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German Pages [405] Year 2023
Eschatologische Denkformen im Anschluss an die Theologie Karl Barths
Benedikt Friedrich-Lang
Theologische Anstöße
Modelle der Erlösung
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VR_9783525557990_Pfleiderer_Georg_Theologie_K2 | Seite 1 | 13.02.2023
Theologische Anstöße Herausgegeben von Michael Beintker, Johannes Eurich, Günter Thomas, Christiane Tietz und Michael Welker
Band 12 Benedikt Friedrich-Lang Modelle der Erlösung
VR_9783525557990_Pfleiderer_Georg_Theologie_K2 | Seite 2 | 13.02.2023
Benedikt Friedrich-Lang
Modelle der Erlösung
Eschatologische Denkformen im Anschluss an die Theologie Karl Barths
Vandenhoeck & Ruprecht
VR_9783525557990_Pfleiderer_Georg_Theologie_K2 | Seite 3 | 13.02.2023
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2024 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9643 ISBN 978-3-666-50017-6
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Für Salome
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der RuhrUniversität Bochum als Dissertation angenommen worden. Sie dokumentiert meine Entdeckungsreise, die ich zunächst mit dem Interesse an konstruktiven Lesarten der Theologie Karl Barths begonnen habe und die dann mit der Richtungsentscheidung für eine pluralismusfähige Eschatologie Fahrt aufgenommen hat. Schon in den ersten Entwürfen für diese Arbeit standen mir mehrere Wegstationen vor Augen. Unterwegs hat sich mir dann mehr und mehr eine Methodik aufgedrängt, mit welcher sich diese Stationen als Modelle auf einer theologischen Landkarte verorten ließen. Damit wurde die Reise nicht nur zu einem inhaltlich-theologischen Abenteuer, sondern zu einer regelrechten wissenschaftstheoretischen Expedition. Zu meinem Glück hatte ich über die oft schönen und manchmal auch mühsamen Strecken hinweg viele WeggefährtInnen. Allen voran danke ich Herrn Prof. Dr. Dr. Günter Thomas für das engagierte Begleiten entlang der erarbeiteten Modelle. Er hat mir bei der Arbeit an seinem Lehrstuhl nicht nur meine theologische und intellektuelle Entwicklung ermöglicht und den inhaltlichen Anstoß zum Wagnis Eschatologie und Barth gegeben, sondern auch die methodisch zentrale Entscheidung für die systematische Entfaltung einer theologischen Modelltheorie motiviert. Auch wenn ich in mancherlei Hinsicht eigene Wege eingeschlagen habe, prägen viele seiner Wegweiser, sein kritisches Nachhaken und unser gemeinsames Ringen um die verschiedenen Tiefenschärfen der Theologie Karl Barths diese Studie. Er hat mich zudem ermutigt, Erkenntnisse dieser Arbeit bei Konferenzen im Rahmen des Enhancing Life Projects in Chicago, bei der Karl Barth Tagung in Emden, im Rahmen des Doktorierendenkolloquiums der Leuenberger BarthTagung, sowie im Bochumer Graduiertenseminar vorzutragen. Nicht zuletzt hat mich diese Vernetzung zu der Überzeugung gebracht, dass Theologie – verstanden als Modellierung der Rede von Gott – an den so zu entdeckenden Spannungsflächen, Bruchstellen und schließlich auch den Überlagerungen dieser unterschiedlich modellierenden Wissenschaftskulturen überraschende und neue Erkenntniswege eröffnet. Herrn Prof. Dr. Traugott Jähnichen danke ich für die Anfertigung des Zweitgutachtens und die daraus hervorgehenden Anregungen für die Drucklegung. Dem Herausgeberkreis der Reihe Theologische Anstöße danke ich für die Aufnah-
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Vorwort
me in die Serie. Der Druck wurde dankenswerterweise durch einen Druckkostenzuschuss der Evangelischen Landeskirche in Baden unterstützt. Frau Jehona Kicaj von Brill Deutschland sei an dieser Stelle ebenfalls für die geduldige und stets hilfreiche Begleitung von Seiten des Verlags gedankt. Wo Reisen zu wahrhaftigen Abenteuern werden, braucht es Menschen, die dabei helfen, die Tiefen durchzustehen und die Höhen so zu feiern, wie es ihnen gebührt. Prof. Dr. Hanna Reichel und Dr. Thomas Renkert sind als meine (nicht nur theologischen) Freunde jeden einzelnen Hügel mitgegangen. Ihre eigenen Modellierungen haben nur zu oft zu wertvollen Interferenzen geführt. Neben der gemeinsamen Arbeit im Herausgeberkreis von Cursor_, einigen Artikeln zu Citizen Theology und Überlegungen zu Theologies of the Digital, bin ich für ihren Zu- und Einspruch bei meinen theologischen Main- und Sidequests mehr als dankbar. Danken möchte ich auch Landesbischöfin Prof. Dr. Heike Springhart, die mich noch während meiner Zeit im Theologischen Studienhaus in Heidelberg zu eigenen theologischen Gehversuchen ermutigte und später dann im Enhancing Life Project ihren Teil dazu beigetragen hat, dass ich versuche mit dieser Modelltheorie einen Beitrag zu einer realistischen Theologie zu leisten. Mein Dank gilt außerdem Prof. Dr. Gregor Etzelmüller, der bei mir in seinen Heidelberger Vorlesungen nicht nur das Interesse für die Theologie Karl Barths geweckt hat, sondern mir auch im Arbeitskreis des Marsilius-Kollegs zu evolutionärer Kulturanthropologie die Leistungsfähigkeit interdisziplinärer Arbeit nahegebracht hat. In guter Erinnerung behalte ich auch das offene Miteinander im Mittelbau der Evangelisch-Thelogischen Fakultät in Bochum, insbesondere die kollegiale Zusammenarbeit mit Dr. Ann-Christin Grüninger, Dr. Stephen Hamilton, Carolin Schaefer und Dr. Andreas Seifert. Dr. Adrian Schleifenbaum bin ich nicht nur für unsere bis heute andauernde Freundschaft dankbar, sondern auch für so manchen lutherischen Anstoß in gemeinsamen WG-, Studien- und Promotionszeiten. Meiner Mutter Elfriede Zollner-Friedrich bin ich neben aller elterlichen Lebensbegleitung nicht zuletzt auch dafür dankbar, dass sie mich mit ihrem kritischen Blick vor so manchem orthographischen Fauxpas bewahrt hat. Von den ersten vagen Gedanken an eine Promotion über viele Skizzen bis hin zur Abgabe der Dissertation hat mich Salome Lang in den kreativen wie in den manchmal ebenso notwendigen ermüdenden Phasen eines solchen Unterfangens unterstützt. Sie hat mir dabei geholfen, eigene Positionen besser auzutarieren und mich dabei immer wieder zur nötigen Prägnanz aufgefordert. Ihr ist diese Arbeit zum Dank gewidmet.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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0 Einleitung 13 0.1 Erlösung. Eine thematische Annäherung . . . . . . . . . . . 13 0.2 Modellieren als Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 0.2.1 Modelle als Vergegenständlichung . . . . . . . . . . 19 0.2.2 Modelle als Träger von Erkenntnisprozessen . . . . . 23 0.2.3 Struktur und Materialität von Modellen . . . . . . . 25 0.3 Zugänge zur Eschatologie Karl Barths . . . . . . . . . . . . . 28 0.3.1 Konturen der Eschatologie in Barths dialektischer Phase 28 0.3.2 Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik . . . . . . 33 0.4 Zur Entwicklung eines modelltheoretischen Ansatzes für die Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 0.4.1 Die Modellkonstellation der Kirchlichen Dogmatik als materialer Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . 38 0.4.2 Modellanalytik auf Meso-Ebene . . . . . . . . . . . 40 0.4.3 Ein begründeter Anfangsverdacht: Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . 44 0.4.4 Verifikation oder Validierung? . . . . . . . . . . . . 47 1
Modell 1: Teleologische Eschatologie 1.1 Der gebrochene Monismus in Barths Vorsehungslehre . . . . 1.1.1 Die relative Eigenständigkeit der Schöpfung . . . . . 1.1.2 Gottes Wirklichkeit und Schöpfungswirklichkeit . . 1.2 Erlösungstheologische Implikationen . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Erlösung als Vollendung . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Aufhebung und Transzendieren schöpfungsimmanenter Widersprüche und Grundaporien . . . . . . . . . 1.3 Die paradoxe Wirklichkeit des Nichtigen . . . . . . . . . . . 1.4 Epistemologie und Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Die epistemische Autonomie des Vorsehungsglaubens 1.4.2 Die Zeitlichkeit der Kontraevidenz göttlicher Allmacht 1.4.3 Vorsehungsglaube und Sinneinheit. Möglichkeiten der kritischen Fortführung des liberalen Paradigmas . . .
50 52 53 60 70 71 74 77 82 82 85 88
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Inhaltsverzeichnis
1.5
1.6
Hermeneutik des Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1.5.1 Vertrauenswirklichkeiten und Gottvertrauen . . . . . 94 1.5.2 Gegründetes Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1.5.3 Die geschichtliche Dynamik israelitischen Vertrauens 98 Zusammenfassung: Erlösung als Vollendung . . . . . . . . . 102
2 Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung 2.1 Gottes schöpferische Auseinandersetzung mit dem Chaos . . 2.1.1 Schöpfung und Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Unterscheiden, Begrenzen und Benennen. Zur Schöpfungstechnik der ersten Schöpfungssage . . . . . . . 2.1.3 Schöpfung als bipolare Unterscheidung . . . . . . . 2.2 Zur systematischen und biblischen Fortsetzung dieser Modellstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Souveränität, Medialität und Interdependenzen . . . 2.2.2 Die atl. Sensibilität für die Folgeprobleme dieses Modells 2.3 Die fragliche Dichotomie von Ordnung und Chaos . . . . . 2.3.1 Zur Ontologie der Unterscheidung von Chaos und Ordnung (Chaostheorie) . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Zur Epistemologie der Unterscheidung von Chaos und Ordnung (Systemtheorie) . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Zur Normativität der Unterscheidung von Chaos und Ordnung (Prozesstheologie) . . . . . . . . . . . . . 2.4 Erlösungstheologie unter dem Symbol der Neuschöpfung . . 2.4.1 Symbol 1: Neuer Himmel und Neue Erde . . . . . . 2.4.2 Symbol 2: Neues Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Symbol 3: Neues Leben . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Chaosüberwindung als Risikobefreiung . . . . . . . 2.5 Leben zwischen Schöpfung und Neuschöpfung . . . . . . . 2.5.1 Wachsame Dankbarkeit für die Schöpfung . . . . . . 2.5.2 Möglichkeitsräume als Gleichnisse der Neuschöpfung 2.6 Zusammenfassung: Erlösung als Neuschöpfung . . . . . . . 3
Modell 3: Juridische Eschatologie 3.1 Erwählungstheologische Prolegomena des juridischen Modells 3.1.1 Die Relationalität des Rechts . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Kondeszendenz als subversive Reversion . . . . . . . 3.1.3 Intention und Intervention . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Christusgeschehen als juridischer Prozess . . . . . . . . . 3.2.1 Vierdimensionale Stellvertretung . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Auferstehung als Urteil des Vaters . . . . . . . .
104 105 105 108 109 120 120 123 128 130 132 134 140 143 146 149 151 153 154 157 163 165 167 167 170 173 177 178 193
Inhaltsverzeichnis
3.3 3.4
3.5 3.6 4
5
Zur Kritik dieses Modells in KD IV/1 . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Glaube, Taufe und Rechtfertigung . . . . . . . . . . 3.3.2 Iustitia aliena und Iustitia correctiva . . . . . . . . . Eine anerkennungstheoretische Transformation der Kategorie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Anerkennung als Bestätigung (A. Honneth) . . . . . 3.4.2 Anerkennung und Subjektivation (J. Butler) . . . . . Eschatologie des »Neuen Bundes« . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Der Neue Bund als Verkennungsgeschichte . . . . . 3.5.2 Gebet und Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Erlösung durch die Gerechtigkeit Gottes .
11 199 199 203 205 206 211 218 219 223 226
Modell 4: Humanität und Reich Gottes 4.1 Die Menschlichkeit Gottes in Christus . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Die Denkform der unio hypostatica . . . . . . . . . . 4.1.2 Die unio hypostatica als kritische Denkform . . . . . 4.2 Eine Phänomenologie transformatorischer Humanität . . . . 4.2.1 Neuheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Parteilichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Hamartiologie der Unmenschlichkeit . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Barths personalistische Hamartiologie der Trägheit . . 4.3.2 Offene Fragen an Barths Hamartiologie der Trägheit – modellinterne Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Zu einer Hamartiologie sozialer Wirklichkeiten . . . 4.4 Erlösung als Kommen des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . 4.4.1 Jesus Christus – das Reich Gottes in Person . . . . . 4.4.2 Die Dramatik des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . 4.4.3 Die dramatische Antizipation des Reiches Gottes . . 4.5 Zur Validierung dieses Modells im Gespräch mit einer Theologie der Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Zusammenfassung: Erlösung durch transformierende Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
228 230 230 233 238 240 244 249 255 256
Modell 5: Revelatorische Eschatologie 5.1 Offenbarung als Erlösung? – Eine Modellverortung . . . . . . 5.1.1 Offenbarung als Ereignis (KD I/1) . . . . . . . . . . 5.1.2 Kontraevidenz der Weltregierung Gottes in KD III/3 5.1.3 Offenbarung als Versöhnung: Das »dritte Problem der Versöhnungslehre« . . . . . . . . . . . . . . . . . .
294 296 296 299
261 264 272 272 276 281 285 292
302
12
Inhaltsverzeichnis
5.2
5.3 5.4
5.5
5.6 6
Licht und Finsternis: Die dramatische Leitdifferenz dieses Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die Dramatik der Parusie Jesu Christi . . . . . . . . 5.2.2 Universal- und Realgeschichte . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Der wahrhaftige Zeuge gegen die Lüge . . . . . . . . 5.2.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Differenz von absoluter und relativer Wahrheit . . . . . . 5.3.1 Die beiden Pole der Lichterlehre . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die Wahrheit und die Wahrheiten . . . . . . . . . . Die operativ-fiktionale Differenz von Kirche und Welt . . . . 5.4.1 Die Berufung als dritter Zeugnistypus . . . . . . . . 5.4.2 Die Visibilität der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Die Unterscheidung von Kirche und Welt als theologische Pragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Zur Hermeneutik dieser dritten Unterscheidungsebene Geschichtlich-revelatorische Eschatologie . . . . . . . . . . . 5.5.1 Die dynamische Teleologie der Geschichte . . . . . . 5.5.2 Versöhnung und Erlösung – ein quantitativer oder qualitativer Unterschied? . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Erlösung als Offenbarung . . . . . . . . .
305 306 309 313 321 322 323 328 331 332 337 342 345 349 349 353 357
Schluss 359 6.1 Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 6.2 Dekonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 6.3 Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
Literaturverzeichnis
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Sachregister
401
0 Einleitung 0.1 Erlösung. Eine thematische Annäherung Wir sind umgeben von Erlösungshoffnungen, von Erzählungen, die sie nähren, und von den Effekten, die sie auf Menschen und ihre Umgebung haben. Ob in preisgekrönten Blockbustern, in politischen Wahlkämpfen und Ansprachen oder auch in den Prognosen zum möglichen Ende einer Pandemie, die über Monate und Jahre die Welt in Atem hält: Menschen hoffen – ob mit gutem Grund oder wider besseres Wissen, ist dabei oft noch nicht einmal zweifelsfrei zu entscheiden. Der christliche Glaube nimmt Teil an diesem Konzert der Erlösungshoffnungen. Dabei gleicht dieser Glaube manches Mal einem mitreißenden oder auch einsamen Soloinstrument, das als einziges die Stimme der Hoffnung erheben kann, weil rundherum jede Zuversicht verschwindet. Zuweilen begleitet es andere Stimmen der Hoffnung, indem es zwar nicht deren Melodie einfach wiederholt, aber ihnen einen harmonischen und rhythmischen Rahmen liefert. Und nicht selten bleibt der christlichen Hoffnung nichts anderes, als falschen Hoffnungen kontrapunktartig eine subtile oder auch subversive Gegenstimme zu bieten. Allein dass gehofft wird, ist wohl kein Spezimen des christlichen Glaubens. Und zugleich bleibt die Antwort auf die Frage, worauf er hofft bemerkenswert vieldeutig: Wo das Vater Unser gesprochen wird, bitten Menschen ganz allgemein und zugleich sehr konkret um die Erlösung von dem Bösen. Menschen drücken damit ihre Sorgen, ihre Nöte und ihre Ängste aus. Sie sprechen damit aus, was die Dogmatik ganz allgemein als Erlösungsbedürftigkeit bezeichnet. Diese Worte sind aber nicht nur Worte der Klage, sondern auch ein Ausdruck lebendiger Hoffnung, die in den verschiedenen biographischen und sozialen Kontexten, in denen Menschen dieses Gebet sprechen, ganz Unterschiedliches bedeuten können. Bei aller kontextueller Verschiedenheit machen sie gemeinsam Eines deutlich: Der christliche Glaube will es sich nicht leisten, sich mit der Welt, wie sie ist, abzufinden und mit der Tragik des Lebens und seiner Umstände Frieden zu schließen. Er ist vielmehr Anlass, dass Menschen auf die Zuwendung des dreieinigen Gottes hoffen und ihn um die Erlösung von dem, was sie als Böses erfahren, bitten. Die biblischen Texte, die vielfältigen liturgischen Traditionen, aber auch die Bekenntnisse der Tradition zeugen von der Vielfalt der sprachlichen Bilder, die dieses Vertrauen evozieren. Aber nicht nur die religiöse Sprache, sondern auch das diakonische und karitative, zivilgesellschaftliche,
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Einleitung
politische, das öffentliche wie das private Engagement von ChristInnen ist ein Indikator für diese Hoffnung, dass nicht einfach alles bleibt, wie es ist. Das Bedeutungsspektrum der Erlösung deckt situativ spezifische Kontexte ab, in denen die Betenden angesichts akuter Bedrängnis und Leiderfahrungen für sich und andere bitten. Zugleich ist darin impliziert, dass menschliches und geschöpfliches Leben nicht nur von einer gutzuheißenden Endlichkeit geprägt ist, sondern auch in individuelle, kollektive und systemische Dynamiken von Verletzung, Schuld und Destruktion von Lebensmöglichkeiten verstrickt ist. Die genannte Vater-Unser-Bitte blickt dieser Realität ins Auge, wohl wissend, dass sich Menschen weder aus diesen Verstrickungen noch aus jeder Bedrängnislage selbst erretten können. Das Vater Unser richtet die Erwartung dieser Erlösung an Gott, der in dieser Bitte als Schöpfer, Versöhner und eben auch als Erlöser angerufen wird. Damit ist zugleich sehr wenig und sehr viel gesagt. Sehr wenig darum, weil mit der Chiffre der »Erlösung von dem Bösen« zwei voraussetzungsreiche theologische Symbole aufgerufen werden, die für sich genommen nicht mehr als polare Grenzbegriffe sind. Denn um sich selbst über individuelle oder auch kommunitär geteilte Erlösungshoffnungen verständigen zu können, scheint die Theologie darauf verwiesen zu sein, erklären zu können, wovon sich der christliche Glaube Erlösung erhofft. Der Erlösungsbegriff ist daher von einer grundsätzlichen Relationalität geprägt. Jede Spezifikation des christlichen Erlösungsverständnisses nötigt darum auch zu einer Respezifikation aller relational verknüpften Begrifflichkeiten. Diese Verknüpfungen sind semantischer Natur, sofern Erlösungstheologien auch im Sinne von Sprachspielen Verständnisnetze bilden. Sie sind aber auch sachlicher Natur, die im systematisch-theologischen Denken untersucht werden. Konkret ist damit gemeint, dass mit dem Begriff der Erlösung als Zentralkategorie der Eschatologie zugleich das Problem des Bösen auf den Plan gerufen ist, das doch traditionellerweise eher in der Metaphysik, der Moraltheorie oder der Hamartiologie seinen Ort hat. Die Eschatologie ist begleitet von einem epistemologischen Doppelproblem, das sich als zwei Seiten derselben Medaille präsentiert und wovor sowohl die wissenschaftliche Theologie als auch der existentielle Glaube gestellt sind. Einerseits ist jede Rede von Erlösung immer selbst der Versuch einer Antizipation dessen, was noch nicht ist, oder baut auf partikularen Erfahrungen auf, die als solche Antizipationen gedeutet werden. Andererseits versucht diese Rede zu explizieren, was in seiner exzessiven Bedeutung niemals hinreichend in Sprache zu fassen ist. Alle Rede von Erlösung kann daher – darüber herrscht in der Theologie eine selten zu findende Einigkeit – nur fragmentarische und vorbehaltliche Rede sein. Das Unternehmen christlicher Eschatologie, das Heil der Erlösung von dem Bösen verständlich zu machen, ist also von vornherein zur Fragmentarizität verpflichtet. Inwiefern ist sie dann aber noch orientierend? Inwiefern kann Theologie
Erlösung. Eine thematische Annäherung
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überhaupt von Erlösung sprechen angesichts der Wirklichkeit des Bösen und unsäglicher Leiderfahrungen, die nicht zuletzt das Christentum selbst unter der Flagge des kommenden Gottesreiches über die Welt gebracht hat? Gerade dort, wo Erlösungsvorstellungen nicht nur in individuellen Lebensentwürfen beheimatet sind, sondern sozio-politisch formative Kräfte entfalten, scheint eine gewisse Unbestimmtheit unabdingbar zu sein. Doch diese Unbestimmtheit ist nicht nur als ein politischer Sicherungsanker gegen enthusiastische Chiliasmen notwendig; mit ihr ist auch eine zentrale theologische Erkenntnis angedeutet, die damit rechnet, dass Gottes erlösendes Handeln die Logiken und Kreisläufe dieser Welt transzendiert und mit ihr noch nicht fertig ist. Amy Plantinga Pauw hat diesen Umstand als methodisches Spezifikum der Eschatologie reflektiert: The fact that »God is not through« means there are still many surprises in store; but our eschatological convictions are shaped by the trust that what lies ahead will not contradict the creative, redemptive, and transformative grace already revealed by the triune God.1
Pauw verbindet diese notwendige Unbestimmtheit erlösungstheologischer Rede mit der Erwartung, dass Gottes erlösendes Handeln Überraschungen und damit theologische Unwägbarkeiten produziert. Zugleich unterstreicht sie, dass die christliche Hoffnung nicht ein spekulatives Additiv zu anderen Glaubensinhalten ist, sondern dass eschatologisches Denken mit der Wirklichkeit dieses Gottes zu rechnen hat, der sich und seiner Schöpfung treu bleibt. Anstatt eskapistisch auf eine irgendwie geartete Wendung zum Guten zu hoffen, schließt die Eschatologie dabei an die vielfältigen Erfahrungen der Nähe und Zuwendung Gottes an. Die These dieses Buches ist, dass das christliche Symbolsystem, das an die Vielfalt der biblischen Traditionen und ihrer Auslegungsgeschichten anschließt, nicht von einer Möglichkeit von Erlösung spricht, sondern dass die Theologie multiple Sprach- und Denkformen zu erwägen hat, das von Gott erhoffte Heil im Forum der Wissenschaften zu reflektieren. Schließlich haben die Kommunikationsformen des christlichen Glaubens ein breites Set an Bildern, Narrationen und Symbolen geprägt, mit denen Menschen und Gemeinschaften Heilserfahrungen und Heilserwartungen miteinander verbinden und damit Gegenerzählungen zum vermeintlichen Triumph des Unheils bilden. Die konfessionell unterschiedlich angeordneten Symbolsysteme kennen eine Mannigfaltigkeit an begrifflichen und narrativen Erlösungsvorstellungen, die sich wechselseitig ergänzen und nicht selten zueinander in Spannung treten. Verschiedene solcher Erlösungssymbole bieten nicht nur unterschiedliche Möglichkeiten der Kontextualisierung, sondern schließen an unterschiedliche Gottesüberlieferungen und -bilder an. Wie oben bereits angedeutet, ist jede Konkretisierung der christlichen Erlösungshoffnung nicht nur als eine Reaktion auf bestimmte soziokulturelle Kontexte zu 1
Pauw, »Some Last Words on Eschatology«, 222.
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Einleitung
verstehen, sondern bildet selbst Denk- und Sprachformen aus, mit denen das, wovon Erlösung erhofft wird, respezifiziert wird. Um diesen Denkformen nachzugehen, braucht es eine Methodik, die einen Schritt weiter geht, als nur die Vielfalt eschatologischer Symbole festzuhalten. Es braucht ein Vorgehen, dass die innere Kohärenz und Rationalität solcher Denkformen nachzuvollziehen ermöglicht und gleichzeitig ein Sensorium für auftretende Spannungen innerhalb dieser Pluralität bietet. Darüber hinaus stellt sich diese Studie der Herausforderung, diese Zusammenhänge nicht nur zu verstehen und zu reflektieren, sondern auch auf ihre Effekte und ihr Orientierungspotenzial hin zu befragen. Notwendigerweise kann es daher auch nicht sein Bewenden haben, die epistemologischen Bedingungen der Möglichkeit theologischer Rede von Erlösung zu erörtern. Vielmehr müssen neben den Konstruktionsbedingungen von Erlösungshoffnungen auch deren Dekonstruktionspotenziale, anhand derer ihre Vorläufigkeit und Fragmentarizität plastisch wird, untersucht werden. Die narrative und symbolische Vielfalt christlicher Rede von Erlösung ist dabei nicht allein Ausdruck eines religionsgeschichtlich begründeten Variantenreichtums. Sicherlich: Wo viele Stimmen reden, werden noch viel mehr unterschiedliche Worte gesprochen. Die Varianz erlösungstheologischer Sprachformen ist jedoch nicht allein der Kontingenz äußerer Umstände geschuldet. Sie ist vielmehr auch die realistische Folge einer hinreichend komplexen theologischen Reflexion über das von Gott erfahrene, verheißene und erhoffte Heil. Die vorliegende Arbeit spürt dieser Komplexität nach, indem sie solche unterschiedlichen Sprachformen als erlösungstheologische Modelle versteht. Dabei geht es nicht darum, ein Modell gegen ein anderes auszuspielen, sondern darum nachzuvollziehen, welche Verstehensangebote diese einerseits für sich genommen für zentrale Fragen christlicher Eschatologie liefern und welche Interaktionen andererseits in solchen Modellkonstellationen beobachtbar sind. Die methodische Grundentscheidung dieser Arbeit, christliche Eschatologie als spannungsreiches Modellgeflecht zu verstehen, erlaubt damit eine anspruchsvolle Analyse christlicher Hoffnungserzählungen. Die methodischen Grundlagen für dieses Verfahren sind im Folgenden zu erörtern.
0.2 Modellieren als Methode Eine modelltheoretisch fundierte Eschatologie eröffnet eine Vielzahl an neuen Möglichkeiten für das Verständnis christlicher Erlösungstheologie. Mit ihr lassen sich die eingangs thematisierten Herausforderungen einer Erlösungstheologie in der Gegenwart adressieren: 1. Lebendige Hoffnungen haben in der Geschichte des Christentums zur Entstehung anspruchsvoller Denkformen beigetragen, die jedoch kaum
Modellieren als Methode
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oder nur schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Sie haben vielmehr eine Vielzahl an Modellierungen der christlichen Erlösungsvorstellung hervorgebracht. Für die vorliegende Arbeit ist dies insofern von Bedeutung, dass sie das christliche Symbolsystem differenzsensibel analysieren kann. Und obwohl ihr weder ein einheitliches Verständnis von Erlösung zugrunde liegt, noch ein solcher einheitlicher Begriff im Fazit synthetisiert werden soll, können dennoch die inneren Zusammenhänge christlicher Erlösungshoffnungen aufeinander bezogen werden. 2. Eine modelltheoretische Bearbeitung der Eschatologie ist sich dessen bewusst, dass jede Form der Konstruktion immer auch rekonstruiert und umgekehrt: Jedes Rekonstruieren ist immer auch konstruktiv. Das Nachvollziehen christlicher Hoffnungsvorstellungen kann selbst zum Ausgangspunkt für neue theologische Erkenntnisse werden, indem modelleigenen Logiken nicht nur gefolgt, sondern diese auch weitergezeichnet werden können. 3. Modellierungen dienen der Veranschaulichung und Untersuchung von Sachverhalten. In der Theologie ist das insbesondere für die Wahrheitsfrage von Bedeutung. Modellieren als Methode verbindet Anliegen einer realistischen und einer konstruktivistischen Ontologie.2 Einerseits bemisst sich ihre Leistungskraft an ihrer Adäquatheit zum modellierten Gegenstand, andererseits lässt sich ihr Modellsein als solches thematisieren. Die theologische Wahrheitsfrage stellt sich dann in Form einer multikontextuellen Bewährung erlösungstheologischer Modelle. 4. Ein modelltheoretisches Verfahren bietet schließlich entscheidende Vorteile für die Qualitätssicherung. Dies ist insbesondere für die Eschatologie von Bedeutung. Auf dem Spiel steht nicht nur, wie valide christliche Hoffnungsvorstellungen sind. Auch sind die jeweiligen Orientierungsleistungen in ethischen, politischen und kulturellen Debatten wissenschaftlich kontrolliert zu bewerten. Modelle können sowohl auf ihre interne Konsistenz als auch auf ihre Wechselwirkung mit externen Referenzgrößen geprüft werden. Hinreichend anspruchsvolle Modelle können sowohl ihre inhaltlich-theologische als auch interdisziplinäre Anschlussfähigkeit unter Beweis stellen. 2
Diese Leistungskraft des Modellierens stellt auch Oliver Crisp heraus, der das Modellieren als Instrument zwischen Realismus und Anti-Realismus verortet: Crisp, »The Importance of Model Building in Theology«. Auch wenn die vorliegende Studie nicht in der Tradition der analytischen Theologie steht, so stimmt die hier vorgestellte Methode mit Crisps Feststellung des ontologischen Schwebezustands von Modellen überein. Denn das Nachvollziehen von Modellen kann einerseits der Erschließung von Wirklichkeit durch das Medium des Modells dienen; es kann andererseits als intellektuelles Abenteuer zur Entdeckung theologischer Denkmöglichkeiten verstanden werden.
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Einleitung
Im Gegensatz zur vielen anderen Wissenschaften hat die Theologie die Möglichkeiten und methodischen Vorteile modelltheoretischer Verfahren bislang nur in Ansätzen für sich entdeckt.3 Während quantitativ forschende Wissenschaften routiniert mit der Modellierung von Erkenntnissen umgehen und darüber hinaus auch im außerakademischen Feld die Datenmodellierung z.B. im Data Science- und Analytics-Bereich eine entscheidende Rolle spielt, ist die Einführung eines solchen Verfahrens in der Theologie mit einer offensichtlichen Hürde verbunden. Der entscheidende Unterschied zu diesen Anwendungsfällen ist, dass dort die Modellierung strukturierter Daten und deren automatisierter Auswertung im Fokus steht, wohingegen Modelle in der Theologie vor allem spezifische Denkformen und Argumentationsmuster hervorbringen. Die transdisziplinäre Vergleichbarkeit modellbasierter Verfahren ist wissenschaftstheoretisch betrachtet dennoch angemessen. Sie wird mit Blick auf die sehr ähnliche Funktion des Modellierens in verschiedenen Wissenschaften und Anwendungsgebieten offensichtlich: In allen Fällen trägt die Entwicklung, Untersuchung und Verwendung von Modellen dem Umstand Rechnung, dass uns Wissen weder als als solches zugänglich ist, noch dass Wissen als solches generierbar ist. Wissen ist uns immer nur in den sehr spezifischen Formen seiner Modellierung zugänglich, konservierbar und repräsentierbar. Für die Entwicklung einer modellbasierten Methodik für die Eschatologie sollen daher im Folgenden zwei Ansätze vorgestellt werden, die sich dafür eigenen, die Funktion des Modellierens wissenschaftstheoretisch aufzuschlüsseln. Besonderes Interesse gilt dabei der Beschreibung von Modellen als Hilfskonstruktionen zwischen der Nachbildung einer Wirklichkeit und der Trägerschaft von Prozessen der Wissensgenese. Ersteres legt v.a. das sog. Kieler Modell nahe. Für Letzteres kann die Modelltheorie Reinhard Wendlers gelten. Mithilfe dieser beiden komplementären Modellbegriffe lässt sich die hermeneutisch-analytische wie auch die konstruktive Aufgabe systematisch-theologischen Denkens wissenschaftstheoretisch veranschaulichen. Beide sollen daher im Folgenden knapp skizziert werden und deren Bedeutung 3
Insbesondere die Mathematik, die Biochemie aber auch die Wirtschaftswissenschaften arbeiten schon seit langem auf modelltheoretischer Grundlage, wobei diese Paradigmen inzwischen auch stärker in den Fokus wissenschaftstheoretischer Reflexion rücken. Für die Epistemologie des Modelldenkens grundlegend ist Black, Models and Metaphors. Einen interdisziplinären Überblick über den aktuellen Gebrauch des Modellbegriffs liefert Thalheim und Nissen, Wissenschaft und Kunst der Modellierung, 6–24. Die besondere Leistungsfähigkeit des Modellierens, auf die Herausforderungen pluraler Zugänge zur Wirklichkeit zu reagieren, ist insbesondere in der Entwicklung der Religion-and-Science-Debatten von großer Bedeutung gewesen. Vgl. Barbour, Myths, Models and Paradigms; Gregersen und van Huyssteen, Rethinking Theology and Science. Darüber hinaus ist das Modelldenken auch an der Schnittstelle systematischtheologischer und religionssoziologischer Überlegungen fruchtbar. So hat W. Paul Jones eine Typologie sog. »theologischer Welten« entworfen, die zwar nicht dezidiert modelltheoretisch argumentiert, de facto jedoch viele Intentionen dieser Methodik aufgreift: Vgl. Jones, Theological Worlds.
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für die theologische Arbeit mit Modellen herausgestellt werden, die anschließend auf den in dieser Studie verfolgten Forschungsgegenstand noch einmal präzisiert werden kann.
0.2.1 Modelle als Vergegenständlichung Theologische Arbeit ist produktiv. Die fundamentaltheologische These dieser Arbeit lautet, dass theologische Wissensproduktion zu einem wesentlichen Teil darin besteht, dass sie Denkmodelle generiert, reflektiert und modifiziert. Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe der Kieler Universität hat sich darum bemüht, einen von der Wissenschaftspraxis ausgehenden, transdisziplinär anschlussfähigen Modellbegriff zu entwickeln, der trotz seines bottom-up-Ansatzes eine Übertragbarkeit auf andere Problemkonstellationen ermöglichen soll. Obwohl die Theologie in diesem Forschungsverbund nicht vertreten war, lassen sich viele Merkmale des Kieler Modellbegriffs auf die Theologie anwenden. Eingangs und zugleich zusammenfassend definiert die Kieler Gruppe den Modellbegriff über seinen Zweck der Abbildung: Modelle sind – häufig reduzierte – Abbilder eines Gegenstandes und/oder Prozesses, die dem Ersatz, als Proxy, der Vereinfachung oder überhaupt der Ermöglichung einer Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand oder Prozess dienen. Sie sind gleichzeitig Gegenstände, die zu einem Zweck als Modelle genutzt werden, und Produkte einer Entwicklung wie z.B. Vorbild für einen Gegenstand, der mit dem Modell hergestellt werden soll. Modelle stellen Abbilder von Urbildern dar und nutzen eine Sprache zur Darstellung. Die Sprache besitzt eine Kapazität, die die Modellwelt beschränkt.4
Modelle sind also zunächst als stellvertretende Veranschaulichungen eines Gegenstandes oder Prozesses zu verstehen, welche ohne diese Modellierung nicht oder nur schwer zu beschreiben ist. Sofern in der Theologie große Uneinigkeit darüber besteht, ob die Rede von Gott überhaupt eine gegenständliche Rede sein kann, oder nicht bereits ob der Versuch der theologischen Vergegenständlichung einer vormodernen Metaphysik das Wort redet, ist mit der Methode des Modellierens ein zentrales fundamentaltheologisches Problem angesprochen. Ein modelltheoretisch basierter Zugang stellt dagegen heraus, dass theologische Modelle als vorläufige Vergegenständlichungen selbst untersuchbare Größen sind. Wenngleich daher theologische Arbeit unter den Bedingungen der Spät- bzw. Postmoderne nicht in derselben Weise gegenständlich von ihren inhaltlichen Bezugsgrößen (Gott, Heil, Erlösung, religiöses Bewusstsein, etc.) sprechen kann, wie dies von empirischen Wissenschaften erwartet werden kann, so hat sie es, 4
Thalheim und Nissen, Wissenschaft und Kunst der Modellierung, 29.
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indem sie mit Modellen arbeitet, durchaus mit Untersuchungsgegenständen zu tun. Theologische Arbeit ist Arbeit an Modellen, die sowohl epistemologisch wie auch material kontrollierte Vergegenständlichungs- und Reflexionsversuche anstellt. Gemäß der Kieler Definition vollzieht sich dieser Vergegenständlichungsprozess als Modellierung, indem sie »eine Realität mit unterschiedlichem Detailgrad und Assoziationsabstand zur Realität« zu beschreiben vermag.5 Modelle veranschaulichen Wirklichkeiten, indem sie diese vergegenständlichen und damit notgedrungen auf eine Abstraktion dessen drängen, was sie abbilden. Jedes Modell stellt damit einerseits eine Reduktion an Komplexität durch eine der Modellierung inhärente Konkretion dar. Andererseits handelt sich jedes Modell ebenso eine Pfadabhängigkeit seiner modellbedingten Spezifika ein, welche es kritisch zu prüfen gilt. Die Theologie vollzieht diese Konkretion mithilfe ihrer Sprache als Modellierungsmaterial, das sowohl auf Semantik, Grammatik wie auch auf dessen Pragmatik hin zu untersuchen ist. Gleichwohl ihre Bezugsgröße vielfach nicht gegenständlich ist, vollzieht die Theologie – verstanden als Modellieren theologischer Aussagen – eine auch wissenschaftstheoretisch plausibilisierbare Vergegenständlichung dessen, was sie zu beschreiben sucht. Die Pointe des Kieler Modellbegriffs besteht darin, dass er die Modellierung zweckorientiert denkt. Dabei schlägt die Kieler Gruppe eine offene Reihe möglicher Zwecke vor, von denen für den in dieser Studie verwendeten Modellbegriff insbesondere fünf von Bedeutung sind.6 Exploring Mithilfe von Modellen lässt sich Wirklichkeit erschließen. Dies geschieht mithilfe der Explorierung von Modellen: Diese können untersucht und auf ihre Beschaffenheit, ihre inneren und äußeren Strukturen, sowie auf ihre Evidenz hin befragt werden. Sie haben daher nicht nur eine repräsentierende, sondern eine generative Funktion, sofern sie nicht nur bereits Gewusstes darstellen, sondern auch die Möglichkeit zur Erschließung neuer Sachverhalte bereitstellen. Theologisches Arbeiten mit Modellen vollzieht sich daher überwiegend nicht thetisch, sondern tentativ. Damit ist gemeint, dass theologische Modelle trotz ihrer materiellen Fixierung im Medium der Sprache zur weiteren Untersuchung offenstehen: Sie lassen sich untersuchen, wodurch ihre Kontingenz transparent wird. Was die Arbeit an historisch kontingenten Modellen theologisch relevant macht, ist die These, dass die Arbeit an theologischen Modellen nicht nur etwas über deren Beschaffenheit, sondern auch über die Wirklichkeit, auf die sie referen5 6
Thalheim und Nissen, Wissenschaft und Kunst der Modellierung, 11. »Typical task objectives include defining, constructing, exploring, communicating, understanding, replacing, substituting, documenting, negotiating, replacing [sic!], optimizing, validating, verifying, testing, reporting, and accounting. We call a model effective if it can be deployed according to its objectives« (Thalheim und Nissen, 616).
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zieren, aussagt. Die Arbeit an erlösungstheologischen Modellen lässt sich daher nicht nur auf die Bedingung der Möglichkeit von Theologie unter spätmodernen Bedingungen untersuchen. Vielmehr ist die Untersuchung des theologischen Modellierens selbst für eine materiale Eschatologie aufschlussreich. Optimizing Modelle sind nicht nur kontingent, sondern auch variabel. Sie können sowohl in Differenz zu anderen Modellen treten als auch selbst modifiziert und im besten Fall verbessert werden. Im theologischen Kontext kann dies zu einer Remodellierung orthodoxer Glaubenssätze – die in diesem Sinne selbst als sich in der Tradition bewährte Modelle zu verstehen sind – führen. Diese Remodellierung geschieht freilich nicht beliebig sondern muss sich selbst anhand der Kriterien, die eine Fundamentaltheologie zu erarbeiten hat, als sinnvoll erweisen. Die Optimierung theologischer Modelle geschieht vielfach in Form einer Reorganisation ihrer Elemente hinsichtlich neu auszuarbeitender Organisationsprinzipien. Ein besonders signifikantes Beispiel für einen solchen Reorganisationszweck stellt die Glaubenslehre Friedrich Schleiermachers dar:7 Indem dieser eine Theorie des religiösen Bewusstseins zum tragenden Erkenntnis- und Validierungsprinzip neuzeitlicher Theologie erhebt, gelingt es ihm, die Elemente seines Modells (sc. das dogmatische Material seiner Glaubenslehre) so zu strukturieren, dass die theologischen Sätze nicht nur in einer neuen, in seinem Kontext außerordentlich plausiblen Weise zu formulieren, sondern auch, sie anhand eines ausgewiesenen Prinzips zu variieren und zu optimieren. In der Theologie stellen Modelle daher zugleich ein Auswahl- wie auch ein Verbesserungskriterium für die Entwicklung theologischer Aussagen bereit. Verifying Modelle zeichnen sich nicht nur nach innen durch eine systematische Kohärenz aus, sondern können im günstigsten Fall nach außen eine kriteriologische Bedeutung gewinnen. Nach außen heißt in diesem Fall, dass anhand eines Modells weitere Hypothesen verifiziert oder auch falsifiziert werden können. Besonders leistungsstarke Modelle der Theologie haben sich in allen Teilbereichen der Systematischen Theologie zu Leitmodellen hervorgetan. Im prinzipiell unabgeschlossenen Kanon der theologischen Modelle des Protestantismus bildete bspw. die Schriftgemäßheit für viele Jahrhunderte das ausgewiesene Kriterium theologischer Wahrheitssuche.8 Die verifizierende Bedeutung von Modellen ist in Abhängigkeit von sich mit veränderten Debattenlagen und einem sich wan7 8
Schleiermacher, Der christliche Glaube. Ein modelltheoretischer Zugang kann darüber hinaus klären, weshalb der häufig verwendete Begriff »Schriftprinzip« die erkenntnistheoretische Pointe dieses Verifikationsinstruments evangelischer Theologie nicht hinreichend trifft. Mit einem Erkenntnisprinzip wäre vielmehr ein Biblizismus bezeichnet. Schriftgemäßheit als erkenntnistheoretisches und verifizierendes Konzept theologischer Wahrheitssuche ist dagegen ein Modell, das in seinem historischen Kontext die theologische Pragmatik des Wechselspiels von Schrift, Christus und der Kirche als
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delnden Forschungsklima nicht festgeschrieben. Dass aber z.B. bis heute trotz der sog. »Krise des Schriftprinzips« über dessen Bedeutung nicht nur dogmengeschichtlich, sondern auch systematisch-theologisch gearbeitet wird, ist ein deutlicher Indikator dafür, dass der verifizierende Zweck von Modellen weder digital (ja/nein) bestimmt werden kann, noch dessen Infragestellung einfach zur Ablage eines Modells im Archiv der Theologiegeschichte führt. Ähnlich zu dem genannten Beispiel wird sich im Rahmen einer Untersuchung erlösungstheologischer Modelle das Prüfkriterium der Theodizee-Sensibilität als wesentlich herausstellen. Wie noch zu zeigen ist, wird darüber hinaus vor allem die Frage nach der Validierung für die Wahrheitsfrage zentral sein.9 Communicating Modelle spielen eine zentrale Rolle in der Wissenschaftskommunikation. Sowohl die Verständigung innerhalb von scientific communities als auch der Wissenstransfer in die Praxis gewinnt durch das Veranschaulichungspotenzial von Modellen und der ihnen anhaftenden Semantik an Prägnanz und Überzeugungskraft. Eine besondere Rolle spielt dabei die Paradoxie des Komplexitätsgewinns durch Vereinfachung: Indem Modelle schwierige Zusammenhänge mithilfe der Konzentration auf ein wesentliches Grundgerüst zentraler Gedanken in einer eigenen Semantik auf den Punkt bringen, bieten Sie durch ihre künstlich hervorgebrachte Plastizität Anschlussmöglichkeiten für Folgeüberlegungen und Applikationen. Die große Suggestionskraft hinsichtlich ihrer Rezeption besonders erfolgreicher theologischer Modelle kann einerseits Chancen der kultur- und lebenshermeneutischen Relevanz des christlichen Glaubens bergen. Sie kann andererseits zu einer hermetisierenden Gefahr werden, wenn sich diese Modelle in ihren eigenen Rationalitäten und Begründungsmustern selbst genügen. Im Rahmen dieser Studie sollen daher erlösungstheologische Modelle auch daraufhin befragt werden, wie sie mit ihrer Umwelt (d.h. kulturtheoretische und ethische Debattenlagen) interagieren können und so für oben genannte Anschluss- und Anwendungsmöglichkeiten offen bleiben. Defining Die strukturellen Eigenschaften eines Modells bereiten die Grundlage für Begriffsdefinitionen. Die Untersuchung seiner Strukturen lässt daher Kristallisationspunkte hervortreten, an denen sich für einen Untersuchungszweck besonders bedeutsame Elemente identifizieren und benennen lassen. In der Theologie werden solche Elemente als Symbole sprachlich signifikant. Die vorliegende Studie untersucht zentrale erlösungstheologische Symbole des christlichen Glaubens und wie diese strukturell in theologischen Modellen verankert sind. Dabei ist aber zu beachten, dass diese Symbole nicht einfach durch theologi-
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Rezeptions- und Auslegungsgemeinschaft begrifflich zu fassen versucht und dabei innerhalb dieses Wechselspiels den biblischen Traditionen einen relativen Vorzug gewährt. Vgl. Kap. 0.3.6.
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sche Forschung zu bestimmen sind, sondern diese durch die in der theologischen Arbeit konstruierten Modelle definiert werden. Modelle erfüllen daher autonom die Aufgabe des defining, indem sie die Strukturen beschreiben innerhalb derer sich zentrale Symbole als Kristallisationspunkte hervortun. Da dieser Arbeit kein Meta-Modell zugrunde liegt, wird es in Bezug auf das konkrete Thema dieser Arbeit bei einer Pluralität von Erlösungsbegriffen bzw. einer begrifflichen Bestimmung mehrerer eschatologischer Symbole sein Bewenden haben. Diese Auflistung möglicher Zwecke von Modellen ist nicht vollständig, deutet aber bereits das generative Potenzial modellbasierten Denkens an. Das geschieht im Prozess des Modellierens, welcher nicht nur in der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch im architektonischen, künstlerischen, und handwerklichen Kontext sowie in der Ingenieurskunst anzutreffen ist. Dies liegt in der Natur des Modells begründet, welches das platonische Urbild-Abbild-Verhältnis in seiner Pragmatik invertieren kann: »Modelle haben sowohl deskriptiven Charakter (als Nachbildung eines ›realen‹ Weltausschnitts) als auch präskriptiven (als Vorbilder und Baupläne für zu konstruierende Systeme)«.10 Modelle sind daher gezielt entwickelte Abstraktion, wobei nicht vollends zu entscheiden ist, ob das, was sie modellieren, ihnen vorausgeht oder ihnen nachfolgt. Sie sind daher als Träger impliziten Wissens zu verstehen, das reflektierbar, kritisierbar und modifizierbar ist.
0.2.2 Modelle als Träger von Erkenntnisprozessen Reinhard Wendler hat in seiner Modelltheorie einen Zugang zwischen Ästhetik und Wissenschaftstheorie gewählt und betont damit noch stärker die generativen Potenziale von Modellen, als dies der Kieler Modellbegriff tut. Im Anschluss an den Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger11 formuliert er: »Modelle sind nicht durch eine Entsprechungsbeziehung zu einem Bezugsgegenstand, sondern durch ihre Unvollständigkeit charakterisiert«.12 Diese ist aber gerade nicht als Mangel an Präzision oder als Defizit an Informationsgehalt zu verstehen. Vielmehr sagen Modelle mit dem, was sie nicht explizit machen, sowohl einiges über sich selbst als auch über den ihnen inhärenten Prozess des Modellierens aus. Sie können daher als Wegweiser von noch nicht beschrittenen Erkenntnisprozessen fungieren. Indem sie das Wissen über die Wirklichkeit auf bestimmte Weise figurieren, bilden sie selbst eine Heuristik, welche wiederum die Möglichkeit von Erkenntnis bedingt. Sie setzen damit einen dialektischen Prozess in Gang, der diese Unvollständlichkeit zugleich hervorbringt und daraus das wissensgenerative Potenzial 10 11 12
Thalheim und Nissen, Wissenschaft und Kunst der Modellierung, 15. Hier: Rheinberger, Experiment, Differenz, Schrift, 85. Vgl. auch Rheinberger, Epistemologie des Konkreten. Wendler, Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, 13.
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dieser Leerstellen zutage bringt. Damit ist jedes Modell in gewisser Weise rekursiv: Es bildet einerseits ab und disponiert zugleich über die eigene fortschreitende Heuristik weiterer Modellierungen. Modelle sind daher sowohl deskriptiv als auch präskriptiv. In den Geisteswissenschaften, in denen Modelle diskursiv entfaltet werden, gleicht der präskriptive Charakter dem, was Michel Foucault als Diskursdispositiv bezeichnet: Es präfiguriert die inhaltliche Entfaltung eines Themas, indem es sprachliche Regulative impliziert, die Optionen gegenüber anderen favorisieren und diese zuweilen sogar ausblenden. Dieses Favorisieren geschieht nicht nur durch bewusste Entscheidungsweichen (aus Element a resultiert b und nicht c), sondern ebenso durch eine modelllogische Exklusion bestimmter Elementtypen aus einer anschlussfähigen Reihe (aus Element a resultiert b – während β ein nicht integrierbares Element wäre, weil es a priori aus der Reihe fällt): Modelle zwingen das Denken und Handeln [!] in jedem Fall auf ihre unvorhersehbaren Pfade und entfalten daraus sowohl eine immense Produktivität wie eine gefürchtete Dominanz.13
Theologisches Arbeiten an Modellen gewinnt – so lässt sich Wendlers Doppelbeobachtung auf die Theologie übertragen – automatisch eine konstruktive Komponente. Modelle können daher auf ihre Strukturen wie auch auf ihre produktiven Unvollständigkeiten hin untersucht und von dort ausgehend weitermodelliert werden. Dieses Vorgehen baut nach Wendler auf der Tatsache auf, dass Modelle nicht nur am Ende einer Untersuchung stehen, sondern selbst »Träger eines Denkprozesses« sind.14 Diesen Denkprozess gilt es zunächst analytisch nachzuvollziehen und – wo möglich und sinnvoll – weiterzuführen. Modelle sind daher nicht nur von ihrer Repräsentationsfunktion her zu verstehen. Sofern sie Träger von Denkprozessen sind, kann ihnen auch eine Autonomie im Sinne ihrer disponierenden Gestalt zugesprochen werden. Sie sind nach Wendler selbst Akteure, »deren materieller und medialer Eigensinn die Denk- und Handlungswege beeinflusst«. Das bedeutet gleichzeitig auch, dass »jede Begegnung mit Modellen zumindest in Anteilen als Modellierung anzusehen ist«.15 Aber nicht nur die Produktivität, sondern ebenso die oben genannte »gefürchtete Dominanz« muss für eine modelltheoretisch basierte Untersuchung veranschlagt werden. Insbesondere für die Eschatologie, deren Denkformen in sozio-politischen Kontexten enorme Prägekräfte entfalten können, ist dies eine ernsthafte Gefahr. Sofern Modelle nicht nur einer bestimmten Rationalität entspringen, sondern diese selbst verkörpern, droht ihr »zwingendes« Suggestionspotenzial, ihre eigene Kontingenz zu verdecken. Modelle können daher im 13 14 15
Wendler, Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, 43. Vgl. Wendler, 25. Wendler, 133.
