetzen wirklich bindende und verpflichtende Gesetz. An dieses Gesetz hält sich die theologische Ethik. Sie ist Ethik der Gnade oder sie ist nicht theologische Ethik.«64 Barth geht es um »das

58 Ebd., 888. 59 Ebd., 887 f. 60 KD II/2, 564–612. 61 Ebd., 564–603. 62 Vgl. ebd., 572: »Denn der Mensch existiert als Person, indem er handelt.«; ebd., 594: »Als Mensch existieren heißt ja handeln.« 63 Ebd., 603–612. 64 Ebd., 598.

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eigentümlich [!] theologische Fragen und Antworten«,65 weshalb ein Ausgang von einem allgemeinen Begriff von Ethik für ihn ausscheidet. Und zu diesem Besonderen der wahrhaft theologischen Ethik gehört auch, dass sie ihrer Begründung nicht argumentativ nachgeht, sondern sich ihren Grund gesagt sein lässt und ihn bezeugt anstatt ihn apologetisch zu verteidigen.66 Grundgelegt ist die theologische Ethik im Gebieten Gottes, nirgendwo sonst.67 Was sich aus dieser exklusiven Grundlegung an materialer Ethik ergibt, bleibt sehr allgemein. »Man kann es auch so sagen: der Mensch handelt gut, sofern er christlich handelt.«68 Dass dieser Satz in einer christlich-theolo­gischen Ethik mehr bedeutet als eine Tautologie, liegt daran, dass Barth in dieser Passage das Christliche von der Person Jesu herleitet. Hier kommt also die Methode der christologischen Konzentration ins Spiel. Denn Barth versteht in KD II/2 das Gebieten Gottes im Sinne einer Ethik der Nachfolge Jesu: »Es gibt nichts Höheres und Tieferes, was wir in Erfüllung des Willens Gottes tun könnten, als daß wir Jesus lieben und also seine Gebote halten: darum, weil sie die seinen sind, darum, weil wir ihn nicht lieben könnten, ohne seine Gebote zu halten.«69 »Daß die Natur des Gebotes Gottes geistlich ist, bedeutet: es tritt uns nicht als Ideal gegenüber, weder als das Ideal eines Sollens noch als das eines Dürfens noch als das einer Kombination von beiden, sondern als die in der Person Jesu Christi erfüllte Wirklichkeit.«70 Barth wehrt sich in der Folge dagegen, einzelne Gebote, wie sie in der Bibel überliefert sind, für den zentralen Inhalt der theologischen Ethik zu halten. Entscheidend ist für Barth vielmehr die Grundbestimmung, »wie Gott und Mensch, der Mensch und Gott aneinander gebunden sind«.71 Auf beispielsweise die Bergpredigt bezogen heißt das: »Auch die Bergpredigt ist vor allem und entscheidend Anzeige, Proklamation, Beschreibung und Programm. Auch ihre Imperative haben vor allem und entscheidend den Charakter einer Ortsangabe, einer Grundlegung.«72 So allgemein diese Aussagen bleiben, so deutlich machen sie doch, dass hier unter 65 Ebd., 578. Das Anliegen einer selbstständigen Theologie stellt ein Kontinuum über die vielen Jahre von Barths literarischem Schaffen dar. Es war der Grund, warum Wilhelm Herrmann den Studenten Barth anzog, aber auch der Grund für die spätere Distanzierung von Herrmann. Vgl. Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus, 369–375. Sprechend als Vorgriff auf spätere Positionsbestimmungen Barths ist etwa folgende Evaluation Herrmanns aus dem Jahr 1925: »[S]eine Wissenschaft war geradezu konstituiert durch sein Wissen um das, was die Alten die ›Autopistie‹, das In-sich-selbst-Gegründetsein der christlichen Wahrheit nannten. Dieses Wissen ist Rattengift gegen alle geisteswissenschaftlichen Klügeleien in der Theologie« (Barth, Prinzipienlehre, 585). 66 Vgl. KD II/2, 595. 67 Vgl. ebd., 607–609. 68 Ebd., 607. 69 Ebd., 631; vgl. 632: »Der entscheidende neutestamentliche Begriff, der hier eingreift, ist der der Nachfolge.« 70 Ebd., 674. 71 Ebd., 762. 72 Ebd., 768; vgl. 778.

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dem Stichwort der Nachfolge Lehren und Handeln des irdischen Jesus als grundlegend für das Projekt einer christlichen Ethik angesehen werden. Diese »Ortsangabe« ist etwas anderes als der »weltfremde« archimedische Punkt der Auferstehung, an dem Barths dialektische Ethik angesetzt hatte. Die Allgemeinheit der Aussagen von KD II/2 lässt sich damit erklären, dass Barth an dieser Stelle vorlaufend zu den folgenden ethischen Teilen der Kirchlichen Dogmatik nur den Begriff des Gebotes Gottes als der allgemeinen Kategorie der christlichen Ethik erläutern wollte. Erst in KD III/4 (1951), nach tausenden von Seiten, kommt Barth innerhalb der monumentalen Kirchlichen Dogmatik zur, wie er sagt, »speziellen« Ethik. Auch diese wird primär als »Problem« in den Blick genommen.73 Das »ethische Ereignis« für die »spezielle« Ethik soll nun konkretisiert werden: »die Begegnung des konkreten Gottes mit dem konkreten Menschen«.74 In KD III/4, wo die Ethik im Zusammenhang der Schöpfungslehre thematisiert wird, besteht diese Konkretion im Wesen des Menschen als Geschöpf. Wie wird der Mensch als Geschöpf vom Gebot Gottes bestimmt? Bei der Gliederung des Bandes und seiner Abschnitte ist von Nachfolgeethik keine Rede mehr. Vielmehr kommt Barth auf die Anthropologie zurück, die er in KD III/2 entwickelt hat. Als Gottes Geschöpf hat der Mensch eine bestimmte »Struktur«75, die sich in vier »Linien« vollzieht: Verhältnis zu Gott, Verhältnis zum Mitmenschen, Verhältnis zum körperlichen Leben, Verhältnis zur eigenen Begrenztheit. Die Frage, die sich bei der Interpretation dieser Passage – wie auch schon hinsichtlich KD III/2 – stellt, ist die nach der konsequent christologischen Ableitung, die Barth zuvor ja gefordert hatte. Die Antwort, die der kritische Interpret Barths erhält, ist dürftig. So ist bei dem Abschnitt »Mann und Frau« – dem mit Abstand längsten des Bandes – aus naheliegenden Gründen wenig von einer jesuanischen Nachfolgeethik zu finden. Entscheidender biblischer Beleg ist vielmehr Gen  1,27 f Immerhin versucht Barth, über den Begriff der Gottebenbildlichkeit des Menschen diesen Vers mittels der ethischen Kategorie der »Entsprechung« zwischen Gott und Mensch mit seinen fundamentalethischen Überlegungen in Einklang zu bringen: »Unter der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist Gen. 1,27 f dies verstanden: daß Gott sie erschuf ›einen Mann und eine Frau‹, in dieser Beziehung dem entsprechend, daß auch Gott selber in Beziehung, in sich selbst nicht einsam ist.«76 Freilich wirkt auch dieser Versuch gekünstelt, denn abgesehen von der reinen Struktur als Beziehungswesen bestehen doch gewichtige Unterschiede zwischen einer Zweier- und einer Dreierbeziehung; und auch über mögliche hierarchische Verhältnisse lässt sich aus der »Entsprechung« zwischen der Mann-Frau-Beziehung und den innertrinitarischen Beziehungen nur mit viel gutem Willen etwas ethisch Konkretes herleiten. Jedenfalls die Unterordnung der Frau unter den Mann – »Die mündige Frau ist als solche 73 74 75 76

Vgl. KD III/4, § 52.1: »Das Problem der speziellen Ethik«, 1–34. Ebd., 28. Ebd., 47. Ebd., 128.

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die sich bescheidende Frau«77 – setzt, wenn man sie denn trinitarisch ableiten will, eine sehr einseitige Auffassung der trinitarischen Verhältnisse voraus – ganz abgesehen von der Frage, ob die Vater-Sohn-Beziehung in der Trinität eben tatsächlich die geeignete »Entsprechung« für die Mann-Frau-Beziehung zwischen Menschen ist. Es ließen sich andere Beispiele nennen, um zu zeigen, wie Barth in KD III/4 genau das tut, was er eigentlich nicht tun wollte: von einer allgemeinen Anthropologie aus ethisch argumentieren. So inspirierend einzelne seiner Ausführungen zur »speziellen Ethik« der Schöpfung auch sind, so lässt sich doch nicht verhehlen, dass sie zeigen, wie wenig Barths eigentlich intendierte christologische Grundlegung der Ethik hergibt, um konkrete materialethische Bestimmungen überzeugend, schlüssig und plausibel herzuleiten. Inhaltlich argumentiert Barth hier – aus Barthscher Sicht horribile dictu – naturrechtlich. Wieder anders liegen die Dinge in KD IV/4, der »speziellen Ethik« der Versöhnungslehre. Diese Ethik ist Fragment geblieben, doch die große Spannung, in der sie zu den anderen ethischen Teilen der Kirchlichen Dogmatik steht, ist offensichtlich. Eine erste Spannung besteht darin, dass Barth nun eine konkrete Ethik der vita christiana vortragen will. Mit der Anrufung Gottes, dem Eifer um die Ehre Gottes und dem Kampf um menschliche Gerechtigkeit werden in diesem Abschnitt drei thematische Bereiche genannt, die gerade den Christen zur Aufgabe gestellt sind. Doch hätte nicht auch schon die Ethik der Schöpfung in diesem Sinne als vita christiana entfaltet werden müssen, wenn denn auch ihre Grundlage das Versöhnungsgeschehen in Jesus Christus ist? Auf einer solchen Grundlage kann doch auch eine Ethik der Schöpfung immer nur eine Ethik für Christenmenschen sein. Und dennoch hatte Barth dort mit allgemeinen anthropologischen Strukturen argumentiert – eine Argumentation, die in KD IV/4 und im Nachlassband »Das christliche Leben« keinerlei Rolle mehr spielt. Dass es sich in diesen Bänden eher um eine kommunitäre Ethik handelt, wird auch daran deutlich, dass Barth die drei genannten Themen­ bereiche – Anrufung Gottes, Eifer um die Ehre Gottes, Kampf um menschliche Gerechtigkeit – einrahmt durch die beiden kirchlichen Handlungen von Taufe und Abendmahl. Gerade die Tauflehre als Teil der Ethik führt zu einer weiteren von Barth nicht geklärten Frage: Wenn die Taufe im Sinne eines Bekenntnisakts des Menschen als erster Schritt des ethischen Gehorsams zu verstehen sein soll, wie kann sie dann, wie es im Leitsatz von § 75 heißt, die »Begründung« des christlichen Lebens sein? Hatte Barth nicht zuvor immerfort betont, dass unbedingt ein Handeln Gottes und niemals das des Menschen als Begründung der Ethik in Frage käme?78 Nun also gerade die Antwort des 77 Ebd., 200. 78 Der Versuch, diese kritische Anfrage dadurch auszuräumen, dass man auf die Zweigestalt der Taufe in KD IV/4 verweist und den Begründungsaspekt allein der Taufe mit dem Heiligen Geist zuschreibt, die Barth als Handeln Gottes versteht – mit der Wassertaufe als Antwort des Menschen auf dieses zuvorkommende göttliche Handeln –, überzeugt nicht, denn im Leitsatz spricht Barth unter dem Obertitel »Begründung« von beiden Gestalten der Taufe.

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Menschen in der Glaubenstaufe als »Begründung«. Wenig stringent erscheint es auch, dass Barth Inhalt und Disposition der genannten drei Themenbereiche aus dem Herrengebet ableitet. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man die biblizistische Begründung für dieses Vorgehen nicht mitgeht: »Die Disposition, nach der wir unter dieser Voraussetzung vorzugehen haben, legt sich von selbst nahe: Wir werden in unserer Überlegung und Darlegung schlicht dem Gang des Matth. 6,9 ff.; Luk. 11,2 ff. überlieferten Gebetes folgen, das Jesus Christus selbst gebetet, seinen Jüngern vorgebetet und das er sie nachzubeten geheißen hat.«79 Wir erinnern uns: in KD II/2 hatte Barth ein direktes Ableiten ethischer Folgerungen aus einzelnen Weisungen der Bergpredigt noch ausdrücklich abgelehnt. Somit zeigt sich: In KD II/2 (jesuanische Nachfolgeethik); KD III/4 (Naturrechtsethik) und KD IV/4 (biblizistische Ethik-Grundlegung) verwendet Barth jeweils unterschiedliche Formen der Ethik-Grundlegung. 3.4

Christengemeinde und Bürgergemeinde – die Methode der politischen Analogie

Barths Schrift Christengemeinde und Bürgergemeinde erschien erstmals 1946. Sie führt uns also chronologisch hinter die letzten Bände der Kirchlichen Dogmatik zurück. Mitten in der Arbeit an seinem Hauptwerk entwickelt Barth hier eine noch einmal anders gelagerte Grundlegung der Ethik. Er selbst spricht vom Verfahren der Analogie, näherhin, da es um die Ethik des Politischen geht, von der »politische[n] Analogie«80. Basis dieses Vorgehens bildet die These, dass »die Gerechtigkeit des Staates in christlicher Sicht […] seine Existenz als ein Gleichnis, eine Entsprechung, ein Analogon zu dem in der Kirche geglaubten und von der Kirche verkündigten Reich Gottes [ist]«81. In der Folge gibt Barth zwölf »Beispiele«82 für solche Analogien. Die bekannteste und berüchtigtste ist die, wo er daraus, dass Jesus Christus in der Bibel als das Licht der Welt bezeichnet wird, folgert, dass einer staatlichen Geheimpolitik der Abschied zu geben sei.83 Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Barth leitet daraus, dass »die Christengemeinde in ihrem eigenen Raum weiß um die Verschiedenheit der Gaben und Aufträge des einen Heiligen Geistes«, die ethische Forderung der politischen Gewaltenteilung ab.84 Alles das wirkt recht konstruiert. Die Frage, die sich einstellt, lautet, ob Barth nicht zuerst die politisch-ethischen Forderungen unterstützenswert fand

79 Barth, Das christliche Leben, 69. 80 Barth, Christengemeinde, Nr. 26 (wegen der vielen verschiedenen Editionen dieser Schrift wird sie nicht mit der Seitenzahl, sondern unter Angabe der Abschnittsnummer zitiert). 81 Ebd., Nr. 14. 82 Ebd., Nr. 27. 83 Vgl. ebd., Nr. 22. 84 Ebd., Nr. 21.

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und dann nach biblischen »Analogien« gesucht hat, um den Anschein einer biblisch-christlichen Grundlegung zu wahren. Jedenfalls ist dieses Verfahren des direkten Analogieschlusses ein nochmals anders gearteter Anlauf Barths, um auf theologischer Grundlage zu ethisch belangvollen Normen zu kommen. 4. Fazit Barth ist über die mehr als 50 Jahre seiner theologischen Wirksamkeit einen weiten Weg gegangen. Das gilt auch für die Ethik. Zumindest seit seiner dialektischen Wendung in den Jahren des Ersten Weltkriegs gibt es zwar durchaus Gemeinsamkeiten, die über die Jahre Kontinuität herstellen. Dazu gehört das konsequente Betreiben der Theologie und damit auch der theologischen Ethik »von Gott aus«, dazu gehört die These von der organischen Zusammengehörigkeit von Dogmatik und Ethik, dazu gehört der existenziell-wirklichkeitsbezogene Charakter der Ethik und dazu gehört die großenteils anhaltende Verweigerung, jenseits der Grundlegungsfrage in den Bereich des ethisch konkreten Konsils einzutreten. Änderungen in seinem ethischen Konzept ergaben sich vor allem hinsichtlich der Frage, wie das Wort Gottes die Ethik grundlegen sollte. Hier sind sehr verschiedene Anläufe bei Barth erkennbar: Faktische Verweigerung jeder Konkretion in der dialektischen Phase, auch naturrechtliche Argumentation in den Ethik-Vorlesungen, jesuanische Nachfolgeethik, christologisch-anthropologische Überlegungen, verkappter Biblizismus, Analogiedenken. Aus meiner Sicht wirkt sich hinsichtlich einer kohärenten und kontinuierlichen Ethik-Grundlegung über die Jahre gerade Barths Bemühen um eine christo­ zentrische Vorgehensweise fatal aus, denn der Versuch, diese Christozentrik stärker in die Ethik einzubringen, führt dazu, dass das eigentlich schlüssige Konzept der Ethik-Vorlesungen aufgegeben wird – in seinem auf die Kirchliche Dogmatik eigentlich vorausweisenden Verständnis des Wortes Gottes als Wort des Schöpfers, Versöhners und Erlösers und in dem damit gegebenen begrenzten Recht auch naturrechtlicher Argumentation in der Ethik. Gerade wer mit Barth den Wirklichkeitsbezug von Theologie und Ethik hervorheben will, wird um eine Einbeziehung der Schöpfungswirklichkeit des Menschen nicht herumkommen. Einbeziehung der Schöpfungswirklichkeit und naturrechtliche Argumentation muss ja nicht per se unangemessene Verselbstständigung des Menschen, Hybris oder gar völkische Prägung der Theologie implizieren. Barth hat dies selbst in einem interessanten Votum aus dem Jahr 1930 so formuliert: »Es geht jedenfalls nicht an, Offenbarung und Naturrecht einander gegenüberzustellen. Wenn das Problem des Naturrechts aufgegriffen wird, dann darf nicht von der Abstraktion, dass eine Offenbarung neben einer anderen Offenbarung vorliege, ausgegangen werden. Vielmehr kommt alles an auf die Einheit der Offenbarung. Es lässt sich nicht teilen zwischen Gnade und etwas anderem. Man weiß alles nur aus Gnade. […] Die Schöpfungsordnung muss in die eine Offenbarung mit hineingenommen werden. In der Ethik ha© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

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ben wir die Offenbarung als Gebot zu verstehen. Es handelt sich dabei immer um das eine Gebot, eben das Gebot des Schöpfers.«85 1930 ist Barth offenbar noch davon ausgegangen, das Naturrecht als christliches Naturrecht in die eine Offenbarung hineinnehmen zu können. Indem er dies in den Folgejahren weitgehend verneinte,86 hat er letztlich seinen Gegnern Recht gegeben, die eine von Christus unabhängige Struktur der Wirklichkeit im Blick auf die natürlichen Ordnungen postuliert haben. Zugleich hat er seine Ethik mit offenbar kaum zu bewältigenden Grundlegungsproblemen belastet, indem nun – »friß, Vogel, oder stirb«87 – alles über den christozentrischen Leisten geschlagen werden musste. Barth ist hier über das selbst gesetzte Ziel hinausgeschossen. So gesehen, war Barths lebenslanges Ringen um die theologische Grundlegung der Ethik nicht von Erfolg gekrönt.

85 Barth, Votum, 47 f. 86 Marco Hofheinz hat in seiner Habilitationsschrift die These vertreten, es gebe bei Barth in allen Schaffensphasen – also auch im späteren Werk – einen nicht nur negativen, sondern auch positiven Hinweis auf das Naturrecht (vgl. Hofheinz, Friede, 484). Das scheint mir jedoch eine zu freundliche Deutung der entsprechenden Aussagen aus der späteren Periode Barths zu sein. In Christengemeinde und Bürgergemeinde wird das Naturrecht zwar als relativ beste Variante bezeichnet, mit der die Bürgergemeinde remoto Christo Recht setzen kann, aber wenn sich hier tatsächlich inhaltliche Übereinstimmungen mit dem aus der Christus­ offenbarung begründeten Recht ergeben, dann liegt das laut Barth allein »an der Macht Gottes, aus Bösem Gutes werden zu lassen« (Barth, Christengemeinde, Nr. 11). Und auch im späteren Gespräch mit der Kirchlichen Bruderschaft in Württemberg konzediert Barth lediglich hier und da aufscheinende »Spuren« (Barth, Gespräch, 106) von Wahrheit im Naturrecht und lässt die Abgrenzung der offenbarungsgeleiteten Rechtskonzeption vom »sogenannten« Naturrecht dominieren: »Und darum ist dann der Christ auch zum Zeugen für ein Recht berufen, welches mehr ist als nur sogenanntes Naturrecht« (ebd., 107). Während Hofheinz diese beiden Passagen aus meiner Sicht zu naturrechtsfreundlich interpretiert, ist er im Blick auf Aussagen Barths aus früheren Perioden seines Schaffens zu scharf: »Eine naturrechtliche Grundlegung der Ethik schließt Barth allerdings strictissime aus« (Hofheinz, Friede, 489). Das scheint mir die Strukturanalogien zwischen einem christlichen Naturrecht im Sinne Emil Brunners und den Barthschen Ethik-Grundlegungen in den Schöpfungsordnungen (Münsteraner Ethik) und den anthropologischen Strukturen der Schöpfung (KD III/4) zu stark herunterzuspielen. Es hatte ja einen guten Grund, dass Brunner so überrascht war, als Barth ihm 1934 sein kategorisches »Nein!« entgegenschleuderte. Die Differenz zwischen diesem Typ Naturrecht und dem thomanischen ist immer noch beträchtlich: Brunner und der Barth von 1930 – s. o. im Text – betonen die einheitliche Offenbarungsquelle, aus der Christus- und Naturrecht entspringen, während das thomanische Denken zwischen Natur und Gnade unterscheidet. Die katholisierenden Deutungen der Ethik Barths, wie sie Nigel Biggar (Biggar, Hastening) und Matthew Rose (Rose, Ethics with Barth) vorgelegt haben, sind daher mit Vorsicht zu genießen. 87 Dietrich Bonhoeffer verwendet diese Redewendung, wenn er die »positivistische Offenbarungslehre« Barths kritisiert (Bonhoeffer, Widerstand, 415). Er hat die argumentativen Einseitigkeiten Barths früh durchschaut, kann sich in seinen Ethik-Fragmenten aber auch nicht vom Faszinosum einer die gesamte Rede von Wirklichkeit usurpierenden christozentrischen Ethik-Grundlegung trennen.

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Barth, Karl  – Thurneysen, Eberhard, Briefwechsel, Bd. 1: 1913–1921, GA V/3, hg. v. E. Thurneysen, Zürich 1973. –, Briefwechsel, Bd. 2: 1921–1930, GA V/4, hg. v. E. Thurneysen, Zürich 21987. Biggar, Nigel, The Hastening that Waits. Karl Barth’s Ethics. With A New Conclusion, Oxford UK 1995. Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, hg. v. Ch. Gremmels / E. Bethge (†)/R. Bethge in Zusammenarbeit mit I. Tödt, Gütersloh 1998. Hofheinz, Marco, »Er ist unser Friede«. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder (FSÖTh 144), Göttingen 2014. Kleinschwärzer-Meister, Birgitta, Intellektuelle Werkgerechtigkeit? Zum »Ort« der natürlichen Gotteserkenntnis gemäß dem I. und II. Vatikanischen Konzil, MThZ 58 (2007), 212–226. Lohmann, Friedrich, Die Ethik des Politischen bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth. Ein Vergleich, in: M.  Gockel / M.  Leiner (Hg.), Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses, Göttingen 2015, 229–275. –, Gewissheit der Erkenntnis. Karl Barths Auslegung der reformierten Lehre im Kontext seines theologischen Programms, ThZ 63 (2007), 148–170. –, Kant, Kierkegaard und der Neukantianismus, in: M. Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016, 42–48. –, Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im »Römer­ brief« und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths (TBT  72), Berlin / New York 1995. McCormack, Bruce, Grace and Being. The Role of God’s Gracious Election in Karl Barth’s Theological Ontology, in: J. Webster (ed.), The Cambridge Companion to Karl Barth, Cambridge, UK 2000, 92–110. Nimmo, Paul T., Being in Action. The Theological Shape of Barth’s Ethical Vision, London / New York 2007. Rose, Matthew, Ethics with Barth. God, Metaphysics and Morals, Farnham, UK / Burlington, VT 2010. Wittekind, Folkart, Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei ­Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909–1916) (BHTh 113), Tübingen 2000.

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Rebekka A. Klein

Theo-Politik Barths Ideologiekritik und die Krise(n) der Demokratie in der Gegenwart

1. Theologie nach Karl Barth Im vorliegenden Artikel wird die Frage aufgeworfen, inwiefern Karl Barths Dogmatik mit ihrer christozentrischen Offenbarungslehre einen genuin theologischen Ansatz bietet, der für zeitgenössische Fragen einer politischen Ethik konstruktive Anknüpfungspunkte, kritische Rückfragen und aktualisierbare Einsichten bereithält. Als zentrales Thema der politischen Ethik der Gegenwart wird dabei die Frage unterstellt, wie sich Theologie (und Kirche) zu den offensichtlichen Krisenphänomenen der Demokratie am Beginn des 21. Jh. verhalten sollten. Für manche Theologen und Kirchenführer scheint diese Frage zwar gleichsam ›immer schon‹ auf die richtige Weise beantwortet zu sein, indem sie in den Modus einer beharrlichen Verteidigung der Demokratie gegen ihre Verächter wechseln1 – so etwa mit der Intention, nach Verfehlungen im 20. Jh. »zum ersten Mal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, oder genauer: zu kämpfen«.2 Dabei bleibt jedoch zumeist die vorher zu behandelnde Frage offen, welches Verständnis der Demokratie oder vielleicht besser: eines demokratischen Horizontes3 von Politik in solchen Krisen- und Kampfesdiagnosen eigentlich vorausgesetzt und in Anschlag gebracht werden kann. Um ein solches überhaupt sinnvoll klären oder entwickeln zu können, benötigt die Theologie bzw. die theologische Ethik aber vor allem eines: eine produktive Distanz zu Politik und Kultur der Gegenwart (welche freilich nicht in eine sich selbst abschließende Hermetik oder Beziehungslosigkeit abgleiten oder als Argument für ein Desinteresse an ihrer Gegenwart missbraucht werden darf ). Im Folgenden soll im Sinne der Aufgabenstellung dieses Bandes eine Konturierung der produktiven Eigenständigkeit von Karl Barths Theologie und ihrer Relevanz für die gegenwärtige politische Ethik geleistet werden. Dabei wird die These vertreten werden, dass die Bedeutsamkeit der Theologie Barths für aktuelle Debatten der politischen Ethik nur dann sachgerecht erfasst werden kann, wenn man sie ›genau nicht‹ als eine Form politischer Theologie 1 Ich verweise dazu exemplarisch auf: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz / Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Vertrauen in die Demokratie stärken. Zur Kritik dieser Herangehensweise: siehe weiter unten in Abschnitt eins. 2 Henze, Kann Kirche Demokratie, 12. 3 Vgl. Marchart, Der demokratische Horizont.

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begreift und abhandelt.4 Die Tauglichkeit der Theologie Barths als politische oder sogar als öffentliche Theologie hat gleichwohl in der internationalen Barthforschung gerade in jüngerer Zeit wieder verstärkt Aufmerksamkeit erfahren.5 Dennoch – und dies ist eine der Grundthesen der folgenden Ausführungen – ist es gerade die Zuordnung von Barths Theologie zu diesem theologischen Diskursformat, welche die angemessene Interpretation seiner Thesen für die Gegenwart verhindert, anstatt sie zu befördern. Denn im Geiste der Theologie Barths und seines Beharrens auf einer Auseinandersetzung mit dem stets aufs Neue befremdenden Zeugnis von Gottes lebendiger Gegenwart6 in Jesus Christus kann und darf die Frage nach dem Verhältnis zur Demokratie zu jeder Zeit noch einmal ganz neu aufgeworfen und beantwortet werden.7 Sie ist somit gerade nicht durch ein politisch-theologisches Denkschema Barths (etwa Pro oder Contra die Demokratie bzw. ein bestimmtes Verständnis der Demokratie) ein für alle Mal festgelegt. Eine klare und feststehende Zuordnung im Verhältnis von Politik und Theologie, sei es z. B. in Gestalt einer ethischen Handlungsempfehlung, die Demokratie so oder so auszugestalten, wird von Barth mit guten Gründen nicht gegeben. Denn genau eine solche eindeutige Zuordnung vorzunehmen, ist nicht das virulente Zentrum und die 4 Insofern grenzt sich das hier dargestellte Vorgehen und Argument bspw. von dem folgenden Versuch einer Einordnung Barths in dieses Paradigma ab: Park, Politische Theologie bei Karl Barth, Helmut Gollwitzer und Jürgen Moltmann. Vgl. dagegen anders dargestellt bereits in: Haddorff, Barth and Democracy; sowie in dessen grundlegenden Studien zum Standpunkt der Ethik Barths: Ders., Christian Ethics as Witness; ders., The Postmodern Realism of Barth’s Ethics. 5 So weist der von Benjamin Dahlke erstellte Forschungsüberblick aus dem Jahr 2018 neben der Deutung Barths als biblischen, modernen und reformierten Theologen einen eigenen Abschnitt zu Barth als politischem Theologen als vierter neuerer Forschungstrend auf (vgl. Dahlke, Karl Barth 1886–1968). Das von Michael Beintker 2016 herausgegebene Barth Handbuch enthält sogar drei Abschnitte zu Barths politischem Denken und seiner politischen Ethik (vgl. Beintker, Barth Handbuch, 153–157.177–182.397–403). Auch in neueren Qualifikationsarbeiten steht Barths politische Theologie im Fokus: Park, Politische Theologie bei Karl Barth, Helmut Gollwitzer und Jürgen Moltmann; Klein, Depotenzierung der Souveränität. Schließlich erweist sich auch in internationalen Kontexttheologien die Frage nach der von Barths Theologie ausgehenden politisch-theologischen Orientierung als ausgesprochen virulent (vgl. exemplarisch Spencer, Karl Barth’s Political Theology; Moe, Reading Karl Barth in Myanmar; Stanley, The Pragmatist Question of Sovereignty; ders., Is Karl Barth A Liberation Theologian; Li, Karl Barth in Beijing). 6 Vgl. zur Weiterführung von Barths Grundgedanken der Lebendigkeit Gottes: Thomas, Gottes Lebendigkeit. 7 Vgl. zur fundamentalhermeneutischen Einordnung des Themas von Gottes Gegenwart in ihrer schöpferischen Singularität: Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 532–548, bes. 547: »Will man Singuläres zur Sprache bringen, sagt man nicht nur einen Satz, sondern fügt sofort einen weiteren hinzu. […] Und das setzt sich fort, da mit keinem Satz und keiner Menge von Sätzen das Singuläre abschließend ausgesagt ist. […] Das Einzigartige lässt sich nur zur Sprache bringen, indem man immer weiter von ihm spricht.« (Hervorhebung im ­Original.)

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Theo-Politik

organisierende Denkform von Barths Theologie. Dies gilt es festzuhalten und klarzustellen, um kontextuelle und zeitgeistkonforme ›Anwendungsformen‹ von Barths Theologie, wie sie derzeit fast inflationär gepflegt werden, in ihrer Kurzschlüssigkeit zurückweisen zu können. Geht Barth doch davon aus, dass die menschliche Berufung auf Gott nur von der unverfügbaren Einzigartigkeit und Andersheit seiner Wirklichkeit und nicht von vorgefassten weltanschaulichen Koalitionen mit dem Zeitgeist oder von den Möglichkeiten und Spielräumen menschlichen Handelns allein begründet werden darf.8 Dies ermöglicht und erfordert es, das Verhältnis der Theologie und ihren Bezug auf Wirkliches stets als dynamisch, konkret und nicht durch ihren Kontext vorgegeben aufzufassen.9 Entsprechend hat Barth mit seiner Theologie einen Weg gewiesen, eine positive und konstruktive Neuordnung von Politik ebenso wie eine radikale Kritik der bestehenden politischen Verhältnisse je nach Positionierung seiner Theologie in der aktuellen Situation ins Auge fassen zu können:10 »Die Offenheit seines Ansatzes beruht darauf, dass die Theologie […] inmitten der politischen Antagonismen ihrer Zeit stets ihren eigenen Standpunkt und ihre eigene Position vertreten kann.«11 Die von Barth derart gewahrte Eigenständigkeit der Theologie zu verkennen, würde bedeuten, seine Theologie nicht mehr zu interpretieren, sondern zeitgeistbedingte Anliegen in seine theologischen Schriften hineinzuprojizieren. Einen Versuch, der genuinen Argumentationslinie Barths in den aktuellen Entwicklungen zu folgen und sie dennoch weiter auszuziehen, als Barth dies selbst getan hat, unternehmen daher die folgenden Ausführungen. Sie gehen von der Intuition aus, dass Theologie nach Barth – in nicht-identischer Wiederholung und Fortschreibung seines Ansatzes – zunächst weder die Demokratisierung noch die Entdemokratisierung von Demokratie betreiben muss und auch nicht ein für alle Mal auf ein spezifisches Verständnis von Demokratie – sei es liberal, postliberal, sozialistisch, etc. – festgelegt ist. Vielmehr darf eine Theologie nach Barth die Sachfragen von ihrem virulenten Zentrum, dem Zeugnis des lebendigen Gottes, stets neu adressieren und beantworten. Dieser Freiheitsspielraum, dass Theologie in sich selbst kein politisches Projekt ist oder ein solches (in-)direkt zu stützen verpflichtet werden kann, dass sie also keine politische Theologie im engeren Sinne betreiben oder entwickeln muss, ist eine der wesentlichen Errungenschaften von Barths christozentrischem Ansatz. Dieser kann in diesem Sinne als eine fundamentalhermeneutische Ein-

8 Vgl. Weinrich, Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths, 176; Frey, Die Theologie Karl Barths, 76–82.104. 9 Vgl. Dalferth, Kontextuelle Theologie in einer globalen Welt. 10 Vgl. dazu insbesondere Barth, Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen, 44: »Sie [die christliche Politik; R. K.] darf darum kein Programm haben, weil sie einen lebendigen Herrn hat, dem sie in den verschiedensten Umständen und Situationen immer neu zu dienen hat.« 11 Klein, Depotenzierung der Souveränität, 189.

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weisung in das Distanzverhältnis12 der Theologie zu den politischen Regimen ihrer Zeit verstanden werden.13 Er repräsentiert damit – so soll in diesem Aufsatz gezeigt werden – keinen Ansatz zu einer politischen Theologie.14 Dennoch ist er ein theologischer Ansatz zum Verständnis von Politik: »Barth did not leave us a comprehensive theology of democracy but he did leave a comprehensive theology from which to reflect about theological politics.«15 Barths christozentrischer Ansatz kann demnach nicht dazu missbraucht werden, sich neutral oder unbeteiligt gegenüber der politischen Form einer gemeinsamen Existenz zu verhalten. Vielmehr hält er in sich die Anleitung zu einer metapolitischen Praxis bereit, die Impulse gibt, Politik – durchaus im Sinne ihrer Demokratisierung – als ein sich selbst überholendes Projekt zu begreifen. Die folgenden Überlegungen gehen so vor, dass zunächst im Hinblick auf die gegenwärtigen Krisenphänomene eine (neue)  Nähe der Demokratie zu autoritären Politikformaten beobachtet, analysiert und demokratietheoretisch eingeordnet wird (2). Sodann wird gefragt, inwiefern in Barths Theologie ein Zusammenspiel von freiheitlichen und autoritativen Momenten angelegt ist, wie es auch für die Konstellation von Demokratie und Autoritarismus in der Gegenwart kennzeichnend ist (3). Abschließend wird ein Resümee von Barths Ansatz bei einer Theo-Politik und ihrer Singularisierung und Subjektivierung von Autorität in der Person Jesus Christus gegeben (4). 2.

Die Demokratie und ihr neuer Autoritarismus

»Die Art und Weise, wie Politik gemacht und über Politik geredet wird, scheint gegenwärtig im Umbruch.«16 Das demokratische Projekt der Moderne ist offener, durchlässiger und – wie manche sagen mögen – ›anfälliger‹ geworden für autoritäre Politikformate, welche die politische Orientierung an den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit des politischen Subjekts zu unterlaufen suchen.17

12 Von Distanz soll hier und im Folgenden im Sinne des Vollzugsverhältnisses die Rede sein, welches verschiedene Schattierungen und Graduierungen von Nähe und Ferne kennt, jedoch von Formen der dualisierenden Trennung und Abstraktion, welche die eigene Involviertheit und Bezogenheit aufgibt, strikt zu unterscheiden ist. Im Sinne Hans Blumenbergs warnt die Rede von der Distanz auch vor der stets als (Selbst-)Illusion sich erweisenden Unmittelbarkeit. Der Vollzugsmodus der Distanz impliziert daher auch immer Selbstdistanz (der Theologie). Vgl. dazu auch von der Verf.in: Klein, Einleitung. 13 Vgl. Klein, Depotenzierung der Souveränität, 229–246. 14 Vgl. bereits Haddorff, Barth and Democracy. 15 Ebd., 119. 16 Lotter, Editorial. 17 Das Wort ›autoritär‹ wird hier unspezifisch und zusammenfassend für alle Formen einer politischen Vernunft verwendet, welche im Sinne Ralf Dahrendorfs keine Diktatur sind, sondern vielmehr eine sich parasitär zum Demokratischen verhaltende autoritäre Verfassung der Gesellschaft etablieren wollen (vgl. Dahrendorf, Anmerkungen zur Globalisierung). Es

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Sie treten auf in Gestalt eines digitalen Überwachungskapitalismus,18 einer neoliberalen Rationalität mit normativer Ökonomisierung19 des politischen Lebens oder in Gestalt eines populistisch ausagierten Autoritarismus20 der Neuen Rechten. Jüngst hinzugekommen ist auch eine neue Ideologie des Hygienismus,21 die jedes menschliche Bedürfnis und Interesse dem ›virologischen Imperativ‹ der Rettung von Menschenleben um beinahe jeden Preis unterwirft und auf diese Weise den demokratischen Streit um die zunächst offen zu behandelnde Frage, welches Leben wir gemeinsam leben wollen, zumindest zeitweise auszusetzen vermag. Der aktuellen Entwicklungen gibt es viele, die Bewegung und Unruhe in unser Nachdenken über die Demokratie, über ihren Sinn und ihren rechten Vollzugsmodus bringen. Alle diese Entwicklungen und Phänomene sind, wie bereits angedeutet, dazu geeignet, die sogenannten ›Verteidiger‹ der liberalen Demokratie,22 aber auch die Verfechter eines auf die Haltung post-nationaler Solidarität setzenden Verfassungspatriotismus auf den Plan zu rufen.23 Zugleich steht der Verdacht im Raum, dass die sogenannten ›autoritären Gefährdungen‹ des demokratischen status quo – zuweilen sogar in einer religionsaffinen Sprache als ›Versuchungen‹ der Demokratie deklariert24 – nicht von ungefähr kommen: Autoritäre Politikformate sind, anders als totalitäre Herrschaftsformen wie die Diktatur, offensichtlich weniger klar abgrenzbar von demokratischen Formen der Selbstorganisation der Gesellschaft.25 Sie setzen auf ordnungspolitische Leistungen, die von demokratischen Grundordnungen zwar nicht komplett negiert werden (können), aber doch in einer vitalen Spannung zu ihr stehen, da sie Reziprozität, die Symmetrie der Verhältnisse und das Prinzip der Kritik nicht durchgehend anerkennen.26 Sie beunruhigen demokratische Gesellschaften somit nicht von außen – aus sicherer, weil auf Exkludierbarkeit des Anderen beruhender Distanz –, sondern vielmehr von innen heraus und damit unausweichlich und in gewisser Weise folgerichtig. wird hingegen nicht der These von Rancière u. a. Vertretern einer poststrukturalistischen politischen Philosophie gefolgt, die den Begriff des Politischen oder der Politik normativ nur für demokratische Projekte reserviert sehen wollen. 18 Vgl. Staab, Digitaler Kapitalismus; Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus; Han, Kapitalismus und Todestrieb; ders., Transparenzgesellschaft; ders., Psychopolitik; ders., Im Schwarm. 19 Vgl. Brown, Die schleichende Revolution; Chamayou, Die unregierbare Gesellschaft. 20 Vgl. Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen. 21 Vgl. Gabriel, Der Hygienismus kann in eine Gesundheitsdiktatur umschlagen. Vgl. dazu auch die von Gabriel implizit mit aufgenommene These in: Agamben, Nach Corona. 22 Als solcher sieht sich mit seiner Diagnose einer Opposition von ›libertär vs. autoritär‹ als politischer Grundsignatur der Gegenwart wohl zum Beispiel: Leggewie, Jetzt! Opposition, Protest, Widerstand. 23 Vgl. dazu die ideengeschichtliche Studie: Müller, Verfassungspatriotismus. 24 Vgl. Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen. 25 Vgl. Dahrendorf, Anmerkungen zur Globalisierung. 26 Vgl. mit Bezug auf Hannah Arendt genauer: Straßenberger, Autorität in der Demokratie.

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Interpretiert man auf dieser Linie, so ist dann auch einzugestehen, dass autoritäre Gefährdungen der Demokratie nur selbstkritisch analysiert und geklärt werden können,27 da ihre Externalisierung nur um den Preis einer gesellschaftlichen (Selbst-)Spaltung möglich ist.28 Im Kontext der aktuellen Entwicklungen ist es somit erstmals nach der weltpolitischen Wende von 1989 wieder legitim geworden, in selbstkritischer Form nicht nur nach Stärken, sondern auch nach Schwächen und Dysfunktionalitäten der demokratischen Grundordnung und ihrer prozeduralen Verfahrensweisen der Repräsentation von Macht zu fragen.29 Es stellen sich u. a. Fragen folgender Art: Wie kann in demokratischen Gesellschaften angemessen mit einer zunehmend öffentlich gemachten Frustration und Emotionalisierungskultur umgegangen werden?30 Wie ist auf die Kritik einzugehen, die langwierige und oft ergebnisoffen geführte Debattenkultur demokratischer Politik lasse keine radikalen Veränderungen oder Anpassungen, ja nicht einmal ein Durchgreifen in der Krise und akuten Bedrohung zu?31 Wie ist angesichts drängender ökologischer und sozialer Probleme die Einsicht in die Notwendigkeit einer demokratischen Vorgehensweise, die auf vernünftige Deliberation, die Anwendung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze und komplexe Meinungsbildungsprozesse setzt, weiter aufrechtzuerhalten?32 Kurz gesagt: Wie lässt sich die freiheitliche Demokratie in den Herausforderungen und Umbrüchen einer globalisierten Kultur mit ihren gewandelten Lebensformen der Digitalität neu behaupten?33 Der gegenwärtige Umbruch inmitten demokratischer Gesellschaften – so hat sich inzwischen gezeigt – lässt sich dabei keineswegs durch die im ersten Zugriff angedachten Schlagworte vom Populismus (und seiner mangelnden politischen Rationalität) oder von postfaktischen Politikstilen (und einer Dominanz der Lüge im Gegensatz zur Wahrheit) angemessen charakteri27 Vgl. Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen; Brown, Die schleichende Revolution. Die These, dass die autoritären Politikformen dem demokratischen Projekt der Moderne selbst eingeschrieben sind, ist allerdings nicht neu. Sie kann in Bezug auf das Verhältnis von Demokratie und Totalitarismus als bereits ausgearbeitet durch Claude Lefort und – ihm folgend – durch die Vertreter der radikalen Demokratietheorie angesehen werden. Nach Lefort ist Demokratie »nicht das gänzlich andere als Totalitarismus, sondern enthält Totalitarismus immer schon als Tendenz« (Marchart, Die politische Theorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus, 171). Siehe zu diesem Punkt weiter unten in Abschnitt zwei. 28 Gegen diese Selbstspaltung der Gesellschaft in Demokraten und Antidemokraten, politische Korrekte und Inkorrekte wendet sich bspw. Joachim Gauck mit seinem Konzept einer ›kämpferischen Toleranz‹ in: Gauck, Toleranz. 29 Vgl. dazu bspw. die Beiträge in: Bundeszentrale für Politische Bildung, Wandel des Politischen. 30 Vgl. Manemann, Demokratie und Emotion. 31 Vgl. Finkelde, Donald Trump steht jenseits des Arguments. 32 Vgl. Nida-Rümelin, Die gefährdete Rationalität der Demokratie. 33 Vgl. Stalder, Kultur der Digitalität; Han, Duft der Zeit; Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten.

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sieren.34 So vermerken immer mehr Autorinnen und Kommentatoren des Krisenmodus westlicher demokratischer Gesellschaften, dass die Umformung des Politischen, die sich in den Krisen der Demokratie in der Gegenwart ankündigt, nicht lediglich als ›reaktionäre Umkehrung‹ der Verhältnisse gefasst werden kann.35 Es greift somit zu kurz, Zweifel und Kritik an der historisch gewachsenen Form der modernen Demokratie und ihrer Verbindung von Liberalismus und Rechtsstaat lediglich als Verfallsphänomen zu diagnostizieren. Die Kritik und Skepsis gegenüber der Demokratie ist demnach nicht als Regressionsbewegung anzusehen, durch die der »Sieg der Demokratie als Praxis des Politischen«36 gleichsam ›am Ende der Geschichte‹ auf naive Weise wieder negiert wird. Wie Jacques Rancière bereits 1995 diagnostiziert hat, kündigt sich vielmehr in Phänomenen der Krise der Demokratie, die mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit für ihre inneren Paradoxien und Widersprüche einhergehen, die Wiederkehr eines ungelösten Problems der politischen Moderne an: In den Dynamiken der modernen Zeit war die Demokratie keineswegs unumstritten, sondern vielmehr höchst umstritten. Sie ist erst in dem Moment unumschränkt erfolgreich gewesen, als sie nach dem »Bankrott des totalitären Systems«37 am Ende des 20. Jh. endlich über jeden Verdacht erhaben war. Erst durch diesen ›Sieg der Geschichte‹ konnten jene Kräfte stillgestellt werden, die Rancière als ihre inneren metapolitischen Verwerfungen, als ihr permanentes Umstrittensein beschreibt: »Die Demokratie hat nicht aufgehört, von den Demokraten selbst verdächtigt zu werden. Diejenigen, die sich mit dem größten Nachdruck für die demokratischen Rechte schlugen, waren oft die Ersten, die diese Rechte verdächtigten, nur formell, erst der Schatten der wahrhaften Demokratie zu sein.«38 Zum ›Ende der Illusionen‹ an der Schwelle zu einem neuen politischen Zeitalter zählt somit auch die Einsicht, dass die komplexen Dynamiken und widersprüchlichen Strukturen der Gegenwartsgesellschaft nicht einlinig durch den Kampfschauplatz der ›aufgeklärten Demokraten vs. rückständigen Popu34 Dass das Auftreten des Populismus als Symptom und nicht als Ursache einer tieferen ökonomischen, aber auch demokratischen Krise gedeutet werden muss, hat auf der Basis gründlicher Analysen insbesondere Philip Manow wiederholt vertreten: Manow, Politische Ökonomie des Populismus; ders., (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. 35 Vgl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten; ders., Das Ende der Illusionen; Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen; Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Vgl. dazu auch die Versuche einer politisch-theologischen Deutung des neuen Autoritarismus in: Finkelde / Klein, In Need of a Master. 36 Rancière, Das Unvernehmen, 105. 37 Ebd. 38 Ebd. Auf der Linie dieser inneren Distanz, die an der Demokratie festhält, ohne sie unkritisch zu affirmieren, kann Rancière auch formulieren: »Die Demokratie ist nicht die parlamentarische Herrschaftsform oder der Rechtsstaat. […] Sie ist der Name dessen, was das gute Funktionieren dieser Ordnung durch ein singuläres Dispositiv der Subjektivierung unterbricht.« (Ebd., 108–109).

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listen‹ abgebildet werden können.39 Denn dies würde die innere, die selbstkritische Haltung des demokratischen Prinzips der Kritik unterschlagen. Überdies verträgt sich ein vom Triumphalismus40 des Demokratischen geprägter Blick auf die aktuell sich vollziehenden Umbrüche nur schlecht mit der ambivalenten und vielschichtigen Historie41 dieser politischen Denkform und mit ihrer im politischen Diskurs »offenen und umstrittenen Bedeutung«.42 Bereits Hans Kelsen vermerkte in diesem Sinne, dass die Demokratie ein modernes Modeschlagwort sei, welches durch seinen inflationären Gebrauch zum wohl »[missbrauchtesten] aller politischen Begriffe«43 der Moderne geworden sei. Als Fetisch der Allmacht des Menschen und einer Welt des Fortschritts in der Immanenz ist sie von Jean-Luc Nancy bezeichnet worden.44 Gerade die Zweifel und die Kritik gehören demnach zu einem nicht bloß affirmativen Demokratieverständnis genuin hinzu. »Ein bestimmtes Maß an Unzufriedenheit mit der Demokratie gehört zu ihr«,45 konstatiert auch Christoph Möllers angesichts der sich zum Beginn des 21. Jh. einstellenden Demokratiemüdigkeit. Doch wenn die innere, die selbstkritische Distanz ein Grundmoment und geradezu Auszeichnung einer demokratischen Haltung zur Demokratie ist, was zeichnet dann den gegenwärtigen Krisenmodus der Demokratie konkret aus? Es erscheint sinnvoll, diesen Krisenmodus als eine sich (neu) vollziehende Klärung des Verhältnisses der Demokratie zu sich selbst im Modus einer Auseinandersetzung mit ihrem Anderen zu deuten, als welches hier der sogenannte Autoritarismus fungiert. In autoritären Politikformaten vollziehen sich verschiedene Formen der Aussetzung oder Unterbrechung des öffentlichen Diskurses, welche den offenen und toleranten Austausch unter Gleichen, der im formalen Prozedere der Mehrheitsfindung integriert und rechtsstaatlich durch eine Bindung an die Freiheitsrechte des Individuums begrenzt wird, unterlaufen oder überflüssig zu machen suchen. Damit wird von autoritären Politikformaten aber auch der von Rancière als Kernmoment demokratischer Politik benannte Streit um die Gleichheit, um die Verteilung der Anteile stillgestellt.46 Nach Rancière ist dieser Streit darüber, wessen Stimme bei der 39 Vgl. Reckwitz, Das Ende der Illusionen, bes. 7–27. 40 Von einem solchen einfachen Triumphalismus der Demokraten gegen die Antidemokraten leben freilich noch diverse Diskurse, darunter: Hagedorn u. a., Wenn Demokratien demokratisch untergehen; Müller, Was ist Populismus; ders., Verfassungspatriotismus; Strenger, Zivilisierte Verachtung. Auch im Kontext des deutschen Protestantismus wird zuweilen Zuflucht zu einem solchen Triumphalismus gesucht, indem dazu aufgerufen wird, als Demokraten zum ersten Mal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, so zu lesen in: Henze, Kann Kirche Demokratie, 12. 41 Vgl. Müller, Das demokratische Zeitalter. 42 Brown, Die schleichende Revolution, 18. 43 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 7. 44 Vgl. Nancy, Was tun, 14–28. 45 Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 9. 46 Rancière unterscheidet den politischen Streit vom Interessenkonflikt, da es in ihm nicht um die Verteilung der Plätze und Ressourcen, sondern um die Einschreibung der Gleichheit

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Verteilung der Anteile zählt und wessen Stimme nicht, als prinzipiell unabschließbar zu denken, da es im Prozess der gesellschaftlichen Konsensbildung immer einen ›nicht aufgehenden Rest‹ geben wird. Dieser muss als ›Anteil der Anteilslosen‹ in demokratischer Politik präsent bleiben. Denn der von ihm ausgehende Streit um die Gleichheit ist zugleich der Garant dafür, dass Demokratie möglich bleibt, dass eine falsche ›autoritäre‹ Harmonisierung des Volkskörpers sowie seine Identifikation mit Teilen des staatlichen Systems unterbleibt. Der Streit unter Gleichen ist nach Rancière aber nur möglich, wenn auch um die Gleichheit selbst gestritten werden darf, wenn also inmitten der Erscheinungssphäre des demokratischen Volkes eine Singularität – eine sich lokal und kontingent vollziehende Subjektivierung politischer Praxis, die ›nicht-identitär‹ verfasst ist – auftreten darf. Nur so werde deutlich, dass in der wahren Demokratie das Volk stets »ungerade, unberechenbar und un­ darstellbar«47 ist. Indem demokratische Politik aber genau auf diese Singularisierung des politischen Subjekts setzt und damit zugleich die identitäre Subjektivierung im Sinne einer Harmonisierung der Volksteile und ihrer Zusammenfügung zu einem Volkskörper nicht zulassen darf, muss sie diese identitäre Subjektivierung gleichsam aus sich ausschließen und markiert sie damit zugleich als die einzige Subjektivierungsform von Politik, die sich in das wahrhaft demokratische Ringen um Gleichheit nicht integrieren lässt. Autoritäre Politikformate sind in diesem Sinn, dass sie genau an einem intern ausgeschlossenen Punkt ansetzen, nicht Alternative und Gegenmodell, sondern aus der Demokratie selbst heraus als Antwort auf ein in ihr auftretendes Problem generiert, inauguriert und gefunden.48 Sie erweisen sich damit gleichsam als ihr verdrängtes Symptom, indem sie das in ihr unmöglich bzw. überflüssig und überwunden Geglaubte, ja Ausgeschlossene, machtvoll erscheinen lassen (nämlich dass das politische Subjekt nicht singulär und streitend auftreten, sondern sich in Autoritätsbeziehungen einbetten und zusammenschließen möchte), und provozieren auf diese Weise ihre innere Transformation durch Verschiebungen (z. B. durch Verdrängung oder Gegenreaktion). Diese Dynamik des Verdrängtwerdens der Demokratie beschreibt auch der Soziologe Wilhelm Heitmeyer in seinem Buch Autoritäre Versuchungen49 am Beispiel des Verhältnisses von Demokratie und Globalisierung. Ursache und Anlass für das Auftreten des neuen Autoritarismus sieht er in einem globalisierten Kapitalismus, welcher die Demokratie an entscheidender Stelle herausin die Erscheinungssphäre des Volkes gehe. Diesen Streit sieht er auch darin gefährdet, dass Regierungsform und Gesellschaft in einer Lebensform demokratischer Individuen zusammengeschlossen werden (vgl. Rancière, Das Unvernehmen, 110). 47 Ebd., 112. 48 Lars Rensmann, Steffen Hagemann und Hajo Funke haben im Blick auf das Verhältnis von Autoritarismus und Demokratie von einem anhaltend modernen Charakter des komplexen Verhältnisses beider Politikformen gesprochen. Vgl. Rensmann u. a., Autoritarismus und Demokratie, 39. 49 Vgl. Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen.