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extremsten Fall zu Prinzipien werden. Gegen die drohende Dominanz eines erlösungstheologischen Modells kann im Raum christlicher Theologie die empirische Tatsache der Existenz einer Pluralität eschatologischer Denkformen veranschlagt werden. Diese nicht-reduzierbare Vielfalt liegt in der Varianz religiöser und theologischer Imaginationsformen der biblischen Traditionen begründet, die auf die christliche Bekenntnisbildung und in der Ausprägung religiöser Lebensformen des Christentums gewirkt haben. Wo jedoch Modelle in ihrem Modellcharakter zur Geltung kommen, werden sie selbst zu Trägern von Erkenntnisprozessen und produzieren, wie Tarja Knuuttila formuliert hat, »something unexpected and they typically breed, in addition to new applications new problems and lines of inquiry«.16
0.2.3 Struktur und Materialität von Modellen Der Erkenntnisgewinn von Modellen geht mit der Modellierung ihrer Elemente einher. Sie sind in ihrer Materialität verkörpertes Wissen. Besonders Modellbegriffe, die auf einen wissensgenerativen Zweck abzielen, heben hervor, dass das Material, welches in den Modellierungsprozess eingebunden ist, selbst von Bedeutung ist. Womit modelliert wird, entscheidet darüber, was und wie modelliert werden kann. Dies lässt sich auch für die Sprache als dem in der Theologie meistverwendeten Material plausibilisieren, sofern Sprache und ihre Semantik nicht einfach als Trägerin von Informationen, sondern in den wissensschöpfenden Prozess des Modellierens selbst eingebunden ist. Insbesondere dann, wenn ein Modell sehr stark von einer spezifischen Semantik geprägt sind, kommt der dispositive Charakter der Sprache besonders zur Geltung, steckt sie doch die Grenzen des Sagbaren und lockt in die Pfadabhängigkeiten des ausdrücklich Sinnvollen. Jenseits dessen, was Modelle explizit auszudrücken vermögen, und dem Wissen, welches ihr lautes Schweigen impliziert, produzieren sie daher regelrecht tote Winkel des Nicht-Wissen-Könnens. Ihre sprachliche Materialität der Metaphorik vermag einerseits Informationsgehalte auf den Punkt zu bringen. Mit den dem Modellierungsgeschehen eingeschriebenen Dispositionen werden jedoch immer auch – ob bewusst oder unbewusst – Denkmöglichkeiten ausgeschlossen. Sie werden im Medium der Sprache unsagbar. Diese toten Winkel konturieren die Grenzen eines Modells, wobei freilich das Modell selbst diese Grenzen steckt, ihm selbst diese aber gleichzeitig notorisch verborgen bleiben. Die wissenschaftliche Arbeit mit Modellen muss daher stets nicht nur das Modell, sondern auch seine möglichen Alternativen bedenken. Es bedarf daher der Kontrastierung durch andere Modelle, die nicht nur hinsichtlich derselben Sache anders, sondern auch Anderes sehen und zu untersuchen vermögen. Das bringt auch mit sich, dass erst 16
Knuuttila, »Models, Representation, and Mediation«, 1267; auch zitiert von Wendler, Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, 28.
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mithilfe solcher Kontrastierungen überhaupt erst die dezidierten Stärken eines Modells sichtbar werden. Wo dies geeignet erscheint kann daher die spezifische Leistungskraft der einzelnen Modelle immer wieder in Zwischenüberlegungen im Vergleich mit den bereits analysierten Modellen herausgestellt werden. Neben diesem gelegentlichen komparativen Verfahren gilt es aber insbesondere die Modellierungselemente in den Blick zu nehmen, um die oben genannten Pfadabhängigkeiten theologischer Sprache und deren präskriptive Wirkung zu verstehen. Der dispositive Charakter erlösungstheologischer Modelle verdichtet sich in eschatologischen Symbolen als den semantisch-sinnverdichteten Knotenpunkten des sprachlichen Materials. Eschatologische Symbole sind dabei häufig in einen besonderen Metaphernraum verwoben und machen einen besonderen Grundtypus der sprachlichen Materialität aus. Eschatologische Symbole sind vergegenständlichende Platzhalter der jeweils modellierten Erlösungsvorstellung. Sie entstehen als theologische Hilfskonstruktionen aus dem Grunddilemma, dass theologische Sätze als menschliche Reden von Gott immer menschliche Rede bleiben müssen und sie also keine Äquivalenz von Bezeichnendem und Bezeichnetem garantieren können. Damit entsprechen sie der Grundsituation der Theologie.17 Die deiktische Funktion, welche die theologische Sprache kennzeichnet, wird in eschatologischen Symbolen dabei so konzentriert, dass Bezeichnendes in geradezu naiv-gegenständlicher Weise auf das Bezeichnete verweist. Diese Herausforderung wird gerade im Rahmen der Eschatologie umso plastischer, als dass das eigentliche Thema (Erlösung) selbst nur als symbolischer Grenzbegriff zur Sprache gebracht werden kann. Wird in der materialen Eschatologie auf diese Weise eine Äquivalenz zweier Symbole benannt, so potenziert sich der den Symbolen inhärente Bedeutungsüberschuss über die Maßen, dass so getroffene Aussagen oftmals nicht weniger, sondern mehr Präzisierungbedarf haben: Der Satz »Erlösung ist Vollendung« birgt nur geringen Informationsgehalt, der als solcher über das, was in der Eschatologie zu beschreiben wäre, sinnvoll Auskunft geben kann. Gerade im Kontext der Eschatologie werden ja symbolische Grenzbegriffe durch andere Symbole spezifiziert, welche selbst der Spezifikation bedürfen. Symbole können daher nur unter Vorbehalt am Anfang einer Untersuchung stehen, sofern sie durch Verständigungsstrukturen bedingt sind, die es stets mitzubedenken gilt.18 Modelle können diese Problematik kompensieren, indem sie weitere Symbole hinzufügen und somit einen Symbolkomplex bilden, der sich dann als semantisches Feld identifizieren lässt. In der konkreten Durchführung einer Modellanalyse sind daher die diskursiven Regeln solcher semantischer Felder, ihre Begrün17 18
Vgl. Barth, »Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922)«. Dem einzigen Modell in dieser Arbeit, das von einem eschatologischen Symbol ausgehend entfaltet wird (Modell 5: Erlösung als Offenbarung), steht daher eine apologetische Einleitung voran, inwiefern es sich dabei tatsächlich um ein für diese Studie relevantes Modell handelt.
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dungsstrukturen sowie die damit getroffenen Vorentscheidungen zu untersuchen. Eine Analyse theologischer Modelle kann sich daher nicht alleine auf die Exegese eschatologischer Symbole stützen, sofern die ihnen zugrundeliegenden sprachlichen und gedanklichen Verständigungsstrukturen einen wichtigen Anteil daran haben, wie nach innen die Ontologie eines Modells bestimmt ist und welche hermeneutischen Angebote nach außen gemacht werden. Modelle sind jedoch nicht nur durch ihre inneren Strukturen bestimmt, sondern gewinnen ihre Gestalt auch durch ihren Kontext, in den sie eingebettet sind. Im Kontext der Dogmatik wird dies besonders anhand des Verhältnisses eines Modells zu dem Locus, dem es entspringt, und welcher dessen genuinen Sitz im Leben spezifiziert. Bspw. hat die Zwei-Naturen-Lehre eines substanzontologischen Modells ihren genuinen Ort in der Christologie, welche die äußere Struktur für die Hermeneutik von dessen Symbolen bereitstellt. Gleichermaßen können Modelle selbst zu verbindenden Strukturen verschiedener Kontexte werden, sofern Denkformen, die sich aus einem bestimmten Locus etabliert haben, auch in anderen dogmatischen Loci Plausibilität in Anspruch nehmen können. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird dieser Umstand dazu genutzt, um Modelle im Kontext anderer Loci zu rekonstruieren und sie dann für eine materiale Eschatologie zu nutzen. Dies ist jedoch keine methodische Besonderheit der vorliegenden Arbeit. Vielmehr ist eine solche Ortsverfremdung ein grundlegendes Merkmal der Arbeit mit Modellen. So hebt auch Wendler hervor, dass »Perspektiven- und Kontextwechsel auf Modelle als elementare Bestandteile der Modellierung« zu würdigen sind.19 Diese Perspektivwechsel äußern sich hier in Form einer produktiven Suche nach erlösungstheologisch relevanten Modellen an dogmatischen Orten, die klassischerweise von der Eschatologie getrennt behandelt werden. Modelltheoretisches Denken ist also ein leistungsstarkes Instrument um den eingangs skizzierten Herausforderungen gegenwärtiger Erlösungstheologie gerecht zu werden. Es ermöglicht ein kontrolliertes Vorgehen im Umgang mit der Mannigfaltigkeit christlicher Hoffnungssymbole und kann sowohl auf Mikrowie auf Makroebene Konsistenzen als auch Spannungen identifizieren und systematisch beschreiben. Systematisch-theologisches Denken, das sich der Tatsache der inneren Pluralität wie Komplexität christlicher Lebensformen in der Spätmoderne stellen möchte, wird nicht umhin kommen, implizite wie explizite Hoffnungstheologien als Modellkonstellationen zu würdigen. Die theologische Artikulation der Hoffnung auf die Erlösung von dem Bösen kann hier nicht nur auf einen reichen Fundus theologischer Traditionen zurückgreifen, sie kann im Gespräch mit diesen anspruchsvollen Traditionen neue Modellierungen hervorbringen, die die christlichen Erlösungshoffnungen in ihrer Validität zur Geltung bringen. 19
Vgl. Wendler, Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, 83.
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0.3 Zugänge zur Eschatologie Karl Barths Eine modelltheoretisch verfahrende Untersuchung zur christlichen Erlösungshoffnung kann – nimmt sie den oben beschriebenen Doppelcharakter von Modellen ernst – nur im Sinne einer rekonstruierenden und zugleich konstruktiven Denkbewegung vonstattengehen. Modellierungen werden selten von Grund auf neu vorgenommen, sondern schließen insbesondere in der Theologie zumeist an Modellkonstellationen an. Geeignete Modellkonstellationen mit hinreichender Komplexität verkörpern solche Denk- und Suchbewegungen und eignen sich daher besonders für das Weitermodellieren und die Entwicklung geeigneter Artikulations- und Argumentationsformen für die theologische Wissensproduktion. Die vorliegende Studie behandelt die Theologie Karl Barths als eine solche Konstellation. Nicht nur die diachrone Denkentwicklung des Schweizer Theologen im Ganzen, sondern auch die Texte aus derselben Schaffensphase zeugen von anspruchsvollen Suchbewegungen, die dem Erlösungsthema nachspüren. Barth hat sich in den verschiedenen Phasen seines Wirkens mit der christlichen Erlösungshoffnung beschäftigt und diese mit variierender Prominenz explizit zu einem Zentralthema seiner Theologie erhoben. Bekannt ist die programmatische Formulierung aus der zweiten Auflage seines Römerbrief-Kommentars: »Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun«.20 Anhand exemplarischer Forschungspositionen soll im Folgenden gezeigt werden, was diese Zentralstellung der Eschatologie in Barths Werk austrägt, welche Konturen sich bereits in seinen frühen Äußerungen zum Thema ablesen lassen und dass Barth bei der Behandlung erlösungstheologischer Fragen von Anfang an verschiedene theologische Optionen erwägt und exploriert, die mit der oben skizzierten Methodik als Modelle verstanden werden können. Dazu soll im Folgenden zunächst auf die Entwicklungen in Barths früher Theologie geachtet werden. Ein Blick auf die Forschungsgeschichte zu den eschatologischen Denkformen der Kirchlichen Dogmatik soll dann zur Eschatologie des reifen Barth überleiten.
0.3.1 Konturen der Eschatologie in Barths dialektischer Phase Noch vor seinem ersten Römerbriefkommentar weisen Barths Bemerkungen zur Eschatologie eine besondere Affinität zur Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Erlösung auf. In einer kurzen, aber schematisch überzeugenden Studie zur Eschatologie des frühen Barth hat Bruce L. McCormack auf verschiede-
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Barth, Der Römerbrief , 430.
Zugänge zur Eschatologie Karl Barths
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ne Akzentuierungen und Denkformen im Frühwerk Barths hingewiesen, welche dieses Verhältnis bestimmen.21 McCormack zeigt anhand von vier Beiträgen aus den Jahren 1915–16,22 dass Barth bereits in dieser frühen Phase, in der sich der Schweizer Theologe intensiv mit der sozialistischen Bewegung auseinandersetzt, mit der Vorstellung einer steten Transformation der Geschichte gebrochen hatte. Die Prägung durch Christoph Blumhardt lenkte bereits seine frühe Eschatologie in die Bahnen einer disruptiven Vorstellung, die mit der Reich-Gottes-Hoffnung eine Überwindung aller irdischen Hoffnung verband: Barth’s eschatology in this period was »realistic« in the sense that he understood God’s reign in terms of an invasive activity originating from a point beyond or outside the world. [...] The Kingdom of God is no mere improvement upon this world but a »break-through« of its existing order.23
Das Reich Gottes erscheint daher in dieser frühesten Phase noch als ein Symbol für eine negative Eschatologie, das vor allem den Abbruch aller menschlichen Reiche bedeutet. Die Diastase von Gott und Mensch, die sich bereits in Barths Zeit in Safenwil ab 1915 andeutet, macht sich daher auch in Bezug auf die Unterscheidung von Geschichtstheologie und Eschatologie bemerkbar. Die Erlösung als das Kommen des Reiches Gottes ist nach Barths Vorstellung – und hierzu tragen sicherlich die Erfahrungen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ihren Teil bei – nicht die Transformation oder Vollendung, sondern die Überwindung der Geschichte des Menschen. Obwohl sich damit bereits entscheidende Weichenstellungen für die sog. dialektische Phase im Denken Barths ankündigen, weist McCormack darauf hin, wie stark die Christologie dieses Denkens von einer prophetischen Denkform geprägt ist: »For the earliest dialectical Barth [...] Jesus certainly points to the coming Kingdom, He bears witness to the activity of God which will bring it. And in this very limited sense, He is its beginning, its inauguration. But He is in no sense its realization in time«.24 Im Tambacher Vortrag von 1919 identifiziert McCormack dann nicht nur eine Verschiebung in der Gott-Welt-Relation in Barths dialektischer Theologie, 21
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Vgl. McCormack, »Longing for a New World: On Socialism, Eschatology and Apocalyptic in Barth’s Early Dialectical Theology«; zur Entwicklung der frühen Theologie Barths und ihren bleibenden Mustern vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus. Barth, »Kriegszeit und Gotteszeit (1915)«; Barth, »Religion und Sozialismus (1915)«; Barth, »Auf das Reich Gottes warten (1916)«; Barth, »Die neue Welt in der Bibel (1917)«. McCormack, »Longing for a New World: On Socialism, Eschatology and Apocalyptic in Barth’s Early Dialectical Theology«, 137. Zur Theologie von Christoph Blumhardt und der seines Vaters Johann Christoph Blumhardt vgl. Sauter, Die Theologie des Reiches Gottes beim älteren und jüngeren Blumhardt. McCormack, »Longing for a New World: On Socialism, Eschatology and Apocalyptic in Barth’s Early Dialectical Theology«, 138.
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sondern beobachtet ebenfalls einen erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel, der für Barths Eschatologie große Bedeutung gewinnt: Als zugleich epistemologischer und kosmischer Wendepunkt stellt die leibliche Auferstehung einen »archimedische[n] Punkt« allen Denkens über Gott dar,25 von wo aus Gott die Welt nicht nur neu bewertet, von der aus sich die Welt nicht nur in einem anderen Licht sehen und von Gott unterschieden verstehen muss, sondern von der aus Gott selbst die ganze Welt bewegt. Damit lässt sich zeigen, dass auch die Christologie des frühen Barth nicht nur kritische, sondern bereits eine kosmischtransformatorische Bedeutung hat. McCormack stellt daher für den Barth von 1919 heraus: »And Barth was by now convinced that God has already done what was necessary – that God has Himself re-established the lost relationship – in the bodily resurrection of Jesus Christ from the dead«.26 Was MacCormack als eine Verschiebung in der frühesten Phase von Barths theologischem Denken identifiziert, fußt auf der Beobachtung von zwei verschiedenen Denktypen, die sich in dieser Zeit bei Barth nachweisen lassen: Es lässt sich einerseits eine Blumhardtsche Apokalyptik und andererseits eine eher Paulinische Denkform nachweisen, die dann in der zweiten Auflage des Römerbriefkommentars von 1922 ihre Hochphase hat.27 Ob man diese Verschiebungen nun als diachrone Entwicklungen auf sehr engem Zeitraum oder aber als eine Parallelführung zweier Modelle interpretiert, die auch in späteren Werken Barths immer noch eine gewisse Präsenz behaupten – mit McCormack lässt sich bereits für Barths früheste theologische Entwicklungen eine erste Variation im Zugang zur Eschatologie nachweisen. Eine weitere Spannung in Barths früher Theologie lässt sich bei genauerer Betrachtung in der Entwicklung zwischen der ersten und der zweiten Auflage seines Römerbriefkommentars nachweisen. Gregor Etzelmüller hat auf diese in seiner Untersuchung zur Gerichtseschatologie Barths hingewiesen: Im Hinblick auf die Sprachgestalt der beiden Römerbriefkommentare Barths von 1919 und 1922 unterscheidet er zwischen einer organischen in der ersten und einer apokalyptischen Metaphorik in der zweiten Auflage.28 In der Auflage von 1919 dominiere Etzelmüller zufolge das dialektische Ineinander von Weltgeschichte und Gottesreich, wobei letzteres im Prozess eines »organischen Wachsens« begriffen ist. Selbstredend ist damit kein Fortschrittsoptimismus gemeint: »Es geht 25 26 27
28
Vgl. Barth, »Der Christ in der Gesellschaft (1919)«, 575. McCormack, »Longing for a New World: On Socialism, Eschatology and Apocalyptic in Barth’s Early Dialectical Theology«, 141. Barth, Der Römerbrief ; zur Bedeutung Blumhardts für die Theologie Barths vgl. Collins Winn, Jesus Is Victor!; zur Paulusdeutung Barths in seinem Frühwerk vgl. Mützlitz, Gottes Wort als Wirklichkeit; zu den paradigmatischen Entscheidungen im Zweiten Römerbrief vgl. Maurer, »Theologische Weichenstellungen in Karl Barths Römerbriefauslegung von 1922«; außerdem zur Entfaltung dieser Dialektik Beintker, Krisis und Gnade. Vgl. Etzelmüller, »... zu richten die Lebendigen und die Toten«, 88.
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Barth immer um beides, zum einen darum, die Unverfügbarkeit dieses Wachstums herauszustellen, zum anderen aber, es als wirklich in Zeit und Raum sich vollziehend zu denken«.29 Dem gegenüber weise Barths zweiter Römerbrief eine stärkere Betonung eschatologischer Diskontinuität auf: »Es geht Barth nun nicht mehr um das Wachsen des Gottesreiches in dieser Welt, sondern um deren Abbruch«.30 Barths Eschatologie wird Etzelmüller zufolge in dieser Phase ganz um den Krisis-Gedanken herum strukturiert, welcher die dialektische Einheit von apokalyptischem Abbruch und der darin liegenden einzigen Hoffnung für diese Welt bildet: »Wo das eine ist, da kann das andere nicht sein. Deshalb steht zwischen der Welt und dem Reich Gottes das Ende aller Dinge«.31 Das kritische Gewicht des zweiten Römerbriefs geht freilich auf Kosten des Ausbleibens einer futurischen Eschatologie, welche die Erlösungshoffnung nicht nur als Abbruch, sondern auch als heilvollen Neuanfang fasst. Nach Etzelmüller ist dies in einer pneumatologischen Unterbestimmung begründet: Da aber in der zweiten Auflage des Römerbriefs diese lebensförderliche Gegenwart des Geistes ausgeblendet wird, ist folglich auch in ihr die Geduld erlahmt, das Kommen Christi zu erwarten. Da angesichts der allein in kritischer Negation betrachteten 1900 Jahre diese Überwindung nicht mehr in der Zeit erwartet werden kann, wird sie in die Erkenntnis verlegt. [...] Deshalb droht in der zweiten Auflage des Römerbriefs die christliche Hoffnung tatsächlich »zu einer Anregung, radikal, aber auch ohne konkrete Hoffnung und Bewegung in ein absolutes Jenseits der Zeit zu blicken, zu verkümmern«.32
Sowohl Gregor Etzelmüller als auch Bruce McCormack zeigen, dass sich in Barths frühen Gehversuchen auf dem Feld der Eschatologie nicht nur biographisch bedingte Feinjustierungen nachweisen lassen, sondern dass diese Verschiebungen den konzeptionellen Rahmen der Eschatologie wie auch deren semantische Ausformung mitbestimmen. Solche Varianzen können mit einer modelltheoretischen Methode in den Blick genommen und als eigenständige Modellierungen ähnlicher Problemstellungen mit unterschiedlichen theologischen Instrumentarien verstanden werden. Mit Blick auf die Hochphase von Barths dialektischer Theologie um 1922 und die weiteren Entwicklungen veranschlagt McCormack über die Verschiebungen 29 30
31 32
Etzelmüller, 84f. Etzelmüller, 88. So auch bereits John C. McDowell, der hier gar von einer »ModellVerschiebung« spricht: »What is decisive is the shift in explanatory model: from one of ›organic growth‹ (or ›process‹, according to Beintker) eschatology to a radically futurist eschatology« (McDowell, Hope in Barth’s Eschatology, 77). Etzelmüller, »... zu richten die Lebendigen und die Toten«, 99. Etzelmüller, 102 mit Verweis auf Barths Selbstkritik in KD II/1, 717.
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Einleitung
hin zur paulinischen Eschatologie im zweiten Römerbrief weitere Varianten auf dem Weg zur Kirchlichen Dogmatik. In Aufnahme einer Typologie, die er der Paulusforschung um Martinus De Boer entnimmt,33 identifiziert er in der Eschatologie des zweiten Römerbriefs ein kosmologisches und ein juridisches Muster, wobei ersteres 1922 klar überwiegt. Damit zeigt McCormack, dass Barth nicht eine Denkform gegen eine andere austauscht, sondern dass er beide mit unterschiedlicher Gewichtung parallel führt: The forensic element is not altogether lacking here but it has been subordinated to the thought that God’s judgment upon the world – a judgment with cosmic scope, to be sure – has taken place in the death of Christ. And the resurrection of Christ is understood in terms of »new creation« – a turning of the ages from the old world in which alien powers held sway over the world to a »new world« of justice, righteousness and peace.34
Das kosmische Muster, das insbesondere mit der militärischen Metaphorik Barths verbunden sei, bildet nach McCormack die Grundierung für Barths Rede vom Tod aller menschlichen Möglichkeiten am Kreuz und der leiblichen Auferstehung als der Überwindung des Todes und Erlösung dieser Welt. Es rechnet mit der Realität des Bösen, dessen Macht um der Erlösung willen zu brechen sei. Gleichzeitig adressiert das ebenfalls in Barths zweitem Römerbriefkommentar identifizierbare forensische Muster McCormack zufolge das Böse in der Gestalt der menschlichen Sünde, über die hinweg der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott ins Recht gesetzt wird. McCormacks These lautet, dass dieses Verständnis im zweiten Römerbrief wenngleich angelegt, so dort noch nicht hinreichend ausgearbeitet ist. Dies sei erst in der Versöhnungslehre der Kirchlichen Dogmatik der Fall, welche das kosmische Muster grundsätzlich hinter der Forensik der Christologie des gerichteten Richters (KD IV/1) zurücktreten lasse.35 McCormack zeigt mit dieser Beobachtung, dass bereits in Barths zweiter Ausgabe des Römerbriefkommentars von 1922 – und nach einer bereits vollzogenen Abkehr von einer Blumenhardtschen Eschatologie – zwei verschiedene eschatologische Modelle angelegt sind, wobei nur eines davon hinreichend ausgearbeitet 33 34 35
Vgl. de Boer, »Paul and Apocalyptic Eschatology«. McCormack, »Longing for a New World: On Socialism, Eschatology and Apocalyptic in Barth’s Early Dialectical Theology«, 146. Wie besonders Kap. 4 und 5 dieser Studie zeigen werden, ist dieses Urteil McCormacks kritisch zu hinterfragen. Insbesondere in Barths Auslegung der jesuanischen Heilungserzählungen in KD IV/2 sowie in der Entfaltung des prophetischen Amtes in IV/3 lassen sich nicht nur ebenso militärische Sprachformen beobachten; darüber hinaus spielt dort auch die kosmische Komponente in der dort angelegten Erlösungstheologie eine zentrale Rolle. Im Unterschied zu McCormacks Barth-Deutung betont die vorliegende Studie stärker die bleibenden Spannungen in Barths Andeutungen zur Erlösungstheologie, die gerade nicht als werkgeschichtliche Entwicklung oder als kontinuierliche Ablösung einer Denkform durch eine andere zu erklären sind.
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ist. Die erste inhaltliche These für die vorliegende Arbeit ist damit bereits angedeutet, dass sich anhand der Theologie Barths verschiedene solche Zugänge zu einer Rede von der Erlösung von dem Bösen identifizieren lassen. Bereits in der sog. dialektischen Phase sieht sich Barth offensichtlich veranlasst, seine Eschatologie (insbesondere mit Blick auf ihren Geschichtsbezug) nicht nur mehrfach zu variieren, sondern auch auf divergierende Argumentationsmuster zurückzugreifen, die er innerhalb eines Werks parallel führt. Die Pluralität von Zugängen zur Eschatologie lässt sich daher nicht nur als biographische Entwicklung nachvollziehen (bereits diese erweist sich ja – wie mit Etzelmüller und McCormack gezeigt – als nicht ganz einheitlich). Vielmehr ist diese Pluralität ein Hinweis auf Barths Bewusstsein für die Notwendigkeit ganzer Sets an eschatologischen Argumentations- und Denkformen.
0.3.2 Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik Dass zunächst die Vorlesungstätigkeit36 und dann die Arbeit an der Kirchlichen Dogmatik37 für einen Einschnitt in Karl Barths theologischem Denken verantwortlich ist, ist eindeutig. Das systematische Abarbeiten der klassischen dogmatischen Loci in einem architektonisch anspruchsvollen Grundgerüst inklusive einer Vielzahl epochemachender Neujustierungen ist für Barth Anlass genug, die bereits in den 1910er- und 1920er-Jahren theologisch erprobten Zugänge zur Eschatologie einer gründlichen Revision zu unterziehen. Wenngleich der genaue Zeitpunkt des Einschnitts, der den dialektischen vom reifen Barth unterteilt, umstritten ist,38 so besteht weitgehende Einigkeit in der Forschung darüber, dass es diesen Einschnitt gibt. Martin Hailer hat für diesen Einschnitt in Bezug auf die Eschatologie geltend gemacht, dass Barth damit auch eine explizite Kurskorrektur vorgenommen hat: Barth kritisiert in KD II/1, §31.3, dass er im Römerbrief die Ewigkeit Gottes nur als Gottes Nachzeitlichkeit verstanden, also Gott nur als ewige Zukunft gedacht hat. Das allein ist nicht falsch. Es muss aber dazu gedacht werden, dass Gott, so wie er nachzeitlich ist, auch vorzeitlich und überz eitlich ist [...]. Für die Gestalt der Rede von der Hoffnung heißt das: Es geht nicht nur um das Hoffen auf das völlig unausdenkbare Reich Gottes, es gilt »mit seinem Kommen als solchem ganzen Ernst zu machen«.39 36 37 38 39
Asprey, Eschatological Presence in Karl Barth’s Göttingen Theology. Barth, Die Kirchliche Dogmatik (Bände I/1–IV/3). Vgl. von Balthasar, Karl Barth; McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus und Hunsinger, Karl Barth lesen. Hailer, »Hoffnung für die Welt«, 389 mit Verweis auf KD II/1, 716. Vgl. zu diesem Zitat auch Oblau, Gotteszeit und Menschenzeit: Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, 119–129.
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Einleitung
Was Barth in der Gotteslehre der Kirchlichen Dogmatik programmatisch ausruft, wird erst mit der Erwählungslehre konsequent vollzogen: Ab 1942 gewinnt er mit der Rede von der konkreten Selbsterwählung Gottes in der Geschichte Jesu Christi ein theologisches Instrument, um die Zeit-Ewigkeits-Dialektik seiner frühen Phase in die Christusgeschichte als enhypostatische Einheit von Gottesgeschichte und Weltgeschichte zu überführen. Barth gewinnt damit nicht nur einen konstruktiven Zugang zur Geschichte, sondern kann nunmehr mit der Arbeit an eschatologischen Symbolen eine Hoffnungsperspektive beschreiben, die von der Geschichte Jesu Christi als dem ens realissimum des einen Gnadenbundes ausgeht und so zur universalen Verheißung wird. Damit ist aber gegenüber den Suchbewegungen der dialektischen Phase eine theologische Entscheidung gefallen, welche das Feld der Eschatologie so grundlegend neu absteckt, dass sich davon ausgehend eine ganze Reihe neuer Themenkomplexe eröffnet.40 Bezeichnenderweise konzentrieren sich daher alle Untersuchungen zur Eschatologie des späten Barths vorwiegend auf die Bände II–IV der Kirchlichen Dogmatik. In seiner grundlegenden Studie Gotteszeit und Menschenzeit hat Gotthard Oblau die Eschatologie Barths trotz der ungeschriebenen Erlösungslehre anhand der übrigen Bände der Kirchlichen Dogmatik analysiert. Oblau geht dabei vorwiegend problemorientiert vor, indem er die Spuren von Barths Eschatologie in den geschriebenen Bänden unter dem Aspekt der Zeitlichkeit ordnet. Oblau weist insbesondere anhand von Barths Anthropologie nach, wie dieser gegenüber existentiellen, chronistischen, mythischen und instrumentellen Zeitbegriffen einen christologischen Zeitbegriff gewinnt, womit er die Spannung aus Singularität des Christusereignisses und Universalität von dessen Heilsbedeutung entfaltet. Diese Spannung bestimmt dann auch seine Grundlegung zur Eschatologie Barths im zweiten Teil der Studie.41 Darin schließt er an Barths Rede von der dreifachen Parusie an, wobei er die Parallelführung von axiologischen und teleologischen Mustern beobachtet. Der Geschichtsbezug dieser Eschatologie äußert sich nach Oblau in der Entfaltung einer »Subjektivität des Seins, Wollens und Tuns der durch ihn [sc. Jesus Christus] Berufenen und diversifiziert sich in die Mannigfaltigkeit persönlichen, geschichtlichen und kulturellen Seins von Christen zu allen Zeiten und Orten«.42 Indem Oblau den multiplen Dimensionen der Zeitlichkeit in Barths Spätwerk Beachtung schenkt, gelingt es ihm, die komplexen Verbindungen von Schöpfungstheologie (insbesondere Anthropologie), Versöhnungslehre und Erlösungslehre nachzuzeichnen. Was aufgrund der zeitlichen Strukturierung 40 41
42
Vgl. McDowell, »Learning Where to Place One’s Hope«. »Versöhnungslehre und Eschatologie beleuchten bei Barth jeweils eine besondere Beziehung zwischen dem Einen und den Vielen« (Oblau, Gotteszeit und Menschenzeit: Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, 265). Oblau, 269.
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bei Oblau freilich offenbleiben muss, ist die Frage, wovon das Heilswerk eigentlich erlöst. Barths Chiffren vom Nichtigen und den Mächten werden von Oblau – trotz der sorgfältigen Beachtung von Barths militanter Semantik eines fortschreitenden Kampfes in der endzeitlichen Geschichte43 – nicht weiter decodiert. Und so hat Oblau für die Eschatologie Barths zwar den Zusammenhang von vergehender und neuer Schöpfung im Blick; was die konkrete transformatorische Hoffnung auf die Erlösung von dem Bösen angeht, bleiben jedoch Fragen offen. Diesem Problem hat sich Gregor Etzelmüller in seiner Arbeit zur Rede vom Jüngsten Gericht bei Barth gewidmet, der anders als gängige Interpretationen des Gerichtsgedankens gegenüber deren reiner Krisis-Fokussierung den tröstenden Aspekt von Barths Rede vom Gericht hervorgehoben hat.44 Gegenüber der in der Zeitstruktur begründeten Betonung der Kontinuitäten bei Oblau gilt Etzelmüllers Augenmerk den notwendigen und heilsamen Diskontinuitäten in der Eschatologie. Etzelmüllers Rekonstruktion der Gerichtstheologie Barths ist daher von einer anderen analytischen Struktur geprägt als die Arbeit Oblaus. Indem er seine Interpretation Barths entlang des Jüngsten Gerichts als des dogmatischen Symbols für Gottes erlösendes Handeln entwickelt, ist Etzelmüllers Interesse vor allem an juridischen und forensischen Denkformen der Eschatologie gelegen. Dabei lässt sich diese Studie nicht allein von Barths expliziter Gerichtssemantik leiten. Gerade um den tatsächlich erlösenden Aspekt des göttlichen Gerichts und also die rechtsetzenden und um der Entrechteten willen das Recht aufrichtenden Prozesse des eschatologischen Gerichts zur Sprache zu bringen, nimmt Etzelmüller auch Barths Darstellung des königlichen und prophetischen Amtes Jesu Christi aus KD IV/2 und IV/3 auf – Texte, deren Sprache und Argumentationslogik über weite Strecken gerade nicht von einem juridischen Rahmen geprägt ist.45 Etzelmüllers Rekonstruktion der ungeschriebenen Eschatologie Barths bündelt dessen Andeutungen unter dem eschatologischen Symbol des Gerichts, das die Erlösung von dem Bösen als Überwindung des Unrechts denkt. Im Gericht setze »Gott das Lebensrecht seiner Geschöpfe gegen dessen Bedrohung durch das Nichtige durch«.46 Statt eines eschatologischen Symbols steht John C. McDowell vor allem die Verbindung von Eschatologie und Ethik vor Augen.47 Indem er die Eschatologie des späten Barth vor allem über die partizipativen Denkformen des prophetischen Amtes und die Kommunikation der Heilswirklichkeit Jesu Christi im Leben der Christen rekonstruiert, wird für McDowell die Hoffnung zum entscheidenden 43 44 45 46 47
Vgl. Oblau, 286–291. Vgl. Etzelmüller, »... zu richten die Lebendigen und die Toten«, 321–323. Außerdem Etzelmüller, »Realistische Rede vom Jüngsten Gericht« und Etzelmüller, »Gericht predigen«. Zur weiteren Auseinandersetzung mit Etzelmüllers Zugang zur Eschatologie des späten Barth vgl. Kap. 3.3.2. Etzelmüller, »... zu richten die Lebendigen und die Toten«, 326. McDowell, Hope in Barth’s Eschatology; außerdem McDowell, »Eschatology«.
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Einleitung
Begriff. Damit verspricht er sich nicht nur eine existentiale Interpretation der Eschatologie, wie er sie bei Barth angelegt sieht, sondern findet mit dieser Hoffnungstheologie im Anschluss an Barth ein Instrument, mit dem sich die Balance zwischen einem allzu naiven Objektivismus und einem relativistischen Subjektivismus,48 wie auch zwischen einer Offenheit der Geschichte und deren drohender Tragik halten lässt. McDowell liefert damit wichtige Impulse, um die ein für alle Mal realisierte Versöhnung in Jesus Christus mit der täglich neuen Hoffnung auf die Erlösung von dem Bösen zu verbinden. In seiner Habilitationsschrift zum eschatologischen Symbol der Neuen Schöpfung hat sich Günter Thomas dem Problem gewidmet, inwiefern das erlösende Handeln nicht nur ein revelatorisches, konservierendes oder restituierendes, sondern auch ein kreatives Wirken ist. In Bezug auf Barths späte Theologie kommt Thomas zu dem Urteil, dass sich dort »trotz anderslautender verstreuter Bemerkungen und semantischer Spuren keine Möglichkeit [bietet], Neue Schöpfung als wirklich neue und zugleich geschöpfliche Existenzform zu denken«.49 Obwohl die Bedrohung der Schöpfung durch das Nichtige auch ein schöpfungstheologisches Problem sei, weist Thomas – im Anschluss an die Beobachtungen Oblaus – darauf hin, dass sowohl Barths Zeittheorie als auch eine Reihe von systematischen Entscheidungen in der Christologie eine Erlösungslehre unter dem Symbol der Neuschöpfung unmöglich machen.50 Etwas zurückhaltender wiederholt Thomas diese Kritik in einem Beitrag auf der Leuenberger Barth-Tagung 2005 zur Eschatologie, worin er die bereits in der Arbeit zur Neuschöpfung angedeuteten produktiven Modellkonflikte bei Barth zu einer spekulativen Prospektion auf die ungeschriebene Erlösungstheologie von KD V ausarbeitet. Die These von Thomas lautet, dass sich in den veröffentlichten Texten der Kirchlichen Dogmatik zwei verschiedene Linien identifizieren lassen, die die Erlösungsthematik auf je unterschiedliche Weise entfalten: Der eine Strang würde angesichts von Barths Schöpfungstheologie auf eine Eschatologie der Chaosüberwindung abzielen, während der versöhnungstheologische Strang stärker auf das Kommen Jesu Christi mithilfe bundestheologischer Kategorien eine »Verewigung des zeitlichen, Verjenseitigung des diesseitigen Lebens« nahelegen würde.51 Gegenüber der überwiegenden Betonung von Anthropologie und Versöhnungstheologie in der Forschungsgeschichte zu Barths Eschatologie spricht sich Thomas für eine eigenständige Würdigung von Barths Schöpfungstheologie bzw. den daraus erwachsenden Fragestellungen aus. Die für die vorliegende Studie wichtigste Erkenntnis Thomas’ ist, dass es sich bei versöhnungstheologischer und schöp48 49 50 51
Vgl. McDowell, »Karl Barth, Emil Brunner and the Subjectivity of the Object of Christian Hope«. Thomas, Neue Schöpfung, 196. Vgl. Thomas, 196–207. Thomas, »Chaosüberwindung und Rechtsetzung: Schöpfung und Versöhnung in Karl Barths Werk«, 265.
Zur Entwicklung eines modelltheoretischen Ansatzes für die Eschatologie
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fungstheologischer Linie um zwei eigenständige, nicht ohne weiteres zu synthetisierende Modellentwicklungen handelt, die sich von Barth ausgehend und dennoch über ihn hinaus weiterentwickeln lassen.52 Dieser Überblick über die Forschungsgeschichte zur Erlösungstheologie Karl Barths im engeren Sinne zeigt, dass sich nicht nur verschiedene Untersuchungsmuster zur Rekonstruktion der ungeschriebenen Eschatologie Barths eignen, sondern auch verschiedene Andeutungen zur materialen Ausgestaltung des Erlösungsthemas bei Barth nachweisbar sind, die sich jedoch nicht mit allen Analysemitteln gleichermaßen identifizieren lassen. Was für eine Erlösungstheologie beim späten Barth zu rekonstruieren ist, scheint entscheidend davon abhängig, innerhalb welcher Denkmuster bzw. Modelle diese entfaltet wird. Dieser Variantenreichtum ist nicht einfach mit der Vielzahl interpretierender Perspektiven zu begründen, sondern ist bereits in Barths Theologie angelegt, die ihre eigene erlösungstheologische Suchbewegung dokumentiert. Darauf aufbauend lässt sich eine grundlegende These dieser Arbeit formulieren: Barths Andeutungen zur Erlösungstheologie können in ihrer polyphonen Rationalität gewürdigt werden, wenn sie – über die bisherige Forschung hinausgehend – konsequent anhand der strukturellen Bedingtheiten vorfindlicher Denkmodelle verstanden werden. Die vorliegende Studie arbeitet daher auf der Grundlage der oben skizzierten Modelltheorien. Im Folgenden ist genauer auf dieses Verfahren einzugehen, um zu zeigen, worin der spezifische Gewinn einer Analyse erlösungstheologischer Modelle im Anschluss an Karl Barth für die gegenwärtige Theologie liegt.
0.4 Zur Entwicklung eines modelltheoretischen Ansatzes für die Eschatologie Diese Studie verfolgt zwei Grundinteressen, die miteinander verbunden sind: Sie sucht erstens nach einem Instrumentarium, die Mannigfaltigkeit christlicher Hoffnungsvorstellungen theologisch zu erfassen. Wie in 0.2 gezeigt wurde, eignet sich besonders ein modelltheoretisches Verfahren dafür, dieses systematischtheologische Problem zu adressieren. Als Ausgangsmaterial für das Modellieren – das stets zwischen Rekonstruktion und Konstruktion changiert – ist für diese Studie zweitens die späte Theologie Karl Barths gewählt, welche trotz der ungeschriebenen Erlösungstheologie eine vitale Suchbewegung nach geeigneten Zugängen zur Erlösungsthematik dokumentiert. Die bis dahin geschriebenen Bände der Kirchlichen Dogmatik lassen sich als eine Modellkonstellation ver52
Entsprechende Doppelstruktur hebt Thomas nicht nur für die Eschatologie, sondern ebenso in Bezug auf die Hamartiologie und die Wirklichkeit des Bösen in Form des Nichtigen hervor (vgl. Thomas, »Sin and Evil«).
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stehen, auf deren Grundlage verschiedene, zueinander in Spannung stehende, erlösungstheologische Modelle nicht nur rekonstruiert, sondern auch für die gegenwärtige Theologie weitergedacht werden können. Die vorgestellte Methodik adressiert also beide Anliegen dieser Arbeit: Den Nachweis, inwiefern Modelltheorie einen hinsichtlich der Pluralität christlicher Hoffnungsvorstellungen adäquaten Zugang darstellt, sowie die Entwicklung eines Verfahrens, das für die Theologie Barths neue Erkenntnisse liefern und diese im Zusammenhang darstellen kann. Das Vorgehen, wie dies geschehen kann, soll im Folgenden kurz skizziert werden.
0.4.1 Die Modellkonstellation der Kirchlichen Dogmatik als materialer Ausgangspunkt Ob im architektonischen, industriellen oder wissenschaftlichen Kontext: Modelle treten überwiegend in der Mehrzahl als Modellkonstellation auf. Sie lassen sich damit als Cluster identifizieren, die sich entweder wechselseitig stützen, oder sich als alternative Modelle wechselseitig komplettieren, indem sie die Reduktionen der jeweiligen anderen kompensieren. In eben diesem Sinne soll in dieser Studie die Theologie Karl Barths als eine solche Modellkonstellation verstanden werden, wobei verschiedene Modelle zueinander in Spannung treten können, wenn sich ihr genuiner Gegenstandsbereich überlappt. Wendler stellt in diesem Zusammenhang die besonderen Effekte heraus, die aus solchen Konstellationen hervorgehen: In vielen Modellkonstellationen treten spezifische Effekte auf, weil nicht nur ein einziges Modell betrachtet und behandelt wird [...], sondern mehrere und weil diese sich aufeinander beziehen, sich destabilisieren und bestätigen, sich ergänzen und widersprechen.53
Meine These für die späte Theologie Barths lautet, dass es sich hierbei um eine solche Modellkonstellation handelt, die es sich unter modelltheoretischen Gesichtspunkten zu untersuchen lohnt: Karl Barths Theologie lässt sich nicht auf ein Denkmodell, eine Denkfigur bzw. ein fundamentaltheologisches Prinzip reduzieren. In Bezug auf dessen ungeschriebene Erlösungstheologie hat eine solche Hermeneutik dahingehend Konsequenzen, dass sie sich nicht als ein einheitliches Gebilde rekonstruieren lässt. Stattdessen gilt es, die für diesen Topos relevanten und im Textbestand der Kirchlichen Dogmatik identifizierbaren Modelle in ihrer Spannung zueinander zur Geltung kommen zu lassen. Die mit Wendler herausgestellte grundsätzliche Produktivität von Modellen ist einerseits der Grund, warum der für diese Studie beschrittene Weg zur Rekonstruktion der Erlösungstheologie(n) Karl Barths ein modelltheoretisch basierter 53
Wendler, Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, 127.
Zur Entwicklung eines modelltheoretischen Ansatzes für die Eschatologie
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Weg sein muss: Soll der Versuch einer solchen Rekonstruktion nicht allein als spekulatives Unternehmen bestritten werden, so muss ein methodisch kontrollierbares Instrument gefunden werden, wodurch die systematischen Linien der Theologie Barths um einer materialen Entfaltung willen als systematische Vektoren verstanden werden, denen nachgegangen werden kann. Dies wird dadurch erreicht, dass der Textbestand von Barths Opus magnum auf eben solche theologischen Modelle hin untersucht werden soll, deren Strukturen wie auch deren produktive Unvollständigkeiten analysiert und weitermodelliert werden können. Analog zur empirischen Pluralität von Hoffnungsvorstellungen gelebter Religiosität lassen sich auch bei Barth eine Vielzahl an Modellen identifizieren, die für eine materialdogmatische Entfaltung der Erlösungstheologie relevant sind. Bereits das Forschungsdesign dieser Arbeit versucht daher einer drohenden Dominanz eines Modells entgegenzuwirken, indem es eine epistemologische und materiale Pluralität zum Ausgangspunkt nimmt. Außerdem können mit diesem Verfahren identifizierte Modelle auf ihre eigene Fragmentarizität hin untersucht werden. Keine der in dieser Arbeit thematisierten Modellkonstruktionen kommt ohne ein diesen inhärentes Spannungs- oder gar Dekonstruktionspontential aus. Eine Beschäftigung mit der Theologie Karl Barths kann daher nicht umhin, selbst modellierend und also konstruktiv zu sein. An vielen Stellen wird dies in dieser Arbeit vor allem durch die Auswahl und die spezifische Zusammenschau des Materials geschehen. Wo es nötig ist, werden jedoch Wege gesucht, die jeweiligen Modelle entsprechend der modellinhärenten Rationalität zu variieren. Damit lässt sich rechtfertigen, dass an manchen Stellen gerade mit Barth auch gegen Barth votiert werden muss – und zwar vielfach nicht nur aufgrund eines bestimmten (z.B. dialektischen oder christozentrischen) Erkenntnisparadigmas, sondern aufgrund der vorangehenden Modellierung des Materials bei Barth selbst. Eine modelltheoretisch basierte Untersuchung der Eschatologie Karl Barths kann damit über ein ausschließlich problemorientiertes Verfahren hinausgehend die Tragweite der mit einem spezifischen Modell zu bearbeitenden theologischen Probleme überhaupt erst freilegen. Damit können jeder Untersuchung notwendigerweise zugrundeliegende Vorannahmen hinsichtlich des zu bearbeitenden Problems auf ein Mindestmaß reduziert werden. Gleichzeitig erfordert daher auch die Analyse jedes Modells eine immer wieder neue Verständigung darüber, was in diesem Modell als erlösungstheologisches Problem adressiert werden kann. Dies lässt sich anhand der eingangs beschriebenen Minimalbestimmung der Erlösung von dem Bösen konkretisieren. Denn mit jedem Modell gewinnt nicht nur das, was unter Erlösung zu verstehen ist, eine neue Bestimmung. Auch das, was durch die spezifische Modellierung als Böses artikulierbar wird, muss stets aufs Neue untersucht werden.
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Dieses Vorgehen provoziert einen Einspruch, der auf der Hand liegt: Barth hat selbst keine Modelltheorie betrieben. Auch erscheint die Rekonstruktion verschiedener Modelle eher der Versuch einer Eisegese denn einer Interpretation der intentio auctoris zu sein. Eine Analyse der Modelle Karl Barths stellt daher einen methodischen Anachronismus dar, der einem komplex komponierten Gesamtgefüge, wie es die Kirchliche Dogmatik darstellt, ein analytisches Werkzeug gegenüberstellt, welches die zum Teil von Barth selbst explizit angezeigten und zum Teil latenten Voraussetzungen und Konsequenzen seiner Theologie herauszuarbeiten vermag. Damit kommt eine solche modelltheoretisch basierte Untersuchung zu methodisch kontrollierbaren und theologisch begründeten Aussagen, die der ursprüngliche Initiator des Textbestandes (d.h. Barth selbst) in dieser Weise nicht ausdrücklich machen würde, die sich aber entlang der rekonstruierten Modelllogiken ergeben und validieren lassen.
0.4.2 Modellanalytik auf Meso-Ebene Modelle liegen daher zwischen Rekonstruktion und Konstruktion einer Heuristik, die sich anhand eines Textbestandes validieren lassen. Ein gewichtiger Teil dieser Arbeit folgt daher einer hermeneutischen Methode, die Textkomplexe von Karl Barths Kirchlicher Dogmatik im Sinnzusammenhang erschließt. Ein solcher Sinnzusammenhang kann jedoch nicht einfach als gegeben – ob theologiegeschichtlich oder werkgenetisch begründet – angenommen werden; er ist vielmehr selbst in einen sinnproduzierenden Prozess eingebunden. Auch die theologische Arbeit mit Modellen impliziert daher immer Momente des konstruktiven Modellierens, dessen Validität an seinem Gegenstand zur Prüfung ausgesetzt bleiben. Entscheidend ist, auf welcher Ebene diese Prüfung vollzogen wird. Die vorliegende Arbeit ist keine Rekonstruktion der Eschatologie Barths. Ein solches Vorgehen wäre nach meinem Verständnis eine falsche Abstraktion auf Makro-Ebene, sofern es die vielfältigen und mehrdeutigen Ansätzen zur Eschatologie im vorhandenen Textbestand der KD auf ein Modell zurückzuführen versuchte.54 Sie wäre in einem klassischen Sinne als systematisch zu bezeichnen, würde jedoch die produktiven Spannungen, die sich eindeutig bei Barth identifizieren lassen, glätten oder gar verkennen. Die Alternative zu diesem Vorgehen bestünde umgekehrt aus Mikro-Abstraktionen, die die Einzelaussagen zur Erlösungstheologie Barths so gewichten, dass sich dadurch jeder systematische Zusammenhang verbietet oder aber das Textmaterial als mannigfaltige 54
So z.B. Georg Pfleiderer, welcher die Theologie Barths mithilfe eines modernitätstheoretischen Grundmodells untersucht und damit zur Folge kommt, dass »Karl Barths Theologie die äußerst konsequente, theologische Form einer praktisch-pragmatisch gewendeten Transzendentalphilosophie neukantianischer Prägung« darstellt (Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie, 459).
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Einzelzeugnisse einer mehr oder weniger linearen Erkenntnisentwicklung zu verstehen sind, die zwar von einem biographischen aber nur noch schwach. von einem systematischen Zusammenhang geprägt sind. Dieses Vorgehen würde auf einer Mikro-Ebene von den zusammenhängenden Argumentationsmustern und rationalen Kontinuitäten abstrahieren. Diese Studie geht einen dritten Weg, indem sie die identifizierten Modelle als Abstraktionen auf Meso-Ebene versteht und damit das Anliegen einer nach Systematisierbarkeit der Theologie Barths strebenden Makro-Abstraktion mit dem Anliegen einer textnahen Mikro-Abstraktion, das der Pluralität und den faktischen Varianzen des Erlösungsthemas bei Barth, verbindet. Dieses Vorgehen ist von folgenden methodischen Parametern gekennzeichnet: Textbezug Als Ausgangspunkt eines jeden Kapitels, das sich die Analyse je eines Modells zur Aufgabe macht, steht ein nach auszuweisenden Kriterien ausgewählter Textbestand, der einerseits durch eine hohe systematische Kohärenz geprägt ist, der andererseits aber von hinreichender Komplexität und repräsentativem Umfang ist. Jedes Modell basiert daher auf einer Rekonstruktion, die sich einer belastbaren Textgrundlage annimmt. Die Herausforderung dieses Verfahrens ist daher, dass die Untersuchung der Textgrundlage eine adäquate Tiefe erreichen muss, um der Eigenkomplexität des jeweiligen Modells gerecht zu werden. Verdichtungen Auch wenn der Textbestand eines jeden Modells einem bestimmten Locus bzw. einem KD-Band zuzuordnen ist, lässt sich leicht nachweisen, dass jedes der fünf Modelle nicht nur dort, sondern auch an anderen Orten zur Verwendung kommt. Eine Modellrekonstruktion ist daher nicht nur in diesem Mikro-Kontext des jeweiligen dogmatischen Locus zu verstehen, sondern repräsentiert einen Typus, der weite Teile des Gesamtwerks Barths prägt. Die Konzentration auf zumeist einen Locus rührt daher, weil bestimmte Modelle an bestimmten dogmatischen Orten von Barth in besonders verdichteter Weise dort entwickelt werden. Abgrenzbarkeit Wenngleich Barth selbst nicht von Modellen spricht, sind die mit diesem Verfahren gewonnenen Denkkomplexe einerseits sehr deutlich am Text nachweisbar und andererseits in der daran anschließenden Analyse klar voneinander abgrenzbar. Sie führen zu unterschiedlichen theologischen Gewichtungen und Konsequenzen in Zentralproblemen der Eschatologie (Geschichtsbezug, eschatologische Transformation, Diskontinuitäten/Kontinuitäten, Machttheorie, etc.). Darüber hinaus ist auch zu zeigen, dass die epistemologischen Konstruktionsbedingungen verschieden gelagert sind und sich auf sinngebende Weise ergänzen, aber auch wechselseitig befragen.
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Einleitung
Binnenkohärenz Barths Theologie als Ganze ist eine komplexe Modellkonstellation. Die in dieser Arbeit herausgearbeiteten Modelle stellen daher Meso-Abstraktionen der Theologie Barths dar, die zwar nicht nach einem systematischen Überbau für die Eschatologie Barths suchen, aber dennoch über ihre systematische Binnenkohärenz auskunftsfähig sind. Die Herausforderung ist daher, dass die Untersuchung eines jeden neuen Modells in eine neue Rationalität führt, auf die es sich in ihrer Eigenlogik zunächst einzulassen gilt. Evaluierbarkeit Als Meso-Abstraktionen werden die Modelle in Barths Theologie nicht nur als zu rekonstruierende Denkformen interessant, sondern können zudem als Ausgangspunkt für weitere theologische Denkentwicklungen dienen. Somit können auch problematische Tendenzen, Engführungen oder gar theologische Fehlentwicklungen bei Barth selbst präzise identifiziert und kontrolliert optimiert werden. Für diese Schritte konstruktiver Evaluierung der identifizierten Modelle stellt jedes Modell selbst bereits ein Set an Kriterien bereit, mithilfe derer eine konstruktive Ausweitung des jeweiligen Modells zu einer materialen Erlösungstheologie vollzogen werden kann. Validierbarkeit Die Auseinandersetzung mit einer so anspruchsvollen Modellkonstellation, wie sie die Kirchliche Dogmatik Barths darstellt, kann sich differenziert mit der Wahrheitsfrage beschäftigen, indem sie nach Möglichkeiten der Validierung sucht. Dies geschieht in der vorliegenden Arbeit dadurch, dass jedes Modell auf naheliegenden Anschlussstellen für kulturhermeneutische, sozialtheoretische und/oder bereichsethische Debatten befragt werden kann.55 Damit kann gezeigt werden, dass eine materiale Entfaltung der Eschatologie im Anschluss an ein jedes Modell über den binnendogmatischen Diskurs hinaus für erfahrungsbasierte und lebensnahe Themenkomplexe fruchtbar gemacht werden kann. Hoffnung auf die letzten Dinge impliziert eine Orientierung für das Leben im Vorletzten. Die Arbeit am Erlösungsbegriff mithilfe einer Mehrzahl an Modellen, die als Meso-Abstraktionen auf den konkreten Textbestand der Kirchlichen Dogmatik zurückgeht, aber zugleich auf die teilautonome und anschlussfähige Rationalität dieser Modelle drängt, kann nicht nur der Komplexität der Sache, sondern auch der Komposition von Barths Opus magnum selbst besser gerecht werden. Der Sache darum, weil damit der Pluralität eschatologischer Symbole der Sprache des christlichen Glaubens selbst mehr Rechnung getragen werden kann als es die 55
Was Christofer Frey für Barths Anthropologie geltend macht, dass sie »sich gerade gegenüber empirischen Wissenschaften (in unsystematischer Weise)« offen zeigt (Frey, Die Theologie Karl Barths: Eine Einführung, 260), macht sich diese Studie mit exemplarischen Verbindungen zu Diskursen außerhalb der Dogmatik und dezidiert nicht-theologischen Debatten zunutze.
Zur Entwicklung eines modelltheoretischen Ansatzes für die Eschatologie
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Reduktion auf ein Meta-Modell vermag. Dieses Vorgehen ist aber auch gegenüber Barth angemessen, da es dessen Theologie als theologische Suchbewegung zu würdigen vermag, die sich darauf einlässt, sich den Kernproblemen theologischer Wahrheitssuche durch multiple Vereindeutigungen immer wieder neu anzunehmen. Barths Theologisieren, verstanden als Modellierung, kann damit selbst zur Modellierung einer pluralismusfähigen Eschatologie anleiten: In durchaus systematischer Weise wird bei solchen Modellierungen [...] eine Situation geschaffen, in der durch die Vielzahl der Modelle ein »Mangel an Bestimmtheit in einen Überschuss an Sinn« umzuschlagen vermag.56
Um dieses Überschusses auf wissenschaftlich kontrollierte Weise Herr zu werden, geht diese Arbeit daher das Wagnis ein, die für die Erlösungstheologie relevanten Modelle gesondert zu betrachten. Die Herausforderung dieser Arbeit ist daher primär, die Konstellation mehrerer ineinander verflochtener Modelle in Barths Kirchlicher Dogmatik in eine Typologie erlösungstheologischer Modelle zu transferieren. Die damit in Kauf genommene Unschärfe, dass manche belasteten Aussagen im Textzusammenhang, durch andere Textstellen im Sinne der intentio auctoris mittelfristig zu relativieren wären, wird durch die gewonnene Präzision aufgewogen, mit der die einzelnen Teilrationalitäten der Theologie Barths in diesem Verfahren als fünf Zugänge zu einer je anderen Erlösungstheologie nach Barth gewürdigt werden können. Das hiermit gewählte Verfahren hat gegenüber bisherigen Interpretationen der Theologie Barths zwei entscheidende Vorteile: Es stellt zum Einen die systematische Binnenkomplexität dieser Theologie bereits methodisch in Rechnung und geht damit über idealistische Rezeptionen hinaus, die Barth grundsätzlich unter einem Paradigma untersuchen. Damit stellt diese Studie sowohl gegenüber subjektivitätstheoretisch operierenden Interpretationen, aber auch gegenüber einer neo-orthodoxen Apologetik, die Barth eine größere Kohärenz unterstellt, als sie die Texte de facto hergeben, einen Erkenntnisfortschritt dar. Zum Zweiten lassen sich mithilfe dieser Methode spezifische Anwendungsund Erprobungsfelder dieser Theologie identifizieren, sofern die rekonstruierten Modelle an unterschiedliche kulturhermeneutische, sozialtheoretische und sogar bereichsethische Problemkomplexe anknüpfen können. So lässt sich jenseits einer allgemeinen Gesellschaftstheorie bzw. Kulturtheologie die Wechselwirkung christlicher Erlösungshoffnungen mit sozio-politischen Debatten aufzeigen.
56
Wendler, Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, 130.
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Einleitung
0.4.3 Ein begründeter Anfangsverdacht: Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen Meine These lautet, dass sich für eine Erlösungstheologie im Anschluss an Barth im Textbestand der Kirchlichen Dogmatik (inkl. der Ethikfragmente) fünf Modelle in belastbar ausgearbeitetem Umfang identifizieren lassen. Dies im Einzelnen nachzuweisen ist zwar für jedes Modell neu in Angriff zu nehmen, jedoch muss an dieser Stelle ein allgemeiner Zugang gewählt werden, der als begründeter Anfangsverdacht für die Identifikation eines solchen für die Erlösungstheologie relevanten Modells dienen kann. Dieser Anfangsverdacht ist außerdem nötig, um die Textauswahl, die für eine solche Analyse in Betracht kommen, methodisch zu rechtfertigen und so in den Erkenntniszirkel von analytischer und konstruktiver Arbeit, der die Arbeit mit Modellen kennzeichnet, begründet einzusteigen. Da der hier verwendete Modellbegriff nicht über eine top-down Definition von Erlösung operiert, sondern eine solche Begriffsbestimmung bestenfalls als Zwischenfazit in jedem Kapitel neu zu fassen ist, ist dieser Anfangsverdacht umso bewusster zu wählen, bildet er doch den Einstiegspunkt und eine vorläufige Eingrenzung der Untersuchung. In ganz anderem Kontext, nämlich der historischen Rekonstruktion von Modellen, weist Reinhard Wendler darauf hin, dass eine solche Rekonstruktion immer aus einem »spekulativen Nachvollzug, bei dem man den historischen auffassungsmäßigen Eingriff versuchsweise nachschafft und überhaupt erst dadurch einen biographierbaren Gegenstand erhält« besteht.57 Nun ist die vorliegende Studie nicht als eine historische Modellbeschreibung angelegt; dennoch gleichen die analytischen Teile aller Kapitel der von Wendler beschriebenen Methode. Denn der von ihm nahegelegte spekulative Nachvollzug muss sich an seinem zu untersuchenden Gegenstand orientieren, wenngleich er als solcher hypothetisch zu bestimmen ist und seiner Bewährung ausgesetzt bleibt. Um dieses spekulative Vorgehen kontrollierbar zu machen, wähle ich für alle Modellrekonstruktionen dieser Studie eine Denkform als Einstiegspunkt, die mit der eingangs erwähnten Grundpolarität der christlichen Erlösungshoffnung als Erlösung von dem Bösen Ernst macht und diese in einen theologischen Zusammenhang stellt. Zum Aufspüren von erlösungstheologischen Modellen sollen daher theologische Komplexe im Werk Barths identifiziert werden, welche Denkmöglichkeiten von Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen anbieten oder unmittelbar auf solche hinweisen. Damit sind grundlegend drei Vorannahmen verbunden, mit denen Erlösungstheologien im Anschluss an Karl Barths Theologie zu identifizieren sind: 1. Mit dem Verständnis von Erlösung als Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen haben demnach alle Modelle Gott als primären Akteur dieses 57
Vgl. Wendler, Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, 136.
Zur Entwicklung eines modelltheoretischen Ansatzes für die Eschatologie
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erlösenden Geschehens vor Augen. Der christliche Glaube hofft auf Gott als den Erlöser der Welt. Diese Vorentscheidung in der Akteursfrage ist dabei nicht allein in einer bestimmten Bekenntnistreue begründet, sondern reflektiert viel mehr einen Grundzug der Theologie Karl Barths, welche die Subjektivität Gottes grundlegend in den theologischen Fokus rückt. Gleichzeitig bedeutet dieser Einstiegspunkt nicht, dass nicht auch andere Akteure – durchaus aktiv – in das Erlösungsgeschehen miteinbezogen sind. Die Frage nach der menschlichen bzw. geschöpflichen Partizipation spielt daher in allen Modellen eine zentrale Rolle. Darüber hinaus ist zu zeigen, wie Gottes Wirken im Hinblick auf die Erlösung trinitarisch auszudifferenzieren ist. 2. Als Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen nimmt die Eschatologie den Erlösungsbegriff mithilfe eines dramatischen Paradigmas ins Visier. Erlösung ist kein Zustand, sondern soll als dramatische Überwindung dessen, was als Böses erfahren und artikuliert wird, verstanden werden. Dramatische Denkformen prägen nicht nur das theologische Gesamtgefüge der Theologie Barths,58 sondern können darüber hinaus auch den spezifisch geschichtlichen Bezug der Erlösungstheologie herausstellen: Dies nicht nur im Hinblick darauf, dass diese Geschichte selbst der Erlösung bedürftig ist, sondern auch dahingehend, dass diese Geschichte selbst in diesen Prozess einbezogen ist und sich – so zeigen dies zumindest einige Modelle – in bzw. als Geschichte vollzieht. Damit ist sowohl ein transformatorischer Prozess wie auch eine Diskontinuität angezeigt, die freilich selbst immer nur vorbehaltlich und bestenfalls antizipatorisch angedeutet werden kann. Sowohl diese geschichtliche Wirklichkeit, als auch die wissenschaftlichtheologischen Mittel ihrer Beschreibung, sind vor-eschatologisch. Auch eine modelltheoretisch basierte Untersuchung, die die Fragmentarizität allen theologischen Denkens bereits im Theoriedesign verankert, ist daher selbst von dieser Dramatik betroffen – dies gilt es nicht zuletzt erkenntnistheoretisch zu berücksichtigen. 3. Erlösung, verstanden als Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen, legt für die Identifikation der für die Erlösungstheologie relevanten Modelle eine agonale Polarität nahe. Damit wird die Eschatologie in einem Spannungsfeld lokalisiert, das die Erlösungsbedürftigkeit der Wirklichkeit an einem negativen Symbol festmacht. Die mit dem Erlösungsgeschehen verbundenen Transformationsprozesse sind daher so zu konturieren, dass sie sich als kritische, d.h. scheidende Prozesse, auf die Schöpfungs- und Lebenswirklichkeit beziehen. Mit dem Symbol des Bösen soll das bezeichnet werden, was der Erlösungswirklichkeit entgegensteht, indem es nicht 58
Vgl. Pietz, Das Drama des Bundes.
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Einleitung
nur dem Willen Gottes widerspricht, sondern auch im geschöpflichen und menschlichen Zusammenleben destruktiv wirkt. In der Beschäftigung mit Barth wird klar, dass Gottes (schöpferischem, versöhnenden und erlösendem) Wirken eine klare Direktion eingeschrieben ist: Barths Theologie ist eine Theologie der Gnade. Dieser Direktion von Gottes Ja entspricht jedoch auch eine Distinktion von Gottes Nein, das sich gegen das wendet, was hier mit dem Symbol des Bösen bezeichnet wird.59 Verschiedene erlösungstheologische Modelle bieten im Einzelnen unterschiedliche Verständnisse mit divergierender phänomenologischer Dichte für diese destruierenden Wirklichkeiten (Nichtiges, Chaos, Sünder, Gewalten); ebenso wie sie auch in unterschiedlicher Weise eine partikulare, transgressive und universale Überwindung dieser Wirklichkeiten beschreiben. Die Agonalität von Erlösung und Bösem ist daher gewissermaßen die Beschreibung eines Problems, dessen Lösung es in der Eschatologie material zu entfalten gilt. Mit diesem dreifach spezifizierten Anfangsverdacht, Modelle über agonal-dramatische Denkformen aufzuspüren, lassen sich bei Barth fünf eigenständige Modelle identifizieren, denen sich in dieser Studie je ein Kapitel ausgiebig widmet. Die folgende Übersicht soll eine erste Orientierung über die den jeweiligen Modellen zuordenbaren eschatologischen Symbole geben und darüber hinaus andeuten, auf welches Malum sich die Dramatik des Erlösungsgeschehens bezieht. Darüber hinaus soll die primäre Lokalisierung einen ersten Überblick darüber geben, welche Texte aus der Kirchlichen Dogmatik eine besondere (aber nicht exklusive) Verdichtung des Modells aufweisen. Modell
Symbol
Böses
Dramatik
Lokalisierung
Vollendung
Nichtiges
Neuschöpfung
Chaos
Vorsehungslehre (KD III/3) Schöpfungslehre (KD III/1)
III
Gericht
Mensch als Sünder
IV
Reich Gottes
Unmenschlichkeit bzw. herrenlose Gewalten
Allmächtige Providenz Chaosbegrenzung u. -überwindung Stellvertretendes Gericht (Rechtfertigung) Realisierung von Humanität (Heiligung)
V
Offenbarung
Finsternis
I II
59
Erleuchtung (Berufung)
Priesterliches Amt (KD IV/1) Königliches Amt (KD IV/2) und Reich-GottesBitte (CL) Prophetisches Amt (KD IV/3)
Entsprechend betont Hailer die Bedeutung dieses Symbols für die Eschatologie Barths: »Die Existenz widergöttlicher Aktzentren, die reale Macht ausüben, gleichwohl Gott nicht gleichgestellt sind, ist ein Gedanke, der für Barths Theologie zentral ist« (Hailer, »Hoffnung für die Welt«, 387).
Zur Entwicklung eines modelltheoretischen Ansatzes für die Eschatologie
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Mit dieser dreifachen Kriteriologie zur Identifikation erlösungstheologischer Modelle werden alle in dieser Studie analysierten Modelle eingeführt, wobei sich die darin angebotene Denkmöglichkeit einer Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen im Verlauf der Untersuchung als belastbarer Anfangsverdacht herausstellt.60 Mithilfe dieser dramatisch-agonalen Denkform lassen sich außerdem Verdichtungen erlösungstheologischer Modelle an dogmatischen Loci nachweisen, wo dies erst auf den zweiten Blick sinnvoll erscheint: Während sich Modelle III–V durch den systematischen Zusammenhang von Versöhnung und Erlösung für diese Untersuchung leicht aufdrängen, basiert die Analyse der Modelle I und II auf einigen Passagen aus der Vorsehungs- bzw. Schöpfungslehre Barths. Doch – wie die Einzeluntersuchungen nachweisen werden – lassen sich auch dort dramatisch-agonale Denkformen identifizieren, die auf ein eigenständiges Erlösungsverständnis hin befragt werden können. Schließlich sei zur Reihenfolge der Modelle eine Bemerkung angefügt: Fast alle Modelle habe ich nach der Reihenfolge der zentralen untersuchten Textpassagen geordnet, wie sie in der KD vorkommen. Lediglich das monistische Modell I, welches vor allem anhand von Barths Vorsehungslehre zu rekonstruieren ist, steht dem dezidiert schöpfungstheologischen Modell der Chaosbegrenzung und -überwindung (II) voran. Diese Reihenfolge ist darum so gewählt, weil Barths Vorsehungslehre sowohl machttheoretisch als auch epistemologisch gewissermaßen einen Pol darstellt, den es mithilfe der darauffolgenden Modelle Schritt für Schritt zu dekonstruieren gilt. Dieses Modell fungiert daher in späteren Modellbeschreibungen häufig als Kontrastfolie und ist daher den anderen vorangestellt.
0.4.4 Verifikation oder Validierung? In der Analyse der fünf erlösungstheologischen Modelle ist in den rekonstruierenden Abschnitten besonders die innere Systematizität des jeweiligen Modells von Bedeutung. Als Kriterium für theologische Sätze gilt daher zunächst die Binnenkohärenz eines Modells. Ob ein Modell jedoch seiner eigentlichen Aufgabe – fragmentarisch vorläufig, aber dennoch theologisch verantwortlich von Erlösung zu sprechen – gerecht wird, ist damit noch nicht entschieden. Karl Barths Theologie kann hierfür als Ausgangspunkt nur eine erste Orientierung bieten, die für die Beantwortung der Wahrheitsfrage selbst jedoch keine hinreichende Bedingung ist. Eine einfache Antwort in Bezug auf die Möglichkeit einer Verifikation der analysierten Modelle ist jedoch nicht zu geben. Denn nicht nur die Pluralität erlösungstheologischer Modelle, sondern auch die Spannung, die in Bezug auf 60
Eine Sonderstellung gewinnt das fünfte Modell, welches ein revelatorisches Modell von Erlösung beschreibt. In einem einleitenden Abschnitt muss aus dort dargestellten Gründen zunächst dessen Eigenständigkeit in einer knappen werkgenetischen Rekonstruktion des Offenbarungsbegriffs bei Barth nachgewiesen werden. Vgl. Kap. 5.1.
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Einleitung
deren Parameter und theologische Konsequenzen in der Analyse zutage tritt, spricht entschieden dagegen, dass mit der hier gewählten Methode eines oder mehrere Modelle als das Richtige für die Entfaltung christlicher Eschatologie zu identifizieren wäre. Die Arbeit mit Modellen stellt die Eigenheit allen theologischen Denkens als Konstruktion in den Vordergrund. Alle in dieser Studie beschriebenen Modelle sind daher ebenfalls als Konstruktionen zu verstehen, die auf das Denken des Theologen Karl Barth zurückgehen und denen die hier angelegte Hermeneutik eine Funktion unterstellt. Allgemein gesprochen besteht diese Funktion darin, Erlösung theologisch zur Sprache zu bringen und damit die christliche Hoffnung präzise reflektieren zu können. Diese Anforderung wird jedoch in den fünf Modellen auf unterschiedliche Weise bedient, wobei diese Unterschiedlichkeit mit der Funktionsweise einer optischen Linse vergleichbar ist: Linsen haben ihrer Beschaffenheit nach einen bestimmten Brennpunkt, der die Bedingungen des optischen Scharfstellens spezifiziert. Je nach Bauweise wird das Bild hinter oder vor diesem Fokuspunkt mehr oder weniger rapide unscharf – das durch die Linse entstehende Bild verliert damit an Qualität. Ähnlich verhält es sich mit den in dieser Studie vorgestellten Modellen, welche jeweils einen sehr spezifischen Fokusbereich haben und die damit notwendigerweise andere Fragenkomplexe und (theologisch womöglich berechtigte) Einwände ausblenden bzw. verschwimmen lassen. Eschatologische Modelle haben daher sozusagen einen konstruktionsbedingten epistemischen Brennpunkt, auf den bezogen sie partikular, perspektivisch und kontextuell theologisch auskunftsfähig sind. Dies ist für die Möglichkeit der Wahrheitsfrage von Modellen von Bedeutung, sofern diese nicht im Modus einer Verifikation, sondern bestenfalls in Form einer Validierung gestellt und bearbeitet werden kann. Modelle können validiert werden, indem ihre spezifische theologische Leistungskraft in Bezug auf einen bestimmten Problemkomplex unter Beweis gestellt wird. Ähnlich wie mit einer Linse, stellt ein Modell ein bestimmtes Bild auf den Erlösungstopos scharf, wobei durch diese Brille hindurch nicht die Perspektivität dieser Optik erkennbar werden kann. Die Wahrheitsfrage im Modus der Validität zu stellen bedeutet, dass kein eindeutiges und für alle Modelle einheitliches Kriterium zu formulieren ist, anhand dessen sich theologische Sätze und die ihnen zugrundeliegenden Modelle messen lassen. Vielmehr sind Aufgabe und Durchführung der Validierung als eine multirelationale Bewährungsprobe zu verstehen. Theologische Modelle können ihre erschließende Leistungskraft nicht im luftleeren Raum unter Beweis stellen. Vielmehr erweist sich deren Validität in ihrer Verwebung in andere Diskurse, Traditionen und Praktiken. Als prominenteste Verwebung ist in der evangelischen Theologie sicherlich der Schriftbezug theologischer Konstruktionen zu nennen. Für viele der vorgestellten Modelle lässt sich daher in Bezug auf zentrale Gedanken immer wieder der
Zur Entwicklung eines modelltheoretischen Ansatzes für die Eschatologie
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explizite Anschluss an biblische Traditionen aufzeigen, wobei die bidirektionale Verwebung von Schrift und Theologie einen hermeneutischen Zirkel prägt, der von historisch-kritischen und religionsgeschichtlichen Überlegungen flankiert wird. Damit wird der Entscheidung zugunsten einer Validierung gegenüber einer Verifikation Rechnung getragen, sofern der Schriftbezug in der systematischtheologischen Arbeit nicht im Sinne von verba probantia, sondern im offenen Gespräch mit den historisch gewachsenen Texten der hebräischen Bibel und des Neuen Testaments gesucht wird. Theologische Modelle haben selbst eine Historie. Die in der Theologie Barths nachweisbaren Modelle gehen zum Teil auf theologische Denkformen zurück, die Jahrhunderte der Theologiegeschichte geprägt haben und die zum Teil selbst in einem bestimmten Kontext Geschichte gemacht haben. Auch wenn der Fokus dieser Studie weder auf einer dogmengeschichtlichen, noch auf einer werkgenetischen Rekonstruktion der Eschatologie Barths liegt, so ist an ausgewählten Stellen auf die Verwebung der analysierten Modelle mit theologiegeschichtlich signifikanten Parallelen oder auch Alternativentwicklungen hinzuweisen. Auch hier geht es nicht darum, Barths Theologie als orthodoxe Lehrentwicklung zu verifizieren, sondern die Anschlussfähigkeit und Plausibilisierbarkeit in Bezug auf die theologische Tradition zu validieren. Eine dritte Relation ist insbesondere für die Eschatologie von zentraler Bedeutung: Denn gerade dort, wo die Inhalte christlicher Hoffnung theologisch verhandelt werden, ist eine besondere Sensibilität für die Lebenswirklichkeiten in einer noch-nicht-erlösten Welt vonnöten, um sicherzugehen, dass eschatologisches Denken nicht in eskapistisch-hermetischen Sprachspielen eingehegt wird. Denn eschatologische Modelle figurieren nicht nur Hoffnungsutopien, sondern eröffnen ebenfalls einen spezifischen Blick auf Lebens- und Kulturzusammenhänge. Jedes Modell schließt daher mit einem eigenen Abschnitt, der das Erschließungspotenzial des jeweiligen Modells im Hinblick auf kulturhermeneutische, ethische und/oder sozialtheoretische Fragestellungen unter Beweis stellt. Die sozial- und kulturtheoretische Validierung der vorgestellten Modelle geschieht auch hier nicht einfach als verifizierender Abgleich mit nicht-theologischen Denksystemen. Vielmehr kann gezeigt werden, dass theologisches Denken auf der Grundlage dieser fünf Modelle einen eigenen Beitrag für bestehende sozialtheoretische, kulturhermeneutische und bereichsethische Debatten liefern kann. Validierung bedeutet auch in dieser Hinsicht einen Qualitätsmaßstab theologischen Denkens hinsichtlich seiner Auskunftsfähigkeit über die systematisch-theologischen Bande hinaus.
1 Modell 1: Teleologische Eschatologie Hoffnungen haben Geschichtsbezug. Und auch umgekehrt haben Geschichtstheologien prägenden Einfluss auf die Eschatologie – darum können sie das Ausgangsmaterial für eschatologische Modellierungen bilden. Dies soll in diesem ersten Kapitel geschehen, das eine grundlegende Modellstruktur von Karl Barths Vorsehungslehre untersucht und auf ihre erlösungstheologischen Implikationen hin befragt. Modelltheoretisch ist Barths Geschichtstheologie in KD III/3 aufschlussreich, weil sie zunächst von einer formalen Denkform geprägt, wie sie auch bereits in den frühen Texten Barths zu finden ist: Sie weißt eine grundlegend monistische Struktur auf, die in der Gegenüberstellung von Gottes Allmacht und der Wirklichkeit des Nichtigen einen dramatischen Höhepunkt erreicht.1 Im Kontext der Frage nach Gottes wirksamer Auseinandersetzung mit dem Bösen soll diese theologische Grammatik exemplarisch anhand von Barths Vorsehungslehre, wie sie im dritten Teilband seiner Schöpfungslehre erscheint, skizziert und analysiert werden.2 1
2
Klassische Charakterisierungen einer »Theologie von oben« beziehen sich nicht zu Unrecht auf diese mitunter grundlegende Linie der Theologie Karl Barths. So exemplarisch der kritische Tenor von W. Härles Interpretation der Theologie Barths, vgl. Härle, Sein und Gnade. Ebenso kritisch die Analyse bei Roth, Gott im Widerspruch? Beide berufen sich auf den MonismusVorwurf, der Barth bereits zu Lebzeiten von dem Niederländer Gerrit Cornelis Berkouwer gemacht wurde: Vgl. Berkouwer, Der Triumph der Gnade in der Theologie Karl Barths. Zu einem stärker differenzierenden Blick auf Barths Universalismus mahnt Greggs, »›Jesus Is Victor‹: Passing the Impasse of Barth on Universalism«. Demgegenüber stellt Michael Welkers Vergleich zwischen Barths Theologie und der Metaphysik A. N. Whiteheads gerade die Korrekturbedürftigkeit des personalistischen Denkens Barths heraus, welche er daran festmacht, dass Barth vor allem am theologischen Machtgefälle zwischen Gott und Mensch interessiert sei; vgl. Welker, »Dogmatische Theologie und postmoderne Metaphysik«. Das konstruktive Potential dieser v.a. in der frühen Theologie Barths zu identifizierenden Argumentationsfigur arbeitet heraus Mützlitz, Gottes Wort als Wirklichkeit, 259ff. Die in diesem Abschnitt betonte Struktur darf jedoch nicht als pars pro toto für das Gesamtwerk Barths verstanden werden. Zurecht zielt z.B. Wolf Krötke auf die Struktur der Partnerschaft, wenn er gegenüber oben genannten Stimmen die Theologie Barths als Quelle konstruktiver Überlegungen für eine zeitgemäße Theologie zu rehabilitieren gedenkt (vgl. Krötke, »Gott und Mensch als ›Partner‹. Zur Bedeutung einer zentralen Kategorie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik«). Unter dem Stichwort der Radikalität der Theologie Barths stellt Rebekka Klein in ihrer Studie zu verschiedenen Depotenzierungsfiguren in Bezug auf göttliche und politische Autorität verschiedene Zugänge ins Verhältnis. Sie lotet damit das Schnittfeld von Gotteslehre und Begründung einer politischen Theologie aus; vgl. Klein, Depotenzierung der Souveränität, 191–207. Eine historische und dogmengeschichtliche Einordnung zu Barths Vorsehungslehre bietet: Goebel, »Struktur und Aussageabsicht der Vorsehungslehre K. Barths«. Eine kritische Studie
51 Im Kontext dieser Studie, die der dramatischen Denkform der Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen nachspürt, soll konkret danach gefragt werden, wie das Wirken des Schöpfers in einer Geschichte zu denken ist, die auch von Leiden, Erschütterung und Zerstörung geprägt ist. Karl Barths Vorsehungslehre ist gerade wegen ihrer geschichtlichen Nähe zu den die Geschichtstheologien des 20. Jahrhunderts erschütternden Ereignissen interessant, veröffentlicht Barth diesen Band doch nur knapp fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wenngleich diese Studie weniger ihren Fokus auf den historisch-genetischen Rahmen der Schöpfungslehre Barths legt, so soll das hier angebotene Denkmodell im analytischen Teil neben einer explizit theologischen Würdigung auf sein grundsätzliches Potential für eine Geschichtssensibilität im Kontext der unumgänglichen Theodizee untersucht werden. Eine der Pointen von Karl Barths Vorsehungslehre lautet, dass Gottes vorsehendes Handeln an seiner Schöpfung im Verborgenen geschieht und damit nicht allgemein evident ist. Was leistet aber eine so stark im Glauben an die gültige Gnadenverheißung Gottes gegründete Vorsehungslehre im konkreten Kontext erfahrenen Leidens?3 Der in diesem Kapitel vorliegenden Darstellung der Vorsehungslehre Barths liegt die These zugrunde, dass sich Barth in KD III/3, §§48ff. an einer kritischkonstruktiven Auseinandersetzung mit einem theologischen Monismus abarbeitet.4 In der Skizzierung der wesentlichen Gedanken der verschiedenen Abschnitte soll Barths durchgängiges Abarbeiten an einem monistisch-theistischen Grundmuster nachgezeichnet werden, welches sich immer wieder seinen eigenen implizierten Konsequenzen entzieht und das ich darum als den »gebrochenen Monismus« in Barths Theologie bezeichne. Barths Argumentation schwankt inhaltlich zwischen einer theologischen Entfaltung einer Beschreibung der Wirklichkeit als Schöpfungswirklichkeit des Vaters einerseits und einer Vermeidung systematisch-stringenter Identifikation von Gott und Welt andererseits.
3
4
liefert Christina Kress, die die Vorsehungslehre im Kontext einer Analyse des vorwiegend theistisch strukturierten Allmachtsbegriffs in den früheren Bänden der Kirchlichen Dogmatik von einem soteriologischen Verständnis der Macht Gottes in der Versöhnungslehre (KD IV/1-3) abgrenzt, vgl. Kress, Gottes Allmacht angesichts von Leiden, v.a. 203–229. Zur Bedeutung und Struktur der Vorsehungslehre Barths vgl. außerdem Körtner, »Der handelnde Gott«; Tanner, »Creation and Providence« und Bernhardt, Was heißt »Handeln Gottes«?, 263–265. Die durch die geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts und die zahlreichen Versuche einer gedanklichen Einholung der Geschehnisse um die beiden Weltkriege hervorgerufene Verschärfung der Theodizee-Problematik zeigt die nicht enden wollende publizistische Produktivität zum Thema. Paradigmatisch dafür steht der einschlägige Aufsatz von Hans Jonas: Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz: Eine jüdische Stimme. Zur theologischen Diskussion um Jonas vgl. Baum, Gott nach Auschwitz: Reflexionen zum Theodizeeproblem im Anschluß an Hans Jonas und Huber, »Allmacht und Ohnmacht«. Zur gegenwärtigen Diskussion um die Alternativen monistisch operierender Theologie vgl. Tatari, Stosch und Nitsche, Gott – jenseits von Monismus und Theismus? In Bezug auf die Macht-Thematik und die Notwendigkeit einer dritten Denkoption zwischen Allmacht und Ohnmacht vgl. Klein und Rass, Gottes schwache Macht.
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Modell 1: Teleologische Eschatologie
Diese Dialektik von Einheit und Differenz provoziert eine spezifische Konstellation eschatologischer Fragestellungen, die in 1.2 als systematische Konsequenzen von Barths Vorsehungslehre entfaltet werden sollen. Als erlösungstheologische Implikationen kann an die Rekonstruktion der Geschichtstheologische Barths der eschatologische Gehalt dieses Modells entfaltet werden, der Erlösung als eine Vollendung der Geschichte denkt und zugleich auf eine Bearbeitung formallogischer Paradoxien hindrängt. Daran anschließend ist (1.3) nach der Perspektivierung des Bösen als dem Nichtigen zu fragen, das analog zum gebrochenen Monismus das Böse als eine Größe jenseits einer zweistelligen Formallogik zwischen Sein und Nicht-Sein beschreibt. Dabei kann insbesondere die Genese des mit dem Nichtigen umschriebenen malum als negative Dialektik thematisiert werden. Barths Rede von der Allmacht Gottes als Allwirksamkeit ist (1.4) zudem auf seine epistemologischen Implikationen zu befragen: Ein erlösungstheologisches Modell, das Gottes Wirken als Alles in Allem beschreibt, wird durch die Anfragen der Theodizee herausgefordert. Mithilfe eines Exkurses zur Vorsehungslehre Arnulf von Schelihas, der pointiert auf einem liberal-theologischen Paradigma aufbaut, soll gezeigt werden, was Barths kontraevidente Epistemologie zu leisten vermag. Besondere Bedeutung gewinnt darin der Aspekt eines kontraevidenten Vertrauens. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollen in einem letzten Abschnitt (1.5) im Rahmen einer Phänomenologie des Vertrauens mit kulturhermeneutischen Überlegungen ins Gespräch gebracht werden. Damit lässt sich zeigen, dass die epistemologische Modellstruktur kontraevidenten Vertrauens in das vollendende Handeln Gottes gerade nicht einem Anti-Realismus das Wort redet, sondern mit einer Theorie des grundlosen Vertrauens validiert werden kann.
1.1 Der gebrochene Monismus in Barths Vorsehungslehre Das in diesem Kapitel analysierte Modell gründet in der Beobachtung und Fortführung einer bestimmten Denkfigur, die in Barths Geschichtstheologie in KDIII/3 besonders prägnant zum Tragen kommt. Barths Geschichtstheologie beschreibt als solche noch keine Eschatologie. Sie bildet aber die Grundlage für ein Modell, das Erlösung als vollendendes Handeln Gottes an seiner Schöpfung beschreibt. Geschichtstheologie und Erlösungstheologie fallen damit zwar nicht zusammen, sie werden aber durch eine tragende Denkstruktur miteinander verbunden. Die folgende Analyse geht daher zunächst einen strukturanalytischen Weg, sofern die darin interpretierten Texte Barths nur einen impliziten Bezug zur dramatischen Denkform der Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen
Der gebrochene Monismus in Barths Vorsehungslehre
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herstellen, deren Bedeutung jedoch für das hier zu skizzierende Modell kaum zu unterschätzen sind.
1.1.1 Die relative Eigenständigkeit der Schöpfung Bereits die Verortung des dogmatischen Locus der Vorsehungslehre führt Barth mit einem hohen Maß systematisch-theologischer Differenzierung durch. Dies ist von Bedeutung, da hiermit wichtige Weichen für die inhaltliche Entfaltung und die Voraussetzungen dieses Modells gestellt werden und entscheidende Fragen bei der Thematisierung von Gottes geschichtlicher Auseinandersetzung mit dem Bösen direkt zum Ausgangspunkt der Argumentation führen: Barth beschreibt zunächst die Verbindung von Vorsehungs- und Prädestinationslehre5 , indem er beide inhaltlich aufeinander bezieht, beide aber in der Frage nach ihrem Gegründetsein im Wesen Gottes fundamental unterscheidet: Die Vorsehung gehört zur Ausführung dieses Dekretes [der ewigen Gnadenwahl]. Sie ist ewige, göttliche Vorsehung, sofern sie in diesem Dekret begründet ist. [...] Es geht aber nicht an, dieses Verhältnis [zwischen Schöpfer und Geschöpf in der Vorsehung] schon in das Sein Gottes hineinzutragen. Die Wurzel der Prädestinationslehre gehört zum Sein Gottes. Es gibt aber keine entsprechende Wurzel der Lehre von der Vorsehung, im Blick auf die von dieser dasselbe zu sagen wäre (KD III/3, 3).
Während Gottes Vorsatz, sich für den Menschen und den Menschen für sich zu bestimmen, in Gott selbst seinen Grund hat, ist die Vorsehung, d.h. das erhaltendes, begleitendes und regierendes Handeln Gottes in der Geschichte nicht selbst exklusiv dem Sein Gottes entspringend. Stattdessen »setzt [die Vorsehung] aber das Werk der Schöpfung als geschehen und die Existenz des Geschöpfes als gegeben voraus« (KD III/3, 3). Inhalt und Gestalt des göttlichen Handelns in der Geschichte der Schöpfung entspringen demnach nicht linear einem Entschluss Gottes, und so ist auch die Geschichte nicht als Emmanation der göttlichen Gnade zu verstehen. Sie ist, wie Barth selbst herausstellt, für Gottes Sein nicht wesentlich. Umgekehrt wird die positive Seite der Verhältnisbestimmung von Erwählung und Vorsehung bei Barth umso deutlicher, wenn er diese als die Ausführung jenes Dekrets versteht: Gottes vorsehendes Handeln in der Geschichte seiner Schöpfung steht in der Folge der von Gottes im »Anfang seiner Wege und Werke« gefällten 5
Zur Bedeutung der Lehre von der Gnadenwahl für die materiale Entfaltung der Theologie vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 377–384.; sowie Kim, Die umstrittene Prädestinationslehre. Zur konstruktiven Weiterentwicklung dieser Debatte vgl. McCormack, »Election and the Trinity« und Molnar, »Can the Electing God Be God without Us?«; außerdem: Smith, »God’s Self-Specification«.
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Modell 1: Teleologische Eschatologie
Entscheidung über sich selbst, nicht anders denn als Bundespartner seines Geschöpfes zu existieren. Diese konstruktive Rückbindung der Providentia-Lehre an die Erwählung formt den theologischen Begriff der »Treue Gottes«.6 Was aber würde – um diesem positiv beschriebenen Verhältnis weiter zu folgen – ein konsequentes Fortschreiben dieser Linie für die Frage nach Gottes ereignishafter Auseinandersetzung mit dem, was als Böses erfahren wird, bedeuten? Die Folge wäre ein geschichtstheologisches System, das alle Ereignisse und Phänomene in der Geschichte als konsequent dialektische Entfaltung der einen und einzigen Gnadenwahl Gottes verstehen würde. Nicht nur das Dass der Erhaltung, Begleitung und Regierung allen geschöpflichen Geschehens, sondern auch dessen situative, inhaltliche und teleologische Bestimmung wären demnach notwendigerweise in Gottes Sein inbegriffen. In dialektischer Sprache umfasst dies jedoch nicht nur These und Synthese, sondern ebenso die zum Gnadenund Heilswillen Gottes antithetischen Elemente und Dynamiken geschöpflichen Geschehens: Leiden, Sünde, Tod bzw. das, was mit Barth dem schlechthin Nichtigen zuzuordnen ist, werden zu (wenngleich negativen) Voraussetzungen der göttlichen Gnade. Das Unheil stünde nicht nur als ein zu konfrontierendes und überwindendes Unheil in unmittelbarem Zusammenhang mit der ewigen Erwählung bzw. wäre auf diese direkt und indirekt zurückzuführen, sondern auch das zu überwindende Böse wäre für Gott selbst wesensnotwendig und geschichtlich wesentlich – die theologisch problematischen Tendenzen dieser Struktur gilt es in diesem Modell systematisch zu vermeiden. In Anschluss an Michael Roth kann ein solches Denken als »Gnadenmonismus« bezeichnet werden, dem alle Geschichte in dialektischer Form letztlich entsprechen muss, sofern diese durch Gottes Gnadenwahl (obgleich dann nur noch in höchst zweideutiger Weise von »Gnade« zu sprechen wäre) determiniert ist.7 Tatsächlich begibt sich Barth mit der konstitutiven Stellung, die er 6 7
Insofern ließe sich dogmatisch womöglich auch die Begründung der Vorsehung dem Sein Gottes zuordnen, sofern Treue selbst ein wesentliches Attribut des göttlichen Seins ist. Vgl. Roth, Gott im Widerspruch?, 62 passim. Roth beschreibt in Anschluss an Härle Barths theologische Methode und das ihr entspringende Denken als einen »Gnadenmonismus«, welcher der Schleiermacherschen Folge von Schöpfung und Erlösung diametral gegenübersteht, sofern alle der Trinität entspringende Wirklichkeit auf das Versöhnungswerk Jesu Christi von Ewigkeit her angelegt ist. Roth greift die darin enthaltenen Implikationen auf, sofern sich bei einer konsequenten Verbindung von Erwählung (von Ewigkeit her) und Geschichte die Frage stellt, ob die dem guten göttlichen Willen entgegenstehende Wirklichkeit des Bösen zumindest einkalkuliert, wenn nicht gar notwendig für die Erfüllung des Bundes ist (vgl. Roth, 72f). In der Tat erscheint Barths Theologie an den Schnittstellen von erwählungs- und geschichtstheologischen Erörterungen immer wieder zu Konsequenzen dieser Art zu drängen. Expressis verbis vollzieht Barth jedoch nirgends diesen letzten Schritt, der seine Methode tatsächlich zu einem Prinzip des theologischen Monismus werden ließe. Die hier vorliegende Arbeit versucht demgegenüber eine solch prinzipielle Identifikation zu vermeiden um damit ein Modell zu rekonstruieren, das zwar eine strukturelle Stabilität aufweist, aber nicht nach einem theologischen Prinzip gebaut ist. Vielmehr soll gezeigt werden, dass Barth wirkungsvolle
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der Gnadenwahl seiner Geschichtstheologie einräumt, strukturell in die Nähe eines solchen Konzepts. Wird die Erwählung Gottes zur außer- bzw. vorzeitlich gefallenen, schlechthinnigen Entscheidung Gottes über sich selbst, so wird alles göttliche Handeln und Wirken aus der inneren Notwendigkeit des innergöttlichen Lebens zu erklären sein.8 Barths dogmatische Ortsbestimmung versucht genau diese Konsequenz jedoch zu umschiffen: Wie eingangs erwähnt, soll in diesem Kapitel nachgewiesen werden, dass weite Teile der Geschichtstheologie in der Kirchlichen Dogmatik zwar grundsätzlich monistische Vorstellungen aufgreifen, dass Barth jedoch Wege findet, deren Konsequenzen zu vermeiden. Teil der dogmatischen Ortsbestimmung der Vorsehungslehre ist nämlich die Modifikation, derer zufolge diese gerade nicht Teil der Gotteslehre ist, sondern die Schöpfungslehre (nach Schöpfungswerk und Anthropologie) als deren dritter Teil ergänzt und vollendet. Diese dem Aufbau vieler klassischer Dogmatiken folgende Zuordnung des geschichtstheologischen Stoffs scheint oberflächlich betrachtet eine formale Entscheidung zu sein, produziert jedoch gewichtige inhaltliche Folgen: Die Vorsehung folgt nicht nur formal der Schöpfung, sondern setzt sie sachlich voraus: Die Erhaltung, Begleitung und Regierung der geschöpflichen Geschichte bezieht sich auf eine Größe eigener Dignität: Das Werk der Schöpfung ist »vollkommen geschehen und also abgeschlossen« (KD III/3, 5). Die Schöpfung wird also als eine Wirklichkeit per se verstanden, die für Gott als solche zwar nicht wesensnotwendig ist,
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Mechanismen der Dekonstruktion solcher Konsequenzen bereitstellt. Vielmehr sollen also die strukturtragenden Linien, die sich tatsächlich in der Nähe monistischer Auffassungen bewegen, analysiert werden, die dann jedoch von Barth selbst, wie noch zu zeigen ist, situations- und problemspezifisch konterkariert werden, sodass die Identifikation eines Leitprinzips, wie es z.B. ein Gnadenmonismus darstellt, dem theologischen Realismus Barths nicht gerecht wird. In der Tat ist Roth darin zuzustimmen, dass ein solches Prinzip der Gnade selbstwidersprüchlich wäre. Die These dieses Kapitels folgt diesem Gedanken insofern, dass sie hervorhebt, dass bereits mit dem Instrumentarium dieses Modells dogmatische Möglichkeiten geboten werden, diese Selbstwidersprüchlichkeiten eschatologisch zu bearbeiten. J. Moltmann erkennt die Präsenz dieser Struktur bei Barth nicht erst in der Gnadenwahl Jesu Christi, sondern bereits in der Trinitätslehre der Prolegomena der Kirchlichen Dogmatik. Deren Anliegen, eine Trinitätslehre als »christlichen Monotheismus« auszubuchstabieren, korrespondiert nach Moltmann direkt mit dem methodischen Vorgehen Barths, Gott wesentlich als Gottes Herrschaft und letztlich in idealistischen Bahnen als das absolute Subjekt zu denken: »Barth verwendet die Trinitätslehre, um die Souveränität Gottes in seiner Herrschaft zu sichern« (Moltmann, Trinität und Reich Gottes, 161). Moltmann zeigt damit die bei Barth vorherrschende Tendenz auf, von der Herrschaft Gottes ausgehend zugunsten einer Wahrung der göttlichen Souveränität, aber auf Kosten einer christologisch oder pneumatologisch begründeten Responsivität Gottes zu operieren. Den christologischen Ansatz sieht Moltmann zumindest in Teilen im Neuansatz der Kirchlichen Dogmatik gegenüber der Christlichen Dogmatik im Entwurf aufgenommen. Grundsätzliche pneumatologische Defizite sorgen aus dessen Sicht im gesamten Opus Barths für Folgeprobleme, die in der zum sabellianischen Modalismus tendierenden Gotteslehre Barths ihren Ausgangspunkt haben; vgl. Moltmann, 154ff.
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worauf Gott aber reagiert, mit der Gott interagiert und zu der er ein responsorisches Verhältnis entwickelt. In seinem vorsehenden Handeln reagiert Gott somit auf eine Wirklichkeit, die schon da ist. Dabei misst Barth der unterschiedlichen Intention, die jeweils der Schöpfungs- und der Vorsehungslehre zugrunde liegt, große Bedeutung bei: Es wird in der Schöpfung vor allem die Verschiedenheit des Wesens, der Stellung und Funktion hier des Schöpfers, dort des Geschöpfes sichtbar, während es sich in der Vorsehung vor allem um ihre gegenseitige Beziehung: um die Zuwendung des Schöpfers zur Existenz seines Geschöpfes auf der einen, um die Teilnahme des Geschöpfes an der Existenz seines Schöpfers auf der anderen Seite handelt (KD III/3, 7).
Die Vorsehung ist demnach in Gottes Treue begründet und sie gewinnt ihre Gestalt als ein inter- und reagierendes Wirken auf die Schöpfung. Folgerichtig lehnt Barth die Konzeption einer creatio continua ab (vg. KD III/3, 6) und votiert demgegenüber für eine continuata creatio, sofern sich Gott als Schöpfer der Welt dieser in der Folge ihrer Erschaffung nochmals zuwendet. Dass Gott in der Geschichte seiner Geschöpfe kontextbezogen handelt und sein Wirken somit auch z.B. auf menschliches Leiden zu beziehen ist, denkt die christliche Theologie jenseits deistischer Konzeptionen für den trinitarischen Gott als wesentlich: Gott kann nicht anders gedacht werden denn als ein Gott, der sich seinen Geschöpfen in seiner Treue zuwendet. Gleichwohl sind die Umstände, auf die Gott mit seinem providentiellen Handeln reagiert, nicht in diesem selbst begründet. Böses, Unglück, Leid und das Nichtige als Elemente und Ereignisse, die im Raum der Schöpfung Präsenz behaupten, sind zwar (auch) Wirklichkeiten, auf die Gottes Vorsehung wesentlich und formgebend bezogen ist. Sie sind jedoch – folgt man der dogmatischen Zuordnung der Vorsehungslehre Barths – nicht selbst für Gott wesensnotwendig. Ungeachtet des Handlungssubjekts des Schöpfers stellt die Schöpfung so eine (mit-)bestimmende Größe dar, auf die bezogen die göttliche Vorsehung ihre Begründung und Bestimmung »darüber hinaus nun doch auch äußerlich in dem vorausgesetzten Sein des Geschöpfes und innerlich in dessen Bedürftigkeit dem Schöpfer gegenüber hat« (KD III/3, 7). Diese Subjektivität, die dem geschöpflichen Geschehen – welches bei Barth stark schematisch zu einem einfachen Gegenüber zu Gott reduziert wird – eingeschrieben ist, stellt sich als eine Brechung der vornehmlich monistischen Begründung der Vorsehungslehre Barths heraus. Das Handeln Gottes in der Geschichte seiner Schöpfung ist somit gerade keine Entfaltung eines dialektischen Gnadenprinzips, sondern reagiert auch auf eine Schöpfung, die in eigenen Prozessen und Entwicklungen aktiv ist und der durch den Schöpferwillen Gottes und die Segnung des siebten Tages eine eigene Autonomie und kreative Dignität zugesagt und gesichert ist. Ob die inhaltliche Entfaltung dieses grundsätzlich dialogischen
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Charakters diese konzeptionelle Engführung der Vorsehungslehre überwinden kann, bleibt durchaus fraglich. Die hier aufgezeigten architektonischen Grundpfeiler der Geschichtstheologie der Kirchlichen Dogmatik machen aber in jedem Fall Barths Bemühen deutlich, einerseits die Souveränität Gottes und andererseits kreatürliche Eigendynamiken nicht monolinear, sondern reagierend aufeinander bezogen zu denken, ohne diese unter einer geradezu hegelianischen Klammer dialektischer Selbstverwirklichung des Geistes zu subsummieren. Mit dieser Lokalisierung im Hintergrund, die die Vorsehung in Anschluss an die Schöpfung und von der Erwählung her begründet denkt, entfaltet Barth seine Darstellung des vorsehenden Handelns Gottes im Raum der Schöpfung. Die in der Trennung von Schöpfung und Vorsehung angelegte Differenzierung im intentionalen Handeln Gottes beschreibt zunächst nur die Bedingung der Möglichkeit einer Rede von responsorischer Handlung.9 Die Vorsehungslehre selbst vollzieht dann auf eben dieser Basis den Versuch der Beschreibung von 9
Das Problem der Interaktion Gottes mit der Welt wird im Kontext der Vorsehungslehre vornehmlich aus vier Richtungen thematisiert: (1) Die erste Gruppe bilden Theologien, welche die Bedeutung der Trinititätslehre gegenüber allgemein-theistischen Vorstellungen ins Feld führen. Dabei werden v.a. christologische und innertritarische Dynamiken zur Begründung einer Interaktion und Affizierbarkeit Gottes ins Feld geführt. Exemplarisch dafür: Moltmann, Trinität und Reich Gottes und Moltmann, »Reflections on Chaos and God’s Interaction with the World from a Trinitarian Perspective«; sowie im Kontext einer Gebetstheologie: Thomas, »Affizierbarkeit Gottes im Gebet«. (2) Zum anderen zeigt die im angloamerikanischen Raum geführte Religion-and-Science-Debatte großes Interesse an Denkformen, die sowohl statische als auch von Impassibilität gekennzeichnete Gottesvorstellungen zu überwinden versuchen und damit Alternativen zu geschlossenen und von top-down-Kausalitäten gekennzeichneten Kosmologien darstellen. Exemplarisch hierfür Peacocke, »God’s Interaction with the World: The Implications of Deterministic Chaos and of Interconnected and Interdependent Complexity«; Polkinghorne, Science and Providence. (3) Die von der Prozessphilosophie Alfred N. Whiteheads beeinflusste Prozesstheologie vermeidet konsequent einige theistische Grundannahmen. Insbesondere die Unveränderbarkeit Gottes wird hier zugunsten einer geradezu pantheistischen Grundstruktur aufgegeben. Statt Gott als alles bestimmende Wirklichkeit zu denken, kehren viele VertreterInnen der Prozesstheologie diese Vorstellung geradezu um: Gott wird hier mit den mannigfaltigen Prozessen der Welt identifiziert, in denen er sich stets neu aktualisiert; vgl. Cobb und Griffin, Prozess-Theologie; Welker, Universalität Gottes und Relativität der Welt; Keller, Über das Geheimnis; (4) Außerdem bildet die im Dialog mit der Prozesstheologie entstandene Denkrichtung des Open Theism einen vierten Zug, der alternative Konfigurationen in der Gotteslehre bereitstellt, welche tendenziell auf eine deterministische Ontologie verzichten und stattdessen das interaktionistische Risiko Gottes in den Vordergrund stellen. Das besondere Verdienst des Open Theism stellt dabei vor allem das Vermittlungsbemühen einer biblischen Theologie und der partiellen Überwindung theistischer Denkformen zugunsten einer Würdigung geschöpflicher Freiheit dar: Hasker, Oord und Zimmerman, God in an Open Universe: Science, Metaphysics, and Open Theism; Zeeb, »Open Theism and the Problem of Theodicy«; Teuchert, Gottes transformatives Handeln; Schmid, Gott ist ein Abenteurer. Alle vier Fragerichtungen arbeiten sich in unterschiedlicher Hinsicht daran ab, vor allem das klassische Prädikat der Allmacht Gottes wenn nicht zu überwinden, so zumindest zu relationieren und in seiner abstrakten Totalität zu hinterfragen. Während es bei der (2) und (4) vor allem um Fragen der Kompatibilität des Gottesgedanken mit kosmologischen und freiheitstheoretischen Positionen der Moderne geht, so arbeiten sich (1) und (3) an den paradigmatischen Problemen
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Gottes Zusammen-Sein mit seiner Schöpfung: Gott begründet und beginnt nicht nur die Wirklichkeit seiner Schöpfung, sondern er bleibt auch anhaltend darauf bezogen, indem »Gott der Schöpfer als solcher sich seinem Geschöpf als solchem im Akt der Schöpfung als Herr seiner Geschichte zugesellt hat und ihm als solcher treu bleibt. Gott der Schöpfer koexistiert seinem Geschöpf und so existiert sein Geschöpf unter den damit gegebenen Bedingungen der Koexistenz seines Schöpfers« (KD III/3, 12). Eine Rede von Gottes Sein als Schöpfer von Himmel und Erde impliziert demnach strukturell beides: (a) Eine Begründung und Ermächtigung einer Wirklichkeit außerhalb Gottes, welche weder Kraft einer äußeren Notwendigkeit noch einer inneren Notwendigkeit der Selbstverwirklichung, sondern allein in der freien Gnadenwahl Gottes gründet; und (b) Gottes Bezogenheit auf und sein Koexistieren mit dieser Schöpfung durch das erhaltende, begleitende und regierende Handeln seiner Vorsehung. Dieses Austarieren von schöpferischer Differenz und vorsehender Bezogenheit von Schöpfer und Geschöpf bildet die Grundlage für die material entfaltete Lehre vom concursus, Gottes Begleiten seiner Schöpfung. Dieses Zugleich von Differenz und Einheit kann als Ausdruck einer theologischen Dialektik Barths verstanden werden. Der hier gemachte Versuch, Barths Geschichtstheologie als kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit einem theologischen Monismus zu verstehen, versucht nun gerade die sachliche Bedeutung und den theologischen Realismus dieses Zugleich zum Ausdruck zu bringen.10 Diese sachliche Spannung bildet das Gerüst eines erlösungstheologischen Modells, das sich dogmatisch verstärkt durch ein formales Wissen auszeichnet.11
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einer theistischen Gotteslehre ab und entwickeln Denkformen, die die Affizierbarkeit Gottes durch die Schöpfung zum ontologischen Schlüssel für die Gotteslehre machen. Mit Blick auf die entgegengesetzte Extremlage adressiert Martin Hailer dieselbe Problematik, wenn er in seiner Studie zu Barth und Luther Barths Tendenz zum Dualismus erkennt. Ausgehend von der (trinitarisch entfalteten) Gotteslehre wird die Welt, in der das Nichtige in seiner Opposition zu Gott seine gegnerische Wirklichkeit behaupten kann, in ihrer grundsätzlichen Paradoxie verhaftet interpretiert: »Es soll zugleich gedacht werden, daß Gott nicht allmächtig im Sinne von Allkausalität gedacht ist, aber der souveräne Herr auch und gerade über das ihm Entgegenstehende, welches in der Form existiert, daß es von ihm verneint wird« (Hailer, Die Unbegreiflichkeit des Reiches Gottes: Studien zur Theologie Karl Barths, 72). Die treffsichere Analyse Hailers kulminiert in dem Aufweis von Konsistenzproblemen bei Barth, die letztlich darin gründen, dass dieser (ebenso wie Luther) an der entscheidenden Frage – der Wirklichkeit des Nichtigen und Gottes Auseinandersetzung mit ihr – »einen Grenzgang entlang der Scheidelinie zum Dualismus« riskiert (Hailer, 91). Die hier vorgelegte Studie möchte nicht als Widerspruch, sondern vielmehr als eine Komplementärstudie zur anderen Seite der Medaille verstanden werden, spiegelt sie das gleiche Problem nun auf Seite des Grenzgangs entlang des Monismus wider: Barths methodisches Instrumentarium bedient sich in der Vorsehungslehre eines monistischen Modells, das sich in konkreten Problemlagen ebenso dualistischer Argumente bedient. Diese argumentative Freiheit wird jedoch – und darin stimme ich mit Hailer überein – auf Kosten der Konsistenz in Barths Argumentation geführt, die, wenn sie theologisch verstanden werden soll, die Verstehbarkeit Gottes untergräbt. Zur Bedeutung narrativen Wissens in diesem Modell vgl. Kap. 1.5.3.