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fordert und auf diese Weise ihre ›offene Flanke‹ sichtbar macht. Der Kapitalismus habe mit seinen das Leben entgrenzenden Dynamiken das Gefühl eines kollektiven Kontrollverlusts erzeugt und auf diese Weise neue Formen des Kontrollversuchs auf den Plan gerufen. Die liberale Demokratie hingegen sieht Heitmeyer in der Defensive, weil sie sich nicht als wirksames Gegengewicht zu diesen Dynamiken erwiesen habe und die soziale Desintegration bei beschleunigter Globalisierung nicht habe abwenden können. Heitmeyers Analyse geht jedoch von Demokratie und Autoritarismus als zwei gänzlich verschiedenen Politikformaten aus. Die oben eingeführte Hypothese einer inneren Verstrickung von Demokratie und Autoritarismus nimmt hingegen eine andere Per­spektive ein: Beide Politikformate sind durch eine innere Dynamik miteinander verbunden und aneinander geknüpft. Der Autoritarismus antwortet in dieser Perspektive daher nicht ›anstelle der Demokratie‹ auf den globalisierten Kapitalismus, weil die Demokratie handlungsunfähig ist, sondern er antwortet als ihre ›andere Seite‹, gleichsam als ihre andere Möglichkeit, da sie selbst nach ihrem ›Siegeszug am Ende der Geschichte‹ und ihrer Sistierung in Form einer Postdemokratie50 keine inneren, selbstkritischen Potenziale mehr aufweist, die ihr eine eigene, wahrhaft demokratische Antwort erlauben würden. Dies müsste jedoch nicht so bleiben. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens sei an dieser Stelle noch auf die Demokratie- und Totalitarismusstudien von Claude Lefort eingegangen.51 Einflussreich hat er bereits in den 1980er Jahren die totalitäre Herrschaftsform als eine ›Mutationsform‹ des politischen Dispositivs der Demokratie beschrieben und sieht ihre Möglichkeit damit als der Demokratie eingeschrieben an. In seinen Studien erscheinen moderne Totalitarismen folgerichtig als mitlaufende Kehrseite der Demokratie, als ihre Option in der Krise, wenn die Zumutungen und Aporien der demokratischen Regierungsform überdeutlich zutage treten und der Wunsch entsteht, der Unruhe und Fragilität der demokratischen Lebensart der Gesellschaft zu entkommen. Veranlasst sieht Lefort diesen Ausweg ins Totalitäre darin, dass die moderne Demokratie für die Machtausübung ihres politischen Subjekts lediglich symbolische Verfahren der Repräsentation seiner Macht eingesetzt hat, die Macht des Souveräns aber nirgends mehr substanziell realisiert und ›verkörpert‹. Auf diese Weise habe sie eine Leerstelle am Ort der Machtausübung erzeugt, welche zu ihrer Wiederbesetzung gleichsam latent stetig ›einlade‹. Der Unruhe des sich immer neu artikulierenden demokratischen Machtanspruchs, die Stimme des Volkes authentisch zu repräsentieren und in Regierungshandeln umzusetzen, korrespondiere somit in verhängnisvoller Weise der reaktionäre Rückfall, der diesen Machtanspruch erneut im Realen zu sistieren, ihn jenseits der Wandelbarkeit von Zeit und Diskurs in einem Raum der Präsenz zu manifestieren sucht.

50 Vgl. Rancière, Das Unvernehmen, 111.131 u. ö., sowie Crouch, Postdemokratie. 51 Vgl. Lefort, Démocratie et avénement d’un »lieu vide«; ders., Permanence du théologicopolitique?

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Übernommen und weitergeführt haben diese Thesen Leforts in ihrer Theorie einer radikalen Demokratie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Sie beschreiben die die politische Moderne kennzeichnende Umwälzung namens ›demokratische Revolution‹ in ihrem 1985 erschienenen Hauptwerk Hegemony and Socialist Strategy im Anschluss an Lefort als ein zutiefst ambivalentes und in sich radikal heterogenes Phänomen: [T]he discursive compass of the democratic revolution opens the way for political logics as diverse as right-wing populism and totalitarianism on the one hand, and a radical democracy on the other. Therefore, if we wish to construct the hegemonic articulations which allow us to set ourselves in the direction of the latter, we must understand in all their radical heterogeneity the range of possibilities which are opened in the terrain of democracy itself.52

Die heterogene Ausgangslage, ja die Unentschiedenheit der politischen Moderne zwischen Ent- und Demokratisierung wird hier als Unentschiedenheit der Demokratie selbst verstanden, als ihre Unentschiedenheit zwischen einer Radikalisierung der freiheitlichen und einer Reaktivierung der autoritären Momente ihrer spezifischen Form der Subjektivierung des politischen Souveräns. Laclau und Mouffe fassen somit in ihrer Analyse in den 1980er Jahren bereits diejenige Gefährdung der Demokratisierung durch den Rechtspopulismus ins Auge, welche für die Vordenker des politischen Liberalismus erst im 21. Jh. erkennbar geworden ist. Inwiefern in einer solchen Ausgangskonstellation der radikal-demokratische Weg, welchen Laclau und Mouffe zu stärken suchen, notwendigerweise in sich selbst bereits die andere, die ausgeschlossene autoritäre Tendenz dialektisch mitbefördert und verstärkt, lässt sich freilich trefflich diskutieren.53 Für die weiteren Überlegungen soll an dieser Stelle aber nur festgehalten werden, dass eine Entscheidung zur Behebung der Unentschiedenheit der Demokratie nicht vorschnell getroffen werden kann – zumindest nicht, ohne an der inneren Dynamik des historischen Dispositivs der Demokratie selbst vorbeizureden. Aus diesem Grund kann als Problemstellung für eine genauere Analyse der Theologie Karl Barths im folgenden Abschnitt die Frage in den Mittelpunkt gerückt werden, inwiefern er die Unentschiedenheit und Ambivalenz der demokratischen Konstellation thematisiert und ›löst‹, wie er also freiheitliche und autoritäre Momente einander zuordnet, indem er die Frage nach der Autorität wahrer Freiheit aufwirft – verstanden als Frage nach der Macht, mit der sich wahre Freiheit zur Durchsetzung bringen lässt.

52 Laclau / Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy, 168 (Hervorhebung von mir, R. K.). 53 Vgl. Klein, The Sovereignty of Subversion; Finkelde, In Need of a Master.

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Theo-Politik statt Politische Theologie

Karl Barth hat die Verbindung von Freiheit und Autorität in seiner Theologie in mehreren Hinsichten und Richtungen positiv wie negativ durchdacht. Bereits im Ansatz des liberalen Staats- und Gesellschaftsmodells hat er dessen autoritäre Begleitmomente mitgedacht, sie sichtbar gemacht und kritisch über sie aufgeklärt. Als Zeitgenosse des Endes der Weimarer Republik stand ihm real vor Augen, wie leicht eine demokratische in eine totalitäre Regierungsform umkippen kann und wie anfällig Menschen dafür sind, diesen Prozess geschehen zu lassen oder sogar aktiv mitzutragen. Dass eine Diktatur aus der Mitte einer demokratischen politischen Ordnung heraus – und nicht etwa durch Gewalt und Druck von außen – errichtet werden kann, war ihm also auf Grund seiner Lebenserfahrung evident. Ebenso war ihm aber auch die Eigenart staatlicher Machtausübung vertraut, sich zuweilen gegenüber ihrer demokratischen Legitimation durch den Bürger zu verselbständigen, sich über den Dienst am Menschen hinwegzusetzen und ihren eigenen Machterhalt in verschiedenen Selbsterhaltungsstrategien absolut zu setzen. Beide Phänomene zusammen­ genommen ließen ihn darüber nachdenken, was es möglich macht, genau diese Schatten- und Kehrseiten, diese ›Kippmomente‹ freiheitlich orientierter demokratischer Politik in eine ideologische Verabsolutierung von Macht­ausübung gleichsam zu verdrängen. Barth ging also weder in anthropologischer noch in demokratietheoretischer Hinsicht naiv vor, noch war sein Denken von idealistischen Grundannahmen bezüglich dieser beiden Bereiche getragen. Um seinem kritischen Bewusstsein Rechnung zu tragen, kam er daher zu der Auffassung, dass jegliche Form der politischen Machtausübung kritikwürdig und abzulehnen sei, die sich nicht selbst zu relativieren und zu begrenzen vermag, und er fasste die Überzeugung, dass es sich um ein falsch verstandenes Ideal der Autonomie des politischen Subjekts handeln muss, wenn die Freiheit des Individuums ohne seine Einbindung in eine Autoritätsbeziehung gedacht wird, welche die Ausübung seiner Freiheit ausrichtet und ordnet. Für ihn stellte sich daher – auch auf dem Boden einer liberal-demokratischen Ordnung – vor allem die Frage, welcher Art diese Autoritätsbeziehung, die zur wahren Freiheit des Menschen dient, beschaffen sein sollte. Die beiden zentralen Prämissen Barths, dass der Mensch (a) von sich aus anfällig und verführbar ist durch (b) eine politische Machtausübung, die sich dem Menschen und seinen Bedürfnissen und seiner Bestimmung zur Freiheit und Humanität entgegensetzt und sich darin potenziell in geradezu dämonischer Weise selbst überhöht, sollen nun genauer betrachtet werden. Dabei ist stets das Augenmerk auf die Frage zu richten, inwiefern Barth demokratiekritisch und demokratiefördernd zugleich argumentieren bzw. inwiefern seine kritische zugleich seine fördernde Haltung sein kann.

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Theo-Politik

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Zur Autonomie verführt: Der Verlust der Autorität der Freiheit

Wie kam Barth zu seiner Auffassung, dass nicht die Stärkung der Bürgerrechte und das Vertrauen in die demokratische Vielfalt der mündigen Individuen zum Anfang einer Kritik totalitärer und diktatorischer Politikformen gemacht werden sollte, sondern die metapolitische Überschreitung der Politik durch eine (für säkulare Zeitgenossen bis heute absurd anmutende) Theo-Politik? Angesichts der offensichtlichen Ohnmacht der Menschen, sich gegenüber den politischen Ideologien seiner Zeit (Nationalsozialismus und Führerkult des Dritten Reiches) abzugrenzen und ihnen zu widerstehen, hat Barth in seiner Theologie intensiv darüber nachgedacht, wie es möglich werden kann, dass Menschen sich dennoch von den Ideologien einer verabsolutierten mensch­ lichen Machtausübung befreien. Im Blick auf die Prämisse der Aufklärungszeit, dass jeder Mensch das Vermögen besitzt, sich selbst kritisch seines Verstandes zu bedienen und Autoritäten selbständig zu hinterfragen, pflegt Barth eine ausgesprochene Skepsis: »Die Illusion, dass wir uns selbst desillusionieren könnten, ist die größte aller Illusionen.«54 Da Barth also in das menschliche Vermögen der (Selbst-)Aufklärung nicht sein Vertrauen setzen kann und da er es für eine ideologische Überhöhung des Menschenmöglichen hält, dass der Mensch aus sich selbst heraus den Verführungen absoluter Machtansprüche widerstehen kann, wählt er in seiner Theologie einen neuen Weg. Dieser setzt auf mehr als nur menschliches Vermögen, um den ideologischen Auswüchsen der Machtausübung im politischen Raum entgegenzutreten. Anstatt auf die formale Begrenzung und Kontrolle menschlicher Verabsolutierungen des Staatswesens und totalitärer Machtansprüche oder auf das Widerstandsrecht des Individuums, welches sich – sofern es Unrecht und Ungerechtigkeit erfährt – selbst aufklärt und revolutionäre Aktivitäten entfaltet, setzt Barth auf Gott − und zwar nicht auf jenen ›Gott‹, der als allmächtiges Subjekt fernab der Geschichte und aller menschlichen Erfahrungen ist, sondern auf den in der Bibel bezeugten Gottes- und Menschensohn Jesus Christus, in dessen Leben Gott seine den Menschen rettende und versöhnende Macht verwirklicht hat. ›Jesus Christus‹ steht für Barth als (unverzichtbarer) Mittler einer konkreten neuen Wirklichkeit der Freiheit, in der Gott die menschengemachte Dialektik von Herrschaft und Unterwerfung unterläuft und aussetzt. Er ist damit mehr als bloßes Zeichen, mehr als bloßer Verweis auf Gott; er ist fleischgewordene Offenbarung einer nicht mit anderen Mächten verrechenbaren oder vergleichbaren Singularität in der Geschichte: Gottes versöhnender Macht. Barth behauptet daher, dass durch die Orientierung an dem singulär in Jesus Christus in die Welt gebrachten neuen Vollzug göttlicher Macht alle anderen Mächte – darunter die menschengemachte Ideologie staatlicher Souveränität, aber auch die religiöse Ideologie von Gott als dem allmächtigen Herrn über alle Dinge – relativiert und entmachtet werden können. Sie erscheinen nun als vom Menschen geschaffene Mächte, die dämonische Gestalt annehmen, da 54 Barth, KD II/1, 190.

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sie in ihrer Wirksamkeit nicht mehr von ihm selbst durchschaut und kontrolliert werden können. Sie bemächtigen sich des Menschen und berauben ihn der freien Existenz, zu der Gott ihn geschaffen und in Jesus Christus erneut befreit hat. Genau dieser Prozess einer Ideologisierung und Verabsolutierung des Menschengemachten könne nun in der Orientierung an einer neuen Existenzform von Autorität, die Barth in Jesus Christus offenbart und verwirklicht sieht, überwunden werden. So könne in der Orientierung an Jesus Christus erkannt werden, dass wahre Macht nicht darin bestehe, den Anderen zu unterwerfen, auszugrenzen oder zu verdrängen, sondern ihn auch in seiner Schwachheit auf Augenhöhe kommen zu lassen. Denn in Jesus Christus habe Gott sein Versöhnungswerk vollzogen und seinen Willen verwirklicht, den Menschen zu seinem Partner zu machen, obwohl dieser in seiner Schwachheit und Verletzlichkeit auf den ersten Blick als nicht würdig erschien.55 Doch was schlägt Barth damit tatsächlich vor? Zunächst kann festgehalten werden, dass er sich mit seiner Kritik an der Mündigkeit und Autonomie des politischen Subjekts erstaunlich aktuell und anschlussfähig an die auch zu Beginn des 21. Jh. geführten Debatten zeigt, die einen Zusammenhang von Phänomenen wie Müdigkeit, Depression, Erschöpfung, Überforderung etc. mit einer Orientierung am Ideal der Autonomie als einer von allen Einbindungen in Traditionen und Autoritäten sich freimachenden Subjektivität thematisieren – einer Subjektivität, deren Autonomie sich letztlich als Zwang zur Selbstausbeutung erweist.56 Barth sucht die Ideologie der unumschränkten und von allen Autoritäten befreiten Selbstbestimmungsmacht des Individuums in seiner Theologie nicht direkt anzugreifen, sondern unterläuft sie indirekt, indem er aufzeigt, dass das Freihalten einer Leerstelle der Autorität bzw. ihre bloße Negation zur Re-Autorisierung falscher Autoritäten wie der Idolisierung von Staat, Führer oder Nation führen kann. Des Weiteren setzt er der Strategie der Negation von aller Autorität schlechthin und damit dem Ideal einer den Menschen auf sich selbst zurückwerfenden Autonomie ein anderes Bild von Autorität entgegen. Mit dem Argument, allein Gott habe die Macht, die wahre Freiheit des Menschen zur Durchsetzung zu bringen, indem er ihn in eine Autoritätsbeziehung von der Art der Solidarisierung und Versöhnung des Stärkeren mit dem Schwächeren einbindet, sucht er zunächst alle falschen Autoritätsansprüche auszuschalten und ein wirkliches Widerstandsmoment gegen deren suggestive Kraft zu schaffen. Doch diese Strategie Barths ist nicht einfach ein naiver Gestus der Re-Autorisierung gegen die neuzeitliche Emphase der Freiheit des Individuums und der Selbstmächtigkeit 55 Die hier gegebene Interpretation des Sinns der Christologie in der Versöhnungslehre Barths bezieht sich auf: KD IV/1, 1–170. Vgl. dazu auch bereits: Klein, Depotenzierung der Souveränität, 256 ff. 56 Vgl. Menke / Rebentisch, Kreation und Depression; Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst; ders., Das Unbehagen in der Gesellschaft; ders., Die Mechanik der Leidenschaften; Han, Müdigkeitsgesellschaft; Fuchs u. a., Das überforderte Subjekt; Reckwitz, Das Ende der Illusionen, 203–238.

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des Subjekts, sondern Barth beruft sich auf ein sachliches Argument: Anders als das von Menschen Erdachte und Erfundene, das sich in politischen Ideologien als scheinbar objektive Wirklichkeit zeigt, verfestigt und schließlich selbst überhöht, habe Gottes Macht in der Geschichte von Jesus Christus die Form eines stets dynamisch bleibenden Beziehungsgeschehens angenommen, das die Befreiung aller Menschen zu gleichberechtigter Teilhabe an Gemeinschaft zum Ziel habe.57 Jede von Menschen erzeugte Macht, die diese Freiheit des Einzelnen zur Teilhabe ungeachtet seiner Ausgangssituation nicht zulasse und befördere, sei daher als dämonische, gegen Gott und den Menschen gerichtete Macht zu identifizieren. Die von Gottes Offenbarung in Jesus Christus ausgehende Autoritätsbeziehung erweist somit nach Barth den Unterschied zwischen wahren und falschen Mächten am zuverlässigsten. Ihre Orientierungsleistung ist gleichsam unüberbietbar. Durch seine für säkulare Zeitgenossen ›absurd‹ und ›idiotisch‹ anmutende axiomatische Setzung, allein Gottes Machtausübung sei wahrhaft befreiend und desillusionierend real, während die Politik stets in der Ambivalenz verbleibt und zur Ideologisierung von Machtausübung tendiert, kann Barth die Unentschiedenheit der Menschen, welcher politischen Macht sie vertrauen sollen − sei es in Zeiten des Nationalsozialismus, sei es in Zeiten des Kalten Krieges und des Ost-West-Konflikts – für beendet erklären. Angesichts des Pluralismus der Mächte kann nur eine Macht real und menschengerecht sein, und zwar die, die den Menschen bereits zur Freiheit von allen politischen Ideologien geführt hat. Genau in seiner Nähe zu (vermeintlich) autoritären Denkfiguren wie derjenigen von Jesus Christus als Mittler wahrer Freiheit und Humanität ist Barth von liberalen Theologen bekanntlich scharf kritisiert worden.58 Ihm wurden versteckte autoritäre und faschistoide Tendenzen nachgesagt und seiner Theologie gar ein totalitärer Zug unterstellt, welcher sich ausgerechnet in ihrem christozentrischen Grundprinzip manifestieren soll. Die Christozentrik, so die Kritik, fungiere als ›Gleichschaltung‹ des Anderen und damit als radikale Ausschaltung dessen, was man einen Aufruhr zwischen Vater und Sohn,59 eine unversöhnliche Differenz in Gott, oder politisch-theologisch eine Dekonstruktion der Gotteslehre als monarchische Herrschaftsform nennen kann. Nun haben diese kritischen Stimmen die Theologie Barths einerseits treffend erkannt und andererseits deren eigentliche Pointe verkannt. Diese kann besser verdeutlicht werden, wenn Barth, wie George Hunsinger einmal erklärt hat,

57 Vgl. dazu auch die Studie: Gorringe, Karl Barth. 58 Exemplarisch kann hier an die scharfe Kritik von Trutz Rendtorff, Friedrich-Wilhelm Graf und Falk Wagner erinnert werden: Rendtorff, Die Realisierung der Freiheit. Die These vom antidemokratisch-autoritären Gestus der Theologie Barths wird wiederholt und neu ausgebaut in: Peterson, The Early Karl Barth. 59 Vgl. dazu den instruktiven Aufsatz von Michael Moxter: Ders., Konkreter Mono­ theismus.

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als »›post-liberal‹ theologian«60 gelesen und in seinen Intentionen sichtbar gemacht wird. Freilich hat Hunsinger selbst Barths ›Postliberalität‹ zu stark von ihrer theologiepolitischen Seite und von Barths Absetzung von liberal-theologischen Denkformen her gedacht. Eine produktive Verbindung zu einer politisch im echten Sinne relevanten ›Postliberalität‹ ließe sich allerdings in Hinsicht auf Überlegungen zu einer inneren Korrektur und Verschiebung liberalen politischen Denkens in der Spätmoderne ziehen, wie sie etwa Andreas Reckwitz im Anschluss an Karl Polanyi mit seiner Konzeption eines ›einbettenden Liberalismus‹ angestellt hat.61 Reckwitz’ Liberalismuskonzeption für die Spätmoderne ist insofern ›postliberal‹, als sie dem Liberalismus treu bleibt, ohne ihn unkritisch anzunehmen. Sie vertieft die basale liberale Einsicht, dass moderne Gesellschaften sozial nicht planbar und determinierbar sind, weil sie sich in letzter Instanz auf die Gewährleistung der Freiheit des Individuums stützen müssen. Gegen eine neoliberale Freisetzung grenzenlos aller sozialen Dynamiken der Gesellschaft habe der Liberalismus der Spätmoderne jedoch anzuerkennen, dass Freiheit nicht unbestimmt und ohne Grenzen gelten kann, sondern gleichwohl einer ordnungsbildenden Macht bedarf. Die Einführung einer solchen regulativen Ordnungsstruktur dürfe sich allerdings, so formuliert Reckwitz einschränkend, im Horizont des liberalen Erbes nur indirekt, d. h. durch die Freiheit des Einzelnen hindurch vollziehen. Interpretiert man Barths Postliberalität nun in diesem Sinne politisch, so vertritt auch er ein ›eingebettetes‹ bzw. ›einbettendes‹ Freiheitsverständnis. Freiheit und Humanität des Individuums sind ihm zentrale Werte, aber er sieht diese ›genau nicht‹ durch die Orientierung am Ideal der Autonomie verwirklicht, sondern wahre Freiheit, die sich im Zuge ihrer Verwirklichung nicht gegen den Menschen verkehrt, sondern mit der Humanität im Einklang steht und diese schützt, ist nur durch Einbettung in eine Autoritätsbeziehung von derjenigen Qualität zu erlangen, dass der eine sich mit dem anderen aus freien Stücken und auf Augenhöhe solidarisiert, anstatt ihn zu entwerten und zu dominieren. 3.2

Metapolitische Intervention: Gottes Anordnung für die Politik

Das Problem der von Barth ›einbettend‹ gedachten Subjektivierung der Freiheit besteht nun darin, dass er eine Relativierung und Begrenzung politischer Machtausübung nicht etwa gut demokratisch in der Rückbindung an politische Praxis der Teilhabe, etwa an Verfahren ihrer demokratische Legitimation oder der Stärkung partizipativer und direkter Demokratie gegeben sah; vielmehr vertrat er die Auffassung, dass diese Relativierung und Begrenzung durch eine starke Einbettung und Bindung von Politik und Staat zu erreichen 60 Hunsinger, The Political Views of Karl Barth, 180. Vgl. zur Postliberalität Barths auch ebd., 111–128. 61 Vgl. Reckwitz, Das Ende der Illusionen, 285–304.

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sei, die den Sinn und Zweck von Politik theologisch, oder besser gesagt: theopolitisch, (re-)formuliert. Barth hat daher den wahren ethischen Zweck aller Formen der politischen Selbstorganisation des Menschen auf eine ›Anordnung Gottes‹ zurückgeführt, anstatt ihn in einer Reflexion auf die rechte Form der politischen Praxis der demokratischen Teilhabe aller zu gründen, wie es etwa Reckwitz und andere postliberale politische Denker tun. Der Sinn und Zweck von Politik ist für Barth demnach allein durch die Bindung allen staatlichen Handelns und des politischen Gemeinwesens an eine  – seiner Auffassung nach – rein theologisch begründbare, weil in Jesus Christus in ihrer Eigenart geoffenbarte Vollzugsform der Freiheit und Humanität zu sichern. Durch Theo-Politik bzw. durch theologische Politik will Barth demnach eine heilsame Relativierung des Politischen leisten. In seiner Darstellung der politischen Ethik des Protestantismus aus dem Jahr 2015 hat Reiner Anselm62 nun genau diese Bindung von Staat und Kirche an eine Anordnung Gottes in Barths Theologie offengelegt. Er kritisiert sie mit dem Argument, dass sie unter der Hand das überkommene reformatorische Modell einer theologischen Sakralisierung der Obrigkeit bzw. des Staates fortschreibe. Diese Heiligsprechung des Staates an sich sei der Preis, der sich aus dem theologischen Willen zur (weiterhin bestehenden) Dominanz in diesem Bereich ergebe. Barth begrenze und relativiere zwar die seit der Reformation im Protestantismus vertretene theologische Überhöhung der Obrigkeit, indem er Theologie und Politik durch ein Analogiemodell aufeinander beziehe und damit qualifizierte theologische Kritik an Politik zulasse. Er anerkenne jedoch keineswegs die volle Säkularität des modernen politischen Gemeinwesens und gebe die Politik somit nicht theologisch ›frei‹. Damit sei auch er (und nicht nur die lutherischen Protagonisten einer Zwei-Reiche-Lehre) an der eigent­lichen Aufgabe gescheitert, den Bürger nicht mehr als Untertan, sondern als das wahre politische Subjekt der Moderne mit Freiheits- und Partizipationsrechten zu denken. Barth verkenne in seiner Theologie die positiven Möglichkeiten einer von der demokratischen Legitimation und Partizipation der Bürger ausgehenden Politik. Er sei nicht in der Lage, die Potenziale einer demokratischen Lebensform, welche weit über die institutionellen Verfahren der Repräsentation und die rechtsstaatlichen Institutionen der Gewaltenteilung hinausgehen, voll zu würdigen. Seine Beziehung zur Demokratie verbleibe in der Ambivalenz; in seiner Theologie könne er sich nicht zu einer vollen Anerkennung des politisch mündigen Bürgers durchringen. In seiner scharfsichtigen Rekonstruktion und Kritik der Theologie Barths und ihres organisierenden Prinzips einer Anordnung Gottes für die Politik übersieht Anselm jedoch, dass die Anordnung Gottes nicht einfach eine autori­täre Figur ist, durch welche Staat und Gesellschaft theologisch dominiert oder gar sakralisiert, also heiliggesprochen werden sollen. Vielmehr hat Barth diese Figur ontologisch und eschatologisch auslegt, nämlich als eine in Jesus Christus geschichtlich konkret gewordene Existenzform der Freiheit und 62 Vgl. Anselm, Politische Ethik.

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Huma­nität, die sich als freiheitliches und humanes Leben in der Folge auch in der menschlichen Gesellschaft zur Durchsetzung bringen wird. Zudem versieht Barth die Figur der Anordnung Gottes mit einer handlungslogisch und politiktheoretisch nicht einholbaren Signifikanz. Sie lässt sich daher z. B. im Sinne von Jacques Rancières Demokratietheorie als eine metapolitische Überschreitungsfigur von Politik deuten. Nach Rancière ist Metapolitik ein »Diskurs über die Falschheit von Politik«, welcher einen »radikalen Überschuss der Ungerechtigkeit oder Ungleichheit im Verhältnis zu dem, was die Politik als Gerechtigkeit oder Gleichheit behaupten kann«,63 ausspricht. Auch Barth spricht einen solchen nicht-kommensurablen Überschuss aus und verweist auf das, was in der demokratischen Politik und ihrer Inszenierung der Freiheit und Humanität des Menschen nicht eingelöst wird, da sie sich dem Ideal einer bindungslosen Autonomie des politischen Subjekts verschrieben hat. Gerade demokratische Politik bedarf in diesem Sinne der Figur einer nicht kommensurablen Singularität des politischen Subjekts, um die Suche nach Freiheit und Humanität für alle und zu jeder Zeit neu offen zu halten. Barth hält den Platz für diese Singularität des politischen Subjekts in seinen mannigfaltigen geschichtlichen Erscheinungsformen nun nicht offen, indem er ihn durch abstrakte Rechtsformeln leer und damit frei lässt, sondern indem er ihn durch das konkrete Zeugnis von Jesus Christus ›besetzt‹ und damit zugleich offenhält für Formen einer autorisierten Nachfolge, welche das Subjekt der Freiheit immer eingebettet weiß in die Autoritätsbeziehung zu Gott in Jesus Christus. Barth setzt den totalitären Tendenzen der modernen Politik also kein aufklärerisch-emanzipatorisches Programm im neuzeitlichen Sinne entgegen, da er dieses schlicht für illusionär hält. Aber er ist sehr wohl an einer theologischen Artikulation einer Welt der Freiheit interessiert.64 Für ihn ist Gott als der Freieste der Freien und Jesus Christus als der erste konkret befreite Mensch zu denken und allein in der Antwort und Treue zu diesem Geschehen können auch Menschen frei werden. Wie Martin Hailer, Timothy Gorringe u. a. gezeigt haben,65 entwickelt Barth damit einen radikal-theologischen Ansatz, der durchaus als Etablierung eines ernstzunehmenden gegenhegemonialen und ideologiekritischen Diskurses über Politik mit verschiedenen eigenständigen Strategien angesehen werden kann. Seine Theologie kann als diskursive Widerstandspraxis gegenüber der Macht derjenigen Strukturen und Kräfte interpretiert werden, welche einer Ausrichtung des menschlichen Lebens an seinem Wohl entgegenstehen. Worin dieses Wohl konkret besteht, meint Barth freilich nicht demokratisch aushandeln zu müssen oder durch Verfahren der Meinungsbildung in einem offenen Diskurs entscheiden zu lassen, was ihm – an dieser Stelle wohl nicht ganz zu Unrecht – den Vorwurf eines autoritär verfahrenden Ansatzes eingetragen hat. Gleichwohl ist dieses undemokratische Verfahren nicht gleich undemokratisch oder demokratieverhindernd. Barth 63 Rancière, Das Unvernehmen, 93. 64 Vgl. Nimmo, Being in Action, 110 ff. 65 Vgl. Hailer, Gott und die Götzen; Gorringe, Karl Barth.

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setzt in seiner Theologie stattdessen auf eine außerdemokratisch konstituierte Autorität, nämlich auf Gottes Anordnung, welche durch ihre Selbstbindung an eine human zu verwirklichende Freiheit (vollzogen in Jesus Christus) auch die demokratische Freiheit der politischen Selbstorganisation einsetzt und garantiert. Damit setzt Barth auf eine – von außen betrachtet – kontingent und partikular erscheinende Singularität, wie sie strukturell bspw. auch im Herzen von Rancières Demokratieverständnis steht. Er gestaltet diese jedoch so aus, dass sie nicht als bindungslose und entgrenzte Loslösung von allen Autoritätsbeziehungen, sondern als Vollzug einer auf Freiheit und Humanität setzenden Autoritätsbeziehung beschreibbar wird. 4.

Theologie als engagierte Distanz zu Politik

Indem er seinem christozentrischen theologischen Ansatz und damit der Ausrichtung seiner Theologie auf ihre ›Sache‹ konsequent treu bleibt, ist es Barth gelungen, den ›Verführungen‹ eines Lösungsansatzes, der auf die Säkularisierung theologischer und politischer Metaphysik sowie auf die Loslösung von allen Autoritäten als Aufklärungs- und Befreiungsprinzip politischer Theologie setzt, nicht zu erliegen. Er kann darum nicht darauf vertrauen, dass durch die Befreiung der modernen Herrschaftsformen von allen religiösen Transzendenzmomenten bereits das Versprechen einer freien Gesellschaftsordnung eingelöst ist. Auch die Rationalisierung traditioneller Formen oder der Durchgang durch eine Gesellschaftskritik bieten für ihn nicht den Weg zu einer besseren Politik. Ein gleichsam auf die menschliche Vernunft und die Mündigkeit des Bürgers reduziertes Verständnis von den Möglichkeiten der politischen Selbstorganisation in einer Demokratie kann Barth ebenfalls nicht gelten lassen. Er kann darum auch nicht zentral auf die freiheitliche Selbstorganisation der Gesellschaft in demokratischen Verfahren vertrauen, wenn es um den Abweis der dämonischen Seite des Politischen geht. Auch sind ihm die Konkretion politischer Handlungsoptionen und die Entwicklung von Praktiken des Wider­ stands oder der Subversion kein zentrales Anliegen seiner Theologie. Genau weil seine Theologie keine politische Theologie sein will und sich »at odds with the ›dominant‹ versions of political theology«66 befindet, vermag er es, sich demokratietheoretisch in keiner Weise kurzschlüssig oder naiv zu zeigen. Seine Ausführungen befinden sich damit auf der Höhe eines differenzierenden und um die Ambivalenz des Demokratischen wissenden Diskurses in der politischen Philosophie. In Barths Theologie klingt immer wieder ein illusionsloser, ein unideologischer Blick auf diese moderne Staats- und Regierungsform an. Ein Triumphalismus des Demokratischen liegt ihm fern. Denn dieser ist für ihn ebenso eine Ideologie wie der Totalitarismus.67 So warnt er in seinen aus dem Nachlass 66 Haddorff, Barth and Democracy, 112. 67 Vgl. ebd., 113.

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herausgegebenen Vorlesungen über Das christliche Leben vor der Auffassung, dass auch in demokratisch organisierten Staaten und Gesellschaften sehr wohl sogenannte ›Dämonien des Politischen‹, also Verabsolutierungen politischer Macht zum Selbstzweck, anstatt zum Wohle des Menschen, auftreten können und keinesfalls systemimmanent vermieden werden können.68 Der Theologie sei es möglich, in produktiver Distanz zum politischen Geschehen ein wachsames Auge auf diese Dämonien zu entwickeln. Barths Theologie zeigt damit eine theologisch wie demokratietheoretisch gleichermaßen auf innere Distanz und Nüchternheit gegenüber – ausnahmslos allen – politischen Formen der Organisation eines politischen Gemeinwesens setzende Haltung, die gerade darum an einem Potenzial dieser Formen, ein freiheitliches und humanes Leben aus sich herauszusetzen, leidenschaftlich interessiert ist. Dieses gleichsam paradoxe Phänomen der ›leidenschaftlichen Distanz‹ bzw. der ›ernüchterten Engagiertheit‹ entfaltet seine (theologische) Produktivität gerade durch eine metapolitische Überschreitung der Politik. Barths Ansatz der Theo-Politik ist ein Ansatz der Steigerung der Transzendenzmomente bzw. der Alteritätsmomente der Politik. Er setzt nicht auf die Verweltlichung, sondern auf die Brechung von Politik durch Transzendenzfiguren. Über Barth hinausgehend wäre allerdings daran zu erinnern, dass die derart aufgebaute Distanz der Theologie zur Politik niemals eine (metaphysisch prä-stabilisierte und) gesicherte Distanz sein darf, sondern eine, in der sich der Theologe gleichwohl riskiert. Sie müsste also eine innerlich vollzogene und immer wieder neu zu vollziehende Distanz sein, die den Bezug des Menschen zum Wirklichen als konstitutiv gebrochen und von Verkennungen durchzogen anerkennt. Es zeichnet Barths Theologie in der dargelegten Lesart aus, dass sie im Blick auf eine Deutung der politischen Verhältnisse ihrer Zeit nicht die Form einer ›Politischen Theologie‹69 oder einer Befreiungstheologie annimmt. Ihr theologischer Ansatz ist also nicht kompatibel mit säkularisierungstheoretischen Deutungen der Politik als einer Form der humanen Selbstorganisation, die auf z. T. selbstwidersprüchliche Weise Transzendenz- und Absolutheitsfiguren fortschreibt. Sie ist aber auch keine kontextuell auf eine bestimmte politische Subjektposition, etwa diejenige der Unterdrückten und Marginalisierten, festgelegte politische Theologie im Sinne der Befreiungstheologie. Vielmehr adressiert Barth die politische Praxis konsequent in Gestalt einer Theo-Politik, d. h. er orientiert sie an einer metapolitisch eingeführten ›Politik der Wahrheit‹, die falsche Ideologien und Autoritarismen zurückweist und konsequent auf eine Singularisierung und Subjektivierung von Autorität in der Person Jesus Christus setzt. Damit bewegt sie sich, so wurde gezeigt, zunächst erstaunlich aktuell auf der Linie einiger zeitgenössischer politischer Theorien und Bewegungen, welche die Demokratie in der Spätmoderne neu konfigurieren, sie demokratisieren und strukturell umbauen möchten. Allerdings findet Barths Theo-Politik ihr Kriterium der Wahrheit, anders als diese Bewegungen, nicht 68 Vgl. Barth, Das christliche Leben, 375. 69 Vgl. dazu klassisch: Schmitt, Politische Theologie.

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innerhalb des demokratischen Horizonts, in dem Macht daran gebunden ist, dass ein Kollektivsingular wie ›das Volk‹ in seiner prinzipiell nie ganz erfassbaren Pluralität und Heterogenität in Erscheinung treten und sich in Differenzen artikulieren kann. Wahrheit erscheint für ihn vielmehr in Jesus Christus und damit in einem auf eine einzige Grunddifferenz (Herr / Knecht) festgelegten Offenbarungsvollzug, der vertikal-asymmetrisch ausgerichtet ist und damit gleichsam ›außerdemokratisch‹ bzw. als ›konstitutives Außen‹ dem demokratischen Diskurs des gemeinsamen Ringens um Wahrheit entzogen bleibt. Dennoch legt Barth damit durchaus ein Grundmoment von Politik im demokratischen Horizont frei und vollzieht es zugleich als ein genuin theologisches Moment: die Unterbrechung der sozialen Ordnung bzw. der diskursiven Praxis ihrer Artikulation und Desartikulation in demokratischen Verfahren durch ein singuläres Dispositiv der Subjektivierung, welches Praktiken der Selbstabschließung und damit der Verabsolutierung des demokratischen Gemeinwesens (Demokratismus) zu verhindern und zu konterkarieren vermag. Literatur Agamben, Giorgio, Nach Corona: Wir sind nurmehr das nackte Leben, Neue Zürcher Zeitung, 18.3.2020. URL: https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-ueber-das-coronaviruswie-es-unsere-gesellschaft-veraendert-ld.1547093 (letzter Zugriff: 16.11.2022). Anselm, Reiner, Politische Ethik, in: W. Huber u. a. (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 194–265. Barth, Karl, Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen, in: Ders., Die christliche Gemeinde im Wechsel der Staatsordnungen. Dokumente einer Ungarnreise 1948, Zollikon-Zürich 1948, 30–54. –, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4. Fragmente aus dem Nachlaß. Vorlesungen 1959–1961, GA II/7, hg. v. H.-A. Drewes / E. Jüngel, Zürich 1976. –, Die Kirchliche Dogmatik II/1. §§ 25–27. Die Lehre von Gott, Zürich 1986 (= KD II/1). –, Die Kirchliche Dogmatik IV/1. §§ 57–59. Der Gegenstand und die Probleme der Versöhnungslehre. Jesus Christus der Herr als Knecht, Zürich 1986 (= KD IV/1). Beintker, Michael (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016. Brown, Wendy, Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2018. Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.), Wandel des Politischen? (APuZ  44–45), Bonn 2017. Chamayou, Grégoire, Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus, Berlin 2019. Crouch, Colin, Postdemokratie, Frankfurt a. M. 2008. Dahlke, Benjamin, Karl Barth (1886–1968). Ein Forschungsüberblick, ThRv 114 (2018), 443–454. Dahrendorf, Ralf, Anmerkungen zur Globalisierung, in: U. Beck (Hg.), Perspektiven der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, 41–55. Dalferth, Ingolf U., Kontextuelle Theologie in einer globalen Welt, in: Th. Flügge u. a. (Hg.), Wo Gottes Wort ist. Die gesellschaftliche Relevanz von Kirchen in der pluralen Welt (Festgabe T. Wipf ), Zürich 2010, 29–46. –, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

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Marco Hofheinz

Vom Praktisch-Werden der Christozentrik Oder: Wie Barth und Bultmann Weihnachten feiern Meinem Vikariatsvater Pfr. Christoph Meyer zum 70. Geburtstag in Dankbarkeit gewidmet

1.

Öffnung oder Verengung? Die christologische Konzentration bei Barth und Bultmann

»Christologische Konzentration«1 – diese Wendung stammt von Karl Barth selbst. Es handelt sich bei dieser begrifflichen Konstruktion um die Selbstzuschreibung einer Lernerfahrung, die er machen musste. So schrieb Barth rückblickend in seinem Bericht How My Mind Has Changed (1939) über die Jahre 1928–1938: »Ich hatte in diesen Tagen zu lernen, daß die christliche Lehre ausschließlich und folgerichtig und in allen ihren Aussagen direkt oder indirekt Lehre von Jesus Christus als von dem uns gesagten lebendigen Wort Gottes sein muß, um ihren Namen zu verdienen und um die christliche Kirche in der Welt zu erbauen, wie sie als christliche Kirche erbaut sein will.«2 Was meint »christologische Konzentration«? Barth hat darauf in seinem späten Vortrag Die Menschlichkeit Gottes (1956) folgende Antwort gegeben: »Wer und was Gott und wer und was der Mensch in Wahrheit ist, das haben wir nicht frei schweifend zu erforschen und zu konstruieren, sondern dort abzulesen, wo ihrer beider Wahrheit wohnt: in der in Jesus Christus sich kundgebenden Fülle ihres Zusammenseins, ihres Bundes.«3 Diese Konzentration ist als Verengung empfunden worden – nicht zuletzt in der Praktischen Theologie seit der sog. »empirischen Wende« Mitte der 1960er Jahre. Die Ironie, mit der Barth bereits im zweiten Römerbrief von den »sanften Auen der Praktischen Theologie«4 sprach, haben ihm viele bis heute nicht verziehen, so dass Barth selbst in vielen Landschaftsportraits retournierender Praktischer Theologie gar nicht gut weg kommt. Wer möchte sich schon gerne geistig, und sei es nur 1 Barth, How My Mind Has Changed, 186. Zur Christozentrik vgl. van’t Slot, Die christologische Konzentration. Fernerhin: Hunsinger, How to Read Karl Barth, 107 f; 229– 233.260–267; ders., Disruptive Grace, 282–286; McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 42 f.377–384; Cortez, What Does it Mean; Krötke, Barmen – Barth – Bonhoeffer. 2 Barth, How My Mind Has Changed, 185. 3 Barth, Die Menschlichkeit Gottes, 11. Vgl. KD IV/1, 203. 4 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 23 [XVII]. Vgl. Lämmlin / Scholpp, Die sanften Auen der praktischen Theologie.

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im Anklang des Barth’schen Spotts, in den Niederungen der »norddeutschen Tiefebene« verorten lassen? Albrecht Grözinger hat bereits vor vielen Jahren treffend vom »schwierigen praktisch-theologischen Erbe der Dialektischen Theologie«5 gesprochen, ja diese gar als den »Angstgegner«6 der Praktischen Theologie ausgemacht.7 Es nimmt nicht wunder, dass der Dialektischen Theologie typologisch vielfach der Status eines überkommenen Paradigmas exklusiver Ausrichtung am Wort Gottes zugesprochen wird, das die neuere liberale Theologie mit ihrer Orientierung an der religiösen Lebenswelt des Menschen beerbt habe. Dementsprechend betonte und betont man seit ca. 1968 gerne ein erneuertes Verständnis Praktischer Theologie als Handlungswissenschaft und dann seit den 1980er Jahren als Ästhetik. Es habe das alte Paradigma abgelöst.8 Folglich fällt die Allokation von Aufmerksamkeit gegenüber Karl Barth als Praktischem Theologen gering aus.9 Ich möchte in diesem Beitrag weniger einen solchen »Paradigmenwechsel« thematisieren, geschweige denn mich den »Pathologien« theologischer Disziplinen hingeben, als vielmehr gleichsam intra- wie transdisziplinär nach dem Praktisch-Werden der christologischen Konzentration fragen. Dies soll anhand der Weihnachtsfeier geschehen, genauer gesagt: anhand der Art, wie Karl Barth und Rudolf Bultmann, der andere »große« Vertreter Dialektischer Theologie und christologischer Konzentration,10 Weihnachten feierten.11 Dass beide 5 Grözinger, Offenbarung und Praxis. 6 Ebd., 176. 7 Grözinger rekonstruiert drei Vorwürfe gegen die Dialektische Theologie (vgl. ebd., 177–180), mit denen er sich metakritisch auseinandersetzt (vgl. ebd., 190–193): den Vorwurf a) eines maßlosen Subjektivismus, b) einer permanenten und grundsätzlichen Verachtung der konkreten Wirklichkeit und c) eines notwendigen autoritären Grundzugs. 8 Vgl. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Buch- und Forschungsbericht. Fernerhin: Ders., Praktische Theologie und Ästhetik; ders., Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung. 9 Vgl. Möller, Karl Barth. 10 Lochman, Christus oder Prometheus, 99 f, stellt nicht zu Unrecht im Blick auf Barth fest: »Man kann mit gutem Recht sagen, daß es in unserer Zeit – und eigentlich im ganzen Zeitalter seit der Reformation – keinen Theologen gab, der das Programm einer christologischen Theologie so zielbewußt angepackt und verwirklicht hätte. Das ganze Lehrgebäude orthodoxer Theologie wurde rekonstruiert, jeder Stein beklopft und untersucht, aber auch in einen neuen, dynamischen Kontext, eben christologischen [sic!] gesetzt.« Lochman ergänzt aber sofort, dass Barth keineswegs ein Einzelgänger geblieben sei, sondern auch Weggenossen gefunden habe, die eigene Wege gegangen seien, wie etwa Rudolf Bultmann (vgl. ebd., 100). 11 Mit Blick auf die Homiletik hat Rössler, Das Problem der Homiletik, problemgeschichtlich darauf hingewiesen, dass die Praktische Theologie nicht nur die homiletische Prinzipienfrage »Was ist eine Predigt?« bzw. »Was heißt predigen?«, sondern auch die praktisch-empirische Frage: »Wie macht man eine Predigt?« zu thematisieren hat. Nach Rössler wurde diese zweite Frage im 20. Jahrhundert mit Aufkommen der Dialektischen Theologie allerdings suspendiert, so dass sie opak blieb (vgl. ebd., 23.37 f ). Eine unreflektierte implizite Praktologie, die nicht theologisch, sondern kulturell imprägniert gewesen sei, habe Dialektische

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aufgrund der christologischen Konzentration Weihnachten als Christusfest feierten oder zumindest der Intention nach feiern wollten, dürfte wohl als ausgemacht gelten. Doch wie feiert man eigentlich ein »Christusfest« und im Speziellen Weihnachten als »Christusfest«? Mir geht es also weniger um theologische Disziplinen als vielmehr um theologische Disziplinierung, und zwar im Sinne der christologischen Konzentration, für die diese beiden Theologen stehen. Und – wer weiß? – vielleicht lassen sich so ja ein anderer Begriff und eine neue Konturierung genuin praktischer Theologie gewinnen, also gewissermaßen der christologischen Konzentration entwinden. Mit der Weihnachtsfeier, insbesondere dem familiären Weihnachtsfest, greife ich zugleich ein »Lieblingsthema« Praktischer Theologie auf. Christian Grethlein etwa exemplifiziert in seiner Praktischen Theologie die »Festreligion«12 anhand des Weihnachtsfestes. Er zeigt, wie »sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine im Kontext des Bürgertums als Leitmodell der Lebensführung stehende familiäre Form der Kommunikation des Evangeliums«13 herausbildete. Er würdigt diese Adaption der Kommunikation im Kontext des Bürgertums als einen »Höhepunkt«, bei dem »die kindertümliche Form der Festgestaltung und die damit verbundene Sentimentalität die kognitive Engführung verbaler Predigt«14 überwand. Zugleich moniert Grethlein aber auch, dass dabei »die kulturkritische Perspektive der Kommunikation des Evangeliums«15 eingezogen wurde. Das Brauchtum des Weihnachtsfestes könne indes »einen Anstoß zu einer Gefühl und Verstand umfassenden Kommunikation des Evangeliums geben.«16 Zur Profilierung des Weihnachtsfestes im 19. Jahrhundert17 bemerkt Grethlein: [H]ier entwickelte sich, bis heute reichend, eine spezifisch bürgerliche Festkultur. Kirchliche Tradition, öffentliche Feierkultur und familiäre Sitte verbanden sich in einmaliger Weise. Das ist gut an der gegenseitigen Adaption von Festinsignien zu erkennen. So wanderte der Weihnachtsbaum  – erstmals ikonographisch auf einem Kupferstich Lukas Cranachs (1505) nachgewiesen  – von öffentlichen Räumen wie Zunftzimmern im Laufe des 19. Jahrhunderts in die Wohnzimmer der Familien. Dabei gab der Kriegswinter 1870/71, in dem Bäume die Unterstände der deutschen Soldaten zierten, einen besonderen nationalen Impuls. Auch die Krippen, lange nur in Kirchen

Theologen (Rössler nennt u. a. Rudolf Bultmann und Otto Weber) geleitet. Einen wichtigen, entsprechender Vernachlässigung entgegenwirkenden Beitrag hat Bukowski, Predigt wahrnehmen, geleistet, der die Deutungsbestände der Dialektischen Theologie zur Beantwortung der praktisch-empirischen Frage nutzt. 12 Grethlein, Praktische Theologie, 291. 13 Ebd., 293. 14 Ebd., 296. 15 Ebd. 16 Ebd., 348. 17 Vgl. auch Wittekind, Die Entwicklung der Weihnachtsdichtung.

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und anderen öffentlichen Räumen aufgestellt, kamen in die Wohnstuben. Kristian Fechtner resümiert: »Weihnachten wird lebensweltlich privatisiert, verkleinert, gleichsam intimisiert.18

Um ein weiteres Beispiel aus der Praktischen Theologie zu nennen: Auch der Berner Praktische Theologe Maurice Baumann hebt die Bedeutsamkeit der Weihnachtsfeier als religiösem Ritual im Familienleben hervor: »Die Wichtigkeit und Bedeutung der gelebten Religion erachtet die Praktische Theologie […] als ein zentrales Thema ihrer wissenschaftlichen Reflexion.«19 Baumann unterscheidet vier Modelle der Verhältnisbestimmung von christlicher Theologie und weihnachtlicher Religiosität: Das Exklusiv-, das Defizit-, das Konvergenz- und das Apologiemodell.20 Versteht man das Weihnachtsfest als Artikulationsform von Religiosität,21 wie sie als Ritual im Familienleben angesiedelt ist, so wäre es interessant zu wissen, wie Barth und Bultmann Weihnachten gefeiert haben. Man könnte dann sozusagen »empirisch« erheben, welchem der genannten Modelle ihre Weihnachtspraxis faktisch zuzuordnen wäre. Denkbar wäre etwa ein empirisch unterfütterter Abgleich zwischen ihren Weihnachtstheologien, sprich: ihrem theologischen Weihnachtsverständnis, wie es etwa in ihren Weihnachtspredigten zutage tritt, und dem Familienritual bzw. der familiären Ritualisierung von Weihnachten. Anhand einer solchen Korrelation könnte man dann nach dem Praktisch-Werden ihrer Theologie fragen. Dies würde freilich voraussetzen, dass man genügend belastbare Informationen und Daten hätte. Maurice Baumann hat etwa mit Interviews aus drei Generationen in achtzehn Schweizer Familien sowie Befragungen von über 1.000 weiteren Familien gearbeitet. Er setzt dabei einen mehrdimensionalen Ritualbegriff voraus, der die Dimensionen Morphologie, Sinn, Akteurinnen und Akteure, Plastizität und Transzendenz umfasst. Er fragt 1. nach dem Szenario des Festes, also nach Sequenzen, Orten und Objekten, 2. nach Bedeutung und Wichtigkeit des Festes, d. h. nach Bestätigung, Identität, Werten und Tradierung des Rituals, 3. nach den Rollen der Teilnehmenden, konkret nach Worten, Interaktionen, Rollen, Gesten und Haltungen, 4. nach der Entwicklung des Festes hinsichtlich der Änderungen, Aktualisierungen, Adaptionen etc. und 5. nach der religiösen Dimension des Festes, d. h. Überzeugungen, symbolischen Handlungen und der Legitimationsinstanz.22 Baumann versteht Weihnachten als den Ort einer intergenerationellen Tradierung und Gestaltung persönlicher und familiärer 18 Grethlein, Praktische Theologie, 292 (Grethlein zitiert Fechtner, Im Rhythmus des Kirchenjahres, 68). Vgl. zum Weihnachtsbaum Hermelink, Weihnachtsgottesdienst, 290 f. 19 Baumann, Postmoderne Religiosität, 200. Fernerhin: Ders., Weihnachtsfeier. 20 Vgl. Baumann, Postmoderne Religiosität, 200 f. 21 Vgl. zur ratio disjunctionis zwischen Religion und Religiosität Schellong, Moderne Religiosität, 285–288. 22 Vgl. Baumann, Ritualisierung und Religiosität, 26.

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Religiosität, die sich nach seinem Verständnis auch dann ausprägt, wenn man wie Barth nach dem Gebrauch eines überdosierten Religionsbegriffs – salopp formuliert – das Bedürfnis hat, sich den Mund mit großen Mengen Seifenwasser auszuspülen. »Festreligion«, »Familienreligion« bzw. »Weihnachts-Christentum«23  – gibt es so etwas auch bei den christologisch Konzentrierten, also bei Barth und Bultmann? Barth bemerkt in einem Brief an Rudolf Bultmann am Heiligen Abend 1952: »Auf die Gefahr weiteren Kopfschüttelns und Unwillens hin will ich es immerhin wagen, Ihnen nur das Eine zuzuflüstern, daß ich insofern immer mehr Zinzendorfianer geworden bin, als mich im Neuen Testament immer mehr eigentlich gerade nur die Zentralfigur als solche – oder eben alles und jedes nur im Lichte und Zeichen dieser Zentralfigur – zu beschäftigen begann.«24 Dieses »magis« seiner theologischen Entwicklung bedarf nach Barth der gesteigerten Mitteilung an den einstigen Weggefährten, um ihr aktuelles Verhältnis zu klären. Fragt man, was beide, Barth und Bultmann, verbindet,25 so darf die These kurz und bündig lauten: Weihnachten! Und zwar aufgrund der gemeinsamen christologischen Konzentration  – und diese kristallisierte sich bereits recht früh auf ihrem gemeinsamen Weg heraus. Bultmann bedankt sich am Dreikönigstag 1927 bei Barth für die Zusendung seiner Weihnachtshomilie Die Fleischwerdung des Wortes26: »Da ich mich wirklich ganz eins mit Ihnen weiß in dem, was Sie zu Weihnachten sagen, sehe ich nicht, wo für Sie eigentl. der Anstoß meines ›Jesus‹ [gemeint ist Bultmanns 1926 erschienenes Buch Jesus27, M. H.] liegt.«28 Im Blick auf Bultmann dürfte von besonderem Belang sein, dass sich sein berühmtes »Entmythologisierungsprogramm« an Weihnachten entzündete. Als Bultmann 1941 seinen berühmten Entmythologisierungsvortrag in Alpirsbach hielt,29 geschah dies auf dem Hintergrund einer enttäuschten Weihnachtspredigt-Erfahrung. Bultmann deutete dies 23 Vgl. Morgenroth, Weihnachts-Christentum. Fernerhin: Steck, En miniature, 300. 24 Barth  – Rudolf Bultmann, Briefwechsel, 199. Zu Barth und Zinzendorf vgl. Busch, Hochverehrter Herr Graf. 25 Zum Verhältnis von Barth und Bultmann vgl. Chalamet, Dialectical Theologians; Dembowski, Barth – Bultmann – Bonhoeffer; Fangmeier, Erziehung in Zeugenschaft, 258–267; Gestrich, Neuzeitliches Denken, 263–295; Jaspert, Karl Barth und Rudolf Bultmann; Hammann, Karl Barth und Rudolf Bultmann; ders., Barth und Bultmann; Schmithals, Existenz und Sein; Kreck, Grundentscheidungen in Karl Barths Dogmatik, 52–62.134–147.226 f; Stoevesandt, Basel – Marburg; Tegtmeier, Enthistorisierung der Christologie; Weinrich, Karl Barth, 445–449. 26 Barth, Die Fleischwerdung des Wortes (= Barth, Predigten 1921–1935, 543–550). 27 Bultmann, Jesus. 28 Barth – Bultmann, Briefwechsel, 66 f. 29 Vgl. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Vgl. dazu die Replik von Schniewind, Antwort an Rudolf Bultmann. Darauf wiederum die Replik Bultmann, Zu J. Schniewinds Thesen, das Problem der Entmythologisierung betreffend.

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Anfang Januar 1941 in seinem Gruß an die im Felde stehenden Marburger Studenten an. Er hatte Weihnachten eine Predigt gehört, die er dogmatisch korrekt und von der Form her gelungen fand. Gleichwohl war er »tief enttäuscht und deprimiert« aus dem Weihnachtsgottesdienst nach Hause gegangen. Denn der Prediger hatte es nicht vermocht, »das Evangelium so in die Sprache der Gegenwart« zu übersetzen, daß der Hörer es als eine ihn angehende Botschaft wahrnehmen konnte. Vor diesem Hintergrund beschrieb Bultmann in seinem Alpirsbacher Vortrag zunächst das Problem und die Aufgabe der Entmythologisierung des neutestamentlichen Kerygmas. Nicht nur das Weltbild des Neuen Testaments, auch seine Darstellung des Heilsgeschehens ist mythisch.30

Um nochmals auf das Verhältnis von Bultmann zu Barth und meine These zurückzukommen: Es dürfte ebenfalls kein Zufall sein, dass Barth die berühmte Parabel vom Walfisch und vom Elefanten, die das Verhältnis zwischen beiden theologischen Schwergewichten umschreibt, in einem an Bultmann adressierten Weihnachtsbrief 1952 schilderte. Es ist nämlich, um die These zu wiederholen, die Weihnachtsthematik und die mit ihr einhergehende »christologische Konzentration«, die das einigende Band zwischen Barth und Bultmann bildet und ihre unterschiedlichen Theologien gleichwohl als affin ausweist. Dieses übergreift sozusagen die Elemente der Natur: Ist Ihnen klar, wie wir dran sind – Sie und ich? Mir kommt es vor: wie ein Walfisch […] und ein Elephant, die sich an irgendeinem ozeanischen Gestade in grenzenlosem Erstaunen begegneten. Vergeblich, daß der Eine seinen Wasserstrahl haushoch emporschickt. Vergeblich, daß der Andere bald freundlich, bald drohend mit seinem Rüssel winkt. Es fehlt ihnen an einem gemeinsamen Schlüssel zu dem, was sie sich, ein Jeder von seinem Element aus und Jeder in seiner Sprache, offenbar noch so gern sagen möchten. Rätsel der Schöpfung, dessen Auflösung im Eschaton ich mir wie Bonhoeffer auf der Linie »Ich bringe Alles wieder« des Weihnachtsliedes vorstellen möchte!31

Wiederum schließt also die Parabel mit einer Anspielung auf Weihnachten, diesmal: das Weihnachtslied Paul Gerhardts »Fröhlich soll mein Herze springen«.32 Und Barth schließt diesen langen Brief an Bultmann, indem er noch einmal auf ihr gemeinsames Thema zu sprechen kommt und dann abbricht: »Aber nun läuten draußen schon die Weihnachtsglocken, und ich will abbrechen. Man deutet mir an, daß das Christkind eine ganze Menge weiterer Mozartplatten für mich bereit halte. Wenn sie wieder einmal nach Basel kommen, so möchte es sein, daß wir vor oder nach der Sitzung in jenem kleinen Wirtshaus einige davon gemeinsam hören.«33

30 31 32 33

Hammann, Rudolf Bultmann, 309. Barth – Bultmann, Briefwechsel, 196. Vgl. auch Hübner, Der Walfisch. EG 36. Barth – Bultmann, Briefwechsel, 201.

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Vom Praktisch-Werden der Christozentrik

2.

Vom Praktisch-Werden der Christologie. Wie Barth und Bultmann Weihnachten feierten

2.1

Wie feierte Karl Barth Weihnachten?

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Ein methodisches Problem besteht nun darin, dass wir vor allem zu den Weihnachtsfeiern im Hause Barth nur wenige belastbare Informationen besitzen. Hinzu kommt noch, dass dort, wie wir spätestens seit der neuen Barth-Biographie von Christiane Tietz wissen,34 die Verhältnisse keineswegs spannungsfrei waren, wobei etwa die Spannungen, die aus dem Liebesverhältnis Barths nicht nur zu seiner Frau Nelly, sondern auch zu Charlotte von Kirschbaum resultierten, in der Nachkriegszeit bzw. im Alter nachließen.35 All dies würde indes die Frage nach der rituellen Inszenierung des Weihnachtsfestes in Verbindung zur Familie mit ihren Brüchen, ihren traurigen und schwierigen, aber auch lustigen und erfreulichen Erlebnissen besonders reizvoll machen. Allein, wir wissen hier zu wenig, oder besser: ich konnte hier im Sinne der »oral history« nicht viel herausfinden, wenngleich ich mehrere Personen aus dem Umfeld Barths schriftlich dazu befragt habe. Das wenige, was ich herausfinden konnte, möchte ich trotz dieser eingestandenen Verlegenheit im Folgenden zur Sprache bringen. Ergänzen werde ich es methodisch nicht mit einer Untersuchung von Weihnachtspredigten Barths und Bultmanns, die an sich sicherlich auch ein lohnendes, wenngleich sehr aufwändiges und hier gewiss nicht zu leistendes Unterfangen wäre, sondern indem ich biographische Informationen, die die Feier des Weihnachtsfestes betreffen, mit einer theologischen Interpretation derjenigen Zeitungsartikel kombiniere, die Barth und Bultmann als biblische Betrachtungen anlässlich besagten Festes verfasst haben. Dieses Genre hat, allein schon was die Überschaubarkeit und quellentechnische Erschlossenheit des Materials angeht,36 unbestreitbare pragmatische Vorzüge. Nach dieser methodischen Vorbemerkung komme ich nun zu meiner Befragung des Umfeldes Barths. Eberhard Busch, Barths letzter persönlicher Assistent, schrieb mir auf meine Frage hin, wie Barth Weihnachten gefeiert habe: Lieber Marco, ja. Ich vermute, dass da bei Barth nicht viel zu holen ist. Möglich, dass Barth in seiner deutschen Zeit, an Weihnachten Studenten eingeladen hat. Aber in meiner Zeit spielte private Feier der W. keine besondere Rolle. Ohnehin war auch in meinen Pfarrerjahren am 24.12. kein Gottesdienst oder dergl., sondern die Läden waren bis abends offen und meine Frau ging noch abends um 19 Uhr einkaufen. Am 25. gab es dann einen Gottesdienst und B. wird dann wohl in der Strafanstalt gepredigt haben. Der 26. galt als nicht-kirchlicher Feiertag »für Arbeit in Feld und Wald«, wie das hieß. In meinem Tagebuch steht zum 30.12.67, dass er Adventskränze für eine heidnische deutsche Sitte hielt, so wohl auch und erst recht Weihnachtsbäume und zu-

34 Vgl. Tietz, Karl Barth, 187–205. 35 So der Barth-Enkel Max Zellweger an den Autor in seiner E-Mail vom 18. Februar 2019. 36 Vgl. Barth, Predigten 1921–1935, 533–648; Bultmann, Glauben und Verstehen.

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mal Kerzen. Das liegt auf der Linie der reform.[ierten] Tradition. Was sich sagen lässt, ist, dass B. des Advents und der Weihnacht mit Predigten und Andachten gedacht hat. Herzlich, Dein Eberhard.37

Die Adventskranz-Geschichte,38 auf die Busch anspielt, ist sehr unterhaltsam. In seinen Tagebuchaufzeichnungen ist zu lesen: Ich erzählte Barth, wie noch vor Weihnachten, als ich krank im Bett lag, binnen kurzem in unserem soeben vom Vermieter frisch renovierten Wohnzimmer ein heftiger Brand gewütet und üblen Schaden angerichtet hatte. Das kam daher, dass die brennenden Kerzen eines unbeaufsichtigten Adventskranzes heruntergebrannt waren und dann die Tischdecke, auf der er lag, dann teils den Holztisch selbst, dann den Vorhang, in dessen Nähe sich das abspielte, angezündet hatten. Ein Lehrer, der gegenüber auf dem zugefrorenen Bottminger Schlossweiher mit seiner Klasse Schlittschuh fuhr, hatte es wahrgenommen und gleich die Feuerwehr avisiert. Unterdes hatte ich das Übel auch schon bemerkt und den Brandherd tatsächlich gelöscht mit dem mir nächstgreifbaren Hilfsapparat: einem Topf voll Nudelwasser und stand so und in der Unterhose da, als die Feuerwehr eintraf. Barth lachte über diese dramatische Story so ansteckend, dass schließlich auch ich mitlachen musste; und er bemerkte: »Lieber Herr Busch, das kommt davon, wenn man so heidnische Sitten aus Deutschland in die Schweiz importieren will wie das Ritual von Adventskränzen!« Ich sagte: ja, ich bin nun gründlich davon geheilt.39

Bei Grethlein lässt sich nachlesen, dass das Weihnachtsfest tatsächlich heidnische Wurzeln hat, die »ins 4. Jahrhundert nach Rom zurück[reichen], wo der 25. Dezember als Natalis Solis Invicti [Fest des unbesiegten Sonnengottes, M. H.] gefeiert wurde; daneben finden sich weitere heidnische Traditionen, die in dieses Fest einflossen. So verbanden sich unterschiedliche Motive, die die Festliturgie prägten: [a] vom wahrscheinlichen religionsgeschichtlichen Ursprung her die Bedeutung von Sonne und Licht; [b] vom biblischen Inhalt her der Bezug zum Geburtstag, teilweise verbunden mit dem Taufmotiv; [c] vom Termin her die Verortung im Dunkeln.«40 Dieter Zellweger, Enkel Karl Barths, den ich neben Busch ebenfalls danach befragte, wie sein Großvater Weihnachten gefeiert habe, schrieb mir zurück: Lieber Herr Hofheinz, fast wäre Ihr Mail unbeantwortet geblieben, tut mir leid. Tatsächlich erinnere ich mich nur an die Weihnachtsfeier, die wir im grösseren Kreis der Familie ein paar Tage nach dem 24. Dez. feierten, an der Pilgerstrasse und auf dem Bruderholz. Meine Eltern, ich und meine Geschwister, Hans Jakob und Renate und ihre Töchter, und selten – wenn

37 E-Mail vom 13. September 2017. 38 Zum Adventskranz vgl. Bieritz, Das Kirchenjahr, 128 f; Hermelink, Weihnachtsgottesdienst, 292. 39 Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 515. 40 Grethlein, Praktische Theologie, 292 (zit. wird Grethlein, Grundfragen der Liturgik, 251). Vgl. auch Bieritz, Das Kirchenjahr, 108 f; Hermelink, Weihnachtsgottesdienst, 282–284.

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auf Heimaturlaub  – die Familien von Markus oder Christoph, und manchmal war noch ein Besuch dabei. Sehr wichtig war da der gemeinsame Gesang, am Klavier begleitet von Renate oder meiner Mutter. Manchmal noch eine biblische Lesung. Und dann wurde viel musiziert, und die Grosskinder spielten vor. Es hatte keinen Weihnachtsbaum, und Geschenke wurden nur zwischen Grosseltern und Enkelkindern ausgetauscht. Meine Mutter hat meiner Grossmutter oft schon vorher geholfen, weil diese im Alter durch grössere Einladungen in Aufregung geriet. Mein Grossvater war locker und humorvoll, und es war für ihn wohl entspannter als der Heilige Abend im kleinen Kreise. Weder ich noch meine Geschwister wissen mehr, wie Weihnachten am Heiligen Abend bei den Grosseltern gefeiert wurde. Ich denke nur, dass gewiss Mozart erklungen ist. Mit freundlichem Gruss Dieter Zellweger41

Festhalten lässt sich zunächst: Auch Barth kennt das Weihnachtsbrauchtum durchaus  – »mit Weihnachtsliedern, Weihnachtslichtern, Weihnachtsgeschenken«.42 Das alles hat er nicht kategorisch und apodiktisch abgelehnt. Er warnt aber, wie es in seiner berühmten, auf Tonband veröffentlichten Weihnachtspredigt Aber seid getrost (1963)43 heißt: »Sehen wir wohl zu, liebe Brüder: unser ganzes Weihnachtswesen könnte unehrlich, könnte eine große Einbildung sein, wenn wir das nicht auch hören wollten: In der Welt habt ihr Angst.«44 Hier wird Barths kritische Haltung erkennbar, was die kulturelle Imprägnierung des Weihnachtsfestes betrifft. Zweierlei fällt dabei auf: 1. Barth redet inklusiv von »unserem ganzen Weihnachtswesen«, schließt sich selbst also nicht un(selbst)kritisch aus. Auch er partizipiert – wenn man so will – an dem neuzeitlichen Kulturchristentum. 2. Barth identifiziert das Weihnachtschristentum nicht einfach als Götzendienst bzw. Verstoß gegen das erste Gebot, aber er benennt doch im Konjunktiv (II) dessen Potentialität, als deren Indikator er wiederum das Verschweigen von Angst im Sinne von Joh 16,33 anführt: »In der Welt habt ihr Angst«. Überliefert ist ein Weihnachtswunschzettel vom 2. Dezember 1899, auf dem sich der 13-jährige Barth, neben einer Schillerbüste, Bleisoldaten und drei Büchern, zwei militärhistorischen Studien und Schillers Die Räuber, ein »Velo« (Fahrrad) wünscht, aber hinzufügt: »Ich weiß zwar, daß ich das doch nicht bekomme«.45 Auch hatte Barth durchaus Sinn für das Familienleben, wie in der Biographie von Christiane Tietz an verschiedenen Stellen zu lesen ist.46 Barth liebte es, große Weihnachtsgeschenke zu machen – vor allem in 41 E-Mail vom 28. September 2018. 42 Barth, Aber seid getrost, 244. 43 Der gesprochene Wortlaut der Predigt in Barth, Aber seid getrost, 296–305 (wieder­ abgedruckt in: Landau, Gottes Sohn ist kommen, 130–138). Der Zeitungsartikel »Fürchtet euch nicht!« aus dem Jahr 1929 (in: Barth, Weihnacht, 29–34; Barth, Predigten 1921–1935, 580–585) präfiguriert diese berühmte Predigt. 44 Barth, Aber seid getrost, 244. 45 Kupisch, Karl Barth, 16 f. 46 Vgl. etwa Tietz, Karl Barth, 181.

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Gestalt von Büchern. So bekam Eduard Thurneysen beispielsweise an Weihnachten 1928 das vierbändige Handbuch der katholischen Dogmatik von Matthias Joseph Scheeben geschenkt.47 Auch ließ Barth sich gerne beschenken, an Weihnachten 1923 etwa von seinem Philosophenbruder Heinrich mit fünf dicken Bänden der Summa theologica des Thomas von Aquin.48 2.2

Wie feierte Rudolf Bultmann Weihnachten?

Bei Bultmann ist m.W. im Blick auf Selbstzeugnisse zu Weihnachten mehr zu holen als bei Barth. Das liegt daran, dass Bultmann einen ausführlichen sechsseitigen Brief an seine älteste Tochter Antje anlässlich des Weihnachtsfestes 1939 hinterlassen hat. Antje Bultmann-Lemke hatte soeben geheiratet und verbrachte Weihnachten erstmals nicht zu Hause. In diesem Brief schildert Bultmann ausführlich den Verlauf des Festes im intergenerationellen Zusammenhang eines religiös codierten Familienrituals: [D]en Kirchgang, die letzten Vorbereitungen im Haus, die festliche Kleidung aller Familienmitglieder, das Treffen im Zimmer der Mutter, das Vorlesen der Weihnachtsgeschichte, das Anzünden der Baumlichter und »dann – Du weißt es ja: das Glöckchen leutet! ›Ihr Kinderlein kommet!‹ ›O du fröhliche!‹ Und dabei umfing uns wieder Glanz und Duft des Weihnachtsbaumes, und wir waren sehr glücklich, wenngleich mit einem wehmütigen Gedanken an die fehlende Antje«. […] Es folgten Bescherung, erst unten, dann oben bei der Oma, das Abendessen, das wegen des Krieges bescheidener ausfiel als sonst, schließlich die Besichtigung der Geschenke. […] Der erste Weihnachtstag war dann mit Lesen, Singen und Musizieren ausgefüllt.49

Konrad Hammann, der Bultmann-Biograph, stellt zu Recht fest, dass die Bedeutung des Weihnachtsfestes als Familienritual bei Bultmanns kaum zu hoch eingeschätzt werden kann: »Alljährlicher Höhepunkt des Familienlebens war das Weihnachtsfest. Unter dem Christbaum der Bultmanns wurde nicht entmythologisiert, sondern wie in anderen Familien des akademischen Bildungsbürgertums gefeiert.«50 An anderer Stelle heißt es in der besagten Bultmann-Biographie: Wie in anderen bürgerlichen Familien war der Jahreskreis im Hause Bultmann durch die Geburtstage und die hohen christlichen Feste strukturiert. »Der ›Nikolaus‹, der am 6. Dezember [1921] erschien, machte den Kindern viel Freude; leider ließ er (es war einer meiner Studenten) das Tremendum zu sehr hinter dem Fascinosum zurücktreten,

47 Vgl. Barths Brief vom 21. Dezember 1928 an Thurneysen, in: Barth  – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 637.641. 48 Vgl. Barths Brief vom 30. Januar 1924, in: Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 217. Dazu: Freudenberg, Karl Barth und reformierte Theologie, 67–71; Nichtweiß, Erik Peterson, 505–512. 49 Hammann, Rudolf Bultmann, 333. 50 Ebd.

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und Antje behauptete am nächsten Tage, nur die Ermahnungen für Gesine gehört zu haben.« [So im Brief vom 21.12.1921 an Hans von Soden, M. H.] In der Bultmannschen Familienkultur kam dem Weihnachtsfest schon um der Kinder willen höchste Bedeutung zu. Den Maßstab aller Vorbereitungen und Geheimnisse, aller Freude und Gemeinschaft behielt das Oberhaupt der Familie fest im Blick: »Läßt man sich durch alle Not der Zeit auch die Familienfreude des Weihnachtsfestes nicht verkümmern, so wird man doch immer mehr seinen Sinn auf die eigentliche Bedeutung des Festes richten und sich freuen, daß man in diesen trübseligen Zeiten eine Welt des Lichtes besitzen darf. [So im Brief vom 23.12.1923 an Hans von Soden, M. H.]«51

An Götz Harbsmeier, seinen ehemaligen Assistenten, schrieb Bultmann Weihnachten 1945: Das erste Friedensweihnachten! Trotz aller Not, spürbar im eigenen Hause, bedrängender noch rings um uns, sind wir doch dankbar, daß die Last, die in den vergangenen 12 Jahren u. be[sonders] in den letzten 6 Jahren auf uns lag, von uns genommen wurde. Und muß auch Weihnachten des äußeren Glanzes noch mehr entbehren als in den letzten Jahren, so wird sein eschatologischer Sinn umso deutlicher werden. Schade freilich, daß dieser Sinn nicht auch in Glanz u. Gaben seinen Ausdruck finden kann! Wie gerne hätten wir Ihnen für die Kinder ein Paket geschickt! Aber »woher nehmen u. nicht stehlen?« – wie meine Mutter in solchen Fällen zu sagen pflegte.52

3.

»Warum entzünden wir an Weihnachten Kerzen?« – Rudolf Bultmanns Verständnis von Weihnachten

Möchte man wissen, wie Bultmann Weihnachten verstanden hat, wird man zwei Zeitungsartikel aus späteren Jahren, nämlich von 195353 und 196454, heranziehen dürfen, die er für die Neue Zürcher Zeitung und die Süddeutsche Zeitung verfasste. In beiden ist er darum bemüht, die Weihnachtsbotschaft allgemeinverständlich für eine breite Leserschaft zu entfalten. In diesen kurzen Texten fällt die Zentralität der Lichtmetaphorik auf. Es wäre allerdings abwegig zu behaupten, dass es Bultmann an Weihnachten nur um ein allgemeines »Lichtfest« ging. Dieses muss gerade entmythologisiert werden. Bultmann fragt ganz im Sinne seines Entmythologisierungsprogramms nach dem gründenden Dahinter, dem »Eigentlichen« und benennt damit den Ausgangspunkt seiner Überlegungen: »Warum entzünden wir an Weihnachten Kerzen und freuen uns ihres Glanzes?«55 In dem zweiten Text (1964) variiert Bultmann die Ausgangsfrage zu der titelgebenden Frage: »Was ist der Sinn

51 Hammann, Rudolf Bultmann, 248. 52 Brief Rudolf Bultmanns an Götz Harbsmeier vom 23.12.1945, in: Bultmann, Briefwechsel, 132–133, 132. 53 Bultmann, Weihnachten. 54 Bultmann, Sinn. 55 Bultmann, Weihnachten, 76.

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unseres Weihnachtsfestes heute?«56 bzw. »Was […] ist das Eigentümliche der christlichen Weihnachtsfeier?«57 Christologische Konzentration meint im Sinne Bultmanns genau so zu fragen und dabei die Vordergründigkeit des Kerzenglanzes zu durchbrechen. Direkt zu Beginn seiner Ausführungen macht Bultmann klar, dass es um mehr als »Brauchtum« geht: »Welches auch die historischen Gründe sein mögen, auf die dieser Brauch zurückgeht, für uns sind sie nicht mehr wirksam. Aber ist damit der Glanz der Weihnachtslichter nur zu einem festlichen Schmuck geworden, wie er zur frommen Stimmung festlicher Tage gehört? Ist er uns lieb, weil in seinem Schein Erinnerungen wach werden, Erinnerungen bis in die Tage der Kindheit, wehmütig und beglückend zugleich? Gewiß wird es so sein.«58 Bultmann bestreitet die Bedeutsamkeit von Brauchtum, (Kindheits-)Erinnerungen und festlicher Stimmung nicht, die in ihrer Ambivalenz zwischen Wehmut und Glück oszillieren. Er stellt sie aber im Lichte des einzig Entscheidenden in Frage. Deutlich wird hier Bultmanns Intention, die Fassade dieser Äußerlichkeiten zu durchbrechen, um zum Kern von Weihnachten vorzustoßen, zum Existentialen. Bultmann zögert nicht lange, sondern bringt die Antwort auf die Ausgangsfrage direkt zur Sprache: »Die Antwort liegt nicht fern; die Lichter, die wir anzünden, sind ein Symbol des Lichtes, von dem es heißt: ›Das ewige Licht geht da herein, / gibt der Welt einen neuen Schein. / Es leucht’ wohl mitten in der Nacht / und uns des Lichtes Kinder macht.‹«59 Bultmann leiht sich Worte Martin Luthers, und zwar aus der 4. Strophe seines Weihnachtsliedes »Gelobet seist du, Jesu Christ« (1524).60 Die Worte Luthers bedienen sich ihrerseits biblischer, vor allem johanneischer Sprache, allzumal in Gestalt der signifikanten Lichtmetaphorik, wie sie für die johanneische Theologie einschlägig ist. Diese Metaphorik greift Bultmann auf, zugleich die 4. Strophe des Luther-Liedes interpretierend, und lässt sie durchgängig den weiteren gedanklichen Verlauf seiner Ausführungen prägen. Zunächst spitzt Bultmann seine Antwort kerygmatheologisch zu, indem er die Symbolik gleichsam dechiffriert, sie von vordergründigen ästhetischen und emotionalen Ansprüchen auf Eigentlichkeit befreit und das Symbol als »ein uns anredendes Wort«61 identifiziert. Sodann greift Bultmann, weiterhin im Bann der Lichtmetaphorik stehend, das Kontrastschema von hell / dunkel auf und kontrastiert das helle Licht und die dunkle Welt. Zugleich bedient sich Bultmann, auch hier johanneisch unterwegs, des Schemas von Zeit und 56 Bultmann, Sinn, 138. 57 Ebd. 58 Bultmann, Weihnachten, 76. 59 Ebd. 60 EG 23,4. 61 Bultmann, Weihnachten, 76. Vgl. zu Bultmanns Verständnis des Wortes Gottes Körtner, Theologie des Wortes, 35–40. Ungleich kritischer als Körtner urteilt: Bayer, Theologie, 428–432.452 f.475–484.

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Ewigkeit, indem er das ewige Licht der dunklen Welt als einer zeitlichen, vergehenden gegenüberstellt. Diese Welt sei aktuell zwar nicht von einer Daseinsunsicherheit wie noch in den Weltkriegen erschüttert, zumindest nicht in den von deren Folgen nicht unmittelbar betroffenen Gebieten der Schweiz. Dennoch lasse sie in ihrer Unheimlichkeit, für die die Entwicklung der (Atom­ waffen-)Technik mit ihrer dämonischen Macht sowie das Getriebe der modernen Arbeitswelt stehe, etwas von dem »Wesen der Welt zu allen Zeiten«62 erkennen. Bultmann identifiziert einen »reißenden Zug einer besessenen Zeit«.63 Dies mache ihre Signatur aus. Doch weder der Blick in die Welt noch der Blick in uns selbst könne uns den Anblick des »ewigen Lichtes« und damit des Geheimnisses der Weihnacht gewähren. Das Licht sei – wie das Luther-Lied verrate – darin Licht, dass es uns zu seinen Kindern macht. Hier wird zweierlei deutlich: zum einen die soteriologische Pointierung der Christologie Bultmanns in Gestalt der Weihnachtsbotschaft – es geht an Weihnachten um uns und unser Heil64 – und damit einhergehend zum anderen die anthropologische Dimensionierung seiner Theologie: »[W]ill man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden.«65 So betonte bereits der junge Bultmann, der damit den Sinn der Rede von Gott unterstrich. Es zeigt sich hier, in der Befürwortung der indirekten Rede von Gott, die Scheu Bultmanns, »vom deus dicens direkt und nicht im Spiegel des homo recipiens zu reden«.66 Man hat dies als eine Metaphysik in subjektphilosophischer, genauer noch: existentialphilosophischer Fassung identifiziert.67 Daneben wird auch der präsentische Zug der Eschatologie Bultmanns deutlich. So betont Bultmann: »Ja, es ist schon richtig: Wir sind des Lichtes Kinder. Wir sind es, weil das Licht göttlicher Liebe und Gnade, das in der Geburt Jesu Christi für die Welt aufgestrahlt ist, immer für uns alle leuchtet. Wir sind es, und zwar sind wir es als die, als die wir – unser eigent­ 62 Bultmann, Weihnachten, 77. Dort kursiv. 63 Ebd., 78. 64 Darin erweist sich Bultmann nicht zuletzt als Schüler Wilhelm Herrmanns, Die Wirklichkeit Gottes, 314, der pointierte: »Von Gott können wir nur sagen, was er an uns tut.« Bayer, Theologie, 452 f, wirft dagegen die grundsätzliche Frage auf, »ob sich theologische Besinnung primär auf die Wirkung der Verkündigung im glaubenden Subjekt richtet, ob sie vom ›Glaubensinhalt‹ zurück zum Glaubensgrund (Wilhelm Herrmann), von der sekundären theologischen Explikation des glaubenden Selbstverständnisses auf dieses selbst (Bultmann) geht, oder ob sie primär von der Sprachhandlung her auf diese zugeht, mit ihr den Glaubensgrund selbst wahrnimmt und sie sehr wohl von der theologischen Reflexion unterscheidet.« Barth, der diese Anfrage an Bultmann sicherlich teilt, würde indes – anders als Bayer – vermutlich nicht eng- und zugleich weitgeführt von einer »Sprachhandlung«, sondern von der Selbsterschließung Gottes reden, und zwar im Sinne des Grund-Satzes: »Gott wird nur durch Gott erkannt« (KD II/1, 200). 65 Bultmann, Sinn, 28. Vgl. ders., Theologie des Neuen Testaments, 192: »Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt.« 66 Bayer, Theologie, 475. 67 So etwa ebd., 476.

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liches Ich – vor Gottes Augen im Lichte seiner Gnade dastehen.«68 Neben dem präsentischen und indikativischen »sind« liegt der Akzent der Bultmann’schen Diktion hier wie anderswo auf dem »eigentlich«. Insbesondere am hervorstechenden »Jargon der Eigentlichkeit« wird – mit Theodor W.  Adorno69 gesprochen  – die existentialphilosophische Imprägnierung der Gedanken Bultmanns erkennbar,70 für die Martin Heidegger Pate steht.71 Im Blick auf das Familienritual des Weihnachtsfestes bricht der »Jargon der Eigentlichkeit« dann durch, wenn Bultmann seiner Tochter Antje in humorvoll-selbstironischer Weise Dank für die Zigarren abstattet und dies mit einem Zitat aus dem Tagebuch des Grafen Yorck tut, das mutatis mutandis auch auf ihn selbst zutrifft: »Im Besitze meines Tabaks und somit ganz bei mir …«72 Mit den Mitteln des »Jargons der Eigentlichkeit« hebt Bultmann die Verborgenheit des eigentlichen Seins des Menschen als homo absconditus hervor: »Wir dürfen glauben, daß unser eigentliches Leben uns selbst verborgen ist. Wir sind wohl schon ›Kinder Gottes‹, aber ›es ward noch nicht offenbar, was wir sein werden‹ (1. Joh. 3,2).«73 Mit dieser Aussage öffnet sich die Eschatologie auf ihre futurische Dimension hin. In seinem Kommentar zu den Johannesbriefen schreibt Bultmann explizit: »[D]ie Gotteskindschaft ist Gegenwart: nūn […] esmen, findet aber ihre Erfüllung in der Zukunft«.74 Das eigentliche Sein, das wahre Sein wird erst in der Zukunft offenbar, die vom eschatologischen Geschehen umfasst ist. Im zweiten Text kann Bultmann das Eigentümliche der christlichen Weihnachtsfeier als ein »eschatologisches« Ereignis bestimmen.75 Das Entscheidende geschieht freilich in der Gegenwart, in dem Ereignis der Anrede und des Getroffen-Werdens, also nach der Vorstellung Bultmanns in der Predigt. Es geht um das Hören der Weihnachtsbotschaft, um die fides ex auditu (Röm 10,17) und damit um das Kerygma: »Wir können es uns nicht selbst sagen, sondern es uns nur sagen lassen, es hören. Das ist die Weihnachtsbotschaft, das Wort, das Jesus Christus spricht, das Wort, das er selbst ist. Wir sind 68 Bultmann, Weihnachten, 78. 69 Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. 70 Vgl. Bultmann, Anknüpfung und Widerspruch, 120: »Die den Menschen, der er selbst sein will und der sein Selbst verloren hat, bewegende Frage nach seiner Eigentlichkeit ist der Anknüpfungspunkt für Gottes Wort.« 71 Gadamer, Wahrheit und Methode, 481, bemerkt: »Wenn er [Barth, M. H.] sich mit Rudolf Bultmann und seiner These der Entmythologisierung des Neuen Testaments wenig befreunden kann, so trennt ihn nicht das sachliche Anliegen, sondern es ist, wie mir scheint, die Verknüpfung historisch-kritischer Forschung mit theologischer Exegese und die Anlehnung der methodischen Selbstbesinnung an die Philosophie (Heidegger), was Barth verhindert, sich in Bultmanns Verfahrensweise wiederzuerkennen.« 72 Zit. nach Hammann, Rudolf Bultmann, 333. Vgl. KD III/2, 96. 73 Bultmann, Weihnachten, 79. 74 Bultmann, Die Johannesbriefe, 53. 75 Vgl. Bultmann, Sinn, 138.

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nicht die, die wir zu sein scheinen, zu sein meinen. Wir sind die, die wir im Lichte der Gnade Gottes sind. Wir sind, was wir hier und jetzt nie sind, aber das, was wir hier und jetzt nie sind, gerade das ist unser eigentliches Sein. Das ist die Weihnachtsbotschaft, das ist der Weihnachtsglaube.«76 Es geht – mit anderen Worten – um unser rechtes Selbstverständnis. Weihnachten ist »als Kerygma nur verständlich, wenn das durch es geweckte Selbstverständnis als eine Möglichkeit menschlichen Selbstverständnisses verstanden«77 werden kann. Das sei aber der Fall, weil es an Weihnachten um das Existentiale, um unser eigentliches Sein gehe. Es manifestiert sich hier – wie wir merken – nichts anderes als eine existentiale Interpretation von Weihnachten. Ihre Kehrseite ist das Entmythologisierungsprogramm – auch und gerade bezogen auf die Weihnachtsbotschaft. Mythos meint ja bei Bultmann, wie es im Alpirsbacher Vortrag heißt, diejenigen »objektivierenden Vorstellungen«78, die mein wahres Selbstsein gerade nicht ausmachen.79 4.

»… gibt der Welt ein neuen Schein« – Karl Barths Verständnis von Weihnachten

Wie Bultmann schrieb auch Barth allgemeinverständliche Weihnachtsartikel, in den Jahren 1926 bis 1932 sogar alljährlich für die Münchner Neuesten Nachrichten. Sieben Artikel erschienen, vermehrt durch zwei weitere aus dem Jahr 1933, gesammelt in dem Bändchen Weihnacht.80 Lesenswert sind sie alle. Für einen Vergleich mit Bultmanns Ausführungen eignet sich besonders der Artikel aus dem Jahr 1931, der unter dem Titel … gibt der Welt ein neuen Schein erschien.81 Denn Barth widmet sich hier – wie Bultmann – der Interpretation der vierten Strophe von Luthers, nach dem Urteil Barths, »schönstem Weihnachtslied«.82 Die eröffnende Frage Barths lautet nicht wie bei Bultmann, warum wir an Weihnachten Kerzen anzünden, sondern: »Was bedeutet es für einen deutschen Menschen im Jahr 1931, die Weihnachtsbotschaft zu hören?«83 Wer so fragt, intendiert eine Kontextualisierung. Überraschenderweise verbietet sich Barth jedoch bewusst eine vorgängige Kontextbestimmung, auf deren Hintergrund er die Weihnachtbotschaft entfalten könnte. Barth lässt sich dies verboten sein, und zwar aus einem zweifachen Grund: zum einen weil er befürchtet, dass damit die Weihnachtsbotschaft als Wort Gottes einer vorgefassten Philoso76 Bultmann, Weihnachten, 79. 77 Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 589 (Epilegomena). 78 Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 23.29. 79 Vgl. zum Mythologie-Verständnis Bultmanns Körtner, Arbeit am Mythos. 80 Vgl. Barth, Weihnacht. Vgl. ferner Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 637. 81 Barth, Weihnacht, 44–51 (im Folgenden zit. nach: Barth, Predigten 1921–1935, ­628–634). 82 Vgl. Barth, Predigten 1921–1935, 629. 83 Ebd., 628.

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phie, Weltanschauung, einem bestimmten moralischen System unterstellt und untergeordnet würde; zum anderen, weil der Kontext – Barth selbst spricht vom »Ort«84 – doch zunächst verborgen sei und der Entschlüsselung bedürfe.85 Ebenso wie Bultmann spricht sich Barth für das Hören aus und reiht sich damit gewissermaßen in die reformatorische Tradition der fides ex auditu ein. Freilich wird man fragen müssen, ob dies bei Barth in anderer Reihung als bei Bultmann geschieht, ob also bei Barth prius und posterius anders verteilt werden. Gewiss, auch bei Bultmann manifestiert sich keineswegs einfach eine Vorordnung des Kontextes und der Situation, in die hinein er redet. Das wäre zu simpel und würde Bultmann sicherlich nicht gerecht. Jedoch liefert das von Bultmann vorgeordnete Selbst- und Seinsverständnis zugleich die Brille für seine Wahrnehmung des Kontextes und der Situation. Bultmann schreibt für die Leserschaft der Weihnachtsausgabe der NZZ im Jahr 1953 und versucht deren Ort bzw. deren Situation im Sinne der existentialen Interpretation zu bestimmen. Hammann bemerkt dazu in seiner Bultmann-Biographie: Bultmann [spürte] in Zürich, daß den Schweizern die Erfahrung der beiden Weltkriege erspart geblieben war. Aber »das Gefühl der Sekurität wie der sich in Geschäften oder im Theater präsentierende Reichtum« kamen ihm »etwas unheimlich vor«. Indes konnte für ihn auch die äußere Saturiertheit des Lebens in der Schweiz nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade die Nachkriegszeit mit ihren »politischen und wirtschaftlichen Verwirrungen« jene »Unheimlichkeit und Dunkelheit der Welt« repräsentierte, die der Ausdruck einer strukturellen Diesseitsorientierung der menschlichen Existenz war. Dazu gehörten für ihn auch die Technik mit ihrer »dämonischen Macht« und die Arbeitswelt, die die »von ihnen besessenen Menschen« nicht in die Eigentlichkeit ihres Daseins gelangen ließ.86

Auf dem Hintergrund dieser Kontextbestimmung legt Bultmann das Symbol des Lichtes, wie wir gesehen haben, anhand der vierten Strophe von Luthers Choral aus. Anders Barth, der zwar auch diese Strophe aufgreift, aber deutlich macht, dass es um die Betrachtung der Welt im Lichte des neuen Scheins geht, von dem Luther redet. Es geht – wie Barth betont – um ein »Nachsagen« des verstehen wollenden Glaubens (der fides quaerens intellectum), und zwar dem Wort Gottes hinterher. Man kann sich nach Barth nicht der Weihnachtsbotschaft bemächtigen, sie nicht auslegen und applizieren, »als ob sie irgendeine menschliche Weisheit wäre«.87 Man muss sich vorgängig an das Zeugnis der Heiligen Schriften als Bezeugung der Wirklichkeit der Weihnachtsbotschaft 84 Ebd. 85 Zu Barths Verständnis von Kontext vgl. Hofheinz, Er ist unser Friede, 68–72. 86 Hammann, Rudolf Bultmann, 393. Nach Bayer, Theologie, 193, läuft Bultmanns Betonung der existentiellen Entscheidung des je Einzelnen Gefahr, »vom sozialen und politischen Gesamtzusammenhang zu abstrahieren«. Hinsichtlich seines NZZ-Artikels wird man dies nicht einfach bestätigen können. 87 Barth, Predigten 1921–1935, 628.

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halten, als Bezeugung des Geheimnisses der Inkarnation: »[D]as Wort ward Fleisch [Joh 1,14], Gott ward unsereiner.«88 Dabei geht nach Barth, der als reformierter Theologe – anders als der Lutheraner Bultmann – differenztheologisch im Sinne des Extra-Calvinisticums denkt, das Wort nicht im Fleisch auf.89 Dementsprechend sind die Heiligen Schriften in einem analogen (und nicht univoken) Sinne als Wort Gottes zu verstehen, welches sie bezeugen: »[D]ie heiligen Schriften«, so Barth, sind »das Zeugnis derer, denen offenbar war, was uns zu glauben bleibt.«90 Barth kann sich gleichwohl auf Luther91 berufen: Er [Luther, M. H.] nannte den Glauben den »rechten Werkmeister« und hat den Glauben immer beschrieben als ein Sichklammern an das uns gegebene Wort im Zeugnis der heiligen Schriften. Wenn er recht hat, so wäre von dem, was die Weihnachtsbotschaft dem heutigen deutschen Menschen bedeuten könnte, vor allem dies so zu sagen, daß dieser Mensch glauben, d. h. daß von dorther, von diesem auch ihm jedenfalls nicht ganz unbekannten und unzugänglichen Zeugnis her seine Welt einen neuen Schein bekommen könnte.92

Das ist der entscheidende Richtungssinn: von diesem Zeugnis her erhält die Welt einen neuen Schein, der nach Barth Trost und Weisung bedeutet.93 Was sich hier in der Auslegung Barths manifestiert, ist m. E. nichts Geringeres als die Umkehrung der gängigen hermeneutischen Perspektive, für die Bultmann freilich nicht direkt, sondern nur indirekt, d. h. qua Vorordnung der existentialen Interpretation, dem Nadelöhr seiner Bibelauslegung, steht. Diese Umkehrung ist m. E. für jede Predigtarbeit entscheidend und benennt insofern eine homiletische Grundentscheidung, die man mit dem Begriff »Intratextualität« belegen kann. Was meint »Intratextualität«? Barth fragt nicht, wie die lange vergangene Welt der Bibel für das Heute nach entsprechender Kontextualisierung aktualisiert werden kann, sondern wie unsere Gegenwart im Lichte der biblischen Botschaft aussieht.94 In seinem Aargauer Konferenzvortrag Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke (1920) bemerkt Barth bereits unmittelbar zu Beginn: Was uns die Bibel an Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten hat, fragen wir. Diese Frage kehrt sich aber sofort um, richtet sich an uns selbst und lautet dann, ob und inwiefern wir denn in der Lage sind, uns die in der Bibel gebotene Erkenntnis zu eigen zu machen. […] Es kann sich ja eigentlich gar nicht fragen: Was bietet die Bibel? Sie hat schon geboten, unsre ganze Erkenntnis lebt von Erkenntnis Gottes. Wir sind nicht draußen, sondern drinnen.95 88 Ebd., 629. 89 Vgl. Hofheinz, Das gewisse Extra. 90 Barth, Predigten 1921–1935, 629. 91 Vgl. Luther, WA 6, 213,13 f, und ebd., 275,22 ff (Von den guten Werken, 1520). 92 Barth, Predigten 1921–1935, 629. 93 Vgl. ebd., 630. 94 Vgl. Hailer, Götzen, 62. 95 Barth, Biblische Fragen, 666 f; dazu: Weinrich, Die bescheidene Kompromisslosigkeit, 64–85.

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Dieses Drinnen-Sein bringt der terminus technicus »Intratextualität« auf den Begriff. Eberhard Jüngel hat von der »prävenienten Bewegung biblischer Urteilskraft«96 gesprochen. Mit dem amerikanischen Homiletiker Richard Lischer lässt sich feststellen: Barth »liest die Welt mit Hilfe der Bibel«.97 Friedrich Mildenberger spricht in seiner Kleinen Predigtlehre von der »Gemeinde im Text«.98 George A. Lindbeck bringt das, was Intratexualität meint, wie folgt auf den Punkt: »It is the text, so to speak, which absorbs the world, rather than the world the text.«99 Es geht also darum, der Fraglichkeit unserer Gegenwart, also auch der Fraglichkeit dessen, was wir an Weihnachten tun und lassen, im Lichte der biblischen Botschaft gewahr zu werden.100 Freilich ist damit keineswegs eine pauschale Kanzelschelte gemeint,101 die sich über Weihnachtsmärkte, das Harmoniemilieu sowie klein- oder auch großbürgerliche Idyllen mokiert. Es könnte ja sein, dass man dabei dessen nicht gewahr wird, wie stark milieubehaftet die eigenen Klischeebildungen ausfallen. Das Verhältnis des biblischen Textes und des »Textes des Festes«, zu dem sich die Geschichten, die Bräuche und die Menschen, von denen das Weihnachtsfest lebt, verbinden, ist demnach so zu bestimmen,102 dass der »Text des Festes« im Lichte des biblischen Textes gelesen wird. Vom biblischen Text her ist nach der »Konvergenz zwischen biblisch begründeter und außerkirchlicher Festgestaltung«103 zu fragen, so Manfred Josuttis. Die entscheidende Frage ist mithin die nach der Perspektive. Denn um die Wahrnehmung von Weihnachten als solche kommt niemand herum. Josuttis stellt zu Recht fest: »Niemand kann Weihnachten nicht feiern. Noch in der Abgrenzung und in der Opposition wäre er vom Festgeschehen geprägt. Weihnachten ist eine totale Institution in der Zeit.«104 Doch zurück zu Barth. In seinem Text findet sich ein weiterer Zentralgedanke, der noch zur Sprache gebracht werden muss – und zwar im Lichte der Weihnachtsbotschaft bzw. desjenigen, der der Welt (vermittelt über seine Zeugen) einen neuen Schein gibt. Dieser weitere Zentralgedanke rankt sich um das Unprinzipielle bzw. die »Bohnenstangen«105 unserer »Prinzipien, Welt96 Jüngel, Art. Barth, Karl, 258. 97 Lischer, Performing the Scriptures, 142. 98 Mildenberger, Kleine Predigtlehre, 156 (dort kursiv). 99 Lindbeck, The Nature of Doctrine, 118. 100 Vgl. Biehl, Manifestation, 122: »Die mit dem Symbol des Kindes ursprünglich verbundenen Symbole des Seins, der Liebe, Zärtlichkeit, des Vertrauens, sind durch die Symbole des Habens, des Konsumismus bei diesem Fest verdeckt. Auf der anderen Seite wird das Brauchtum im Sinne einer verharmlosenden Idyllisierung in Anspruch genommen. Durch Symbolund Ritualkritik sind die Ursprünge des Weihnachtsfestes erst wieder freizulegen.« 101 Vgl. Bukowski, Predigt wahrnehmen, 94–101; Bohren, Predigtlehre, 410 f. 102 Vgl. Bieritz, Ursprünge erinnern und fortschreiben, 8. 103 Josuttis, Weihnachten, 91. 104 Ebd., 88. 105 Kutter, Das Bilderbuch Gottes, 248.

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anschauungen, Überzeugungen«106, so Barth metaphorisch in Anlehnung an Hermann Kutter: [D]as ewige Licht, das im Stall zu Bethlehem in die Welt hereingegangen ist, ist jedenfalls, wenn das Zeugnis von ihm recht ist, die denkbar unprinzipiellste Wirklichkeit: daß Gott Mensch ward, das springt aus allen Systemen heraus, wie oft man auch versucht hat, es in ein solches einzubauen. Das ist weder natürlich, noch logisch, noch rechtlich, noch geschichtlich zu begründen, das ist wahr als das ewige Licht, das im Unterschied zu allen unseren Lichtern keiner Speisung und keines Leuchters bedarf. Das ist wahr als die uns widerfahrene Barmherzigkeit.107

Barth kommt dann auch auf die Gegenwart zu sprechen, und zwar die politische des Jahres 1931. Er bezieht sich auf die Weihnachtsansprache des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und implizit wohl auch auf die anstehende Reichspräsidentenwahl zur damaligen Zeit der sog. »Präsidialkabinette«, in der es Hitler zu verhindern galt. Barth sieht in dem »vorbehaltlosen Glaube[n] an allerhand Prinzipien […] die besondere deutsche Form des Unglaubens«.108 Die autoritären Prinzipienreiter links und rechts, die sich auf »Klasse« und »Volk« berufen109 – gemeint sind wohl einerseits die Kommunisten, die in der anstehenden Reichspräsidentenwahl mit ihrem KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann und für das Prinzip der klassenlosen Gesellschaft antraten, und andererseits die Nationalsozialisten mit Adolf Hitler, die aggressiv für das Prinzip der Herrschaft einer Rasse votierten. Gemeint sein könnte allerdings auch die »Prinzipienreiterei«, die im Jahr zuvor (1931) die Große Koalition unter Hermann Müller (Kabinett Müller II), das letzte Kabinett, das sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützen konnte, zum Sturz brachte. Es ging damals um die Kompromissverweigerung bei der Arbeitslosenversicherungsreform. Ist der Parlamentarismus an »Prinzipienreiterei« gescheitert? Barth versteigt sich zu keiner Auskunft. Er stellt aber die Hypothese im Sinne eines Gegenmittels (Antidot) auf: Der deutsche Mensch von heute, der dem Zeugnis der Heiligen Schrift glaubt, würde seine Prinzipien – seine »Bohnenstangen – gewiß nicht zerbrechen und wegwerfen, aber ihrem natürlichen Gebrauch zurückgeben. Er würde Furcht, Liebe und Vertrauen, die er jetzt an die Systeme verschwendet, dem schenken, dem sie allein gehören und der in kein System zu bringen ist. Und dann würde er – was wäre das für ein ›neuer Schein‹! – barmherzig werden.«110 Barth liest nicht einfach den Politikern der untergehenden Weimarer Republik die Leviten.111 Er votiert auch nicht einfach dafür, den greisen Hinden106 Barth, Predigten 1921–1935, 630. 107 Ebd., 631. 108 Ebd. 109 Vgl. ebd., 634. 110 Ebd., 632. 111 Zu Barth und der Weimarer Republik vgl. Schellong, Ein gefährlichster Augenblick; Busch, Ein Zwischenruf. Vgl. fernerhin das umstrittene Werk: Peterson, The Early Karl Barth.