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Die zunächst umsichtige Gewichtsverteilung innerhalb dieser dialektischen Spannung, welche Barth architektonisch in den Einleitungskapiteln von KD III/3 ankündigt, verschiebt sich bei weiterer Betrachtung zusehends zugunsten einer umfassenden Präsenzvorstellung Gottes, die mit einer ausgeprägt monarchischen Metaphorik verbunden und zum Ausdruck gebracht wird: Es geht in der Vorsehung um die »Herrschaft über sein Werk«, welches Gott »an seiner Herrlichkeit teilnehmen läßt« und welches »der Herrschaft seines Schöpfers weder entrinnen noch verloren gehen« kann und wird (KD III/3, 12).12 Die Rede von der Bezogenheit des Schöpfers zu seiner Schöpfung verdichtet sich damit unmittelbar zur einer Beschreibung von Gottes Wirken, die mit allgemein-theistischen Gottesprädikaten der Allwirksamkeit, Allgegenwart und Allmacht Gottes operiert und damit zur monistischen Grundstruktur dieses Modells zurückkehrt: Es sind also in dieser Geschichte solche Wendungen und Ereignisse nicht zu erwarten, die mit dem Walten seiner Herrschaft nichts zu tun hätten, die nicht in irgend einem Sinn unmittelbar auch Akte seiner Herrschaft wären. Dieser Herr ist nie und nirgends abwesend, passiv, unverantwortlich, ohnmächtig – er ist immer und überall gegenwärtig, aktiv, verantwortungsvoll, allmächtig dabei: [...] an allem beteiligt, in keiner Hinsicht bloß abwartend sondern in jeder Hinsicht – auch da wo er zu warten scheint, auch indem er »zulässt« – in der Initiative begriffen (KD III/3, 13).
Mit dieser radikalen Zuordnung aller geschichtlicher Phänomene auf das souveräne göttliche Wirken hin transzendiert Barth die vorher angelegte Spannung zwischen monistischer Grundstruktur einerseits und ausdifferenziertem und responsivem Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf andererseits in die abstrakte Vorstellung einer Übermacht der göttlichen Herrschaft. Nur in dieser Übermacht sei Gottes Wirksamkeit in der Geschichte zu denken und geschichtlich sei schlechterdings nichts von dieser Wirksamkeit Gottes unabhängig. Die erlösungstheologischen Konsequenzen einer solchen Aussage sind unübersehbar: Sofern Gott schlechterdings »Alles in Allem« wirkt, kann innerhalb dieser Rationalität keine konfrontative Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen gedacht werden – sie muss es nicht einmal, da dem Wirken Gottes keine Kontra-Souveränität gegenübersteht. Die Rede von Gottes All-Souveränität verschließt sich vielmehr von ihrer systematischen Anlage her gegen eine konsequent dualistische Frontstellung, die Erlösung als ein transformatives Überwindungsgeschehen nötig machen würde. Stattdessen wird die wirkende Dynamik Gottes als ein Identifikations- und Zuordnungsgeschehen beschrieben, welches in den Grundkonfigurationen dieser Argumentationslogik keine Überwindung oder in anderer Hinsicht kritisches Ins-Verhältnis-Setzen Gottes intendiert. 12
Zur v.a. im anglophonen Raum weiterhin lebhaften Diskussion um Barths Universalismus vgl. Crisp, »Augustinian Universalism« und dagegen Congdon, »Apokatastasis and Apostolicity«.
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1.1.2 Gottes Wirklichkeit und Schöpfungswirklichkeit Die bis hierher angestellten Überlegungen zur Vorsehungslehre bleiben weitestgehend auf formal-architektonischer Ebene. Für die inhaltliche Entfaltung der Frage nach dem Wirken Gottes in der Kreaturgeschichte hält sich Barth im Aufbau weitestgehend an den klassischen Aufbau altprotestantisch-orthodoxer Entwürfe, die Gottes Vorsehung in drei Aspekte unterscheidet: Gottes erhaltendes, begleitendes und regierendes Handeln in der Welt sind Ausdruck und Formen der göttlichen Herrschaft.13 Für die Erarbeitung dieses ersten erlösungstheologischen Modells bietet sich v.a. eine Analyse des Teilparagraphen §49.1 zum Göttlichen Erhalten an. Die darin hervortretende Denkstruktur setzt sich konsequent in den weiteren Teilparagraphen fort, sodass die dort erarbeiteten Aspekte in der erlösungstheologischen Auswertung inhaltlich hinreichend zum Tragen kommen. Der erste Aspekt der providentia dei basiert bereits auf den wesentlichen argumentativen Mustern dieses Modells: Gottes Erhalten ist begründet in seiner väterlichen Weisheit, Allmacht (resp. Freiheit) und Barmherzigkeit. Diese drei sind theologische Grundkonstanten, welche Barths Vorsehungslehre bestimmen und worauf alle weiteren Überlegungen – nicht zuletzt auch in den daraus resultierenden Grenzlagen der Theodizee – aufbauen und zurückgeführt werden. Karl Barths Schilderung des göttlichen Erhaltens vereint zwei Anliegen, die zum einen aus seiner Schöpfungslehre und zum anderen aus einer Modifikation der altprotestantischen Tradition resultieren. Zum einen drängt Barth auf eine scharfe Konkretion des erhaltenden Subjekts: Keine allgemein-theistische Gotteslehre, sondern eine bundestheologisch begründete und christologisch zugespitzte Entfaltung des Handlungsmodus und der Absicht der Erhaltung sollen die Grundlage darstellen.14 Zum anderen ist die Bedürftigkeit der Kreatur und deren Angewiesenheit auf Gottes Wirken um seines Bestandes Willen herauszustellen: 13 14
Zum Aufbau und der Struktur klassischer Entwürfe vgl. die Rekonstruktionen bei: Bernhardt, Was heißt »Handeln Gottes«?; sowie: Büttner, Regiert Gott die Welt? Wenngleich Barth an verschiedenen Stellen darauf hinweist, die geschichtstheologische Entfaltung nur auf der Grundlage ihrer christologischen Begründung (vgl. KD III/3, 32ff.) und unter Berücksichtigung einer bundestheologischen Rahmung (vgl. KD III/3, 133ff.) durchzuführen, operiert KD III/3 materialdogmatisch über weite Strecken außerhalb dieser Prämissen. Die immer wieder dahingehend steuernden Hinweise bleiben inhaltlich ohne wesentliche Konsequenzen. Ritschl bemerkt daher zurecht zweierlei: »1. die eigentliche Christusbezogenheit der Providenzlehre ist nicht offensichtlich, obwohl K. Barth an der altprotestantischen Lehre gerade dieses Defizit beklagt hat, 2. Es findet sich kaum ein anderer Paragraph in der kirchlichen Dogmatik, der so wenig auf Bibelstellen eingeht oder sie benennt, wie gerade der §49 über die Providenzlehre. Das gibt diesem ausführlichen Kapitel etwas Schwebendes und Thetisches, eine Erörterung [. . . ] auf einem ›oberen Stockwerk‹« (Ritschl, »Sinn und Grenzen der theologischen Kategorie der Vorsehung«, 123).
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Daß Gott für sein Geschöpf ist, daß er in seinem schöpferischen Sein sich zum Bürgen und Garanten seines geschöpflichen Seins macht, das ist ja die Voraussetzung dessen, daß er mit und über seinem Geschöpf ist und dann auch alles dessen, was er ihm als Herr des Gnadenbundes, im Werk und in der Offenbarung Jesu Christi sein will. Daß Gott, und zwar Gott allein, die Existenz des Geschöpfes und damit sein Wesen, seine Natur, seine Lebensäußerungen gewährleistet aus freier Güte und gerade so in höchster Zuverlässigkeit (KD III/3, 69).
Hier wird deutlich, dass Gottes erhaltende Fürsorge ein umfassendes Geschehen ist, welches allein der Schöpfung ihre Fortexistenz zusichern kann. Kennzeichnend für die oben bereits angedeutete formale Grundstruktur dieses Modells ist demnach ein immer wieder den Monismus durchbrechendes spannungsvolles Gegenüber zweier Größen, zwischen denen sich ein zuordnendes, verbindendes, fürsorgendes und vermittelndes Geschehen abspielt, was dem Geschöpf als Gottes Gegenüber erst sein Dasein ermöglicht und zugleich verwirklicht.15 Diese Gegenüberstellung wird von Barth dann zur Methode erhoben, indem er in vier Durchgängen Gottes erhaltendes Handeln beschreibt und dem jeweiligen Aspekten göttlicher Souveränität je ein geschöpfliches Korrelativum zuordnet. Ewigkeit – Endlichkeit Die erste Perspektive, die Barth eröffnet, ist die Frage nach der Zeitlichkeit im Verhältnis von Gottes Wirken und der Erhaltung der Schöpfung. Gottes Erhalten ist ein ewiges Erhalten. Darin ist es Ausdruck der ewigen Treue Gottes, die er seinem Geschöpf entgegenbringt. »Er erhält es aber nicht unbegrenzt, sondern in den seinem geschöpflichen Wesen entsprechenden Grenzen« (KD III/3, 70). Die Schwierigkeit diese Spannung zu denken ergibt sich aus dem paradoxen Nebeneinander eines ewigen Erhaltens Gottes einerseits und dem von diesem Erhalten abhängigen, aber zugleich endlichen Bestand des Geschöpfes. Die offensichtliche Lösungsmöglichkeit einer Verewigung des Geschöpfes schließt Barth hingegen aus: Das dargestellte Gegenüber und die Verschränkung von Ewigkeit und Endlichkeit hebt nicht das Ende und die grundsätzliche Begrenztheit auf.16 Es wirft aber ein besonderes Licht auf die Vorstellung und Erfahrung von »Endlichkeit«, sofern diese in Gottes ewigem Erhalten Grund und Ziel findet und so von ihm umschlossen wird. Die Formulierung, dass Gott die Grenze des Menschen markiert, kann in zeitlicher Hinsicht daher so weitergeführt werden, dass das Ende des Menschen in Gottes Treue eingebettet ist. Die ewige Erhaltung 15
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Diese theologische Methode ist v.a. für Barths frühe Theologie typisch und lässt sich als epistemologisches und argumentatives Grundmuster identifizieren. Vgl. Welker, »Barth und Hegel: Zur Erkenntnis eines methodischen Verfahrens bei Barth«. Zum christlichen Zeitverständnis als Endlichkeit im eschatologischen Horizont neuzeitlicher Theologie vgl. Huxel, »Sinn und Geschmack fürs Endliche«.
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Gottes überwindet nicht die Begrenztheit des Geschöpfes, sondern findet darin eine Realisierung ewiger Treue, indem sie sich auf das Geschöpf in seiner endlich verfassten Wirklichkeit bezieht: Gerade in ihrem Bezug auf die Endlichkeit des Geschöpfes ist sie »nicht etwa eine bloß teilhafte, bloß vorübergehende und unvollkommene; sie ist gerade so seine ganze, endgültige und vollkommene Erhaltung« (KD III/3, 71). Gottes ewige Treue bezieht sich auf ein Partikulares, Endliches, Begrenztes. Wenn die Erhaltung aber nicht das Ende aufhebt, worin besteht dann ihre konstruktive Bedeutung? Geschöpfliche Endlichkeitserfahrung stellt ja zugleich die Rede von der ewigen Erhaltung grundlegend infrage, sofern mit der Nihilierung des Geschöpfes zugleich auch Gottes Schöpfer-Sein (sofern dieses über ein bloßes Macher-Sein hinausgeht) infrage gestellt ist.17 Was bedeutet es für das erhaltende Handeln Gottes, dass sich Gottes Treue nicht nur trotz, sondern gerade in der Erfahrung von Begrenztheit und Endlichkeit nicht nur zufällig oder partikular, sondern als ewige Treue erweist? Bei der Bearbeitung dieser Problemlage kommt die eingangs von Barth angemahnte bundestheologische Zuspitzung zum Tragen: Gottes ewige Treue steht mit der Endlichkeit des Geschöpfes darum nicht nur nicht auf dem Spiel, sondern erweist sich erst als solche, weil jenes [das Einzelne Geschöpf in seiner ganzen Endlichkeit] in seiner Beziehung zu Jesus Christus, in seiner Teilnahme der »von Anbeginn der Welt bis zu ihrem Ende« dauernden Geschichte seiner Gemeinde je an seinem beschränkten Ort und je in seiner befristeten Zeit seinen voll genügenden Anteil am ewigen Leben in der Gemeinschaft mit Gott empfangen und haben darf (KD III/3, 72).
In Bezug auf die Ewigkeit-Endlichkeits-Spannung ist das sich dazwischen ereignende Geschehen weder eine Überwindung der Ewigkeit des Schöpfers noch der Endlichkeit des Geschöpfes. Der Konnex zwischen Endlichkeit des Geschöpfes und der Ewigkeit von Gottes Treue wird nicht durch eine Transformation der Endlichkeit zur Unendlichkeit, sondern als Zuordnung und Anteilhabe am ewigen Leben in der Gemeinschaft mit Gott gedacht. Diese eschatologische Perspektivierung von Endlichkeit, in der das erhaltende Handeln verstanden wird, ist damit keine Verewigung des Endlichen, sondern die Stiftung einer die ZeitEwigkeits-Dialektik überwindenden Verbindung, die Bart mit der theologischen Denkfigur der »Partizipation« zum Ausdruck bringt.18
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Zur Verbindung von Schöpfungstheologie, Endlichkeit und Zerstörung innerhalb der guten Schöpfung Gottes vgl. Link, Schöpfung, 308–372. Zur bereits im Neuen Testament zentralen Denkfigur der Partizipation für die Konturen der entstehenden frühchristlichen Eschatologie vgl. Roose, Eschatologische Mitherrschaft.
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Freie Tat – Mittelbarkeit Die zweite Kategorie, mithilfe derer die Erhaltung der Schöpfung dargestellt wird, fragt nach den Kausalzusammenhängen des göttlichen Wirkens. Dabei erörtert Barth die Frage nach der Modalität von mittelbarer und unmittelbarer Zuschreibung des göttlichen Erhaltens. Es geht daher um die Problematik, ob das erhaltende Handeln Gottes ein freies und unmittelbares Handeln oder ein vermitteltes und damit an die vermittelnden Medien (causa secunda) gebundenes Geschehen ist. Beide Alternativen scheinen sich gegenseitig auszuschließen. Dennoch verbindet Barth beide Optionen miteinander, indem er unterstreicht, dass es sich hier um ein wiederum paradoxes Ineinander handelt: »Geht es um die Erhaltung der Kreatur als solcher [...], dann bedarf es dazu freilich auch seiner freien, dann bedarf es aber dazu offenbar keiner unmittelbaren Tat Gottes« (KD III/3, 73). Das Erhalten ist so zwar eine freie Tat Gottes, diese denkt Barth jedoch ausschließlich in ihrem mittelbaren Zusammenhang. Die Erhaltung der geschöpflichen Existenz scheint daher auch nicht auf ein rein aktualistisches Handeln zurückzuführen, sondern von einem geschöpflichen Zusammenhang gerahmt zu sein. Gott erhält seine Schöpfung in ihrem Zusammenhang und damit durch sie und in ihr vermittelt: »Er tut es, indem er den Zusammenhang des von ihm geschaffenen Seins und indem er alles von ihm geschaffene Seiende in diesem Zusammenhang erhält. Dieser Zusammenhang und in diesem Zusammenhang [ist] die Kreatur selbst [. ..] das Mittel zur Erhaltung der Kreatur« (KD III/3, 74f.). Dieses Nebeneinander von freier Tat Gottes und vermittelter Wirkungsordnung wird von Barth dadurch unterstrichen, dass er die Unterscheidung zwischen der rein kreatürlichen Existenz und dem dieser ihre eigentliche Bestimmung gebenden Gnadenbund einführt. Die Ordnung der Handlungsakteure ist deutlich zu unterscheiden: Im Gnadenbund ist die Kreatur nicht Mittel, sondern nur Zeuge und Zeichen, gewissermaßen nur liturgischer Assistent des allein effektiv handelnden Gottes. Hier dagegen, wenn es – im Hinblick auf das, was sie im Gnadenreich werden soll – um ihre Erhaltung geht, hier in der Mitte zwischen Schöpfung und Erlösung, hier ist sie Gott und hier ist sie sich selbst gegenseitig Mittel (KD III/3, 75).
Diese Unterscheidung legt eine konsequente Trennung von erhaltendem und vermitteltem Wirkzusammenhang einerseits und schöpferischem sowie erlösendem, freiem und unvermitteltem Wirken Gottes andererseits nahe. Die konsequente Option eines rein auf die Fortexistenz der Schöpfung gerichteten geschichtstheologischen Deismus, wonach der Kreaturzusammenhang ein ausdifferenziertes aber stetig stabiles Gebilde darstellt und so kosmologisch geschlossen seinen eigenen Bestand zu garantieren vermag, wird durch eine für Barth ungewöhnliche Koppelung abgewiesen: »Sieht man die Korrelation zwischen seinem Tun hier
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und seinem Tun im Gnadenbund, dann wird man vor dem Irrtum geschützt sein, die Kreatur oder ihren Zusammenhang für das die Kreatur erhaltende Prinzip zu halten« (KD III/3, 75). Schöpfung und Bund werden damit im Kontext der Vorsehungslehre verschränkt.19 Dieses enge Korrelationsgefüge von Kreatur- und Bundesgeschichte führt dazu, dass alle Mittlerschaft letztlich in Gott aufgehoben ist: nicht die Kreatur erhält die Kreatur, nicht der Zusammenhang aller Kreatur garantiert der einzelnen und nicht die einzelne garantiert ihrer Gesamtheit die Dauer. Und keine Rede davon, daß etwa das Geschöpf in der Lage wäre, auch nur stellvertretend aus eigener Macht zu tun, was Gott tun will. Gott allein tut auch hier Alles: in dem Maß, als es in seinem freien Wohlgefallen steht (KD III/3, 75).
Lebens- und existenzsichernde Mechanismen und Einrichtungen werden damit nicht in ihrer Bedeutung für bedrohtes geschöpfliches Leben negiert. Ihre Eigenständigkeit wird jedoch dahingehend depotenziert, dass Barth sie primär als Wirken der göttlichen Vorsehung identifiziert.20 Unter dem Gesichtspunkt der Ordnung des erhaltenden Handelns lässt sich eine ähnliche Argumentationsstruktur erkennen wie sie bereits in Bezug auf die Zeit-Ewigkeits-Problematik zum Tragen kam: Das göttliche Handeln wird grundlegend von der ihm gegenüberstehenden geschöpflichen Substantialität und deren Parametern (Endlichkeit und Medialität) unterschieden. Dennoch wird – und dies ist das Ostinato-Motiv der Vorsehungslehre Barths – die Schöpfungswirklichkeit von Gottes Wirken gerahmt und zugleich durchdrungen, dass diese Unterscheidung in den alle geschöpfliche Wirklichkeit transzendierenden Spitzensätzen von Barths Ausführungen obsolet und Gottes schlechthinnige 19
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Zur Dramatik dieser Zuordnung vgl. Pietz, Das Drama des Bundes, 41–46. Zur eschatologischen Bedeutung der Verschränkung von Bundesgeschichte und Schöpfungsgeschichte und der darin mitgedachten Teleologie vgl. Thomas, Neue Schöpfung, 126–140. Zu Tage tritt hier das geschichtstheologische Grundproblem von causa prima und causa secunda, wobei die calvinische Prägung dieses Abschnitts sehr deutlich wird. Auch Calvin argumentiert grundsätzlich gegen ein Denkmodell, welches den Interdependenzen der Schöpfung (causa secunda) eine grundsätzliche Eigenmächtigkeit, die sich in irgendeiner Form dem schöpferischen Willen und Handeln (causa prima) entziehen (vgl. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion: Institutio Christianae Religionis, I,16,2.7). Im Zusammenhang einer politischen Ethik eruiert R. Klein mit Blick auf Barths Versöhnungslehre verschiedene Möglichkeiten einer Depotenzierung göttlicher und politischer Souveränität(en). Sie zeigt – und dies muss gegenüber der dialektisch argumentierenden Vorsehungslehre Barths geltend gemacht werden –, dass Barth erst mit der kreuzestheologischen Subversion ein Modell göttlicher Souveränität liefert, welches in Jesus Christus als ens realissimum eine Wirklichkeit versteht, die konträr zu politischen Mächten eine Souveränität eigener Art darstellt. Die in der calvinischen Vorsehungslehre zentrale diffizile Verknüpfung von causa prima und causa secunda wird somit zu einem Gegenüber von Gott und Welt umgeformt, wobei Klein Christus als das Reale, als ein Drittes geltend macht; vgl. Klein, Depotenzierung der Souveränität, 264–270.
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Souveränität für einen Augenblick in der Argumentation Barths mit der kreaturgeschichtlichen Wirklichkeit zusammenfällt:21 Gerade im Gnadenbund [...] entsteht sofort und wieder auf der ganzen Linie auch ein Zusammenhang von Kreatur und Mitkreatur, werden Kreaturen ausgezeichnet und herausgestellt zum Dienste Gottes an den anderen Kreaturen (KD III/3, 74).22
Die Aussage, dass Gott alles in allem wirkt, findet somit auch in der Feststellung eines kreatürlichen Zusammenhangs und in der Frage nach der Ordnung des göttlichen Erhaltens eine Näherbestimmung, wirft aber nicht minderschwere Probleme in Bezug auf die geschichtliche Wirklichkeit des Bösen auf. Unbegreifbarkeit der Schöpfergnade Gottes – Kontinuität geschöpflicher Existenz Auch die dritte zu untersuchende Dimension in Hinblick auf das göttliche Erhalten ordnet wieder zwei Größen einander zu, um dann die eine der anderen als integratives Moment einzuschreiben. Die dialektische Zuordnung ist in dieser dritten Dimension nicht so offensichtlich wie zuvor, tritt aber nichtsdestotrotz in ähnlicher Struktur zum Vorschein:23 Das göttliche Erhalten konkretisiert sich in diesem dritten Aspekt auf der kreatürlichen Ebene in der Kontinuität menschlicher bzw. geschöpflicher Existenz. Das Leben stellt sich in christlicher Perspektive nicht als ein steter Wechsel von Sein und Nicht-Sein dar, sondern es ist das, »worauf in der christlichen Lehre, von der Erhaltung in dieser Hinsicht alles ankommt, [. . .] die Identität des Geschöpfes in seiner Kontinuität« (KD III/3, 79). Damit korreliert auf der Ebene von Gottes Vorsehung die Feststellung der Treue Gottes, welche in dieser Identitätsstiftung und -sicherung der Kreatur ihren schöpferischen Ausdruck findet: »Daß ihn dies nicht reut, daß er dem Geschöpf der sein und bleiben will, der er ihm in seiner Erschaffung wurde und war, das ist seine überströmende Güte in dessen Erhaltung« (KD III/3, 81). Die in der Erschaffung seiner Schöpfung begründete Zusage und Erwartungssicherheit soll sich nun in seiner Erhaltung konkretisieren.24 21
22 23 24
Die Instabilität dieser Identifikation macht auch Barth in diesem Zusammenhang deutlich, wenn er betont: »Man wird dann auch hier, im Seinszusammenhang, keinen anderen als ihn selbst am Werke sehen – um davon nicht zu reden, daß man diesen Seinszusammenhang, der nur sein Mittel ist, dann bestimmt immer wieder von ihm selbst, der dieses Mittel braucht, unterscheiden wird« (KD III/3, 75). Barth spricht daher auch vorsichtig von einer »Korrelation zwischen seinem Tun hier [in und unter der Kreatur] und seinem Tun im Gnadenbund« (KD III/3, 75). Vgl. Weber, »Die Treue Gottes und die Kontinuität der menschlichen Existenz«. Dass die Erhaltung dieser Schöpfung einem beständigen Risiko ausgesetzt ist und immer wieder latent oder manifest auf dem Spiel steht, ist auch für die biblischen Autoren die Voraussetzung, hinter die die Bewährung einer Rede von der Güte und Treue Gottes nicht zurückblicken darf.
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Modell 1: Teleologische Eschatologie
Der geschöpflichen Kontinuität, welche als Ausdruck der Treue Gottes auf diesen rückprojiziert wird, steht die Unbegreiflichkeit und Freiheit Gottes gegenüber. Diese Gegenüberstellung wird in Barths Ausführungen argumentativ in den beiden semantischen Feldern von Treue und Gnade einerseits und Allmacht, Majestät und Freiheit Gottes andererseits plastisch. Jedoch werden auch in diesem dritten Durchgang die beiden Pole dialektisch aufeinander bezogen und inhaltlich miteinander verbunden: Gerade die Majestät Gottes ist also in dieser seiner Güte wirksam. Das macht sein Erhalten gewaltig. Das garantiert, daß der, der uns erhalten will, kann, was er will: als ein allmächtiger Gott. Aber da ist keine finstere, keine willkürliche Allmacht, da ist keine andere Majestät als die seiner Güte (KD III/3, 81).25
Gottes Majestät findet in dessen schöpferischer Güte, die sich als Erhaltung geschöpflicher Identität realisiert, ihren Ausdruck. Damit unterscheidet sich diese Vorstellung von Gottes Allmacht wesentlich von Denkformen, die zur Ermöglichung kreatürlicher Freiheit ein Moment der Selbstbeschränkung Gottes denken.26 Barth stellt damit theistischen und vorsehungstheologischen Modellen, die im Konfliktfall auf eine Abwägung theistischer Gottesprädikate abzielen, ein alternatives Schema gegenüber, welches sich stets die Möglichkeit einer Überbietung durch Gottes eigene Souveränität als Schlüssel zur Gotteslehre vorbehält. Barths Machtbegriff verbindet daher Souveränität als potentia mit einem Machtverständnis einer potestas.27 Diese schließt (im Gegensatz zu erwähnten KonkurrenzModellen) die besondere Qualität des Schöpfer-Schöpfungs-Verhältnisses als eines responsorischen Verhältnisses nicht aus. Sie erhält sich aber die ständige Möglichkeit einer Überbietung, sofern sich Gottes Wirklichkeit und Wirken nicht unwiderruflich durch die Geschichte bestimmen lässt. Wieder lassen sich damit die dialektischen Brechungen des monistisch-theistischen Musters identifizieren, indem wechselseitige Relationen zwischen Schöpfer und Geschöpf unumgänglicher Bestandteil der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung sind, diese aber von vornherein nicht modallogisch auf einen Nenner zu bringen sind. In diesem dritten Erörterungsgang, der bereits die epistemologische Pointe dieses Modells andeutet, verknüpft Karl Barth die unbegreifliche, weil schlechthin freie Gnade Gottes mit der in der ewigen Erwählung Jesu Christi begründeten 25 26
27
Vgl. Molnar, Divine Freedom and the Doctrine of the Immanent Trinity. Diese Selbstbeschränkung wird für Jonas zur einzigen sinnvollen Möglichkeit, angesichts der brennenden Theodizee von Gott zu sprechen; vgl. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz: Eine jüdische Stimme. Zum Freiheitsproblem im Kontext der Providentia Dei vgl. (Du Toit, »Human Freedom and the Freedom of Natural Processes«; Peckham, »Does God Always Get What He Wants? A Theocentric Approach to Divine Providence and Human Freedom«. Vgl. KD I/1, 492; KD II/1, 348.606–610. Zur Diskussion und Interpretation vgl. Krötke, »Gottes Souveränität und Menschlichkeit«.
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Treue Gottes zu seinem Geschöpf. Freiheit, Macht und die erkenntnistheoretisch daran gekoppelte Unbegreifbarkeit des göttlichen Erhaltens realisieren sich nicht als willkürliche Herrschaftsakte eines höchsten Wesens, sondern sie werden in Gottes Selbstbindung an seine Schöpfung und ihren kontinuierlichen Bestand realisiert. Gottes Allmacht – Bedrohung durch das Nichtige Die vierte von Barth genannte Dimension, die Gottes vorsehendes Handeln kennzeichnet, knüpft an die grundlegende Struktur der vorigen Abschnitte an und konkretisiert diese nun vor einem erlösungstheologisch relevanten Horizont. Die Schöpfung wird in dieser Relation als latent vulnerable und manifest durch das Nichtige bedrohte Seite der creatio ex nihilo betrachtet: Alles Geschaffene besteht nur in seiner von Gott getroffenen Unterscheidung von dem Nichts, welches Barth mit dem Nichtigen identifiziert.28 Diese Unterscheidung, deren Garantie Gottes Allmacht ist, ist der bleibende Kern des erhaltenden Handelns Gottes: [E]s geht um die Bewahrung vor der Überwältigung durch das Nichtige. Das Nichtige aber ist das, was Gott als Schöpfer nicht wählte, nicht wollte [...]: Das Nichtige ist das, was nur in dieser Negativität, die ihm durch Gottes Entscheidung zugewiesen ist, nur in seinem Ausschluß vom Er schaffenwerden, wenn man so sagen darf: nur zu Gottes linker Hand wirklich ist, so und hier aber allerdings in seiner höchst eigentümlichen Weise wirklich, relevant und sogar aktiv ist (KD III/3, 84).
Zielten die bisherigen Dimensionen durchweg auf eine wertneutrale bis positiv würdigende Verhältnisbestimmung zwischen Gott und der geschöpflichen Wirklichkeit, so verschiebt sich die Problemlage im vierten Abschnitt. Endlichkeit (a.), bedingende Mittelbarkeit (b.) und Kontinuität geschöpflicher Existenz (c.) sind allesamt Kennzeichen des guten und erhaltenden Wirkens Gottes in der Kreaturgeschichte. Indem sich Gott dieser Kennzeichen des kreatürlichen Zusammenhangs bedient und ihnen zugleich transzendent gegenübersteht, ist er zugleich in und über Allem. Gegenüber diesen Kennzeichen, die Teil der guten Schöpfung Gottes sind, ist die in diesem Abschnitt thematisierte Nachbarschaft des Nichtigen jedoch eine bedrohende, lebenszerstörende und annihilierende Größe. Diese stellt als »Chaos« und gefährdendes »Nicht-Sein« eine – wie Barth betont – »ganz Eigentümliche ponderable Wirklichkeit« (KD III/3, 86) dar, die als Gegenspieler der guten Schöpfung einerseits und der guten Schöpferintention Gottes andererseits eine die Güte der Schöpfung pervertierende Existenz führt. 28
Die anklingende Problematik der Wirklichkeit des Nichtigen wird im Abschnitt 1.3 eingehend diskutiert. Zur schöpfungstheologischen Grundfigur der Unterscheidung bei Barth vgl. Thomas, Neue Schöpfung, 140–145.
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Modell 1: Teleologische Eschatologie
In dieser eigenartigen Existenzweise behauptet sich das Nichtige in seiner Gegnerschaft als das die Schöpfung bedrohende Böse, sofern es eine radikale Infragestellung des von Gott bejahten, geschaffenen und erhaltenen Seins ist. Diese phänomenologische Bestimmung reiner Negativität steht in einem ontologischen Begründungszusammenhang, der – konsequent weitergedacht – in eine negative Dialektik führt.29 Das Nichtige ist nur qua seines negativen Verhältnisses zu Gottes Willen, der jenem gegenüber ein purer Unwille, Zorn und Gericht ist: »Ohne Gott – in diesem Fall: ohne Gottes Zorn, Verwerfung und Gericht – könnte auch das Nichtige nicht auf dem Plane, wichtig und mächtig sein« (KD III/3, 87). Diese negative Abhängigkeit des Nichtigen von Gott rückt strukturell den eigentlichen Gegenspieler Gottes in eine sonderbare Nähe zu diesem. In den absoluten Grenzlagen theologischer Argumentation des berühmten Paragraphen zum Nichtigen wird diese Negativität dann wiederum auf Gott selbst zurückgeführt: »[E]s hat sich nicht selbst geschaffen. Es hat keine Macht, die ihm nicht von Gott gegeben wäre« (KD III/3, 405). Mit Formulierungen dieser Art, die zweifelsohne die Grenzen des theologisch Sagbaren markieren, bestätigt Barth die Linie seines theologischen Monismus auch in Bezug auf das Widerständige, das für die Geschöpfe die pure Gefährdung, Bedrohung und Vernichtung darstellt. Das Nichtige, das von Menschen erfahrene Leid hat seinen paradoxen Grund nicht zufällig – »Auch es ist von Gott« (KD III/3, 405). Welche erlösungstheologische Rolle spielt diese negative Abhängigkeit des Bösen von Gott? Die Antwort, die dieses Modell geben kann, liegt in der nun hinlänglich bekannten Argumentation der Überbietung durch das herrschaftliche Walten der göttlichen Allmacht.30 Die Begründung des Nichtigen in Gottes Unwillen ist nämlich symptomatisch für die Macht, die Gott auch über diese Wirklichkeit ausübt: »Gott ist mächtig auch über diesen Bereich, so gewiß dieser ohne seine Schöpfertat nicht einmal diese negative Wirklichkeit hätte und wäre« (KD III/3, 84). Das Böse stellt nach dieser Logik keine autonome Gegenmacht 29
30
Hier ist ganz bewusst an den Adornoschen Begriff gedacht, der ein negatives Drittes zwischen Subjekt und Objekt bezeichnet. Dieses Dritte, das bei Barth weder in das Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf, noch in die formale Logik von Sein und Nicht-Sein eingetragen werden kann, bezeichnet das Nichtige (vgl. Adorno, Negative Dialektik). Der Begriff der göttlichen Allmacht ist bei Barth insofern voraussetzungsreich, als dass sich darunter mitunter verschiedene Überlegungen überlagern, die von einem klassisch theistischen Grundbegriff der Eigenschaftslehre bis hin zu einem soteriologisch qualifizierten Grenzbegriff reichen. Im hier behandelten Kontext ist er grundsätzlich auf ein Kausalschema bezogen, das sich sowohl aus metaphysischer wie aus orthodox-reformierter Methodik speist, mithilfe derer es Barths »implizites Ziel [ist], an einer umfassenden Souveränität und Überlegenheit Gottes festzuhalten« Kress, Gottes Allmacht angesichts von Leiden, 205; zur historischen Einordnung von Barths Allmachtsbegriff vgl. Käfer, »Gottes Allmacht und die Frage nach dem Wunder: Ein Beitrag zum Vergleich der Positionen Friedrich Schleiermachers und Karl Barths«.
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dar, da es durch das Prisma der Allmacht Gottes betrachtet immer schon als diesem unterworfen verstanden werden muss. Dieser Kampf, alles Leid, alle Vernichtung und Zerstörung, die das Böse hervorbringt, sind – und dies ist die zugleich tröstende wie auch ans Zynische grenzende Logik eines jeden geschichtstheologischen Monismus – unter Gottes Kontrolle: »Gott läßt es jetzt noch zu, daß wir sein Reich noch nicht sehen und uns insofern vom Nichtigen noch immer bedrängt finden« (KD III/3, 425). Wie sehr das Nichtige als Chaosmacht die geschöpfliche Wirklichkeit auch bedrohen mag, es »ist ein in seinem Verhältnis zu Gott allerding schlechthin unterlegener [.. .] Faktor« (KD III/3, 87) und »[e]s hat gegen Gott keine Macht« (KD III/3, 88). Gottes Allmacht, verstanden als Allwirksamkeit, wird auch durch die Existenz des Nichtigen nicht geschwächt und in Frage gestellt. Stattdessen findet es daran seine Grenze. Das eigentümliche Schillern zwischen seiner selbstbehaupteten Existenz, der schwerwiegenden und folgenreichen Wirklichkeit des Nichtigen und der letztlich sogar genetischen Abhängigkeit von Gott, entzieht sich jedoch einem klaren Zugriff und entweicht der Frage, wie eigentlich die Schöpfung vor diesem Sturz ins Nichts bewahrt wird – »es ist auch dialektisch nicht zu überbieten, geschweige denn zu meistern« (KD III/3, 408). Bezeichnend für die Rede von der Allmacht ist, dass sich Barth in der Schilderung der geschichtlichen Auseinandersetzung Gottes allein auf das singuläre Ereignis des Kreuzes verweist, in welchem sich das Nichtige als schon überwunden herausstellt.31 In eschatologischer Perspektive hat 31
Vgl. KD III/3, 89ff.: Die Rede von der Überwindung des Nichtigen in Jesus Christus folgt dabei jedoch einer völlig anderen Logik und nimmt weder die vorher dominante Argumentationsstruktur der Allmacht Gottes noch die wirklichkeitsüberbietende Wirksamkeit Gottes auf. Ebenso verschiebt sich in §50.4 an ähnlicher Stelle der Fokus, wenn von der in Jesus Christus immer schon geschehenen Überwindung des Nichtigen die Rede ist. Dort bricht Barth mit den Konsequenzen einer rein monistischen Geschichtstheologie und nimmt erst hier seine eigene christologische Korrektur ernst. Während Barths Rede von der providentia Dei von einer Ewigkeit-Zeit-Dialektik geprägt ist, wird die Überwindung des Nichtigen in §50.4 mit einer kreuzestheologischen und also christologischen Denkform geschildert. Mithilfe der in dieser Studie verfolgten modelltheoretischen Methode lässt sich zeigen, dass sich hier innerhalb Barths Argumentation ein Wechsel der Modelle ankündigt, der von einer schöpfungstheologischen Überlegenheit Gottes über die Wirklichkeit des Nichtigen hin zu einer christologischen Dramatik des Kreuzes überleitet. Dieser Modellwechsel macht sich darüber hinaus auch sprachlich bemerkbar: Während in §50.4 die ersten sechs Gliederungspunkte das triadische Verhältnis von Gott, der guten Schöpfung und der Wirklichkeit des Nichtigen im temporal unbestimmten Präsens geschildert werden, wechselt Barth im siebten Punkt, der die am Kreuz geschehene Auseinandersetzung Jesu Christi mit dem Nichtigen schildert, in die Vergangenheitsform. Barth unterstreicht diese Perspektive selbst, indem er darauf verweist, dass das Nichtige in diesem besonderen »Rückblick« und dem darin begründeten »Ausblick« auf die allgemeine Offenbarung dieser Überwindung zu betrachten sei (vgl. KD III/3, 424). Dennoch integriert er diese am Christusereignis gewonnene temporalisierte Perspektive nicht konsequent in die übrigen Überlegungen zum Nichtigen. Meine These lautet daher, dass in §50.4 der Schnittpunkt von gleich drei Modellen zu finden ist: Es ist das in diesem ersten Kapitel herausgearbeitete Modell,
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diese Übermacht und souveräne Kontrolle Gottes über das Nichtige jedoch keine eigentliche überwindende oder verhindernde Wirkung, sondern vielmehr eine unter seinen Heilswillen integrierende und zuordnende Funktion; so schließt §50 über die Wirklichkeit des Nichtigen mit der Feststellung, »daß auch es – gerade es, das ihm nicht dienen will – ihm dennoch dienen muß « und »daß auch das Nichtige zu den Dingen gehört, von denen es heißt, daß sie denen, die ihn [Gott] lieben, zum Besten dienen müssen« (KD III/3, 425). Dem Nebeneinander von Drittexistenz in Gegnerschaft zu Gott und gleichzeitiger ontologischer Abhängigkeit von ihm, wie auch der Spannung von NichtIntegrierbarkeit in Gottes guten Schöpferwillen bei gleichzeitiger Übermacht Gottes, dem das Nichtige letztlich doch dienen muss, entsprechen die vielen sprachlichen Paradoxien in Barths Ausführungen zur Wirklichkeit dieses radikal Bösen: »Existenz des Nichtexistierenden« (KD III/3, 87), »unmögliche Möglichkeit« (KD III/3, 405), »nur zur Linken Gottes« existierend (KD III/3, 405) führen die denkerische Widersprüchlichkeit und theologischen Ungreifbarkeiten vor Augen, über die letztlich nur noch ein kontraevidentes »Dennoch« von Gottes »Alles in Allem« triumphieren kann.32 Barths theologische Innovation der Rede vom Nichtigen fügt sich damit nahtlos in die bis hierhin dargestellte Struktur eines Grenzgangs zum Monismus ein und legt zugleich eine relative Unbestimmtheit innerhalb dieses Modells frei, die später noch im Rahmen der Epistemologie dieses Modells eingehender erörtert werden soll.
1.2 Erlösungstheologische Implikationen Die anhand des göttlichen Erhaltens dargestellte Struktur von Barths Vorsehungslehre bildet eine heuristische Grundlage für ein eschatologisches Modell, das im Folgenden zu skizzieren ist. Denn die tragenden Denkformen in KD III/3 implizieren eine Erlösungshoffnung: Vorsehungslehren thematisieren im Allgemeinen Gottes Wirksamkeit in der und auf die Geschichte. Und gerade die Rede von Gottes Allmacht provoziert die Frage nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Erlösungswirklichkeit im Bezug zu einer Geschichte, in der das Nichtige eine bedrohende Wirklichkeit darstellt. Wenn Barth von einem durch Gottes Allmacht und Allwirksamkeit gekennzeichneten Geschehen spricht, so stellen sich darüber hinaus berechtigte Anfragen in Bezug auf die Beschreibungskraft dieser Rede für erfahrene und erlebte Lebens- und Weltgeschichten. Die folgenden Überlegungen zu einer »Erlösung als Vollendung« sind in dieser Stringenz
32
welches eine Kreuzestheologie (vgl. Kap. 3) mit einer offenbarungstheologischen Eschatologie (vgl. Kap. 5) verbindet. Die Figur der Kontraevidenz wird in einem späteren Abschnitt zum Schlüssel für eine konstruktive Rezeption der Vorsehungslehre Barths (vgl. Kap. 1.4.2).
Erlösungstheologische Implikationen
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selbst nicht von Barth ausgearbeitet worden. Sie können aber als eine konsequente Fortschreibung der in Barths Vorsehungslehre etablierten Linien verstanden werden.
1.2.1 Erlösung als Vollendung Barths Geschichtstheologie trägt grundlegend teleologische Züge:33 In Gott hat alles seinen Anfang und findet letztlich auch sein Ende, welches nicht als zeitliches finis, sondern als eschatologisches telos zu verstehen ist. Dieses Ziel wird nicht erst einst Realität werden, sondern ist bereits in dieser Geschichte eine eschatologische Wirklichkeit, sofern »alle Dinge und alles Geschehen diesem seinem Endzweck dienen müssen« (KD III/3, 150). Der entscheidende Zug in dieser Konzeption ist der Entwurf eines teleologischen Denkens, das die darin enthaltenen Konsequenzen eines Determinismus gerade nicht in Kauf nimmt, sofern Barth eine freie Eigenwirksamkeit des Geschöpfes mit der in Allem wirksamen Allmacht Gottes zusammenzudenken versucht. Die darin enthaltene Überbietungsstruktur des Gottesbegriffs wurde im vorigen Abschnitt ausführlich dargestellt. Ihre Folgen sollen nun material für eine Eschatologie der Vollendung fruchtbar gemacht werden: Barth versucht hier diese beiden entgegengesetzten Pole miteinander zu vereinen, indem »Gottes Herrschaft in ihrem Verhältnis zur freien Eigenwirksamkeit des Geschöpfes« (KD III/3, 104) gedacht wird. Barth verweist dazu auf die synthetisierende Kraft des Geistes, in dem beide Pole miteinander vereint und realisiert sind: »Hier die väterliche Herrschaft des Schöpfers und hier der kindliche Gehorsam des Geschöpfes, hier der Geist, in welchem beide miteinander Ereignis sind« (KD III/3, 106f.).34 Dieses konkurrenzfreie Gefüge gründet in der grundsätzlichen Beschreibung der Technik der göttlichen Vorsehung als ein »Zuordnen und Hinzufügen des kreatürlichen Geschehens zur Geschichte seines Bundes« (KD III/3, 51). Die geschichtliche Wirklichkeit, wie sie in aller Brüchigkeit mitsamt den Erfahrungen von Leiden und Schmerz erlebt wird, wird durch Gottes vorsehendes Handeln nicht aktualistisch-manipulativ umgebildet. Sie wird vielmehr qualitativ in ihrer Zugehörigkeit zur Geschichte des Bundes Gottes mit den Menschen angereichert. Diese additive Richtung des göttlichen Handelns verschließt sich ihrer Logik nach einer Rede von der Überwindung des Bösen. Umbildende, kritisch-negierende 33
34
Diese Teleologie taucht nicht erst in Barths Vorsehungslehre auf, sondern hat ihren Grund bereits in der in sich differenzierten Verbindung von Schöpfung und Bund; vgl. Thomas, Neue Schöpfung, 133–140. Zur immer noch weiterhin als unterbestimmt verstandenen Bedeutung der Pneumatologie im Oeuvre Barths vgl. Thompson, The Holy Spirit in the Theology of Karl Barth. Den fundamentaltheologischen Gewinn, der auch hier im Hintergrund steht, zeigt außerdem Obst, Veni Creator Spiritus! Die Bitte um den Heiligen Geist als Einführung in die Theologie Karl Barths.
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Modell 1: Teleologische Eschatologie
oder gar annihilierende Prozesse, wie es bspw. die Rede von einer Neuschöpfung aller Dinge, das Purgatorium oder das Jüngste Gericht nahelegen, treten hier völlig in den Hintergrund. Die geradezu kontralogische Wendung folgt stattdessen auf dem Fuße: Mit dem Zuordnen und Hinzufügen realisiert sich nämlich zugleich in der – von Barth nicht näher beschriebenen – koordinierenden Wirksamkeit des Geistes der Wille Gottes mit seiner Kreatur. Daraus folgt, »daß diese Geschichte ein bestimmt geformtes und gestaltetes Geschehen ist, daß es in seiner umfassenden Einheit und Ordnung eine Richtung [...] gibt« (KD III/3, 218). Trotz des Ausbleibens einer Zurückdrängung oder Nihilierung geschichtlicher Wirklichkeit ist der Kreaturgeschichte so »eine bestimmte Disposition und Ökonomie« (ebd.) gegeben. Diese Disposition hat jedoch alles andere als einen subtilen Charakter, sondern manifestiert sich in geradezu absoluter Art und Weise, sofern »sein Wirken das seines Geschöpfes ganz und gar bestimmt, daß im Wirken des Geschöpfes, indem Gott mit ihm zusammenwirkt, indem Gottes Wirken vorangeht, es begleitet, ihm nachfolgt, etwas Anderes als der Wille Gottes nicht geschehen kann« (KD III/3, 127). Dies gilt auch in Bezug auf Wirklichkeiten und Kräfte, die lebensbedrohende und lebenszerstörerische Schneisen der Verwüstung durch das Feld der Geschichte graben: In Bezug auf die eschatologische Wirklichkeit der allmächtigen Allwirksamkeit Gottes gibt es gerade keine selbstständige [Herrschaft], keine unabhängige von ihm, keine nicht so oder so von ihm eingesetzten oder zugelassenen und durch ihn kontrollierten Mächte dieser Art. Es gibt neben der seinen keine Nebenregierung und gegen die seine keine Gegenregierung (KD III/3, 178).35
Epistemologisch entzieht sich diese schon in dieser Geschichte reale Wirksamkeit einer eindeutigen Identifikation: Gottes Wirken ist »in, mit und über dem geschöpflichen Geschehen« zu verorten (KD III/3, 153). Diese ständigen Überbietungsformeln, die das geschichtliche Geschehen immer wieder transzendieren, führen in eine Eschatologie, die grundsätzlich apophatische Züge trägt und sich einer Identifikation verschließt: Wenngleich sich Gottes vorsehendes Wirken in aller Wirklichkeit vollzieht, so bleibt er dieser dennoch überlegen gegenüber. Obwohl die Kreaturgeschichte in dieser teleologischen Disposition steht, ist dies nicht evident – Barth möchte mit seiner Vorsehungslehre gerade keine allgemeine 35
Spitzensätze dieser Art, die wie eine trotzige Konterreaktion klingen mögen – und als solche auch immer wieder bei Barth kritisiert wurden – sind Ingolf Dalferth zufolge Ausdruck eines theologischen Realismus, der sich aus der fundamental-eschatologischen Grundierung seiner Theologie speist: »So zieht Barths Insistieren auf einer theologischen Theologie die methodische Konsequenz aus der prinzipiellen, ontologischen und noetischen Vorordnung der eschatologischen Wirklichkeit vor unserer Erfahrungswirklichkeit« (Dalferth, »Theologischer Realismus und realistische Theologie bei Karl Barth«, 413).