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burg wiederzuwählen. Es geht ihm um mehr. Es geht ihm um eine Theologie, deren Prädikat auch, wenngleich nicht nur, das Politische ist.112 Es geht ihm um die Welt in dem neuen Schein, um die wirkliche Welt, wie sie an Weihnachten als solche im Zeugnis der Heiligen Schriften vor Augen geführt wird. Nur weil es darum geht, geht es auch, wenngleich nicht nur, um den »Abschied vom Prinzipiellen« (Odo Marquard), geht es, was dasselbe meint, um ein Praktisch-Werden. Praktisch statt unpraktisch sein dürfen wir nach Barth, weil Gott selbst an Weihnachten praktisch geworden ist und in Christus mit uns zusammenkam, mit uns gemeinsame Sache machte, »wohlverstanden mit uns, mit denen er wegen seiner Heiligkeit gar nicht zusammenkommen konnte!«113 Dass Menschen in der verfahrenen politischen Situation der Gegenwart zusammenkommen, sich die Hand geben und einander helfen, scheint ausgeschlossen zu sein. Doch es scheint nur so zu sein – im alten Schein der Welt. Nicht aber im neuen. Der neue Schein desavouiert indes die Normativität des nach altem Schein Faktischen und bringt die Wahrheit ans Licht. Dieser neue Schein ist freilich allein Gottesgabe, nicht das Produkt einer wie auch immer gearteten, mehr oder weniger wohlfeilen Moralpredigt oder Appellethik: »Der bloße Appell an die Liebe zum gemeinsamen Vaterland scheint nicht zu genügen, um uns in diesem Sinn praktisch zu machen. Und an den christlichen Glauben kann man nicht einmal appellieren, denn er ist wahrlich nicht so da, wie irgendeine Gesinnung da ist, an die man appellieren kann, sondern als Gottesgabe, die wir alle uns nicht nehmen können.«114 Es geht hier und heute nach Barth nur um den irdisch nuancierten, situations­bezogenen Komparativ, nicht den prinzipiellen und idealen himmlischen Superlativ. Es geht darum, dass wir »bei aller Prinzipientreue etwas praktischer«115 werden. Etwas praktischer meint auch wesentlicher werden – nicht zuletzt im Blick auf den Mitmenschen. Ihn im Lichte des neuen Scheins zu sehen, meint, ihn nicht »durch die Brille des Prinzips« zu sehen, sondern »um seiner selbst willen. So hat uns Gott gesehen, indem er Mensch wurde. […] Er hat uns um unserer selbst willen geliebt«.116 Barth bemüht hier erkennbar die Kant’sche Selbstzweckformel,117 jene Formel, in der Kant bekanntlich nach dem Urteil Barths als Christ redete.118 112 Vgl. Hofheinz, Er ist unser Friede, 72. 113 Barth, Predigten 1921–1935, 633. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 Ebd., 634. 117 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 64. 118 Vgl. Barth, Christliche Ethik, 11 f: »Für die christliche Ethik kann der Mensch niemals […] nur Mittel zum Zweck sein, sondern ihr ist er der Zweck selber, der Endzweck.« Barth begründet diese Aussage – notabene! – christologisch: »Ihr [der christlichen Ethik, M. H.] ist der elendeste Mensch, weil er ein Mensch ist, wichtiger als die herrlichste Sache. Warum? Weil der Mensch so herrlich ist, ein so gutes Wesen? Nein, aber darum, weil Gott ihn damit geehrt und ausgezeichnet hat, daß er selbst seinesgleichen wurde.« Barths These lässt sich in Bezug auf Kant »dogmengeschichtlich« dahingehend belegen, dass die Aussage, der Mensch

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Noch einmal: Vom Praktisch-Werden der Christozentrik

Dieses Praktisch-Werden will Programm sein – auch für die Theologie; nicht im Sinne eines Prinzips, auch nicht des »Prinzips Unprinzipialismus«. Das wäre mehr desselben Falschen. Es kann auch für die Theologie als wahrhaft praktische Theologie nicht um das Praktisch-Werden als Rechtsgrund der Wissenschaft gehen, wie es Graf Peter Yorck von Wartenburg im Briefwechsel mit Wilhelm Dilthey, gewissermaßen stellvertretend für die Tradition der Neuzeit, ausgedrückt hat: »[D]as Praktisch werden können […] bildet den Rechtsgrund aller [auch der theoretischen, M. H.] Wissenschaft.«119 Wenn das gelten würde, wäre das nach Barth ein neuer Prinzipialismus, wohlgemerkt ein solcher, der der neuzeitlichen Umstellung des Verhältnisses von Theorie und Praxis folgt und das theoretische Verstehen zunehmend am Praxis-Modell einer schaffenden und entwerfenden Vernunft orientiert. Barth verwirft nicht einfach dieses neuzeitliche Modell.120 Er pointiert aber im Sinne der »christologischen Konzentration« noch einmal anders. Es geht ihm beim Praktisch-Werden um nichts anderes als um die Menschwerdung. Bei Barth heißt es in seinem Weihnachtsartikel von 1931: Wenn der deutsche Mensch »glauben [würde], daß das in die Welt hereingegangene ewige Licht, Gott, der Mensch war, nach den heiligen Schriften glauben würde, dann würde er menschlich werden.«121 Die Menschlichkeit Gottes ermöglicht die Menschwerdung des Menschen und sie ermöglicht zugleich die Praktisch-Werdung des Menschen – und damit auch seiner Theologie. Insofern hat Theologie nach Barth genuin praktische Theologie zu sein: »Vera theologia est practica«122 – pointiert Luther; praktische Theologie, weil humane, an der Menschwerdung ausgerichtete Theologie, erläutert Barth. Eine solche praktische Theologie,123 die Barth als humane Theologie versteht, ist eine Theologie im Dienste der Gemeinde und gerade so im Dienste des Menschen.124 Wolf Krötke komsei um seiner selbst willen geschaffen, bereits der altprotestantisch überlieferten Schöpfungslehre entsprach. Vgl. z. B. Johann Andreas Quenstedts Aussage: »Finis intermedius est hominum utilitas. Omnia enim Deus fecit propter hominem, hominem autem propter se ipsum.« (Zit. nach Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-luthe­rischen Kirche, 120.) 119 Wartenburg, Briefwechsel, 42. 120 Barths Verhältnis zur Neuzeit bzw. zur Moderne ist eines, wenn nicht gar das umstrittenste Kapitel der aktuellen Barth-Forschung. Die Literatur ist Legion. Ich verweise hier nur auf: Schellong, Es geht in der Theologie um unser Gottesverhältnis. Zur Diskussion vgl. Holtmann, Karl Barth als Theologe der Neuzeit. 121 Barth, Predigten 1921–1935, 634. 122 Luther, WA.TR 1, 72,16 f (Nr. 153, Veit Dietrichs Nachschriften). 123 Eine interessante Rekonstruktion der Entwicklung von Barths Theologie mit dem Attribut »praktisch« hat auch Georg Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie, vorgelegt. Er zeigt u. a., dass Barth den theoretischen Akt des Begreifens »eo ipso als praktischen Akt der ›Teilnahme‹ gedeutet« (ebd., 328) hat. So auch Link, Bleibende Einsichten von Tambach, 340. Weiterführend: Theissen, Primäre und sekundäre Pragmatik. 124 Barth benennt zwölf Dienste der Gemeinde in KD IV/3 (§ 72.4), 991–1034.

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mentiert: »Barths Theologie wird hier geradezu aufdringlich praktisch.«125 Für Barth ist jedenfalls der mittelalterliche Streit darüber, ob die Theologie mehr theologia speculativa (Thomas von Aquin) oder mehr scientia practica (Duns Scotus, Wilhelm von Ockham) ist, längst zugunsten letzterer entschieden.126 Eberhard Jüngel bemerkt ganz im Sinne Barths: »Die Theologie ist als ganze praktisch. Theologie ist die wissenschaftliche Theorie von der stets neu zu gewinnenden Praxis der Kirche. Praktische Theologie ist als wissenschaftliche Theorie von der stets neu zu gewinnenden Praxis der Kirche nicht die Summe, wohl aber die Pointe der Theologie.«127 Albrecht Grözinger hat die These vertreten, dass »im theologischen Ansatz der Dialektischen Theologie ein größeres praktisch-theologisches Potential enthalten ist, als dies Barth und Thurneysen aufgedeckt haben«.128 Dies resultiere aus der christologischen Konzentration als Umschreibung des Denkweges Barths, der eben nicht bei einer kritisch-negierenden Position stehengeblieben sei, sondern sie ins Positive hinein radikalisiert habe.129 Diese These deckt sich m. E. mit Barths Selbstzuschreibungen. Barth versteht die »christologische Konzentration« keineswegs als Verengung, sondern als Horizonterweiterung, ja -eröffnung.130 Dementsprechend formuliert er das Paradox einer gerade aus der Konzentration resultierenden Öffnung, und zwar im Sinne des dialektischen Zugleichs von zentrifugalen und zentripetalen Kräften. Barth betont, dass er »zugleich sehr viel kirchlicher und sehr viel weltlicher geworden«131 sei: »Nie zuvor meine ich so fröhlich in der wirklichen Welt gelebt zu haben wie gerade in der Zeit, die für meine Theologie jene vielen so mönchisch erscheinende Konzentration mit sich brachte.«132 Indem Barth im Sinne der »christologischen Konzentration« die Göttlichkeit Gottes als dessen Menschlichkeit entfaltet, erhält die menschliche Praxis und mit ihr die Praktische Theologie das Achtergewicht seines Denkens. Nach 125 Krötke, Gott und Mensch, 170. 126 Zum Verhältnis von Theorie und Praxis vgl. Schröer, Art. Theorie und Praxis. 127 Jüngel, Das Verhältnis der theologischen Disziplinen, 56. Vgl. auch Gollwitzer, Befreiung zur Solidarität, 47 f: »Versteht sich Theologie nach alter Definition als scientia practica, also aus Praxis für Praxis, so stellt das heute die Praktische Theologie in die Mitte eines theologischen Arbeitskollektivs. Sie ist nicht nur, wie für Schleiermacher, die ›Krone des theologischen Studiums‹, was ja immer noch nur eine dekorative Funktion andeuten könnte, sondern sie müßte das Herz der Theologie sein. Unter der Suggestion des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffes, dem sich die theologischen Fakultäten gefügt haben, kam sie in die Aschenbrödelrolle, aus der sie immer noch nicht befreit ist. Versteht sich christliche Theologie recht, dann ist sie in ihrem Kern praktische Theologie; darum ist die Praktische Theologie der Kern eines theologischen Gremiums, dem die anderen theologischen Disziplinen als Hilfswissenschaften zuarbeiten.« 128 Grözinger, Offenbarung und Praxis, 183. 129 Vgl. ebd. 130 Vgl. ebd., 189. 131 Barth, How My Mind Has Changed, 186. 132 Ebd. Vgl. dazu auch Tietz, Karl Barth, 214 f.

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Barth ist die communio sanctorum der Ort, wo die »Krone der Humanität, nämlich des Menschen Mitmenschlichkeit, sichtbar werden darf«.133 Wenn das aber gilt, so lässt sich mit Grözinger festhalten, dann können Kultur und menschliches Handeln nunmehr positiv interpretiert und konzipiert werden. Allerdings ist der Weg dieser positiven Interpretation – und darin ist sich Barth treu geblieben – ein kritischer Prozeß. Denn der Mensch »hat« seine Menschlichkeit nicht, er »verfügt« nicht über sie, sondern sie ist geschenkte Wirklichkeit in der Entscheidung zu der geschehenen Erwählung durch Gott in der Person Jesu von Nazareth. Immer dort, wo der Mensch den Versuch unternimmt, selbstherrlich seine »Menschlichkeit« zu ergreifen, fällt er aus seiner Bestimmung heraus. Der sich autark wähnende Mensch kann immer nur eine Unmenschlichkeit ergreifen. Insofern bleibt er auf das ihm fremde und zugleich doch so nahe Gegenüber Gottes angewiesen. Deshalb auch besteht Barth so energisch darauf, daß die Was-Frage vor der Wie-Frage, die Antwort Gottes vor der Frage des Menschen zu stehen habe. Eberhard Jüngel hat dies zu Recht als die »eiserne Ration« der Barthschen Theologie bezeichnet.134

Grözinger hebt zu Recht hervor, dass Barth hier gewissermaßen praxeologisch agiert bzw. einen hermeneutischen Schlüssel zu einer Theorie bzw. positiven Interpretation menschlicher Praxis gefunden habe: Regulativ dieser Praxis ist die kritische Frage, inwieweit der Mensch in seinem Handeln dieser seiner Bestimmung entspricht. Insofern aber ist Praxis-Theorie in der Logik der Theologie Barths stets kritische Theorie. Theologie insgesamt und mit ihr die Praktische Theologie sind überhaupt erst als kritischer Begleiter der kirchlichen Praxis vonnöten, insofern diese Praxis stets und »unter allen Umständen fehlbares Menschenwerk« [KD I/1, 2, M. H.] ist. Deshalb auch gibt es für diese Praxis keine neutralen Methoden und keine neutralen empirischen Fakten, sondern der – wie Barth formuliert – kritische »Vorgang der theologischen Erkenntnisbildung wird der sein, daß ich mein Denken und meine Sprache [und man kann hier ergänzen: meine Praxis] bestimmen lasse durch meinen Gegenstand.« Dieser »Gegenstand« der Theologie aber ist der in seiner Menschlichkeit in Jesus Christus gnädig erwählende Gott. Praktische Theologie wäre demnach zu beschreiben als ein Konfrontationsprozeß, indem sie die kirchliche Praxis befragt hinsichtlich ihrer Entsprechung zu der von Gott gewollten Menschlichkeit des Menschen. Insofern jedoch ist in der Logik der Barthschen Theologie der offenbarungstheologische – oder meinetwegen auch »differenztheologische« – Ansatz Voraussetzung, Bedingung und Möglichkeit von Praktischer Theologie zugleich.135

Barth schärft nicht nur die Differenz zwischen Gott und Mensch, Gott gewollter Menschlichkeit und Gott verneinender Unmenschlichkeit des Menschen ein, sondern auch zwischen kirchlich-praktischer bzw. praktisch-kirchlicher Verkündigung und dem Wort Gottes, so dass von daher gefragt werden kann, wie eine dieser Differenzen bewusste kirchliche Praxis aussieht.

133 Barth, Die Menschlichkeit Gottes, 27. 134 Grözinger, Offenbarung und Praxis, 184 (zit. wird Jüngel, Barth-Studien, 37). 135 Grözinger, Offenbarung und Praxis, 184 f (zit. wird Barth, Credo, 159).

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6. Fazit Wir haben gefragt, wie Bultmann und Barth Weihnachten gefeiert haben. Der Befund mag ernüchternd ausfallen, wenn man sich beiden mit der Erwartungshaltung zuwendet, dass bei ihnen die strenge christologische Konzentration auch die harte Schale der Bürgerlichkeit durchbricht.136 Doch schließt die Feier der Weihnacht als Christusfest Bürgerlichkeit aus? Gewiss bleiben beide dem Gehäuse eines bestimmten Bürgertums verhaftet, Bultmann sicherlich noch stärker als Barth, der von Weihnachtsbäumen nichts hielt. Zu berücksichtigen ist bei Barth auch das »factum brutum«, dass er an Weihnachten oft in der Strafanstalt gepredigt hat. Hier hat er gewissermaßen »realiter« den bürgerlichen Rahmen durchbrochen.137 Dies expliziert er expressis verbis in der Adventspredigt von 23. Dezember 1962, also am Tag vor dem Heiligen Abend, unter Berufung auf das Magnificat (Lk 1,46–55)138 in der Strafanstalt Basel: Meine lieben Brüder! Ich habe in der vergangenen Woche in der wohl Manchem von euch bekannten Migros-Zeitung »Wir Brückenbauer« in einer Reportage unter dem Titel »Weihnacht der Sträflinge« […] den Satz gelesen: »Das Fest der Liebe und des Friedens – es will nicht so recht ins Zuchthaus passen.« Was man dann weiter las, war zwar sehr rührend, aber ganz ohnmächtig, und ich bin froh, daß ihr mich hier nicht so kläglich anschaut wie die Gefangenen, die dort abgebildet sind. Gegen jenen Satz muß man protestieren. Ich bin nicht so ganz sicher, ob das Weihnachtsfest ins Münster oder in die Engelgaßkapelle paßt, wo es von den besseren Leuten gefeiert wird. Wohl aber bin ich ganz sicher, daß es hierher und also ins Zuchthaus paßt. So war es gut, daß ich meinen Text für diesen Sonntag schon vorher gewählt hatte. Hört ihn noch einmal: »Hungrige hat er mit Gütern erfüllt und Reiche leer hinweggeschickt« [Lk 1,53].139

An Weihnachten wird für Barth der »durchgehende Zug nach unten«140 deutlich, wie er das Evangelium kennzeichnet. Barth betrachtet Weihnachten gleichsam vom Kreuz her. Christologische Konzentration meint hier, dass Barth das »Gesetz der tapeinophrosynē«141 (vgl. Phil 2,6) als das des sich selbst erniedrigenden Christus interpretiert. Krippe und Kreuz gehören zusammen und stehen paradoxerweise im Verweisungszusammenhang der Divinität Jesu. Anders gesagt, ist die staurozentrisch verstandene Weihnacht Barths Interpretament der wahren Gottheit Christi.142 Seine Gottheit schließt die Krippe und 136 Vgl. Schellong, Bürgertum und christliche Religion, 96–115; Ders., Von der bürgerlichen Gefangenheit. 137 Diesen Hinweis verdanke ich der E-Mail Max Zellwegers vom 18. Februar 2019. 138 Vgl. zum Magnificat einführend: Feldmeier, Die synoptischen Evangelien, 118–120; Neumann, Armut und Reichtum, 35–42. 139 Barth, Doppelte Adventsbotschaft, 211 f. 140 KD IV/1, 207. 141 Ebd., 206. 142 Vgl. ebd.: »Wahre Gottheit ist im Neuen Testament das Sein in der schlechthinnigen Freiheit der Liebe und also das Sein des Hohen, der nicht nur auch, sondern gerade in seiner

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das Kreuz keineswegs aus, so wie auch das Weihnachtsfest die Strafanstalt nicht aus-, sondern einschließt, ja gerade mustergültig zu ihr passt: »In ein Haus, in welchem die Mühseligen und Beladenen, die Armen und Elenden, die wirklich Hungrigen wohnen – und also in ein Haus wie das, in dem wir uns gerade befinden – passt so recht das Weihnachtsfest. Nur in ein solches Haus! Aber in ein solches ganz sicher!«143 In der Fleischwerdung Jesu Christi in einem solchen Haus offenbart sich, wer Gott ist. Barths Schüler Helmut Gollwitzer hat unter expliziter Berufung auf Barth in einer Predigt zum Magnificat den auch die Bürgerlichkeit betreffenden »Kollisionskurs«144 Barth’scher Weihnachtstheologie mit dem Diktum angezeigt: »Gott ist der Revolutionär.«145 Wirft man nun nochmals einen Blick auf Bultmanns Weihnachtspraxis, so lässt sich festhalten: Bei Bultmann wird wohl in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Texten der Schrift, auch den weihnachtlichen, reichlich entmythologisiert, nicht jedoch in der Wohnstube.146 Bultmann ist weit davon entfernt, die »gute Stube« an Weihnachten zum Opfer eines Bildersturms werden zu lassen – auch nicht um des Entmythologisierungsprogramms willen. So weit reicht sein Praktisch-Werden nicht. Die bürgerliche Textur des Festes bleibt unangetastet, so dass man wird fragen müssen, ob es sich bei seiner Weihnachtspraxis nicht gewissermaßen um den »Ausdruck eines neuzeitlichen Kulturchristentums«147 handelt. War Bultmann gleichsam – um ein bekanntes Wort Friedrich Heinrich Jacobis bzw. Friedrich Schleiermachers aufzugreifen und umzuwandeln – weihnachtstheologisch ein Christ im Kopf, weihnachtspraktisch hingegen ein Heide im Bauch?148 Bultmanns Weihnachtspraxis stünde dann unvermittelt seiner »Weihnachtstheorie« gegenüber, die indes theologisch genauestens darum weiß, dass das Weihnachtsfest sehr viel mehr ist als nur ein Sediment neuzeitlich-europäischer Kultur bzw. nur deren wirklichkeitsverklärendes Symbolsystem.

Niedrigkeit hoch, allmächtig, ewig, heilig, gerecht und herrlich ist. Die direkte neutestamentliche Bezeugung solcher, dieser Gottheit Christi ist die Bezeugung des Menschen Jesus selbst als des für uns Fleisch gewordenen, leidenden, gekreuzigten und gestorbenen Gottessohnes, die Botschaft von Christus als dem Gekreuzigten.« 143 Barth, Doppelte Adventsbotschaft, 218. 144 Schellong, Bürgertum und christliche Religion, 96. 145 Gollwitzer, Wendung zum Leben, 111–119. 146 Dass ein Bezug zwischen Religionskritik und Entmythologisierung besteht, Barth mithin »dem Thema nicht ausgewichen ist, sondern es auf seine Weise gesehen und in seinen eigenen Denkzusammenhängen bearbeitet hat«, zeigt Friedrich-Wilhelm Marquardt, Religion und Entmythologisierung, 339: »Barth unterscheidet sich von Bultmann darin, daß die Mythosproblematik ihn nicht zur Umwandlung der Theologie in Hermeneutik führt; er versteht es, auch diese Sache theologisch spezifisch, nicht allein als Methodenfrage zu behandeln.« Vgl. fernerhin: Hübner, Entmythologisierung. 147 Mündliche Mitteilung von Georg Pfleiderer. 148 Vgl. zum Dictum »im Herzen / Gemüt ein Christ, im Verstand ein Heide« mit Belegen: Ebeling, Wort und Glaube, Bd. 3, 72 ff.

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Man wird freilich auch sagen dürfen: Der Marburger Theologe hat einen weitaus stärkeren Sinn für das Weihnachtsritual als sein Basler Kollege, wie aus seiner minutiösen Schilderung des »Heiligen Abends« hervorgeht. Im bürgerlichen Hause Bultmanns gar eine durch Konsum geprägte Oase der Nostalgie zu sehen, wie dies für viele deutsche Haushalte der Nachkriegszeit und des Wirtschaftswunders gelten mag, wäre gänzlich unfair, ja nicht zuletzt anachronistisch. Bultmann stammte aus einer anderen Generation. Er war damals, als er seine Weihnachtsartikel schrieb, bereits ein alter Wal bzw. Elefant, je nachdem, welches Parabeltier man ihm zuordnet. Barths Haltung zur Weihnacht und sein Sinn für Familienrituale fiel zweifellos reformiert-nüchterner aus als bei Bultmann. Aber auch bei Barth erschallt an Weihnachten nicht das Törö eines Sturms auf die Bastille der Bourgeoisie, gleichwohl erklingt die subversive, auch bürgerliche Ordnungsvorstellungen nicht unberührt lassende Botschaft von der Menschwerdung Gottes in Christus. Die spannungsvolle Gesamtgemengelage der »Notgemeinschaft« im eigenen Haus hat dazu neben der konfessionellen Herkunft sicherlich ein Übriges getan. In seiner Darstellung der Schleiermacher’schen Weihnachtsfeier149 hatte Barth im Jahr 1924 den Satz gewagt: »[D]ie Musik und das Ewig-Weibliche, die hier noch einmal ›gelobt‹ und ›gerühmt‹ werden, sie sind als via regia zu dem Unaussprechlichen die eigentliche theologische Substanz des kleinen Meisterwerkes.«150 Doch ist Barth über Schleiermacher hinausgekommen? Lebenspraktisch und ritualbezogen? Bultmann hatte diesen Anspruch nicht, jedenfalls nicht im Maße der Barth’schen Ausprägung. Bultmanns Abgrenzung auch gegenüber der liberalen Theologie fiel zeitlebens weitaus weniger scharf und insurgent aus als bei Barth, dessen »Kehre« mehr sein dürfte als nur eine schlichte krisenrhetorisch zugespitzte Form der Selbststilisierung, mehr auch als der »Pulverdampf der nachdialektischen Abgrenzungspolemik«.151 Bultmann sah sich, anders als dies für Barth gilt, zeitlebens in der Tradition seiner Lehrer stehen. Und auch die bürgerliche Tradition des Weihnachtsfestes findet bei ihm eine doch recht ungebrochene Prolongatur.152 Er hat das Weihnachtsereignis und seine eigene häusliche Weise, dieses Fest lebenspraktisch und d. h. ritualbezogen zu begehen, in größerer Harmonie gesehen, als dies für Barth gilt. Und doch ist für ihn – wie gesagt – das Weihnachtsereignis keineswegs deckungsgleich mit einem Familienritual oder einer überkommenen bürgerlich-christlichen Tradition. So heißt es in seinem NZZ-Artikel: »[D]as ewige Licht wird nie zu einem hiesigen. Das meint: das ewige Licht kann nie zu unserem Besitz, zu einer Qualität unseres Wesens, zu einer Charaktereigenschaft werden. Es 149 Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier. Vgl. dazu Schellong, Schleiermachers Weihnachtsfeier; Forssman, Alle Menschen sind mir heute Kinder, 39–68; Korsch, Weihnachten, bes. 222–225; Wittekind, … die Musik meiner Religion, 271–300; ders., Das Gespräch. 150 Barth, Schleiermachers Weihnachtsfeier, 486. 151 Laube, Die Unterscheidung, 453. 152 Vgl. Bultmann, Die liberale Theologie.

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kann immer nur und immer nur wieder als Geschenk empfangen werden. Sein Strahl kann und muß uns immer wieder aus der Ewigkeit, aus dem Jenseits unserer Welt treffen.«153 Hinsichtlich der Frage, was wir an Weihnachten feiern, antwortet Bultmann mit Verweis auf das eigentümliche Paradox, »daß ein historisches Ereignis zugleich das ›eschatologische‹ Ereignis ist. Dieses Bewußtsein soll freilich unsere ganze Existenz auch im Alltag tragen in dem Sinne, daß wir dessen inne werden, daß jeder Augenblick unseres Lebens die Möglichkeit hat, ein ›eschatologischer‹ Augenblick zu sein«.154 Der eschatologische Augenblick155, und zwar in der der »Wirklichkeit« ontologisch vorgeordneten Modalität der »Möglichkeit«156, – präzise darum geht es nach Bultmann auch an Weihnachten, um das Ereignis, das uns in der Verkündigung in Gestalt der Predigt als Anrede Gottes treffen kann und will. Dieses Ereignis ruft in die Entscheidung als existentiellen Vollzug, ansonsten bleibt der eschatologische Augenblick ein ungenutzter Potentialis, als ungenutzter, uneingelöster Potentialis aber eben ein Irrealis des Lebens. In diesem Sinne bemerkt Bultmann: Weihnachten hat seinen Sinn in dem Satz, daß das historische Ereignis, Jesus von Nazareth, das »eschatologische« Ereignis ist. Aber dieser Satz erfüllt seinen Sinn an uns nur, wenn wir unser Leben unter das Licht der Weihnacht stellen, das bedeutet: wenn wir dafür offen bleiben, daß jeder Augenblick unseres Lebens ein »eschatologischer« Augenblick sein kann und als solcher von uns erfaßt und verwirklicht werden soll. Zu solcher Bereitschaft ruft uns das Wort Gottes, wie es in der Weihnachtsgeschichte aus Engelsmund erklingt: »Siehe, ich verkündige euch große Freude!«157

Mit diesen Worten wird die christologische Konzentration im Sinne der existentialen Interpretation kerygmatheologisch und präsentisch-eschatologisch, ja situativ-anitihabitualistisch auf das Äußerste zugespitzt. Auch bei Barth finden wir eine christologische Konzentration im Blick auf die Interpretation der Weihnachtsbotschaft. Sie zeigt sich auch und gerade 153 Bultmann, Weihnachten, 78. 154 Bultmann, Sinn, 139. In diesem Sinne gelten die berühmten Sätze: »Je in deiner Gegenwart liegt der Sinne der Geschichte, und du kannst ihn nicht als Zuschauer sehen, sondern nur in deinen verantwortlichen Entscheidungen. In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein. Du mußt ihn erwecken.« (Bultmann, Geschichte und Eschatologie, 184; vgl. auch ders., Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament.) 155 Treffend bemerkt Dembowski, Einführung in die Christologie, 170 (zit. wird Bultmann, Glauben und Verstehen, Bd. 3, 192): »Die paradoxe Einheit von Diesseits und Jenseits im Gekommensein Jesu, im Kerygma als Anrede, in der das Heilsgeschehen in Jesus präsent ist, ereignen das Eschaton, die Weltenwende im Augenblick: ›Das ist nun die Aufgabe der Theologie, dieses Wort vom Kreuz verständlich zu machen, und zwar nicht durch eine dogmatische Theorie von dem stellvertretenden Sühneleiden Jesu Christi, sondern als das Wort, das den Hörer selbst unter das Kreuz ruft.‹« 156 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 38: »Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit.« 157 Bultmann, Sinn, 140.

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in dem religionskritischen Versuch158 und Bemühen, die Äußerlichkeit des Weihnachtsfestes zu durchbrechen. Denn »[a]ller Lichterglanz der Weihnacht kann uns darüber nur auf eine kurze Weile täuschen, daß es Nacht um uns ist«,159 wie um die Hirten von Bethlehem. Auch Barth muss den »Jargon der Eigentlichkeit« bedienen, wenn er selbstkritisch eingesteht: »Es ist doch wohl so, daß eigentlich unser ganzes Leben in dieser Zeit ein einziger Heiliger Abend sein darf und muß zu unserer Vorbereitung auf das eine, große und endgültige, das ewige Weihnachtsfest, das das Ziel aller Wege Gottes mit dem Menschengeschlecht und aller seiner Wege auch mit jedem Einzelnen von uns ist.«160 Hic et nunc gilt indes: »›Das Wort ward Fleisch‹ [Joh 1,14] – es bleibt also der Offenbarung und des Glaubens bedürftig, es bleibt also dem Ärgernis ausgesetzt. Es ist also nur das Vorbild seiner eigenen künftigen Offenbarung, es ist also wirklich selber ganz und gar Verheißung – aber erfüllte Verheißung, weil das Verheißene, der Verheißene, selber sein Inhalt und sein Träger ist.«161 Abschließend sei eine etwas umgewandelte Bemerkung Jan M. Lochmans zitiert: Barths eigenes Bild vom Elefanten und vom Wal ist oft strapaziert worden. Und doch wäre es falsch, jenes Barth’sche Wort vom gegenseitigen fassungslosen Staunen statisch zu verabsolutieren. Mögen die beiden Theologen noch so verschieden sein – in einem entscheidenden Punkt (oder besser: in einer entscheidenden Ausrichtung) sind sie sich nahe: nämlich im Programm (wenn nicht in der Ausführung) einer christologischen Theologie. Auch Bultmann versteht sich als »christozentrischer Theologe«; das Christusereignis ist das unaufgebbare Zentrum des Neuen Testaments. In der faktischen Explikation dieses Ereignisses trennen sich die Wege,162

d. h. im Praktisch-Werden der Christologie – auch an Weihnachten. Literatur Adorno, Theodor W., Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie (Edition Suhrkamp 91), Frankfurt a. M. 1964. Barth, Karl, Aber seid getrost! Predigt zu Joh 16,33 vom 24.12.1963, in: Ders., Predigten 1954–1967, GA I/12, hg. v. H. Stoevesandt, Zürich 21981, 242–251. –, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke, in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, GA III/48, in Verbindung mit F.-W. Marquardt (†) hg. v. H.-A. Drewes, Zürich 2012, 662–701. –, Christliche Ethik. Ein Vortrag, München 1946. –, Credo, München 41936.

158 Vgl. Hofheinz, Radikale Weihnacht; Hailer, Weihnachten als Religionskritik. 159 Barth, Predigten 1921–1935, 581. 160 Barth, Aber seid getrost, 250. 161 Barth, Verheißung, 42 (zit. nach Barth, Predigten 1921–1935, 597). 162 Lochman, Christus oder Prometheus, 100 f.

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Marco Hofheinz

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Marco Hofheinz

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Marco Hofheinz

Christologie Karl Barths und Rudolf Bultmanns, in: M. Hofheinz / K.-O. Eberhardt unter Mitarbeit von J.-Ph. Tegtmeier (Hg.), Gegenwartsbezogene Christologie. Denkformen und Brennpunkte angesichts neuer Herausforderungen (Dogmatik in der Moderne 29), Tübingen 2020, 299–335. Theißen, Henning, Primäre und sekundäre Pragmatik im Werk Karl Barths. Ein Vorschlag zur Methode der Barthauslegung, ZDTh 31 (2015), 102–131. Tietz, Christiane, Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch, München 2018. van’t Slot, Edward, Die christologische Konzentration. Anfang und Durchführung, ZDTh 31 (1/2015), 12–31. Wartenburg, Graf Peter Yorck von, Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dems. 1877–1897 (Philosophie und Geisteswissenschaft 1), hg. v. E. Rothacker, Halle 1923. Weinrich, Michael, Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths. Bleibende Impulse zur Erneuerung der Theologie (FSÖTh 139), Göttingen 2013. –, Karl Barth. Leben – Werk – Wirkung (UTB 5093), Göttingen 2019. Wittekind, Folkart, Die Entwicklung der Weihnachtsdichtung im 18. und 19. Jahrhundert anhand des Motivs der Gabe, in: A. Bodenheimer u. a. (Hg.), Literatur im Religionswandel der Moderne. Studien zur christlichen und jüdischen Literaturgeschichte, Zürich 2009, 59–108. –, Das Gespräch über »Die Weihnachtsfeier«, in: M. Ohst (Hg.), Schleiermacher Handbuch, Tübingen 2017, 178–188. –, »… die Musik meiner Religion.« Schleiermachers ethische Funktionalisierung der Musik bis zur Weihnachtsfeier und seine Kritik der frühromantischen Kunstreligion, in: A. Arndt u. a. (Hg.), Christentum – Staat – Kultur. Akten des Schleiermacher-Kongresses Berlin 2006, Berlin / New York 2008, 271–300.

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Niklaus Peter

Karl Barths »Wort Gottes«-Theologie in der pastoralen Praxis Die mir gestellte Aufgabe lautet, die Bedeutung der Barthschen »Wort Gottes«-Theologie fürs Pfarramt zu beschreiben. Dies in meiner Eigenschaft als »Vertreter einer wissenschaftszugewandten pastoralen Praxis« – wie die Symposionseinladung allerliebst formuliert. Das werde ich mir künftig auf meine Visitenkarte setzen lassen.1 Als wissenschaftszugewandter pastoraler Praktiker also will ich das so tun, dass ich vorweg die Ursprünge von Barths Theologie und die daraus entstehenden Problemwahrnehmungen und Horizonte skizziere, auf diesem längeren Umweg dann auch jene theologisch-konstruktiven Elemente benenne, die ich selber als konstruktiv und vital wichtig für meine Pfarramtspraxis erfahren habe, nicht ohne die damit verbundenen Schwierigkeiten und also meine Anfragen zur Sprache zu bringen. Danach möchte ich die Perspektive ausweiten und das in den Blick nehmen, was pastorale Praxis in der heutigen sozialen und kirchlichen Realität heißen könnte, wenn man Barths Denken und seine Richtungsangaben ernst nimmt. 1. »Predigtnot« Karl Barths Theologie hat ihren Ursprung und ihren sozial-soziologischen Wurzelgrund in der »pastoralen Praxis« seines Safenwiler Pfarramtes2 – also nicht in rein universitären Kontexten, wie das bei vielen der späteren Professorenkollegen der Fall war. Seine Theologie hat, das zeichnet sie für mich aus, ihre starke Verbindung zum sozialen System Kirche und zur pastoralen Praxis stets behalten, ja man könnte sagen: Barth hat diese klare Verortung und Verankerung vertieft im Laufe der Jahre. Dennoch darf man sich diese »pastorale Praxis« nicht allzu idyllisch und biedermeierlich als eine Art Schönwetter-Dorfpfarramt vorstellen, wie sie Albert Anker in Öl hätte malen können: Gerade das aargauische Safenwil war in den 1910er Jahren ein Dorf, in dem Bauern-, Bürger- und Industriearbeiter-Realitäten aufeinanderprallten, und bald wird sich mit dem Ersten Weltkrieg der dunkle Clash einer radikalen Moderne, mit ihren maschinellen und 1 Als Praktiker erlaube ich mir, die gesprochene Form des Vortrags beizubehalten. 2 Hier, anstelle vieler Literaturangaben, der pauschale Hinweis auf das ausgezeichnete Buch: Tietz, Karl Barth, 79–98.

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Niklaus Peter

chemischen Tötungsmitteln und einer bis dahin unbekannten Zerstörungskraft, zeigen. Diese radikale Moderne ist auch im geistigen Horizont von Barths Denken und Schreiben von Anfang an präsent: Er kennt ihre intellektuellen und sozialen Umbrüche, er hat nicht nur die metaphysikkritische Wende der Transzendentalphilosophie Kants intensiv rezipiert, sondern mit Marx und den religiösen Sozialisten die sozialen Auswirkungen des Kapitalismus wahrgenommen, er hat auch die von Kierkegaard und Nietzsche ausgehenden Gegenbewegungen gegen einen Idealismus auf sich wirken lassen – er hat, last not least, die tiefgreifenden, durch die Historisierung der gesamten Tradition gegebenen theologischen Argumentationslinien der liberalen Theologie von Schleiermacher bis Harnack, von Herrmann und Troeltsch zu seinen eigenen gemacht. Trotz dieses weiten Horizontes hat Barth in fast allen Texten, in denen er seine Anfänge und seine theologische Reorientierung beschreibt, den vielfältigen theologischen Problemdruck mit der pastoralen Praxis in Verbindung gebracht, ja, noch etwas spezifischer: mit den Problemen rechten Predigens. Ich will hier nur aus dem Vortrag Not und Verheißung der christlichen Verkündigung in Schulpforta im Jahr 1922 zitieren, in dem Barth beschreibt, wie er in seinen zwölf Jahren Pfarramt »durch allerlei Umstände immer stärker auf das spezifische Pfarrerproblem der Predigt gestoßen« wurde. Dieses wird genauerhin als Spannung zwischen der »Problematik des Menschenlebens« und dem »Inhalt der Bibel« bezeichnet: »Zu den Menschen, in den unerhörten Widerspruch ihres Lebens hinein solle ich ja als Pfarrer reden, aber reden von der nicht minder unerhörten Botschaft der Bibel, die diesem Widerspruch des Lebens als ein neues Rätsel gegenübersteht«. Oft genug sei ihm das vorgekommen wie eine Fahrt zwischen Skylla und Charybdis hindurch. Und dann spricht er – vielzitiert! – von der »bekannte[n] Situation des Pfarrers am Samstag an seinem Schreibtisch, am Sonntag auf der Kanzel«.3 Aber aufgepasst, was später als »Predigtnot« in der Sekundärliteratur zu einem festen narrativen Topos der Barth-Literatur geworden ist, darf nicht zu simpel interpretiert und falsch verstanden werden. Es ist nicht ein berufsspezifischer Ideenmangel, nicht eine mit pfarrherrlicher Vielbeschäftigtheit und entsprechender Zeitnot einhergehende qualitative Ausdünnung im Predigtschreiben, auch nicht ein psychotheologischer Schreibstau oder Anzeichen individueller Ausgebranntheit und Freudlosigkeit. Man sollte sich unter Predigtnot also kein samstägliches Minidrama, nicht einen nägelkauend am Schreibtisch sitzenden Dorfpfarrer vorstellen, der sich Gedanken und Sätze abringt und diese dann in belanglose Predigten einpresst. Es ist vielmehr eine grundlegende Krise der Theologie angesprochen – und damit einherlaufend eine Krise der Kirche –, welche in Predigten ihren Ausdruck findet, die oft Belanglosigkeiten und religiösen Halb- oder Unsinn zu Gehör bringen, weil die innere Matrix, die biblische Tradition – emphatisch gespro3

Barth, Not und Verheißung, 70.

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Karl Barths »Wort Gottes«-Theologie in der pastoralen Praxis

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chen: das »Wort Gottes« – stumm und kalt geworden ist für die predigenden Pfarrpersonen, seien diese nun eher wissenschaftszugewandt oder nicht. Es kommt dann, auch das ein fester Topos bei Barth und zurecht auch in der Barthliteratur, seine Erschütterung über die Reaktionen in Kirche und akademischer Theologie auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges hinzu. Für Barth eine irritierende, alarmierende Erfahrung, dass ausgerechnet bei seinen hochverehrten, liberalen Theologieprofessoren in Deutschland angesichts des Ersten Weltkrieges »Vaterlandsliebe, Kriegslust und christlicher Glaube in ein hoffnungsloses Durcheinander geraten«4 waren: Hatte sie womöglich ihre Grundorientierung verloren, war etwas an den Grundlagen dieser Theologie falsch? War ihr Denken und Sprechen unterspült von Ideologemen des 19. Jahrhunderts, und hatte womöglich diese Aushöhlung der Fundamente in der Folge in die Krise geführt? Vielleicht könnte man die Gedankenlinien des Römerbrief-Kommentars grob so umschreiben: Ein problematischer Geschichtsbegriff (Fortschritt), ein ambivalenter Naturbegriff (Sozialdarwinismus), ein problematischer Geistbegriff (Subjektivitätstheorie, Idealismus) und ein hochambivalenter Religionsbegriff (ein Chamäleon von einem Begriff, in den sich schlechterdings alles hineinpacken ließ – von Opfergesinnung zur Gewissensreligion bis hin zu allen möglichen Moralismen) – sind das womöglich die Einflussrohre, durch die es zu jener Unterspülung gekommen ist? Man hat den prophetischen Gestus der beiden Römerbriefe Barths kritisch in der Nachbarschaft einer verbreiteten Krisenrhetorik und eines Antimodernismus im Umfeld des Ersten Weltkriegs verortet und damit diese »Makroperspektive« eher als Ausdruck denn als Überwindung jener Krise gedeutet.5 Meine These jedoch ist es, dass Barth schon deutlich früher gewissermaßen im Bereich der »Mikroperspektive« pastoraler Praxis den Problemkern wahrgenommen hatte, der dann im Kontext des Ersten Weltkrieges zum Auslöser für seine entschiedene theologische Reorientierung wurde. Nämlich die kulturtheoretische, wissenschaftspragmatische Schwierigkeit, dass die gefeierte liberale Theologie, bei deren Vertretern er studiert und die er verehrt hatte (Harnack, Herrmann, Martin Rade und viele andere wären hier zu nennen), im Hinblick auf die Pfarramtspraxis durch einen fundamentalen Konflikt charakterisiert war. Wer Barths Besprechungen aus der Zeit seiner Redaktionsmitarbeit in der Christlichen Welt, dem Leitmedium des liberalen Protestantismus für die deutschen Öffentlichkeit, liest, wird genau darauf stoßen. Barths Rezension von Gustav Mix’ Zur Reform des theologischen Studiums aus dem Jahr 1909 beginnt mit dem Satz: »Das Verhältnis von Universitätsstudium und Praxis, das sich bei den andern Fakultäten relativ einfach herstellt, ist für den Theologen seit Schleiermacher ein Problem. Die Ideale der Wissenschaft decken sich nicht mit den Anforderungen des Pfarramtes.«6 Es folgt eine ziem4 Brief Barths an Rade, 31.8.1914, Barth – Rade, Briefwechsel, 95. 5 Am Pointiertesten – und klug: Graf, Freiheit; ders., Ein Radikaler; ders., Der Götze – alle passim. 6 Barth, Mix, 317.

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lich scharfe Kritik der ungenügenden Denkmittel jenes Autors durch Barth und eine Art Positionsbezug – dies noch ganz in den Bahnen einer liberalen »Gewissheits«-Theologie, welche die Aporie eher bezeichnet als löst: Christentum sei stets nur individuelle Gewissheit. Deutlicher dann – und eine Kontroverse auslösend – sein Text Moderne Theologie und Reichsgottesarbeit. Hier geht es um das für die pastorale Praxis markante Problem, dass es »ungleich schwieriger (sei), aus den Kollegiensälen Marburgs oder Heidelbergs zur Tätigkeit auf der Kanzel, am Krankenbett, im Vereinshaus überzugehen, als aus denen Halles oder Greifswalds«.7 Wiederum also die Beobachtung tiefer Spannungen zwischen wissenschaftlicher Theologie und pastoraler Praxis. Barth benennt den Problemhorizont mit den Begriffen »religiöser Individualismus« und »historischer Relativismus« (eine ziemlich genaue Beschreibung der von Troeltsch so präzise bezeichneten Lage,8 ohne dass der Name Troeltsch auch nur fallen würde…). Er scheint diese Problembeschreibung hier noch als letztes Wort zur Sache zu nehmen – dabei aber wird es nicht bleiben. Plausibel sollte aus diesen Andeutungen geworden sein: »Predigtnot« ist nicht ein individuelles und leicht peinliches Dorfpfarrerproblem, sondern die Wahrnehmung eines systemischen Kernkonfliktes und einer Vermittlungsproblematik zwischen Universität und Pastoralpraxis, die ja beide sozusagen Systeme von Wissenssicherung und Sozialformation sind. Lag das Problem vielleicht nicht nur in der Rückständigkeit des Systems Kirche, sondern auch an den systemisch-pragmatischen Grundlagen der akademischen Theologie? Verunmöglichte womöglich diese wissenschaftliche Theologie aufgrund ihrer neuzeitlich veränderten Grundorientierung, aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihrer Hermeneutik bei der professionellen Trägergruppe – sprich den Pfarrern – genau das, was soziologisch gesprochen: pastorale Praxis im Bereich Traditionsfortschreibung und -erneuerung des Systems Kirche als Kernaufgabe hätte?9 Nun, es gibt Berufenere und Begabtere, um die radikale hermeneutische und theologische Wendung Barths zu rekonstruieren, die in den beiden Römerbriefkommentaren10 erfolgt, wie er suchend, in nebligem Gelände gewissermaßen, Neuland zu betreten versucht, methodisch unsicher, aber mit einer seltenen Sprachkraft und Leidenschaft. Barth beschreibt diesen Aufbruch im eben genannten nebligen Gelände11 als einen Aufbruch, bei dem das Ziel nur vermutet, ja die Erreichbarkeit des Zieles (Befreiung aus der Umklammerung 7 Barth, Moderne Theologie, 341 f. 8 Troeltsch, Historismus. Vgl. dazu Peter, Troeltsch, passim. 9 Es ist diese rezeptionstheoretische Perspektive, welche das große Barth-Buch von Georg Pfleiderer so eigenständig und für mich so interessant macht, wenngleich er deutlich andere Schlüsse aus seinen Forschungen zieht. 10 Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919 und ders., Römerbrief (Zweite Fassung) 1922. 11 Zum religiösen Nebel: Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 70 f.

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durch Historismus und Individualismus) ungewiss ist. Aber zugleich ist offensichtlich, dass er etwas »gesehen« oder »gehört« zu haben vermeint, und die Aufmerksamkeit, die er erhält, bestärkt ihn darin, dass es kein Alleingang ist. Die Lektüre der ersten beiden Bände des Thurneysen-Briefwechsels macht das vollends deutlich: Da ist einer, der wirklich ein Fundamentalproblem erkannt hat und zugleich etwas von der kritischen Kraft der Bibel wiederentdeckt – eine Sprache, eine große Tradition, eine Matrix, könnte man sagen. Das, was er später in der Kirchlichen Dogmatik Schritt für Schritt rekonstruieren oder neu konstruieren wird. Dies allerdings, so muss man sagen, später charakterisiert durch eine barocke Fülle und Protuberanz an theologischer Text-Produktion, was manchmal die Lese- und Rezeptionsfreude mindert. Und dennoch: Barth war aufgegangen  – so würde ich es beschreiben  –, dass die schon vor, aber programmatisch bei Schleiermacher, bei Harnack und ­Troeltsch durchgeführte Reorientierung der Theologie auf der Basis eines neuzeitlichen Religionsbegriffs und die damit verbundene vollständige Historisierung der Tradition dazu führt, dass sozusagen die gesamte biblische Überlieferung gleichsam in Museumsvitrinen eingeschlossen – und somit ihrer lebendigen und kritischen Kraft beraubt wird.12 War die Theologie mit ihrer Grundorientierung am Religionsbegriff vielleicht wirklich auf falsche Schienen geraten? Zutiefst irritierend für Barth war jedenfalls, dass genau dort, wo »nach Gottes Wort reformierte Theologie«13 Orientierung sucht, in der Auslegung der biblischen Texte nämlich, bei dieser Theologie selbst eine methodische und entsprechend auch inhaltliche Orientierungslosigkeit herrschte. Hier ging ein exegetischer Historismus mit der ziemlich arbiträren theologischen Wertung der Exegeten durcheinander, die nur subjektiv begründet und entsprechend ideologieanfällig war. Vor allem aber war das, was man als biblisch-dogmatische Matrix bezeichnen könnte, durch die Umstellung auf den Religionsbegriff ihrer Normativität und ihrer strukturbildenden Energie beraubt worden: Die Grammatik christlicher Rede und ihre materiale Semantik, welche die Verkündigung in Predigt und Liturgie, in Seelsorge und Katechetik zusammengehalten hatten, waren zuerst durch ein individualistisches Religionsverständnis verflüssigt worden und dann zu großen Teilen verdampft. Bei Schleiermachers Reden Über die Religion ist die Verflüssigung inhaltlicher, in Bibel und in Bekenntnissen auskristallisierten Traditionen nicht zu übersehen, ja geradezu Programm geworden: Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, dass ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte.14

12 Vgl. Peter, Barths Schweizer Stimme, 105–126. 13 Vgl. Barth, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften, 63–103. 14 Schleiermacher, Über die Religion, 103.

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Und auch wenn Schleiermacher die frühen provokativen Äußerungen in den Reden später durch Umformulierungen und Erklärungen gemildert hat, so bleibt doch die subjektivitätstheoretisch-individualistisch gefasste, religionsphilosophische Verflüssigung der christlichen Überlieferung das Zentrum seines Denkens, ebenso wie eine material entkernte Dogmatik als kühle »Histo­ rische Theologie« und als kirchenleitend-professionelles Wissen fortan die weitere Denkentwicklung bestimmen werden. David Friedrich Strauß hat sowohl den modernen Problemdruck wie auch die Folgen dieser Verflüssigung bei Schleiermacher scharfsichtig beschrieben: Dessen theologisches Denken sei »der ernste Versuch« gewesen, die Religion, mit Aufopferung der alten Formen, von innen heraus neu zu beleben. Sofern es diese bestimmten Gestaltungen der Religion waren, an welchen die Aufklärung Anstoß nahm: so führte Schleiermacher sie auf ihren ersten noch formlosen Zustand, im Gefühl, zurück, wie man ein altmodisch gewordenes goldenes Gefäß einschmilzt, und es so alle beliebigen neuen Formen anzunehmen befähigt. Die Zeit mochte die christlichen Dogmen nicht mehr: die Dogmen sind nicht die Religion! sagte Schleiermacher; sie sind höchstens ihr Gewand, das sie wechseln kann. An der Bibel war Manches anstößig geworden: keck es ausgeschieden! rief Schleiermacher; ist doch die Bibel nicht das lautere Metall, sondern nur das Erz, in welchem dasselbe mit verun­ reinigenden Stoffen untermischt erscheint.15

Dasselbe gilt für Ernst Troeltsch: Mit Troeltschs Abstoßungssemantik von Altund Neuprotestantismus, die er mit einer sehr apodiktischen Beschreibung einer Totalhistorisierung und vollständigen Relativierung aller schriftbezogenen Religion verbindet, kommt es tatsächlich zu einer fast vollständigen Entsorgung aller biblischen und nachbiblischen Traditionen und ihrer Orientierungsfunktion. Damit geht ein komplexer sprachlicher Kommunikationsraum (Predigt, Bibelkreise, Liturgie, Katechetik) verloren, diese kirchlichen Praktiken sinken herab zu einer etwas seltsamen Praxis von nur bedingt Fortschrittsund Modernetüchtigen. Man sehe Troeltschs Glaubenslehre daraufhin an. Ich kann darin keine Ansätze zu einer eigentlich systematisch-theologischen Arbeit finden.16 Hinzu kommt, dass bei Troeltsch ein substanzieller Kirchenbegriff fehlt. Er arbeitet hier wiederum mit einem Dual – nämlich »kirchliche Zwangskultur« versus kirchenfreie, religiös irgendwie bewegte individuelle moderne Kultur. Eine realistische Ekklesiologie aber wäre ein unverzichtbares Strukturelement theologischer Theorie wie pastoraler Praxis. »Predigtnot« – dies ein erstes Fazit – ist in der Analyse Barths das ziemlich grundlegende Problem einer Theologie und einer Kirche in der Moderne, welche mit der Subjektivierung und Historisierung ihrer Tradition sowohl ihre Sprache wie auch ihre strukturgebende Matrix verliert. Barths exegetische, theologiegeschichtliche und dogmatische Arbeit kann man als einen Rekon­ struktionsversuch dieser Matrix bezeichnen, dessen also, was von Schleier15 Strauß, Schleiermacher und Daub, 17. 16 Vgl. meinen Aufsatz: Peter, Überzeugungs- und Gewissenreligion.