Erlösungstheologische Implikationen
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Geschichtsdeutung bieten, sofern Gottes Allmacht nicht nur in, sondern über dieser Geschichte aufgeht (vgl. KD III/3, 17). Dennoch bietet Barth einen Ausblick auf das, was diese Konzeption als die Vollendung der Geschichte versteht: »Vor ihm wird Alles in voller Wirklichkeit und im ganzen zeitlichen Lauf seines Wirkens, in seiner Kraft und Schwäche, Majestät oder Kümmerlichkeit Gegenwart sein: genau so, wie es war oder jetzt ist oder noch sein wird« (KD III/3, 102). In zeitlicher Perspektive wird Erlösung in diesem Modell in hohem Maß in eschatologischer Kontinuität zur Geschichte gedacht: Das v.a. in der Lehre von der Begleitung hervortretende Motiv des Zusammenordnens von Kreatur- und Bundesgeschichte lässt ein kritisches Sich-zum-Bösen-ins-Verhältnissetzen Gottes vermissen. Vielmehr werden die Geschichte und die vielen in ihr sich abspielenden Geschichten zu einem Ende geführt: Das finis wird gerade in seiner Linearität auch zum telos, sofern darin die Endlichkeit nicht negiert, sondern in Gott aufgehoben wird. Die Erlösung wird damit ganz dem monistischen Grundkonzept entsprechend als eine von Gott kommende und zu ihm zurückführende Sinnstiftung und Sinnerfüllung des gelebten Lebens verstanden. In ihm sind Anfang und Ende der Geschichte gegründet, die in und trotz ihrer Endlichkeit, Gebrochenheit, Gefährdung und Anfechtung ihr Ziel findet. Diese Vorstellung erteilt eschatologischen Restitutionskonzeptionen eine Absage. Bildlich gesprochen strebt diese Vorstellung eschatologisch konsequent nach vorne, anstatt auf eine Rückkehr, Wiederherstellung oder rückwirkende Transformation des Gewesenen. Damit einher geht eine nicht zu unterschätzende Würdigung geschöpflicher Eigenkreativität, die nicht zurückgenommen, sondern gerade in ihrem Werden Teil der vollendeten Geschichte Gottes ist. Dass sich hier v.a. im Blick auf die zahllosen menschlichen wie nichtmenschlichen Opfer der Geschichte erhebliche Anfragen ergeben, liegt auf der Hand. Gerade die Betonung eschatologischer Kontinuität und das damit verbundene Ausbleiben purgatorischer, richtender, versöhnender und heilender Prozesse potenziert den Stachel der Theodizee, der sich auch durch den Verweis auf die kontraevidente Wirklichkeit der Allmacht und Allwirksamkeit Gottes im status confessiones nicht auflösen lässt. Die gerade nicht in der erfahrenen Wirklichkeit, sondern nur im kontraevidenten Vertrauen auf Gott gegründete Rede von Gottes Macht in und über Allem wird beim Ausbleiben der Bestätigung von Gottes Treue letztlich überlastet und wird so entweder zu einem dogmatischen Theorem ohne Wirklichkeitsbezug oder zum Zynismus, der erfahrenes Leid der seufzenden Schöpfung nicht wahrnehmen kann.36 Die in der Vorstellung von Erlösung als 36
Matthias Wüthrich gibt in Anschluss an seine Analyse von der Lehre des Nichtigen einen Ausblick, der genau diese Gefahr identifiziert, aber gerade hier die Möglichkeit einer Weiterentwicklung dieses Theologumenons erblickt, indem er den Sprachmodus der Klage stark macht: »Der Entzugsbewegung des Bösen wird in der Klage wenigstens ein Stück weit Einhalt geboten,
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Vollendung mitgesetzte Betonung eschatologischer Kontinuität kann demnach – wie auch die ihr zugrundeliegende tendenziell monistische Gotteslehre – nur gebrochen zum Tragen kommen. Barth verschiebt dieses Problem in den Bereich einer kontraevidenten Epistemologie, die weiter unten noch im Detail zu untersuchen ist.
1.2.2 Aufhebung und Transzendieren schöpfungsimmanenter Widersprüche und Grundaporien Teleologische Geschichtskonzeptionen haben die Tendenz, die geschichtliche Wirklichkeit nach einer Größe, die sich als das anzustrebende Ziel manifestiert, hin aufzulösen. Thesen und Antithesen der geschichtlichen Dialektik führen zu der einen Synthese, in der entweder das Absolute alles Gewesene obsolet macht und auflöst. In der systematischen Geschlossenheit und der Linearität dieser Argumentationen besteht die Anziehungskraft und zugleich die Gefahr säkularisiertidealistischer Eschatologien: Egal ob die Verwirklichung einer Revolution, das Heraufführen eines Kulturziels oder die Manifestation anderer Absolutismen, die geschichtlich Raum zu greifen versuchen; all diesen Geschichtsdeutungen und den darin implizit wie explizit enthaltenen Eschatologien ist die Unterordnung aller Wirklichkeit unter ein telos gemeinsam.37 Die relative Unbestimmtheit der Vorstellung Barths, dass durch die göttliche Vorsehung schlechthin Alles seiner Erfüllung entgegengeführt wird, provoziert ein mannigfaches Nebeneinander konkurrierender teloi. Tatsächlich impliziert Barths Würdigung individueller Identität und Lebensgestaltung eine solche Aporie: »Gottes propositum und proponendum bezieht sich gerade auf die Individuen und ihr Individuelles als solches und verwirklicht sich in lauter individuellen Zielen« (KD III/3, 190). Bereits das im vorigen Abschnitt so problematische Zugleich der Würdigung kreativer Eigendynamiken in der Schöpfung und der von Gott gesetzten Disposition der Geschichte stellt eine nicht zu versöhnende Paradoxie dar, sofern Lebensentwürfe partikulare Interessen verfolgen und individuelle Ziele vor Augen haben, die sich auch unter den Bedingungen kooperativen Zusammenlebens als inkommensurabel herausstellen. In der Bearbeitung dieser Problematik liegt der Schlüssel für das Verständnis der eschatologischen Diskontinuitäten, auf die dieses monistische Modell hinführt.
37
indem das Böse in der Präzision benannt werden kann, die der metaphorischen, narrativen Klagesprache eignet und indem diese sich offenhält für ein neues Handeln Gottes, in dessen Licht auch das Dunkel um das Böse, das Nichtige, schärfere Konturen annimmt« (Wüthrich, Gott und das Nichtige: Eine Untersuchung zur Rede vom Nichtigen bei Karl Barth, 377). Zur Analyse der politisch und geschichtlich wirkmächtigen Eschatologie, die aus dem deutschen Idealismus und dem darauf reagierenden Marxismus hervorgehen vgl. Burgio, Vernunft und Katastrophen; Hübner, Die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus.
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Exemplarisch greift Barth die Aporie von Individuum und Universalität auf, die in den politischen Ideologien der letzten beiden Jahrhunderte ihre Parallele in den säkularen Eschatologien von Liberalismus und Sozialismus hat. Während der Liberalismus der Freiheit und Entfaltung – mithin der Erfüllung und Vollendung – individueller Existenz den Vorzug gegenüber kollektiven Zielen gibt, sieht der Sozialismus das Ziel der Geschichte gerade in der umfassenden Solidarisierung vieler Einzelner zur Gemeinschaft wahrer Menschlichkeit. In den extremen Interpretationen beider diametral zueinanderstehender Entwürfe wird das jeweilige Existenzrecht des anderen kategorisch ausgeschlossen: Gemeinschaftliche Interessen haben sich – im Verdacht des Totalitarismus der Masse – der freien Entfaltung des Individuums unterzuordnen; umgekehrt wird das Interesse des Einzelnen – stehend unter dem Verdikt des selbstgerechten Egoismus – den Zielen einer Gesellschaft unterstellt. Das Abwägen und Austarieren beider Extreme gegeneinander ist die Aufgabe sozialethischen Denkens und spiegelt die Alltagsproblematik politischer Entscheidungsfindung wider. Macht man sich die Schärfe dieses Grundkonflikts bewusst, so wird die in diesem eschatologischen Modell implizierte ungeheure Transformationserwartung deutlich. Neben die geschichtsphilosophischen Aporien treten ontologische (Notwendigkeit und Kontingenz), formallogische (Regel und Freiheit) und nicht zuletzt auch juridische (Gerechtigkeit und Gnade) Diastasen, die nur als unvereinbare Gegensätze verstanden werden können. Die Vollendung der Geschichte kann jedoch nur als eine Versöhnung dieser Gegensätze zu erhoffen sein. Das Zugleich der jetzt noch faktischen Undenkbarkeit einerseits und der in Aussicht gestellten Realisierung von Universalität und Partikularität stellt die große Diskontinuität in diesem Modell dar. Diese Diskontinuität zu überwinden, ist neben der Vollendung der Geschichte der zweite Aspekt, der im Rahmen dieses Modells zu thematisieren ist: Mit Barth gesprochen, ist Gottes Wirken ein »koordinierendes Wirken« (KD III/3, 190), das genau diese unter geschöpflichen Bedingungen nur aporetisch zu denkende Paradoxie von einem und vielen individuellen Zielen bearbeitet, transzendiert und auflöst, indem sie dem alles bestimmenden Willen Gottes untergeordnet wird: »die damit durchgeführte Ordnung ist als Unterordnung aller Kreatur unter Gott zugleich ihre Zusammenordnung in sich, d.h. die Herstellung einer sinnvollen Beziehung der einzelnen Kreaturen und Kreaturgruppen untereinander« (KD III/3, 191). Die Grundstruktur von Barths Vorsehungslehre trägt hier erlösungstheologische Früchte, sofern Gott in seinem Wirken auf seine Schöpfung wesentlich Bezug nimmt, sich dessen Begrenztheiten jedoch nicht nur zunutze macht, sondern diese ebenso transzendierend und koordinierend in sich aufhebt. So werden sowohl »alle einzelnen Ziele diesem Einen zuzuordnen« sein, zugleich »verwirklicht sich in lauter individuellen Zielen« die Vollendung der Geschichte Gottes (KD III/3, 190).
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Ausgangspunkt für diese Hoffnung ist das theistische Gottesprädikat der Allmacht als potentia, die sich nicht als eine summarische Ansammlung göttlicher potestas, sondern als ein stetes Übersteigen und Überbieten jeglich denkbarer Mächte äußert: »In der Allmacht seiner Barmherzigkeit und in der Barmherzigkeit seiner Allmacht ist er über und in jenen Gegensätzen« (KD III/3, 212). Von dieser schlechthin transzendierenden Wirklichkeit Gottes ausgehend, wagt Barth wiederum einen eschatologischen Blick, der alles Gewesene unter der Herrschaft Gottes einzuordnen sucht: »Wir werden einmal zu sehen bekommen, was wir jetzt nicht sehen: wie Gott als der wirkliche König und Weltregent jenseits dieses Gegensatzes, der Herr über Alles als über Eines, der eine Herr alles Allgemeinen und alles Besonderen gewesen ist« (KD III/3, 181). Die in der Vorsehung Gottes begründete Hoffnung auf die Erlösung dieser Geschichte löst damit nicht einfach nur Gegensätze synthetisch auf, sondern ist stattdessen ein Zusammenordnen des Unvereinbaren. In der monistischen Grundstruktur von Barths Vorsehungslehre ist begründet, dass die eschatologische Bearbeitung dieser geschöpflichen Widersprüche nicht auf neutralem Terrain stattfindet, sondern unter dem einen Ratschluss Gottes ihren Ausgang, ihre Realisierung und ihr Ziel finden wird. Die Diastasen aus Individualität und Universalität, von Notwendigkeit und Kontingenz, von Recht und Gnade finden eschatologisch in Gott ihr Ziel – Das ist der Monismus in Barths Geschichtstheologie: Dass sich dieses Ziel in der Realisierung individueller und partikularer Ziele unter den Bedingungen von kontingenten Widerfahrnissen und freiheitliche Lebensführung realisieren soll, ist aber zugleich die Brechung dieses Monismus, deren aporetische Konstellation in der Vollendung dieser Geschichte zur Auflösung kommen soll. Die Wirklichkeit des Bösen als individuelle Erfahrung von Leid wird in dieser Konzeption nicht wie bspw. bei Leibniz oder den geschichtsphilosophischen Großtheorien des Idealismus zugunsten eines letztlich in seinem Zusammenhang erlösten Ganzen der Schöpfung einkalkuliert – es ist nicht das tragisch Subalterne eines Ziels. Aber auch die Alternative, die die Erfahrungen und die Schutzund Erlösungsbedürftigkeit des Individuums in individualistischen Erlösungsvorstellungen gegen dessen Eingebettetsein in den Lebenszusammenhang der menschlichen, organischen und anorganischen Schöpfung ausspielt, lässt sich für Barth – zumindest in diesem Modell – nicht aufrecht erhalten. Stattdessen bleibt auch das Böse selbst ein in der schlechthinnigen Negativität des Nichtigen unintegrierbarer Bestandteil dieses Denkschemas. Damit einher geht die Tatsache, dass eine geschichtliche Auseinandersetzung mit dem Bösen als Konfrontationsgeschehen innerhalb dieses Modells a priori nicht gedacht werden kann. Die nur konsequente Folge davon ist, dass die in der Hoffnung auf die Vollendung der Geschichte enthaltene Diskontinuität nicht durch eine Umbildung der Geschichte, in einer Auslöschung bzw. Zurechtbringung des Bösen oder Wiederherstellung
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des verlorenen Lebens realisiert wird, sondern in der Neuschöpfung einer Logik, welche die unter den Bedingungen noch-nicht-erlöster Existenz nicht anders als paradox zu denkenden Gegensätze dieser Schöpfung versöhnt.
1.3 Die paradoxe Wirklichkeit des Nichtigen Das methodische Vorgehen dieser Arbeit, verschiedene eschatologische Denkformen als eigenständige Modelle zu analysieren, ermöglicht nicht nur einen differenzierten Zugriff auf die verschiedenen Ansätze von Erlösung zu sprechen, sondern ebenso auf das, was als erlösungsbedürftig angesehen wird. Wie das Vater Unser liturgisch vor Augen führt, ist Erlösung nicht nur ein Transformationsprozess, sondern ein Geschehen, das in formalem Bezug auf eine bestimmte Größe gedacht wird: »... erlöse uns von dem Bösen!« impliziert ein Negativum, nach dem in diesem Abschnitt gefragt werden soll. Dem in diesem Kapitel analysierten monistischen Modell zugeordnete Größe des Bösen bezeichnet Barth als das »Nichtige«.38 Von verschiedenen Seiten wurde herausgestellt, dass Barths Entwicklung der Lehre vom »Nichtigen« eine in besonderer Weise innovative Beschreibung ist, sofern das Böse – entgegen der im Hintergrund vieler theologischer Überlegungen zum Bösen stehenden Grammatik der Privation in Anschluss an Augustin – nicht als ein Mangel39 , sondern als eine negative Wirklichkeit und Widerständigkeit eigener Art gedacht wird: Das Nichtige ist nicht ein defizitäres Sein; viel weniger noch ist es aber einfach Nichts. Stattdessen bemüht sich Barth um eine Beschreibung des Nichtigen jenseits der aristotelischen Alternativen von Sein und Nicht-Sein.40 Diese Beschreibung ist für die Frage nach der Auseinandersetzung Gottes mit dieser Größe insofern von Bedeutung, als dass damit die geschichtliche Wirklichkeit des Bösen in Bezug 38
39 40
Aus der umfangreichen Literatur zu Barths Lehre vom Nichtigen stechen zweifellos die beiden inzwischen klassischen Interpretationsansätze hervor: Krötke, Sünde und Nichtiges bei Karl Barth und Wüthrich, Gott und das Nichtige: Eine Untersuchung zur Rede vom Nichtigen bei Karl Barth. Zur spezifischen Problemstellung des Nichtigen unter der Allmacht Gottes vgl. Kress, Gottes Allmacht angesichts von Leiden, 203–207.217–223. Zur abendländischen Tradition das Böse als einen Mangel des Guten zu verstehen vgl. Dalferth, Malum, 124–140. In ihrer Untersuchung zu Barths Verständnis von Gottes Allmacht als Allwirksamkeit in den frühen Bänden der KD führt Christine Kress diese sachliche Paradoxie auf das sprachliche Instrumentarium einer Vorsehungslehre zurück, die den klassischen metaphysischen Alternativen nicht entkommen kann und stattdessen dem »Systemzwang der Ontologie« unterliegt. Dem ist insofern zuzustimmen, als dass die klassischen Denkfiguren abendländischer Ontologie keinen dritten Weg kennen und sich Barth diesen Traditionen wenigstens sprachlich verpflichtet. Er versucht jedoch innerhalb des hier dargestellten Modells dieser Alternativlosigkeit sachlich zu entgehen, indem er die in Gottes Wirklichkeit gegründete Allmacht nicht als Summe aller Möglichkeiten versteht, sondern in Gottes Wirklichkeit begründet sieht; vgl. Kress, Gottes Allmacht angesichts von Leiden, 217–223.
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auf die Lehre von Gottes Allmacht als Allwirksamkeit zur Sprache gebracht wird: Von welcher Beschaffenheit ist eine solche widerständige Wirklichkeit inmitten der von Gott erhaltenen, begleiteten und beherrschten guten Schöpfung? Bezeichnend für Barths Beschreibung der Wirklichkeit des Nichtigen ist eine vierfache Abgrenzung, die zu einem Spannungsfeld zwischen theologischen Grenzwerten führt: 1. Zu Beginn steht die schöpfungstheologische Einschätzung, dass das Nichtige nicht genuin Teil der guten Schöpfung Gottes ist. Weder entspringt es dem guten Schöpferwillen, noch ist es im Rahmen der Vorsehung Teil dessen, worauf sich Gottes erhaltendes, begleitendes und regierendes Handeln bezieht. 2. Das Nichtige ist ontologisch nicht Nichts. Dies würde die Wirklichkeit des Nichtigen verkennen und im schlimmsten Falle verharmlosen und banalisieren. Gerade angesichts der universalistischen Grundtendenz Barthscher Theologie ist diese Feststellung gar nicht hoch genug einzuschätzen. Das Nichtige stellt in seiner eigenen Seinsweise eine Wirklichkeit dar, die in der Frage nach der Erlösung von diesem Bösen Kontur gewinnt. Diese ontologische Bestimmung steht der schöpfungstheologischen Bestimmung kritisch gegenüber, indem sie die jener Negativbestimmung naheliegende Alternative der Nichtexistenz ebenfalls ausschließt. Tertium datur! 3. In Bezug auf die Gotteslehre ist die Wirklichkeit des Nichtigen negativ von dem Konzept einer Gott gegenüberstehenden Entität abzugrenzen. Zwar behauptet sich das Nichtige in seiner Feindschaft und Gegnerschaft zu Gott, es hat in dieser Feindschaft jedoch kein wirkliches Gewicht, sofern Gottes Wirklichkeit auch darüber Herr ist. Hier ist die Logik des eschatologischen Modells der Omnipotenz im Gegensatz zu Barths juridischem Modell deutlich zu sehen: Während in jenem Modell die Macht Gottes überbietend und transzendierend von der Wirklichkeit des Nichtigen völlig unaffiziert zu bleiben scheint, hat Barth sowohl in seiner Erwählungslehre wie auch in der später entfalteten Kreuzestheologie die auch für Gott gefährliche Wirklichkeit dieses Widerstandes im Blick.41 In dem hier dargestellten Modell bleibt Gottes Herrschaft jedoch auch durch die destruktivsten Gestalten des Nichtigen hindurch unhinterfragt souverän. 41
Analog dazu lässt sich auch das Machtverhältnis Gottes zu dieser Größe vollkommen unterschiedlich artikulieren. Christine Kress hat, indem sie sich mit der Gliederung ihrer Analyse bereits methodisch dem hermeneutischen Zirkel Barths gekonnt entzieht, überzeugend zur Darstellung gebracht, dass sich bei Barth unterschiedliche Konzepte finden lassen, die (entgegen seiner eigenen Beteuerung) fern davon sind, sich von den klassisch-metaphysischen Traditionen der Theologie zu emanzipieren. Zur methodologischen Diskussion vgl. Kress, Gottes Allmacht angesichts von Leiden, 170f.
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4. Die vierte Negativbestimmung vollzieht Barth nach erwählungstheologischen Gesichtspunkten. Sie stellt wiederum das komplementäre Korrektiv zu (3.) dar: Sollte das Nichtige keine letzte Gegenmacht zu Gott darstellen, so lautet eine denkbare Alternative, dass es unter seiner souveränen Herrschaft letztlich Gottes Willen unter- und zugeordnet werden muss. Die Herkunft des Bösen könnte dann im Rückgriff auf verschiedene Modelle der Theologie- und Philosophiegeschichte erklärt werden.42 Entweder folgte Gottes Gnadenwille selbst einer übergeordneten Logik, die zum Guten auch das Böse benötigt, oder die Dualität von Gut und Böse wird in das Sein Gottes selbst eingeschrieben – ob dieses in spekulativer Manier zu erforschen sei oder (wie bspw. Luther in De servo arbitrio anmahnt) nicht erklärtes Ziel der menschlichen Gottessuche sein darf. Auch diesen Modellen erteilt Barths Rede vom Nichtigen jedoch eine konsequente Absage, indem er die Wirklichkeit des Bösen auch in Bezug auf den Willen Gottes in einer negativen Abgrenzung vollzieht: Das Nichtige hat seinen Ursprung nicht im guten Willen Gottes, sondern muss auch hiervon negativ abgegrenzt werden. Im Gegensatz zu den vorigen drei Negativbestimmungen wird die untersuchte Verbindungslinie (zwischen dem Bösen und dem Willen Gottes) nicht nur gekappt und damit negiert, sondern zugleich auch invertiert und formal-logisch korrumpiert. Hiermit wird plastisch, dass Barths Monismus kein formallogisch-konsistenter Monismus ist, sondern dass das Nichtige nur in einer eigentümlichen Brechung in diesem Verhältnis thematisiert werden kann. Diese Brechung, dass das Nichtige nicht in der Abhängigkeit von Gottes Willen, sondern vielmehr in seiner Abhängigkeit von Gottes Unwillen thematisiert wird, führt auch sprachlich zu einer Verbiegung logischer Argumentationsmuster, die Barth mit verschiedenen Metaphern von Zuordnung und Differenz einzuholen versucht: Das Nichtige ist nicht qua Gottes Erwählung, sondern durch seine Verwerfung, nicht zu Gottes rechter, aber zu Gottes linker Hand wirklich (KD III/3, 405).43 Insofern, und das ist die Pointe der Untersuchungen 42
43
Denkbare Erklärungsansätze haben bspw. die notwendige Architektur dieser Welt (Leibniz), das von Gott einkalkulierte Risiko des Falls (Free-Will-Defense) oder auch zynisch-sadistische Vorstellungen (etwa als Prüfung oder gar Spiel Gottes mit seiner Schöpfung) als Ausgangspunkt. Barths Rückbindung des Nichtigen an den Unwillen Gottes hat seinen sachlichen Grund darin, dass am Anfang aller Wege und Werke die Erwählung und davon unterschieden aber zugleich auch darin eingeschlossen die Verwerfung – das opus alienum – steht. Folgerichtig sieht M. Wüthrich in dieser Verbindung eine Entwicklung Barths: »In systematisch-theologischer Hinsicht könnte man sagen, dass sich Barths Erwählungslehre in KD II/2 als der innovative Transformationsmotor erweist, aufgrund dessen es auch funktional gesehen früher oder später zu einer expliziten Rede vom Nichtigen kommen musste« (Wüthrich, Gott und das Nichtige: Eine Untersuchung zur Rede vom Nichtigen bei Karl Barth, 261f.). Zum Problem der Wirklichkeit des Bösen im Kontext der Vorsehungslehre vgl. Link, »Was können wir von Gott erwarten?«
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von M. Wüthrich zur Genese des Nichtigen, hat das Nichtige bei Barth seinen Ursprung in der Umkehrung der theologischen Grammatik von Gottes Gnadenwahl. Darin wird zugleich die monistische Grundstruktur dieses Modells wie auch die invertierend-negative Konstruktion deutlich, mit der Barth die Konsequenzen eines monistischen Systems zu brechen versucht. Diese Beobachtungen fügen sich nahtlos in die Logik der alle Wirklichkeit transzendierenden Allmacht resp. Allwirksamkeit Gottes ein. Freilich wird der phänomenologische Gehalt von Barths Beschreibung dadurch nicht größer – im Gegenteil: gerade die negative Theorie des Nichtigen verwehrt sich grundsätzlich einer Konkretisierung.44 Dies kann auch nicht weiter verwundern, sofern ein theologischer Zugriff auf das Phänomen des Bösen, wie ihn dieses spezifische Modell vorsieht, immer nur ontologisch und phänomenologisch die Anmaßung des Nichtigen unter der Übermacht Gottes konstatieren wird. Im Gesamtwerk der KD lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Linien, die Wirklichkeit des Bösen zu denken, identifizieren. Die eine Linie ist in der negativen Theologie des Nichtigen zu suchen, die andere in einer christologisch begründeten und anthropologisch konkretisierten Hamartiologie, welche die Sünde in der Trias von Hochmut, Trägheit und Lüge konkretisiert. Letztere folgen jedoch – und diese Feststellung ist die methodologische Pointe der mit dieser Arbeit vorgelegten Interpretation der Theologie Barths – der Rationalität anderer theologischer Modelle. Ein klares sprachliches Merkmal für den Wechsel der unterschiedlichen Beschreibungsmodelle im Rahmen der Vorsehungslehre (genauer: in §50) ist die temporale Verschiebung der Perspektive, wenn Barth (entgegen der präsentisch geschilderten Wirklichkeit des Nichtigen) das wirklich Nichtige in Jesus Christus als bereits perfektisch überwunden erklärt: Im Blick auf Jesus Christus wird man vom Nichtigen in keinem Sinn sagen können, daß es noch objektive Existenz, daß es noch anders als für unsere jetzt noch verhüllten Augen Bestand hat, daß es noch wirklich zu fürchten sei, daß es noch immer eine Zukunft habe, noch immer Gefahr bedeute und Unheil anrichten könne (KD III/3, 419).45
44
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Darauf hat auch Wolf Krötke hingewiesen, der betont, dass das Nichtige »auch im theologischen Denken als ›nirgendwohin gehörig‹ auszuschließen« sei (Krötke, »Sünde und Nichtiges«, 344). Die einzige inhaltliche Konkretisierung des Nichtigen, die Barth nicht als Negationen formuliert, folgt in §50 einem anderen Modell, indem hier Barth mit seinem christologischen Zugriff auf die Lehre vom Bösen Ernst macht und (im Gegensatz zu weiten Teilen seiner Vorsehungslehre) nicht monistisch-theistisch, sondern kreuzestheologisch argumentiert. Mit Blick auf den Karfreitag spitzt Barth zu: »Was Jesus Christus ans Kreuz gebracht und was er am Kreuz besiegt hat, das ist das wirklich Nichtige« (KD III/3, 346). Zum Übergang verschiedener Modelle im §50 vgl. Anm. 31 in diesem Kapitel.
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Aus diesen christologischen Zwischenüberlegungen folgert Barth, dass die Wirklichkeit des Bösen keine wirkliche Macht mehr hat und stattdessen nur noch als ein »gefährlicher Schein« (KD III/3, 424) existiert. Das Problem des Bösen in der Welt verschiebt sich daher zu einem Problem einer ontologisch ihren Grund entbehrenden Scheinexistenz des Nichtigen in erfahrenem Übel. Zweifelsohne bietet diese Formulierung reichlich Nährboden für eine Kritik an der Theologie Barths, die angesichts des Triumphs der Gnade eine Vergessenheit geschichtlicher Opfer beklagt, und man wird nicht umhinkommen, darin die offene Flanke dieses erlösungstheologischen Modells zu identifizieren. Tatsächlich stellt Barth jedoch auch von dieser epistemologisierten Gestalt des Bösen eine Erlösung in Aussicht – »daß wir sein Reich noch nicht sehen und uns insofern vom Nichtigen noch immer bedrängt finden« (KD III/3, 425).46 Die noch nicht überwundene Scheinexistenz des Nichtigen ist in Christus zwar bereits sachlich entlarvt und ihrer Geltung beraubt; sie ist aber unter der Zulassung Gottes in theologisch höchst eigentümlicher Form und geschichtlich in verheerender Weise existent. Mit Blick auf das erlösende Handeln Gottes wird dieses göttliche Zulassen zum entscheidenden theologischen Punkt: Einer intuitiv naheliegenden Rückführung dieser (Schein-)Wirklichkeit auf Gott selbst – und der damit einhergehenden Begründung einer dunklen Seite göttlicher Wirklichkeit – verwehrt sich Barth, indem er auch um diese gedankliche Konstruktion nochmal eine Schleife der Überlegenheit Gottes zieht. Auch der eingezeichnete eschatologische Vorbehalt ändert nichts an dem Gedanken der grundsätzlichen Souveränität und Allwirksamkeit Gottes, worin garantiert ist, »daß auch das Nichtige zu den Dingen gehört, von denen es heißt, daß sie denen, die ihn lieben, zum Besten dienen müssen« (KD III/3, 425). Eine Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen als dem Nichtigen lässt sich ohne den formal-logischen Widerspruch eines tertium nicht beschreiben. Stattdessen steht der Appell und das Bekenntnis zu Gottes ungebrochener Souveränität konträr zu Leiderfahrungen in einer von der eigentümlichen Existenz des Bösen geprägten Welt. Diese Paradoxie dramatisiert das Problem des Bösen geradezu exponentiell, sofern konkret geschichtliches und biographisches Leiden auch nicht gedanklich in einer Ontologie des Bösen eingeordnet bzw. als Folgephänomen einer Grundstruktur des Bösen rational eingeholt werden kann. Stattdessen gesteht die theologische Argumentation einer kontra-phänomenologischen Beschreibung des Bösen sowohl einen effektiven (was das Böse bewirkt) wie auch einen begrifflichen (wie das Böse zu begreifen ist) Widerspruch zur Gnade Gottes ein. 46
Die konkrete Frage nach dem Offenbarwerden der Gnade und Herrlichkeit Gottes stellt jedoch wiederum ein weiteres anderes Modell dar, welches in Kapitel V. zur Darstellung kommen wird und das mithilfe einer optischen Metaphorik strukturiert ist und anhand von Barths Schilderungen zum prophetischen Amt Jesu Christi zu rekonstruieren ist.
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1.4 Epistemologie und Realismus Die im vorangehenden Abschnitt dargestellte formallogische Paradoxie der Wirklichkeit des Bösen führt zu epistemologischen Modellkonsequenzen, die ich in diesem Abschnitt mithilfe einer Rekonstruktion von Barths Begründungswegen, die an die Behauptung von Gottes Allmacht geknüpft sind, aufzeige. Sofern in diesem Abschnitt jedoch eigene Begrifflichkeiten und hinsichtlich der Epistemologie auch konzeptuelle Alternativen erwogen werden, geht dieser Abschnitt nun weit über eine reine Modellrekonstruktion hinaus: Es gilt Barths Vorsehungslehre gewinnbringend weiter zu modellieren. Wie einleitend geltend gemacht, stellt die modelltheoretische Methode dieser Arbeit eine Möglichkeit dar, die theologischen Teilrationalitäten innerhalb des Korpus der Kirchlichen Dogmatik über Barths eigene Ausführungen hinaus zu analysieren. Der Anspruch dieser Analyse ist jedoch, dass in ihr die theologischen und epistemologischen Linien systematisch weitergeführt und deren Konsequenzen somit kritisch betrachtet werden können.
1.4.1 Die epistemische Autonomie des Vorsehungsglaubens Barth koppelt die theologische Reflexion der Vorsehungslehre an deren epistemischen Sitz im Leben: Die Vorsehung Gottes hat ihren existentiellen Ort im Vorsehungsglauben, von dem auch das theologische Denken über Gottes erhaltendes, begleitendes und regierendes Handeln nicht abstrahiert werden kann. Speziell im Kontext einer Geschichtstheologie, die sich ganz im Sinne des schon in der frühen Phase seiner dialektischen Theologie dominanten Zuges von einer rein erfahrungsbasierten Theologie abzugrenzen versucht, stellen sich damit aber gewichtige Fragen nach dem dennoch nötigen Erfahrungs-, Geschichts- und Existenzbezug. Und tatsächlich eröffnet der im Vorigen skizzierte Grundzug einer die empirische Wirklichkeit transzendierenden Souveränität Gottes eine eigene Möglichkeit der Beschreibung eschatologischer Wirklichkeit, ohne in der Eschatologie a priori in einen Antirealismus zu verfallen.47 Damit ist das epistemologische Problem dieses Modells aufgeworfen. Im Folgenden ist daher nach den Bedingungen 47
Speziell im Kontext einer Geschichtstheologie ist mit der Gestalt des Realismus christlicher Hoffnung ein Grundproblem der Eschatologie angesprochen, sofern damit das Feld eschatologischer Kontinuitäten und Diskontinuitäten in unterschiedlichsten Weisen zu arrangieren ist: Das Spektrum reicht von einer die Geschichte und Welt verneinenden Hoffnung auf ein »ganz Anderes« über unterschiedliche geschichtstransformierende und progressive Modelle bis hin zu einer gänzlichen Transzendentalisierung der Eschatologie, die das Kommen Gottes als Anschauungsform dieser, unserer Geschichte(n) versteht (vgl. Moltmann, Das Kommen Gottes, 150–184; zum Begriff des Eschatologischen Realismus vgl. Polkinghorne und Welker, End of the World and the Ends of God). Aufgabe einer realistischen Eschatologie ist es genau an dieser Stelle nach Vermittlungen zu suchen. Dies soll hier unter epistemologischen Gesichtspunkten geschehen.
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der Möglichkeit von Gottes Allmacht im oben genannten Sinn zu sprechen nachzugehen. Darüber hinaus gilt es nach dem Wirklichkeitsverständnis zu fragen, welches sich von dorther erschließt. Über die Vorsehung, so Barths grundlegend fundamentaltheologischer Zugriff zum Thema, kann nur im Modus des Glaubens48 gesprochen werden. Nur von diesem Standpunkt aus könne gesagt werden: »Gott regiert und die Geschichte der existierenden Kreatur in der ihr gegebenen Zeit ist auch eine Geschichte der Herrlichkeit« (KD III/3, 15). Dieses dem christlichen Glauben entspringende Bekenntnis ist der sachliche Ausgangspunkt, hinter den christliche Vorsehungslehre nach Barth nicht zurückgehen kann – sie würde damit bereits von einem methodologischen Gesichtspunkt her ihr Ziel verfehlen. Sofern aber diese Aussage durchaus konträr zu Erfahrungen dieser Geschichte steht, stellt sie gleichzeitig eine Herausforderung, Zumutung und Widerständigkeit zu der konkreten Wirklichkeit gelebten Lebens dar. Barth behält diese Spannung selbst im Blick und konkretisiert den fiduzialen Charakter dieses Gedankens, indem er eine Näherbestimmung dieses erkennenden Glaubens vornimmt: Dieser »fängt dort an, wo wir uns nur an das Wort Gottes halten können, um uns dann eben an das Wort Gottes tatsächlich halten zu dürfen, nun aber mit der diskussionslosen Gewißheit halten dürfen« (KD III/3, 16). Die eigentliche Zumutung der Providenzlehre Barths liegt demnach nicht rein in deren theologischem Gehalt bzw. in der Betonung des Allmachtsgedankens, sondern ist in besonderer Weise in deren epistemischer Begründung zu finden: Es ist die Gewissheit des Vorsehungsglaubens, die gegenüber kontingenten Erfahrungen in gewisser Hinsicht autonom bleibt. Im Vorsehungsglauben ereignet sich nämlich etwas kategorial Anderes als dass damit nur Anschauungsformen bzw. Ordnungsmuster zur Anwendung kommen, mithilfe derer Menschen Ereignisse in geschichtlicher Kontinuität erfassen und bewerten können. Von einer solchen »Weltansicht«, deren Sinn ein konsistente Blick auf den Lauf der Dinge ist und die in der Erfahrung mit ihr inkommensurabler Ereignisse (Kontingenzerfahrung) ein immer neu zu verhandelndes Problem zwischen dem Ereignis an sich und für sich sieht, unterscheidet sich der Vorsehungsglaube darum, weil sein Inhalt (dass Gott regiert) und die Evidenz seiner Aussage (dass Gottes Herrschaft auch für Menschen einsichtig ist) im Zweifelsfall zueinander in Spannung treten können. Der Vorsehungsglaube hat seine ureigene Begründung und Gewissheit nicht primär in ihn bestätigenden räumlich/zeitlichen Erfahrungen. Das bedeutet nicht, dass Gottes Vorsehung nicht selbst gerade auch dort Raum greift und sich geschichtlich manifestiert. Wäre dem nicht so, führte die Spannung von 48
Zum voraussetzungsreichen Begriff des Glaubens und den darin enthaltenen materialen wie auch epistemologischen Implikationen bei Barth vgl. McCormack und Neven, The Reality of Faith in Theology.
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dogmatischer Gottesrede einerseits und ethischer Erfahrungsbeschreibung andererseits zu einem antirealistischen Auseinandertreten, welches doketisch und geschichtsnihilistisch wäre und so für eine Psychopathologisierung von Leiderfahrungen optierte. Der Vorsehungsglaube macht – so lässt sich das bei Barth gefundene epistemische Muster weiterdenken – die erfahrene Wirklichkeit nicht ungeschehen oder ungültig. Ebensowenig negiert er sie oder ihre Bedeutung für gelebtes gelingendes, zerstörendes oder zerstörtes Leben. Er verneint jedoch eine schlussfolgernde Rückführung dieser Wirklichkeit auf die schöpferische, erhaltende und erlösende Wirklichkeit Gottes. Der Glaube, dass Gottes Macht nicht von dieser oder jener geschichtlich-konkreten Wirklichkeit des Bösen beschnitten oder zurückgedrängt wird, sondern dass trotz höchster Uneinsichtigkeit an Gottes erlösende Zuwendung geradezu kontraevident49 appelliert und darauf gehofft wird, eröffnet eine Spannung, die auf ein mehrperspektivisches Verständnis von Wirklichkeit hindrängt, welches weiter unten noch genauer ausgelotet werden muss. Epistemologisch ist bis hierhin festzuhalten, dass das Bekenntnis zu Gottes Allwirksamkeit und die darin begründete eschatologische Hoffnung auf Gottes von dem Bösen erlösende Allmacht ihr Fundament nicht in einer allgemeinen Evidenz dieser Aussage hat, sondern in der Behauptung und im Vertrauen auf ein theologisches Gegenmodell zu der aus eigener Kraft nicht zu verhindernden Zerstörungskraft des erfahrenen Bösen. Gottes Allmacht wird für Barth in diesem Modell gerade trotz ihrer Uneinsichtigkeit zur fundamentalen Referenzgröße, von wo aus empirische Wirklichkeiten transzendiert und kon49
Mit dem Begriff der Kontraevidenz möchte ich Barths Begründungszusammenhang bezeichnen, der ein komplexes Gegenüber zu dem darstellt, was als Evidenz verstanden wird. In seinen Cartesianischen Meditationen beschreibt Edmund Husserl Evidenz im Gegenüber zum bloßen Urteilen: »Urteilen ist ein Meinen und im allgemeinen ein bloses Vermeinen, es sei das und das; das Urteil (das, was geurteilt ist), ist dann blos vermeinte Sache, bzw. Vermeinter Sach-Verhalt oder: Sach-Meinung, Sachverhaltsmeinung. Aber dem steht eventuell gegenüber ein ausgezeichnetes urteilendes Meinen, (urteilend das und das bewußt-haben). Es heist Evidenz« (Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vortrage, §4). Evidenz ist demnach eine in hohem Maße (selbst-)reflexive Form des Meinens, welche in einem Begründungszusammenhang steht, der nicht nur zu einer Sach-Meinung führt, sondern sich seiner urteilenden Operation bewusst ist. Der Begriff der Kontraevidenz (entgegen Husserls Argument in §5, dass das Negativum von Evidenz Falschheit sei) beschreibt analog dazu ebenso ein Urteilen, das sich jedoch konträr zu erfahrenen, vermeinten, beurteilten und darüber bewussten Sachverhalten stellt. Kontraevidentes Denken und Handeln entzieht sich temporär diesem Begründungszusammenhang (wie auch dieser genealogischen Richtung vom Erfahren über das Meinen hin zur Evidenz) und bildet so eine Gegenbewegung zum deduktiven Urteilen. Es behauptet eine höhere Komplexität als der Widerspruch, sofern dieser lediglich eine Negation der Evidenz ist. Sprachformen der Kontraevidenz, die in konsequenter Weise den Begründungszusammenhang umkehren und kompromisslos eine Vermittlung verweigern, stellen Ideologien dar, deren Urteil nicht durch Erfahrung irritiert zu werden vermag. Wie später noch gezeigt wird, gibt es gerade in den biblischen Texten eine Fülle an Vermittlungsversuchen, die das Vertrauen in die erlösende Zuwendung Gottes nicht als kontraevidentes Gegenüber zu gemachten Erfahrungen stehen lässt (vgl. Husserl, bes. §§4–5).
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trastiert werden, indem der Evidenz des Bösen die Kontraevidenz der göttlichen Herrschaft gegenübergestellt wird.50
1.4.2 Die Zeitlichkeit der Kontraevidenz göttlicher Allmacht Der Glaube an die allmächtige Allwirksamkeit Gottes impliziert, wie vorangehend gezeigt, eine epistemische Brechung. Ich habe zur Verdeutlichung dieser Brechung daher den Begriff der Kontraevidenz eingeführt, um den kritisch-negativen Charakter des Vorsehungsglaubens gegenüber einer allgemeinen Evidenz hervorzuheben. Wie ich im vorigen Abschnitt zu zeigen versucht habe, vollzieht sich dieser negative Charakter jedoch nicht als eine basale Gegenwarts- oder Weltverneinung, sondern in Form einer kritischen Distanznahme, wonach diese gerade auch von malum-Erfahrungen geprägte Wirklichkeit keine letzte Wirklichkeit darstellt, sondern in einen Horizont der Macht Gottes gestellt wird, der die evidenten Möglichkeiten der Wirklichkeit überschreitet. Die Tatsache, dass Menschen entgegen jeder Erwartung und Evidenz trotzdem auf Gottes erlösendes Handeln hoffen, kann trotz der begründungstheoretischen Autonomie dieses Glaubens auf eine mögliche Rückführung in Evidenz hin untersucht werden. Zunächst ist dafür zu entscheiden, von welcher Art diese Spannung zwischen der empirischen Wirklichkeit erfahrenen Leidens und dem hoffnungsvollen Glauben an Gottes allmächtige Allwirksamkeit beschaffen ist. Es stehen sich dafür zwei grundsätzlich denkbare Alternativen gegenüber: (1.) Entweder die Kontraevidenz der göttlichen Allmacht ist programmatisch, wonach Gottes erlösende Präsenz in der erfahrenen Wirklichkeit unter den Bedingungen des geschöpflichen Lebens grundsätzlich nicht einholbar bzw. einsichtig wird, oder (2.) diese Spannung ist temporär beschränkt und drängt früher oder später wieder zu ihrer Auflösung hin. Für beide Optionen gibt es valide Gründe; und es lassen sich je nach Denomination und Tradition religiöse, kultische und liturgische Vollzüge einem der beiden Grundtypen des Umgangs mit kontraevidenten Erlösungsvorstellungen zuordnen: 1. Erlösungshoffnungen und -erwartungen können in grundsätzlicher Weise von der erfahrbaren und rational einholbaren Wirklichkeit unterschieden werden. Bei diesem Grundtypus konzentriert sich die religiöse Erwartung und damit auch oftmals die Kultivierung des auf eine grundsätzliche Kontraevidenz konfigurierten Glaubens nicht auf eine einheitliche, oder zumindest zur Einheitlichkeit strebenden Wahrnehmung und In50
Mit der baren Behauptung dieser Kontraevidenz kann noch nicht geklärt werden, worin sich dieser Vorsehungsglaube von einem Antirealismus unterscheidet. Dieser Unterschied erschließt sich erst mithilfe der im letzten Abschnitt dieses Kapitels entfalteten phänomenologischen Untersuchung des spezifischen Gewissheitsmodus dieses Vertrauens. Die Funktion dieses Abschnitts ist zunächst, die epistemische Brechung dieses Modells bei Barth nachzuzeichnen.
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tegration der Wirklichkeit, sondern setzt auf eine stabile Kultivierung eines alterierten Bereichs. Im Kultus gewinnt in einem solchen Typus die Grundunterscheidung zwischen Profanem und Heiligem51 an vorgeordneter Bedeutung: Das Heilige und die daran geknüpften eschatologischen Zuschreibungen und Erwartungen werden als eine der profanen Wirklichkeit entzogene, gegenübergestellte, aber zugleich in deren Umwelt situierte Wirklichkeit verstanden. Beispielhaft hierfür steht die in der römisch-katholischen Messe und der orthodoxen göttlichen Liturgie verankerte Hostienverehrung, die zugleich mit der Geheimnishaftigkeit und einer damit einhergehenden epistemischen Entzogenheit kultisch in Szene gesetzt wird.52 Die bewusste Kontraevidenz des dort zur Darstellung gebrachten Geschehens von Konsekration bzw. Transsubstantiation wird in diesem Typus nicht zur Auflösung gebracht, geschweige denn für die Glaubenden lebensweltlich verständlich gemacht. Vielmehr wird das Profane der Welt mit der eschatologischen Gegenwirklichkeit der zur heiligen Gegenwart des Erlösers verwandelten Hostie kontrastiert. Die in diesem Grundtypus auszumachende prinzipielle Uneinsichtigkeit des Geschehens wird nicht nur in Kauf genommen, sondern sie wird als heiliges Mysterium sogar verehrt und für anbetungswürdig erklärt. Dieser hier skizzierte Grundtypus widerspricht bewusst dem Anselmschen Paradigma eines nach Verständnis und Verständigung suchenden Glaubens, indem er die Kontraevidenz eschatologischer Wirklichkeit als grundsätzlich unüberwindbar und gleichzeitig der Überwindung nicht notwendig kultiviert, wobei die Kontraevidenz selbst zum Attribut des Heiligen erhoben wird. 2. Die zweite Alternative erachtet die entzogene Evidenz der erlösenden Gegenwart und Macht Gottes angesichts von malum-Erfahrungen als temporär. Das kontraevidente Festhalten an der Zuversicht hinsichtlich Gottes Macht über alles Geschehene und Geschehende wird nicht in einem eigenen Bereich des religiösen Kultes oder einer esoterischen Ratio domestiziert, sondern drängt – mit zeitlicher Verzögerung – hin zu seiner lebensweltlich wirksamen Bewährung: Gottes allmächtige Zuwendung ist nun noch nicht einsichtig; der Glaube an Gottes Macht über alles Geschehen soll sich aber in Zukunft bewahrheiten. Nur bis zu dieser Auflösung muss die erzeugte Spannung im Leben ausgehalten oder überbrückt werden. In dieser Alternative werden zwar wie auch in (1) das Erlösungsgeschehen 51
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Zur Bedeutung des Gegenübers vgl. Giselbrecht und Kunz, Sacrality and Materiality. Dass dieses Gegenüber nicht nur im Kultus, sondern von dort aus auch in politischen, sozialen und anderen kulturellen Zusammenhängen von Bedeutung ist, zeigt am Beispiel der Vereinigten Staaten Bloesch, »Embodying the Sacred and Profane«. Aus römisch-katholischer Perspektive vgl. Fuchs, Fronleichnam; Lies, Mysterium fidei: Annäherungen an das Geheimnis der Eucharistie.
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und die akute Verständigung darüber entkoppelt, jedoch wird diese Entkoppelung als grundsätzlich überwindbar gedacht. Darüber hinaus wird womöglich die Verborgenheit und Entzogenheit der rettenden Zuwendung Gottes selbst als Teil des akuten Leidens verstanden.53 Diesem Typus, dass die Erlösung von dem Bösen nicht ausschließlich kontraevident gepriesen wird, entspricht die Tatsache, dass Menschen Gott nicht nur in Momenten des Leidens im Protest gegen den Status quo anrufen, sondern auch in Lebensvollzügen und Widerfahrnissen des Glücks, der Zufriedenheit oder Rettung Repräsentationen der göttlichen Macht erkennen und zum Ausdruck bringen. Gerade im Gebet wird dieses Nebeneinander und Nacheinander von Klage, Bitte, Lob und Dank in einem nuancierten Feld von sowohl Präsenz und Absenz wie auch Evidenz und Kontraevidenz der erlösenden Macht Gottes ausgedrückt.54 Für den lebhaften Wechsel zwischen Heilserfahrung und der Anfechtung als dem Ausbleiben dieser Evidenz (bei gleichzeitigem Festhalten am grundsätzlichen Heilswillen Gottes) können die Klage des Einzelnen und die Klage des Volkes im Psalter als Beispiel herangezogen werden, wobei im Grundtypus der Klage des Volkes die Erinnerung an das frühere Heilshandeln (Evidenz) der akut-aktuellen Leiderfahrung in der Bedrängnis des Volks (Kontraevidenz) vorangeht. In der Klage des Einzelnen wird diese Abfolge umgekehrt, wenn auf die Schilderung der Bedrängnis und die Frage nach dem Ausbleiben von Gottes errettendem Eingreifen das Vertrauensbekenntnis bzw. Lobgelübde folgt. Wie auch immer dieser Stimmungsumschwung des Psalmbeters exegetisch zu erklären ist,55 so lässt sich darin doch genau diese zeitliche Beschränktheit der kontraevidenten Hoffnung in Gottes erlösende Prä53
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Dieser Problemstellung, die die Verborgenheit der Gegenwart Gottes als zu überwindendes Übel interpretiert, widmet sich das erlösungstheologische Modell 5. Wie dort eingehend gezeigt wird, stellt sich dieses jedoch nicht einfach als die epistemologische Kehrseite dieses Modells heraus. Gleichwohl lässt sich an diesem Punkt der sachliche Zusammenhang beider Alternativen markieren, sofern mit dem Festhalten an Gottes alles überbietender Allwirksamkeit auch die Frage nach der Sichtbarkeit dieser heilsamen Präsenz gestellt wird. Sachlich müssen diese beiden jedoch getrennt voneinander behandelt werden, da ein zu schneller Übergang zwischen beiden die Wirklichkeit des Leidens womöglich voreilig theologisiert und psychologisiert, sofern das individuelle Leid an konkretem Übel als Leid an der Absenz Gottes interpretiert wird. Beide können vielmehr, wie es bspw. das differenzierte Ineinander von Klage und Anklage im Hiobbuch nahelegt, in Kombination miteinander auftreten. Zur gegenseitigen Bedingtheit von Lob, Bitte, Dank und Klage vgl. Harasta, Lob und Bitte: Eine systematisch-theologische Untersuchung über das Gebet. Zur fundamentaltheologischen Bedeutung des Wechselspiels von Gegenwart und Entzogenheit für eine Theologie des Gebets vgl. Põder, Doxologische Entzogenheit. Die Bedeutung des Gebets bei Barth für eine Dialektik zwischen analogia fidei und analogia entis zeichnet in ihrer historischen Entwicklung Chan, Gebet als christliches Sein, Leben und Tun nach. Zur exegetischen Diskussion vgl. Rechberger, Von der Klage zum Lob: Studien zum »Stimmungsumschwung« in den Psalmen.
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senz wiederfinden.56 Diese Hoffnung kann in ein Vertrauensbekenntnis umschlagen, das nicht mehr die Differenz von Erfahrung und Bekenntnis zu tragen hat, sondern das sich in geschichtlich begründeter Weise seiner Hoffnung in Gott vergewissert.57 Obwohl auch die erste Alternative mit dem konsequenten Aufrechterhalten der Spannung zwischen lebensweltlicher und eschatologischer Wirklichkeit ihre eigenen Fragen und Antworten provoziert, werde ich mich im weiteren Verlauf der zweiten Alternative widmen, und die benannte dialektische Spannung der Wirklichkeiten als zu bearbeitende Spannung auffassen. Gesucht sind also Denkformen, die zwischen dem Festhalten an Gottes erlösendem Handeln und den Erfahrungen der Kontingenzen des Lebens und der Geschichte vermitteln. Wie bisher die Autonomie und damit die Differenz des Vorsehungsglaubens gegenüber der Erfahrungswirklichkeit zum Tragen kam, so soll im Folgenden nun das Problem der einzuholenden Einheit erörtert werden. Anhand dieser Überlegungen kann gezeigt werden, warum die Kontraevidenz des Vorsehungsglaubens angesichts der Wirklichkeit des Bösen nicht einem Antirealismus das Wort redet.
1.4.3 Vorsehungsglaube und Sinneinheit. Möglichkeiten der kritischen Fortführung des liberalen Paradigmas Auf der Suche nach der theologischen Überwindung der beschriebenen Kontraevidenz bietet sich die Auseinandersetzung mit einer Denkrichtung an, die sich sehr pointiert der Frage nach der Integration verschiedener Wirklichkeiten widmet. Die liberale Theologie in der Tradition F. D. E. Schleiermachers hat diese Einheit im Selbstbewusstsein des religiösen Subjekts verortet.58 Eine besonders prägnante und konsequente Reformulierung der Vorsehungslehre als Reflexion über den Vorsehungsglauben stellt das Ergebnis der Studie von Arnulf von Scheli56 57
58
Vgl. Karle, »Beten in der Gotteskrise. Die seelsorgerliche Kraft des Vaterunsers«. Freilich ist in diesem Zusammenhang auch nach den kulturellen Bedingungen und Varianzen dieses Vertrauens zu fragen: Während für die einen im Angesicht existentieller Leiderfahrungen das kontraevidente Vertrauen in Gottes barmherzige Macht eine unmittelbare Reaktion sein mag, gereichen diese Erfahrungen für andere zu tiefster Erschütterung und Anfechtung aller Zuversicht. Diesem Problem der Kultivierung kontraevidenten Vertrauens soll im letzten Abschnitt dieses Kapitels weiter nachgegangen werden. Zur Bedeutung religiöser Subjektivität als Kristallisationspunkt von Selbst- und Weltdeutung bei Schleiermacher vgl. Wendel, »›Sinn und Geschmack fürs Unendliche‹ (Schleiermacher): Religiosität als Existenzial bewussten Lebens«; Berendsen, »Gefühl und Gewissheit: Über Schleiermacher und die religiöse Emotion«; Dierken, »Individualität und Identität: Schleiermacher über metaphysische, religiöse und sozialtheoretische Dimensionen eines Schlüsselthemas der Moderne«. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung der Theologie Schleiermachers mit dem Problembewusstsein für das Verhältnis von Gottes Wirken und religiöser Selbst- und Weltdeutung vgl. Danz, Wirken Gottes, 113–125 und 167–218.