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macher und Troeltsch für obsolet erklärt und entsorgt worden war: nämlich ein an der emphatischen Formel »Wort Gottes« orientiertes Denken, das die biblische Grundsemantik und die dogmatische Leitstruktur wieder zusammen zu denken versucht. Damit einher geht eine ebenso dezidierte Rekonstruktion einer reformierten Ekklesiologie – dies im Gespräch und in Abgrenzung gegenüber lutherischen und vor allem katholischen Ekklesiologien, was sich an Barths Catholica-Studien von 1923–1928 und den entsprechenden Publikationen ablesen lässt.17 2.

Wort Gottes und Sprachwelten des Glaubens

Ich komme zum zweiten Teil meiner Ausführungen, in dem ich jene Elemente genauer benennen will, die ich selbst als konstruktiv und vital wichtig für meine Pfarramtspraxis erfahren habe. Kurz gesagt leistet Barth so etwas wie eine thick description der im Begriff »Wort Gottes« verankerten Sprach- und Kommunikationswelt, es geht ihm um die Wiederzugänglichmachung einer an der Bibel und ihren Narrativen orientierten Sprache, dies mithilfe einer genialen Rekonstruktion der Trinitätslehre: Die hermeneutischen Reflexionen und theologischen Auslegungen Barths in den beiden Römerbriefauslegungen und ihre dogmatischen Fortschreibungen und Befestigungen kulminieren in der Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes, welche das geoffenbarte, das in der Bibel geschriebene und im Gottesdienst verkündigte Wort Gottes in dichte gegenseitige Bezüge setzt. Mit dieser Fassung des trinitarischen Gedankens wird Gottes Selbstoffenbarung in der Geschichte Jesu Christi und deren Bezeugung im geschriebenen Wort der Bibel mit dem immer wieder neu und lebendig gepredigten und gehörten Wort im Gottesdienst auf eine faszinierend-dichte Weise verbunden. Dies lässt den gottesdienstlichen Anfangs- und Zielpunkt der Barthschen Theologie deutlich werden – und zugleich macht es verständlich, weshalb bei ihm Gottesdienst und religiöses Feiern ohne eine klare biblisch-dogmatische Orientierung und ohne Zentrierung auf »Gottes Wort« hin ein Ausdruck der Krise und ein Programm für die Perpetuierung der Krise sind.18 Diese Analyse Barths, wie auch seine mit einer veränderten Hermeneutik verbundene Weise des Theologietreibens ist nun von hoher Bedeutung für die pfarramtliche Praxis. Ich erinnere mich ganz persönlich, wie sehr Barths Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes – diese Rekonstruktion der theologischen Bedeutung des Gottesdienstes – mir in meiner pastoralen Praxis wichtige Impulse gab. Dies, weil sie dem Ganzen der pfarramtlichen Tätigkeit eine klare innere Perspektive und einen Richtungssinn gibt, weil diese 17 Barth, Katholizismus, und dazu: Jüngel, Barth-Studien, 127–179, und Marga, Katholizismus, 137–143. 18 Vgl. die freundschaftliche Kontroverse mit Georg Pfleiderer, in: Peter, Gottesdienst, passim.

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veränderte Orientierung mithilft, näher an gemeindlicher Kommunikation zu arbeiten, weil diese Art von Theologie die Sprache und die narrativen Exempla für die Seelsorge lebendig hält, weil sie Konfirmandenunterricht wie Bildungsangeboten eine innere Struktur gibt. Und als Dekan und auch als Präsident der Kommission für den ersten Schweizer Predigtpreis kann ich sagen, dass unsere Kirche nicht an einem Zuviel solcherart konzentrierter Theologie krankt, wie manchmal behauptet wird, sondern an einem Zuwenig. Und damit wären wir wieder bei der »Predigtnot«: Evelyn Finger hat vor etwa zwölf Jahren in einem eindrücklichen Artikel Schluss mit dem Geschwätz! die erbärmliche Predigtkultur anhand von Weihnachtspredigten beschrieben. Sie zitiert die »harmlosen, unverbindlichen, kindischen, fast schon blasphemischen Wohlfühlsätze«, die sie bei ihrer Recherche gelesen oder gehört hatte, und schreibt: Das Problem ist gleichmäßig und konfessionsunabhängig übers ganze Land verteilt. Im Norden wird seitenlang aus der Kirchenzeitung zitiert und über Fernsehpastor Fliege philosophiert. Im Osten werden Bibelschafe mit Versuchskaninchen verglichen. Im Südwesten wird die Schätzung Judäas in einem Atemzug mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer genannt, wird die Weihnachtsfreude als eine Art Börsengewinn betrachtet und gemutmaßt, Maria und Joseph seien vor Heiligabend ›auch sehr im Stress‹ gewesen.19

Evelyn Fingers Ausruf und Titel Schluss mit dem Geschwätz ! weist genau auf dieses Problem hin: nämlich das theologische Vakuum, die Leere in den Predigten, in jenen Sprachpraktiken, welche gemäß Bekenntnistexten und Kirchenordnungen doch das Zentrum des Gottesdienstes ausmachen sollten in der Auslegung biblischer Texte. Sie kennen vermutlich die eindringlich-emphatische, halb humoristisch und halb ethnologisch zu nennende, frühe Beschreibung eines Sonntags­ gottesdienstes durch Karl Barth im oben zitierten Vortrag Not und Verheißung der christlichen Verkündigung von 1922. Wie er dort mit ungemeiner Sprachkraft den Erwartungshorizont skizziert: Die Erwartung nämlich, dass Gott selber in Bibellesung und Predigt, im Gebet und Gesang präsent ist, spricht, sich kundtut, wirkt – und erst so »Verkündigung« und »Gottesdienst« möglich macht: »Wenn am Sonntagmorgen die Glocken ertönen, um Gemeinde und Pfarrer zur Kirche zu rufen, dann besteht da offenbar die Erwartung eines großen, bedeutungsvollen, ja entscheidenden Geschehens.« – Und jetzt beschreibt Barth diese seltsame Institution Kirche, ihre Gebäude, die als »Schauplatz außerordentlicher Dinge« gedacht seien, die Menschen, wenige nur oder viele, die diesem Gebäude zuströmten, und dann fährt er fort: Wo sie  – was suchten? […] Unterhaltung und Belehrung? Eine sehr merkwürdige Unterhaltung und Belehrung auf alle Fälle! Erbauung? […] Und da ist vor allem ein Mann, auf dem die Erwartung des da scheinbar bevorstehenden Geschehens in ganz 19 Finger, Geschwätz, passim.

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besonderer Weise zu ruhen, zu lasten scheint […] der diesen Beruf ergriffen, Gott weiß aus was für Verständnissen und Missverständnissen heraus […]. Und dieser Mann wird nun vor der Gemeinde und für die Gemeinde beten, wohlverstanden: beten – zu Gott! Er wird die Bibel öffnen und Worte voll unendlicher Tragweite daraus zur Verlesung bringen, Worte, die alle auf Gott sich beziehen. Und dann wird er auf die Kanzel steigen und – welches Wagnis auf alle Fälle! – predigen, d. h. aus seinem Kopf und Herzen etwas hinzufügen zu dem, was aus der Bibel verlesen ist, ›biblische‹ Gedanken der Eine nach bestem Wissen und Gewissen, kühn oder auch matt an der Bibel vorbeiflatternde Gedanken der Andere […] Von Gott scheint ja hier auf alle Fälle, nolens volens vielleicht, die Rede sein zu sollen. Und dann wird er die Gemeinde singen lassen, altertümliche Gesänge […]: ›Gott ist gegenwärtig!‹ Ja, Gott ist gegenwärtig. Die ganze Situation zeugt, ruft, schreit ja offenbar davon, und wenn sie, vom Pfarrer oder von der Gemeinde aus gesehen, noch so fragwürdig, kümmerlich und trostlos wäre, ja dann vielleicht gerade am meisten, mehr noch als da, wo Fülle und – menschlich geredet – gutes Gelingen das Problem der Situation halb oder ganz verdecken.20

Es ist wahrscheinlich, dass junge Pfarrer und Pfarrerinnen, die von solchen Texten inspiriert sind, anders in ihr Amt einsteigen und es anders führen, als jene, die den Gottesdienst als schwierige und lästige, nach Form wie Inhalten überlebte Veranstaltungen ansehen, welche lieber bei mondänen Kunstvernissagen, Chats oder Pressetalks dabei wären. Barth gelingt es, eine etwas unansehnliche, belächelte, vielleicht staubig daherkommende Sache in ihrem eigentlich radikalen und schönen Kern zu beschreiben: Gottesdienst! Es ist diese Perspektive Barths der Grund, weshalb ich mich seit langen Jahren in der Barth-Stiftung engagiere: Studentinnen und Studenten, die solcher Theologie begegnen und ihre Impulse eigenständig aufnehmen, sind für unsere Kirchen wichtig. Wieviel Inspiration, wieviel narrative Dynamik und lebensweltliche Plausibilität, wieviel Religion und Religionskritik, wieviel Glaubens- und Verzweiflungsgeschichten, wieviel Selbstverfehlungs- und Heilungsdramatik in den biblischen Texten steckt, wenn man sie nicht einfach als historisierte Traditionsstücke und moralische Texte zu lesen weiß – das zeigt Barths Kirchliche Dogmatik in den kleingedruckten Exkursen. Ich kenne keinen dogmatischen Entwurf der Neuzeit, der so biblisch orientiert ist und zugleich den Atem der großen konstruktiven Theologie hat. Gewiss, als »Vertreter einer wissenschaftszugewandten pastoralen Praxis« würde ich anmerken, dass diese dogmatische Rekonstruktionsarbeit Barths mit ihrer Gehorsams- und Autoritätsrhetorik und in ihrer grundsätzlichen Weigerung, Vermittlungsfragen und hermeneutische Fragen als solche zu diskutieren, nicht nur zu einer Entfremdung zwischen Theologie und den historisch arbeitenden Disziplinen geführt hat, sondern auch zur Entfremdung jener Mitglieder der Kirche beigetragen hat, die mit guter Bildung, historischen Kenntnissen und auch hohen Erwartungen Mitglieder unserer Kirche sind.

20 Barth, Not und Verheißung, 73–75.

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Erstaunlich sodann, wenn ich auch das kritisch anmerken darf, und aus meiner Sicht ein echtes Problem, dass Barth zwar dem Gottesdienst, der Verkündigung und dem Gebet, auch der Ausstrahlung all dieser Praktiken in ein Gemeindeleben hinein so hohe Aufmerksamkeit schenkt und deren Sinnzusammenhänge rekonstruiert, sich aber für das, was gute Liturgie im Gottesdienst ermöglicht und leistet, nie wirklich interessiert hat. Man versteht ja, dass er sich als nüchterner Reformierter mit seltsam verschwiemelten liturgischen Bewegungen und ihren Produktionen nie anfreunden konnte, dass ihm die fehlende freie Geistigkeit und leicht stickige Luft, die dauernde Tiefsinnsanmutung ohne wirklichen Tiefsinn in Andachtsübungen auf die Nerven ging. Mich verwundert aber, dass er die konstruktive Leistung großer, prägender Liturgien, ihren Beitrag für das Sinnuniversum des Gottesdienstes und die Prägung gültiger Formen und Traditionen nie gewürdigt und vermutlich auch eben nie wirklich wahrgenommen hat. Ist das nicht augenfällig, wenn man bedenkt, dass in den sprachlichen Formen der Liturgie sich ein ähnliches sachliches Anliegen ausdrückt wie in den konstruktiven Leistungen der Kirchlichen Dogmatik Barths? Nämlich dies, dass damit eine große, dramatische, narrative und eindringliche Interpretation der Glaubensgeschichte in eine zeitliche Ordnung gebracht wird, und das heißt: in einem Kirchenjahr wiederholungs- und vertiefungsfähig gemacht wird? Ob es Barth tatsächlich entgangen war, dass Perikopenordnungen etwa einen Schutz gegen grassierende Subjektivismen, Themenpredigten und pastorale Rosinenpickerei mit »Lieblingstexten« sein können? Dass sorgfältige Liturgie einen hohen Beitrag zur Glaubenskommunikation leistet? Ich deute an, dass es bei Barth eine Leerstelle im Bereich der theologischen Ästhetik gibt. Neben dem großen Beitrag zu einer Revitalisierung biblischer Grammatik und Semantik, die sich in der Verkündigung positiv auswirkt, sehe ich in Barths Werk aber auch einen direkten Gewinn für die Seelsorge. Man sollte die anthropologischen und ethischen Ausführungen Barths als echte Sprachhilfen für die Seelsorgepraxis lesen. Ich will nur zwei Beispiele nennen, in denen sich zeigt, dass thick description – dichte, gute Beschreibung biblischer und dogmatischer Sinnkontexte Seelsorgern und Seelsorgerinnen Sprache gibt für ihre Gesprächspraxis. Eindrücklich für mich etwa jene Passage in der KD III/2 – wo es um die Erfahrung der Zeit geht, des konkreten Erlebnisses der Zeit­dimensionen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft –, bei der sich im Licht einer christologischen Perspektive neue Wahrnehmungen einstellen. Barth spricht dort von der Vergangenheit, der Zeit, aus der wir herkommen, um jetzt nicht mehr in ihr zu sein. Sie ist die Zeit, die einst die unsere war, in der wir – das war vor Jahren, gestern, heute, morgen – unser Leben hatten – in der wir Geschichte mitmachten, in der wir damals wir selbst waren – waren und jetzt nicht mehr sind. […] Es ist die Vergangenheit jedes einzelnen Menschen, aber so auch die der Menschheit, so auch die der Völker und der sonstigen menschlichen Gemeinschaften ein Meer von schlicht vergessener Wirklichkeit, die doch einst auch ihre Zeit hatte, die sie aber jetzt nicht mehr hat, die nun dahin ist, als wenn sie sie nie gehabt hätte. Inmitten dieses Meeres freilich einige kleine Inseln von erinnerter Wirk© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

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lichkeit, ein paar Namen, Gestalten, Ereignisse und Verhältnisse, vielleicht kahl und schattenhaft, vielleicht mit einigen Spuren von Umriß und Farbe, von einstigem Leben und Geschehen, vielleicht, wo die Mittel und die Kunst dazu vorhanden, in ihrer Plastik ein Stück weit zu rekonstruieren und so wieder auf den Plan zu führen.21

Im Kontext dieser »Zeitphänomenologie« kommt Barth auf Erinnerungen und Zukunftshoffnungen zu sprechen. Er beschreibt die Wahrnehmungsveränderung so, dass wir damit rechnen dürfen, »daß der Wille und die Tat Gottes der Sinn und Grund unseres Seins in der Zeit und so auch unseres Seins in der hinter uns liegenden Zeit ist«. Wieder, so endet diese Passage, »haben wir es ja nicht mit einer abstrakten Ewigkeit zu tun, sondern mit der Ewigkeit, in der Gott wollte, will und wollen wird, daß wir als seine Geschöpfe seien und also nicht nicht seien, nicht verloren gingen«.22 Für mich ein Beispiel, wie man mit Barth ein Stück Seelsorge-Sprache gewinnen kann. Thematisch damit verwandt, hat er in einem erst posthum veröffentlichten Fragment zur Kirchlichen Dogmatik eine andere Facette von Zeitwahrnehmung mit einigem Humor ins Ethische gewendet, denn er spricht nun von einer situativen Aufmerksamkeit und Wachheit, dies mit Bezug auf Koh 3 »Für alles gibt es eine Stunde, / und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel«. Dieses in vierzehn Doppelversen ruhig hin- und her schwingende Gedicht bringt Zeit- und Lebens-Erfahrungen zur Sprache, schöne, aber auch schwierige. Kohelet schaut nicht nur hin, wo geboren, gepflanzt, gebaut, umarmt und geküsst wird, sondern auch, wo’s ans Sterben, Ausreißen, Distanzfinden und Abschiednehmen geht, wo gestritten, geklagt und geweint wird. Barth kommentiert das auf eine herrlich-humorvolle Weise ethisch, indem er auf die menschliche Dummheit zu sprechen kommt. Sie zeige sich dort, wo der Mensch meine, besonders wesentlich zu sein, und gerade dann stets das Wesentliche verfehle: »immer zu früh oder zu spät kommt, immer schläft, wo er wachen sollte, wacht, wo er ruhig schlafen dürfte, immer schweigt, wo geredet werden müsste, und immer redet, wo Schweigen das beste Teil wäre.«23 Immer wolle man dann meditieren, wenn man arbeiten sollte (oder umgekehrt), immer streiten, wo man Frieden suchen oder eben endlich Konflikte austragen sollte… In ganz konkreten seelsorgerlichen Situationen helfen solche Texte, wenn man sie nicht in der Museumsvitrine belässt, sondern herausnimmt, denn sie sprechen an, richten auf, tragen dazu bei, innere oder äußere Prozesse anzustoßen. Seelsorge heißt ja, Menschen im Licht des »Gotteswortes«, konkreter religiöser Traditionen bei der Klärung ihrer Nöte und Sorgen behilflich zu sein. Man könnte auch sagen: den Glauben neu zu proben, zu leben und zu feiern.

21 KD III/2, 617. 22 Ebd., 647. 23 Barth, Dummheit, 460 f.

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3. Doppelperspektive Ich komme zum Schluss, allerdings ohne wichtige Fragen der Ekklesiologie, Barths Klärung der Aufgaben, der inneren Struktur und Verfasstheit der christlichen Gemeinde in nachchristlichen Zeiten thematisiert zu haben. Nur so viel: Barths Ekklesiologie hätte in einer verunsicherten, reformgeschüttelten Kirche einiges zu bieten, in der Professionals und Mitglieder von Kirchenpflegen die Kirche immer mehr als eine Art Anbieterin von Unterhaltungs-, Erbauungsund Bildungsveranstaltungen sehen, als Sozialagentur mit universalistischer Rhetorik und (starken) Selbsterhaltungsimpulsen. Barths Theologie hätte mit ihrer emphatischen Welt-Gemeinde-Differenz, mit ihren biblisch-systematischen Denkmustern von Erwählung und Versöhnung viel Orientierungs- und Justierungspotential in unseren Reformdebatten. Sie haben vielleicht bemerkt, dass ich als wissenschaftszugewandter pastoraler Praktiker keine rein barthianische Perspektive eingenommen haben, sondern sozusagen eine Doppelperspektive zugunsten Barths vorschlage: Einen cultural-linguistic approach, der von George Lindbeck24 inspiriert ist, mit dem Modell der Sprache arbeitet und Kommunikationsbedingungen und -chancen postmoderner Öffentlichkeiten für die Kirche bedenkt. Doch auch dies ist letztlich ein von Barth inspiriertes Denkmodell, welches kritisch die Vernachlässigung oder Vergleichgültigung biblischer Erzählstrukturen, Formen, Inhalte in den mainstream-Dogmatiken thematisiert. Was dabei die Auswirkungen nicht nur für die Ekklesiologie, sondern auch für eine christliche Ethik sind, das hat Stanley Hauerwas25 mit klarem Auge benannt. Zugleich mit der Metaphorik der Sprache (Kernwortschatz, Semantik, Grammatik, Narrativ) habe ich einen bei Barth oftmals befremdlichen Autoritätsgestus, eine Apodiktik und Behauptungsfreudigkeit auch im Hinblick auf exegetisch und historisch schwieriges Material zu mildern versucht: Wer von Grammatik spricht, weiß um Normen eines Sprachsystems, die aber gerade keine autoritären sind, sondern systemintrinsische. Diese Intrinsik aber, gewissermaßen die Offenbarungslogik, ist es, welche Barth auf eine großartige Weise in der Christologie herausgearbeitet hat. Das ist für mich Barths große Leistung. Sie kulminiert in jenem Satz unseres radikalen Glaubens, den er neu zum Leuchten gebracht hat: dass Gott sein Angesicht im Gesicht jenes Menschen Jesus von Nazareth gezeigt hat, dass damit die destruktiven Dynamiken menschlicher Freiheit und Gottesferne exemplarisch gebrochen und überwunden wurden, dass damit auch etwas von unversehrter Menschlichkeit – die Ebenbildlichkeit des Menschen – wieder sichtbar geworden ist. Lassen Sie mich zum Schluss deshalb aus dem Vortrag Die Menschlichkeit Gottes von 1956 ein paar Sätze zitieren, weil hier so schön deutlich wird, wie es Barth gelingt, jenes dogmatische Kernthema mit dichten biblischen Bezügen zu versetzen. Das ist inspirierend für pfarramtliche Praktiker: 24 Lindbeck, Nature, passim. 25 Hauerwas, Christian Ethics, passim.

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Seine freie Bejahung des Menschen, seine freie Teilnahme an ihm, sein freies Eintreten für ihn – das ist Gottes Menschlichkeit. Wir erkennen sie genau dort, wo wir auch und zuerst seine Göttlichkeit erkennen. Ist es nämlich nicht so, daß in Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist, gerade echte Göttlichkeit auch echte Menschlichkeit in sich schließt? Da ist ja der Vater, der sich seines verlorenen Sohnes – der König, der sich seines zahlungsunfähigen Schuldners – der Samariter, der sich des unter die Räuber Gefallenen erbarmt, sich seiner in ebenso unerwarteter wie großzügiger und durchgreifender Tat seines Erbarmens annimmt. Und das ist die Tat des Erbarmens, auf die alle diese Gleichnisse als Gleichnisse des Himmelreiches hinweisen.26

Literatur Barth, Karl, »Dummheit«, in: Unveröffentlichte Texte zur Kirchlichen Dogmatik, GA II/50, hg. v. H. Stoevesandt / M. Trowitzsch, Zürich 2014, 575–592. –, Die Kirchliche Dogmatik III/2. Die Lehre von der Schöpfung, Zürich-Zollikon 1948 (= KD). –, Die Menschlichkeit Gottes. Vortrag, gehalten an der Tagung des Schweiz. Ref. Pfarrvereins in Aarau am 25. September 1956 (ThSt[B] 48), Zollikon-Zürich 1956. –, Not und Verheißung der christlichen Verkündigung (1922), in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, GA III/19, hg. v. H. Finze, Zürich 1990, 66–97. –, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, GA II/16, hg. v. H. Schmidt, Zürich 1985. –, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, GA II/47, hg. v. C. van der Kooi / K. Tolstaja, Zürich 2010. –, Der römische Katholizismus als Frage an die protestantische Kirche, in: Vorträge und kleinere Arbeiten 1925–1930, GA III/24, hg. v. H. Schmidt, Zürich 1994, 308–343. –, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften. Vorlesung Göttingen Sommer­ semester 1923, GA II/30, hg. v. der Karl-Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Leitung: Eberhard Busch), Zürich 1998. Barth, Karl – Rade, Martin, Ein Briefwechsel, hg. v. C. Schwöbel, Gütersloh 1981. Barth, Karl  – Thurneysen, Eberhard, Briefwechsel, Bd. 1: 1913–1921, GA V/3, hg. v. E. Thurneysen, Zürich 1973. Finger, Evelyn, Schluss mit dem Geschwätz. Früher war die Predigt eine Kunst. Heute liefern die meisten Pfarrer nur Seelenwellness, DIE ZEIT, 13.12.2007, Nr. 51. Graf, Friedrich Wilhelm, Die Freiheit der Entsprechung zu Gott. Bemerkungen zum theozentrischen Ansatz der Anthropologie Karl Barths, in: T. Rendtorff (Hg.), Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths, Gütersloh 1975, 76–118. –, »Der Götze wackelt«?. Erste Überlegungen zu Karl Barths Liberalismuskritik, EvTh 46 (1986), 422–441. –, Ein Radikaler unter den Theologen. Zum 100. Geburtstag: Kritische Erinnerung an Karl Barth, Süddeutsche Zeitung, 10./11. Mai 1986, Nr. 106, 141. Hauerwas, Stanley, How »Christian Ethics« Came to Be, in: J. Berkman / M. Cartwright (ed.), The Hauerwas Reader, Durham, NC, 2003, 37–49. Jüngel, Eberhard, Von der Dialektik zur Analogie. Die Schule Kierkegaards und der Einspruch Petersons, in: Ders., Barth-Studien, Zürich 1982, 127–179.

26 Barth, Menschlichkeit, 15.

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Niklaus Peter

Lindbeck, George, The Nature of Doctrine. Religion and Theology in a Postliberal Age, Philadelphia 1984. Marga, Amy, Barth und der Katholizismus, in: M. Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016, 137–143. Peter, Niklaus, »Eine dogmatisch nicht verhärtende Überzeugungs- und Gewissensreligion«  – Ernst Troeltschs Neuzeitdeutung und ihre Perspektiven für protestantische Kirchen- und Kulturarbeit, in: G. Pfleiderer / A. Heit (Hg.), Protestantisches Ethos und moderne Kultur. Zur Aktualität von Ernst Troeltschs Protestantismusschrift, Zürich 2008, 189–200. –, Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck. Das Problem des Historismus in der Perspektive zweier Theologen, in: F. W. Graf (Hg.), Troeltsch-Studien, Bd. 11, Gütersloh 2000, 94–122. –, Gottesdienst als Kommunikation des Evangeliums, in: R.  Kunz / A.  Marti / D.  Plüss (Hg.), Reformierte Liturgik – kontrovers, TVZ, Zürich 2011, 160–171. –, Karl Barths »Schweizer Stimme«, in: J. Enklaar / H. Ester (Hg.), Duitse Kroniek, Sonderheft Vivat Helvetia. Die Herausforderung einer nationalen Identität, Amsterdam 1998, 105–126. Pfleiderer, Georg, Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert (BHTh 115), Tübingen 2000. Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 1799/1806/1821, hg. v. N. Peter / A. Büsching / F. Bestebreurtje, Zürich 2012. Strauß, David Friedrich, Schleiermacher und Daub in ihrer Bedeutung für die Theologie unserer Zeit, in: Ders., Charakteristiken und Kritiken. Eine Sammlung zerstreuter Aufsätze aus den Gebieten Theologie, Anthropologie und Aesthetik, Leipzig 21844, 3–212. Tietz, Christiane, Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch, München 2018. Troeltsch, Ernst, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922.

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Notger Slenczka

»Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen …« Gott als souveränes Subjekt der Theologie und das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit – der enzyklopädische Ansatz Karl Barths im Gespräch

1. Vorbemerkungen Einige Vorbemerkungen, die aber bereits inhaltlich relevant sind. 1.1

Schleiermacher als Gesprächspartner

Mein Ziel ist es, die Enzyklopädie Karl Barths1 ins Gespräch zu bringen mit entsprechenden Entwürfen anderer Autoren – ich hatte die Wahl zwischen Schleiermacher, Bultmann und Ebeling,2 also im allerweitesten Sinne existenzhermeneutischen Ansätzen. In der Qual der Wahl stehend habe ich mich für die Position entschieden, mit der sich Barth in seinem enzyklopädischen Entwurf ausdrücklich nicht auseinandersetzen will, obwohl er einräumt, dass Schleiermacher in seiner Kurzen Darstellung »dieselbe oder eine ähnliche Aufgabe«3 bearbeitet habe. Trotz dieses expliziten Verzichts auf eine ausdrückliche Auseinandersetzung ist Schleiermacher aber insbesondere in den Eingangskapiteln als Gesprächspartner beständig präsent, wie sich zeigen wird. 1.2

Karl Barth und das Konzept einer ›Enzyklopädie‹

›Enzyklopädie‹ bezeichnet eine Einleitungswissenschaft – Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen betitelt Schleier­ macher bekanntlich die Thesen zu seiner Vorlesung, Ebeling nennt seine enzyklopädische Orientierung Studium der Theologie, und Barth wählt den 1 Barth, Einführung. 2 Schleiermacher, Kurze Darstellung (im Folgenden wird die 2. Aufl. zitiert als: Kurze Darstellung2 plus Paragraph und Seitenzahl); vgl. auch ders., Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie; ders., Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauss; Bultmann, Theologische Enzyklopädie; Ebeling, Studium der Theologie. Vgl. ferner Buntfuß / Fritz, Fremde unter einem Dach; Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. 3 Barth, Einführung, 19.

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Titel einer Einführung in die evangelische Theologie. Jeweils knappe Texte, die das bieten, was man von einer Enzyklopädie – einem einführenden Rundgang durch die Wissenschaften aus theologischer Perspektive – erwarten darf: eine Entfaltung des Wissenschaftscharakters der Theologie; ihre Verortung im Zusammenhang anderer Wissenschaften, und eine Plausibilisierung der internen, von einer Gesamtaufgabe geleiteten Gliederung der Theologie in Teilfach­ gebiete. Die genannten Veröffentlichungen sind meistens Druckfassungen von Einführungsvorlesungen oder Thesen ›zum Behufe‹ derselben, erheben also den Anspruch, eine Orientierung zu Beginn des Studiums zu bieten. Eine enzyklopädische Selbstverortung bieten aber natürlich nicht nur diese Textgenera, sondern Schleiermacher ebenso wie Barth reflektieren immer wieder – Barth beispielsweise in seiner Kirchlichen Dogmatik, Schleiermacher in der Einleitung zu allen seinen Hauptvorlesungen bzw. -werken – das Verhältnis der sacra doctrina zu den übrigen Wissenschaften; diese enzyklopädische Verortung ist begründet – jedenfalls bei Schleiermacher – in einem Systemanspruch: der menschliche Lebensvollzug bildet eine gegliederte Einheit, die sich in der Einheit eines diesen Lebensvollzug reflektierenden Wissenschaftssystems abbildet.4 Die Grundlage für dieses Systemkonzept bilden zur Zeit Schleiermachers nicht erst die großen kritischen und idealistischen Systementwürfe, sondern der Ursprung dieses Anspruchs liegt in der Wissenschaftstheorie und dem System der Wissenschaften bei Aristoteles, in dessen Zusammenhang sich die mittelalterliche und die frühneuzeitliche Theologie aller Konfessionen eingezeichnet hat.5 Schleiermacher steht in dieser Tradition. Der Ansatz Barths, der diese von Aristoteles her begründete Verwandtschaft der Theologie mit den anderen Wissenschaften ausdrücklich ablehnt,6 ist dabei nicht etwa schlichter, sondern auf den ersten Blick komplexer als derjenige Schleiermachers: Er scheint zunächst mit dem Programm einer Selbstverortung der Theologie im System der Wissenschaften zu brechen; das täuscht aber, denn sein Anspruch ist letztlich schon der, dass die Theologie mit der göttlichen Offenbarung den Ort markiert und den Grund zur Sprache bringt, dem sich alle anderen kulturellen Räume und Wissenschaften in einem strukturierten Zusammenhang zuordnen lassen. Der Verzicht auf eine Verortung der Theologie in einem vorgegebenen System der Wissenschaften überlässt die universitas scientarum nicht sich selbst, sondern eröffnet die Möglichkeit einer Wissenschaftshermeneutik, die die Selbstoffenbarung Gottes als Schlüssel zum Verständnis aller Wirklichkeit und zur Integration der entsprechenden Wissensgebiete ausweisen zu können

4 Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. 2; Herms, Herkunft, Entfaltung. 5 Man könnte hier auf die Gegenstandsbestimmung der Theologie in q 1 der pars I der theologischen Summe des Thomas verweisen, die in sehr präziser Weise der enzyklopädischen Verortung der Metaphysik im prooemium des Metaphysikkommentars entspricht – vgl. Slenczka, Gotteslehre, 292. 6 Vgl. KD I/1, 10 und Kontext, 35 ff.

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beansprucht.7 Der Anspruch auf Integration ist mindestens so intensiv wie das Bedürfnis der Abgrenzung gegen – ich darf das vorläufig zusammenfassend so formulieren – gegen jede außerhalb der Offenbarung begründete wissenschaftstheoretische Prämisse bzw. Systembildung.8 1.3

Zur Textbasis

Damit ist deutlich: die Einführungsvorlesung Barths ist wie die Kurze Darstellung Schleiermachers lediglich die Zusammenfassung der die gesamte theologische Arbeit leitenden wissenschaftstheoretischen Selbstverortung. Daher nehme ich mir die Freiheit, die beiden sachlich einschlägigen Texte jeweils zu lesen im Zusammenhang weiterer programmatischer Texte beider – im Falle Barths, wie im Titel angedeutet, lese ich die Einführung als Entfaltung der bereits 1922 vorgetragenen dritten These des Vortrages Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie: »Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können [bezüglich des Redens von Gott, N. S.], wissen und eben damit Gott die Ehre geben.«9 In dem thematisch ähnlichen und zeitgleich entstandenen Vortrag Not und Verheißung der christlichen Verkündigung will er »den ahnungslosahnungsvollen Jünglingen gegenüber, die beschlossen haben, ›Pfarrer zu studieren‹« die Aufgabe wahrnehmen, »sich bei der Bearbeitung ihrer traditionellen historischen, systematischen und praktischen Stoffe dieses ihres innersten, wahrhaftigsten Wesens immer wieder bewußt zu werden«.10 Barth glaubt sagen zu können, worauf die Theologie in allen ihren Teildisziplinen abzielt, nämlich auf die Situation des Predigers, dessen Not nicht rezeptgeleitet gelöst und bewältigt werden soll. Vielmehr gilt es, diese Not wahrzunehmen als den eigentlichen Ort der Theologie, an dem es eben – ich gehe wieder über zum ähnlich strukturierten Aufsatz über Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie – darum geht, zu begreifen, dass man durch das Studium nicht dazu befähigt wird, etwas zu können und zu tun, was man zuvor und ohne das Studium nicht konnte, sondern dazu, zu wissen und folglich anzuerkennen, dass das, was man als »ahnungsvoll-ahnungsloser« Jüngling nicht kann, man nicht nur als solcher, sondern aus Prinzip und auch als ausgebildeter Pfarrer nicht kann und nicht können wollen darf. Die Aufgabe der Theologie oder der Kirche ist es nicht, die Stimme Gottes zu vertreten, sondern so zu reden, dass im eigenen Reden des Menschen Gott selbst zu Wort kommt.11

7 Angedeutet ebd. 10; 47 f; dieses Programm einer christologischen Relektüre nicht nur der kirchlichen Verkündigung, sondern der Wirklichkeit insgesamt, deren Sinn sich aus der christologisch gefassten Offenbarung Gottes ergibt, führt Barth dann in der Gotteslehre (dort in der Analogielehre) und natürlich in der Schöpfungslehre durch. 8 Vgl. KD I/1, § 1. 9 Barth, Das Wort Gottes, 199 (Hervorhebung getilgt, N. S.). 10 Barth, Not und Verheißung, 71. 11 Barth, Das Wort Gottes, 213–218.

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Damit ist deutlich: Auch diese frühen Aufsätze sind enzyklopädische Texte, und die gleich zu analysierende explizit enzyklopädische Einführung in die evangelische Theologie ist, so wird sich zeigen, eine Entfaltung dieser knappen Zusammenfassungen in den frühen Aufsätzen. Dasselbe gilt natürlich für Schleiermacher, der die wissenschaftstheoretische Verortung der christlichen Theologie in der Einleitung zur Glaubenslehre und zur Christlichen Sittenlehre eingelöst hat.12 1.4

Theologie als scientia practica

Bereits ein kurzer Blick hinüber zu Schleiermacher: Barth betrachtet – das wird mit dem eben Gesagten deutlich und das werde ich noch anhand seiner Enzyklopädie verifizieren – die Predigt und, ich darf das so sagen, das Selbstverständnis des Predigers, seine Unterordnung unter das souveräne Reden Gottes selbst, als den Zielpunkt der theologischen Ausbildung. Die im Wissen um die Souveränität der Offenbarung begründete Deutung und Wahrnehmung der Aufgabe des Predigers ist der Zielpunkt, den alle Fächer der Theologie im Auge haben und von dem her sie sich begründen. Das entspricht formal dem enzyklopädischen Ansatz Schleiermachers, der in der Tradition des Verständnisses der Theologie als scientia practica13 die Theologie einer Form des Gottesbewusstseins zuordnet – dem auf die Person Jesu Christi konzentrierten – und als Anleitung zur Kirchenleitung versteht, denn: die christliche Religion geht in den meisten Konfessionen nicht im Vollzug bestimmter Handlungen und Riten auf, sondern teilt sich durch Vorstellungen mit, die auf Verstehen – im Zentrum ein Sich-Verstehen  – zielen.14 Kirchenleitung ist wesentlich der Dienst an der Reinigung und Verbreitung dieses Selbst- und Gottesbewusstseins. So sehr Schleiermacher den Vollzug der Predigt, jedenfalls auf den ersten Blick, anders deutet als Karl Barth: er ist sich einig mit ihm darin, dass alle Fachgebiete und das darin vermittelte Wissen dem Verständnis dieses Vollzugs der Kirchenleitung dient; das erhellt aus § 5 der Einleitung der Kurzen Darstellung, wo Schleiermacher schreibt: »Die christliche Theologie ist […] der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besiz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist.«15 Beide verorten – bei allen noch zu notierenden Unterschieden – in ihren Enzyklopädien die Theologie als scientia practica, und beide stellen die Bestimmung des Wesens des Christentums, die sie beide – auch Karl Barth! – bieten, in den Zusammenhang dieser Zielbestimmung.

12 Vgl. unten 4.3. 13 Vgl. Schleiermacher, Kurze Darstellung2, § 5–8, 142 f. 14 Vgl. ebd., § 5, 142. 15 Ebd.

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1.5

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Karl Barth als Ausgangspunkt

Ich setze ein mit Karl Barth und blicke von ihm aus auf Schleiermacher. Das entspricht nicht meinem Zugehörigkeitsgefühl, wohl aber meiner Neigung, mich mit einer Position zu beschäftigen, die nicht meine ist, und sie in ein wechselseitig kritisches Gespräch zu ziehen. Es ist bereits dem Titel zu entnehmen, dass einer meiner Dissense zu Karl Barth darin liegt, dass ich die (Selbst-)Verortung Barths als Alternative zu Schleiermacher nicht für plausibel halte. Diese Feststellung – Barth ist keine Alternative zu Schleiermacher – ist aus meinem Mund unbedingt ein Kompliment, und damit ist die letzte Vorbemerkung vorbereitet: Ich teile das hermeneutische Prinzip, an das Barth sich nicht immer, wohl aber in seinem Umgang mit Schleiermacher gehalten hat: dass nur der eine Position kritisieren darf, der sie zunächst geliebt hat. Ich würde von Bewunderung sprechen, die die Kritik begleiten muss, und ich gestehe gern, dass ich den nun zu besprechenden Text – die Einführung – wie fast alle Texte Barths sehr bewundere. Es wäre gegen meine Absicht, wenn sich herausstellen würde, dass ich ihm mit dem Folgenden Unrecht getan habe; aber wenn, dann liegt es daran, dass ich ihn möglicherweise zu heftig umarme. Ich werde erstens das Programm Barths vorstellen (2.) und das daraus begründete Programm der Binnendifferenzierung des Faches Theologie skizzieren (3.). Ich werde dann Schleiermacher dagegen profilieren und sein Programm nachvollziehen (4.). Ich werde schließlich zeigen, dass beide einen – von Barth ausdrücklich so genannten – ›hermeneutischen Zirkel‹ voraussetzen und damit im von Barth in Anspruch genommenen Gegensatz nah verwandt sind (5.). Abschließend werde ich einen Vorschlag zur Verhältnisbestimmung beider Ansätze bieten, den ich bereits früher vorgetragen habe (6.).16 2.

Karl Barth: Aufbau, Grundlinien und werkgeschichtlicher Kontext der Einführung

Zunächst also einen Überblick über die Enzyklopädie Barths17 – ich markiere nur ein paar zentrale Punkte und bleibe dabei zunächst ganz im Kontext des Selbstverständnisses Barths: Die Einführung in die evangelische Theologie besteht 16 Ich weise darauf hin, dass die begleitende Auseinandersetzung mit alternativen Deutungen und der Rekurs auf Sekundärliteratur insgesamt rudimentär bleibt – ich werde einiges davon in einer in Arbeit befindlichen Monographie zum Sachproblem nachreichen. Zum Verhältnis der beiden Theologen: Osthövener, Lehre von Gottes Eigenschaften; McCormack, What Has Basel to Do with Berlin; Gockel / Leiner, Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. 17 Barth, Einführung. Seitenverweise im Text beziehen sich im Folgenden auf dies Werk. Kursivsatz im Zitat ist, sofern nicht anders angegeben, im Original gesperrt. Eine Edition der Vorlesung in der Karl-Barth Werkausgabe ist dem Vernehmen nach nicht geplant; eine durch Magdalene L. Frettlöh u. a. kommentierte Ausgabe (TVZ Zürich) kann für diesen im Januar 2021 abgeschlossenen Text nicht mehr berücksichtigt werden. – Zum Kontext der Vorlesung vgl. knapp: Tietz, Karl Barth, 367 f.

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aus 17 Vorlesungsstunden, die formal in vier (im Folgenden als ›Teile [I–IV]‹ bezeichnet), inhaltlich (unter Einschluss der ersten Vorlesung) in drei Abschnitte gegliedert sind: eine mit ›Erläuterung‹ überschriebenen erste Vorlesung, die so etwas wie den hermeneutischen Schlüssel für das Folgende bietet; eine vier Vorlesungen umfassende Bestimmung des ›Ortes‹ der Theologie (I), und daran anschließend eine ihrerseits drei Abschnitte mit insgesamt 12 Vorlesungen umfassende Beschreibung des Theologen oder (so der Titel des ersten Abschnitts) der ›theologischen Existenz‹ und der theologischen Arbeit (II–IV). Dass Barth darin sehr weitgehend frühere wegweisende Veröffentlichungen aufnimmt und interpretiert, wird im Laufe des folgenden Referats erkennbar werden. 2.1

Die Bestimmung des ›Ortes‹ der Theologie

2.1.1 Die Verortung der Theologie in der Bewegung der Selbstoffenbarung Gottes Mit diesem ersten Teil und der dort vollzogenen Verortung der Theologie setze ich ein. Wichtig daran ist insbesondere die Verortung des Theologietreibens auf der Ebene der Gemeinde. Barth war ausgegangen vom Wort Gottes ›selbst‹ und seiner Bezeugung in der Schrift: ›Was dasteht‹ – in den Texten dieses Buches nämlich – ist die Bezeugung des Wortes Gottes, ist das Wort Gottes in dieser seiner Bezeugung. Eben dass und inwiefern das ›dasteht‹, will aber fort und fort entdeckt, ausgelegt und erkannt, will also, was ohne Bemühung darum nicht abgehen kann, erforscht sein. Als Gegenstand dieser Forschung begegnen der Theologie die biblischen Zeugen, begegnet ihr die heilige Schrift. (44)

Die Bemühung um das Verständnis der Schrift als Bezeugung des Wortes Gottes (das somit von ihr als Zeugnisinstanz unterschieden wird), ist die Aufgabe der Theologie. Die Gemeinde ist explizit der Ort der Theologie (45); sie kommt zunächst als durch das Wort Gottes erfasste und dann diesem Wort dienstbare, es verkündigende Gemeinschaft in den Blick (45 f ) – das entspricht der Gestalt des ›verkündigten‹ Wortes Gottes in § 4 der KD bzw. in der Kapitelfolge in KD I dem Kap 4.18 In diesen Übergang vom Glauben zum Zeugnis wird dann die Theologie eingefügt, die die Aufgabe hat, die verkündigende Gemeinde der Wahrheit dieses Wortes zu vergewissern. Das Kriterium der ›Wahrheit‹ liegt dabei natürlich nicht im Abgleich mit externen Instanzen, sondern erfolgt im Ausweis und im Nachvollzug des Weges vom Begründeten (der Verkündigung der Gemeinde) zum Grund (der Schrift), und dem Nachvollzug des Verweischarakters der Schrift auf das in ihr gegenwärtige und das Kriterium ihrer Verbindlichkeit darstellende ›Wort Gottes‹: die Selbstoffen-

18 Vgl. KD I/2, §§ 22–24. Zur Sache vgl. auch: Rothen, Klarheit, hier für das Folgende bes. 62 f. Zum frühen Schriftverständnis Barths: Burnett, Karl Barth’s Exegesis.

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barung in Christus (vgl. 29 f.46–48.98 f u. ö.).19 Die Theologie hat in diesem Sinne eine kritische Aufgabe (51): sie versteht und beurteilt das in der Kirche ergehende Wort daraufhin, ob es in Form und Inhalt dem in der Schrift bezeugten, aber mit ihr nicht identischen Wort Gottes – der Selbstoffenbarung Gottes – entspricht. Diese Selbstoffenbarung Gottes ist nach Barth das kritische Zentrum einer Hermeneutik, die das Verstehen der Schrift, des Bekenntnisses und der Theologiegeschichte leitet (52–56). 2.1.2 Vergleich mit der Kirchlichen Dogmatik Die Abfolge der 2. bis 4. Vorlesung der Einführung, in der die Verortung der Aufgabe der Theologie vorgenommen wird, entspricht also genau der Zuordnung der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes in KD I/1 § 4 zur inhaltlich entsprechenden Abfolge der Kapitel 2–4 von KD I: die kritische Prüfung der Entsprechung von Verkündigung und Wort Gottes, die Barth auch dort als Aufgabe der Theologie ausgibt20, wird in § 4 näherbestimmt durch die Bewegung des Rückgangs von der Verkündigung über die Schrift zum ›offenbarten‹ Wort Gottes selbst; diesem begründenden Rückgang vom verkündigten zum geschriebenen und schließlich zum offenbarten Wort in § 4 der Prolegomena der KD entspricht der Aufbau des zweiten Teils der Einführung, der Aufbau also der Bestimmung des ›Ortes‹ der Theologie: ›Das Wort‹ (2. Vorlesung) – ›Die Zeugen‹ (3. Vorlesung) – ›Die Gemeinde‹ (4. Vorlesung); diese Abfolge wird durch ›Der Geist‹ (5. Vorlesung) zusammengefasst: die Rede vom ›Geist‹ beschreibt die Einheit der in diesem von der Offenbarung Gottes über die Schrift zur Verkündigung der Gemeinde führenden Erschließungsgeschehen wirksamen souveränen (unverfügbaren) Macht (57–61). In der Einführung ist allerdings im Vergleich zu § 4 der KD diese Abfolge umgekehrt: die Bewegung vom Wort Gottes über die Schrift zur Verkündigung der Gemeinde geht voraus (2. bis Anfang der 4. Vorlesung), und die kritische Aufgabe des Verständnisses der Zeugnisinstanzen als Medium dieses Redens Gottes folgt im zweiten Teil der 4. Vorlesung (52–56). Damit entspricht die Abfolge in der Einführung dem Gedankengang der Kapitel 2–4 der KD: dort vollzieht Barth nach dem Rückgang von der Verkündigung der Kirche zu den Kriterien ihrer Prüfung (Schrift und Selbstoffenbarung (Wort) Gottes) in § 4 gegenläufig und dem ›ordo rei‹ folgend die Bewegung von der Offenbarung zur Verkündigung nach.21 2.1.3 Selbstabgrenzung gegen Schleiermacher Barth nimmt also in der Einführungsvorlesung eine Ortsbestimmung der Theologie vor (23, vgl. 45) – damit nimmt er zunächst den wissenschafts19 Dass dies keine materiale Engführung ist, sondern Barth einen Sinn für die Vielfalt der Zeugnisse beispielsweise des Kanons hat, wird gerade in den Verhältnisbestimmungen von Altem und Neuem Testament deutlich, die die Einführung durchziehen – vgl. etwa: 26–33. 20 Vgl. KD I/1, § 3, 77–81. Zum Folgenden unten Anm. 58. 21 Vgl. ebd., 310 und Kontext; Rothen, Klarheit, 62 f.

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theoretischen Begriff des locus bzw. des Gebietes einer Wissenschaft auf (42). Barth stellt aber ausdrücklich fest, dass er in dieser Beschreibung des Gebietes der Theologie dieser Wissenschaft eben nicht, wie Schleiermacher das in der Tat tut, einen Ort im Kreis der wissenschaftlichen Disziplinen anweisen will (23); er weist auch nicht, was Schleiermacher in der philosophischen Ethik gleichfalls tut, der Theologie einen Ort im Rahmen der gesellschaftlichen Güter an (24), und er verortet die Religion auch nicht, wie Schleiermacher das unter anderem in der Einleitung zur Glaubenslehre tut, im Kontext des menschlichen Geistes, wie Barth sagt (57, vgl. 14 f.). Barth weist der Theologie vielmehr ihren Ort an in der Bewegung der Selbstoffenbarung Gottes; der Ort der Theologie ist nicht durch die anderen Wissenschaften markiert, sondern durch den Vollzug der Selbstoffenbarung Gottes: sie ist Dienst an dieser Selbstoffenbarung. Barth fasst im Blick auf diesen Ort  – sachlich, wie gesagt, die Kaskade des dreifachen Wortes Gottes  – das Wesen der Theologie folgendermaßen zusammen: Was ist Theologie? […] sie ist Wissenschaft in Erkenntnis jenes in Gottes Werk gesprochenen Wortes Gottes, Wissenschaft in der Schule der jenes Wort Gottes bezeugenden heiligen Schrift, Wissenschaft in der Bemühung um die der durch jenes Wort Gottes berufenen Gemeinde unausweichlich gestellten Wahrheitsfrage. (58)

Dabei ist deutlich, dass die in diesem Zitat markierte ›Wahrheitsfrage‹ für Barth die eigentliche Aufgabe der Theologie ist: die Vergewisserung der Wahrheit der inhaltlichen Bindung der Schrift (52 f ), der Bekenntnisse (53–55) und der Positionen der Theologiegeschichte (55 f ). Die Aufgabe der Theologie ist der Ausweis der Wahrheit, auf die alle diese Zeugnisinstanzen faktisch (Schrift) oder normativ (Verkündigung) bezogen sind: auf das Wort Gottes, und der Auslegung und Kritik aller dieser Instanzen von jenem Wort Gottes her. Das impliziert – und Barth wird das ausdrücklich sagen (53, vgl. 193) – einen hermeneutischen Zirkel: die Quelle der Einsicht in das Wort Gottes, das Kriterium der Wahrheit ist, kann nur der Verkündigung und der Schrift entspringen, ist aber selbst die Voraussetzung des rechten Verständnisses der Schrift und der rechten Verkündigung, also: Einsicht in das Wort Gottes, das die Schrift bezeugt, ist die Folge und die Voraussetzung des Verständnisses der Schrift.22

22 Dass dieser Zirkel von Barth selbst in ungenannter Anlehnung an Heidegger als ›hermeneutischer‹ Zirkel bezeichnet wird, zeigt, dass er für diesen Zirkel Unvermeidbarkeit in Anspruch nimmt; in der Kirchlichen Dogmatik ebenso wie in der Einführung schlägt sich das darin nieder, dass er die Theologie als Prüfung der Verkündigung wie diese dem Subjekt der Kirche zuweist und damit dem durch die Offenbarung, die die Verkündigung wie die Theologie zur Sprache bringt, bestimmten Subjekt.

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2.2

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Die ›theologische Existenz‹

2.2.1 Die ›theologische Existenz‹ begründet in ihrem Gegenstand Die in der Einführung Barths dann folgende Beschreibung der ›theologischen Existenz‹ gibt sich als Folge dieser Ortsbeschreibung: das Verhältnis von I (Ort der Theologie) und II (Die theologische Existenz) ist durch die Bewegung verbunden, die von der Selbstoffenbarung Gottes über die Bezeugungsinstanzen zur Inanspruchnahme des Menschen führt. Folgt man diesem Hinweis, dann hat man es in der Zuordnung des ersten und des zweiten Teils der Einführung mit einer ähnlichen Abfolge zu tun wie in den Übergängen von der Dogmatik zur Ethik in den Teilbänden der Kirchlichen Dogmatik, in denen jeweils auf die Entfaltung des Aspektes der Selbstoffenbarung Gottes eine Bestimmung dessen folgt, was über dieser Selbstoffenbarung aus dem Menschen wird:23 die Ortsbeschreibung in Abschnitt I der Einführung zeichnet die Bedingung der Möglichkeit der Theologie vor (die Selbstoffenbarung Gottes als Wortgeschehen: 24–26), und die drei folgenden Abschnitte (II–IV) beschreiben den Vollzugsmodus eines Theologietreibens, das (bzw. das Selbstverständnis eines Theologen, der) sich dieser Bedingung seiner Möglichkeit bewusst ist; eingeleitet durch den Satz: Eben dem Theologen müssen wir nun unsere Aufmerksamkeit zuwenden, d. h. der Frage, wie das zugeht, wenn die Theologie […] auf einen Menschen zukommt, ihn angeht und in ihn hineingeht, in ihm konkrete Gestalt annimmt. Mit einer leichten und unverbindlichen Verbeugung vor den Göttern heutiger Philosophie gesagt: wir kommen nun zu den ›Existentialien‹ der evangelischen Theologie. (71)

2.2.2 Vergleich mit der Kirchlichen Dogmatik Der Gedankengang entspricht dem Gedankengang der § 25–27 zur Erkenntnis Gottes, in dem ebenfalls in einer kühnen Umkehrung transzendental­ philosophischer Begründungsfiguren – darauf komme ich noch – Gott selbst als Bedingung der Möglichkeit der menschlichen Gotteserkenntnis in Anspruch genommen wird.24 Wie Barth dort die Selbstoffenbarung Gottes der Gotteserkenntnis des Menschen vorordnet, so wird auch hier dem menschlichen Theologietreiben der Ort angewiesen in der Selbstoffenbarung Gottes bzw. in den bereits mehrfach erinnerten drei Gestalten des Wortes Gottes, die in der Einheit einer Bewegung verbunden sind (KD I/1, § 4.4). Dabei wird aber in KD II/1, § 25 die menschliche Gotteserkenntnis nicht einfach in ihrem Gegenstand – der Offenbarung – begründet, so dass sich ein Verhältnis von 23 Vgl. KD I/2, 875–890, vgl. die materiale Durchführung in der Gotteslehre (KD II/2, § 36), der Schöpfungslehre (KD III/4, hier bes. § 52), und in der Versöhnungslehre: KD IV/1 im Rahmen des Aufrisses des Ganzen in § 58: 106–116 und 164–170 (vgl. auch Frey, Theologie, 204–206.246–253). Vgl. ferner die Darstellung in Jüngel, Einführung in Leben und Werk; Demut, Evangelium und Gesetz; Beintker, Rechtfertigung und Heiligung. 24 Jüngel, Gottes Sein.

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Gegenstand und Subjekt der Erkenntnis ergäbe. Vielmehr wird die Offenbarung als Selbstdefinition und so als Selbsterkenntnis Gottes gefasst, in die der Mensch und sein Erkennen einbezogen ist – in der Person Jesu von Nazareth – und einbezogen wird – in Gestalt der Gemeinde und des individuellen Theologietreibenden, der darüber zu wachen hat, dass die kirchliche Verkündigungspraxis ihrem Grund – der souveränen Offenbarung Gottes – entspricht. In diesem Sinne ist die zitierte Formulierung aus der Einführung, nach der die Theologie ›in ihm – dem Theologen – Gestalt annimmt‹, zu verstehen.25 2.2.3 Die Vorlesung zum Heiligen Geist als Übergang vom Wort Gottes zum Theologietreiben In der Kirchlichen Dogmatik ist dieses Grundprinzip mit der Interpretation der Offenbarung Gottes durch den Satz ›Gott offenbart sich als der Herr‹ angelegt, die als Leitmotiv die Kirchlichen Dogmatik von Band I an durchzieht und die eben auf eine wechselseitige Interpretation der drei Momente abzielt, in die nach Barth dieser Satz zerfällt: Das Subjekt, der ›Gegenstand‹ und die Wirkung der Offenbarung. Dabei markiert die Person des Heiligen Geistes den Aspekt der Offenbarung, nach der sich in ihr der Offenbarer als der Herr erweist, sich also souverän am Menschen durchsetzt.26 Hier kommt es jetzt nicht auf Einzelheiten an, sondern darauf, dass Barth auch in der enzyklopädischen Einführungsvorlesung die Bestimmungen zur dreifachen Gestalt des Offenbarungswortes Gottes in der Figur des Heiligen Geistes zusammenfasst, der in der Auslegung des Satzes ›Gott offenbart sich als der Herr‹ als Chiffre für das Moment des Bestimmtwerdens des Menschen durch die Selbstbestimmung Gottes steht. Diese 5. Vorlesung unter dem Titel ›Der Geist‹ schließt den Teil I der Einführung ab und bildet das Verbindungsglied zwischen der Bewegung vom Wort Gottes (I, 2.–3. Vorlesung) zum Zeugnis der Gemeinde (I, 4. Vorlesung) einerseits und dem dann anhebenden Teil II unter dem Titel: ›Die theologische Existenz‹. Der Heilige Geist ist hier wie in der Kirchlichen Dogmatik27 die Selbstdurchsetzung des offenbaren Gottes als des Herrn des Menschen, und genau darum schließt die Vorlesung über den Heiligen Geist 25 Man kann die Bezüge noch weiter ausziehen: Der Bewegung der Grundlegung der Theologie in ihrem Gegenstand hier und in den genannten §§ 25–27 aus Band II/1 der KD entspricht in KD IV die Zuordnung des Weges Gottes zu den Menschen einerseits und das in der folgenden Sündenlehre bzw. Rechtfertigungslehre apostrophierte Einbezogenwerden des Menschen bzw. der Gemeinde in diese christologische Bewegung der Zuwendung Gottes zum Menschen andererseits. Das Verhältnis von Begründendem und Begründetem ist jeweils so gefasst, dass das Begründete immer schon unselbständiges Moment des Begründenden ist: Im Gericht und Freispruch des Sünders manifestiert sich das stellvertretende Gericht und der Freispruch Jesu Christi in KD IV/1, und die Gotteserkenntnis des Menschen ist unselbständiges Moment an der Selbstdefinition und Selbsterkenntnis Gottes. Zum Aufbau von KD IV vgl. KD IV/1, 140–170; Jüngel, Einführung in Leben und Werk, 54–58 (dort einschlägige Literatur); Slenczka, Im Lichte. 26 Vgl. KD I/1, 314 f.331.342–351. 27 Vgl. KD I/2, § 16.

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die Beschreibung des Ortes des Theologietreibens ab: Er – der Geist – markiert den Übergang von der Beschreibung des Sich-Bestimmens Gottes in seiner Offenbarung zum Bestimmtwerden oder Sich-Bestimmenlassen des Menschen in der Weise, dass das Bestimmtwerden des Menschen zunächst einmal nicht ein neues Thema, sondern ein Moment im Bestimmen Gottes zur Sprache bringt. Die Theologie ist »reich, getragen und gehalten, indem sie die Verheissung ergreift, an die Verheissung sich ohne Skepsis […] klammert, laut der – nicht sie, aber ›der Geist Alles erforscht, auch die Tiefen der Gottheit‹« (68). – Theologie vollzieht sich im Bewusstsein der Angewiesenheit der Gotteserkenntnis des Menschen und seiner Rede von Gott auf die Mitteilung der Selbsterkenntnis und der Selbstaussage Gottes selbst und das Aufgenommenwerden in diesen Selbstvollzug – dafür steht die Chiffre des ›Heiligen Geistes‹. Dies ist die Pointe, auf die die ›Ortsbestimmung‹ der Theologie hinausläuft: Gott ist nicht einfach der Gegenstand, sondern als solcher die Bedingung der Möglichkeit der Theologie. 2.3

Das Theologietreiben

2.3.1 Theologie als Anerkennung der Fremdbestimmung Entsprechend legt Barth die drei Abschnitte zu den ›Existentialien‹ (71) des Theologietreibens (II: Die theologische Existenz; III: Die Gefährdung der Theologie; IV: Die theologische Arbeit) so an, dass er in konzentrischen Kreisen (ebd.) verfährt und in allen drei Abschnitten zunächst Ausführungen zu Phänomenen vorausschickt, die auch sonstiges wissenschaftliches Arbeiten kennzeichnet: ›Verwunderung – Getroffensein – Verpflichtung‹ lautet die Trias im ersten Abschnitt, ›Gebet – Studium – Dienst‹ im dritten. Diese äußeren Kreise gruppieren sich nun aber um ein Zentrum, von dem sie ausgehen und das in der jeweils vierten Vorlesung thematisiert wird. Dieses Zentrum jeweils der 1. bis 3. Vorlesung der Abschnitte II–IV ist das Getroffensein durch den Grund der Theologie – die Offenbarung. Dies Moment der Passivität – das Getroffensein – wird jeweils in den drei letzten Vorlesungen der Teile – zu Glaube, Hoffnung und Liebe – thematisiert.28 Das Bild konzentrischer Kreise hatte Barth zuvor bereits für die Darstellung des Offenbarungswortes Gottes in Anspruch genommen (etwa 57 f ), wobei hier das Zentrum (Christus) als erstes und die weitenden Kreise (Schrift / Verkündigung der Gemeinde) anschließend thematisiert wurden – zunächst war vom Wort, das Jesus Christus ist, dann von der Schrift und schließlich von der Gemeinde die Rede. Im Falle der von dieser Offenbarung getroffenen und in sie einbezogenen Existenz geht Barth umgekehrt vor und setzt bei den äußeren Folgen der durch die Offenbarung bestimmten theologischen Existenz an (71 – jeweils die ersten drei Vorlesungen der Teile II–IV). Diese Folgen ordnet er dann aber den drei theologischen Tugenden zu – Glaube, Hoffnung 28 Ich entfalte das exemplarisch unter 1.3.2 am Beispiel der ›Existentialien‹ des Abschnitts II und biete daher hier keine ausführlichen Belegangaben.

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und Liebe –, die er auslegt als Anerkennung dessen, dass das eigene theologische Arbeiten eine Bedingung der Möglichkeit hat, die nicht der Theologie­ treibende selbst ist (13). 2.3.2 Entfaltung Ich exemplifiziere das etwas ausführlicher anhand des ersten Blocks von Existentialien, in denen Barth mit den Folgen des Theologietreibens (des Ergriffenseins durch die Offenbarung) einsetzt: der Verwunderung, der Betroffenheit, der Verpflichtung, und dann den Glauben thematisiert. Diese Existentialien der Verwunderung und der Verpflichtung haben die Gemeinsamkeit, dass sie Momente des ›Ergriffenwerdens‹ und damit der Passivität darstellen (81 f.85 f; vgl. 9629); dabei ist aber der Glaube nicht einfach der Ursprung dieser Existentialien, sondern die Voraussetzung, unter der diese drei Momente den Sinn des Hinweises auf einen fremden Ursprung gewinnen (112 f ). Der Glaube ist, so darf ich das einmal sagen, die Übersetzung des Bestimmtwerdens in ein Sich-Bestimmen-Lassen (113 f ); und nur von diesem Zentrum her – das ist die Intention Barths – gewinnen die drei Existentialien – Verwunderung, Betroffensein, Verpflichtung – ihren guten und adäquaten Sinn als Manifestationen des ›Sich-Bestimmen-Lassens‹. Ähnlich ist die Hoffnung, mit der der zweite Block der Existentialien abschließt, das (im Lauf der Vorlesungen immer wieder thematisierte) Aushalten und Ertragen der Anfechtung in der Ausrichtung auf Gott (162 f.164). Die Liebe wiederum ist die Zusammenfassung der Existentialien des ›Gebets‹ (14. Vorlesung) – der Meditation der Angewiesenheit (180 f ); des ›Studiums‹ und des ›Dienstes‹, d. h. des Vollzugs der theologischen Arbeit darauf, »dass Gottesdienst und Menschendienst der Sinn, der Horizont und das Telos der theologischen Arbeit ist« (204) – und die Theologie nicht Selbstzweck ist (ebd.). Damit wird in den jeweils ersten drei Vorlesungen der Teile II–IV die Trias der Konstitutionsbedingungen der Theologie nach Luther (oratio, tentatio, meditatio30) aufgenommen und – jeweils die letzte Vorlesung – in der Trias der sog. theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) begründet – auch dies wieder ein Niederschlag der These, dass die für das Theologietreiben relevanten Haltungen des Menschen das Bewusstsein – das Akzeptieren – der Angewiesenheit dieses Vollzuges darstellen, das in der Trias der theologischen Tugenden zusammengefasst ist.

29 Man müsste jetzt noch im Einzelnen zeigen, dass diese Aspekte nicht nebeneinanderstehen, sondern sich in einer fortlaufenden Entfaltung auseinander ergeben. 30 Luther, Vorrede, 663–669.

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2.4 Zusammenfassung Es ist also, so hoffe ich, deutlich geworden, dass Barth sozusagen an zwei Enden des Theologietreibens ansetzt: bei der Initiative bzw. der Selbstvermittlung Gottes auf der einen Seite als dem Ort, an dem sich die Theologie vollzieht (Teil I). Er beschreibt, wie gesagt, im Ablauf der Vorlesungen eine Bewegung, die über die Kaskaden des Wortes Gottes bei der Gemeinde und damit beim Subjekt der Theologie ankommt. Und er beschreibt dann das durch diese Bewegung eröffnete Theologietreiben (Teile II–IV) als einen durch diese souveräne Offenbarung bestimmten Lebensvollzug, der bestimmt ist durch das Bewusstsein, dass das Theologietreiben die Bedingung seiner Möglichkeit außerhalb seiner selbst in seinem ›Gegenstand‹ hat. Die Einführung in die evangelische Theologie handelt dabei nicht von zwei Gegenständen – Gott und dem Menschen – die im Modus von Frage und Antwort aufeinander bezogen wären, sondern von einem Kommunikationsgeschehen, das sich in einer ein­ sinnigen Bewegung vollzieht und dessen Pole einander wechselseitig implizieren. Dabei ist allerdings eindeutig, dass Barth hier von einer Wechselseitigkeit nicht ausgeht, sondern ihm alles darauf ankommt, dass der eine der beiden Pole (das menschliche Theologietreiben) durch den anderen bestimmt ist und dieser bestimmende Pol unbeschadet dessen, dass er sich auf den anderen hin bestimmt, in diesem Bestimmen souverän, nur durch sich selbst bestimmt, ist.31 Damit sind nur einige der Aufbauprinzipien dieser Enzyklopädie nach­ vollzogen; man könnte mühelos nachzeichnen, dass und wie die Teilmomente der theologischen Existenz (II–IV) ebenfalls durch eine gedankliche Linie verbunden sind, in der jedes Thema der Vorlesungen an die jeweils vorangehende Vorlesung anknüpft und aus ihr hervorgeht.32 2.5

Die ›Erläuterung‹ als Prolegomena

Den hermeneutischen Schlüssel, der die Verhältnisse klärt, bietet die den Teilen der Vorlesung vorausgeschickte erste Vorlesung, die Barth mit dem Titel ›Erläuterung‹ versieht. Sie steht dafür, dass hier der Vollzug der Theologie unter die Bedingungen ihres Inhalts gestellt wird. Die Theologie hat es mit dem ›Gott des Evangeliums‹ zu tun und hat als Vollzug diesem Inhalt zu entsprechen: es geht darum, den Gott des Evangeliums, d. h. den im Evangelium sich kundgebenden, für sich selbst zu den Menschen redenden, unter und an ihnen handelnden Gott auf dem durch ihn selbst gewiesenen Weg wahrzunehmen, zu verstehen, zur Sprache zu bringen. Wo es geschieht, dass er der Gegenstand menschlicher Wissenschaft und als solcher deren Ursprung und deren Norm wird, da ist evangelische Theologie. (11 f ) 31 Vgl. etwa Barth, Einführung, 57 f.100 f.103–106.113.162 f.208–211. 32 Es ist insgesamt so, dass diese Vorlesung wie alle Texte Barths, aber in durchaus besonderer Weise die Schönheit eines durchdachten Aufbaus aufweist. Dazu auch: Slenczka, Im Lichte, 15–18.

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Die Grundthese: der Gegenstand der Theologie ist ihr Ursprung und ihre Norm  – das ist die Quintessenz der Grundentscheidung Barths und ihrer ›antitranszendentalistischen‹ Pointe, die ich im Vorangehenden dargestellt habe.33 Entsprechend verabschiedet Barth jeden Versuch, dieser Souveränität des Gegenstandes dadurch zu widersprechen, dass man den Vollzug der Theologie anderen Kriterien als diesem einen Gegenstand unterstellt sieht; das gilt nach Barth in aller Selbstverständlichkeit auch für die Anlagen des Menschen, die im theologischen Erkenntnisvollzug in den Dienst genommen werden, die aber eben unter das Vorzeichen dieses Gegenstandes und damit seiner Souveränität zu treten haben: Sie [sc. die Theologie] redet unter der übergeordneten Voraussetzung von Gottes Existenz- und Souveränitätserweis. Wollte sie es umgekehrt halten – wollte sie statt den Menschen Gott, Gott dem Menschen zuordnen – so müsste sie sich in die babylonische Gefangenschaft irgendeiner Anthropologie oder Ontologie oder Noologie, d. h. irgendeiner vorweggenommenen Deutung der Existenz, des Glaubens, des geistigen Vermögens des Menschen begeben. Evangelische Theologie ist dazu weder gezwungen noch ermächtigt. Sie wartet ab und lässt es vertrauensvoll darauf ankommen, wie sich die Existenz, der Glaube, das geistige Vermögen des Menschen – sein Selbstsein und sein Selbstverständnis – in seiner Konfrontation mit dem ihm vorgeordneten Gott des Evangeliums darstellen möchte. (14 f.)

Dabei liegt hier wie anderswo bei Barth die Prämisse zugrunde, dass alle denkbaren Voraussetzungen der Theologie – die Ausstattung des Menschen wie die Sprache, mit der über Gott gesprochen wird, schon immer von dieser Voraussetzung34 bestimmt und auf sie angelegt ist, so dass der christliche Glaube und seine Theologie nicht als Instanz der Heteronomie gegenüber einer gegen die Offenbarung selbständigen und gleichgültigen Wirklichkeit zu stehen kommt, sondern das Zentrum aller Wirklichkeit zur Sprache bringt, von dem her sich der Sinn aller Voraussetzungen erschließt – die theologische Sprachlehre und die bereits erwähnte Analogia fidei in KD II/1 ist ein glänzendes Beispiel der Durchführung dieses Anspruchs.35 Rechte Theologie, so könnte man das nun skizzierte Selbstbild Barths zusammenfassen, kommt dann zustande, wenn sie sich der Selbstoffenbarung Gottes unterstellt weiß, wenn also die Souveränität und Voraussetzungslosigkeit des erwählenden und bestimmenden Gottes den Vollzug der Rede von Gott prägt, wenn also von Gott gesprochen wird in der Einsicht und unter Anerkennung dessen, dass der Mensch dazu nur so beitragen kann, dass er dem Reden Gottes dient: »wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und darin Gott die Ehre geben.«36 33 Auf seine Weise hat Eilert Herms diese Zuordnung aufgenommen in der Einheit von Grund und Gegenstand der Theologie – dazu ders., Systematische Theologie, § 1 und 2. 34 In diesem Sinne grenzt sich Barth gegen die Rede von einer Voraussetzung der Theologie allerdings gerade ab (vgl. ders., Einführung, 13 f.57 ff.67 f ). 35 Vgl. KD II/1, § 27. 36 Barth, Das Wort Gottes, 199, vgl. auch ebd., 216 f.

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Oder anders: rechte Theologie ist eine vom Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit getragene Theologie. 3.

Die interne Gliederung der Theologie nach Barth

Diese Begründung der theologischen Wissenschaft wird im Lauf der Vorlesung Schritt für Schritt für die Herleitung der fachlichen Binnendifferenzierung in Anspruch genommen; einige wenige Aspekte, die für einen Vergleich mit Schleiermacher weiterführend sind, hebe ich heraus.37 3.1

Das ›Wort Gottes‹ und der hermeneutische Zirkel

Es ist zunächst deutlich, wie gesagt, dass die Theologie sich ergibt aus der Bewegung der Selbstvermittlung Gottes auf den Menschen hin, in die der Mensch zunächst als Medium des Wortes aufgenommen wird (46 f ); wie schon festgestellt: die Theologie ist die Reflexion der sachgemäßen Entsprechung dieses Redens zur Bewegung der Selbstoffenbarung und deren Medien: der in Christus zentrierten Offenbarungsgeschichte und der alt- und neutestamentlichen Zeugen dieser Geschichte: Sie hat der Gemeinde und in der Gemeinde besonders ihren für Predigt […] verantwortlichen Gliedern den Dienst zu leisten, sie immer aufs neue zur Auseinandersetzung mit der Frage nach dem rechten Verhältnis ihres menschlichen Redens zum Wort Gottes als dessen Ursprung, Gegenstand und Inhalt anzuregen und anzuleiten (50).

Die Theologie ist somit eine kritische Reflexionsgestalt des kirchlichen Voll­ zuges der Verkündigung – und genau dies fasst Barth in der ersten Beschreibung der theologischen Arbeit in der Augustinisch-Anselmschen Formel ›credo ut intelligam‹ zusammen (52–56): es geht nicht nur um die Kritik des kirchlichen Handelns, sondern immer zugleich um die Prüfung und den Ausweis der Grundlagen des kirchlichen Handelns auf deren Sachgemäßheit hin – die Frage nach dem Recht des Kanons38 ebenso wie die Frage nach der Angemessenheit der Bekenntnisse und der theologiegeschichtlichen Tradition, in der der jeweilige Theologe steht (52–56), wobei das Kriterium und der Schlüssel der Hermeneutik immer das in der Schrift und den Bekenntnissen bezeugte Wort Jesus Christus selbst ist (35–38). Wohlgemerkt: auch das Recht

37 Für die Darstellung der Fachgliederung der Theologie wären die entsprechenden Ausführungen der Kirchlichen Dogmatik heranzuziehen (vgl. KD I/1, § 1, 10–16). 38 Ich unterstreiche diesen Punkt angesichts höchst eigentümlicher Argumente in der Debatte um den Kanon, die sich im Anschluss an meinen Aufsatz zum AT entzündet hat: die in dieser Debatte vorgetragene Behauptung, dass der Kanon keiner Begründung bedürfe, sondern der Kirche als Grundlage jeder Begründung vorgegeben sei, kann sich jedenfalls nicht auf Karl Barth berufen (vgl. Slenczka, Vom Alten Testament und vom Neuen, 125–139).

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der Entscheidung der Kirche über den Kanon ist – nach Barth! – Gegenstand theologischer Kritik: Wie anders kann die Entscheidung, dass sie [sc. die Schrift] das [sc. Kanon] sei, fallen als in der Erkenntnis des Inhalts jener Schriften und also in der Durchführung jener Arbeitshypothese und also in der Befragung der alt- und neutestamentlichen Texte, ob und inwiefern authentisches Zeugnis von Gottes Wort in ihnen tatsächlich zu vernehmen sein möchte – und also in der von dieser Frage geleiteten Erforschung dieser Texte: im Begehen des für ihr Verständnis unvermeidlichen hermeneutischen Zirkels? (53)39

Das bereits oben erwähnte Motiv des ›hermeneutischen Zirkels‹ trägt hier nun der Tatsache Rechnung, dass ein bestimmter Inhalt der Schrift das Kriterium für deren Kanonizität ist, sich dieser Inhalt aber eben nur im Umgang mit eben diesen Schriften erschließt. Das rechte Verständnis der Schrift hängt am Verständnis des Zentrums, auf das sie verweisen, und das sich nur durch die Schriften erschließt. Darauf werde ich noch zurückkommen. Damit steht material die Auslegung der Schrift im Zentrum; und Barth legt nun immer wieder in den einzelnen Abschnitten die Teilfachgebiete und deren sachgemäße Gestaltung dar. 3.2

Die kritische Aufgabe der Theologie und die Schriftauslegung

Insbesondere in Teil IV steht dies und die interne Fachgliederung im Zentrum (189–200). In der Grundstruktur hält sich Barth an die klassische Fachgliederung (Exegese, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Praktische Theologie) und rekonstruiert ihren Sinn im Ausgang von der kritischen Aufgabe der Theologie. Es sind drei Punkte, die Barth mit Bezug auf die Exegese hervorhebt, nämlich zum einen eine Unterscheidung, mit der er die Bultmannsche Differenzierung zwischen einer historischen und einer existentialen Perspektive aufnimmt:40 Die biblischen Texte sind zunächst als Dokumente einer historischen Vergangenheit zu lesen und mit allen Mitteln historischen Arbeitens zu erschließen. Gerade die historische Arbeit aber führe darauf, dass diese Texte ›kerygmatisch‹ seien – so Barth ausdrücklich unter Aufnahme des Bultmannschen Zentralbegriffs: die Texte zielen auf die Entscheidung zum Glauben (oder Unglauben): Es geht um die allgemeine Voraussetzung, dass es neben anderen auch solche Texte gebe, die nach der Intention ihrer Autoren und in ihrer faktischen Eigenart nur als 39 Vgl. auch Barth, Einführung, 193  – ich kann es mir nicht verkneifen, ausdrücklich auf diesen Abschnitt hinzuweisen und ihn zur Lektüre zu empfehlen – das Kriterium des ›Wortes Gottes‹, an dem Barth die Sachgemäßheit der kirchlichen Entscheidung über die kanonischen Schriften prüfen will, ist natürlich die Frage, ob und wieweit diese Texte Christuszeugnis sind! 40 Vgl. Bultmann, Geschichte und Eschatologie, 124–163; ders., Neues Testament und Mythologie, 22 f.52–63; dazu Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff, 169–325. Zu Barths Bezug auf das Entmythologisierungsprogramm vgl. Barth, Rudolf Bultmann.

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Bezeugung und Verkündigung eines inmitten der sonstigen Geschichte angeblich oder wirklich stattgefundenen göttlichen Handelns und Redens gelesen und erklärt werden können, an deren Aussage man, will man sie nicht in diesem Charakter würdigen, nur vorbeilesen kann.41 (192 f )

Die Möglichkeit, dass sich Texte als Medium der göttlichen Offenbarung und damit als Grund des Glaubens erschließen, sei die von der exegetischen Theologie, über die rein historische Arbeit hinausgehende, offen gehaltene Option (193 f ). Der zweite Punkt hängt damit zusammen: die exegetische Arbeit zielt, so Barth, auf die Gegenwart: Sie hat diese Stimme in ihrer Originalität, Mannigfaltigkeit und Einheit zu jeder Zeit neu zu vernehmen, sie hat also jene Texte – und dazu bedarf sie der biblisch-theologischen Wissenschaft – zu jeder Zeit neu zu lesen. (192)

Es geht in der Exegese also darum, in einer bestimmten Zeit die Texte als Medium der göttlichen Offenbarung zur Geltung zu bringen. Diese exegetische Arbeit ordnet sich ein in ein Gespräch von Lehrenden und Lernenden, wie Barth sagt, in ein »Nebengespräch« der Schriftauslegung, nämlich die Geschichte der Auslegung der Schrift, die jeweils von dieser Norm der Schrift geleitet sein muss (189 f.194–196). Damit ist die Kirchengeschichte im Blick; sie erscheint als ›Geschichte der Auslegung der Schrift‹, wie Ebeling formulierte,42 und wird damit konzentriert auf die Theologiegeschichte. In der Systematischen Theologie geht es um genau die genannte Gegenwartsorientierung, in der Barth die ›Freiheit‹ der Theologie gegenüber jedem externen Wahrheits- und Geltungsanspruch hervorhebt, die allerdings in der Bindung allein an jenes Wort ihren Grund hat. Die Praktische Theologie wird dem so zugeordnet, dass es in ihr um das Sprachereignis geht, das Ergehen von »Gottes Wort an den Menschen«, das also, um Wort Gottes sein zu können, Aussprache, um Wort Gottes an den Menschen sein zu können, Ansprache sein muss: »indem sie die Geschichte Israels und Jesu Christi nacherzählende und eben sie in das Leben und Treiben der heutigen Christen und Menschen hineinerzählende« (199) Sprache ist. Die finale Zuordnung aller theologischen Fachgebiete zur Praktischen Theologie ordnet die Theologie also der oben skizzierten Bewegung des Wortes Gottes auf den Menschen hin ein: in der Bewegung der theologischen Arbeit von den Grundlagen in der Schrift zur Einbildung in das Leben des Menschen wiederholt und verwirklicht sich die Bewegung der Offenbarung von Gott zum Menschen, die die Grundlage der Theologie darstellt. Es wiederholt sich hier die Doppelung, die auch die Exegese in der Unterscheidung von historischer und kerygmatischer Perspektive bestimmte, wobei die Prävalenz jeweils der Aspekt der Aussprache des Wortes Gottes zukommt 41 ›kan‹ sic im Original. 42 Ebeling, Kirchengeschichte (= ders., Wort Gottes und Tradition).

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(199). Es geht wieder nicht um die Einzelheiten, sondern es geht darum, dass sich die drei Fächer – Exegese, Dogmatik und Praktische Theologie – um den Vorgang gruppieren, in dem das menschliche Wort zum Medium des gött­ lichen Wortes – der Offenbarung – wird. 4.

Im Vergleich: Schleiermachers Kurze Darstellung

Mit seinem Programm und insbesondere mit der oben in 2.1.3 zitierten Passage grenzt sich Barth gegen Schleiermacher bzw. eine an ihm orientierte Theologie ab, der ja nun in der Tat eine Grundlegung der Glaubenslehre vorlegt, in der es programmatisch darum geht, der Theologie einen Ort im Gefüge des Systems der Wissenschaften und der Religion eine »eigene Provinz im Gemüt« anzuweisen.43 4.1

Theologie als scientia practica

Allerdings ist gerade die Einführung Barths der Kurzen Darstellung Schleiermachers doch erheblich viel näher, als Barth mit seinem durchgängigen und, wie gesagt, programmatischen (19) Schweigen zu seinen Vorgängern zugibt. Barth versteht die Theologie als Vollzug der Gemeinde und als Dienst, der eine Form der Verkündigung ist und auf die Sach- und Wahrheitsgemäßheit der Verkündigung zielt. Damit holt Barth genau das ein, was Schleiermacher zur Geltung brachte, als er die Kirchenleitung bzw. die Befähigung zu derselben als den Zweck aller Theologie auswies und entsprechend die praktische Theologie als das Ziel der wissenschaftlichen Theologie bezeichnete.44 Der ›Kirchenfürst‹, die Idealgestalt des kirchenleitenden Personals, in dem das Anliegen der Kirchenleitung und das Interesse an der wissenschaftlichen Theologie gleichmäßig realisiert ist,45 ist nicht der Kirchenfunktionär, dessen möglicherweise unsympathisches Bild der Begriff hervorrufen mag, sondern mit der in diesem Bild konzipierten Verbindung von theologischem und kirchenleitendem Interesse der Wiedergänger der Verbindung von Philosophie und Interesse an der Polis im Philosophenherrscher, den Platon in seiner Politeia zeichnet: dieser ist eben genau darum zur Leitung des Gemeinwesens befähigt und kann nur darum Gerechtigkeit – die Begrenzung der Epithymia – herstellen, weil er weiß, was Gerechtigkeit und was das Gute ist und daher weiß, wie ein Gemeinwesen 43 Schleiermacher, Über die Religion, EA 37 (30). Zu Schleiermachers Kurzer Darstellung vgl. Schmid, Einleitung, IX–XC, bzw. Ders., Einleitung, 2–52. 44 Vgl. Schleiermacher, Kurze Darstellung2, §§ 3–8, 141–143. 45 Vgl. ebd., § 9; vgl. Rössler, Vocatio interna. Rössler verfolgt die im Begriff liegende Unterscheidung von vocatio interna und externa, weist darauf hin, dass es sich bei dem Bild des Kirchenfürsten um eine Schleiermachersche Eigenprägung handelt (ebd., 216 f ), zieht aber nicht die naheliegende Verbindung zu Platons ›Philosophenherrscher‹; Dinkel, Kirche gestalten.

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zur Verwirklichung der Harmonie kommt. Diese ›Orientierung am Guten‹, die den Philosophen auszeichnet und zum Leiten befähigt, beschreibt Platon in den berühmten Gleichnissen der Politeia, in der es um die Schau der Idee geht, die alles bestimmt und an der gemessen der Philosoph das Gemeinwesen orientiert und einrichtet.46 Entsprechend ist das Programm der Enzyklopädie Schleiermachers bzw. das darin begründete Verständnis der Theologie geleitet vom Begriff der christlichen Kirche bzw. des Christentums. Diese Bestimmung des Begriffs (des Wesens) des Christentums bzw. der Kirche in der ›Philosophischen Theologie‹ ist nach Schleiermacher die Aufgabe des Theologen, bzw. genauer: Aufgabe der Theologie ist das Handeln mit Bezug auf die Gegenwartsgestalt der Kirche (und einer analog dazu gestalteten Gesellschaft), das Schleiermacher in der christlichen Sittenlehre entwickelt. Die Theologie als Bildungsdisziplin vermittelt demgemäß diejenigen »wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besiz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche […] nicht möglich ist.«47 4.2

Das ›Wesen der Religion‹ bzw. das ›Wesen des Christentums‹

Dass Schleiermacher die Theologie, wie Barth, als scientia practica versteht und der Kirchenleitung zuordnet, d. h. der kritischen Prüfung, ob die gegenwärtige Kirche ihrem Wesen entspricht, und der Verbreitung des christlichfrommen Bewusstseins, habe ich bereits hervorgehoben und damit noch einmal unterstrichen. In der christlichen Sittenlehre spricht Schleiermacher neben dem darstellenden vom verbreitenden und vom reinigenden Handeln in der Kirche, das geleitet ist vom Verständnis des Wesens der Kirche und wesentlich durch die Verkündigung erfolgt.48 4.2.1 Die Frage nach dem ›Wesen‹ und das Individuelle Die entscheidende Figur ist die Bestimmung des Wesens des Christentums in der Philosophischen Theologie, die hier nur in den allerallgemeinsten Grundzügen in Erinnerung gerufen werden kann, und nur soweit, wie es für einen Vergleich mit dem Ansatz Barths weiterführend ist.49 Leitend ist die Einsicht, dass das Christentum eine positive Religion ist, die demnach nicht aus allgemeinen Prinzipien konstruierbar, sondern historisch kontingent ist. Das gilt sowohl für den historischen Ursprung dieser Religion – die historische Person Jesu von Nazareth – wie für die Verwirklichungsformen 46 Platon, Politeia V, 472 b 4–487 a 8; VI, 502 c 9–509 b 10. 47 Schleiermacher, Kurze Darstellung2, § 5, 142. 48 Schleiermacher, Die christliche Sitte, hier aus den Thesen Schleiermachers: Ebd., Beilage A, § 54 f (18 f ). Vgl. die Durchführung in der Zusammenstellung aus den Mitschriften von 1822: Ebd., 32–64.78 ff; sowie die Durchführung in den Einleitungen zu den einzelnen Handlungsarten in den Mitschriften: Ebd., 102–109.291–304.502–510. 49 Vgl. Rössler, Schleiermachers Programm; Schröder, Die kritische Identität.

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der Formen des Christentums, die von ihm ausgehen: es gibt sie letztlich nur als individuelle Manifestationen; analog: es gibt auch das Menschsein immer nur in Gestalt des individuell gelebten Lebens.50 Wie es nun aber zugleich und unbeschadet dessen dieses individuelle Leben immer nur gibt als Moment und spezifische Darstellung von etwas Allgemeinem, gegen das sich das Individuelle im Modus der Identität und der Differenz verhält (das animal rationale des Menschen verwirklicht sich in einer Vielzahl von individuellen Existenzen), so folgt das Christentum einerseits den Wesenszügen der Religion bzw. der religiösen Gemeinschaft im Allgemeinen, und ist aber zugleich eine individuelle, aber nicht beliebig-willkürliche Manifestation der Religion. Das individuelle menschliche Leben, um beim analogen Beispiel zu bleiben, erfüllt die im Wesen des Menschen angelegten Strukturen – etwa: spricht verständlich (Verstand) und orientiert sich nachvollziehbar (vernünftiger Wille) in der Welt. Das individuelle Leben aktualisiert diese allgemeinen Strukturen aber in jeweils besonderer und unverwechselbarer Weise – es spricht beispielsweise eine bestimmte Sprache, die aber anhand der allgemeinen Strukturen der Sprache als solche ausweisbar ist. Das individuelle Leben realisiert darüber hinaus Besonderheiten – Haarfarbe, oder das von Aristoteles an entsprechender Stelle bemühte, berühmte Beispiel der ›Stupsnasigkeit‹ – die im Begriff des Menschen als Möglichkeit angelegt, aber nicht bei allen Menschen gleich sind. Das schließt aber auch die Möglichkeit ein, dass es Bestimmtheiten der jeweiligen Untergruppe bzw. des Individuellen gibt, die einen Widerspruch zum jeweiligen Wesen implizieren oder hinter dem Wesensbegriff zurückbleiben – die sich völlig erratisch Verhaltende oder der sich um seine Vernunftanlage bringende Säufer oder die ›Unmenschlichkeit‹ eines Verbrechens. Das Individuelle bedarf des Ausweises seines Rechtes durch den Abgleich mit dem Allgemeinen und verliert u. U. das Recht auf den jeweiligen Wesenstitel bzw. muss, an ihm gemessen, zurechtgebracht werden. Dass dieses Konzept normativ ist und problematische Züge hat, wird gerade in der gegenwärtigen gender-Debatte zur Geltung gebracht; da es aber jetzt um eine Schleiermacher-Darstellung geht, muss das Konzept hier ohne weitere Diskussion vorausgesetzt werden. Vorausgesetzt ist dabei eben, dass das Christentum, so wenig wie ein konkreter Mensch aus dem Wesensbegriff abgeleitet werden kann, wohl aber, um verstanden werden und als ›ein Mensch‹ identifiziert und bezeichnet werden zu können, sich als Modifikation eines Allgemeinen – als im Allgemeinen angelegte Möglichkeit – ausweisen können muss.

50 Vgl. zum Thema des Folgenden: Arndt, Ausgehn von der Individualität; Dierken, Individualität und Identität; Schmidt, Die Konstruktion des Endlichen.

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4.2.2 Das ›Wesen des Christentums‹ Genau dies Verfahren vollzieht nach Schleiermacher die ›philosophische Theologie‹ in ihren Unterfächern der Apologetik und der Polemik, in denen die jeweilige Gestalt der christlichen Kirche als legitime Modifikation des Wesens der Religion bzw. des Christentums zum Ausweis gebracht bzw. wesenswidrige Erscheinungen abgestellt werden sollen – dies entspricht dem Ausweis einer spezifischen Modifikation der Religion am Wesen derselben und der Religion insgesamt am Wesen des Menschen. Dem ordnen sich die historischen Fächer zu – Neues Testament sowie Kirchengeschichte und Dogmatik, die das Studium der historischen Faktizität des Christlichen zum Gegenstand haben mit dem Ziel der wesensgemäßen Gestaltung und korrigierenden Fortbildung der spezifisch christlichen Kirche. Die historische Arbeit ist gleichsam der Gegenhalt des Individuellen gegenüber der Frage nach dem Ausweis desselben als Realisation eines Allgemeinen, das methodisch die philosophische Theologie vollzieht. Die philosophische und die historische Theologie sind einander so zugeordnet, dass die philosophische Theologie das Christentum als legitime Erfüllung des Wesens der Religion ausweist, während die historische Theologie nach dem normativen Wesen des Christentums und seiner angemessenen Gegenwartsgestalt fragt. 4.2.3 Die normative Bedeutung der Anfänge als christologische Grundlegung Dabei ordnet Schleiermacher die Urchristenheit und deren Erforschung den übrigen Epochen normativ vor, unter der Maßgabe, dass »nur in den frühesten [Zuständen] das eigenthümliche Wesen am reinsten zur Anschauung kommt«.51 Es ist entscheidend, diesen Punkt völlig zu verstehen, denn es geht hier nicht einfach um eine Erschließung des Wesens der Urchristenheit, sondern Schleiermacher ist, wie sich in der Christlichen Sittenlehre greifen lässt,52 der Meinung, dass die Person bzw. das Gottesbewusstsein Jesu von Nazareth in seiner (erlösenden) Mitteilung an den Jüngerkreis selbst die reine Manifestation des Wesens des Christentums ist, gleichzeitig aber die Kraft, die zunächst die Jünger und von dort aus die Menschheit ergreift und sich in ihr fortschreitend realisiert – in der Glaubenslehre leistet dies der Begriff des ›Urbildes‹, mit dem Schleiermacher die Person Jesu beschreibt als höchste Manifestation des frommen Bewusstseins und als Ursprung der Bildung des frommen Bewusstseins in anderen.53 Das bedeutet aber eben auch, dass es die Betrachtung dieser Manifestation des Wesens des Christentums nicht als Voraussetzung der Teilnahme an der Fortgestaltung ›gibt‹, sondern der gegenwärtige Theologe ist in mehr oder weniger vollkommener Form immer schon ergriffen von dieser Kraft. Dies Ergriffensein ist die Voraussetzung der Erfassung des Ausgangspunktes ebenso wie der Selbstvergewisserung hinsichtlich der Wesensgemäßheit der 51 Schleiermacher, Kurze Darstellung2, § 83, 172. 52 Schleiermacher, Die christliche Sitte, 16–24, vgl. ebd., Beilage A, § 44–51 (15–17). 53 Schleiermacher, Der christliche Glaube, § 93 im Zusammenhang mit §§ 88 ff.

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jeweils gegenwärtigen Gestalt des Christentums in der historischen Theologie.54 Es handelt sich hier in der Tat um einen hermeneutischen Zirkel, in dem das Stehen in einer bestimmten Gestalt der christlichen Kirche zu einem bestimmten Zeitpunkt die Perspektive und den Ausgangspunkt der Erfassung des Wesens des Christentums ebenso wie den Gegenstand der Kritik darstellt. Die Bezugnahme auf die Wesensbestimmungen der religiösen Gemeinschaft und des Christentums einerseits und auf die Geschichte, insbesondere das christologische Fundament der gegenwärtigen Gestalt, andererseits bezieht sich auf die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenwart und der Gestaltung der Zukunft, wobei diese Bedingungen der Möglichkeit die Möglichkeit der Kritik der Gegenwart und die Kriterien der Zukunftsgestaltung darstellen, dabei aber immer als Bedingung der Möglichkeit der Gegenwart und damit unter deren Voraussetzung wahrgenommen werden. 5.

Hermeneutischer Zirkel

5.1

Sinn der Wendung

Von dort aus komme ich auf den Gedanken des ›hermeneutischen Zirkels‹ zurück, den Barth in seiner Einführung rezipiert – eigentümlicherweise, weil es sich dabei nun wirklich um einen Begriff einer hermeneutischen Philosophie bzw. Theologie handelt. Bei Heidegger, von dem der Begriff stammt,55 hat er seinen Sinn in einer gedanklichen Aporie, vor der Heidegger in Sein und Zeit steht: dass das Dasein nicht im Sinne eines ›Vorhandenseins‹ ›ist‹, ist letztlich nur dem einsichtig, der dessen ansichtig geworden ist, dass die in Sein und Zeit entfalteten Seinsstrukturen den Selbstvollzug des Daseins beschreiben, den ein Verständnis des Daseins als ›Vorhandenes neben innerweltlich Vorhandenem‹ verfehlt. Das wiederum heißt: die Angemessenheit der Beschreibung der Seinsstrukturen des Daseins, die Heidegger vollzieht, ist letztlich nur dem nachvollziehbar, der seiner selbst in ›eigentlicher‹ Weise ansichtig geworden ist und der sein Sein in der Weise vollzieht, wie es in Sein und Zeit beschrieben wird, das heißt: demjenigen, der diese (grundsätzlich unverlierbare, auch im Modus der Uneigentlichkeit aktualisierte, aber im ausdrücklichen Verstehen verfehlte) Seinsstruktur eigens ergriffen hat. Der Daseinsvollzug und das Selbst54 Das gilt insbesondere für den protestantischen Typus der christlichen Frömmigkeit, in der die Zugehörigkeit zur Kirche, wie Schleiermacher in dem großartigen § 24 der Glaubenslehre (21830/31) festhält, abhängig ist vom Verhältnis des Menschen zu Christus (und nicht umgekehrt). Das bedeutet: beide Möglichkeiten sind auch nach protestantischem Verständnis im Christentum abgelegt, da der Mensch durch die Verkündigung der Kirche als dem das fromme Bewusstsein bildenden Ausdruck der Frömmigkeit Christi begegnet – aber das so gebildete selbständige Bezogensein auf Christus ist nach protestantischem Verständnis der Grund der Zugehörigkeit zu Christus, der von der Kirche als deren kritischer Grund unterschieden wird. 55 Heidegger, Sein und Zeit, § 32 (152 f ) und § 63 (312–316). Vgl. zum hier vorausgesetzten Verständnis von Sein und Zeit: Slenczka, Realpräsenz und Ontologie, 387–446.

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verständnis im Modus der Eigentlichkeit ist die Prämisse der Einsicht in die Angemessenheit der Beschreibung dieser Seinsstruktur. Das meint ­Heidegger mit der wissenschaftstheoretischen Figur des ›Vorausspringens‹, sozusagen der Hypothese, die von der nachgehenden Forschung nie eingeholt werden kann, sondern immer vorausgesetzt bleibt; und genau dies ist der Sinn der Rede vom ›hermeneutischen Zirkel‹: die Einnahme der Perspektive, unter der erst sichtbar wird, was eine Wissenschaft beschreibt. Kant nennt genau dies das ›apriori‹ oder die (subjektiven) Bedingungen, die Erfahrung möglich machen. 5.2

Karl Barth

Genau dies vollzieht Barth nach, wenn er in seiner Einführung bezüglich der Verifikation des Kanons und seines Umfangs von dem hier zu begehenden »für ihr [der biblischen Texte] Verständnis unvermeidlichen hermeneutischen Zirkel[]« (53) spricht: Es ist der Inhalt der Texte – das Evangelium von Jesus Christus  – das ihre Kanonizität begründet; und das heißt  – im Sinne der Grundthese Barths, dass diese Texte exklusives Zeugnis des ihnen vorausgehenden Wortes Gottes (Jesu Christi) sind: dass ein Verständnis dessen, was nur diesen Texten zu entnehmen ist, die Voraussetzung des Urteils über diese Texte und das Kriterium ihrer Auslegung ist. Denn das externe Kriterium (das offenbarte Wort Gottes, Jesus Christus), als dessen Zeugnis das geschriebene Wort gelesen werden soll, ist nur diesen Texten selbst entnehmbar, die aber unter seiner Voraussetzung gelesen werden müssen. Diese Gedankenfigur ist hermeneutisch selbstverständlich  – muss aber angesichts einreißender Vergesslichkeit doch hin und wieder in Erinnerung gerufen werden.56 Barth rekurriert hier, wie jede vernünftige Theologie,57 auf den Vorgang der Selbstbezeugung der Schrift: auf die uneinholbaren, jeder theologischen Reflexion vorausgehende Erfahrung, dass sich in diesen Texten ›das Wort Gottes‹ als solches erschließt, d. h.: dass die Texte als wirksam erfahren werden. Das bedeutet aber: der Ausgangspunkt der Theologie ist nicht der bestimmende Gott, sondern die Erfahrung des Bestimmtwerdens des Menschen durch Gott. Oder anders – wie Barth an sehr vielen Stellen immer wieder einschärft: es geht in der Theologie um den intellectus fidei; vorausgesetzt ist damit nicht einfach die Gottheit Gottes, sondern der Glaube als die Existenzweise, in der der souveräne Gott sich in der Existenz des Menschen durchsetzt. Die Theologie ist nach Barth ein Vollzug, der diesem Bewusstsein des Bestimmtwerdens ausdrücklich entspricht. Man kann sich dies in einer der entscheidenden Passagen der Einführung klar machen, in der Barth die im oben genannten Sinne verstandene Trans-

56 Es scheint auch unter Fachtheologen nicht selbstverständlich zu sein, dass dieser Punkt verstanden ist: Slenczka, Einwände und Antwortversuche, 44 f. 57 Vgl. Slenczka, Vom Alten Testament und vom Neuen, 4.3., 140–159, Anm. 268. Vgl. auch Dalferth, Wirkendes Wort, 321–334.

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zendentalität des Selbstoffenbarung Gottes für die Theologie (Rede von Gott) auf den Punkt bringt: Das Wort ist nicht die einzige, aber unweigerlich die erste der notwendigen Bestimmungen des Ortes der Theologie. Sie ist ja selbst Wort: menschliche Antwort nämlich. Aber nicht ihr eigenes antwortendes Wort macht sie zur Theologie, sondern das Wort, das sie hört und auf das sie antwortet. Sie steht und fällt mit dem Wort, das dem ihrigen vorausgeht, durch das sie geschaffen, erweckt, herausgefordert ist. (25)

Umgekehrt ist aber sowohl in den oben knapp in Erinnerung gerufenen §§ 4 und 25 der KD der Vollzug der Theologie bzw. der dem Glauben entsprechenden Verkündigung in der Kirche der Ausgangspunkt der Erinnerung an den Grund im Sinne der Bedingung der Möglichkeit dieses Redens des Menschen, die die Selbstoffenbarung Gottes ist. Diese Selbstoffenbarung Gottes ist bleibend und immer das Sich-Aussprechen des Glaubens über seinen Grund, der dadurch immer und bleibend als Grund und Voraussetzung des Glaubens thematisiert ist. In der Rede von Gott spricht der Glaube sich über den Grund seiner selbst aus.58 58 Die Abfolge der Kapitel in den Prolegomena der Kirchlichen Dogmatik lässt im ersten Abschnitt des ersten Kapitels eine Lehre von der Offenbarung mit der souveränen Selbstsetzung Gottes beginnen und geht von diesem offenbarten Wort Gottes weiter zum geschriebenen und zum verkündigten Wort, folgt also dem ordo rei, wenn mir diese abgestandene Kategorie erlaubt sei. In KD I/1, § 4 aber geht Barth umgekehrt vor und folgt damit dem ordo cognitionis, lässt sich also von der Faktizität der erfolgenden christlichen Verkündigung auf deren Voraussetzung verweisen – das Wort der Schrift – das wiederum auf eine Voraussetzung, nämlich die mit ihm selbst nicht identische, von ihm nur bezeugte Offenbarungstat Gottes in Christus verweist. Ebenso setzt Barth in KD II/1 in § 25 unter der in genialer Weise doppeldeutigen Überschrift ›Der Mensch vor Gott‹ ein und skizziert die Faktizität der in der Kirche erfolgenden Rede von Gott, die sich aber selbst erweist als begründet in ihrem Gegenstand und damit zu einer Umkehrung der Abfolge zwingt: Der Mensch, der systematisch als Voraussetzung im Sinne der Bedingung der Möglichkeit der Rede von Gott eingeführt wird, erweist sich im Fortschreiten des Paragraphen als der vor dem Gericht dessen, von dem er handelt, stehende Mensch – das ist die Doppeldeutigkeit des ›Der Mensch vor Gott‹, und diese Einsicht nötigt zu einer Umkehr der Abfolge, so dass der zweite Abschnitt des Paragraphen die Überschrift trägt: ›Gott vor dem Menschen‹ und dann folgerichtig in der skizzierten Weise Gott als Bedingung der Möglichkeit der menschlichen Rede von Gott zur Geltung bringt. Aber – und das ist die entscheidende Einsicht: ohne diesen Anmarschweg in KD I/1, § 4, ohne den Einsatz bei der Verkündigung der Kirche und der Frage nach deren Voraussetzungen kommt Barth gar nicht an den Punkt, an dem er feststellt, dass nun die Abfolge des ordo cognitionis umgekehrt und den ordo rei gefolgt werden muss. Ohne diesen Einsatz bei der Faktizität der erfolgenden Verkündigung und dem Rückgang in ihre Voraussetzungen wäre ein Einsatz bei der souveränen Selbstoffenbarung Gottes in seinem Wort ein schierer Willkürakt eines Menschen, der sich an die Stelle Gottes setzt und von dort aus Theologie betreibt. Das bedeutet aber: das christlich fromme Subjekt – die Kirche – ist die unentrinnbare Voraussetzung der Theologie Barths, und die Entfaltung der Selbstoffenbarung Gottes als Bedingung der Möglichkeit der Kirche und ihrer Rede von Gott ist nichts anderes als die Entfaltung der Voraussetzungen, die im christlich-frommen Subjekt mitgesetzt sind.