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ha dar.59 Von Scheliha erarbeitet seine Neuformulierung auf der Grundlage eines neuzeitlich-freiheitstheoretischen Paradigmas, welches als Grundproblem der providentia-Lehre das Kontingenzrisiko von Sinnsystemen durch die Interaktion mit ihrer Umwelt bzw. deren Erschütterung identifiziert. Menschliches Leben, so der Tenor von Schelihas, vollzieht sich in der dialektischen Spannung kontingenter Lebens- und Welterfahrung und den Lebens- und Sinnentwürfen, welche jene notwendigerweise zu integrieren versuchen. Sofern Lebenswiderfahrnisse in stets ungeahnter Art eine neue Deutungsleistung erfordern, bleibt dem gelebten Leben die bleibende Aufgabe eingeschrieben, nach neuen Deutungsschemata zu suchen bzw. alte Schemata umzubilden. Die Differenz zwischen irritierender Erfahrung und von bisherigen Sinnrahmen nahegelegtem Erwart- und Integrierbarem muss durch eine Umbildung dieser Sinnrahmen überwunden werden. Diese Umbildungsleistung konstituiert und konkretisiert auch im Moment passiv erlebter Kontingenzerfahrung (Leid) eine Autonomie des deutenden Selbst: In ihrer Aspektzuspitzung auf das darin liegende Kontingenzrisiko reflektiert die Religion die unbedingte Notwendigkeit, sich im Vollzug von Selbstbestimmung kontingenten Lebenssinn zuzuschreiben und gegenüber dem fortgesetzten Kontingenzrisiko zu bewähren.60
Für die Lehre von der Providentia Dei spitzt von Scheliha zu, dass es deren spezifische Funktion sei, »[. . .] das Kontingenzrisiko individueller Identität in bezug auf deren lebensgeschichtliche Bewährung zu thematisieren und sinnhaft zu deuten«.61 Die durch von Scheliha vorgetragene Identifikation des Vorsehungsglaubens als emanzipativen Deutungsvorgang führt jedoch unweigerlich in die Wachstumslogik einer Leistungsreligion: »Der Vorsehungsglaube ist daher wegen der mit ihm verbundenen Sinnproduktionsleistung des einzelnen ein emanzipativer Modus der Bewältigung von kontingenter Faktizität und Schicksalserfahrung.«62 Freiheitstheoretisch wird der Glaube an die Vorsehung selbst zur entscheidenden kreativen Leerstelle, die einen Umbau bekannter oder die Aneignung neuer Sinndeutungskomplexe ermöglicht: Die Bearbeitung der den vorgängigen Sinnkomplex dekonstruierenden Kontingenzerfahrung vollzieht sich im Glauben an das vorsehende Handeln Gottes in einer Umdeutung, für die das Christusereignis archetypisch ist: »Die Einheit von Kreuz und Auferstehung symbolisiert, daß sinnhafte Selbstbestimmung nicht am kontingenten Schicksal endet, sondern über es hinausführt.«63 Der Vorsehungsglaube diene daher ei59 60 61 62 63
von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. von Scheliha, 339. von Scheliha, 340. von Scheliha, 341. Vergleiche dazu auch Dalferth und Stoellger, »Einleitung: Religion als Kontingenzkultur und die Kontingenz Gottes«, besonders 16–24. von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung, 343.
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ner »gesteigerten Form der Selbstdurchsichtigkeit«, welche in die Vorstellung individueller Freiheit ein Bewusstsein für ein »grundsätzliches Kontingenz- und Sinnrisiko« integriert.64 Letztlich wird damit eine Separierung von konkreter Erfahrung und ihrer Deutung erwartet, wobei diese Differenzierungsaufgabe als Reflexionsprozess dem Einzelnen obliegt. Mit Blick auf den fiduzialen Charakter des Vorsehungsglaubens bricht von Scheliha dann mit der normativen Anforderung einer steten Sinnproduktion, indem er die grundsätzliche Grenze menschlicher Deutungskraft in seinem Gegenüber zu Gott lokalisiert. »Die rational nicht einholbare Einheit von Sinn wird religiös aufgefaßt und im Akt des Vertrauens auf Gott transzendiert. Der normative Aspekt des Vorsehungsglaubens schließt also die Erfahrung der Vergeblichkeit von Sinnproduktion mit ein.«65 Von Scheliha erfasst damit ein mögliches Verstummen des Leidenden angesichts der schieren Überforderung kontingenter Krisenerfahrung. Mit Blick auf klassische kirchliche Choräle und einschlägige Liedzeilen von Bonhoeffers »Von Guten Mächten« stellt von Scheliha fest, dass diese »einen religiösen Gehalt zum Ausdruck [bringen], dessen Pointe darin besteht, daß die Selbstbestimmung die Grenze des menschlich je Sinnbaren zugleich anerkennt und in der Haltung des Vertrauens auf Gott überschreitet«.66 In von Schelihas Entwurf wird die nicht zu unterschätzende Aufwertung individueller Syntheseleistungen menschlicher Sinnproduktion zum Paradigma des christlichen Glaubens erhoben. Für eine Theologie, deren primäres Ziel die Beschreibung und Sicherung individueller Autonomie ist, mag dies eine befriedigende Interpretation des christlichen Vorsehungsglaubens darstellen. Gerade dort jedoch, wo diese Syntheseleistung angesichts fundamentaler und existentieller Krisenerfahrung nicht mehr gelingt und dennoch an Gottes barmherzige Allmacht appelliert wird, müssen Alternativen zu einer subjektivitätstheoretischen Transformation des Vorsehungsglaubens gefunden werden, da sie m.E. keine valide Begründung liefert, woher sich dieser Protest speist. Die Frage müsste daher nicht lauten, wie die Widerfahrnisse von Bösem in Sinn übersetzt werden können, sondern welchen Sinn das Vertrauen in die Allmacht Gottes angesichts der Unsinnigkeit des Nichtigen ergibt. So richtig das Problembewusstsein von Schelihas für die notwendige Auflösung lebenspraktischer Paradoxien ist,67 so 64 65 66
67
Ebd. von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung, 344. von Scheliha, 351. Von Scheliha deutet damit an, dass der Vorsehungsglaube über die Grenzen individueller Sinnproduktion hinausgehen mag. Dass diese Grenze jedoch eine Grenze des menschlich Sinnbaren darstellt, blendet die existenzielle Herausforderung dieser Kontraevidenz jedoch gerade aus. Denn der Vollzug des Vorsehungsglaubens artikuliert sich nämlich nicht nur in der Ergebung unter eine Schicksalsmacht, sondern appelliert zugleich in der Sprachform der Klage. Wie später noch zu zeigen ist, ist daher die Klage zugleich Ausdruck des Vertrauens in die responsible Macht Gottes, wie auch Artikulation deren mitunter quälender Kontraevidenz. Zur Theologie der Klage vgl. die Beiträge in Ebner und Hanson, Klage. Vgl. von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung, 339f.
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zweifelhaft ist die radikale Lösung, dass diese in einem durch den Menschen selbst zu erhaltenden und bewahrenden Akt freier Selbst- und Weltdeutung ihr Ziel findet. Diese Aufgabe muss nämlich nicht zwangsläufig allein als ein Emanzipationsakt verstanden werden, sondern kann ebenso als Zumutung und Überforderung verstanden werden. Demgegenüber stellt eine monistisch konfigurierte Vorsehungslehre die Auflösung dieser Unauflöslichkeiten gerade nicht in den Aufgabenbereich der verschiedenen Projekte menschlicher Kontingenzbewältigung, sondern glaubt und erhofft diese von Gott – von Gott allein. Die Pointe dieses Ansatzes ist eine von Anfang an offen gehaltene Theodizee, die angesichts beobachteten und erfahrenen Leidens auf eine Selbstrechtfertigung Gottes besteht. Diese Theodizee mit offenem Ausgang zeichnet zwei Wege vor, welche auf die Grundparadoxie der gütigen Allmacht Gottes einerseits und der erfahrenen Realität von Schmerz und Leid andererseits reagieren. Die spezifische Konfiguration der Epistemologie dieses Modells führt daher zu zwei Konsequenzen, die ihren Sitz im Leben im existenziellen Vollzug des Vorsehungsglaubens haben. 1. Die Anklage Gottes als sprachliche Möglichkeit einer Synthese von Gott und dem Bösen: Erschütternde Lebenserfahrungen (Kontingenzerfahrungen) können zuweilen durch Transformation und Anpassung in bestehende sinnstiftende Deutungskomplexe integriert werden. Wo dies aber gerade nicht mehr gelingt, müsste ein Vorsehungsglaube zum vollständigen Erliegen kommen. Paradoxerweise scheinen solche radikal sinnlosen und sinnzerstörenden Ereignisse allerdings nicht nur zum Zusammenbruch zu führen, sondern bisweilen auch mit geradezu katalysierender Wirkung auf eine Intensivierung der Gottesbeziehung zu drängen. Die Erfahrung von Leiden führt dann nicht zu einer neuerlichen Reflexion eines religiösen Subjekts, sondern zu einer versprachlichten Konfrontation Gottes mit dem Bösen, indem Gott bspw. in seiner Verantwortung für das Geschehene angeklagt wird. Damit wird nicht nur neben der subjekttheoretischen Option eine weitere Möglichkeit der Kontingenzbewältigung eröffnet, sondern gerade deren Scheitern angesichts der individuellen Überforderung mit der Situation vor Gott zum Ausdruck gebracht. Der Wirklichkeitsbezug dieses Weges liegt in der emotionalisierten und dramatisierten Verbindung, die die menschliche Klage zwischen erfahrenem Leid und erwarteter, erflehter und eingeklagter erlösender Gegenwart Gottes stiftet. Damit übersieht und negiert die Klage nicht einfach das Auseinanderklaffen von erlösungsbedüftiger Schöpfung und ihrem Schöpfer und Erlöser. Vielmehr bringt sie diese Spannung in unterschiedlichen liturgischen und frömmigkeitspraktischen Formen zum Ausdruck und behält sich das Bewusstsein dafür, woher Heil erwartet wird. Die Allmacht Gottes bildet dafür eine theologische Grundlage, stellt sie doch die Begründung des
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Modell 1: Teleologische Eschatologie
Adressaten der Klage.68 Der Verlust von »Selbstdurchsichtigkeit« muss nicht kompensiert und eingefordert werden, sondern wird in der Klage als solcher artikuliert und entkommt damit der Dynamik einer Leistungsreligion, die andernfalls – wie von Scheliha selbst einräumt – funktional von »dieser grundsätzlichen Dialektik von Sinn« bestimmt ist.69 2. Die Erwartung und Hoffnung einer neuerlichen und machtvollen Zuwendung Gottes als Ausgangspunkt negativer Eschatologie: Das Bekenntnis, dass das konkret erfahrene Leiden nicht die letzte (im eigentlichen Sinne: eschatologische) Wirklichkeit bestimmt, sondern ein von Gott diese leidbringende Wirklichkeit überbietendes Wirken erwartet wird, widersetzt sich sowohl einer Abfindung mit dem erfahrenen Bösen als auch einer realitätsverweigernden Nihilierung der Bedeutung individueller Leiderfahrung. Dies steht im Kontrast zu vermehrt neuzeitlichen Traditionen, die in der Tendenz stehen, futurische Komponenten der Eschatologie konsequent in präsentisch umzudeuten.70 Eine konsequente Vergegenwärtigung der Eschatologie mündet angesichts von unvorstellbarem Leiden, welches sich jeder Deutung entzieht, alternativlos im Fatalismus – eine Konsequenz, die mit den vielfältigen Hoffnungs- und Zukunftsperspektiven sowohl der biblischen Zeugnisse als auch gelebter Frömmigkeit im 21. Jahrhundert nicht zur Deckung zu bringen ist. Dass eine hoffnungsvolle Belastung einer futurischen Eschatologie alles andere als eine Weltflucht ist, sondern vielmehr gegenwartsbejahende und -verändernde Dynamiken hervorbringen kann, haben nicht zuletzt verschiedene Vertreterinnen und Vertreter der Theologie der Befreiung herausgestellt. Ebenso wichtige wie auch befreiende Folgen erwachsen aus der konsequenten Verlagerung des Syntheseproblems in die Eschatologie: Dass die Opfer von Not und Gewalt nicht selbst diese Leistung erbringen müssen, sondern auf Gottes mächtige und alles bislang Erfahrene übersteigende Zuwendung hoffen dürfen, stellt auch jenen, welchen keine autonome Selbstbestimmung mehr möglich ist, die Restitution ihrer Freiheit in Aussicht. Der Wirklichkeitsbezug dieses Weges ist kritisch-negativer Natur, sofern diese Wirklichkeit eine vergehende Wirklichkeit ist und die erlöste Wirklichkeit nicht mehr von diesem Leiden geprägt ist, sondern dieses dann schlechthin vergangen und von Gott überwunden ist. Die Auseinandersetzung mit von Scheliha zeigt die Möglichkeit, vermittelnde Figuren zu finden, wie erfahrene Wirklichkeit und Gottes Vorsehung im Vorse68 69 70
Dies zeigt in kritischer Auseinandersetzung mit Jonas’ Preisgabe der Allmacht Tück, »Die Allmacht Gottes und die Ohnmacht des Gekreuzigten«. von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung, 343. Vgl. Osthövener, Erlösung, bes. 286–294.
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hungsglauben zueinander im Verhältnis stehen können. Sie fragt nach der Einheit in der hinreichend skizzierten Grundspannung eschatologischer Hoffnung. Von Scheliha nimmt konkrete Widerfahrnisse zum Anlass, die er einer konsequent sekundären und beständigen Sinndeutung unterzieht. Die Einheitlichkeit der Wirklichkeit ist für ihn in der im menschlichen Leben durchgehend vonstatten gehenden Reflexionsleistung gegeben, die entweder auf unterschiedliche Deutungsangebote der kulturellen Umwelt oder eine neuerliche Eigenkreativität angewiesen sind, sobald alte Muster nicht mehr hinreichende Integrationskraft bieten. Der Vorsehungsglaube reagiert demnach beständig auf erfahrene Wirklichkeit und strebt beständig nach einer Synthese von gelebtem Leben und zu integrierendem Lebenssinn. Die monistische Option, wie sie in diesem ersten erlösungstheologischen Modell expliziert wurde, eröffnet darüber hinaus weitere Vermittlungsmöglichkeiten, die erfahrene Wirklichkeit mit dem Festhalten an Gottes Allmacht als Allwirksamkeit ins Verhältnis zu setzen. Dabei ist deutlich geworden, wie wichtig die grundsätzliche Autonomie der Begründung des Vorsehungsglaubens gegenüber kontingenten Widerfahrnissen ist. Die verschiedenen Ausdrucksformen des Glaubens an Gottes Vorsehung behaupten sich gerade in Krisenerfahrungen und Erschütterungen des Lebens gegen eine Inanspruchnahme und Nötigung zur Deutung durch das erfahrene Unheil. Das Böse in Gestalt des Nichtigen wie auch die grundsätzliche Überlegenheit und mächtige Herrschaft Gottes darüber ist kein in die geschichtliche Wirklichkeit gedanklich zu integrierender Bestandteil, sondern kann nur in kritischer Distanznahme zur erfahrenen, geschichtlichen Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht werden. Die Klage, wie sie in Psalmen, Liedern und Gebeten zum Ausdruck kommt, leistet hier eine sprachliche Vermittlungsleistung, ohne die grundsätzlich identifizierte Spannung gänzlich aufzulösen. Ebenso tritt die Hoffnung auf Gottes neuerliche Zuwendung in die Lücke zwischen eschatologischer und leiderschütterter Wirklichkeit. Beide Vermittlungsfiguren haben ihren Ort im Vollzug des christlichen Glaubens. Im nachfolgenden Abschnitt soll schließlich einer dritten Figur nachgegangen werden, welche sowohl für die Klage als auch für die Hoffnung grundlegend ist und diese letztlich wiederum an die Gotteslehre rückbindet. Es geht um das sich in dieser Spannung zu bewährende Gottvertrauen.
1.5 Hermeneutik des Vertrauen Die bisherigen Erörterungen zur Epistemologie und dem spezifischen Realitätsbezug dieses Modells haben gezeigt, dass eine gebrochen monistisch strukturiertes Modell ein mögliches Nebeneinander von Einheit und Differenz eschatologischer und erfahrungsbezogener Wirklichkeitsbeschreibung aufweist. Die (temporäre) Kontraevidenz des Bekenntnisses in Gottes ungebrochene Herrschaft kann in
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verschiedenen Glaubensäußerungen als Klage oder Hoffnung zum Ausdruck gebracht werden. Diese beiden Phänomene stellen situationsbedingte und damit kontextsensible Formen des Umgangs mit der jeweils erlebten Kontraevidenz der erlösenden Gegenwart Gottes dar. In ihnen kommt eine Grundhaltung des Glaubens zum Ausdruck, welche sich aus jener Spannung zwischen kontraevidentem Bekenntnis und intuitiver Erfahrung speist und diese produktiv ausfüllt: Das Vertrauen in Gott. In diesem Abschnitt werde ich daher dem Phänomen des Vertrauens, insbesondere dem theologisch qualifizierten Gottvertrauen nachgehen: Neben grundlegenden phänomenologischen Beobachtungen soll der systematische Bezug zu einer monistisch-theistischen Vorsehungslehre sowie deren Irritation durch die biblischen Zeugnisse zu einem Fazit führen, das die lebenspraktische Grenze des vertrauensvollen Vorsehungsglaubens markiert. In diesem letzten Abschnitt soll dieses erlösungstheologische Modell hermeneutisch validiert werden.
1.5.1 Vertrauenswirklichkeiten und Gottvertrauen Wo vertraut wird, werden Möglichkeiten in Anspruch genommen, die sich nur gemeinsam (oder gemeinsam leichter) gewinnen lassen und dem Einzelnen nicht oder nicht so einfach zugänglich sind. [. . . Es] ist hochriskant und die Unwahrscheinlichkeit des Gelingens begleitet alles Vertrauen und Hoffen.71
Wer vertraut, geht gleichsam ein Risiko ein, da er sich in die Ungewissheit begibt, ob sein Gegenüber (ob es sich um Personen, Institutionen oder andere soziale Größen handelt) diesem gerecht wird. Vertrauen kann in grundsätzlicher Weise nicht eingefordert werden; und doch ist es für die einfachsten Formen menschlichen Zusammenlebens grundlegend, sofern es als Gemeinschafts- und Freiheitsphänomen in zeitlicher Perspektive Überbrückungen schafft, die in bspw. juristisch kontrollierten und sanktionierenden Formen des Zusammenlebens praktisch unmöglich sind. Man stelle sich den morgendlichen Weg zur Arbeit den Versuch einer Absicherung ohne jeglichen Vertrauensvorschuss vor. Die Fortbewegung im Straßenverkehr oder im öffentlichen Personenverkehr baut trotz wichtiger Kontrollmechanismen ganz wesentlich darauf auf, dass die Verkehrsteilnehmenden einander vertrauen, dass die grundlegenden Regeln des Verkehrs bekannt sind und im Wesentlichen eingehalten werden. Eine entsprechende gegenseitige Kontrolle ist weder technisch möglich, noch rechtlich vorgesehen. Vielmehr sind gegenseitiges Vertrauen in die anderen Verkehrsteilnehmenden, sowie entsprechende behördliche Sicherungsmechanismen der Normalfall, während punktuelle oder situationsbedingte staatliche Interventionen in Form von Führerschein- und Fahrzeugkontrollen die Ausnahme darstellen. Sicherlich sind 71
Dalferth, »Vertrauen und Hoffen: Orientierungsweisen im Glauben«, 411.
Hermeneutik des Vertrauen
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die Übergänge zwischen riskantem Vertrauen und risikoärmeren Mutmaßungen im Allgemeinen graduell. Es lassen sich beispielsweise nicht zu vernachlässigende länderspezifische Unterschiede ausmachen. Im Allgemeinen ist aber dennoch festzuhalten, dass das Vorhandensein von Vertrauen eine Wirklichkeit darstellt, die Möglichkeiten eröffnet, welche ohne dieses Vertrauen theoretisch nur schwer und praktisch gar nicht bestünden. Ob in ökonomischen, personalen, professionellen, familiären oder anderen zwischenmenschlichen Verhältnissen werden mithilfe des Auf- und Entgegenbringens von Vertrauen Möglichkeiten eröffnet, die das empirisch Gesicherte übersteigen und damit neue Wirklichkeiten entstehen lassen.72 Gleichzeitig sind diese Wirklichkeiten nicht in einer singulären Gewissheit verankert, sondern bauen selbst wiederum auf einem Vertrauensgeflecht auf. Paradoxerweise wächst die zu erwartende Sicherheit innerhalb dieses Netzes, ohne dass das eingegangene Risiko auch zunehmen würde. »In der Relation gegenseitigen Vertrauens vollzieht sich vielmehr von selbst so etwas wie eine elementare Entsicherung. Gewißheit hat als Implikat von Vertrauen eine entsichernde Funktion.«73 Ingolf Dalferth hat betont, dass sich das Gottvertrauen in grundlegender Hinsicht vom Menschenvertrauen unterscheidet, da es nicht dreigliedrig (x vertraut y hinsichtlich z), sondern als »einstelliges Prädikat« (x hat Gottvertrauen; x vertraut Gott) strukturiert ist. Es verdankt sich der Tatsache, dass darin Gott primär in der Initiative gedacht wird: »Dass Gott sich den Menschen vertraut macht, ist die Bedingung der Möglichkeit menschlichen Gottvertrauens und geht aller menschlichen Aktivität des Gottvertrauens oder Gottnichtvertrauens voraus«.74 Das Konstitutionsverhältnis für Gottvertrauen ist demnach durchaus ein responsorisches Geschehen zwischen Gott und Mensch. Es zeichnet sich jedoch durch eine grundsätzliche Asymmetrie aus, da menschliches Gottvertrauen im eigentlichen Sinn keine eigenständig kreative Vertrauenswirklichkeit bildet (was dann nämlich vielmehr Aberglaube wäre), sondern ein lediglich im Glauben sola gratia ermöglichtes menschliches Äquivalent zu der offenbarten Treue Gottes darstellt. Andrea Lassak hat in ihrer Studie zur theologischen Verhältnisbestimmung von Grund- und Gottvertrauen darüber hinaus gezeigt, dass Gottvertrauen als Lebensform des christlichen Glaubens trinitarisch spezifiziert ist: Da dieser Gott, auf den der christliche Glaube vertraut, sich als der Schöpfer, Versöhner und Erlöser dieser Welt bekannt macht, ergibt sich daraus eine »eigentümliche Entschränkung«, aus der folgt, »dass sich christliches Gottvertrauen nie ausschließlich auf Gott, sondern vermittelt über ihn zugleich auf die ganze geschaffene Schöpfung erstreckt«.75 Statt einerseits eines diffusen und unkonkreten und andererseits 72 73 74 75
Zu einer solchen Soziologie des Vertrauens vgl. Luhmann, Vertrauen. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 228. Dalferth, »Vertrauen und Hoffen: Orientierungsweisen im Glauben«, 421. Lassak, Grundloses Vertrauen, 175.
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eines personalistisch reduktionistischen Vertrauens vermittelt christliches Gottvertrauen eine Doppelperspektive, die zuversichtlich auf Gott und seinen Willen für diese Schöpfung schaut. Von dort her, so argumentiert Lassak, bewirkt christliches Vertrauen einen grundlegenden Perspektivwechsel für individuelle wie auch gemeinschaftliche Lebensvollzüge: Weil Vertrauen von grundlegender Relevanz für die Wahrnehmung und Deutung des Lebens ist, hat dieser Perspektivwechsel nicht nur Bedeutung für das eigene Leben; er ist zugleich von ethischer Relevanz für die Gemeinschaft. Gottvertrauen übt deshalb signifikante Wirkung auf die handlungsleitenden, ethischen Motivationen aus, weil der Blick des liebenden Vertrauens nicht nur Anderes, sondern mehr und Wesentlicheres sieht als der des kritischen Misstrauens.76
Die Wirklichkeit, die in solchem Gottvertrauen zum Vorschein kommt, unterscheidet sich von einer von Leiden und Bösem geprägten Wirklichkeit, die letztlich nur ihren Eigendynamiken unterworfen hoffen und bangen kann. Sie sieht die intuitive Evidenz dieser Welt und erweitert diese um den Horizont des Vertrauens in Gottes guten Willen für diese (wenn auch: gefallene) Schöpfung. Im Folgenden ist zu untersuchen, worin dieses Vertrauen gegründet ist und wie sich diese Verankerung von anderen Formen des Vertrauens unterscheidet.
1.5.2 Gegründetes Vertrauen Für eine Hermeneutik des Vertrauens bietet sich als besonders hilfreiches Gegenstück zum christlich codierten Gottvertrauen das Phänomen des Grundvertrauens an.77 In Gemeinsamkeiten, Abhängigkeiten und Fundamentaldifferenzen lässt sich das spezifische Profil des Gottvertrauens für den Kontext dieser Arbeit fruchtbar machen. Ebenso wie menschliches Grundvertrauen, das sich zu einem wesentlichen Teil frühkindlichen Erfahrungen in vertrauenswürdigen Primärbeziehungen verdankt, ist das Gottesvertrauen ein responsorisches Ereignis, das sich als »konkrete Antwort auf Gottes glaubensschaffenden Ruf« versteht.78 Beide Phänomene 76 77
78
Lassak, Grundloses Vertrauen, 176. Diesem Ansatz folgt das von Ingolf Dalferth und Simon Peng-Keller geleitete Projekt zu Grundund Gottvertrauen, aus dem mehrere Tagungsbände sowie Forschungsarbeiten hervorgegangen sind. Vgl.: Dalferth und Peng-Keller, Kommunikation des Vertrauens; Dalferth und Peng-Keller, Gottvertrauen; Dalferth und Peng-Keller, Grundvertrauen. Einen weiteren Beitrag stellt die Dissertation von Andrea Lassak dar, welche wesentliche Ergebnisse des Projekts aufnimmt und in sowohl in interdisziplinär anschlussfähiger wie auch in dezidiert theologischer Perspektive konstruktiv weiterführt; vgl. Lassak, Grundloses Vertrauen. Lassak, 181. Für einen differenzierten Vergleich und zu folgenden Überlegungen vergleiche das Abschlusskapitel von Lassak, IV. Grundvertrauen und Gottesvertrauen (179ff.). Die dort angestellten Überlegungen werden hier nur ausschnitthaft wiedergegeben, sofern sie für den Kontext eines monistisch-theistischen Erlösungsmodells fruchtbar gemacht werden können.
Hermeneutik des Vertrauen
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sind in fundamentaler Weise für den Umgang und die Einordnung mit Ambivalenzerfahrungen und Ungewissheiten der Zukunft orientierungsgebend. Dabei stellt das Gottvertrauen nicht nur selbst Welt- und Selbstreflektionen an, sondern bietet umgekehrt eine geordnete und vom Evangelium des gnädigen Gottes her formatierte Erschütterungsresistenz, die bis zu einem gewissen Grade Unwägbarkeiten und Unsicherheiten menschlicher Erfahrung puffern können. Sofern das christliche Vertrauen letztlich allein in Gott gründet, entzieht es sich der Frage nach der Vorletztlichkeit und kann im auf die Probe gestellten Vollzug nur »für die Nicht-Selbstverständlichkeit seines Gottvertrauens auf Gottes Transzendenz« verweisen.79 Gefragt werden kann schließlich nach der Medialität, in der sich dieses Vertrauen als vertrauenswürdig erweist. Die darin gewonnene Einsicht unterscheidet sich jedoch von einer Absicherung, sofern diese Vermittlung nur unter dem wohlbedachten dialektischen Vorbehalt zu verstehen ist, dass sich Gott dem Menschen in seiner Treue zu sich selbst noch einmal ganz anders erweisen mag. Ganz wesentlich unterscheidet sich das Gottvertrauen hierin von allen anderen Formen des Vertrauens, da der kultur- oder lebensgeschichtlich imprägnierten Erfahrungsbezogenheit aller Arten menschlichen Vertrauens »Gottes glaubenschaffendes Wirken gegenüber[steht], das als Ruf und Beziehungsangebot gedeutet wird«.80 Von diesem alle Vertrauenswürdigkeiten im Raum möglicher Erfahrung überbietenden Vertrauensangebot Gottes her ist zu erklären, woher sich die eschatologische Hoffnung, dass Gott Alles in Allem war, ist und sein wird, speist.81 »So praktiziert kann Vertrauen in Gott als Vertrauen wider alle Evidenz und Hoffnung auf Gott als Hoffen wider alle Hoffnung gelebt werden.«82 Auch Lassak betont diese Überbietung nicht nur der Erfahrung, sondern auch der Kontextualisierung und Sinndeutung allen Geschehens, indem das Gottvertrauen speziell im Kontext des Vorsehungsglaubens deren Grenzen transzendiert: »Im Lichte der angebrochenen Gottesherrschaft und im Vertrauen auf die Vollendungszusage Jesu vermag der Christ mehr bzw. anderes zu erwarten, als die Evidenz der Welterfahrung von sich aus hergibt.«83 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Äußerungen und Vollzügen des christlichen Glaubens, die von Zuversicht und Vertrauen in Gottes mächtige Zuwendung, eine Realität eigenen Gehalts zum Ausdruck gebracht wird, die 79 80 81
82 83
Lassak, 183 Lassak, 186. Die die Darstellung und Analyse dieses gesamten ersten erlösungstheologischen Modells durchziehende Überbietung empirischer Wirklichkeit durch eschatologische Wirklichkeit (bei gleichzeitiger Bezugnahme darauf) zeigt sich nach ihrer materialdogmatischen (1.1 und 1.2) und der fundamentaltheologischen (1.3 und 1.4) nun auch in ihrer lebens- und kulturhermeneutische Bedeutung. Dalferth, »Vertrauen und Hoffen: Orientierungsweisen im Glauben«, 434. Lassak, Grundloses Vertrauen, 153. Vgl. dazu Schrage, Vorsehung Gottes?, 60f.
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sich aus der Wirkung von Differenz- und Überbietungsfiguren speist, wie sie tiefengrammatisch von Anfang an in einer monistisch-theistischen Eschatologie angelegt sind. Das Heil, das Verständigmachen, wie auch das existentielle Fürgültig-Erachten wird von Gott selbst erwartet. In einem letzten Schritt soll nun ein weiteres Mal die Brechung dieses Monismus zum Ausdruck kommen, indem ich die Irritation dieses Selbsterweises Gottes in den biblischen Vertrauens- und Anfechtungserfahrungen in die Überlegung zum christlichen Vertrauen in Gottes Macht einbeziehe.
1.5.3 Die geschichtliche Dynamik israelitischen Vertrauens »Christen hoffen gegen verlorenes Vertrauen, und sie vertrauen trotz aller Enttäuschung, indem sie nicht auf Menschen, sondern auf Gott hoffen.«84 Dennoch ist der Glaube an Gott, den Schöpfer und Erlöser, keine Kultivierung einer einzigen Differenzerfahrung, in der Schöpfung gegen Erlösung, Erfahrung gegen Hoffnung, Evangelium gegen Gesetz oder Gott gegen diese Geschichte steht. Kein Mensch kann allein von der Zusage und der Verheißung Gottes leben, ohne auch die Erfahrung von heilender Gegenwart und erlösender Rettung Gottes zu machen: Gottes Vertrauenswürdigkeit wird nicht nur verkündigt und versprochen, sondern sie will erlebt, gestärkt, mitunter auch eingeklagt werden. In diesem letzten Abschnitt sollen die bis hierhin gewonnenen Erkenntnisse anhand einiger biblischer Schlüsselereignisse geprüft werden. Nicht nur die Parusieverzögerung im NT, sondern auch diverse Erzählungen der Bedrängnis Israels/Judas rekurieren auf Zeiten, in denen das Ausbleiben der erlösenden Gegenwart Gottes zum Dauerzustand zu werden droht, und die ausschließlich in einem kontraevidenten Gewissheitsmodus von der verheißenen barmherzigen Allmacht Gottes zu zehren versuchen.85 Diese ausbleibende Evidenz kann als nicht weiter zu erklärendes Ausbleiben der Zuwendung Gottes verstanden werden; darüber hinaus ist den biblischen Texten der prüfende Impetus eines Auf-die-Probe-Stellens nicht fremd. Menschen und Gemeinschaften (besonders in der Gestalt des Königs repräsentiert) können ihr Vertrauen in solchen Proben entweder grundsätzlich erfolgreich unter Beweis stellen, oder ihnen wird der Verrat am Bund Gottes vorgeworfen.86 Darin wird deutlich, dass auch die individuelle und kollektive Verarbeitung dieser 84 85 86
Dalferth, »Vertrauen und Hoffen: Orientierungsweisen im Glauben«, 433. Vgl. dazu Grünwaldt, Gott und sein Volk: Die Theologie der Bibel, 146–156; Feldmeier und Spieckermann, Der Gott der Lebendigen, 339 passim. Als eine der bedeutendsten Weggabelungen der Geschichte des Volkes Israels ist zweifellos das Prophetenwort in 1Kön 16,9 im Kontext des syrisch-efraimitischen Kriegs von 733 v. Chr. zu nennen, wonach an das Vertrauen Judas in Gottes Widerstand gegen die Bedrohung aus Assur seine Existenz gekoppelt wird. Mit der Mahnung »Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht« wird an das unbedingte Vertrauen des Südreichs in JHWH appelliert, welches entgegen der offensichtlichen militärischen Übermacht des Feindes nicht dem fragwürdigen Bündnis der antiassyrischen Koalition beitreten soll.
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durchlebten Kontraevidenzen ein hohes Maß an religiöser und theologischer Prägekraft hat, die sich tief in das kulturelle Gedächtnis einschreibt und nicht davor Halt macht, die dunklen Seiten Gottes lebhaft zum Ausdruck zu bringen.87 Menschen suchen nach einer Erklärung, die das in Gott gesetzte Vertrauen rechtfertigt und deren Ringen darum bis ins Gottesbild Schatten wirft. Diese Erkenntnis lässt sich in das monistisch-theistische Modell integrieren: Das in diesem Kapitel in Anschluss an Barth skizzierte Modell geht nur von einer grundsätzlichen Möglichkeit kontraevidenten Vertrauens in Gottes allmächtige Allwirksamkeit aus. Bereits unter 1.4.2 war die Zeitlichkeit der Kontraevidenz als theologisches Problem zur Sprache gekommen. Durch den Einbezug eines zentralen Gedankens alttestamentlicher Geschichtsdeutung kann dieser Gedanke zudem um den Aspekt erweitert werden, dass es das Moment des Erweises der mächtigen Zuwendung Gottes mitbedenkt. Sofern die Kontraevidenz menschlichen Vertrauens nicht generell in Form einer Mystifizierung der göttlichen Präsenz in reiner Transzendenz gedacht wird, sondern diese zeitlich beschränkt ist, stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Verankerungen, die in Zeiten der Uneinsichtigkeit von Gottes Macht angesichts der schieren Übermacht des Bösen im wahrsten Sinne des Wortes darüber hinwegtrösten. Wie Jörg Jeremias betont, ist der Jerusalemer Hymnus des Psalters ein besonders prägnantes Beispiel dafür: Darin wird das Zentralthema des Königtums Gottes entfaltet und zu den Erfahrungen Israels/Judas in Beziehung gesetzt. Dabei sind einige Modifikationen von Bedeutung, die das Ringen der biblischen Autoren mit der Evidenz von Gottes Macht für sein Volk in der Geschichte auf unterschiedliche Weise plastisch machen: Vorwiegend in den früh-vorexilischen Hymnen, die das Königtum JHWHs preisen, verzichtet das JHWH-Lob Israels zunehmend auf die Schilderung konkreter Auseinandersetzungen: Es »wird in den Jerusalemer Hymnen kein Kampfesgeschehen mehr ausgesprochen, sondern nur noch die permanente und grenzenlose Überlegenheit Gottes über alle potentiellen Gefährdungen seiner Welt besungen«.88 In unmittelbarer Reaktion auf die mythologische Rede seiner polytheistischen Nachbarvölker verzichtet Israel auf einen differenzierenden Machterweis seines Gottes, sondern wechselt in den Argumentationsmodus eines konsequenten Transzendierens geschichtlicher Ereignisse angesichts der unbeschränkten Macht Gottes.89 In den ersten Krisenerfahrungen der Staaten im Palästina des 8./7. Jahrhunderts v.Chr. wird der JHWH-Kult dann dahingehend reinterpretiert, dass damit 87
88 89
Vgl. Berges, Die dunklen Seiten des guten Gottes: Zu Ambiguitäten im Gottesbild JHWHs aus religions- und theologiegeschichtlicher Perspektive; Dietrich und Link, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 1; Dietrich und Link, Die dunklen Seiten Gottes. Band 2. Jeremias, Theologie des Alten Testaments, 32. Vgl. Ps 93.
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das Königtum Israels/Judas begründet werden konnte. Wichtige Geschichtsereignisse werden so zu Schlüsselereignissen stilisiert, die Gottes Stärke und Treue zu seinem Volk zum Ausdruck bringen sollen und sich religionsgeschichtlich geradezu als Evidenzanker der Allmacht im kulturellen Gedächtnis niederschlagen. Dabei werden Erfahrungen der Rettung und Bewahrung zu den fundamentalen Erzählungen, wie der Errettung Israels aus Ägypten, in Beziehung gesetzt. Nicht zufällig gewinnen die auf Ebene der erzählten Zeit weit zurückliegenden Gründungserzählungen des Deuteronomiums eine prominente Stellung, indem die Kultzentralisation rund um das Jerusalemer Heiligtum mit der Heilserfahrung des Auszugs aus Ägypten und der daran geknüpften Treuezusage Gottes am Sinai verknüpft wird.90 Exilisch und v. a. nachexilisch findet dann als Reaktion auf die Fraglichkeit des JHWH-Glaubens als Volksglaube Judas eine Universalisierung statt.91 Die vorexilischen Traditionen werden so uminterpretiert und ihrer geschichtlichen Situierung entledigt, dass damit nicht mehr ein konkreter Status quo ätiologisch verbunden wird. Vielmehr wird die Treue Gottes für allgemein so unverbrüchlich erachtet, dass der Bezugshorizont erweitert und grundlegend universalisiert wird, ohne auf eine geschichtliche Verankerung verzichten zu müssen: »Jetzt wurden einerseits Gottes Großtaten zugunsten Israels mythisch überhöht, d.h. sie verloren ihren Charakter der Kontingenz und Partikularität [...]. Andererseits wurde Gottes Weltherrschaft nun geschichtlich gedeutet und auf alle Völker bezogen«.92 Daraus wird ersichtlich, wie sich Teile des AT genau an der in diesem Modell immer wieder zum Ausdruck gekommenen Spannung aus geschichtlicher Evidenz und diese Geschichte transzendierenden, weil generalisierenden Vertrauensaussagen abarbeitet. Gerade die Erfahrungen Judas in der Exilszeit, der vermeintliche Zusammenbruch der Zionstheologie und die literarische Verarbeitung der Katastrophe um 587/6 v. Chr. zeigen, wie das Festhalten Israels an den Schlüsselüberlieferungen, die von der rettenden Macht JHWHs sprechen, dazu führt, über die Kontrasterfahrungen der Niederlage weiter den Glauben an den eigenen Bundesgott zu behalten und zugleich zu modifizieren: Seit der Wiedererrichtung des Tempels 515 v. Chr. wird das Königtum Gottes in Israel nun in einem doppelten Sinn verstanden: sowohl in Kontinuität zu den älteren Hymnen als die gegenwärtig erfahrbare Herrschaft Gottes über die Welt als auch – und mit der Zeit immer stärker – als eine zukünftige Wirklichkeit, in der Gott seine Weltlenkung zum Heil der Menschen erst in ihrer vollen Auswirkung erweisen wird.93 90 91 92 93
Neben den Erzähltexten des dtr. Geschichtswerkes vergleiche die auch im Psalter zu identifizierende Aufnahme des Exodusmotivs im Kontext von Klagepsalmen: Ps 77.80.81 u.ö. Vgl. Ps 47.95.97 u.ö.; zur Entwicklung der allmählichen Universalisierung und Kompentenzausweitung vgl. Eberhardt, JHWH und die Unterwelt. Jeremias, Theologie des Alten Testaments, 33. Jeremias, 413.
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Viele alttestamentliche Autoren haben die Abständigkeit des Bekenntnisses zu Gottes Herrschaft angesichts erfahrener Übel im Blick. Und so schärft sich ab mittelpersischer Zeit sowohl ein Bewusstsein für die futurische Komponente der Herrschaft Gottes als auch dafür, dass der Möglichkeit des ungebrochenen Lobes von Gottes Macht über alle Widrigkeiten dieser Welt schlicht noch zu viel unerlöstes Leiden im Wege steht. Zu unterstreichen ist die eindrücklich differenzierte Integrationsleistung, welche die Metapher von der Herrschaft Gottes in den Schriften der hebräischen Bibel erbringt: Bei keinem anderen Thema der Hoffnung Israels sind im Alten Testament gegenwärtige Welterfahrung und Beschreibung der zukünftigen Vollendung der Welt und daneben partikulare Erwartung des Heils des Gottesvolks und die universale Erwartung des Heils der Völker so eng miteinander verbunden wie beim Thema des Königtums Gottes.94
Dennoch muss deutlich festgehalten werden, dass auch die kontraevidente Rede von Gottes Treue zu einem Ende kommen kann bzw. die Integrationsleistung der Rede von Gottes Herrschaft hochgradig kontingent und kontextuell bedingt ist. Wie im Abschnitt über die paradoxe Wirklichkeit des Nichtigen deutlich wurde, muss sich auch die Rede von Gottes beständiger Treue dadurch irritieren lassen, dass die Wirklichkeit des Bösen nicht zu voreilig innerhalb eines Rahmens des guten Heilswillens Gottes systematisiert werden darf. Nicht nur systematisch-theologische und auch biblisch-exegetische Gründe sprechen für einen vorsichtigen Umgang und eine sensible Anwendung der zweifelsohne wirkmächtigen und leistungsstarken Metapher der Herrschaft Gottes und der Treue seinem Volk gegenüber. Besonders deutlich wird dies im Kontext einer Theologie, die die Ereignisse des 20. Jahrhunderts theologisch zu bewerten versucht. Dabei ist zu erkennen, dass sowohl die Schoah, die Staatsgründung Israels, die militärische Behauptung des Staates Israel gegen seine immer wieder drohende Invasion wie auch die gegenwärtige Siedlungs- und Okkupationspolitik in den palästinensischen Autonomiegebieten unterschiedliche theologische Reaktionen sowohl aus jüdischer Sicht95 , in der Theologie im deutschsprachigen Raum,96 wie aber auch aus palästinensisch-christlicher Perspektive97 hervorrufen. Unter den vielschichtigen theologischen Stimmen, die die jüngste Geschichte Israels kommentieren und interpretieren, ist auch eine Gruppe auszumachen, 94 95
96
97
Jeremias, 417. Eine nach systematischen Gesichtspunkten geordnete Schau über die verschiedenen Reaktionen jüdischer Theologie und Philosophie bietet Katz, Biderman und Greenberg, Wrestling with God. Vgl. Haarmann, »Synodalbeschluss unter Beschuss«; Kriener, »60 Jahr Staat Israel – ein Zeichen der Treue Gottes!?«; Klappert und Starck, Umkehr und Erneuerung. Erläuterungen zum Synodalbeschluß der rheinischen Landessynode 1980: »Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden«; Tück, Gottes Augapfel: Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz. Vgl. Raheb, Glaube unter imperialer Macht.
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die das Ende der Verständigung über Gottes mächtige Herrschaft markiert: Als prominentes Beispiel sei an die These vom Abschied von der Rede von Gottes Allmacht, die der Philosoph Hans Jonas in der denkerischen Verarbeitung der ausbleibenden Rettung Israels vorbringt, erinnert.98 Im Unterschied zu dem mit den Begriffen der Schöpfungsmacht und der Allmacht Gottes a priori arbeitenden Argument Jonas’ lässt sich aber auch eine andere Form des Zusammenbruchs der Leistungskraft dieses ersten eschatologischen Modells aufzeigen: Die Figur der Überbietung von Evidenzen durch kontraevidente eschatologische Verheißungen stiftet, da sie qua ihrer inneren Logik kein differenziertes Auseinandersetzungsgeschehen Gottes mit dem Bösen schildert, keine Einsicht, die sich zu einer Erwartung von Gottes Handeln verdichtet. Wo aber die Rede von Gottes Macht wider alle Erfahrungen nicht irgendwann in konkrete Formen umschlägt, die auf eine Erlösung von diesem Bösen hinweisen, verliert sie ihre Orientierungskraft und muss von kontextsensibleren und in der jeweiligen Situation tragfähigeren erlösungstheologischen Modellen abgelöst werden.
1.6 Zusammenfassung: Erlösung als Vollendung Das Vertrauen in Gottes Allmacht impliziert die grundlegende Hoffnung auf Gottes erhaltende, begleitende, regierende und vollendende Gegenwart. Die zurückliegende Untersuchung hat gezeigt, dass sich bereits mit einer höchst formalen Denkfigur eine Eschatologie modellieren lässt: Wenn Menschen auf die Zuwendung Gottes hoffen, dann hoffen sie mitunter wider gegenwärtige Umstände. Sie hoffen auf die Vollendung dieser Geschichte, in die sie ihre eigenen Lebensgeschichten einschreiben. In Bezug auf die epistemischen Konstruktionsbedingungen dieses Modells hat sich damit aber auch eine grundsätzliche Spannung nachweisen lassen: Das Vertrauen in Gottes rettende und vom Bösen erlösende Zuwendung ist ein existentielles Wagnis, das mitunter konträr zur evidenten Wirklichkeit des Bösen und dessen lebenserschütternden Folgen steht. Es hat damit aber auch eine zugleich entlastende Funktion. Diese Funktion kann ein solches Modell jedoch nur erfüllen, wenn zu dieser formalen Denkfigur der Allmacht auch eine Form narrativer Verankerung hinzutritt: Wie anhand atl. Geschichtstheologie vor Augen geführt wurde, baut kontraevidentes Vertrauen auf Evidenz schaffende und Vertrauen stiftende Erzählungen. Im Gespräch mit einem Entwurf gegenwärtiger hermeneutischer Vertrauensforschung hat sich dabei zeigen lassen, dass dieses Spezifikum der Kontraevidenz keinen religiösen Eskapismus begründet, sondern vielmehr ein Motiv darstellt, das sich auch in nicht-religiösem Kontext wiederfinden lässt. Dass ein kontraevidentes Bekennen nicht ewig über konkretes Leiden hinwegtrösten kann und möchte, ist kein Zei98
Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz: Eine jüdische Stimme.
Zusammenfassung: Erlösung als Vollendung
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chen für die grundsätzliche Untauglichkeit dieses Modells. Vielmehr ist dies ein Ausdruck von dessen Partikularität im Ensemble christlicher Hoffnungsperspektiven.
2 Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung Der christliche Glaube bekennt Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde. Dieses Bekenntnis ist Ausdruck der Dankbarkeit für die geschaffene und als lebensförderlich empfundene Wirklichkeit. Es wird aber zugleich komplettiert durch die Hoffnung auf eine Erlösung, die die bleibende Selbstgefährdung dieser Schöpfung überwindet. In diesem Kapitel soll daher eine Erlösungstheologie modelliert werden, die unter dem Symbol der Neuen Schöpfung steht und damit schöpfungstheologische und eschatologische Perspektiven miteinander verbindet. Das in diesem Kapitel untersuchte Modell wird im Kontext von Barths Schöpfungstheologie in KD III/1 analysiert.1 Zunächst soll dieses in einer Rekonstruktion von Barths Auslegung der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung herausgearbeitet werden (2.1). Daran lässt sich zeigen, dass Barth die Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen im Kontext seiner Schöpfungslehre als Chaosbegrenzung denkt. In einem zweiten Schritt wird die so herausgearbeitete prozessuale Wirkweise Gottes dann auf ihre weiteren Spuren in den biblischen Texten befragt (2.2). Damit lässt sich zeigen, dass Chaosbegrenzung und -überwindung tragende biblische Motive sind, die für das Verhältnis von Schöpfung, Bund und Erlösung aufschlussreich sind. War im ersten Modell die Gegengröße zu Gottes erlösendem Handeln das Nichtige, welches in seiner Negativität ontologischer und phänomenologischer Natur zur Sprache kam, so stellt die Gegenüberstellung von Ordnung und Chaos ein phänomenologisch wesentlich ergiebigeres Instrumentarium für die Frage nach der Wirklichkeit des Bösen innerhalb dieses Modells zur Verfügung. In einem weiteren Abschnitt soll daher die tragende Modellstruktur der Polarität von Chaos und Ordnung untersucht werden um zu prüfen, inwiefern diese eine adäquate Grundlage für eine realistische Eschatologie bietet (2.3). 1
Vgl. Zur grundsätzlichen Einordnung der Schöpfungslehre Barths vgl. Link, »Theologische Aussage und geschichtlicher Ort der Schöpfungslehre Barths«, konstruktiv kritische Anfragen formuliert darüber hinaus Moltmann, »Schöpfung, Bund und Herrlichkeit«. V.a. die anthropologischen Implikationen des Verhältnisses von Schöpfung und Bund werden im anglophonen Bereich in letzter Zeit verstärkt in den Blick genommen vgl. Oakes, »The Question of Nature and Grace in Karl Barth« sowie Fergusson, »Karl Barth’s Doctrine of Creation«.
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In einer differenzierenden Untersuchung können eschatologische Kontinuitäten und Diskontinuitäten herausgearbeitet werden, um die erlösungstheologischen Implikationen von Gottes schöpferischem Wirken, wie es Barth in seiner Schöpfungslehre entwickelt, zu beschreiben. Die daran anschließende Vorstellung einer Neuschöpfung soll schließlich anhand verschiedener eschatologischer Teilsymbole auf ihr utopisches Gehalt hin befragt werden (2.4). Abschließend werden mögliche ethische und hermeneutische Perspektiven skizziert, die sich von einem schöpfungstheologischen Modell der Chaosbegrenzung und einem erlösungstheologischen Modell der Chaosüberwindung aus entwickeln und plausibilisieren lassen (2.5).
2.1 Gottes schöpferische Auseinandersetzung mit dem Chaos In seiner Schöpfungstheologie entwickelt Barth die Denkform der Chaosbegrenzung. Diese ist selbst noch nicht in erlösungstheologischen Kategorien auszudrücken, ebnet aber den Weg für ein Verständnis von Erlösung, das anhand der Metaphorik der Überwindung des Chaos zu einer Eschatologie der Neuen Schöpfung überleitet. Im Folgenden soll zunächst Barths Schöpfungsverständnis eingeordnet werden, um dann entlang seiner dogmatischen Auslegung des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts die Dramatik von Gottes Auseinandersetzung mit dem Chaos herauszuarbeiten.
2.1.1 Schöpfung und Bund Die Veröffentlichung der schöpfungstheologischen Bände Karl Barths Kirchlicher Dogmatik wurden seinerzeit mit großer Spannung erwartet: Charakteristisch in Barths früher Theologie ist die Grundunterscheidung zwischen Gott und Mensch in kategorischer Differenz von Schöpfer und Geschöpf.2 Die Herausforderung für die Schöpfungslehre lag für den Schweizer Theologen daher in der Entwicklung einer adäquaten Denkfigur, die unter Absehung einer analogia entis die Wirklichkeit der guten Schöpfung theologisch zu beschreiben vermag.
2
Biographisch einschneidend sind die Auseinandersetzungen mit Paul Althaus wie auch mit Emil Brunner, die beide in der Schöpfungstheologie ein dichteres Relationengefüge zwischen Gott und Mensch, Gnade und Natur, Offenbarung und Erfahrung zu finden meinten: Brunner, Natur Und Gnade; Barth, Nein!; Westermann, »Karl Barths Nein«; Walker, Zur Frage Der Uroffenbarung; Vgl. darüber hinaus die entsprechenden Artikel von Ernstpeter Maurer Barth und das Luthertum (127–131) und Frank Jehle Barth und Brunner (90–95) in: Beintker, Barth Handbuch.