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5.3

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Friedrich Schleiermacher

Nun scheint aber bei Schleiermacher dieser wissenschaftliche Vollzug Bedingungen in Anspruch zu nehmen, die außertheologisch sind – ganz eindeutig in der Feststellung der zweiten Auflage der Kurzen Darstellung, die philosophische Theologie müsse zum Zweck der Selbstverortung der Theologie einen Standpunkt oberhalb des christlichen Glaubens einnehmen und diesen verorten im Haushalt der menschlichen Subjektivität einerseits und der frommen Gemeinschaften bzw. der Grundstrukturen menschlicher Sozialität überhaupt – Barth zitiert bekanntlich in der auch im Missverständnis großartigen Schleiermacher-Darstellung seiner Theologiegeschichte diese Passage als Indiz dessen, dass Schleiermacher zwei Herren, der Offenbarung und der Wissenschaft, dient.59 Namentlich die Rede von Gott insgesamt und der Begriff der Kirche ergibt sich, so scheint es, aus einer Analyse menschlicher Subjektivität und unter deren Voraussetzung; Schleiermacher spricht davon, dass der Mensch – ich darf abkürzen – sich in der begrenzten Freiheit seines Weltverhältnisses immer schon als grundlegend unfrei wisse.60 Der Begriff Gott bringt genau dieses Bewusstsein der Abhängigkeit auf den Begriff. Das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit kann eben nur so ausgesprochen werden und zur Darstellung kommen, dass ein Woher dieser Abhängigkeit thematisiert wird – und genau dieses ›Woher der Abhängigkeit‹ bringt im Gebiet der Theologie der Begriff Gott zur Sprache. Barth versteht das so, dass in dieser Einleitung zur Glaubenslehre die Rede von Gott in einer Subjektivitätstheorie, die Kirche in einer Gesellschaftstheorie bzw. in einer vergleichenden Religionstheorie begründet ist; erst der § 11, in dessen Leitsatz Schleiermacher feststellt, dass die christliche Glaubensweise sich von allen anderen gleichartigen dadurch unterscheidet, »dass alles in ihr bezogen ist auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung«, verbindet die anderweitig gewonnenen Voraussetzungen mit einer spezifisch christlichen Pointe und der Christusoffenbarung – so stellt Barth es in seiner Theologiegeschichte dar und so setzt er es in den Abgrenzungen in der Einführung voraus. Auf der anderen Seite legt aber Schleiermacher größten Wert darauf, dass die Frömmigkeit einerseits und dass die spezifisch christlich-fromme Subjektivität unableitbar ist, das heißt, dass die Religion und dass der christliche Glaube sich gerade nicht aus Voraussetzungen ableiten läßt, die nicht der Auslegung des Impulses entspringen, der von der Person Jesu von Nazareth ausgeht und deren Reflex in der Subjektivität darstellt. Die interessante Frage ist hier, wie Schleiermacher einerseits das Christentum in einer Dihärese frommer Gemeinschaften und letztlich in subjektivitätstheoretischen Voraussetzungen verorten kann, die die Voraussetzung des Begriffs ›Gott‹ sind, und andererseits das Christentum und das fromme Selbstbewusstsein konstitutiv in der histo59 Barth, Die protestantische Theologie, 379–424, bes. 392–402. 60 Zum Folgenden vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, § 4 (32–40). Zum hier vorausgesetzten Verständnis vgl. Slenczka, Schleiermacher.

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risch kontingenten, durch Christus vollzogenen Erlösung begründen kann, ohne die es frommes Bewusstsein nicht gibt. Auf der anderen Seite stellt sich natürlich an Barth die Frage, ob tatsächlich der hermeneutische Zirkel des Verhältnisses von Glaube und Gott ausschließlich so beschritten werden kann, dass von der Voraussetzung der souveränen Selbstoffenbarung Gottes her die Existenz des Menschen und ein dieser entsprechendes, sich dieser Anhängigkeit bewusstes Theologietreiben entfaltet wird, oder ob diese Folge nicht immer zugleich die Voraussetzung ist, in deren Anerkennungsakt die Rede von der Souveränität Gottes sich begründet. 6.

Abbreviatorischer Vergleich

Ich habe für beide – Friedrich Schleiermacher und Karl Barth – anderweitig zu zeigen versucht, dass die Bewegung der Grundlegung der Theologie jeweils vom Wahrheitsmoment der Gegenposition abhängig ist:61 das fromme Bewusstsein als Bewusstsein der Abhängigkeit kann sich nicht anders aussprechen als in einer Rede über den Grund seiner selbst; und die Rede von der Souveränität Gottes gibt es nur, wenn das Bestimmtsein aller anderen Wirklichkeit durch diesen Souverän mitgesetzt ist, die Barth im Falle des Menschen ›Glaube‹ nennt und mit Zügen des Bewusstseins der schlechthinnigen Abhängigkeit auszeichnet. Damit führt der Vergleich beider in die Frage nach dem Verhältnis von Selbstbewusstsein und Rede von Gott als dem Grund des Selbstbewusstseins. Hier könnten die Verhältnisse, so habe ich anderweitig zu zeigen versucht, möglicherweise so liegen: dass in Karl Barth sich das fromme Bewusstsein über seinen Grund ausspricht; und dass Schleiermacher diese selbstvergessene Rede von Gott aufmerksam macht auf die notwendigerweise vergessene Voraussetzung des Bewusstseins der Abhängigkeit, das auch nach einer an Barth orientierten Theologie die unverzichtbare Folge des Gegenstandes der Theologie ist. Insofern ist die im Vorangehenden ausgewiesene Zirkularität der Enzyklopädien beider Theologen in der Sache begründet, damit notwendig und komplementär. Und genau das Verhältnis beider Perspektiven – dass das fromme Bewusstsein sich nur so aussprechen kann, dass es selbstvergessen über seinen Grund spricht (Barth), und doch immer die Bedingung der Möglichkeit aller Aussagen ist, die es tätigt (Schleiermacher), bringt in gelungener Weise die Hegelsche Figur des ›Voraussetzens‹ zur Sprache: Das fromme Bewusstsein spricht sich über seinen Grund aus, und zwar so, dass es diesen ›sich voraus-‹setzt.62

61 Für Barth: Slenczka, Im Lichte, bes. 37 f; für Schleiermacher: Ders., Schleiermacher, bes. 20.35–38. 62 Genauer: Slenczka, Fides creatrix divinitatis.

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Notger Slenczka

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»Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen …«

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Günter Thomas

Das Ende der intellektuellen Gemütlichkeit Theologie unter der Voraussetzung der Lebendigkeit Gottes

[J]enes Verzichtleisten auf Interpretation (auf das Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen und was sonst zum Wesen alles Interpretierens gehört) […]1 Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlichen Schlußabsichten; die eignen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit […]2 [E]in ›Glaube‹ muß immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt.3

1. Vorbemerkungen Es war eine Begegnung zweier Männer, allerdings nur auf dem Papier. Nicht wie die Begegnung zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, Jahre später in Davos. Sie hat es auch nicht in Wolfram Eilenbergers beeindruckende Studie Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929 geschafft.4 Aber sie hatte gewiss das Potenzial. Es wurde mit harten Bandagen gekämpft, es waren subtile und weniger subtile Beleidigungen eingestreut und es wurden weitreichende Unterstellungen formuliert. Unter dem dünnen Furnier der wissenschaftlichen Netiquette wurde eine harte Auseinandersetzung ausgetragen. Es war eine Konfrontation unter Ungleichen. Würde sich der Filmemacher Florian Henckel von Donnersmarck dieser literarischen Begegnung annehmen, er wäre begeistert. Hier der Erfahrene und in die Jahre Gekommene. Dort der junge, aufstrebende Rebell – ›young and promising‹. Hier der Doyen der Wissenschaft, Mitgründer der späteren Max-Planck-Gesellschaft, dort der Jungwissenschaftler ohne reguläre Promotion. Hier der frisch 1921 emeritierte, dort der 1921 frisch gebackene Professor. Hier der Beobachter langfris1 2 3 4

Nietzsche, Genealogie der Moral, 890. Ebd., 898. Ebd., 890. Eilenberger, Zeit der Zauberer.

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tiger historischer Prozesse und kontinuierlicher Entwicklungen, dort der, der den Carl Schmittschen Ausnahmezustand in Sachen Religion auf Dauer stellt. Hier der Redenschreiber Kaiser Wilhelms II., dort der rote Pfarrer, der mit dem Sozialismus flirtet. Hier der, der den langen Atem der Geschichte tröstlich erlebt, dort der andere, der wie viele seiner Zeitgenossen den Augenblick feiert. Hier ein bewusst deutscher Deutscher, dort der patriotische Schweizer mit seiner Geschichte. Hier der kriegsbegeisterte Patriot, dort der just von dieser Kriegsbegeisterung Entsetzte. Hier der Vorwurf »Erweckungsprediger« zu werden, dort der Vorwurf, »Zuschauertheologie« zu betreiben. Hier der, der sich angegriffen fühlt, der die Nerven verliert, von Keulenschlägen spricht, einen »Kontrastlüstling« zu erkennen meint, der Frivolität, Illusionierung und Verachtung vorwirft, dort der coole Junge, der bei diesem Gegner nur gewinnen kann, sich Schnoddrigkeiten erlaubt, diesen als »hochgeehrter Herr Doktor« ironisiert und ihm zugleich die Verflachung und Entleerung allen Inhalts vorwirft.5 Hier der, der die Ansichten des anderen »übermütig, widerspruchsvoll, veraltet und unreif«6 findet und sich dennoch süffisant für »die inhaltsreichen Darlegungen« bedankt und deren Autor zugleich offen unter Häresieverdacht stellt, dort der, der lakonisch an zurückliegende politische Verfehlungen erinnert und den die Größe seines Gegners doch auch unglaublich anfixt. Großes Theater, vor einem großen, ja einem internationalen literarischen Publikum. Wer etwas mit den theologischen Kontroversen der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts vertraut ist, weiß, von welcher Konfrontation ich spreche. Es ist die zwischen dem 11. Januar und dem 24. Mai 1923 öffentlich ausgetragene Kontroverse zwischen Adolf von Harnack und Karl Barth.7 Diese Konfrontation wurde schon oft paraphrasiert und gelegentlich auch analysiert und 5 Nach Barth, Offene Briefe 1909–1935, 86, Anm. 76, war dieser Ausdruck »Kontrastlüstling« im ersten Fahnenabzug des offenen Briefes Adolf von Harnacks enthalten, den Martin Rade am 28.2.1923 Karl Barth zugesandt hatte. Der dann am 8.3.1923 in der Christlichen Welt publizierte Text von Harnacks enthielt diesen Begriff nicht mehr. Barth verwendet ihn jedoch zweimal. 6 So im brieflichen Bericht von Martin Rade an Karl Barth (13.10.1921) über von Harnacks Äußerungen zu Barth auf der Sonderversammlung der Freunde der Christlichen Welt in Eisenach am 3.10.1921. Vgl. Schwöbel, Barth – Rade Briefwechsel, 161. 7 Die Verweise auf die Kontroverse liegen der Dokumentation in: Barth, Offene Briefe 1909–1935, 55–88, zugrunde. Im Januar 1923 hatte Adolf von Harnack in der Christlichen Welt »Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen« veröffentlicht (59–62), worauf Karl Barth bei von Harnack brieflich nachfragte, ob er denn wohl gemeint sei (56) und von Harnack dann mit einer bestätigenden Postkarte (56–57) antwortete. Barth respondierte mit »Sechzehn Antworten an Herrn Professor von Harnack« (62–67), worauf dieser mit einem am 8.3.1923 in der Christlichen Welt veröffentlichten »Offenen Brief an Herrn Professor K. Barth« (67–72) wiederum reagierte. Karl Barths Erwiderung »Antwort auf Herrn Professor von Harnacks Offenen Brief« erschien dann am 26.4.1923 an gleicher Stelle (72–87). Den Abschluss der Auseinandersetzung bildete dann von Harnacks »Antwort zu einem offenen Brief an Herrn Professor Karl Barth« vom 24.5.1923 (87–88).

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interpretiert.8 Warum soll an dieser Stelle, wenn es um Barths wesentliche Einsichten und deren gewünschte oder befürchtete Folgen für die theologische Enzyklopädie geht, diese Kontroverse nochmals betrachtet werden? 2.

Die Leitthesen

a) Meine erste, eher hermeneutische These ist, dass sich an diesem Kulminationspunkt der Kontroverse mit Adolf von Harnack prägnant die grund­legende und tragende Einsicht, ja die auf die Gesamtheit der Theologie ausstrahlende Entdeckung Karl Barths erschließt. Bis heute markieren die Positionen von Harnacks und Barths alternative Optionen für die Ausgestaltung und Begründung der theologischen Enzyklopädie. Bis heute erlaubt diese Auseinandersetzung eine analytische Lektüre der aktuellen theologischen Landschaft. Karl Barths Entdeckung ist eine, die auch hier und heute immer noch ein Schibboleth ist und immer neu wird9 – und dies gilt nicht nur für die deutschsprachige Theologie. Die Entdeckung, die Barths Theologie durchgehend prägt, ist auf den ersten Blick trivial, in ihren Folgen aber enorm weitreichend für die Gesamtheit der Theologie. Sie macht die Theologie zu einer enorm komplexen und zu einer freudigen Angelegenheit. Sie ist so gefährlich wie tröstend, so schlicht wie explosiv: Barth macht eine Entdeckung, die er als Problemstellung mit wechselnden Instrumentarien in seinem theologisch-philosophischen Werkzeugkasten sukzessive und variantenreich über die Jahre und Jahrzehnte erschließt.10 So gewiss sich die Instrumentarien und deren stilistische Ausgestaltung der soziokulturellen Umgebung Barths verdanken, so wenig ist die Entdeckung durch diese Umgebung strikt bedingt.11 Gleichwohl bilden viele Faktoren die Um8 Zum Klassiker wurde Rumscheidt, Revelation and Theology; präzise die Rekonstruktion von Drewes, Auseinandersetzung; die spezifische historische Verortung der von Harnackschen Theologie nimmt vor Braun, Der Ort der Theologie; auf die epistemischen Fragen konzentriert Schlegel, Theologie als unmögliche Notwendigkeit, 139–146; die implizite und explizite Pneumatologie auf Seiten Barths herausarbeitend Obst, Veni creator spiritus, 39–76. 9 Vgl. Ri 12,5–6. 10 Bei Licht betrachtet konzentriert sich viele Barth verteidigende wie auch viele ihn kritisierende Interpretation zu sehr auf die wechselnden intellektuellen Werkzeuge und unzureichend auf die damit in Angriff genommene Problemstellung. Probleme sind je nach Betrachtung langsam und kontinuierlich sich exponierend, verdichtend, sozusagen emergent. Und doch sind sie in jeweiligen Umgebungen zugleich auch disruptiv, neu und kontrovers. Letztlich formatieren die Instrumentarien bzw. die Modelle der Bearbeitung auch das Problem selbst. 11 Die Umgebung erschließt bis heute umsichtig Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt; ebenso Frisch, Theologie im Augenblick; und ders., Aesthetica crucis; einen außereuropäischen Blick auf die Entwicklung der Wende vom 19. zum 20. Jh. bietet mit einer Einordnung Karl Barths mit einem Blick auf die parallelen Entwicklungen bei Franz Rosenzweig: Lilla, The Stillborn God, 251–277. Zu den Ebenen des kulturellen Umweltbezugs der Theologie Barths vgl. auch Thomas, Medien – Ritual – Religion, 33–138.

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gebung für Barths Entdeckung: Zeitgeschichte, philosophische Entdeckungen, der kulturelle Whirlpool der 1920er Jahre, tektonische Verschiebungen im Zeit- und Lebensgefühl etc. b) Die in der Tat grundlegende Einsicht Barths ist, – und dies ist meine zweite, strikt inhaltliche Leitthese – Gott ist eine lebendige Entität.12 Gott ist ein Akteur, der sich zur Welt handelnd und kommunizierend verhält, und zwar auch zu unserer gedanklichen Erfassung dieser Kommunikationen und Handlungen.13 Am Anfang steht das »ungläubige, allerdings ärgerniserregende Zeugnis, dass Gott selbst etwas gesagt und getan hat« (77).14 Karl Barths Entdeckung ist zweifellos auch die Entdeckung des Apostel Paulus. Es ist sicherlich auch die Entdeckung der fremden Welt der Bibel, die Entdeckung Johannes Calvins, des Neukantianismus, der Theologen der Orthodoxie. Sicher nicht ist es die Entdeckung der Andersheit, der bloßen Alterität Gottes.15 12 Zur klar akzentuierten Semantik der Lebendigkeit Gottes in den Römerbriefkommentaren vgl. Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, 55.369.374.460.571. 13 Dass diese Orientierung nicht ohne eigene Probleme ist, zeigt die Tatsache, dass Barth später in vielen konzeptuellen Entscheidungen sich in dem engen Korsett eines Personalismus (Dominanz von Ich-Du-Beziehungen) und eines Aktualismus verharrt. Zur Präsenz dieser Motive vgl. Hunsinger, How to read Karl Barth, 30–32.40–42. Dies zeigt deutlich, dass jedes Modell zugleich Blindheit und Sicht generiert. 14 Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die oben genannte Dokumentation der Kontroverse in: Barth, Offene Briefe 1909–1935. 15 Die Entdeckung der Alterität Gottes ist ein wichtiges Moment, besonders für die 2. Auflage des Römerbriefes – aber nur auf der Ebene der Instrumentarien, nicht auf der Ebene des grundlegenden Problems und der bewegenden Einsicht. Vgl. dazu auf Seiten der Religionsphilosophie: Lowe, Prospects; ders., Theology and Difference. Das Differenzmoment im Alteritätsgedanken ist nur ein passageres Moment der Charakterisierung der Agency Gottes. Radikale epistemische Alterität führt stets in eine Mystik, die eine intensive und zugleich unbestimmte Erlebnistheologie enthält. Radikale moralische oder voluntative Alterität führt auf geradem Wege entweder zum lutherischen deus absconditus oder aber zu Shiva und anderen mit dem Menschen spielenden Göttern. Wer auf radikale Autorität setzt, wird früher oder später Mystiker oder Thomist und ruft als solcher für die Kirche nach Autorität. Radikale Alterität führt niemals zu dem sich in Christus wahrhaft offenbarenden, sich zuwendenden und sich in einem Bund selbst festlegenden Gott. Soziologisch betrachtet ist Barths scharfe Akzentuierung der Andersheit Gottes von der Frage getrieben, wie symmetrisch oder wie asymmetrisch die Beziehung Gottes zur Welt gedacht werden muss, um dem Menschen rettend zu begegnen. Darauf antwortet Barth dann mit einer Reihe von Bestimmungen und Differenzierungen und im Kern mit einem trinitarisch strukturierten Gottesverständnis. Schon die frühen Hinweise auf das Wirken des göttlichen Geistes zielen gegen eine Überakzentuierung der Alterität Gottes. Jede ernstgemeinte Offenbarungstheologie ist eine Theologie der Materialität und Medialität. Dies zeigt sich charakteristischerweise selbst in der ›Theologie‹ von Jacques Derrida. Vgl. Shakespeare, Derrida and Theology; sowie die Rekonstruktionen zu bisherigen Interpretationen des Verhältnisses von Barth zu Alterität in: White, Alterity, 70–100, konstruktiv 102–142; die verschiedenen postmodernen Barth­ deutungen referiert Stoellger, Barth und die Postmoderne.

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Ist Gott eine lebendige Entität, die kommuniziert und handelt, sich zur der Welt und den Menschen wie auch zu deren Erkenntnisoperationen kontingent verhält, so hat dies weitreichende Folgen i) für das theologische Verständnis von Geschichte, ii) für die Erfassung von Glaube, iii) für die Theologie als wissenschaftliche Unternehmung und iv) für moralische Orientierungen und deren ethische Reflexion. c) Damit eng verbunden ist die dritte Leitthese: Gegenüber der von von Harnack vertretenen Theologie vollzieht Barth eine tiefgreifende Umstellung aller Theologie von der Reflexion der Wahrnehmung von Wirkungen, deren Darstellung und deren Erlebnis, radikal auf doppelte Kontingenz, Kommunika­ tion und Handlung und nicht zuletzt auf instabile Medialität. Damit stellt Karl Barth zugleich die in beidem, in der Unterstellung der religiösen Erfahrung wie auch in deren Reflexion von Identität, auf die instabile Einheit von Identität und Differenz um. Theologie ist in allen ihren Vollzügen im Kern Medienwissenschaft – eine so alte wie neue Erkenntnis. d) Die Bestimmung der Theologie insgesamt als eine Medienwissenschaft einer instabilen Medialität führt zu einer Neubestimmung der einzelnen Disziplinen in der theologischen Enzyklopädie. 3.

Handlung oder Wirkung – Die Tiefenstrukturen der Kontroverse

Der Basso Continuo der von Harnackschen Selbstpositionierung für die Theologie als Wissenschaft ist das Plädoyer für »geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken« (59). Worauf dies in religiöser Hinsicht abzielt, hatte von ­Harnack nicht nur in seinen berühmten Vorlesungen zum Wesen des Christentums entfaltet. Er hatte es auch in der knapp drei Jahre zurückliegenden Aargauer Studentenkonferenz dargelegt, bei der es zu einer ersten faktischen und unbeabsichtigten Konfrontation der beiden Redner von Harnack und Barth kam. Für Adolf von Harnack war unstrittig: Die historische Forschung erschließt Geschehenszusammenhänge für die kritische Reflexion und für den Prozess der geistigen Wahrnehmung und Verarbeitung. In diesem Prozess erschließt sich auch die Sache und der Inhalt des Evangeliums. Wissenschaftliche Analyse kann nur auf das dokumentierte und überlieferte Gottesbewusstsein der Akteure zielen, auf ihre Reden, ihre Botschaften und ihren Selbstanspruch, aber vor allem auch auf die von ihnen ausgehenden Impulse und Kräfte – kurz: auf die religiösen Persönlichkeiten, in denen sich diese Kräfte auskristallisieren. Man darf nicht vergessen: In all seinen historischen Studien geht es von Harnack elementar um die epistemologischen Bedingungen der Theologie. Die Analysen wenden sich den psychologischen, literarischen und realhistorischen Sachverhalten zu, zu denen auch distinkt religiöse gehören.16 Die Theologie 16 Von Harnack wendet sich mit großer Selbstverständlichkeit gegen einen naturalistischen oder wissenschaftlichen Reduktionismus, der Religion auf andere Kräfte und Mächte der sozio-kulturellen Welt rückrechnet.

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als historische Wissenschaft arbeitet – um im Bild Walter Benjamins zu sprechen – mit dem Rücken zur Zukunft. Wissenschaft geht es um »die reine Erkenntnis ihres Objekts« – auch der theologischen Wissenschaft (88). Allerdings erwächst aus der Wahrnehmung dieser Inhalte konkret dann ein Orientierungspotenzial, wenn es zu Formen der Darstellung kommt, die zu »Entzündung und Erbauung« – wie von Harnack sagt (88) – führen. Hinter oder ursächlich vor dem Objekt des Gottesbewusstseins steht eine wirkende Kraft, wie opak sie auch gefasst ist. Glaube wird im Menschen durch die Sensibilisierung für die Wahrnehmung dieser Kraft evoziert, gebildet und gesteigert.17 Der Glaube erwächst aus dem Geflecht kultureller Erfahrungen und als persönlich aneignende Antwort auf die wissenschaftliche Beschreibung der christlichen Religion.18 Der graduellen Prozessualität der wahrgenommenen Geschichtsfaktoren entspricht die graduelle Steigerbarkeit und Entwickelbarkeit des Glaubens als menschlicher Möglichkeit eines basalen Vertrauens und einer Praxis der Nächstenliebe. Im historischen Verlauf vermag der Historiker auch hinsichtlich der Religion »das Wertvolle und Bleibende festzustellen«19. Glaube ist – und hier stoßen wir auf einen zentralen Aspekt des von Harnackschen Gottesverständnisses und den Kern der Auseinandersetzung – ein Bewegtwerden von einer Kraft, ein Bewegtwerden von einem Überweltlichen. Letztlich sind »die wesentlichen Elemente im Evangelium […] ›zeitlos‹. Aber nicht nur sie sind es; auch der ›Mensch‹, an den sich das Evangelium richtet, ist ›zeitlos‹ […]. Weil dem so ist, darum bleibt dieses Evangelium auch für uns in Kraft«20. Gott wird, so läßt sich knapp zusammenfassen, auch bei von Harnack im theoretischen Paradigma der ewig wirkenden Ursächlichkeit begriffen. Diese Tradition reicht weit über Friedrich Schleiermacher hinaus und führt theologiegeschichtlich in die auch von den Reformatoren nicht vollständig gekappte vielgestaltige Rezeption der aristotelischen Philosophie. Für von Harnack eigentümlich ist zweifellos, dass er sachlich mit seiner Gottesvorstellung an Gedankengut der Stoa, d. h. an einen alles durchwaltenden Weltlogos erinnern lässt, aber semantisch gerade den lebendigen Gott hervorhebt. Für die Jünger wie auch für die Christen seiner Zeit geht es darum zu lernen »die Hand des lebendigen Gottes überall im Leben und auch im Tod zu erkennen«21. Als »Kinder des lebendigen Gottes« sind Menschen »wertvoller als die ganze Welt«22. Die Schlüsselbegriffe sind Kraft, Ausdruck, Anschauung 17 An dieser Stelle ergibt sich m. E. eine große Nähe zu Friedrich Schleiermachers Theorie der Darstellung. Vgl. Braungart / Fuchs u. a., Ästhetische und religiöse Erfahrungen; Greifenstein, Ausdruck und Darstellung. 18 Diese Melange prägt die Rhetorik von von Harnacks Vorlesungen zum Wesen des Christentums. Das evozierende Potenzial dürfte ein wesentlicher Teil ihres Verbreitungserfolges sein. Vgl. Harnack, Das Wesen des Christentums. 19 Ebd., 8. 20 Ebd., 94. 21 Ebd., 43. 22 Ebd.

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und Empfindung und letztlich Ewigkeit. Auch die Auferstehung Jesu ist die Kraft, die von Jesus ausging, d. h. die gegenwärtige Empfindung seiner unvergleichlichen Einheit mit Gott. Ist das Evangelium »eine heilsame Kraft in der Geschichte«23, so gilt: »An den lebendigen Herrn und an ein ewiges Leben zu glauben ist die That der aus Gott geborenen Freiheit.«24 Kurz: Lebendigkeit heißt kraftvolle Wirkung – nicht Handlung oder Kommunikation. Dagegen benennt Karl Barth schon in seiner ersten Erwiderung zur ersten Frage von Harnacks den Differenzpunkt: Gottes Lebendigkeit liegt nicht in einer kräftigen Wirkung im Ensemble der geschichtlichen Kräfte, sondern in seiner Akteurhaftigkeit, seiner Agency, d. h. in seiner Akteurspositionierung.25 Der Inhalt des Evangeliums kann nicht angeeignet werden, sondern erfordert, so Barth, »eine Handlung […] dieses ›Inhalts‹ […] selbst« (76). Darum ist auch die Wissenschaft mit dem Problem konfrontiert, »daß ihr Objekt zuvor Subjekt gewesen ist und immer wieder werden muß« (62). Der Blick wird verstellt, konzentriert man sich in der Deutung dieses Diktums auf die Subjektivität des Subjektes. Weder die Subjekthaftigkeit noch die Andersheit oder die Alterität Gottes ist die Pointe, sondern die Agency, die Akteurhaftigkeit, die Bestimmung einer äußerst distinkt und differenziert handelnden Entität. Nur diese Konstellation zwingt zu einer ganzen Stafette an Folgefragen, die Barth variantenreich angeht. Wie verhält sich göttliches Handeln zu menschlichem Handeln? – eine Frage die Barth z. B. in beiden Römerbriefkommentaren unterschiedlich beantwortet. Nur diese Konstellation, nicht mit einer göttlichen Wirkung, sondern mit einer göttlichen Handlung und göttlicher Kommunikation konfrontiert zu sein, zwingt die Theologie, sich auch das Verhältnis zu Gott deutlich komplexer, nämlich doppelt kontingent und damit auch als ereignishafte Kommunikation, zu denken.26 Jeder Akteur kann sich zum Verhalten und Handeln des anderen verhalten und entsprechend handeln bzw. kommunizieren. Da dies den operativen Vollzug des Verhältnisses wie auch die Reflexion dieses Verhältnisses betrifft, sind beide – Predigt wie Theologie – unausweichlich mit diesem Problem der doppelten Kontingenz in der Kommunikation konfrontiert. Wer sich Gott als Kraft des Ewigen, als Grund des Seins, als Absolutes, als Alles bestimmende Wirklichkeit, als irgendwie zu denkender Gewissheitsgrund, als esse theologisch konzipiert, sich also im langen Schatten der klassi­ 23 Ebd., 94. 24 Ebd., 103. Jesus »ist die persönliche Verwirklichung und die Kraft des Evangeliums gewesen und wird immer noch als solche empfunden« (ebd., 91). 25 Dies sieht, aus einer an der Struktur von Ethik interessierten Perspektive sehr klar: Nimmo, Being in Action, 17 ff. 26 Zum damit eröffneten soziologischen Hintergrund, der dann zur theologischen Instrumentierung dient, vgl. Luhmann, Soziale Systeme; ders., Gesellschaft der Gesellschaft, Baraldi / Corsi u. a., GLU. Zu den verschiedenen vertikalen und horizontalen Dimensionen der religiösen Kommunikation vgl. Thomas, Mediatization; ders., Medialisierung und Mediatisierung.

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schen philosophischen Metaphysik bewegt, ist frei von den durch doppelte Kontingenz aufbrechenden Problemen. Er lebt intellektuell »gemütlicher«.27 Diese Konstellation prägt jede von Karl Barths Antworten, ja die gesamte Erwiderung auf von Harnacks Anfragen. »Verstehen«, und d. h. Glauben, ereignet sich »Kraft des Geistes« (63). Dem Verstehen liegt eine ermöglichende Handlung Gottes zugrunde. Der Glaube wird für Barth nicht durch die Darstellung und Wirkung einer Kraft evoziert, sondern vielmehr »durch das Wort des Christus« (63).28 Der vielzitierte Satz: »Die Aufgabe der Theologie ist eins mit der Aufgabe der Predigt« (63) erfasst den für Barth basalen Sachverhalt, dass sich Predigt wie Theologie auf einen lebendigen Akteur (Gott, den sein Wort sprechenden Christus, den selektiv handelnden Geist) bezieht, der sich als Lebendiger und Aktiver reflexiv auf dieses menschliche Handeln in Theologie und Predigt beziehen kann. Es ist nicht nur die Predigt, die Gott als lebendigen Akteur verkündet und sich ihm daher unterstellen muss. Auch die Theologie hat mit einer Lebendigkeit Gottes zu rechnen, die sich zur theologischen Arbeit aktiv verhält, sodass diese auch real bedroht werden kann und zugleich zu einer freudigen und hoffnungsvollen Sache wird.29 »Denn es geschieht, daß Gott, um den es da angeblich geht, nur eben schweigt zu dem, was da – leider nicht von ihm her, sondern nur über ihn – gedacht und gesagt wird.«30 Die doppelte Akteurspositionierung geht in der Kommunikations­situation notwendig von Differenz aus, und: Kommunikation ist stets unwahrscheinlich, ist Krisis, ist riskant. Gottes Leben und das Leben der Welt sind nicht – auch nicht im Imaginationsrahmen der Pneumatologie – ineinander zu schieben.31 In der Betonung der Freiheit dieses göttlichen Akteurs erinnert Barth daran, dass dieser sich differenziert zur Welt verhält: Er tötet, bevor er lebendig macht, destabilisiert, bevor er zur Erkenntnis ermutigt. 27 Zur Semantik der Gemütlichkeit vgl. Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, 209, angewandt auf eine Zuschauertheologie; Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 379, abgrenzend bezogen auf die Gebrüder Blumhardt und ihre hoch engagierte Theologie. 28 So mit Verweis auf Röm 10,17b. 29 Barth selbst betont immer wieder, dass dies die Theologie zu einer gefährlichen Unternehmung macht. Allerdings sollte die mit diesem Ansatz einhergehende Entlastung der Theologie gar nicht überschätzt werden. 30 Barth, Einführung, 106. Der gesamte Teil III der vierteiligen Einführung dreht sich unter dem Titel »Die Gefährdung der Theologie« und den Aspekten Einsamkeit, Zweifel, Anfechtung und Hoffnung im Kern um die kontingente Beziehung Gottes zur theologischen Arbeit selbst. »Theologie arbeitet auf der ganzen Linie im Ausblick auf die Wirklichkeit des Werkes und also auf die ihr schlechterdings überlegene Wahrheit des Wortes Gottes, die ihr als solche vorgegeben – aber eben schlechterdings vorgegeben, die immer und überall ihre Zukunft und also nicht in ihre Hände, nicht in die Gewalt und Verfügung ihres Denkens und Redens gegeben, nicht dem Schalten und Walten des Theologen ausgeliefert und anheimgestellt ist« (ebd., 117). 31 Die sogenannte erste Auflage des Römerbriefkommentars bot dazu zumindest missverständliche Formulierungen, insbesondere den Topos des im Menschen eingepflanzten Keims des Neuen. Vgl. exemplarisch für viele: »In uns gepflanzt ist der Keim der neuen Welt, der unser Dasein und weiterhin das Dasein unserer Umwelt im Sinne Gottes umgestalten möchte« (Barth, Der Römerbrief [Erste Fassung] 1919, 315).

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Karl Barth rezipiert Max Weber

Vor dem Hintergrund dieser Umstellung auf Handlung und Kommunikation kommt die Christologiezentrik ins Bild. Im Rahmen seiner Umstellungen von Wahrnehmung auf Kommunikation, von Geschichte auf Soziologie, stößt Barth notwendig auf Fragen wie: Wie ist das Handeln dieses Akteurs zu verstehen? Wo und mit welchen Intentionen handelt dieser Akteur? Wie sicher ist mit diesem Handeln zu rechnen? Wird ein Ereignis nicht als Effekt einer Wirkung, sondern als Ergebnis einer Handlung aufgefasst, so stellt sich zwingend die Frage nach dem subjektiven Sinn dieser sozialen Kommunikationshandlung. An dieser Stelle rezipiert Karl Barth faktisch – und dies ist meine zweite These  – elementare Erkenntnisse der Soziologie Max Webers und wendet sie auf das göttliche Handeln an. Zwischen 1918 und 1920 entwickelte Max Weber die Textgestalt der »Soziologische[n] Grundbegriffe«, die im Jahr 1921 und 1922 als Teil des großen Textkonvoluts veröffentlicht wurden, welches später den Titel Wirtschaft und Gesellschaft erhielt. Gleichgültig ob Barth Max Weber gelesen hat, er tut, was Weber – und heute noch viele Soziologen – für »State of the Art« erachtet. Wirtschaft und Gesellschaft setzt ein mit der Feststellung: Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.32

Die Frage, auf die Weber unmittelbar stößt, lautet dann: Wie ist der subjektive Sinn eines Handelnden, den dieser mit seiner Handlung verbindet, zu erschließen? Weber wendet sich darum sogleich den methodischen Grundlagen zu und fährt fort: ›Sinn‹ ist hier entweder a) der tatsächlich α) in einem historisch gegebenen Fall von einem Handelnden oder β) durchschnittlich und annähernd in einer gegeben Masse von Fällen von den Handelnden oder b) in einem begrifflich konstruierten reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten Handelnden subjektiv gemeinte Sinn.33

Die Analyse des Handelns kann sich also a) auf einen empirischen Fall, b) auf eine Masse von Handelnden und c) auf einen idealtypisch konstruierten Typus beziehen. Das Verstehen ist für Weber entweder »das aktuelle Verstehen des gemeinten Sinnes einer Handlung« oder aber – hierin anspruchsvoller – die »Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein 32 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. 33 Ebd. Die Sperrungen im Original werden als Kursivierung wiedergegeben.

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aktuell verständliches Handeln hineingehört.«34 Welche Funktion in der Erschließung des Handlungssinns hat nun der reine Typus oder der Idealtypus? Nochmals Max Weber: Die Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns also dient in diesen Fällen der Soziologie, seiner evidenten Verständlichkeit und seiner – an der Rationalität haftenden – Eindeutigkeit wegen, als Typus (›Idealtypus‹), um das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer) beeinflußte Handeln als ›Abweichung‹ von dem bei rein rationalem Verhalten zu gegenwärtigen Verlaufe zu verstehen.35

Die Aufgabe der idealtypischen Bestimmung der Handlung ist dabei, auch zu entscheiden, wie in einem Ereignis Handeln und Erleben zwischen den beteiligten Akteuren verteilt sind.36 Wie erschließt sich der Sinn der Handlungen des göttlichen Akteurs? Wie erschließt sich, wer wie und wo handelt? Überaus spannend ist nun: Max Webers Optionen spiegeln relativ präzise den Konflikt zwischen Adolf von Harnack und Karl Barth. Unterlegt man irgendwelchen Ereignissen keinen subjektiven Sinn, so kann man schlechterdings nur von einer Wirkung sprechen. Dies war die eben vorgeschlagene Auffassung von Harnacks. Man könnte aber von Harnack und weitere Teile der liberalen Tradition auch geistbezogen, pneumatologisch, ad bonam partem deuten und von einem Handeln des Geistes Gottes am menschlichen Geist ausgehen. Dies wäre der Weg einer radikal induktiven Geist- und Erfahrungstheologie, bei der eine, so Weber, ›Masse‹ von Geisthandlungen erfasst, strukturiert und ausgewertet wird. Der ganz späte Barth hat diesen pneumatologisch strukturierten Weg erwogen. Barth plädiert in den zwanziger Jahren jedoch für den zweiten Weg einer idealtypischen, einer wirklich sprechenden Handlung, von der aus dann andere bzw. vermeintlich andere (Gottes)Handlungen analysiert und bewertet werden können.37 Barths entschieden christologische Orientierung dokumentiert die Entscheidung für diese Option. Angesichts der seines Erachtens evidenten Verirrungen der Erfahrungstheologie (Abdriften in Anthroposophie, 34 Ebd., 3 f. 35 Ebd. 36 Zum Gesamtkomplex vgl. Gerhardt, Idealtypus. An den Zurechnungsfragen, die in der Strittigkeit von Handeln und Erleben aufbrechen, wird dann die Luhmannsche Handlungstheorie ansetzen. 37 Barths Hinweis auf einen verflachten Schöpfungsgedanken, der das Kreuz umgeht – ohne Hoffnung auf das Verheißene – berührt einen zentralen Punkt der Handlungstheorie: Wie sind Einzelhandlungen verstehbar? Erschließen sie sich in ihrem Sinn nicht erst durch übergeordnete Zusammenhänge? Hierauf gibt es verschiedenen Antworten. Handlungen können ein ähnliches Muster aufweisen, das sie wiederholend variieren. Sie können aber auch – und dies berührt Barths Weiterentwicklung – Teil umfassender Aspirationen und Handlungsketten sein. Die Einzelhandlung ist dann Teil einer solchen Kette mit distinkten Absichten. Sie ist Moment einer Bewegung, die die von Harnacksche Rede vom Ewigen nicht zu denken erlaubt. Daher die Affinität Barths zum Motiv der Bewegung und später dann zu einer Bundestheologie.

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Kriegsbegeisterung etc.) war dieses strikt induktive Vorgehen ausgeschlossen. Schrieb doch von Harnack im Winter 1916/1917 an Freunde und Schüler auf dem Schlachtfeld: Sorg dich nicht um deinen Leib, noch um deine Glieder; Was in dir lebendig ist, Kehrt verdoppelt wieder. Des gerechten Abels Blut Stockt nicht in der Erde; Solcher Saat von Gott gesät, Gilt sein ›Stirb und Werde‹.38

Im Erlebnis des Kriegsausbruchs sah von Harnack, so seine Tochter und Biografin, »den Aufbruch tiefer, oft verschütteter Quellen des religiösen Lebens«: An Stelle des eigenen Lebens, das nicht mehr der Güter höchstes ist, tritt etwas Ideales, sei es das Leben des Vaterlandes, sei es ein Gut, das für die ganze Menschheit zu erringen ist. […] Diese hochgemute und zu Leben und Sterben gleich bereite Stimmung ist aber der Religion aufs nächste verwandt. […] Und gerade solche [Menschen], die bisher nichts mit der Religion gemein zu haben glaubten, weil sie sie nur als offizielle kannten, und ihr eigenes Innenleben vernachlässigten, fühlen sich nun plötzlich von ihrem Fittich emporgetragen, sehen sich wie durch einen Zauber von den Schwergewichten an ihren Füßen befreit und gewinnen ein neues Verhältnis zu den Brüdern und das Bewußtsein einer überzeitlichen Bestimmung.39

Die gleiche Diagnose findet sich bei Max Weber in seinen Zwischenbetrachtungen zur Religionssoziologie, allerdings deutlich kritisch gewendet.40 Angesichts der hohen Ambivalenz der religiösen Erfahrungen, als Handeln des Gottesgeistes an dem menschlichen Geist (hier die Erfahrung der Selbsttranszendenz, die von Harnack zweifellos zugleich als Erfahrung der Liebe deuten konnte), erscheint es überaus rational, auf die Option Idealtypus zu setzen, um eben – und ich zitierte den zuvor erwähnten Satz Max Webers – »das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer) beeinflußte Handeln als ›Abweichung‹ von dem bei rein rationalem Verhalten zu gegenwärtigen Verlaufe zu verstehen«. Die idealtypische Erschließung des subjektiven Sinnes des göttlichen Akteurs ist überaus rational. Das Gelände der »Vielfalt der re38 Smend, Adolf von Harnack, zit. nach Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, 449. 39 Smend, Adolf von Harnack, 1279.1369, zit. nach Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, 450. Wie die Verweise auf Fichtes Rede an die Deutsche Nation in den Vorlesungen zum Wesen des Christentums literarisch dokumentieren, war von Harnack mit der in die gleiche Richtung weisenden Opfertheologie immanenter Transzendenz sehr vertraut. Die Dynamik der (immanenten) (Selbst)Transzendenz hat – bezogen auf den Nationalstaat – luzide Fichte, Reden, in der achten Rede (124 ff ) beschrieben. 40 Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze, 48. Zur Interpretation als implizite Religion durch Weber vgl. Thomas, Implizite Religion. Zum Problem der Sakralisierung vgl. die aktuelle Diskussion bei Joas, Die Macht des Heiligen.

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ligiösen Erfahrung« (William James) ist offensichtlich zu morastig, zu grob irrtumsanfällig, zu vieldeutig. Jesus Christus ist eben diese paradigmatische, idealtypische Handlung Gottes. Barths besondere Pointe ist, dass Gottes idealtypische Handlung zugleich eine historische ist: der »Christus« (76). 5.

Karl Barth als heimlicher ›Leser‹ George Herbert Meads

Eine Folge der Akteursorientierung in einem Verhältnis der sozialen Interaktion ist der Versuch, die Intentionen und Aspirationen des ›Anderen‹ zu erschließen, indem man sich in dessen Position versetzt und von dem ›Anderen‹ her zu denken versucht. Auf der Basis der Unterstellung einer irgendwie planenden und mit Intentionen versehenen Agency versuchen Menschen entsprechend ihrer Umweltsensibilität die Rolle des ›Anderen‹ einzunehmen. Dies geschieht hypothetisch, bruchstückhaft, auf den Moment bezogen und zweifellos auch hochgradig fiktionsangereichert. Für den Sozialphilosophen George Herbert Mead ist dies die Grundlage für ein Verständnis des Selbst und des Anderen.41 Barths radikale Option, Theologie von dem ermöglichenden und verwirklichenden Gott her zu denken und auszuformulieren, kann als ein Versuch gedeutet werden, im Sinne Meads zu verstehen. Unter der Voraussetzung einer göttlichen Agency erscheint es wenig verwunderlich, dass Barth nicht die von von Harnack verfolgte, die protestantische liberale Theologie seit Friedrich Schleiermacher prägende Strategie einer primären Erschließung des Anderen im Selbst wählt, sondern die Denkrichtung umkehrt: An die Stelle der Erschließung des Anderen im Selbst tritt die Erschließung des Selbst im Anderen.42 Die verstehende Erschließung des göttlichen Akteurs im Medium des Selbstverstehens erscheint dann reduktionistisch und unzureichend komplex angelegt. Zum Verstehen der ›sozialen Situation‹ zwischen Mensch und Gott ist der Perspektivenwechsel, das ›taking the role of the other‹, überaus rational – wie auch immer hypothetisch und fiktiv dies sein mag. Eine Theologie, die dies  – aus welchen Gründen auch immer  – verweigert, erscheint dann im Licht der Meadschen Sozialphilosophie eigentümlich autistisch. Für eine Erschließung des Selbst durch den Anderen plädiert Barth, nicht für eine Erschließung des Anderen im Selbst. 6.

Instabile und stabile Medialität

Karl Barths grundlegende Einsicht in die Lebendigkeit Gottes führte ihn zur durchgehenden Annahme eines handelnden und kommunizierenden Gottes. Hieraus ergibt sich eine gewisse Pfadabhängigkeit der Anschlussprobleme und 41 Vgl. Mead, Mind, Self & Society; zur aktuellen Diskussion vgl. Booth, Imitation. 42 Die Debatte um diese Umkehrung der ›religiösen Sozialphilosophie‹ wird dann auch die Differenzen zwischen Karl Barth und Rudolph Bultmann offen legen.

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Anschlussfragen. Die Problematik der Identifikation und selektiven Bewertung von Handlungen des lebendigen Gottes wie auch die der Erschließung des Handlungssinns lässt Barth faktisch – als heimlicher Leser Max Webers – nach einer sowohl historischen wie idealtypischen Handlung Gottes fragen. Genau diese Entscheidung führt ihn zur Christologie. Ist Gottes Kommunikation und Handlung stets und unausweichlich medial gebunden, so stellt sich die Frage nach den spezifischen Gestalten der Medialität. Eine auf die Medialität im Handeln des göttlichen Akteurs abstellende Theologie muss nun – so die Rekonstruktion des Barthschen Ansatzes und Vorgehens – vor dem Hintergrund der idealtypischen Handlung im Christusereignis  – eine Unterscheidung treffen: die zwischen stabiler und instabiler Medialität. Diese Entscheidung ist für die gesamte Barthsche Theologie dann in der Folge grundlegend. Was ist mit stabiler Medialität gemeint? Das Christusereignis ist die herausragende paradigmatische Kommunikationshandlung Gottes. Es liegt – als Gottes eigene unilaterale Handlung, d. h. einseitige und durch nichts bedingte Handlung – als gegeben allem anderen Handeln Gottes voraus.43 In ihm hat Gott seine Aspirationen und seine dynamische ›Identität‹, den subjektiven Sinn allen seines Handelns, idealtypisch erschlossen. Der historische Jesus von Nazareth ist in seinem Leben, Reden, Handeln und Sterben die Materialität dieses Erschließungsgeschehens.44 Das Medium geschöpflichen, d. h. endlichen und verletzlichen Lebens stellt Jesus von Nazareth in einer sehr spezifische Formbindung dar.45 Dieses Christusereignis der Formbildung ist in der theologischen und der Perspektive des Glaubens kein Ereignis, hinter dem nochmals Bedingungen und problematisierende Faktoren namhaft gemacht werden könnten. Christus ist, wie Barth sagen kann, ›echte Offenbarung‹ als einzigartiges, eben idealtypisches Handeln Gottes.46 Es ist, wie Barths spätere Erwählungslehre verdeutlichen möchte, auch für Gott ein ihm selbst zutiefst entsprechendes Er-

43 Barth wird später in seiner Erwählungslehre und in seiner Schöpfungslehre entfalten, inwiefern Christus auch Gottes Handeln ›vor‹ der Inkarnation in pointiertem Sinne zugrunde liegt. 44 Pointiert formuliert Barth im Römerbriefkommentar von 1922: »Denn ›im Gleichnis‹ des sündenbeherrschten Fleisches sandte Gott seinen Sohn […] Darin beweist und bewährt sich die Gottessohnschaft Jesu Christi, dass in ihr das sündenbeherrschte Fleisch des Menschen zum Gleichnis wird, dass in ihr Menschlichkeit, Weltlichkeit, Geschichtlichkeit, Natürlichkeit erscheinen als das, was sie sind: nur als Transparente, nur als Abbilder, nur als Hinweise, nur als Relativa im Verhältnis zu Gott, dem Schöpfer, aber – immerhin als das: und das ist nicht nichts, das ist nicht wenig, das ist vielleicht alles« (Barth, Der Römerbrief [Zweite Fassung] 1922, 385). 45 Zur Beziehung zwischen Medium und Form vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, 190–202. 46 Der spätere Karl Barth von KD IV/2, der von Christus ausgehend die Menschlichkeit des Menschen zu entfalten sucht, würde wohl gesagt haben können: »The Medium is the Message!« Für dieses Diktum vgl. McLuhan, Understanding Media.

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eignis.47 Das Ereignis Jesus Christus ist das stabile, idealtypische Medium der Selbsterschließung Gottes. Zu diesem Ereignis gehört allerdings auch – und dies wird Barth noch weiter beschäftigen – die Auferweckung Jesu Christi von den Toten. Es dürfte sprechend sein, dass die Stellung Jesu Christi nicht im Zentrum der Kontroverse mit von Harnack stand.48 Ein Kristallisationspunkt der Kontroverse war vielmehr der Begriff der Offenbarung. Hier empfand von Harnack den »Druck des lastenden Nebels« (67). Wenn Gott in seiner Freiheit offenbarend und zugewandt handelt, dann ereignet sich dies in einem distinkten Medium, das in seiner baren Materialität zum realen Medium wird. Ein solches Medium ist dann ein instabiles Medium. 7.

Offenbarung, oder die Materialität des Mediums und die Medialität des Materiellen

Der Umstellung von Wahrnehmung auf Kommunikation entspricht die weitere Umstellung von Präsenz auf instabile Medialität. Wenn Gott handelt, wenn sich Offenbarung jenseits von Christus ereignet, dann ist die reine Materialität stets das ›Andere‹, die historische Umgebung, die Umgebung des Wunders. Das Handeln Gottes ist (zumindest seit dem zweiten Römerbrief ) als radikal einseitiges Handeln entsprechend dem Modell »Auferweckung eines Toten« – eben als momenthaftes Wunder am Menschen gedacht (81).49 In der Instabilität des Mediums verknüpft Barth mit der temporalen Denkfigur des disruptiv-momenthaften das sachliche Anliegen einer Diskontinuität zu den kulturellen Figurationen des Wahren, Schönen und Guten. Darum »ein neues Geborenwerden« (65), plötzlich und immer wieder. Was sich auch immer an Materiellem  – d. h. an Erleben, an Texten, an Dispositionen, Wissen und menschlichen Handlungen beobachtbar ereignet, wird im Akt des Mediumwerdens, der handelnden Anrede Gottes, wie Barth sagt, zum »Gleichnis«. Ein Gleichnis, das zugleich »Zeugnis« wird (82) und damit »zum Zeugnis und Symptom jenes Werkes und Wunders Gottes an uns« (82). Der spätere Barth kann für dieses Ereignis verschiedenste theologischtransformative Tropen mobilisieren: Erwählung, Auferweckung etc. Für Barths Modell der instabilen Medialität ist entscheidend, dass der Grund der reflexiven Erfassung des Geschehens – nicht nur sein ›kausaler‹ Grund, den man 47 So die Stoßrichtung in Jüngel, Gottes Sein ist im Werden. 48 Es ist mit guten Gründen zu vermuten, dass die Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch an dieser Stelle anders verlaufen wäre. Troeltsch führt wenige Jahre zuvor die Zentralstellung Jesu für den Glauben auf einen rituell-theopoetischen Prozess zurück. Vgl. Troeltsch, Die Bedeutung der Geschichtlichkeit. Zur unterschiedlichen Interpretation der ›Zentralstellung‹ vgl. Groll, Ernst Troeltsch und Karl Barth. 49 In Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922 kann Barth nicht nur von einem »absoluten Wunder« (ebd., 397) sprechen, sondern radikalisierend mit einem Verweis auf Friedrich Nietzsche von einem »Wunder als Enttäuschung« (ebd., 419) reden.