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Barth versucht diesen Spagat mithilfe einer differenzierten Zuordnung von Schöpfung und Bund zu erreichen.3 Für eine sachgemäße Beschreibung dieses Verhältnisses bemüht Barth die Figur einer inneren und äußeren Begründungsrahmung: Die Schöpfung ist der äußere und nur der äußere Grund des Bundes, man darf wohl sagen: seine technische Ermöglichung, seine Bereitstellung und die Ausstattung des Raumes, in welchem die Begründung und Geschichte des Bundes sich abspielt, des Subjekts, das in dieser Geschichte Gottes Partner sein, kurz, der Natur, der sich Gottes Gnade in dieser Geschichte annehmen und zuwenden soll (KD III/1, 107).
Schöpfung ist so nicht einfach nur die Herkunftsbezeichnung einer Wirklichkeit, sondern Grundlage einer lebensfördernden, dem Bund Gottes mit den Menschen zuträglichen Umgebung. Die theologiegeschichtliche Innovationskraft dieser Zuordnung liegt, so Christian Link, gerade darin, dass in Barths Schöpfungslehre »die Statik der klassischen Dogmatik, die die Gesetze und Ordnungen der Welt unmittelbar auf Gott zurückgeführt hat, in einen Bewegungsvorgang aufgelöst [hat], in den der Erkennende einbezogen ist.«4 Schöpfung ist demnach keine Wirklichkeitssetzung, sondern eine Eröffnung von Möglichkeiten: Als endliche, begrenzte Wirklichkeit ist sie [die Schöpfung] jedoch keine in sich stabile Wirklichkeit: wie sie sich dem Schöpfer verdankt, so bleibt sie auf seine Gegenwart, mehr noch: auf sein Kommen angewiesen, ist sie – darin besteht ihre kreatürliche Auszeichnung – eine auf dieses Kommen hin offene Wirklichkeit.5
In der umgekehrten Rahmung beschreibt Barth daher den Bund als den inneren Grund der Schöpfung: Daß der Bund das Ziel der Schöpfung ist, das kommt zu der in ihr gesetzten Wirklichkeit des Geschöpfs nicht erst später hinzu – es hätte auf die Schöpfungsgeschichte nicht ebenso gut irgend eine andere Geschichte folgen 3
4 5
Klassischerweise wird diese Zuordnung im Verhältnis der dogmatischen Loci von Schöpfung und Christologie ausgehandelt. Zwei Studien zu Barth können diesbezüglich als komplementäre Beispiele dieser Aushandlung stehen: Die Christologie als Schlüssel für die Schöpfungstheologie betont (auch mit dieser theologischen Priorisierung, dass der inkarnierte Logos »der echte Realgrund der Schöpfung« ist; vgl. KD III/1, 54) Käfer, Inkarnation und Schöpfung, 210–336. Stärker die auch von der Schöpfungstheologie Barths ausgehenden Impulse und damit die naturale Seite menschlicher Existenz und Erlösungsbedürftigkeit berücksichtigt dagegen: Thomas, Neue Schöpfung, 124–212. Zur Unterscheidung dieses schöpfungstheologischen Strangs von Barths implizierter Eschatologie im Gegenüber zu einer christologischen Begründung der Eschatologie vgl. Thomas, »Chaosüberwindung und Rechtsetzung: Schöpfung und Versöhnung in Karl Barths Werk«. Link, »Theologische Aussage und geschichtlicher Ort der Schöpfungslehre Barths«, 183 [Anm.: B.F.]. Link, 175 [Anm.: B.F.].
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können – das charakterisiert vielmehr schon die Schöpfung selbst und als solche und also auch das Wesen und die Existenz des Geschöpfs (KD III/1, 262).
Die Schöpfung Gottes stellt somit nicht das Begründen und Machen eines neutralen Daseins ins Zentrum, sondern die »Ermöglichung der Geschichte des Bundes Gottes mit dem Menschen, die in Jesus Christus ihren Anfang, ihre Mitte und ihr Ende hat« (KD III/1, 44). Schöpfung bezeichnet daher nicht nur das Woher allen Seins, sondern gleichzeitig ein Wohin: Indem die Bibel mit der Schöpfungsgeschichte beginnt, stellt sie schon den Grund und das Wesen des Menschen und seiner Welt in das Licht eben der Gnade, die sich nachher im Zuge dessen, was zeiterfüllend zwischen Gott und Mensch geschieht, als Gottes Sinn und Absicht offenbart (KD III/1, 67).
Mit der gegenseitigen Zuordnung von Schöpfung und Bund als äußerer bzw. innerer Rahmung des jeweils anderen erreicht Barth eine Beschreibung des schöpferischen Handelns Gottes, dem jenseits einer einfachen Daseinsbeschreibung eine bestimmte Qualität eigen ist: Schöpfung als Geschichte schafft die Welt als den Raum des Menschen, der dieser Gnade [des Bundes] teilhaftig werden soll. Und sie schafft den Menschen als das Wesen, das eben in diesem Raum für Gottes Gnade dankbar werden und ihr entsprechen soll (KD III/1, 72).
Damit ist die dominierende Metaphorik der Barthschen Schöpfungslehre bereits vorgestellt: Schöpfung vollzieht sich für Barth in der Eröffnung von Möglichkeitsräumen, die einer bestimmten Existenz bevorzugt eignen. Es ist nicht nur die bloße Unterscheidung zwischen Sein und Nicht-Sein, die in Gottes schöpferischem Wirken vollzogen wird, sondern das Schaffen sowie die Qualifikation bestimmter Möglichkeiten, die als »Raum für die Geschichte des Bundes« (KD III/1, 46) zum »Werkzeug seiner Taten« (KD III/1, 47) werden.6 Der Schöpfungsglaube formuliert damit nicht nur ein dankbares Wissen um das Woher des Daseins; vielmehr »ist eben schon die eigene Existenz und das eigene Wesen des Geschöpfs das Werk der Gnade« (KD III/1, 104). 6
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass ebenfalls die Koordinate der Zeit eine bedeutende Rolle in Barths Schöpfungstheologie spielt. Auch die Zuordnung von Schöpfung und Bund findet hier ihren Niederschlag, wenn Barth zwischen Schöpfungszeit, verlorener Zeit und Gnadenzeit unterscheidet und letztlich christologisch zuspitzt: »Wirklich Zeit haben heißt [...] in diesem seinem Übergang (transitus) leben, mit ihm von da nach dort gehen. Diese wirkliche Zeit, die wir in und mit Jesus Christus haben dürfen, ist Gottes Gnadenzeit, die Zeit des alten und neuen Bundes« (KD III/1, 80). Zur Zeitlichkeit in Barths Schöpfungstheologie (im Speziellen der Zeit des Menschen) vgl. Noordveld, Der Mensch in seiner Zeit.
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2.1.2 Unterscheiden, Begrenzen und Benennen. Zur Schöpfungstechnik der ersten Schöpfungssage Die vorliegende Studie widmet sich auf der Suche nach erlösungstheologischen Denkmodellen der dramatischen Vorstellung einer Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen. Die Beschäftigung mit dem dogmatischen Ort der Schöpfungstheologie erscheint daher nur auf den zweiten Blick für dieses Forschungsfeld relevant. Betrachtet man jedoch die bis hierin gemachten Vorüberlegungen im Zusammenhang mit der – in der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths insbesondere in KD III/1 formulierten – stark modifizierten Vorstellung einer creatio ex nihilo, so wird schnell ersichtlich, dass Gottes schöpferische Auseinandersetzung mit dem Chaos die Grundlage für ein eigenes eschatologisches Modell von Schöpfung und Neuschöpfung darstellt. In der Schöpfung wird das, was ehedem noch nicht ist, das Chaos, das Tohuwabohu und die Finsternis begrenzt – ihre Totalität wird überwunden. Im Unterschied zu altorientalischen Schöpfungsmythen, die das Chaos als neutrale materia informis erachten, interpretiert diese Barth in einem eindeutigen soteriologischen Gefälle: »Schöpfung heißt Einbruch und Offenbarung des göttlichen Erbarmens. Gegen jene verworfene und vergangene Wirklichkeit eines ihm fremden und feindseligen Geschöpfs erging ein für allemal das Wort Gottes« (KD III/1, 122). Barth widmet sich vor allem in den Anfangspassagen seiner die methodischen Grenzen zwischen systematischen und exegetischen Betrachtungen verschwimmen lassenden Auslegung des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts der Frage nach der Beschaffenheit dieses Überwundenen:7 Strikt weist er die Vorstellung einer neutralen massa informis zurück, der zufolge Gottes Schöpfung in einer rein disponierenden Ordnungsstiftung innerhalb des bereits Dagewesenen zu verstehen sei. Dennoch geht der Schöpfung etwas voraus: »Es gibt nach [Gen] 1,2 allerdings ein Chaos und eine sehr bestimmte Beziehung Gottes zum Chaos. [...] ›Der Gedanke einer Schöpfung des Chaos ist in sich widerspruchsvoll und wunderlich; das Chaos ist die Welt vor der Schöpfung‹«, resümiert Barth mit Verweis auf den zu seiner Zeit bedeutenden Genesiskommentar von Hermann Gunkel (KD III/1, 110).8 Barths Schöpfungslehre operiert sprachlich nicht nur in räumlichen Kategorien. Gerade mit Blick auf die Überwindung des Chaos greift Barth immer wieder 7
8
Sowohl im deutschsprachigen wie auch im anglophonen Raum zeigt sich wieder vermehrt eine Beschäftigung mit Barths exegetischen Grenzgängen. V.a. Barths Hinwendung zu einer biblisch argumentierenden Schöpfungstheologie hat gerade mit Blick auf die anfangs geschilderte Problemstellung der geschichtlichen Verwandtschaft von Schöpfungstheologie und natürlicher Theologie systematische Gründe; vgl. die Studie von Bergner, Um der Sache willen, im Bezug auf die Auslegung des ersten Schöpfungsberichts vgl. 173–217; außerdem Hunsinger, Thy Word Is Truth. Vgl. Gunkel, Genesis.
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auch die dieses Geschehen zeitlich staffelnde und qualifizierende Metaphorik auf: Gottes Wille ereignet sich in der Überwindung des Vergehenden: Karl Barth bringt diese Auseinandersetzung als das Wort des Schöpfers zur Geltung, welches in seiner trennenden, begrenzenden, sichernden und benennenden Wirkung dem Chaos eine Ordnung entgegensetzt, die als äußerer Grund dem Bund Gottes mit den Menschen eine Ermöglichungsgrundlage darstellt und ihm damit – man denke an den Abschluss des Siebentagewerks – zum Segen wird. Die dramatischen Implikationen von Barths Schöpfungsbegriff betont daher auch Christian Link explizit: Was als Schöpfung Gottes angesprochen zu werden verdient, ist [...] eine Art »Gegenwirklichkeit«, das an den Anfang der Welt zurückverlagerte und bereits dort aufgerichtete Protestzeichen gegen den uns bekannten Lauf der Welt [...] und eben deshalb – nun positiv gewendet – die Kampfstätte um die Bewahrung und Bewährung der neuen, in Christus sichtbar gewordenen Wirklichkeit.9
2.1.3 Schöpfung als bipolare Unterscheidung Mit Blick auf das thematische Interesse dieser Arbeit soll in diesem Kapitel nicht die Schöpfungstheologie Barths im Ganzen, sondern es sollen vor allem die Passagen behandelt werden, die Gottes schöpferisches Handeln als ein die Chaosmacht des Nichts kontrastierendes Hervorbringen von bipolar kodierten, ordnenden und begrenzenden bzw. begrenzten Entitäten thematisieren. Von besonderem Interesse sind dabei die parallelen Schilderungen von erstem und viertem Tag (Licht und Himmelskörper), zweitem und fünftem Tag (Firmament und Vögel/Wassertiere) und drittem und sechstem Tag (Land und Landtiere/Mensch). Mit dieser Schöpfungstechnik der Unterscheidung ist zugleich die grundlegende Modellstruktur beschrieben, auf die sich eine Modellierung der Erlösung als Neuschöpfung zu beziehen hat. Erster Tag Barth hebt in seiner Auslegung von Gen 1,3–5 die primäre Schöpfungsintention dieses ersten Tages hervor: »Das erste Geschöpf Gottes und also das erste Werk seines Wortes war das Licht in seiner Scheidung von der Finsternis. Nur in ihrer Geschiedenheit vom Licht wird auch die Finsternis geschaffen, ist auch sie Gottes Geschöpf« (KD III/1, 130). Der in Gen 1,2 der guten Schöpfung vorangehenden Wüste, Leere und Finsternis wird zu Beginn das Strahlen des Lichts entgegengesetzt. Mit dieser Frontstellung und der sich daraus ergebenden Tag-Nacht-Abfolge wird dem eröffneten Zeitraum ein Raster gegeben, das mehr 9
Link, »Theologische Aussage und geschichtlicher Ort der Schöpfungslehre Barths«, 189.
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als nur in einer neutralen Abfolge verschiedener Phasen steht. Vielmehr kommt zugleich eine bestimmte Qualität dieser beiden Fronten zum Ausdruck und darin eine von Gott zugesicherte Bändigung der Chaosmacht der Finsternis. »Und keiner der Tage in der Reihe, in der der erste dieser Tag ist, an dem das Licht geschaffen wurde, wird ein Tag ungöttlichen und widergöttlichen Inhalts, wird ein Tag des Abfalls und des Unheils werden dürfen oder müssen« (KD III/1, 130f.). Das Schöpfungswerk des ersten Tages, wie auch das der folgenden zwei Tage, ist gekennzeichnet durch ein Nebeneinander verschiedener Prozesse und Schematisierungen, die den Übergang des in Gen 1,2 geschilderten Chaos zu der allmählich voranschreitenden und immer wieder aufs Neue für gut befundenen Schöpfung bilden: Das Hervorbringen eines Positivums, welches durch Gottes schaffendes Wort von seinem Negativum getrennt und zugleich diesem wirkungsvoll entgegentritt. Gottes Schöpfungstechnik ist also ein kreatives Unterscheiden, das im Akt der Differenzierung beide Seiten erst hervorbringt. Mit Blick auf diese Frontstellung kommt dabei eine Paradoxie des Negativums zum Ausdruck, die weder sprachlich, noch theologisch aufzulösen ist: Einerseits stellt das Licht die Überwindung der Finsternis dar. »Es bleibt schon dabei, daß Gott das Licht und nur das Licht sah, wie gut es war und daß er das Licht und nur das Licht Tag nannte« (KD III/1, 142). Von dieser Warte aus erscheint der Schöpfungsprozess als eine stringente und konsequente Überwindung der Finsternis durch das Licht. Dieses bändigt die zuvor unüberwindliche, dem Nichts gleiche Chaosmacht der Dunkelheit, angesichts derer es keine Lebensgrundlage gibt. Andererseits beschreibt die Schöpfungstechnik der ersten drei Tage nicht einfach nur ein Überdecken und Ablösen eines Elements zugunsten eines anderen. Stattdessen übernimmt das Leuchten des geschaffenen Lichts selbst die Funktion seiner Unterscheidung von der Dunkelheit: Durch die Scheidung des Lichts von der Finsternis und seiner begrenzenden Funktion, die es durch seine anschließende Benennung als »Tag« innehat, wird ihm gegenüberliegend der Finsternis und ihrem zeitlichen Pendant, der Nacht, – so die Interpretation Barths – ein begrenzter Existenzbereich eingeräumt. »So hat Gott das Verhältnis von Kosmos und Chaos, von Licht und Finsternis geordnet, indem er der Finsternis ihren Namen gegeben hat. So hat er auch die Finsternis eingeordnet in sein Herrschaftsgebiet, so sie dem Lichte zugeordnet« (KD III/1, 142). Das Schöpfungswerk des ersten Tages bedeutet damit nicht ein Annihilieren der Finsternis. Es bedeutet aber die grundsätzliche Beschränkung ihrer chaotischen Übermacht. Auf dem Fuße folgt zugleich ihre Einordnung in die gute Schöpfung und ihre Abhängigkeit von dem sie begrenzenden Licht. Der Finsternis wird damit ein begrenzter Raum, ein begrenzter Zeitabschnitt, eingeräumt. Diese Doppelperspektive, die zum einen ein Überwindungsgeschehen in Bezug auf die Totalität des Chaos durch das begrenzende Wirken Gottes beschreibt,
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lässt sich, wie noch zu zeigen sein wird, für eine theologische Wahrnehmung der Frage nach der Existenz des Bösen und der Erlösung von dem Bösen fruchtbar machen. In ihrer Verbindung drücken sie die Spannung zwischen einerseits dem Anheben des Heils und der bereits in ihrem Entstehen dem Leben eignenden Schöpfung sowie andererseits der in dieser Schöpfung immer noch existenten und einen nicht geringen Anteil derer bestimmenden Macht des Bösen.10 Gottes Schöpfung ist zugleich eine gute Schöpfung wie auch eine bedrohte und erlösungsbedürftige Schöpfung. Barth selbst lässt diese Doppelperspektive jedoch nicht in der Schwebe der Ambivalenz, sondern stellt die Schöpfung in eine klare Disposition: Von der Schöpfung her nimmt die ganze Kreatur und vom ersten Tag der Schöpfungswoche her nimmt alle Zeit teil an der ein für allemal geschehenen Scheidung des Lichtes von der Finsternis, an der ein für allemal beginnenden, nicht mehr rückgängig zu machenden, sondern nur noch fortzusetzenden Widerlegung der Finsternis durch das Licht (KD III/1, 131).
Mithilfe einer Überlagerung der sagenhaften, theologischen und existentiellen Ebene schließt Barth auf die conditio creationis, in der die Dunkelheit einen eigenen Bereich zugeordnet bekommt, der in letzter Konsequenz nicht von der guten Schöpfung Gottes ausgeschlossen bleibt: Daß Gott einen Bund auch mit der Nacht geschlossen hat, das besagt, daß auch sie unter seinem Regiment ist, daß er dafür sorgt, daß sie, indem sie den Tag begrenzt, ihrerseits ihre Grenze hat, daß nach jeder Nacht mit dem darauf folgenden Morgen ein neuer Tag anbricht, daß uns unsere Zeit in Gestalt eines neuen Lichttages wiedergeschenkt – aber eben: nach einer ernstlichen Gefährdung und Bedrohung wiedergeschenkt werden wird (KD III/1, 142).
Die Zurückdrängung der Dunkelheit ist demnach nur eine partielle, wenngleich wirkungsvolle Maßnahme, die der anhebenden Schöpfung garantieren soll, »[d]aß er dem Chaos mehr als den Charakter einer Bedrohung am Rande des Kosmos nicht zubilligt« (KD III/1, 141). Das gut geschaffene Licht ist das von Gott für gut befundene Licht. Trotz Barths Zurückhaltung einer zu vorschnellen Identifikation seines Zwecks mit der Intention seines Schöpfers attestiert er dem Licht nicht nur eine rein relative Bedeutung innerhalb der Schöpfung, sondern macht es gar zum »Prinzip der geschöpflichen Natur«, als welches es zur Verheißung und zum »Vorbild der 10
Dies ist der systematische Ort der Frage nach der Existenz des Bösen in der Welt, die offen bleiben muss. Die Theodizee ist damit nicht bearbeitet, sondern vielmehr eröffnet. Zur eschatologischen Bearbeitung der Theodizee und deren Bedeutung für Geschöpf und Schöpfer vgl. Kap. 2.4.
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Offenbarung der Gnade« (KD III/1, 132) wird. Die damit angedeutete Verknüpfung von Licht und eschatologischer Wirklichkeit wird von Barth so zugespitzt, dass das Licht bereits als Hinweis auf die eschatologisch vollendete »Erkenntnis des Herrn« dient.11 Das Licht antizipiert daher in seiner die Finsternis opponierenden, beschränkenden und somit grundsätzlich ordnenden Funktion an der vollendenden Offenbarung Gottes. Gerade im Hinblick auf diesen geschaffenen Hinweis (die Nähe zur Figur einer analogia entis ist unbestreitbar) ist die spannungsvolle und nicht eindeutig aufzulösende Verbindung von Licht und Lichtkörpern in der Schilderung der ersten Schöpfungsgeschichte bemerkenswert: Das Licht – bedenkt man seine im ganzen Kanon immer wieder aufleuchtende eschatologische Qualität12 – dient als ein theologisches Symbol, das im Wesentlichen an seine Lichtquelle gebunden ist. Für die Medialität des göttlichen Schaffens, Trennens, Ordnens, Begrenzens und Benennens ist diese prinzipielle Bedeutung des Lichts in und über die Schöpfung formgebend: Nicht gänzlich unabhängig von ihr, aber auch nicht an das Schicksal der Himmelskörper gekoppelt, stellt das Leuchten des Lichts gegenüber der von Gott in ihre Schranken gesetzten Finsternis einen Vorschein der Herrlichkeit Gottes dar. Theologisch bedeutsam ist dieser Gedanke, da hiermit ein prinzipiell hervorgehobenes Element identifiziert wird, das zugleich schöpfungstheologische – das Licht bleibt ja geschaffenes Licht – wie auch eschatologische Bedeutung hat: [W]as auch zwischen Licht und Finsternis sich weiter ereignen mag, Licht wird nie Finsternis, Finsternis wird nie Licht sein – und um die Aufrichtung einer unaufhebbaren Hierarchie: Licht wird, wie klein und schwach es immer sein möge, immer die die Finsternis vertreibende Macht – Finsternis, wie groß und mächtig sie sei, wird immer die dem Lichte weichende Ohnmacht sein. Das Licht ist (KD III/1, 137).
Damit wird deutlich, dass diese Schöpfung nicht von vornherein auf ein erst nachträglich zu erbringendes Erlösungswerk zu hoffen hat. Der priesterschriftliche Schöpfungsglaube und das Scheinen des Lichts über die Finsternis am ersten Tag widersprechen somit theologischen Modellen, welche die Schöpfung nur als eine (unvollkommene) Vorbedingung des eigentlichen Heils gelten lassen wollen. Die an diesem ersten Tag geschilderte Überlagerung verschiedener Teilprozesse (Hervorbringen des Lichts, Scheiden von Licht und Finsternis, Sicherung der 11
12
Barth hat diesen Gedanken im Rahmen des prophetischen Amtes weiter ausgearbeitet, welches entlang der Leitdifferenz von Licht und Finsternis strukturiert wird. Während darin schöpfungstheologische Überlegungen eine nur untergeordnete Rolle spielen, hat Günter Thomas auf die Überwindung der Nacht als eschatologische Transformation schöpfungstheologischer Differenzen im Handeln Gottes hingewiesen: Vgl. Thomas, »Hoffen auf einen ›Neuen Himmel‹: Erwägungen zu einer Welt ohne die Macht der Nacht«, besonders. 391–395. Vgl. Wilke, Art. Licht/Dunkelheit (AT).
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Begrenzung der Finsternis durch das Licht und die Benennung von Tag und Nacht) zeigt im direkten Vergleich mit dem im vorigen Kapitel beschriebenen Allmachts-Modell ein viel höheres Maß an Differenziertheit in der Beschreibung der Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen, das hier in Gestalt der Finsternis auf den Plan tritt. Zweiter Tag So wie am ersten Schöpfungstag identifiziert Barth auch am zweiten Tag Gottes schöpferisches Handeln als ein Begrenzen, Scheiden und Sichern (vgl. KD III/1, 136. 150). Dabei bestätigt der zweite Tag die Asymmetrie der Unterscheidung von Licht und Finsternis: Denn Gott schafft am Tag und nicht in der Nacht. Die entscheidende Neuakzentuierung verbirgt sich an diesem Tag jedoch nicht in diesen Unterscheidungsprozessen als solchen, sondern vielmehr darin, worauf sich diese beziehen: Der zweite Tag beschreibt die räumliche Begrenzung der Wasser in einen oberen und einen unteren Bereich. Gottes schöpferisches Wort bringt hervor eine »Feste zwischen den Wassern, die da scheide zwischen den Wassern« (Gen 1,6). Anders als am ersten Schöpfungstag opponiert Gott die Chaosmacht des Wassers nicht durch ein Positivum, sondern schafft eine Ordnung, die zunächst lediglich eine Teilung des zuvor bestehenden bedeutet. Die Pointe dieses Differenzierungsaktes zielt damit auf die Figuration einer neuen Situation, die sich einer prinzipiellen Polarisation (Licht/Finsternis) entzieht und stattdessen auf eine innere Ausdifferenzierung derselben Größe abzielt: Das Ergebnis des zweiten Schöpfungstages ist die Unterscheidung des oberen Wassers und des unteren Wassers sowie der dazwischentretenden Feste. Das Firmament und die Teilung der Wasser beschreibt die Brechung von deren ungebändigter Vernichtungskraft: »Er bildet den undurchdringlichen Wall zwischen Wassern und Wassern. Er bricht deren Unendlichkeit« (KD III/1, 149). Damit wird deutlich, dass die in Barths Auslegung des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts dominante Größe des Bösen als Chaos nicht nur in der Repräsentation durch bestimmte Elemente besteht, sondern dass sie durch die schlechthinnige Entgrenzung und Unkontrollierbarkeit eines Elements, das in anderem Zusammenhang als unabdingbare Lebensgrundlage dient, verkörpert werden. Die gute Schöpfung zeichnet sich nicht nur durch ein Zurückdrängen des Bösen aus, sondern auch durch lebensförderliche Begrenzungen. Damit ist nicht eine metaphysische Größe (das malum) als solche gebrochen, sondern vielmehr das Phänomen des Chaotischen als das Ungeordnete, Unberechenbare und Undifferenzierte, das ohne Bändigung zur Alles unterdrückenden Macht des Totalitären wird. Dieser Totalität wird mit einfachster Art der Differenzierung begegnet, womit zugleich eine grundlegende Form von Komplexität geschaffen wird: Die Unterscheidung von oberen und unteren Wassern, welche dann im Wei-
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teren zur höchst bedeutsamen Unterscheidung zwischen einem dem Menschen zugänglichen (Erde) und dem für ihn unzugänglichen Bereich (Himmel) wird. Der an diesem Tag beschriebene Prozess hat nicht nur eine innere Logik der Unterscheidung von oberen und unteren Wassern, sondern zugleich eine äußere Logik, derzufolge sich Gottes Schöpfung gerade durch diese grundlegende Ordnungsstiftung vom lebensfeindlichen Tohuwabohu unterscheidet: Mit ihrer Erschaffung hat Gott real Nein gesagt zu einer Welt, in der der Mensch zum vornherein verloren sein müßte und real Ja gesagt zu einer Welt, in der der Mensch sich geborgen wissen darf, weil er da tatsächlich geborgen ist (KD III/1, 149f.).
Damit wird die Unterscheidung von Schöpfung und Nicht-Schöpfung selbst als Re-Entry innerhalb der Schöpfung vollzogen.13 Folgt man der Logik der priesterschriftlichen Erzählung in Barths Darstellung, so ist geschöpfliches Sein nicht nur da, sondern von Anfang an in differenzierter und distinkter Weise als ein geordnetes Sein wirklich und gut.14 Diese schöpfungstheologische Erkenntnis führt nicht nur zu einer bestimmten theologischen Ontologie, sondern hat als Schöpfungsglaube eine existenziell bedeutsame Seite: Das beschriebene Schaffen von Ordnung und die damit verbundene Überwindung buchstäblicher Uferlosigkeit beschreibt eine Dynamik Gottes gegenüber den Gefahren dieser Welt. Die Feste zwischen den Wassern ist nicht nur eine Entmythologisierung der Welt, sondern zugleich auch eine Entmythologisierung der realen Gefährdungen dieser Welt: Die biblische Referenz auf das obere Meer meint mit dem ganzen Altertum ganz real ein richtiges Meer, aber eben mit diesem richtigen himmlischen Meer jene im strengsten Sinne so zu nennende »höhere Gewalt«, unter der die metaphysische Gefahr zu verstehen ist, in der sich die Geschichte des Menschen abspielt. Aber genau genommen ist es ja nun doch nicht einmal diese metaphysische Gefahr als solche, an der die Sage interessiert ist und auf die sie hinweisen will, sondern vielmehr ihre durch Gottes Schöpferwort vollzogene Abwehr und also die Tatsache, daß der Mensch und sein, der untere Kosmos vor jener Gefahr beschützt und behütet ist (KD III/1, 155).
Mit dem zweiten Tag ist wie auch mit dem ersten Tag eine zweifache Dynamik beschrieben: Zum einen stellt die Teilung der Wasser eine grundsätzliche Überwindung des uferlosen Chaos dar, welches keinen Raum für Lebensmöglichkeiten bietet. Zum anderen wird den Fluten ein eigener Bereich eingeräumt, 13 14
Vgl. Thomas, Neue Schöpfung, 108–111. Diesen in der Schöpfungstheologie häufig unterschlagenen Aspekt betont auch Welker, Schöpfung Und Wirklichkeit, 64–68.
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worin sie innerhalb der guten Schöpfung diese zwar nicht wieder ins Chaos stürzen, sehr wohl aber eine Gefährdung von deren Rändern her darstellen können. Analog zur Licht-Finsternis-Konfrontation konkretisiert sich der erstgenannte Prozess in der Technik des zweiten. Die an diesem Schöpfungstag ausgedrückte Differenzierung und Zurückdrängung der Chaosflut beschreibt durch ihre »sagenhaft-divinatorische« Sprache nicht nur religionsgeschichtlich, sondern auch theologisch de facto eine Versachlichung in der Wahrnehmung der bleibenden Gefährdung, wenn nicht gar Selbstgefährdung der Schöpfung. Deren metaphysische Bedeutung wird zwar nicht aufgehoben, aber – so folgert Barth aus der Begrenzungs- und Einordnungshandlung – radikal depotenziert: Jede Bedrohung ist von dieser Sicherung durch Gott, »den Schöpfer des Himmels und der Erde«, nur eine »mittlere« Bedrohung: Sie [die Begrenzung der Chaosmacht des Meeres] bezeugt, daß es [das Geschöpf] von da droben, von der ihm unsichtbaren überlegenen Seite der Weltwirklichkeit her, jedenfalls kein schrankenloses, kein vernichtendes Unheil zu erwarten hat. Sie bezeugt, daß das Geschöpf, wie schwach, ja ohnmächtig es auch sein, wie groß die ihm auferlegte Last, wie unheimlich die über ihm hängende Drohung immer sein möge, jedenfalls atmen darf, daß es kein Letztes und darum doch auch kein Erstes gibt, das ihm das Vertrauen zu seinem Dasein vor Gott und mit Gott mit Recht rauben dürfte, sondern daß alle Drohung immer nur ein Mittleres sein kann, das aber als solches begrenzt und zurückgehalten, das auch nur Gottes Geschöpf ist, das als solches in seiner Weise auch den Herrn loben und denen, die ihn lieben, zum Besten dienen muß (KD III/1, 150)
Darin besteht die eigentliche Zumutung dieses eschatologischen Modells: Eine Erlösungstheologie, welche an dass es der Gefährdung geschöpflichen Lebens einen von Gott zugesprochenen Ort gibt; dies mit der zugleich ergehenden Verheißung, dass damit das eigentlich Schlimmste gebannt sei. Es mag der Vorwurf laut werden, dass dies als typisches Kennzeichen einer am Schreibtisch entworfenen Theologie gelten darf, die zu einer doppelten Traumatisierung tatsächlicher Opfer von Gewalt, Terror und Zerstörung ihren Beitrag leistet. Und in der Tat ist damit gesagt, dass das radikal Böse, das diese Welt ins unwiderrufliche Chaos stürzen würde, als solches keine Existenz hat.15 Wenngleich diesem Bösen theolo15
Eine biographische Notiz Barths ist in diesem Zusammenhang erhellend. Wie Eberhard Busch überliefert, hatte Barth in der unmittelbaren Nachkriegszeit regelmäßig auf die mit Pathos geladene Aussage, man habe in der NS-Zeit »den Dämonen ins Auge geblickt« zu reagieren gehabt: »Solche Sätze wurden fast mit Enthusiasmus ausgesprochen... Ich hörte das eine Zeit an. Schließlich konnte ich nicht mehr schweigen. ›Seid ihr damit nicht im Begriff, in ein magisches Weltbild hineinzurutschen?‹ frage ich meine Freunde. ›Warum redet ihr immer nur von Dämonen? Warum sagt ihr nicht konkret: wir sind politische Narren gewesen? Erlaubt bitte eurem schweizerischen Kollegen, euch zu einem rationaleren Denken zu ermahnen‹« (Busch, Karl Barths Lebenslauf , 341).
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gisch damit seine Radikalität genommen ist, so wird es in seinen depotenzierten Formen als vom Licht des Tages begrenzte Nacht und als von Firmament und Land begrenztes Wasser innerhalb der Schöpfung geduldet oder gar einkalkuliert. Die Frage nach der Wirklichkeit des Bösen führt daher nicht nur zur soteriologischen (»Warum lässt Gott das zu? Warum verhindert Gott das Böse nicht?«), sondern gar zur schöpfungstheologischen Theodizee: Warum nennt Gott eine Schöpfung »gut«, in der solche Gewalten ein bewusst einkalkuliertes Risiko darstellen? Der zweite Tag birgt jedoch nicht nur eine Begrenzungsdynamik nach oben, sondern in seiner differenzierenden Art auch nach unten: Dem Narrativ der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung folgend wird die Trennung der oberen und unteren Wasser zu einer so fundamentalen Unterscheidung, dass in ihr die Unterscheidung und Trennung von Himmel und Erde ihren Grund hat. Denn nicht nur der sagenhaft als Raum der oberen Fluten umschriebene Raum des Himmels, sondern ebenso dem irdischen Raum wird in gleicher Weise durch das Firmament eine Grenze gesetzt. Dieses Gegenüber erhält durch die dazwischentretende Dynamik eine eigene erlösungstheologische Bedeutung: So bildet der Himmel in mannigfachster Hinsicht so etwas wie den göttlichen Horizont des ganzen Lebens im irdischen Kosmos. Daß er als solcher nicht schlechthin starr ist, sondern auch abgesehen von jenen Luken und Fenstern eine Pforte hat, deren Öffnung dann nicht Unheil, sondern Heil bedeutet, ja daß er sich geradezu im Sinn einer Offenbarung Gottes auftun kann, das ist im Alten Testament verhältnismäßig vereinzelte, dem Neuen Testament aber eine sehr geläufige Anschauung (KD III/1, 157).
Die in diesem zweiten Tag angezeigte Trennung von oberen und unteren Wassern steht, wenngleich sie zweifelsohne Gutes bewirkt und ohne sie das Leben im biblischen Sinne nicht möglich wäre, nicht unter einem gewissen Vorbehalt: Sie stellt keine unhintergehbare Ordnung dar, die im Sinne einer Schöpfungsordnung zum Grundprinzip des guten Lebens stilisiert wird. Wie Barth betont, wird vielmehr gerade auch in der Öffnung, durch partielle Überwindungen dieser Trennung und mithilfe bestimmter Aufhebungen der Begrenzung eine Transformation dieser Schöpfung eingeleitet. Gottes Heilshandeln, so erläutert Barth anhand der atl. Propheten und entsprechend ntl. mit den synoptischen Tauferzählungen, ist nicht nur eine Remodellierung bestehender Begrenzungsschemata, sondern realisiert sich ebenso in der Intervention, die diese Begrenzungen hinter sich lässt. Diese neuerliche Öffnung bedeutet jedoch nicht ein Zurückfallen ins Chaos. Vielmehr ist die durch den gesamten biblischen Kanon hindurch immer wieder aufs Neue betonte und ausgehandelte Grenze zwischen Himmel und Erde im Allgemeinen festgesetzt, wenngleich sich im Speziellen immer wieder gerade im partiellen »Öffnen des Himmels« Heil ereignet (vgl. KD III/1, 157).
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Barth für diesen Tag vor allem die heilsame Vorläufigkeit schöpferischer Differenziertheit und Begrenzung hervorhebt: Eine Eigenschaft der guten Schöpfung Gottes ist die Leben ermöglichende Brechung der chaotischen Unendlichkeit. Diese Brechung, die im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht sagenhaft in der Begrenzung der oberen und unteren Wasser ihren Ausdruck findet, ist zugleich selbst nicht absolut, sondern ebenso selbst von Vorläufigkeit und damit in der Lage, eine wesentlich differenziertere Bewegung gegenüber dem Bösen zu erschließen: Diese Leistungskraft zeigt sich bspw. im Vergleich zu dem ersten identifizierten erlösungstheologischen Modell im vorigen Kapitel, wonach Gott in seiner Allmacht dem Bösen in gänzlich entgrenzter Souveränität gegenübertritt. Die priesterschriftliche Schöpfungserzählung macht demgegenüber für eine vorsichtigere und komplexere Wahrnehmung des Lebensabträglichen wie auch der entsprechenden lebensermöglichenden Gegenmaßnahmen sensibel. Dritter Tag Der dritte Schöpfungstag nimmt nach Barths Interpretation den Aspekt der Zurückdrängung der Chaosfluten auf und modifiziert diesen um einen weiteren Antagonismus. Dabei ähnelt die Dynamik des dritten Tages der des ersten: Analog zur Erschaffung des Lichts und dessen Oppositionsstellung zur Finsternis schildert der dritte Tag die Grenzziehung und Sicherung des Lebensraums der Menschen auf dem Land im Gegenüber zur lebensfeindlichen Umgebung des Meers. »Indem sie also Land und Meer sind in ihrer Sonderung, sind beide Gottes Geschöpf« (KD III/1, 159). Wie der Finsternis das Licht gegenübertritt, so hebt Barth auch in der Schilderung des dritten Schöpfungstages die räumliche und zeitliche Dimension von Gottes Auseinandersetzung mit Chaosmächten hervor: Es hat aber das Land das Meer [...] neben sich als geschöpfliches Zeichen [...] der vorhandenen, aber auch abgewehrten Drohung der Wirklichkeit, die durch Gottes Zorn herrschen könnte und nun, durch Gottes Güte eben nicht herrschen, sondern nur eben drohen darf und in ihrer Weise wiederum den Herrn loben und denen, die ihn lieben, zum Besten dienen muß (KD III/1, 159).
Noch mehr als zuvor tritt dabei die bleibende Spannung zwischen erfahrener Bewahrung und beständiger Bedrohung der Schöpfung zutage. Das Meer wird durch das Land verdrängt, aber nicht »aus der Welt geschaffen«. Das Schöpfungswerk des dritten Tages stellt damit noch deutlicher vor Augen, dass Gottes gute Schöpfung noch keine Überwindung der Chaoselemente bedeutet, sondern in der sagenhaften Darstellung des priesterschriftlichen Berichts als eine lokale Zurückdrängung gezeichnet wird:
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung Um eine völlige Befreiung der Erde vom Meer handelt es sich also nicht, wie ja auch das geschaffene Licht von der Finsternis, der Tag von der Nacht, wie der untere Kosmos nicht von der ihm von oben drohenden Gefahr nicht völlig befreit wird. Das wird die Sache der neuen Schöpfung sein, die nicht Anfang, sondern den Ausgang der Geschichte der Erde bildet. Zunächst hat auch das Meer seine, die ihm von Gott zugedachte und zugewiesene Stelle und so bekommt die Erde, indem sie geschaffen wird, diese Begrenzung, so und insofern steht sie sofort mit ihrer Erschaffung unter dem Zeichen der Bedrohung, welche mit dieser Begrenzung stattfindet (KD III/1, 162).
Über das Motiv der Begrenzung und der damit eröffneten Möglichkeit von Lebensräumen überführt Barth diesen Gedanken aus der Sprachgestalt der Sage in den Kontext des Narratives biblischer Heilsgeschichte. Der geographischen Begrenzung Palästinas durch das Meer im Westen entspricht die politische Bedrohung vom Osten des Landes – die durch Assur und andere Fremdvölker bedrohte Integrität der territorialen Grenzen Israels und Judas. Indem das Zurückdrängen des Wassers als natürlicher Antagonist des bewohnbaren und fruchtbaren Landes noch vor der Erschaffung der Pflanzenwelt geschildert wird, zeigt sich in Gottes Auseinandersetzung mit der Chaosmacht des Meeres bereits die prinzipiell antizipierende Sicherung gegen die Widerstände des von Gott intendierten Lebens: Das Wasser nimmt teil an der ganzen Gewalt der Israel feindseligen und damit auch der Sache und der Ehre seines Gottes widerstrebenden und nun doch von diesem Gott regierten, gelenkten und gebrauchten Menschenwelt und Menschenmacht. Und die Bändigung des Wassers nimmt teil an Gottes siegreicher Überwindung dieses Widerstandes gegen seinen Beschluß und dessen Offenbarung (KD III/1, 166).
Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen wird – entgegen der prinzipiellen und zeitlosen Allmacht des ersten Modells – prozessual, agonal und partizipativ beschrieben. Obwohl gerade die Kategorisierung der Schöpfungserzählung als Sage – wie Barth selbst im Unterschied zum Mythos betont – ein geschichtliches, aber einmaliges Ereignis beschreibt, haben die schöpfungstheologischen Motive des kontrastierenden und differenzierenden Handelns Gottes nicht ausschließlich eine perfektische, vorzeitig zurückliegende Bedeutung. Stattdessen wird durch diese der grundsätzlich gute Wille Gottes für die Erschaffung und die Erhaltung des Lebens und ein Archetypus des göttlichen Handelns zum Ausdruck gebracht. Die ambivalent bleibende Konnotation des Irdischen weist umgekehrt selbst auf einen wesentlichen Aspekt christlicher Schöpfungslehre hin: Die Schöpfung und in ihr die Ermöglichung, das Werden und Entstehen von Leben haben selbst einen eschatologischen Gehalt: Bereits das Leben und dessen Bewahrung haben Anteil an Gottes erster und letzter Intention. Auch wenn die wechselseitige Rahmung von Schöpfung und Bund dies zunächst so nahelegt, haben die
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lebensermöglichenden Taten Gottes nicht nur eine vorbereitende Bedeutung für das Eigentliche der Bundesgeschichte: »Gottes Schaffen ist Verwirklichung und Rechtfertigung seines Geschöpfs« (KD III/1, 389). Der Schöpfung und im Speziellen dem Menschen ist eine beschränkte Zeit gegeben. »Sie kann als Zeit des verlorenen Menschen selbst nur verlorene Zeit sein« (KD III/1, 78). Mit der Möglichkeit, dass der Mensch seine Zeit verwirkt, ist zugleich auch die Möglichkeit gegeben, dass dieser Schöpfungsgeschichte, soll sie zum Heil geführt werden, von der Zeit des Gnadenbundes (»Gnadenzeit«, KD III/1, 79) kontrastiert wird. Damit werden von Barth zwei Zeitbegriffe miteinander verbunden, mit denen auf die Doppelperspektive von guter wie auch erlösungsbedürftiger Schöpfung hingewiesen ist. Nur innerhalb dieser Doppelperspektive von Kontinuität und Diskontinuität ist eine differenzierte Wahrnehmung der guten Schöpfung, angesichts derer Menschen dankbar ihren Schöpfer loben können, und zugleich ihrer Bedrohung und Gefährdung, angesichts derer sie zu ihrem Erlöser um die Rettung vor dem Bösen bitten, möglich. Denn auch die gute Schöpfung, derer sich das Leben verdankt, ist unter den Vorzeichen theologischer Erkenntnis etwas Vorläufiges. Die Schöpfungslogik der Begrenzung hat jedoch nicht nur den »Charakter des Streites« (KD III/1, 167),16 sondern auch eine sehr konstruktive Seite: Gerade der dritte Schöpfungstag macht die eigentliche Intention der Begrenzung der lebensfeindlichen Mächte deutlich; dass nämlich das Land als die fruchtbare Grundlage, worauf das werdende Leben angewiesen sein wird, das eigentliche Zwischenziel dieses Tages darstellt: Die kritische Auseinandersetzung des Schöpfers mit den die Schöpfung bedrohenden Chaosmächten und die agonale Begrenzung und Beschränkung der Uferlosigkeit von Finsternis, All und Wasser durch das Entgegensetzen von Licht, Firmament und Land ist somit nicht einfach nur eine Direktion und Disposition in eine bestimmte Richtung. Sie erwirkt durch die distinkte Begrenzung zugleich eine Eröffnung von Lebensbereichen, -möglichkeiten und -geschichten, die in den weiteren Tagewerken der Schöpfung aus diesen Ressourcen entstehen werden (»Die Erde bringe hervor...«). Alle Auseinandersetzungs- und Kampfesmetaphorik ist im eigentlichen Sinne nur Mittel zum Zweck: Und so ist das Werk des dritten Tages auf seinen positiven Sinn gesehen die Erde und nur die Erde. [...] Hier sagt Gott Ja, indem er dort Nein sagt; hier begründet, befestigt und baut er, indem er dort abschneidet (KD III/1, 167). 16
Was in diesem Modell vor allem als ein kosmologischer Kampf beschrieben wird, wird in Barths Versöhnungslehre auf einer anthropologischen Ebene entfaltet. Im Rahmen des königlichen Amtes Jesu Christi schildert Barth Jesu Heilungswunder als »Kampf« gegen die Mächte, die den Menschen quälen und chaosartig über sein Leben hereinbrechen (vgl. Kap. 4.4).
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Damit ist der äußere Grund für die Geschichte des Bundes Gottes mit den Menschen gegeben. Die Schöpfung als Chaosbegrenzung eröffnet so zugleich die geschichtliche Entfaltung der Geschöpfe – eine Entfaltung, die sich als eine Geschichte der Selbstgefährdung durch schöpfungsimmanente Risiken lesen lässt.
2.2 Zur systematischen und biblischen Fortsetzung dieser Modellstruktur Die im ersten Abschnitt dieser Rekonstruktion herausgearbeitete Modellstruktur des kreativen Unterscheidens und die darin begründete Motivik einer Chaosbegrenzung wird von Barth selbst innerhalb der Systematik der Kirchlichen Dogmatik fortgeführt. Zunächst ist darauf einzugehen, wie Barth selbst das Problem der Souveränität und Medialität von Gottes schöpferischem Handeln in den Blick nimmt (2.2.1). Ein Exkurs zur Weiterentwicklung der Schöpfungstheologie bei Michael Welker zeigt die die Defizite von Barths eigenem Modell in Bezug auf schöpfungsinterne Interdependenzen auf. Darüber hinaus soll in einem weiteren Schritt gezeigt werden, wie sich die beschriebene Modellstruktur in weiten Bereichen atl. Geschichtstheologie und in der Prophetenliteratur nachweisen. Die dezidiert biblische Verankerung dieses Modells ist also nicht nur in Bezug auf die Schöpfungstheologie der Gen gegeben, sondern kann auch im Gespräch mit atl. Rechts- und Geschichtstheologie aufgezeigt werden, die eine besondere Sensibilität für die Folgeprobleme dieses Modells beweist.
2.2.1 Souveränität, Medialität und Interdependenzen Die mit den ersten drei Tagen der Schöpfung beschriebene Technik des Handelns Gottes unterscheidet sich im Detail von den weiteren Tagen: Barth beschreibt bis hierher die grundlegenden Prozesse der Unterscheidung, der Beschränkung und Einordnung verschiedener Größen in die werdende und anschließend für gut befundene Schöpfung. Ab dem vierten Tag beginnt nun die Beschreibung der Ausstattung und des Entstehens des Lebens: »Es ist nicht mehr sein Bestand, es ist sein [...] Reichtum, der jetzt zur Darstellung kommt« (KD III/1, 174). Trotz einer nunmehr anderen Schöpfungstechnik, die eher der Tätigkeit eines Raumausstatters gleicht,17 setzt dieses Handeln die Logik der Chaosbegrenzung fort: Mit der Installation der Gestirne am Himmel wird die Scheidung von Licht und Finsternis von Stellvertretern wiederholt und geschöpflich repräsentiert: Die Unterscheidung von Tag und Nacht wird durch die kreatürliche Repräsentanz von Sonne, Mond und Sternen greifbar. Diese Kompetenzübertragung der Unterscheidung wird auch am nächsten Tag mit der Erschaffung von Fischen 17
Vgl. Bergner, Um der Sache willen, 190.
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und Vögeln fortgesetzt: Indem Gott diese erschafft und ihnen als Lebensort das Meer und den Himmel zuweist, erhalten auch diese eine spezifische Aufgabe: »Es handelt sich um das Meer und um den Luftraum und also um die dem Menschen von Natur ferneren und fremden Gebiete des unteren Kosmos[...], um die gefährlichen, weil dem Chaoselement nahen oder sogar ursprünglich verwandten Räume« (KD III/1, 188f.). Zugleich unterläuft Barth diese Übertragung begrenzender Kompetenz und verbirgt diese erneut hinter einer Souveränitätsfigur: So sehr ist er Herr und Meister des Ganzen und auch in jenen Grenzgebieten. So gründlich hat er vorgesorgt, daß auch diese mehr als drohenden Zeichen seines Zornes nicht sein dürfen, daß dem Chaos gewehrt, das Leben auch in seiner unmittelbaren Nähe möglich ist (KD III/1, 189).
In diese Argumentation werden auch die Chaosungetüme verschiedener atl. Traditionen (bspw. in Jes 27,1; 41,9, Hi 7,12 und Ps 74,13) eingeordnet. Es sind in Wahrheit wohl große und gefährliche, wohl wie das von ihnen bewohnte Meer selber von Gott aufgerichtete Zeichen der Grenzen seiner Schöpfung, deren Grenzen der Menschheit und des Willens Gottes selber, aber doch ihrerseits von Gott aufgerichtete Zeichen (KD III/1, 193).