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auch als Wirkung denken könnte – in Gottes eigenem Handeln liegt. Auch was die kognitive Erschließung dieses Geschehens angeht, so ist es nicht das von Harnacksche kritische Nachdenken oder die Einfühlung, sondern Gottes Tat am Menschen. Grundlegend im prägnanten Sinne ist, dass Gott selbst die spezifische Materialität als Medium wählt und diese Wahl des Mediums auch für die Glaubenden erschließt.50 Es ist die Unterstellung bzw. die Wirklichkeit eines handelnden, sich äußernden Akteurs, der in diesem Moment dieses spezifische Materielle zu einem Medium ›macht‹. Religions- oder kulturwissenschaftlich betrachte: Es ist die menschliche, aktuelle und kreative Zuschreibung eines Akteurs, der dieses kontingent Materielle zum Medium, zum medialen Substrat macht. Im Ereignis dieser Einheit der Unterscheidung von Materiellem und Medium sind vier Aspekte eingeschlossen: a) eine göttliche Aspiration und Intention, b) eine aktuelle Mitteilungsabsicht des göttlichen Akteurs, c) eine Wahl von etwas als Medium und d) ein Erfassen dieses Ereignisses im nicht weniger ereignishaften Wunder des Glaubens.51 Warum kann nun von Harnack auf Barths Rede von Offenbarung nur mit Irritationen und Distanznahmen reagieren? Von Harnack, fixiert auf die einfacheren Vorstellungen von Kraft, Prozess, Wirkung und Aneignung der wirkenden Kraft, vermag das für Barth elementare Problem der doppelten Kontingenz und der damit verbundenen besonderen Zeitlichkeit nicht zu sehen. Das Ewige handelt nicht, es wirkt ohne Zeitindex. Für Barth jedoch ist auch die aktuelle Aneignung der paradigmatischen Christushandlung ein disruptiv jähes Werk Gottes im Geist.52 Wenn dies geschieht, wird es mit einem Zeitindex versehen. In dieser Zeit wird etwas momenthaft weltlich Materielles zum Medium, unverfügbar und instabil – aber dem Menschen zugute. Aufgrund dieser Flüchtigkeit – und dies ist die tiefe Differenz zur idealtypischen 50 Die Geschichte der beiden Testamente ist damit auch eine Mediengeschichte der Selbsterschließung Gottes – sei es eine Wolke, eine Feuersäule, ein Busch, der Mund eines Propheten, eine Vision oder ein Text. Dazu von medienwissenschaftlicher und jüdischer Seite: Blondheim / Rosenberg, Media Theology; Peters, The Marvelous Clouds; Blondheim, Ethereal Interfaces. 51 Die hier aufbrechende Frage nach der theologischen Stellung des Barthschen Aktualismus diskutiert anhand von Bonhoeffers Verarbeitung der Barthschen Theologie: Slot, Negativism of Revelation; mit Blick auf die spätere Phase Barths: Schüz, Glaube. Dazu auch Tietz-Steiding, Bonhoeffers Kritik, speziell mit der Bonhoefferschen Unterscheidung von actus directus und actus reflexus, 272–297. 52 »[D]er absolute Moment also, der Blitz der Erkenntnis, der Blitz der Auferstehung, der Blitz Gottes, der ›blitzend aus dem Oberhalb des Himmels leuchtet über dem Unterhalb des Himmels‹ (Lk. 17,24) und also diese Einheit zeigt, – das ist Jesus Christus, ›des Menschen Sohn an seinem Tage‹!« (Barth, Der Römerbrief [Zweite Fassung] 1922, 390.) Das Modell des Blitzes vereinigt hier also drei Momente: a) in der Temporaldimension das Momenthafte und Jähe, b) in der Raumdimension die Verbindung von Himmel und Erde und c) in der Sachdimension die Erhellung und Be / Er / Leuchtung. Strikt gegenläufig formuliert Barth in der Ausgabe von 1919: »Diese Indienststellung unseres Daseins für Gott ist kein mystisches Zauberwerk, kein Blitz vom Himmel, sondern unser eigenes Tun, das Tun unseres befreiten, in Gott gut gewordenen Willens.« (Barth, Der Römerbrief [Erste Fassung] 1919, 241.)

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Christushandlung  – ist alle Erschließung der Christushandlung dynamisch und instabil. Wo sie sich ereignet, weil Gott handelt, eröffnet sich mit diesem instabilen Ereignis ein Raum des Gleichnisses.53 Das Gleichnis existiert, bzw. wird nur in der momenthaften Unterscheidung von Materialität und Medialität des göttlichen Mitteilungshandelns. Das Interesse der Theologie wie auch der Glaubenskommunikation richtet sich auf die Frage: Welches materiale Substrat wurde und wird Medium für Gottes sich selbst erschließende Mitteilung, welche Erfahrungen, welche Texte und Praktiken? Was auch immer aktual in der Unterscheidung von Materiellem und Medium zum Medium wird, es ist durch vier Relationierungen ausgezeichnet, die notwendig auch in der wissenschaftlichen Reflexion mitberücksichtigt werden: 1. In zeitlicher Hinsicht ist die Medialität – außer im Fall des idealtypischen Christusereignisses – flüchtig, passager. Sie erzeugt darin ein unverfügbares Zugleich von Präsenz und Absenz. 2. Sachlich ist jede konkrete Unterscheidung wiederum durch einen doppelten Verweis charakterisiert: Es ist als Adressierungswunder, als ›Symptom‹, Spur, Effekt, Resultat des Handelns Gottes an und für uns.54 In Christus findet sich das normative Muster der Bindung des Mediums zu einer Form. 3. Zugleich verweist dieses Wunder in einem Akt der Selbstbezeichnung dauerhaft, nicht nur momenthaft als Zeugnis auf die vergangene Wirklichkeit und zukünftige Möglichkeit des Handeln Gottes. Hierin wirkt es in der Gegenwart, sozusagen ›daueraktuell‹ erinnerungs- und erwartungsprägend. Ohne diese göttliche Spur wäre es reine göttliche Selbstreferenz. Ohne diesen stabilen Zeugnischarakter wäre es in prägnantem Sinne unbeschreiblich. Das Gleichnis hat daher zwei ›Zeiten‹: Es ist momenthaft und im Augenblick und diesen Augenblick erinnernd und erhoffend dauerhaft. Um eine kriminologische Metapher zu gebrauchen: Das Gleichnis war ein ›Tatort‹ Gottes und wird es möglicherweise – wenn der Täter zu seinem Tatort zurückkehrt – wieder sein. Die erinnerte und erhoffte Differenz zwischen Materialität und Medialität gibt in ihrem Verweis auf den Akteur Gott medial-menschlichen Handlungen in Raum und Zeit ›Gleichniswert‹. Doch das Gleichnis wird unzureichend erfasst, wird es als pars pro toto, als Teil des Ganzen, als Fragment der Fülle gesehen. Zeitlich flüchtig und kontingent, in Barths Worten, durch eine Krisis getrennt, sind alle vermeintlich sicheren Identifikationen einer Präsenz Gottes in unserem Handeln und Erleben fragwürdig. Alle, wirklich alle ›Gott mit uns‹ Aufkleber sind fragwürdig – auf Koppelschlössern, Teslas und Nullemissionshäusern. Barth muss aufgrund der zeitlichen Instabilität der Medialität von Identität auch was die theologische Erkenntnis angeht letztlich auf Hoffnung,

53 Die umsichtigsten und erhellendsten Analysen zum Modell Gleichnis in der Frühphase Karl Barths bietet Qu, Barth und Goethe; ders., Karl Barths Tambacher Vortrag. 54 Zur Semantik der Spur Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 625: »Der fundamentale Angriff der Gnade auf den Menschen hinterlässt seine Spuren.«

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und auf die flüchtige, instabile und aus der Zukunft einbrechende Einheit der Differenz umstellen.55 Nun könnte man Barth religionsphilosophisch und medientheoretisch so interpretieren, dass die Instabilität und Nicht-Identität auf Dauer gestellt wird – weil in der Post- oder Spätmoderne Gott nur im Entzug gegenwärtig sei, weil jede Medialität per se eine Unschärfe, eine Differenz und Nicht-Identität schaffe und jegliche intensive Erfahrung von Präsenz eine Illusion sei. Doch an genau dieser Stelle, an der man religiös heroisch von dem ewig sich entziehenden, dem toten oder dem chaotisch ambivalenten Gott und an der man von der ewig instabilen, weil eigenkreativen und stets verzerrenden Medialität sprechen könnte, genau da verweist Barth auf die unüberbietbar prägnante idealtypische Handlung Jesus Christus: die Hoffnung zielt auf das in ihm schon gegenwärtigen und verheißenen »Verschlingen des Todes in den Sieg« (85). Der paradigmatische Charakter der Christushandlung lässt nicht in einen Heroismus spiritueller Profis, nicht in eine Depression, nicht in kultivierte Hoffnungslosigkeit und auch nicht in einen Zynismus der Alterität, der Differenz und der Flüchtigkeit jeglicher Präsenz versinken. Die Instabilität ist eine Gestalt der Hoffnung auf die totale Verwandlung – weil sie selbst instabil ist. 4. Die Ereignisse der Medialität müssen dynamisch Muster der idealtypischen Christushandlung wiederholen, man könnte sagen replizieren, implementieren. Hierin finden sie ihr Kriterium einer vorläufigen – und auch nachläufigen Identifizierung. Dass die Orientierung an Gott als Akteur, erschlossen in der idealtypischen Handlung Jesus Christus und gegenwärtig in Ereignissen instabiler Medialität »aus dem Zwielicht vermeintlicher Erfüllung in das Licht wirklicher Hoffnung« (85) führt, dies ist Karl Barths mutige Behauptung, die von Adolf von Harnack konsequent bestritten wird. Für Barth würde alles andere allerdings für das »Linsengericht« (81) eines »unechten Ewigkeitsbewußtsein[s]« »das Verschlingen des Todes in den Sieg« preisgeben. Wer jetzt, hier und heute, Identität statt Differenz, ein getrostes Bewusstsein und gemütliche (Selbst) Reflexion statt instabiler Medialität möchte, der überspielt die Tatsache: Wir sind »gerettet in Hoffnung« (86).56

55 Für die Umstellung auf Hoffnung erscheint es bemerkenswert, dass fast zeitgleich zu Barths Arbeit am ersten Römerbrief Ernst Bloch zwischen 1915 und 1917 an seinem Geist der Utopie arbeitet – mit einer nicht weniger kritischen Sicht auf die historischen Wissenschaften. Vgl. Bloch, Geist der Utopie, und Boldyrev, Gemeinschaft des Wartens. Vgl. auch die Rolle der Hoffnung in Karl Barths sogenanntem Tambacher Vortrag und in seiner Spättheologie in KD IV/3. 56 Barth bezieht sich auf Röm 8,24. Dieses Moment arbeitet für das gesamte Werk Barths prägnant heraus: Johnson, Mystery, 127 ff.

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Die Zukunft von Barths Entdeckung – eine Zwischenreflexion

Man meint Barth vieles vorwerfen zu können: in einem unreflektierten Resttheismus gefangen zu sein und Onto-Theologie zu treiben, personalistische Denkfiguren zu pflegen, die neuzeitliche Subjektivität in Gott hinein zu kopieren und das noch nicht mal zu merken, naive Mythologie zu treiben und vieles mehr. Und doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass er die Theologie zurück auf die Paradigmen Kommunikation, Handlung und Medialität hin ausgerichtet hat, unter der starken Voraussetzung einer göttlichen Agency, die eben handelt und medienvermittelt kommuniziert. Zugleich erfordert der Barthsche Ansatz einer radikalen Entsicherung theologischer Erkenntnis gute Nerven. Nerven, die manche verlieren oder verloren haben. Doch wer die Nerven behält, der sieht auch den kulturellen Herausforderungen der Theologie ins Gesicht. Es ist ja in der Tat nicht so, dass sich die Theologie Barths den kulturellen und epistemischen Segnungen der Moderne verweigert. Es ist die liberale Theologie, die vor Ludwig Feuerbach57 die Waffen streckt, und Friedrich Nietzsche nicht in die Augen zu schauen traut, vor Konstruktivismus und Differenztheorien erschrickt, Wittgenstein kaum liest und trotz allen Dementis immer noch relativ schlichten Einheitskonzeptionen in Sachen Geschichte, Religion und Subjektivität anhängt, von Ideen der Höchstgeltung des Christentums ganz zu schweigen.58 Barth legt den Finger auf den kritischen Punkt: Auf instabile Medialität verwiesen kann sie sich selbst nicht sichern, denn sie hat, so könnte man formulieren, ihre Souveränität delegiert. Diese Entsicherung betrifft alle Disziplinen der Theologie.

57 Könnte alles realistische Reden von Gott eine Projektion der Gattung, des Menschen und seiner Bedürfnisse sein? Könnte Religion nicht mehr als Anthropologie sein, für Menschen, die dies mehr oder weniger brauchen? Dies sind bis heute die Fragen Ludwig Feuerbachs, vor dem die Theologien der Nichtgegenständlichkeit (Notger Slenczka und Christian Danz, um nur einige wenige zu nennen) kapitulieren. 58 Friedrich Nietzsches bedrängende Frage bleibt die, ob Moral nicht doch nur eine Waffe im Kampf um die Macht ist. Vgl. Nietzsche, Genealogie der Moral. Was dies für die Ethisierung der Religion und speziell des Protestantismus bedeutet, gilt es immer wieder neu zu fragen. In der kritischeren Bewertung aller Ethik liegt eine der Entwicklungen von Barths Römerbriefkommentaren. Diesen Impuls Barths rückt in den Vordergrund Frisch, Alles gut. Stellt man die liberale Theologie in einen dezidiert wissenssoziologischen Rahmen ein, so wird sichtbar: Es ist in der Distanz zu der Sprache und der Ontologie gelebter Frömmigkeit wie auch in der Distanz zu wirksamen Bekenntnistraditionen weithin eine privatreligiöse Gelehrtenfrömmigkeit (M. Weber) bzw. eine Nischentheologie, die das Bedürfnis spiegelt, im universitären Umfeld mit so wenig wie möglich kognitiven Dissonanzen und Herausforderungen zu leben. In ihrer Sehnsucht nach ›Anschlussfähigkeit‹ und gleichzeitigen ›Gemütlichkeit‹ vermeidet sie die Fragen der verantwortlichen Steuerung und zukunftsgerichteter Interventionen im religiösen Feld. Welche Schiffe schon programmatisch unter der Flagge von ›Religion‹, ›religiöser Gewissheit‹ und ›religiöser Inszenierung‹ gesegelt sind, wird ge­ flissentlich übergangen.

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Die theologischen Disziplinen als Ensemble zur wissenschaftlichen Erforschung instabiler Medialität, oder: die Folgen von Barths Grundentscheidung für die theologische Enzyklopädie

Die von Karl Barth gegenüber der Theologie von Harnacks vorgenommenen Umstellungen strahlen – theologisch und wissenschaftlich ernst genommen – ohne Zweifel in alle anderen theologischen Disziplinen aus, d. h. in die Exegesen, die Kirchengeschichte und auch die Praktische Theologie. Sie alle werden Wissenschaften fluider Medialität. Zugleich erinnern sie an und erhoffen sie eine Lebendigkeit Gottes. Sie operieren daher nicht im Schatten der vielfach zitierten Formel von Hugo Grotius »etsi deus non daretur«, sondern »etsi deus daretur«. Theologie hat in allen ihren Teildisziplinen einen lebendigen Akteur als ›Objekt‹.59 Sie arbeitet in allen ihren Disziplinen mit einer anderen, gleichwohl dynamischen Ontologie. Denn: Die Medialität selbst ist, so Barth, »nie und nimmer [eine] historisch-psychologische Wirklichkeit« (83). Darum: »Hände weg, ihr Psychologen!«60 Nicht nur das Ereignis dieser Wirklichkeit, sondern auch ihre Erkennbarkeit ist ein »Wunder« (83). Auf die momenthafte Identität von Gott und Mensch in der Differenz von Materialität und Medialität kann nur hingewiesen werden – im erinnernden Rückblick und im hoffenden Vorausblick. Als Medienwissenschaft der Gotteserschließung bezieht sich Theologie auf erinnerte und erhoffte Gleichnisse – jenseits der Alternative von »Erweckungsprediger« (81) und »Zuschauertheologie« (66). Instruktiv ist ein neuer Blick auf den zu einem berühmt-berüchtigten Diktum gewordenen Satz Karl Barths: »Die Aufgabe der Theologie ist eins mit der Aufgabe der Predigt«. Spezifischer: »Sie besteht darin, das Wort des Christus aufzunehmen und weiterzugeben« (63). Die Predigt wie auch andere Sprachund Tathandlungen hoffen, dass ihr eigenes Reden und Handeln durch ein Handeln Gottes im Geist zum Medium der Selbstvergegenwärtigung Gottes wird. Dann und nur dann, gibt sie »das Wort des Christus« weiter (63). Doch dieses Ereignis der Selbstvergegenwärtigung Gottes ist selbst unverfügbar. Wenn etwas in dieser Welt zum Medium wird und sich Gott darin mitteilt, dann geschieht dies »durch das Wunder des ewigen Gottes« (64). Was treibt dann die Theologie? Der Theologie wird in allen ihren Teildisziplinen  – an dieser Stelle von der Systematischen Theologie aus gedacht – eine prekäre, aber sachlich not59 Eine offene wissenschaftstheoretische Debatte markiert Barths Bemerkung zum Vorbildcharakter der Theologie. Wie lassen sich autopoietische Entitäten, die auch selbst ihre Umwelt beobachten, wissenschaftlich beobachten? Wie agiert Wissenschaft, wenn das ›Objekt‹ die Distanz zur wissenschaftlichen Beobachtung verweigert? Was Barth antizipiert, sind komplexe Beobachtungsbeobachtungen, in denen das Beobachtungsobjekt selbst den wissenschaftlichen Beobachter beobachtet  – und dies von diesem stets mit eingerechnet werden muss. Woody Allen zeigte dies für die Psychoanalyse als vermeintlich privilegierte Beobachtung in Der Stadtneurotiker. 60 Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, 320.

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wendige Doppelperspektive zugemutet. Die Theologie als Medienwissenschaft hat, so Barth »das Wort des Christus aufzunehmen und weiterzugeben«. Wie kann dies geschehen? Die Theologie analysiert bezeugte Ereignisse der Unterscheidung von Materialität und Medialität, in denen Gott gehandelt hat – mit einem Blick auf beide Seiten der Unterscheidung! Die Umstellung auf eine göttliche Agency im Rahmen der Wahrnehmung von Gottes Lebendigkeit stellt alle theologischen Disziplinen um auf die doppelte ereignisrelative Bearbeitung der Unterscheidung Materialität / Medialität. Alle theologischen Disziplinen bearbeiten – sozusagen in ihrer auf Gottes Offenbarung bezogenen Arbeit – durchgehend die Unterscheidung zwischen der Materialität des Mediums und der Medialität des Materiellen. Theologie ist darin strikt Medienwissenschaft des göttlichen Sprechens und Handelns – aber eben auf eine differenzierte Weise. Theologie in allen ihren Teildisziplinen arbeitet zunächst selbstverständlich als eine rein ideen- und realhistorische, literaturwissenschaftliche und handlungspragmatische – und darin im weiteren Sinne empirische Theologie. Sie vollzieht sich als empirische Textwissenschaft, als empirische Geschichts­ wissenschaft, als empirische Ideengeschichte oder als empirische Praktische Theologie. Hierin hat sie ohne Zweifel eine große Ähnlichkeit mit entsprechenden Religionswissenschaften. Doch dies ist nur eine Perspektive. Bleiben die ›Theologien‹ der theologischen Enzyklopädie allerdings bei dieser ersten Perspektivierung stehen, so verweigert sich die Theologie der von Barth ins Auge gefassten Komplexität der differenzierten Unterscheidung von Materialität und Medialität. Alle Disziplinen sind mit einer Zumutung konfrontiert, die sie erst zu theologischen Disziplinen macht: Ihre ›Materialien‹ sind in der zweiten Perspektivierung zugleich Medien der göttlichen Kommunikation. Als Medienwissenschaft operiert die Theologie unumgänglich unter der Voraussetzung des schon erwähnten »etsi deus daretur« und eines »deus dixit«. Alle Disziplinen praktizieren diese doppelte Perspektivierung, die notwendig und offen zirkulär gekoppelt wird: 1. So werden zunächst zweifellos die Materialitäten der Texte, der Ereignisnetze und der menschlichen Sozialformen und Kommunikationsformen analysiert. Unter der Voraussetzung, dass in der Vergangenheit Menschen, ihr Reden und Handeln, Denken und Erleben, durch die Kommunikation mit Gott geprägt wurden und darin auch Medium der Kommunikation Gottes wurden, werden Quellen und pragmatische Kontexte analysiert. Die empirisch zugängliche Materialität der Medien steht dann im Fokus eines ersten Zugangs. Aus der Sicht Karl Barths formuliert, konzentrieren sich alle Disziplinen auf diese materiale, d. h. textuelle, realhistorische, psychologische, praktisch-pragmatische, ideengeschichtliche oder bewusstseinsprägende Spur der Offenbarung. In einem pointierten Sinn im Horizont von Barths Ansatz gedacht, ist das Ensemble der Theologie eine mehrdimensionale empirische Gleichnisforschung. Alle theologischen Disziplinen konzentrieren sich nur in einem ersten Schritt auf diese eine Perspektive, eben die Materialität des Medialen. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

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Die reale Komplementarität beider Perspektiven rückt aber recht schnell in den Vordergrund, spätestens dann, wenn Fragen auftauchen wie: Wie kommt die Theologie zu einer Einschränkung ihrer Untersuchungsgegenstände? Welche Materialitäten, Ereignisse und Formbildungen sollen analysiert werden? Wie sind unter den Quellen die Relevanten auszuwählen? Auf die zweite Sichtweise stößt die Theologie auch dann, wenn sie fragt: Was ist das Selbstverständnis der neutestamentlichen Texte und Autoren? Welche ›Ontologie‹ lässt aus den Quellen die ›Fakten‹ erschließen? Dass diese zweite Perspektive nicht voraussetzungslos operiert, zeigt sich letztlich nirgendwo so deutlich wie bei der Auswahl und Konstruktion der übergreifenden, das Material sortierenden Narrative. In welche Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte verwebenden Stories ordnen sich die Theologinnen und Theologen selbst ein? Als Teil welcher ›Bewegung‹ sehen sie sich? 2. Die zweite Perspektive, die letztlich alle Teildisziplinen der Theologie mit inkorporieren müssen, nimmt die Medialität des Materiellen in den Blick. Unter der auf das Ereignis von Glauben und Bekenntnis rekurrierenden eher allgemeinen Voraussetzung eines ›etsi Deus daretur‹ (sic!), unterstellt die Theologie, dass die spezifischen Gestalten der Materialität Medien der Selbstvergegenwärtigung Gottes im Geist waren oder werden können. In dieser zweiten Perspektive, in der auch die theologische Reflexion Gott als Akteur unterstellt, verlässt die Theologie das, was Barth die Zuschauerperspektive nennt: Ein Zuschauer ist »einer, der nicht in der Sache lebt, sondern darüber Glossen macht«.61 Um die forensische Metapher wieder aufzugreifen: Die Theologie unterstellt bei den von ihr untersuchten Materialitäten, dass sie ›Tatorte‹ des Handelns Gottes waren und wieder werden können. In dieser zweiten Perspektive lauten die Leitfragen dann: In welcher Verbindung steht dieses Materielle zur Selbsterschließung Gottes? Inwiefern sind es gültige Erschließungen? Inwiefern entsprechen sie in ihrer Gestalt dem idealtypischen Handlungsereignis? Welche Materialitäten haben medialen Charakter (z. B. auch Maria und Heilige, heilige Haine, Bachblüten und Mozartkonzerte)? Was und wer erschließt sich in diesem Medium? Welche Verflechtungen gibt es zwischen der göttlichen und der menschlichen Mediengeschichte? Welche Stellung haben ›Taten der Liebe‹ für die Identifikation von göttlichen ›Tatorten‹? In dieser Perspektivierung wird deutlich, wie tief Barth in der reformatorischen Tradition eines verbum externum steht und faktisch auch eine Leiblichkeit des ›Wortes Gottes‹ hervorhebt. Nicht zuletzt wird in der Frage nach der Medialität des Materiellen deutlich, wie alle Theologie in allen ihren Teildisziplinen konstruktiv und normativ, und d. h. ›systematisch‹ in einem theologischen Sinn sein muss. Nimmt das gesamte Ensemble der Theologie seine eigene Theologizität ernst, so stoßen alle Disziplinen a) auf das empirische wie auch in Urteilen begründete Pro­blem der Identifikation und Selektion der Medien, b) auf das Problem von deren 61 Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, 210.

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kritischen Gewichtung und Hierarchisierung und c) tauchen alle Disziplinen ein in den Urteile erfordernden Streit der Selektion und Gewichtung. Welche menschlichen Erfahrungen, welche Texte und welche Praktiken, welche Bewusstseinshaltungen sind Dokumente der Selbsterschließung Gottes? Welche Rede von Gott wurde zu Gottes Rede und kann wieder eine solche werden? Welche Distinktionen steuern? Sind im Pool der Untersuchungsobjekte alle gleich relevant, gültig und orientierend? Wo sind die Kriterien im gegenwärtigen Streit der Interpretationen zu suchen? Welche Materialitäten versprechen auch in der Zukunft Medium der Selbstvergegenwärtigung Gottes zu werden? Was könnten Kriterien für eine Medialitätsfähigkeit sein? Was bedeutet dies für die verschiedenen theologischen Disziplinen – stets aus der Perspektive von Barths Grundentscheidungen gedacht? Die exegetischen Disziplinen sind dann Literatur- und Gleichnisgeschichten, die Teil der medialen Kaskade der vergangenen Kommunikation Gottes sind. Zugleich erforschen und pflegen die Exegesen die Narrative, die nicht nur Medium waren, sondern wieder Medium werden können. Die Exegesen erinnern die Systematische Theologie an die in den Geschichten (Stories) gegenwärtige Geschichten (Histories) der medialen Selbsterschließung Gottes. Sie binden durch diese Erinnerung die systematisch-theologische Imagination im Sinne einer Belebung und Begrenzung, man könnte auch sagen, einer Erdung. Mit einem dogmengeschichtlichen Verweis formuliert, wirken sie antignostisch auf die Systematik ein. Sie wirken einer letztlich privatreligiösen Imagination entgegen. Indem die Exegesen die Medialität der Materialität anerkennen, erinnern sie die Systematische Theologie nicht nur an die religiöse Mediengeschichte, sondern an die lange Mediengeschichte Gottes.62 Die Kirchengeschichte ist in dieser Konstellation auf ganz eigene Weise Mediengeschichte: Sie rekonstruiert die Medienwirkungen und sozialen wie individuellen Medienpraktiken der Kirche. Welche medialen Konstellationen (Dispositive) haben das Leben der Kirche geprägt? Wie haben sich die Kriterien der Identifikation von Gleichnissen gewandelt? In welchem Verhältnis stehen die behaupteten Erfahrungen Gottes zur normativen Formbildung im Christusereignis? Die Kirchengeschichte ist dann Rekonstruktion der – in den Worten Barths formuliert – Zeugnisgeschichte. Sie ist Mediengeschichte des real materiellen und des pointiert theologischen Medienwandels. Die Systematische Theologie vernetzt auf eine reflektierende Art die kirchliche und wissenschaftliche Rede von Gott und arbeitet an vorläufigen und zu erprobenden Kriteriologien der Medialität. Praktische Theologie ist dann die Reflexion einer Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme spezifischer Texte, Praktiken und psychischer Dispositionen als Medium für die gegenwärtige und zukünftige Selbsterschließung Gottes –

62 Wollte man mit den eher traditionellen Begriffen des späten Barth und der Barth-Rezeption sprechen, so müsste man sagen, dass die Exegesen Bestandteil der Zeugengeschichte sind und den Zeugnischarakter der biblischen Texten zur Sprache bringen müssen.

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für Menschen und in der Kirche. In alledem bleibt Christus das idealtypische Ereignis. Kurz: In dieser zweiten Perspektive unterstellt sich die Theologie die reale Möglichkeit einer anderen, Gottes Handeln mit einschließenden Ontologie, die sie zugleich erinnert und erhofft.63 Als theologische Disziplinen arbeiten alle Fächer notwendig mit der operativen Fiktion, man könnte auch sagen, der Imagination, einer Handlungen einschließenden Lebendigkeit Gottes. Dies verbindet letztlich die verschiedenen Disziplinen der Theologie. In dieser zweiten Perspektive ist die Geschichte, deren Materialitäten empirisch und in ihrer Pragmatik untersucht werden, Teil der Geschichte der medialen Selbsterschließung Gottes. Wagt die Theologie in allen diesen Disziplinen nicht auch diese Perspektive einzunehmen, so müsste sie sich – wäre sie wahrhaft intellektuell redlich – selbst in die allgemeine Religionswissenschaft des Christentums, in die allgemeine Geschichtswissenschaft, in die Literaturgeschichte der griechischen Welt etc. auflösen. Eine theologische Enzyklopädie würde sich schlicht erübrigen. Zugleich würde im Horizont des Barthschen Vorschlags von der idealtypischen Handlung Gottes in Christus, eine wirklich mächtige zentripetale (nicht: zentrifugale!) Kraft ausgehen. Ohne diese kühne Frage nach der Medialität des Materiellen für das göttliche Sprechen zum Menschen und das menschliche Sprechen zu Gott, verliert sich die Theologie in wissenschaftlicher Selbstreferenz und trägt nicht zuletzt auch zur Verödung der kirchlichen Landschaften bei. Ohne die Dimension der Medialität werden die theologischen Teildisziplinen angesichts der mächtigen Zentrifugalkräfte an den Universitäten zum Parasit staatskirchenrechtlicher Schutzmechanismen – ganz unabhängig von einer Rhetorik der interdisziplinären Anschlussfähigkeit, der Vernunftkompatibilität oder der sozialen Brauchbarkeit. In alldem bleibt zu bedenken: Es gibt wissenschaftlich keinen festen Grund.64 Zwei Gesichtspunkte: Zunächst ist evident, dass es gegenläufig zu vielen vermeintlichen Alternativen keinen Ausweg aus der Rekursivität der Medialität gibt: Die Medialität lässt sich nur unter Einbezug anderer Medien beurteilen, kurz: Schrift, Christus und Geist. Theologie bleibt genauso wie die kirchliche Verkündigung in diesem Sinne grundlos strikt selbstreferentiell gebaut – auf göttlicher wie menschlicher Seite, und dies immer ganz menschlich gedacht.65 Als guter Protestant bietet Karl Barth in dieser Rekursivität, mancher mag sie Zirkularität nennen, nur eine Verfahrensanweisung für das jeweilige ›Hören und Spähen‹. Gegenläufig zu allen liberal-theologischen 63 Im Römerbriefkommentar von 1919 kann Barth das Sprachbild des Hörens ausdehnen auf »Lauschen und Spähen« und zugleich betonen: »Nur keine Regeln und Methode gemacht aus dieser Aufmerksamkeit!« (Barth, Der Römerbrief [Erste Fassung] 1919, 339 f ). 64 Zum Problem des Nonfoundationalism vgl. Stout, Flight from Authority; summarisch Thiel, Nonfoundationalism. 65 Zur damit eigentümlichen Gleichzeitigkeit eines Realismus und Konstruktivismus vgl. Thomas, Karl Barths pneumatologischer Realismus. Zu prüfen wäre, ob diese Haltung – ganz gegenläufig zu der liberal-theologischen Gewissheitssuche  – nicht genau dem entspricht, was Peter Berger fordert in Berger / Zijderveld, In Praise of Doubt.

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Fundierungsversuchen in Subjektivität, Erfahrung, Geschichte oder Religion, gegenläufig zu allen evangelikalen Fundierungsversuchen in einer zeitfest inspirierten Schrift und nicht zuletzt gegenläufig zu allen katholischen Sicherungsversuchen via Amt, Papsttum und Sakrament, bietet Barth nur ganz pragmatizistisch aufzufassende, theologisch-pneumatologisch gestützte Bewährungsformen. Hinzu kommt der zutiefst theologisch-sachliche Grund für die Instabilität der theologischen Erkenntnisse. Es ist die schon genannte doppelte Kontingenz. Nicht nur wir verhalten uns zum sogenannten Gegenstand, auch der Gegenstand, Gott selbst, verhält sich zu uns und zu unserer theologischen Beobachtung dieses Verhältnisses. Auch darum plädiert Barth dafür – auch in der Einführung in die evangelische Theologie – immer wieder mit dem Anfang anzufangen, in der von Johannes Zwick beschriebenen Spannung von »All Morgen ist ganz frisch und neu, des Herren Gnad und große Treu«.66 10.

Zwei selbstkritische Anfragen

Die Bestimmung der theologischen Grundproblematik bei Karl Barth erfordert von allen theologischen Disziplinen ein sehr hohes Maß an Komplexitätsbearbeitung, Toleranz von Kontingenz, einfach gesprochen: gute Nerven. Zugleich zwingt der Blick zurück auch zu selbstkritischen Anfragen, von denen zumindest zwei verdienen, mit wenigen Pinselstrichen skizziert zu werden. 10.1

Kriterien der Bewährung von Erkenntnis

Die Theologie steht heute in vielen Beobachtungsverhältnissen mit unterschiedlichen Leitunterscheidungen. Universitätsleitungen beobachten die Fakultäten hinsichtlich ihrer Stellung im Gesamt der Universität und hinsichtlich ihrer Fähigkeit Drittmittel einzuwerben. Jede theologische Teildisziplin muss damit rechnen, dass sie von den Vertretern relevanter Nachbardisziplinen mit Blick auf Relevanz und Anschlussfähigkeit beobachtet wird. Kirchenleitungen pflegen – so ist zumindest zu hoffen – mit eigenen Erwartungen die Theologie zu beobachten. Jede realistische Theologie, die als Theologie von der Lebendigkeit Gottes ausgeht, wird in ihrer Beobachtung der Medien und Effekte von Gottes Handeln damit umgehen müssen, dass auch sie selbst von Gott nochmals beobachtet wird. Der späte Barth hat das offensichtliche Problem dieser Konstellation in seiner Einführung in die evangelische Theologie prägnant ausgedrückt: Die 66 EG 440. Barth sieht sehr deutlich, dass die in aller epistemischen Unsicherheit wirklich echte Bedrohung der Theologie von Gott selbst ausgeht. Gott selbst kann sich zur theologischen Konstruktion und Imagination frei, kritisch, tröstend oder richtend verhalten. Vgl. Barth, Einführung, Kap. 3. Die Fundierungsfreiheit der Theologie als Freiheit für die Theologie sieht deutlich Frisch, Alles gut, insbesondere Kap. 7.

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Theologie ist letztlich primär von Gott bedroht. Da Gott sich auch zu der Rede von Gott selbst nochmals verhalten, d. h. auch schweigen, die Theologie ignorieren und im Handeln kritisieren kann – bleibt theologische Erkenntnis instabil, weil letztlich extern, in Gott selbst gegründet. Wie kann sich Erkenntnis vollziehen, wenn das Objekt der Erkenntnis den Erkennenden selbst und seine Objekterkenntnis gleich mit beobachten kann? Mit »Demut, Sehnsucht und Flehen« erwarten Menschen die Bestätigung ihres Redens von Gott durch Gott selbst (65). Durch diese Bestätigung kann dann diese Rede wiederum zum Medium von Gottes Selbstvergegenwärtigung werden. Mit diesem epistemischen Dispositiv war Barth seiner Zeit lange voraus und hinterlässt zugleich eine äußerst schwer zu beantwortende Frage: Wie kann Theologie und Kirche erkennen, dass sich Gott zu ihr bekennt? Dies wäre die wahre Bewährung und Bewahrheitung ihres Redens von Gott. Woran würden sie ein Schweigen Gottes erkennen? Wo ist der Ort, was sind die Verfahren der Bewährung theologischer Einsichten? Diese bedrängende Frage wurde unter denen, die sich selbst der Theologie Barths mehr oder weniger nahe fühlen, oftmals mit Gewissheitsrhetoriken überspielt. 10.2 Identifikation von Gleichnissen Die Identifikation von instabilen Gleichnissen jenseits von Christus und den kanonischen Schriften ist hoch riskant. Wie lernbereit und offen für Korrekturen müssen Kirchen und Theologie sein? Die bei Barth hoch dynamische Beziehung zwischen Materialität und Medialität, d. h. die Spannung in der Unterscheidung kann verschieden gelockert werden: entweder durch eine Inflationierung der Gleichnisse wie auch durch ein Vergessen von deren temporalen Instabilität. Beides führt in einer wahrhaft dialektischen Wendung zu einer unangemessenen Divinisierung von Welt. Gottes Gang in die »tiefe Diesseitigkeit«, der auch der Theologie den »Auftrag für die Arbeit am Diesseits« gibt, kann ein Gang in die menschliche Gottvergessenheit werden, dies kann ein Gang in die Selbstbanalisierung der Medienvergessenheit und kann ein Gang in die Lernverweigerung werden.67 Es kann ein Gang in Fehlorientierungen werden. Um ein konkretes und aktuelles Beispiel aufzugreifen: Dass nicht wenige Christen und Christinnen immer noch im Sozialismus oder Kommunismus ein Gleichnis des Himmelreiches meinen sehen zu können – nachdem alle empirischen Versuche zu ökologischen, ökonomischen, humanitären, menschenrechtlichen und religiösen Desastern führten  – erscheint mir eine solche offensichtliche Lernverweigerung zu sein. Die Versuchung des »Gott mit uns«, die letztlich auch zu den Selbstdistanzierungen Barths im Römerbriefkommentar von 1922 führte, hält sich nicht an ein eindeutiges 67 Zum Motiv der Arbeit am Diesseits vgl. Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung, 113, im Brief an Theodor Litt vom 22.01.1939; Zur tiefen Diesseitigkeit, der für Bonhoeffer allerdings »die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist«, vgl. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 541.

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politisches Farbenspiel.68 Wann ist der »mehr oder weniger ›radikale[]‹ Protest gegen diese Welt«69 mehr oder weniger töricht, mehr oder weniger verlogen oder gar einfach dumm? Die Identifikation von Gleichnissen bleibt so riskant, dass auch sie nur im Gewissheitsmodus einer irrtumsfähigen und darin lernfähigen Hoffnung identifiziert werden dürfen.70 Und doch muss diese Identifikation von der Kirche und letztlich auch von der Theologie gewagt werden. 11.

Eine Schlussbemerkung

Angesichts der gegenwärtigen Infragestellung einer prägnant theologischen Theologie ist die Theologie Karl Barths m. E. die überzeugendste Art und Weise, den heutigen Repräsentanten Ludwig Feuerbachs ins Gesicht zu schauen.71 Ist alles, was wir in der Theologie von Gott – auch in unserer historisierenden Theologie – sagen und schreiben doch eine Projektion bzw. eine Rekonstruktion einer Projektion? Barths überraschende Antwort ist: Ja, wenn 68 Jede Form eines moralisch-unbedingten ›Gott mit uns‹ ist der kritischen Bewertung durch Gott ausgesetzt. Dies bleibt dauerhaft der relativierende Kern von Barths aktualistischer Ethik des Hörens auf Gottes Gebot. Metaphorisch gesprochen ›härtet‹ der Verweis auf Gottes Gebot und ›verflüssigt‹ Gottes Lebendigkeit. Beides zugleich schafft die Notwendigkeit, immer wieder neu auf dieses Gebot zu hören. Alle ›Gott mit uns‹-Gewissheiten wollen Gott und der Humanität zugleich dienen, Gottesliebe und Menschenliebe verschmelzen – und verweigern sich dieser Krisis. Dies ist es, was Adolf von Harnack empört hat und was auf dem ganz anderen Ende des theo-politischen Spektrums auch die religiösen Sozialisten um Leonhard Ragaz gleichermaßen empören musste. 69 Barth, Offene Briefe 1909–1935, 63. 70 Wie schon erwähnt, ist die Entdeckung Barths auch hier und heute ein Schibboleth. In der Gegenwart sind es allerdings nicht nur die theologischen Ansätze, die immer noch unter den mächtigen, Trost und Schatten spendenden Fittichen Friedrich Schleiermachers in dieser Frage andere Wege gehen. Ein Schibboleth ist es auch für die große Gruppe an Kirchenmenschen und Theologen, die meinen, im großen Schatten von Dietrich Bonhoeffer, Karl Barth, Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann zu sitzen und ihre Theologie faktisch um die schlichte Einsicht organisieren: »Gott hat keine anderen Hände als unsere Hände«. Diese Sentenz war lange Zeit ein dem Kirchentag und ursächlich Dorothee Sölle zugerechnetes Diktum, das aber zur Signatur eines breiten Stroms der protestantischen Kirchen und Theologien liberalwestlicher Gesellschaften wurde. Für beide Gruppen ist der Karl Barth des Jahres 1923 auch heute noch ein amoralischer ›Kontrastlüstling‹, der das Band zwischen menschlicher Weltgestaltung und Wort Gottes zerschneidet – nur für beide auf unterschiedliche Weise. Er ist einer, der eine Scheidewand der göttlichen Krisis zwischen den unbedingten Kampf für das Wahre, Schöne und Gute, aber auch zwischen den Kampf um die Menschenrechte als die Nachfolgeeinrichtung älterer Wertsetzungen und den lebendigen Christus einzieht. 71 Den Begriff prägte Webster, Theologische Theologie. Zur Pointe der Theologie im Ensemble kulturwissenschaftlicher Religionsforschung vgl. Thomas, Aufgabe der evangelischen Theologie. Zur konstruktiven Kombination von Außen- und Binnenperspektiven im Vollzug der Dogmatik und im Anschluss an die Theologie Barths vgl. Thomas, Medien – Ritual – Religion, 33–138.

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der lebendige Gott sich nicht als handelnder Akteur dazu bekennt. Ist dies ein Taschenspielertrick? Dies mögen die entscheiden, die nicht zu hoffen vermögen. Doch was wäre, blickt man auf die inneruniversitären Diskurse um den Status der Theologie und ihrer Einzeldisziplinen, die Alternative? In der theologischen Enzyklopädie können sich die theologischen Disziplinen als je einzelne sicherlich irgendwie durch kognitive Anschmiegungen versuchen zu plausibilisieren. Die Exegesen als Literaturwissenschaft oder als textuell-historische Kulturwissenschaft. Die Kirchengeschichte kann sich als kritische Reflexion der Religionsgeschichte und der religiösen Sozialgeschichte aufstellen. Die Religionsphilosophie oder die Ideengeschichte mögen die neue Heimat der Systematischen Theologie werden. Als empirische Religionswissenschaft kann die Praktische Theologie einen Platz an der Universität finden. Aber die Theologie als Ganze? Die von Friedrich Schleiermacher vertretene Lösung, das Gesamt der Theologie als Anleitung zum faktischen Religionsmanagement zu entwerfen, dürfte heute sowohl bei Kirchenleitungen wie auch bei Universitätsleitungen angesichts der realen internen Ausdifferenzierung der theologischen Fakultäten wenig mehr als ein Schmunzeln hervorrufen. Die bis heute mächtigste Alternative für ein Verstehen der Theologie in ihrer Gesamtheit ist daher m. E. nicht der Vorschlag Friedrich Schleiermachers, sondern die facetten- und variantenreiche Deutung der Theologie als religiöser Gesundheitswissenschaft. Als solche entgegnet die Theologie dem Vorwurf Ludwig Feuerbachs so: Ja, das mit der Projektion kann schon sein, wahrscheinlich haben Sie Recht, aber Religion und insbesondere der Protestantismus »hilft«. Er hilft bei der Gesundung des Lebens: Er hilft der Gesellschaft mit Werten, er hilft dem Subjekt bei seiner Gründung, hilft bei der gesunden Identitätsfindung und hilft bei der Gemeinschaftsbildung. Er erinnert an Werte und arbeitet an der humanen Gesundung der Politik. Ob diese Plausibilisierung der Theologie via religiöser Gesundheitswissenschaft auf die Dauer der Theologie helfen kann, einen Ort an der Universität zu erhalten, darf mit Gründen bezweifelt werden. Wer auf diese Weise Ludwig Feuerbach zu entkommen sucht, läuft Friedrich Nietzsche in die Arme. Es stellt sicherlich die Größe Karl Barths dar, dass er diese gesundheitsorientierte Dimension der Theologie tatsächlich aufnehmen kann. Ja, es hilft! Aber es ist die Menschenfreundlichkeit Gottes in der medialen Formbindung Jesus Christus, die letztlich so hilft, dass der Tod in den Sieg verschlungen wird. Aber auch diese Gewissheit gibt es nicht außerhalb der Unterscheidung von Materialität und Medialität, an die sich zumindest in dieser Weltzeit der lebendige Gott gebunden hat.

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Das Ende der intellektuellen Gemütlichkeit 

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Über die Herausgebenden

Prof. Dr. Georg Pfleiderer, Professor für Systematische Theologie / Ethik an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Karl Barth-Forschung, theologische Theorie des neuzeitlichen Christentums, Möglichkeitsbedingungen theologischer Ethik in der Moderne, Grundfragen der Bio- und Medizinethik, politische Ethik. Wichtigste Veröffentlichungen: Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert (BHTh 115), Tübingen 2000; gemeinsam mit Harald Matern (Hg.), Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021. Prof. Dr. Christiane Tietz, Professorin für Systematische Theologie am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Dietrich Bonhoeffer, Karl Barth, Schrifthermeneutik, interreligiöse Hermeneutik, klassische Fragen der Dogmatik. Wichtigste Veröffentlichungen: Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand, München 2 2019; Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch, München 22019; gemeinsam mit Klaus von Stosch (Hg.), Normativität Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam (HUTh 87), Tübingen 2022. Prof. Dr. Matthias Dominique Wüthrich, Professor für Systematische Theologie, insbes. Religionsphilosophie am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Karl Barth-Forschung, Religion and Science, Theologische Raumtheorie, Digital Religion(s), Reformierte Theologie. Wichtigste Veröffentlichungen: Gott und das Nichtige. Eine Untersuchung zur Rede vom Nichtigen ausgehend von § 50 der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths, Zürich 2006; Raum Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu denken (FSÖTh 143), Göttingen 2015; gemeinsam mit Matthias Gockel / Jürgen Mohn (Hg.), Blasphemie. Anspruch und Widerstreit in Religionskonflikten (RDR 1), Tübingen 2020.

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Autorinnen und Autoren

Dr. Gerhard Bergner, Pfarrer in Leipzig. Wichtigste Veröffentlichungen: Um der Sache willen. Karl Barths Schriftauslegung in der Kirchlichen Dogmatik (FSÖTh 148), Göttingen 2015; Precritical, Uncritical or Postcritical? Karl Barth’s Biblical Exegesis in Conflict, ZDTh 37 (2021), 38–51; Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung im Pfarramt. Entdeckungen im frühen Briefwechsel zwischen Karl Barth und Eduard Thurneysen, EvTh 82 (2022), 350–361. Prof. Dr. Christophe Chalamet, Professor für Systematische Theologie an der Faculté de Théologie, Université de Genève. Forschungsschwerpunkte: Systematische Theologie, Christologie, Theologie des Bundes. Wichtigste Veröffentlichungen: A Most Excellent Way. An Essay on Faith, Hope, and Love, Lanham 2020; (als Hg.) The Challenge of History. Readings in Modern Theology, Minneapolis 2020; gemeinsam mit Elisabeth Parmentier / Konstantinos Delikostantis / Job Getcha (ed.), Theological Anthropology, 500 Years After Martin Luther, Leiden 2021. Prof. Dr. Jörg Frey, Professor für neutestamentliche Wissenschaft mit Schwerpunkten Antikes Judentum und Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich und Research Associate der University of the Free State, Bloemfontein / Südafrika. Forschungsschwerpunkte: Johannesevangelium, Paulus, Antikes Judentum und Qumran-Schriften, Neutestamentliche Theologie, Frühchristliche Apokryphen. Wichtigste Publikationen: Die johanneische Eschatologie I–III, Tübingen 1997–2000; Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften, Tübingen 2013; Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II, Tübingen 2016. Prof. Dr. Marco Hofheinz, Professor für Systematische Theologie an der Leibniz Universität Hannover, Forschungsschwerpunkte: Christologie und Trinitätslehre, Theologie und Ethik im reformierten Protestantismus, Politische Ethik, die Theologie Karl Barths. Wichtigste Veröffentlichungen: »Er ist unser Friede«. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, Göttingen 2014; Christus peregrinus. Christologie auf dem Weg in die Fremde, Leipzig 2022; Die Kunst des Zusammenlebens. Politisch-ethische Studien zur reformierten Theologie; Göttingen 2022. Prof. Dr. Rebekka A. Klein, Professorin für Systematische Theologie: Ökumene und Dogmatik an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Politische Theologie, Anthropologie, Gotteslehre. Wichtigste Veröffentlichun© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

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Autorinnen und Autoren

gen: Depotenzierung der Souveränität. Religion und politische Ideologie bei Claude Lefort, Slavoj Žižek und Karl Barth Tübingen 2016; gemeinsam mit Dominik Finkelde (ed.), In Need of a Master. Politics, Theology, and Radical Democracy, Berlin / Boston 2021; Revolution im Zeitalter der Immanenz. Die Macht des Vollzugs der Freiheit als Problem der Politischen Theologie, BThZ 36 (2019), 144–163. Prof. Dr. Friedrich Lohmann, Professor für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Angewandte Ethik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Forschungsschwerpunkte: Forschung zu Karl Barth, Friedens- und Konfliktethik, Theorie der Menschenrechte. Wichtigste Veröffentlichungen: Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im »Römerbrief« und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths (TBT 72), Berlin / New York 1995; Zwischen Naturrecht und Partikularismus. Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte (TBT 116), Berlin / New York 2002; gemeinsam mit Sarah Jäger (Hg.), Eine Theologie der Menschenrechte, Wiesbaden 2019. Prof. em. Dr. Peter Opitz, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Kirchen- und Theologiegeschichte von der Reformation bis zur Gegenwart und Leiter des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Zürcher Reformation, Geschichte und Theologien des reformierten Protestantismus, Mitarbeiter an der Edition Calvini Opera recognita und an der Karl Barth-Gesamtausgabe. Jüngste Veröffentlichungen: gemeinsam mit Urs Leu (Hg.), Conrad Gessner (1516–1565). Die Renaissance der Wissenschaften. The Renaissance of Learning, Berlin / Boston 2019; gemeinsam mit Ariane Albisser (Hg.), Die Zürcher Reformation in Europa. Beiträge der Tagung des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte 6.–8. Februar 2019 in Zürich (ZBRG 29), Zürich 2022; gemeinsam mit Andreas Mühling (Hg.), Die reformierten Bekenntnisschriften, Bd. 4/1: ­1814–1890, Göttingen 2022. Dr. Niklaus Peter, Pfarrer em. Fraumünster, ehem. Dekan Pfarrkapitel Zürich. Forschungsschwerpunkte: Overbeck-Barth-Nietzsche, Mitherausgeber »Franz Overbeck, Werke und Nachlaß«. Ausgewählte Veröffentlichungen: Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, ZNThG 1 (1994), 251–264; »Gesicht und Rätsel« eines modernen Apokalyptikers?, in: P. Villwock (Hg.), Nietzsches »Also sprach Zarathustra«. 20. Silser Nietzsche-Kolloquium 2000, Basel 2001; Von Angesicht zu Angesicht. Predigten und kleine theologische Texte, Zürich 2021. Prof. Dr. Notger Slenczka, Professor für Systematische Theologie / Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorien der Normativität (Schrift / Bekenntnis), Emotionale © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666557996 | CC BY-NC-ND 4.0

Autorinnen und Autoren

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negative Selbstverhältnisse und die Rede von Gott, Edition und Erforschung von Schleiermachers Christlicher Sittenlehre. Wichtigste Veröffentlichungen: Gewissen und Gott. Überlegungen zur Phänomenologie der Gewissenserfahrung und ihrer Darstellung in der Rede vom Jüngsten Gericht, in: S. Schaede u. a. (Hg.), Das Gewissen, Tübingen 2015, 235–283; Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig 2017; Theologie der reformatorischen Bekenntnisschriften, Leipzig 2020. Prof. Dr. Dr. Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum und Research Associate der Fakultät für Public Theology der Universität Stellenbosch / Südafrika. Wichtigste Veröffentlichungen: Neue Schöpfung. Systematisch-theologische Untersuchungen zur Hoffnung auf das »Leben in der zukünftigen Welt«, Neukirchen-Vluyn 2009; Gottes Lebendigkeit. Beiträge zur Systematischen Theologie, Leipzig 2019; Im Weltabenteuer Gottes leben. Impulse zur Verantwortung für die Kirche, Leipzig 32021.

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