Die Quintessenz ist die auf mehreren Ebenen vollzogene Eindämmung all dessen, was die Schöpfung im Ganzen zu vernichten droht. All diesen Figuren ist die Doppelperspektive aus souveränem Handeln Gottes, des Schöpfers, bei gleichzeitigem Bedrohungspotenzial der noch immer – wenn auch in ihren Grenzen – bestehenden Chaoselemente für die nunmehr bestehende Ordnung eingeschrieben. Barth dehnt den Gedanken der Souveränität Gottes zuweilen soweit aus, dass an Stellen wie der oben genannten die Unterscheidung zwischen dem, was die Güte der Schöpfung ausmacht und der ihr eigenen Selbstgefährdung zu verschwimmen droht. Diese Unschärfe lässt sich jedoch nicht in Richtung der Selbstgefährdung, sondern auch in Bezug auf die implizite Machttheorie der Gotteslehre beobachten. Für die Gotteslehre bleibt dabei bemerkenswert, dass Barth (analog zu dem im ersten Kapitel herausgearbeiteten Modell) in den recht engen Banden einer All-Souveränität Gottes verbleibt. Für die Grammatik seiner Theologie hat die Medialisierung der Unterscheidungen keine nennenswerten Folgen: Die folgerichtige Konsequenz, dass mit einer echten Medialisierung des Auseinandersetzungsgeschehens in den geschöpflichen Prozessen auch eine Preisgabe monistischer Souveränitätslogik einhergehen würde, nimmt Barth noch nicht in Kauf: [N]icht das Licht und die Finsternis, sondern Gott und die Finsternis, d.h. sein Schöpferwille und das durch ihn Verworfene bilden den echten
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung ursprünglichen Gegensatz, in welchen dann das geschaffene Licht erst eintritt und zwar dienend: dem göttlichen Schöpferwillen entsprechend und unterworfen eintritt (KD III/1, 133).18
Mit Blick auf die biblisch-theologischen Weiterentwicklungen des späten 20. Jahrhunderts muss man jedoch konstatieren, dass Barth das eigentliche Potenzial einer Schöpfungstheologie, die auf kooperative Interdependenzen abzielt, auch in Blick auf die Gotteslehre nicht ausschöpft. In seiner Studie zur Schöpfungstheologie weist bspw. Michael Welker auf den notwendigen Blick nicht nur auf das agierende, sondern auch das reagierende Handeln Gottes: »Der schaffende Gott läßt sich mit der Eigenständigkeit, Neuartigkeit, sogar mit der Vervollkommnungsbedürftigkeit des Geschaffenen konfrontieren.«19 Welker betont dabei gegenüber klassisch theistisch operierenden Schöpfungsmodellen, dass für ein angemessenes Verständnis für die geschöpfliche Wirklichkeit dualistische Denkformen (Gott/Welt; Immanenz/Transzendenz; Zeit/Ewigkeit, Schöpfer/Schöpfung) nicht ausreichen. Vielmehr sei es unabdingbar, die vorbehaltlose Inanspruchnahme geschöpflicher Eigendynamiken als konstitutiv für die Wirklichkeit dieser Schöpfung anzuerkennen: »Der hier wichtige Aspekt der Eigenaktivität, Eigenproduktivität des Geschöpflichen läßt sich deutlich machen, auch wenn man von den [...] Themen ›Herrschaftsauftrag‹ und ›Schöpfung und Sabbat‹ absieht.«20 Auch geschöpfliche Prozesse haben selbst Anteil an Gottes schöpferischem Handeln. Das von Welker vorgeschlagene Modell verschiebt das Interesse von einer Allsouveränität Gottes hin zu einer stärkeren Beachtung geschöpflicher Binnenverhältnisse, die der Entstehung biologischen und sozialen Lebens eignen. Dementsprechend definiert er den Terminus der Schöpfung als »Aufbau von Interdependenzzusammenhängen zwischen von uns Menschen beeinflußbaren und von uns nicht beeinflußbaren geschöpflichen Bereichen«.21 Was auf den ersten Blick nach einer lediglich quantitativ höher ausdifferenzierten Beschreibung desselben Topos klingt, hat weitreichende Folgen: Wenn nämlich die ordnenden Prozesse, die für die Zurückdrängung des zerstörerischen Chaos verantwortlich sind, von geschöpflichen Interdependenzen verkörpert werden, so wird (sieht man von naiven mechanistisch-teleologischen Kosmologien ab) die Sicherung dieser lebensförderlichen Ordnung fraglich und risikoreich.22 Der Schöpfung ist daher nicht nur ein Potenzial der Lebensentfaltung, sondern auch der Selbstgefährdung durch eben dieses Leben eingeschrieben. 18
19 20 21 22
Zitate wie dieses zeigen, dass sich auch in KD III/1 klare Spuren des Allmachts-Modell identifizieren lassen. Im eigentlichen Sinne brechen Überlegungen wie diese aus der Logik der medialisierten Unterscheidung im schöpferischen Handeln heraus. Welker, Schöpfung Und Wirklichkeit, 21. Welker, 22. Welker, 29. Niklas Luhmann hat daher darauf hingewiesen, dass in der Spätmoderne nicht mehr Risiko und Sicherheit, sondern vielmehr Gefahr und Risiko einander gegenüberstehen: Risiken erwachsen
Zur systematischen und biblischen Fortsetzung dieser Modellstruktur
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Sofern die Schöpfung sowohl Nährboden des Lebens als auch sich selbst zum eigenen Verhängnis werden kann, obliegt ihr auch eine Teilverantwortung von Selbsterhaltung und Bewahrung. Diese wiederum können jedoch mitunter selbst zum Gefährdungspotenzial werden. Personifizierend und damit mythologisch könnte man sagen: Die Schöpfung kann an sich selbst scheitern. Mit den Worten des jüdischen Philosophen Jon D. Levenson lässt sich daher sagen: »Creation itself offers no ground for the optimistic belief that the malign powers will not deprive the human community of its friendly and supportive environment.«23
2.2.2 Die atl. Sensibilität für die Folgeprobleme dieses Modells Damit ist über die Erlösungsbedürftigkeit dieser Schöpfung bereits vieles gesagt. Und das, obwohl von Barth die anthropologische Perspektive und die Frage nach dem malum morale in einer sich selbst gefährdenden Schöpfung noch gar nicht explizit gestellt ist. Tatsächlich lässt sich die Denkform der Chaosbegrenzung jedoch leicht als ein Motiv nachweisen, das insbesondere die atl. Erzählungen und das Aushandeln sozialer Strukturen prägt. Die folgenden Überlegungen sollen die Sensibilität biblischer Traditionen für die aus dieser Modellstruktur hervorgehenden Folgeprobleme nachzeichnen und dieses Modell auf Basis dieser Texte validieren. Bereits die ersten biblischen Schilderungen solcher Aushandlungen ereignen sich im Zusammenhang menschlicher Selbstgefährdung und bringen den menschlichen Drang zu chaotischer Gewalt zur Geltung, der der Intention von Gottes guter Schöpfung widerspricht.24 Dem Verstoß gegen das Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, folgt die Ausgrenzung der Menschen aus dem Paradies und die damit einhergehende Abwendung der Universalisierung des Chaos durch das Essen vom Baum des Lebens. Die auf diesem Weg aufgestellte Grenze wird in Gen 3,24 mit bewaffneten Cherubim als eine dramatische Konsequenz aus der menschlichen Urverfehlung schlechthin beschrieben. Bereits wenige Generationen später konstatiert Gen 5,5, dass »der Menschen Bosheit
23
24
stets aus dem Umgang und der versuchten Versicherung gegenüber Gefahrenpotenzialen. Vgl. Luhmann, »Das Risiko der Versicherung gegen Gefahren«; sowie Luhmann, Soziologie des Risikos. Zu einer Theologie des Risikos vgl. Christoffersen, Living with Risk and Danger. Levenson, Creation and the Persistence of Evil, 47f. Das Äquivalent zu einer langen Tradition der Theologie des Vertrauens (vgl. Kap. 1.5 dieser Arbeit) ist eine in den letzten Jahren verstärkt in den Blick genommene Theologie des Risikos, die sowohl genuin theologische wie auch interdisziplinäre Diskurse aufnimmt. Grundlegend: Gregersen, »Risk and Religion«. In Bezug auf Gottes selbst zu tragendes Risiko in seiner Providenz Sanders, The God Who Risks; in Bezug auf die Christologie Thomas, »Das Kreuz Jesu Christi als Risiko der Inkarnation«. Das Komplementaritätsverhältnis von Vertrauen und Risiko untersuchen die Beiträge im Band Springhart und Thomas, Risiko und Vertrauen – Risk and Trust. Im Folgenden wird der Begriff des Chaos ausgeweitet und als Gegenbegriff zu lebensförderlichen moralischen, sozialen, politischen und kultischen Ordnungen verstanden. Zur Problematisierung dieser Gegenüberstellung vgl. 2.3.
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groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar«, sodass die Schöpfung geradezu einen Neustart erfahren wird – auf Kosten einer nie dagewesenen Katastrophe, um derentwillen die fundamentale Grenze des dritten Schöpfungstages aufgehoben wird. Doch auch auf diese Eskalation des eigenen Zorns reagiert Gott in der Noaherzählung mit einer Beschränkung – dieses Mal mit einer Selbstbeschränkung der göttlichen Gewalt, die mit dem ersten Bundesschluss der biblischen Erzählung besiegelt wird (Gen 9,11). Bezeichnend ist, dass mit diesem Akt auch eine erste Speisevorschrift verbunden ist: Das Verbot des Blutgenusses als Beschränkung kulinarischer Willkür ist eine der ersten kulturellen Regelungen der biblischen Erzählungen.25 Die in den mosaischen Erzählstoff eingearbeiteten Rechtskorpora verbinden dann ebenfalls immer wieder kulturelle Speisevorschriften mit rechtlichen Regulierungen der israelitischen Gemeinschaft, die notwendig werden, um Gewalt und Willkür im Inneren des werdenden und sich in unterschiedlichen Lagen zu behauptenden Volkes zu begrenzen. Als einschneidendes Beispiel ist hier zweifelsohne das Prinzip des ius talionis (Ex 21f.; besonders 21,24f.) hervorzuheben, dem mit kasuistischem Detailreichtum gerade im Bundesbuch in hohem Maße zu entsprechen versucht wird und das trotz des beständigen Risikos von Gewalttaten und Konflikten ein Minimum an Gerechtigkeit zu garantieren vermag. Als äußerste Konsequenz erachtet Ex 22,17-19 sogar für Zauberei, Sodomie und Götzenverehrung den Tod für notwendig.26 Führt man sich vor Augen, dass diese drei chaosartige Bedrohungen der grundlegenden Ordnung von Natur, Fortpflanzung und Kultus darstellen, so wird die Drastik des Vorgehens zumindest vor dem Hintergrund des Motivs der Begrenzung dieser die Gemeinschaftsordnung fundamental angreifenden Vergehen verständlich. Die Hinrichtung dieser Täter soll den Extremfall einer Eindämmung sozial-chaotischer Entwicklungen darstellen. So martialisch diese Maßnahmen klingen, so fußt diese Drastik doch im Wissen um die Gefährdung gesellschaftstragender Strukturen. Ebenfalls zeigt das Bundesbuch, wie dann wenige Verse später in Ex 23,1f. ersichtlich wird, ein hohes Maß an Sensibilität für die Risiken einer chaotischen Ausbreitung durch soziale Eigendynamiken: Du sollst kein falsches Gerücht verbreiten; du sollst nicht einem Schuldigen Beistand leisten, indem du als Zeuge Gewalt deckst. Du sollst der Menge nicht auf dem Weg zum Bösen folgen und nicht so antworten vor Gericht, dass du der Menge nachgibst und vom Rechten abweichst (Ex 23,1f.). 25
26
Zur Bedeutung von kasuistischem und apodiktischem Recht für das bedrohte Gottesvolk vgl. Jeremias, Theologie des Alten Testaments, 56ff. Dass die Toragabe eine konsequente Fortführung der Schöpfungstheologie der Genesis darstellt, zeigt Schüle, »›Und siehe, es war sehr gut... und siehe, die Erde war verdorben‹ (Gen 1,31; 6,12): Der urgeschichtliche Diskurs über das Böse«. Vgl. Albertz, Exodus 1-18, 101ff. Rainer Albertz hebt diesbezüglich die Parallelisierung der Sanktion dieser Vergehen an der Gemeinschaft mit dem Vergehen an Individuen besonderer Schwere (Mord, Totschlag, Raub, Misshandlung der Eltern) hervor.
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Nicht nur soll eine Rechtsordnung über die menschlichen Neigungen zur Gewalt herrschen – vielmehr wird hier auch die Korrumpierbarkeit des Rechts und seiner Institutionen durch nur schwer im Einzelnen nachvollziehbare Einzelhandlungen als Gefahr erkannt: Auch für die auf Gerechtigkeit abzielenden Instanzen des Rechtssystems bedarf es einer Sicherung vor Chaotisierungen. Doch die atl. Traditionen heben nicht nur durch moralische, kultische und rechtliche Verstetigungen die Notwendigkeit einer Sicherung des gemeinschaftlichen Lebens nach innen hervor. Denn die Existenz wird ebenfalls beständig durch die Gefährdung von außen infrage gestellt: Die Bedrängung durch Fremdvölker ist in den Prophetenbüchern ein immer wieder zutage tretendes Motiv. Wenngleich die Semantik dieser Texte in den seltensten Fällen erlösungstheologisch geprägt ist, so zeigt ein prozessorientierter Zugang, der nach der Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen fragt, sehr deutlich, wie viel Gewicht die geschichtstheologischen Traditionen den vorläufigen Begrenzungen von je unterschiedlich erfahrenen Chaosmächten geben. Für eine biblisch orientierte Erlösungstheologie können daher sowohl grundlegende Vollzüge des schöpferischen Handelns wie auch unabdingbare Teilmomente des gelingenden zwischenmenschlichen Lebens in komplexen sozialen und politischen Verhältnissen so verstanden werden, sodass in ihnen in aller Vorläufigkeit Gottes Güte und das von ihm verheißene Heil zum Ausdruck gebracht wird. Erlösung bezeichnet somit nicht nur das Ende (ob teleologisch oder final) der Geschichte, sondern weist gleichsam auf integrale Momente der Schöpfung und ihrer Schöpfungsgeschichten. Schöpfung und Erlösung sind daher mithilfe dieses Modells nicht diametral zueinander gestellte theologische Topoi, sondern partizipieren aneinander. Beide Loci lassen sich entlang der Logik dieses Modells als Auseinandersetzung Gottes mit dem Chaos beschreiben. Während die Schöpfung Prozess der Begrenzung des Chaos beschreibt, ist weiter unten auf eine Eschatologie der Chaosüberwindung einzugehen, die an das beschriebene Problem einer selbstgefährdenden Schöpfung anzuschließen hat. Eine ausschließliche Betonung noch ausstehender Erlösung ist dem hier beschriebenen Modell jedoch ebenso fremd wie die generelle Behauptung einer Apräsenz des Schöpfers in seinem Werk angesichts der Persistenz ihrer bleibenden Gefährdung. Wenngleich auch dieses Modell mit der Erfahrung des rettenden, bewahrenden und von dem Bösen erlösenden Handelns Gottes rechnet, so liegt es fern vom grundlegend versichernden und auf Sicherung abzielenden Optimismus des im ersten Kapitel dieser Arbeit beschriebenen Modells: Gott ist nicht gleichermaßen alles in allem wirkend. Stattdessen betont es die Existenz und Gefahrenlage von und durch Dynamiken, Kräfte und Entwicklungen, die den guten Schöpfungsintentionen Gottes entschieden zuwiderlaufen. Eindrücklich bleibt die Offenheit zu Rekonfigurationen dieser Vorstellungen, wie sie auch atl. Texttraditionen der exilischen Zeit reflektieren. Denn die meta-
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physische, moralische und geographische Grenzziehung kommt spätestens mit der Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels an ihre eigene Grenze: Gerade die Erfahrungen des Zusammenbruchs der bis dato bekannten chaosbegrenzenden Mittel, welche die staatliche Existenz Judas zu garantieren vermochten, zeigt nach 587/6 v. Chr. keine Stagnation, sondern ein Ansteigen theologischer Produktivität: Fortschreibungsprozesse des Jeremia-Buchs und Heilshoffnungen im Deutero- und Tritojesaja zeigen nicht nur eine religionsgeschichtlich plausible, sondern auch theologisch folgerichtige Weiterentwicklung: Die Hoffnung auf die Erlösung von der Gefahr des Bösen erschöpft sich nicht nur in der wirkungsvollen Beschränkung des Bösen durch eine gesteigerte Ordnung, sondern bezieht sich darüber hinaus auch auf eine Überwindung der schöpfungsimmanenten Risiken, denen mit einer Eindämmung nicht beizukommen ist:27 Das eschatologische Symbol des Neuen Bundes (Jer 31) und der Neuschöpfung (Jes 65) kann als eine konsequente Weiterentwicklung des hier skizzierten Modells verstanden werden.28 Mit ihm reagiert die (nach-)exilische Theologie auf die Erfahrung, dass die einst als sichernde Begrenzungen erfahrenen staatlichen Bande Judas mitsamt der im Allerheiligsten des Tempels verehrten Präsenz JHWHs von der Chaosmacht Babylons überrollt werden.29 Denn die Vorläufigkeit, welche Gottes Zurückdrängung der Gefährdungen für sein Volk durch die Behauptung territorialer Integrität kennzeichnete, beschert Israel und Juda nicht nur den Segen des salomonischen Königtums, sondern ebenso das kriegerische Risiko, welches in der staatlichen Katastrophe der Exilierung der Jerusalemer Oberschicht und der Zerstörung des ersten Tempels mündet. Das Scheitern der 27
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Damit ist auf die in diesem Modell stets präsente Ideologisierung von Ordnung noch gar nicht eingegangen. Eine Problematisierung der differenzierteren aber gleichwohl gesteigerten Ordnung soll daher im folgenden Abschnitt thematisiert werden. Dass diese Weiterentwicklung in der exilischen Prophetie an bereits bestehende Traditionen anschließt, ist kein Argument gegen, sondern die Voraussetzung für eine wirkungsvolle und kontextsensible Deutung spät- und nachexilischer Prophetie im Übergang zur späteren Apokalyptik: »Taking a diaspora view of the prophets helps us to see that in the innovations typically associated with prophecy in the Exilic period are not unique to the literature interacting with the downfall of Jerusalem and the other monumental circumstances associated with the sixth century B.C.E., but rather are representative of an approach to prophetic tradition that goes back at least to the collections of prophecy generated at the time of the northern kingdom in the eighth century B.C.E. [...] These were the prophecies that were accepted as scripture and updated in order to draw meaning from them in new circumstances and to suggest that they would continue to be true in the future. It is exactly this future orientation that leads the way for the emergence of apocalyptic literature and thought« (Middlemas, »Prophecy and Diaspora«, 52). Analog dazu die Verarbeitung der einschneidenden Erfahrung der Ablösung der Vorherrschaft Babylons durch das persische Reich: »[D]uring the postexilic period, a powerful convergence of Israels’ older ideologies with the disappointments and deprivations of the restoration community, together with the political upheavals surrounding the fall of Babylon and the new world order created by the Persions resulted in a decisively new eschatological tradition« (Arnold, »Old Testament Eschatology and the Rise of Apocalypticism«, 29f.).
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Begrenzungslogik provoziert somit eine nicht nur religionsgeschichtlich nachzuvollziehende Suche nach einem neuen Gottesverständnis. Damit geht aber auch ein neues Identitätsverständnis des Gottesvolkes einher, ohne dass dabei die vorexilischen Traditionsbildungen völlig abgelöst werden müssen. Es zeigt vielmehr die Notwendigkeit, Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen als mindestens zwei-episodiges Wirken zu beschreiben: Soll Gottes Verheißungstreue für seine Schöpfung weiter Bestand haben, so stellt eine Eschatologie unter dem Symbol der Neuschöpfung eine Möglichkeit zur Verfügung, eine Hoffnungsperspektive für die Schöpfung zu entwickeln, die einerseits als gut tituliert wird, die aber auch andererseits Risiken der Fremdgefährdung und Selbstzerstörung in sich birgt. Theologiegeschichtlich lässt sich das mit einer periodisierten Heilsgeschichte in Verbindung bringen: Auf eine erste Phase der Schöpfung, in der sich das gute Leben und die Güte des Schöpfers der Begrenzung und Eindämmung des Bösen verdankt, folgt eine zweite, noch ausstehende Phase, die eine letztliche Überwindung und ein Ausmerzen der präeschatologisch noch wirksamen Gefährdung dieser Schöpfung in Aussicht stellt. Für das atl. Gottesvolk werden solche Überlegungen vor allem in der Zeit der nachexilischen Theologie und der Apokalyptik virulent. Die Vorstellung einer Neuschöpfung ist nicht die Folge einer Schöpfungsnegation, sondern vielmehr die Folge einer hohen Sensibilität für die Ambivalenzen einer Wirklichkeit, die zwar einerseits Potenziale der Freiheit und der Kreativität in sich birgt, die jedoch vor dem Risiko ihres Missbrauchs nicht gefeit ist. Mit dem bis hierhin Beschriebenen lassen sich einige Aspekte plausibilisieren, die für die weitere Auseinandersetzung mit Barths Schöpfungstheologie und für das Weitermodellieren ihrer impliziten Erlösungstheologie von Bedeutung sein können: Die schöpferische Logik der Chaosbegrenzung impliziert, dass das Böse nicht nur als malum morale, also in menschlicher Gestalt, wirksam ist. Sie verdeutlicht, dass in der gesamten Schöpfungswirklichkeit ein der menschlichen Subjektivität vorgängiges Potenzial der Gefährdung und Zerstörung inhärent ist.30 Das malum morale ist kein selbstständiges Gebilde, das nach einem NaturKultur-Schema allein der menschlichen Sphäre zuzuordnen wäre. Vielmehr ist der Mensch, indem er Teil einer gefährdeten und sich selbst gefährdenden Schöpfung ist, selbst dem Risiko chaotischer Kräfte ausgesetzt.31 Damit soll eine Unterscheidung in malum naturale und malum morale nicht aufgegeben werden – diese ist sowohl vom Standpunkt einer spätmodernen Anthropologie, aber auch fundamentalethisch die Voraussetzung für eine begründete Rede von menschlicher 30 31
Vgl. Etzelmüller, »The Evolution of Sin«. An dieser Stelle bieten sich außerdem Überlegungen zu einer Theologie der Krankheit und der Frage nach einer erlösungstheologischen Deutung von Heilung an. Diese Diskussion – unter Bezugnahme auf Barths Schöpfungstheologie – soll im vierten Modell geführt, da dort stärker die anthropologischen Dimensionen in den Blick genommen werden können; vgl. Kap. 4.2.
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Freiheit und Verantwortung. Das hier beschriebene Modell verankert diese jedoch in einem tieferliegenden Zusammenhang, wodurch theologisch nicht allein der Mensch als Urheber des Bösen verstanden wird, sondern im Zusammenhang mit seiner Umwelt, in die er als Geschöpf Gottes gestellt ist, gesehen wird. Damit ist die Rekonstruktion der schöpfungstheologischen Seite dieses Modells abgeschlossen. Zugleich ist damit gezeigt, dass die Vorstellung einer Neuschöpfung als eine grundlegende Bearbeitung dieser Gefährdungspotenziale nicht eine rein spekulative Hoffnung auf die Transzendierung der Erfahrung von Endlichkeit, sondern eine auch aus dem Gespräch biblischer Schriften bekannte Weiterentwicklung der Frage nach Gottes Verheißungstreue ist. Sie negiert Gottes gutes Schöpfungswerk nicht; sehr wohl aber vereint sie die Spannung aus Dankbarkeit um deren Güte, Bangen um deren Gefährdung und die Hoffnung auf ihre letztliche Erlösung vom Risiko ihrer beständigen Selbstgefährdung.
2.3 Die fragliche Dichotomie von Ordnung und Chaos Die Rekonstruktion dieses Modells anhand der Schöpfungstheologie Barths hat eine zentrale Struktur zum Vorschein gebracht: Das Modell der Chaosbegrenzung und -überwindung basiert auf einer grundsätzlichen Polarität von Ordnung und Chaos. Die Motivik der Genesis und die Betonung der Chaosbändigung in der Schöpfungstheologie Barths sind zweifelsohne nicht originär. Z.B. kennen Schöpfungsmythen im assyrischen Raum den Götterstreit bzw. die Auseinandersetzung und den Kampf als Ursprung, aus dem die Ordnung des Alls entsteht.32 Wenngleich dort die creatio oftmals mehr als ein selbstevolvierender Prozess erscheint – und demgegenüber sowohl in der Genesis wie auch in der Theologie Barths das voraussetzungslose Handeln Gottes an der werdenden Schöpfung hervorgehoben wird – so stellt der lineare und irreversible Übergang vom Urchaos zur Ordnung die Bedingung der Entstehung und des Fortbestandes des Lebens dar. Religions- und theologiegeschichtlich hat dieses Denken aber auch verhängnisvolle ethische Konzeptionen der Schöpfungsordnungen hervorgebracht.33 In 32 33
Vgl. die Religions- und Kulturgeschichtlichen Beiträge in: Küppers, Chaos und Ordnung. Reformatorisch hat die Vorstellung der Schöpfungsordnungen ihre antischwärmerische Wurzel in CA 16 (Obrigkeiten bzw. staatliche Ordnungen) und CA 28 (Bischöfliche Macht bzw. kirchliche Ordnungen) und etablierte theologiegeschichtlich eine Würdigung nichtkirchlicher Institutionen, die dennoch den Schöpfungs- (und z.T. Heilsintentionen) Gottes entsprechen konnte. Dies geschah jedoch um den Preis eines grundsätzlich konservierend wirkenden Konformismus mit bestehenden weltlichen Obrigkeitsstrukturen. Theologisch grundlegend ist dafür auch eine Betonung der Innerlichkeit des Evangeliums im Gegensatz zur Äußerlichkeit weltlicher Ordnung. Die theologische Gemengelage aus Identifikation von weltlichem
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Bezug auf menschliche Lebenszusammenhänge eröffnet sich damit die Möglichkeit einer dezidiert theologischen Würdigung von Leben ermöglichenden und sichernden Institutionen. Diese kann als Suche nach Realisierungen von Gottes Schöpfungsintentionen in nichtreligiösen Lebensbereichen verstanden werden: »Das Chaos ist nicht ein für allemal überwunden, die Ordnung nicht ein für allemal gesichert: ob im Kult, im Alltag, stets hat der Mensch sich den Kräften des Chaos aufs neue zu stellen.«34 In derartigen Traditionen wird das Chaos als eine Gestalt der Bedrohung einer Ordnung gesehen, die als erhaltens- und schützenswert erachtet wird. Die Pointe der biblischen Schöpfungserzählungen ist nach Barth, dass dieses Chaos in der Schöpfung einerseits in seiner Uferlosigkeit gebrochen, jedoch andererseits als schöpfungsimmanentes Bedrohungsrisiko besteht. In der im Ganzen von Gott als gut gewürdigten Schöpfung ist demnach ein Potenzial für das Böse vorhanden, das in verschiedenen Gestalten auftretend Lebenszusammenhänge zu chaotisieren und basale Erwartungssicherheiten zu entziehen vermag. Dies lässt sich besonders offensichtlich für die theologische Deutung von Krankheitserfahrungen plausibilisieren: »Krankheit als dramatisches Ereignis der Lebenszerstörung ist ein zu überwindender und zu bekämpfender Einbruch des lebensfeindlich Chaotischen.«35 Innerhalb dieses Modells muss die von Barth angedeutete Frage, ob es sich in diesem Fall nicht viel eher um Schattenseiten der lichten Schöpfung handele (vgl. KD III/1, 418ff.), offenbleiben, da Chaotizität hier nicht als ontologische Kategorie, sondern im Sinne einer Zuschreibung verstanden wird, die auf Destabilisierungen lebensnotwendiger Sicherungen hinweist.36 An dieser Stelle soll
34 35 36
Regiment, usus elenchticus legis und Gerichtsgedanke wurde weiten Teilen des deutschen Protestantismus in der großflächigen Akzeptanz des totalen Staates zum Verhängnis: Vgl. Graf, »Friedrich Gogartens Deutung der Moderne« und Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd.2, 290ff. und 417ff. Doch nicht nur im Kontext einer theologisch legitimierenden Staatstheorie, sondern auch in Bezug auf die heute in großen Teilen der westlichen Welt so nicht mehr tragbare Legitimierung patriarchaler und heteronormativer Familienbilder, fällt es im Zuge des mehrperspektivischen Bedeutungswandels der Institution Familie schwer, dem ethischen Konzept der Schöpfungsordnung zu folgen. Auf einige folgenschwere Denkformen und deren allmähliche gesellschaftliche aber auch theologische Überwindung in der Spätmoderne weist Karle, Liebe in der Moderne hin. In seiner Studie zum Problem der natürlichen Theologie hat Christian Link eine mögliche Rehabilitierung der Denkform der Schöpfungsordnungen erwogen. Dabei betont er jedoch besonders: »Positive Anweisungen, das Reich Gottes zu verwirklichen, sind diese Ordnungen also nicht; sie umgrenzen den Raum in dem Gottes Reich unter uns wirklich wird, und das bedeutet: Sie sind als ›Gebot zum Leben‹ die Bedingung, unter denen der Mensch in der Welt Mitarbeiter dieses Reiches werden kann« (Link, Die Welt als Gleichnis). Paslack, »Sagenhaftes Chaos: Der Ursprung der Welt im Mythos«, 26. Thomas, »Krankheit im Horizont der Lebendigkeit Gottes«, 510. Die Frage nach der Gratwanderung innerhalb der Heuristik von Schattenseiten der Schöpfung und destruktiven Mächten, die der guten Schöpfung Gottes widersprechen kann dagegen
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vielmehr der in diesem Modell dichotomen Rede von Chaos vs. Ordnung kritisch nachgegangen werden.37 In diesem Abschnitt sollen drei Exkurse sowohl die von Barth ausgehende ontologische Gegenüberstellung, deren epistemische Valenz und zuletzt das normative Gefälle von Chaos hin zur Ordnung problematisiert werden. In einem Exkurs zur Chaostheorie soll zunächst gezeigt werden, wie wenig trennscharf die Unterscheidung von Chaos und Ordnung ist. Mithilfe systemtheoretischer Überlegungen lässt sich zeigen, dass die Zuschreibung von Ordnung bzw. Chaos beobachtungsrelativ ist. Schließlich sollen Überlegungen entlang der Prozesstheologie zeigen, wie problematisch eine einfache Umkehrung der normativen Präferenzen ist: Eine einfache Invertierung der Normativität dieses Modells räumt die bestehenden Probleme nicht aus. Anhand dieser drei Exkurse lässt sich zeigen, dass keine noch so differenzierte und optimierte Rede von Ordnung und Chaos in der Lage ist, die jeweiligen Risiken zu überwinden. Dieser Abschnitt bildet somit den Anweg für die im Rahmen dieses Modell anschließende materiale Eschatologie der Neuschöpfung und präzisiert das dort zu bearbeitende Problemniveau. Denn wie zu zeigen ist, ist in einer Eschatologie der Neuschöpfung die hier beschriebene Dichotomie von Chaos und Ordnung selbst zu überwinden.
2.3.1 Zur Ontologie der Unterscheidung von Chaos und Ordnung (Chaostheorie) Verschiedenen theologische, philosophische und kulturwissenschaftliche Disziplinen haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeigt, wie inadäquat eine dichotome Unterscheidung von Chaos und Ordnung ist. Um dies auf einer ontologischen Ebene zu beschreiben greife ich exemplarisch auf die aus der Mathematik und der Evolutionsbiologie hervorgegangene Chaosforschung zurück. Mit den aus ihr hervorgehenden Erkenntnissen lassen sich die Übergänge und die Polaritäten von Chaos und Ordnung sowie die notwendig vorausgesetzten Parameter für eine solche Distinktion beobachten.38 Gegenüber der kategorialen Unterscheidung zwischen radikaler Kontingenz und Offenheit in Form des Chaos und demgegenüber der determinierten und determinierenden Ordnung, hat die moderne Chaosforschung den Zusammenhang zwischen diesen beiden Größen stärker hervorgehoben. Statt einer Dichotomie von Determi-
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im Rahmen des vierten Modells in Bezug auf die Krankheitsthematik erörtert werden; vgl. Kap. 4.2.3. Barths Rede von der Begrenzung des Chaos und der Entstehung komplexer Ordnungen führt zwar nicht – wie im letzten Abschnitt dieses Kapitels unter Berücksichtigung der ethischen Konsequenzen dieses Modells zu zeigen ist – in eine Aufnahme lutherischer Ordnungsethik. Gerade diese lässt Barth in diesem Band, der implizit von den theologischen Auseinandersetzungen mit der Theologie der 1930er und 40er Jahre geprägt ist, hinter sich. Vgl. Argyris u. a., Die Erforschung des Chaos.
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niertheit und Chaotizität spricht man viel eher von einem deterministischen Chaos. Hinter diesem Begriff steckt eine einfache aber mächtige Umstellung. Deterministisch-chaotische Systeme können nämlich auf unterschiedlichen Größenebenen beobachtet werden: Klassischerweise wird zwischen einer Mikro- und einer Makroebene unterschieden. Von einem chaotischen System ist immer dann zu sprechen, wenn kleinste Instabilitäten auf Mikroebene zu polaren Entwicklungen auf Makroebene führen, ohne dass der Zusammenhang dieser Wirkung präzise vorherzusagen wäre. Beispielsweise entscheiden während des Drehens einer Münze am Ende eines Münzwurfs kleinste Unebenheiten auf den Kanten maßgeblich darüber, auf welche der beiden Seiten die Münze schließlich fällt. Diese sind weder theoretisch noch praktisch vorhersagbar, vollziehen sich jedoch ebenso wenig willkürlich. Entscheidend für die Wirkung von Mikro- auf Makroebene ist, dass sich beliebig kleine Unterschiede und Unregelmäßigkeiten in der Ausgangsstruktur im Laufe der Zeit nicht nur linear, sondern exponentiell entwickeln, und demnach die anfänglich bereits bestehende Instabilität über beliebig viele Schritte immer wieder zu sich selbst verstärkenden Systemänderungen führt. Für ein chaotisches System ist folglich das Wechselspiel aus Instabilitäten und deren Wirkungssteigerung durch sog. Reinjektionen nötig. Bekannte Beispiele hierfür sind das in der Physik und Mathematik im 19. Jahrhundert bekannt gewordene Dreikörperproblem, wonach es nachweislich nicht möglich ist, die exakten Bahnen dreier sich frei im Raum bewegender Massekörper zu bestimmen.39 Die gleiche Problematik ergibt sich für Wettervorhersagen, die aufgrund der hohen Komplexität an die Grenzen der Voraussagbarkeit stoßen, wobei steigende Rechenkapazitäten keine signifikanten Verlängerungen der Voraussagen erlauben, da die Reinjektion von bspw. Luftbewegungen exponentiell wirken und somit unüberschaubar werden.40 Die Chaotizität eines chaotischen Systems ist demnach eng an die Komplexität seiner Entwicklung gebunden: »Die Komplexität des Chaos resultiert aus der Nicht-Linearität der Entwicklungsgesetze«.41 Eine entscheidende Einsicht ist, dass chaotische Systeme nicht als komplementäres Gegenüber zu determinierten Systemen zu verstehen sind, sondern sich auf der Basis einer kritischen Eigenkomplexität prinzipiell als offen, weil nicht verlässlich vorhersagbar beschreiben 39
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Als weiteres bekanntes Beispiel ist das Doppelpendel bekannt, dessen Bewegung auch theoretisch nicht exakt beschrieben werden kann. Es ist daher geradezu ironisch, dass ausgerechnet die Klöppelbewegung einer Kirchturmglocke, deren Funktion die Rhythmisierung und akustischliturgische Rahmung des Tages ist, einem solchen chaotischen System entspricht. Bspw. geht die Wetter- und Klimaforschung dazu über, die Chaotizität selbst graduell zu verstehen, um mit stochastischen Mitteln auf stärkere Reinjektionen zu reagieren. Dies lässt sich in der Forschung zum Phänomen des El Niño nachvollziehen; vgl. Slingo und Palmer, »Uncertainty in Weather and Climate Prediction«. Küppers, »Chaos: Unordnung im Reich der Gesetze«, 173.
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lassen: »Die allgemeine Begründung durch die Prinzipien der Instabilität und Reinjektion erlaubt uns, die vollkommene, überaus subtile Ordnung (Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit) des deterministischen Chaos zu verstehen«.42 Mithilfe der modernen Chaostheorie lassen sich also chaotische Phänomene auch ohne ein metaphysisches Durchbrechen von Determiniertheit verstehen. Die Beschäftigung mit der Chaostheorie zeigt, dass die Denkform von Ordnung (hier als Determinismus) und Chaos (als nicht vorhersagbare Offenheit) nicht dipolar verstanden werden muss. Stattdessen bringt eine hyperkomplex präfigurierte Ordnung gerade solche Phänomene hervor, die in dieser Theorie als chaotische Systeme identifiziert werden. Für eine theologische Modellierung von Schöpfung und Erlösung entlang der Unterscheidung von Chaos und Ordnung können diese Erkenntnisse dazu beitragen, die Modellgrenzen zu einem ontologischen Dualismus zu markieren: Chaotizität lässt sich zwar von anderen Phänomenen abgrenzbar beschreiben – sie steht damit nicht einfach in einer linearen Kontinuität zur Ordnung komplexer Systeme. Gleichwohl führt diese Abgrenzbarkeit des Phänomens Chaos zu keinen polaren Grundprinzipien, in die sich die Wirklichkeit teilt. Eine statische Gegenüberstellung von Chaos und Ordnung trägt der Komplexität dieser Phänomene nicht hinreichend Rechnung. Schöpfungstheologisch ist es dagegen von Bedeutung, dass insbesondere komplexe Systeme unvorhersagbare Effekte hervorbringen können. Existenziell können diese Effekte zu Risiken des Lebens werden. Wird die Schöpfung selbst modellhaft als ein solch komplexes System verstanden, lässt sich damit die bleibende Bedrohung der Schöpfung und das eschatologische Problem der in dieser Schöpfung noch ausstehenden Risikobefreiung festhalten.
2.3.2 Zur Epistemologie der Unterscheidung von Chaos und Ordnung (Systemtheorie) Ein Blick in die Systemtheorie eröffnet den Blick dafür, dass die Polarität von Chaos und Ordnung nicht nur auf ontologischer, sondern auch auf epistemologischer Ebene zu hinterfragen ist. Dies lässt sich mithilfe der soziologischen Systemtheorie nach Niklas Luhmann plausibilisieren.43 Aufbauend auf der Beschreibung autopoietischer Systeme, die sich entsprechend bestimmter Unterscheidungsprozesse von ihrer Umwelt abgrenzen und so eine Ordnung im Gegenüber zu der sie umgebenden Un-Ordnung darstellen, greift Luhmann Talcot Parsons Vorstellung der doppelten Kontingenz auf. Einerseits sind die Unterscheidungsoperationen 42 43
An der Heiden, »Chaos und Ordnung, Zufall und Notwendigkeit«, 113f. Zum Zusammenhang der Systemtheorie mit der Chaostheorie, sowie zur theologischen Rezeption dieser vgl. Ganoczy, Chaos, Zufall, Schöpfungsglaube: Die Chaostheorie als Herausforderung der Theologie, 82ff.; außerdem: Haken, Die Selbstorganisation komplexer Systeme: Ergebnisse aus der Werkstatt der Chaostheorie.
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eines Systems (Ego) hinsichtlich ihrer Entscheidungen kontingent. Sie folgen in bestimmter Weise der Fortsetzung einer systeminternen Logik, wobei (von außen betrachtet) immer verschiedene Optionen zur Auswahl stehen. Die Entscheidung des Systems für eine dieser Optionen mag rückwirkend naheliegend oder in der Selbstbeobachtung gar zwingend erscheinen, ist aber vor-gängig prinzipiell kontingent. In der Interaktion reagiert nun ein anderes System (Alter) auf eine dasselbe affizierende Aktion von Ego, wobei auch diese Reaktion eine Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen darstellt und somit kontingent ist. Interaktionen provozieren somit aufgrund systemischer Entscheidungsmechanismen sich exponentiell steigernde Kontingenz. Mit Blick auf die Komplexität der Interaktion psychischer und sozialer Systeme lässt sich eine der Chaostheorie vergleichbare Offenheit von Entwicklungsprozessen zeigen, ohne auf metaphysische Vorstellungen von objektivem Zufall zurückgreifen zu müssen: »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist«.44 Die Interaktion von Ordnung mit der sie umgebenden Un-Ordnung der Umwelt ist für ein System aus mehreren Gründen überlebensnotwendig: Zum Einen provoziert die Umwelt das System zur Kommunikation und damit zur Selbstreproduktion systemimmanenter Rationalität. Zum Anderen muss das System auf die Irritation seiner Umwelt reagieren, indem es sie sortiert, einordnet, integriert und/oder umbildet. Mit der so angestoßenen Variation geht nicht nur eine Komplexitätssteigerung einher, sondern ebenfalls eine Selbstvergewisserung der Anpassungsfähigkeit des jeweiligen Systems. Der Aufbau komplexer Ordnungen kann demnach gar nicht auf ein Fortbestehen solcher Prozesse verzichten, die systemintern als chaotisch, weil nicht der reinen Eigenlogik systeminterner Rationalität entspringend, erfahren werden: »Insofern lebt der Sinnprozeß von Störungen, nährt sich von Unordnung, läßt sich durch Rauschen tragen und erfordert für alle technisch präzisierten, schematisierten Operationen ein ›ausgeschlossenes Drittes‹«.45 Die Theorie der doppelten Kontingenz beinhaltet jedoch noch eine weitere Facette, die erkenntnistheoretischer Natur und von größter Bedeutung für eine schöpfungstheologische Auseinandersetzung und einer angemessenen Beschreibung der Chaos-Ordnung-Distinktion ist: Aus der Perspektive von Alter ist die in der Aktion von Ego mitgesetzte Entscheidung gegenüber sich selbst kontingent, wohingegen die eigene Reaktion ordnungsgemäß erfolgt. In einer Ereigniskette mehrerer Aktionen und Reaktionen zwischen den beiden Akteuren bzw. Systemen macht jedoch Ego dieselbe Beobachtung in Bezug auf die systemimmanenten Entscheidungen von Alter. Die Feststellung, welche Aktion geordneter und welche kontingenter Natur ist, unterliegt also der Unterscheidungsfähigkeit des 44 45
Luhmann, Soziale Systeme, 152. Luhmann, 123.
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Beobachters und dem, was als Ordnung bzw. als dieser Ordnung widerstrebend erkannt wird. Die Unterscheidung von Ordnung und Chaos ist daher beobachtungsrelativ und somit selbst kontingent. Während also die Chaostheorie keine ontologische Diskontinuität zwischen Ordnung (Determiniertheit) und Chaos (Unvorhersagbarkeit) hervorhebt und auf theoretischer Ebene die beiden alltagssprachlich polaren Begriffe miteinander verbinden kann, so betont die Systemtheorie aus der Perspektive systeminterner Beobachtung eine klare Präferenz der Herstellung von systeminterner Ordnung gegenüber dem Chaos seiner Umwelt. Aus systemexterner Beobachtung (d.h. Beobachter höherer Ordnung) ist diese Präferenz jedoch nicht zwingend. Vielmehr wird dadurch klar, wie sehr die Perspektivität dieser Unterscheidung eine Rolle spielt. Nicht nur ist Ordnung ein relativer Begriff, sondern auch die Zuschreibung von Chaotizität kann nur relativ zur Ordnung eines Systems bestimmt werden. Während die Chaostheorie also eine ontologische Dualisierung von Chaos und Ordnung infrage stellt, problematisiert die Systemtheorie diese von epistemologischer Seite. Die aus dieser Zwischenüberlegung gewonnene Erkenntnis, dass Ordnung und Chaos im Blickwinkel der Systemtheorie beobachtungsrelativ sind, ist innerhalb dieses Modells für die fundamentalethischen Konsequenzen zu veranschlagen. Die zentrale Frage, die sich daraus ergibt, ist: Wer sieht welche Ordnung und welches Chaos? Hiermit ist nicht einfach gemeint, dass die Polarität dieser für dieses Modell tragenden Begriffe nivelliert wird. Vielmehr wird deutlich, dass die Entscheidung, was als Ordnung und was als Chaos zu gelten hat, nicht absolut, sondern relativ zu systemeigenen Logiken fungiert. In der ersten Schöpfungserzählung korreliert damit das an jeden Schöpfungstag anschließende Sehen Gottes, das mit der wertenden Zuschreibung, dass es gut war, schließt. Dass diese Bewertung des Schöpfungswerks notwendig zu sein scheint, weil sie sich nicht von selbst ergibt, lässt sich mit systemtheoretischen Überlegungen plausibilisieren.
2.3.3 Zur Normativität der Unterscheidung von Chaos und Ordnung (Prozesstheologie) Während die beiden vorangehenden Exkurse also zu einer Relativierung der Dualität von Chaos und Ordnung führen, gilt es in einem dritten Schritt die Normativität in Barths Schöpfungstheologie zu befragen. Dies soll hier mithilfe eines Kontrastmodells geschehen, in welcher diese Normativität bewusst umgekehrt ist: Statt der Präferenz der Ordnung gegenüber dem
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Chaos votiert die amerikanische Prozesstheologie für eine wesentlich positivere Einschätzung chaotisierender Dynamiken.46 Unter expliziter Bezugnahme auf Barths Exegese von Gen 1 unterscheidet die Prozessdenkerin Catherine Keller zwischen der uranfänglichen tehom und dem Guten und Bösen, was im Laufe des fortlaufenden Schöpfungsprozesses daraus erwächst. Statt eines teleologischen Gefälles identifiziert sie die Chaoselemente in Gen 1 als »einen geheimnisvollen Schoß inmitten einer würdevollen Liturgie kosmischer Anfänge«.47 Die Tiefe der Chaosfluten ist in dieser Konzeption also kein Gegenspieler der guten Schöpfungsintention Gottes, sondern wird zum Medium des göttlichen Prozesses: Der Text widerspricht implizit jeder Ideologie, die das Chaos dämonisiert, um dadurch die Aufrichtung einer brutalen Ordnung zu rechtfertigen. In der Genesis stellt das wässrige Chaos also nicht das Böse dar, das von einem guten Gott besiegt werden muss, der hoch erhaben im Trockenen sitzt und regiert. Vielmehr ist es wie der Mutterschoß der Welt selbst.48
Keller wirbt aber nicht nur für eine Neubewertung der Chaosfluten, sondern drängt ebenso auf eine Rehabilitierung der Dunkelheit. Unter Rückgriff auf schöpfungsmystische Überlegungen in Anschluss an Nikolaus von Kues und Giordano Bruno fasst Keller zusammen: »In dieser Tradition der negativen Theologie ist die Finsternis nicht böse, sondern geheimnisvoll«.49 Kulturell unterstellt sie der umgekehrt argumentierenden Fehlabstraktion der Finsternis nicht zuletzt einen latenten Rassismus, indem das Muster der Disqualifikation der unterschiedlichen Schattierungen menschlicher Körper mythologisch überhöhte Gestalt gewinnt. Die qualitativ aufgewertete Gegenüberstellung der Schöpfungselemente, die das Chaos opponieren, wie sie in der Exegese von Gen 1 bei Karl Barth zweifelsohne zu finden ist, rückt für Keller unter den Verdacht, Hand in Hand zu gehen mit »der unvergleichlichen Geordnetheit des Faschismus, des Totalitarismus und [...] der Geordnetheit der aalglatten transnationalen Homogenisierung 46
47 48 49
Im Hintergrund dieses Denkens steht die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads, der in ähnlicher Weise wie die beiden bereits beschriebenen Instrumentarien der Chaostheorie und der Systemtheorie die Dependenz von Ordnung und Chaos mit Blick auf Veränderungsprozesse bis hin zu geschichtlichen Entwicklungen hervorhebt: Zur theoretischen Grundlage der kosmologischen Zuordnung von Chaos und Ordnung bei A. N. Whitehead s. Faber, Gott als Poet der Welt, 68–73. Faber hebt im Horizont einer theologischen Kosmologie die Bedeutung prozessualer Übergänge hervor: »Kennt das Universum als ganzes keinen finalen Ordnungszustand, sondern nur die Bewegung, geleitet von Intensität und Harmonie, dann kennt es auch keinen anfänglichen Ordnungszustand. Das Universum ›definiert‹ sich als ein Nexus, der in seiner chaotischen Grundverfasstheit bestimmte Ordnungstypen ausprägt, durchläuft und wieder im Chaos des Neuen versinken lässt, das zugleich die Geburt einer neuen Ordnung ist« (Faber, 72). Keller, Über das Geheimnis, 90. Keller, 96. Keller, 92.
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung
der Oberfläche unserer Erde«.50 Fraglich bleiben dabei, ob Kellers Kritik an Barth die Intention der Einordnung der Dunkelheit in den Tag/Nacht-Rhythmus wirklich trifft. Dieser beschreibt ja die schöpferische Auseinandersetzung mit dem Chaos (noch) nicht als eine machtvolle und gewalttätige Überwindung, sondern als eine vorläufige Zurückdrängung und Integration der Finsternis und der Fluten in die Schöpfung. Auch die Ordnung dieser Schöpfung bietet ja Raum für Fluidisierungen und Offenheiten. Mit Keller lässt sich jedoch genau das herausstellen, was von Barth so nicht explizit schlussgefolgert wird: Dass nämlich diese Schöpfung gerade aus diesen Offenheiten, die sie explizit als riskant markiert, vom Chaos profitiert: »[W]eil uns die Komplexitätstheorie lehrt, dass Kreativität im Universum – die evolutionären Sprünge organischer Anpassungsfähigkeit – immer ›am Rande des Chaos‹ entsteht, bringt dieses Risiko auch kreative Weisheit zum Ausdruck«.51 Keller vollzieht bei aller unterschiedlichen Herangehensweise tatsächlich eine ähnliche Unterscheidung wie sie mit der Chaostheorie und ebenso der Systemtheorie identifiziert worden sind. Indem sie zwischen der Finsternis der tehom einerseits und der »Finsternis unserer Unkenntnis«52 unterscheidet, kann sie das Chaos einerseits ontologisch in seiner Kontinuität zur werdenden Ordnung beschreiben, während sie die epistemologische Diskontinuität mit der Unwägbarkeit dieses Entwicklungspotenzials identifiziert. »Diese Finsternis unserer Unkenntnis ist keine Sünde, sondern eine unvermeidliche Einschränkung«.53 Diese Einschränkung kann »uneindeutig, chaotisch, turbulent« gedeutet werden.54 Sie ist jedoch – entgegen der Barth unterstellten Parallelisierung von Chaos/böse/alt und Ordnung/gut/neu – weit von dieser linearen Qualifizierung entfernt. Vielmehr gewinnt die chaotische Tiefe gerade dadurch, dass sie das geheimnisvolle Potenzial für eine Schöpfung bietet, in der der inkarnierte Logos selbst Gestalt gewinnen soll, eine unschätzbare Qualität, die es nicht durch eine zwanghafte Ordnung zu verstellen gilt: »Elohim drückt seine Freude über dieses Licht aus – es ist das Neue, die Entfaltung einer neuen Ordnung, die Ausführung des Universums durch das Wort. Wieso sollte deshalb die implizite Ordnung, die geheimnisvolle Potenzialität, aus der sie kommt, böse sein?«55 Orientierend ist der Umgang mit dieser faktisch vorhandenen Unwägbarkeit und jenem Risiko, das alles Leben dieser Schöpfung mit offenem Ausgang durchzieht. Keller stellt dabei einerseits eine »tehomophobe« und andererseits eine »tehomophile« Alternative vor. Erstere optiert als Negativexempel gegen die Fluidisierung und Rekonfiguration bestehender Ordnungen, während die 50 51 52 53 54 55
Keller, Über das Geheimnis, 94. Keller, 101. Keller, 93. Keller, 93. Keller, 91. Keller, 93.
Die fragliche Dichotomie von Ordnung und Chaos
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letztere eine »alternative Sensibilität« für die Prozesshaftigkeit allen Lebens bereitstellt: »Indem wir die Tiefen des Lebens, mit der sich die Tiefen des Göttlichen selbst vermischen, annehmen, nehmen wir teil an einer Kreativität mit offenem Ausgang.«56 Dass Keller genau darauf abzielt, die Lebensförderlichkeit dieser Chaozität hervorzuheben, muss nicht eigens erwähnt werden. Keller invertiert damit die bei Barth identifizierte Normativität, welche zugunsten der Ordnung gelagert ist. Ihre Argumentation führt letztlich zur Pointe einer prozessorientpanentheistischen Kosmologie, die sie als vitalen Lebensrhythmus beschreibt und dessen Lebensbegriff sich gerade von der chaotischen Bewegung her speist: In der Wechselwirkung von Formlosigkeit und Form, Chaos und Ordnung, Entstehung und Zusammenbruch finden die Möglichkeiten dessen, was die Prozesstheologie das »göttliche Locken« nennt, ihre Aktualisierung. Das Genesis-Kollektiv fährt somit inmitten all seiner Verluste und von Augenblick zu Augenblick fort zu emergieren.57
Damit wird das Chaos in einer hegelianischen Bewegung zum Teilmoment der prozesshaften Wirklichkeit des »Chaosmos«. Es wird deren integraler Bestandteil und durchbricht die Präferenz für Ordnung. Das Chaos wird vielmehr zur Quelle und Anregung der vielfältigen Ausprägungen geschöpflichen Lebens. Fraglich bleibt bei Keller, ob diese optimistische Umdeutung des Chaos den Gehalt der biblischen Texte und des christlichen Schöpfungsglaubens angemessen reflektieren kann, die Gottes schöpferisches und erlösendes Handeln verheißungsvoll als distinkte Umbildung bestimmter Gefährdungen beschreiben. Keller kommt hier selbst zu einem ungewissen Urteil, das zwischen einem optimistischen und geradezu kontra-evident argumentierenden Vorsehungsglauben58 und einer prinzipiellen Ungewissheit der ganzen Wirklichkeit59 changiert. Diese beiden angedeuteten Optionen über den Ausgang Schöpfung angesichts der ihr inhärenten selbstgefährdenden Dynamiken sind kritisch zu befragen: Sie bieten guten Grund für einen Fatalismus, der sich den Ambivalenzen des Lebens, das zuweilen schreckenerregende Vitalität zu gewinnen vermag, ergibt. Ebenso bieten sie die Grundlage für einen Optimismus entgegen derselben, der diese Gefährdungen in der Summe in Kauf nimmt. Für Keller stellt letztendlich die prinzipielle Offenheit der Schöpfung ein Faktum dar, welches das Involviertsein geschöpflicher Eigenkreativität in die göttliche Kreativität hervorzuheben vermag und das gar nicht hoch genug gewürdigt werden kann. 56 57 58 59
Keller, 97. Keller, 102. »Doch wir dürfen dem göttlichen Prozess vertrauen« (Keller, 108). »Die in ihrem Ausgang offene Interaktivität des Schöpfungsprozesses setzt uns auch dem Leiden und dem Bösen aus. Und ebenso vielem Guten. Und manchmal bedarf es einer großen Unterscheidungsfähigkeit, um den Unterschied zu erkennen« (Keller, 91).
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung
Dieser positiven Einschätzung des kreativen Chaos stehen jedoch zwei theologische Probleme gegenüber, denen die Prozesstheologie Catherine Kellers nur schwer zu entgehen vermag: Zum Einen steht die Betonung der Notwendigkeit des Chaotischen für die Emergenz geschöpflicher Zusammenhänge in der Tendenz einer Romantisierung des Chaos das Wort zu reden. Indem das Chaos von Keller entweder als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Neuen oder als emanzipatives Potenzial gegenüber totalitären Ordnungen verstanden wird, wird das bleibende Gefährdungspotenzial derjenigen chaotischen Dynamiken, die die Vulnerabilitäten biologischen, menschlichen und sozialen Lebens aufdecken, entblößen und angreifen, gänzlich verschwiegen. Kellers Interpretation des Schöpfungsmythos als einer im Werden begriffenen Prozesswirklichkeit verdeckt damit den Blick auf die tief in die Schöpfung eingeschriebene Problematik der riskanten Offenheit des Ausgangs aller Schöpfungsgeschichten. Damit wird sie jedoch weder den bisherigen noch den noch ausstehenden Opfern des geschöpflichen Kampfes um Lebensressourcen gerecht, sondern romantisiert jegliche Fluidisierung als eine ständige Emanzipierung tendenziell totalitärer Ordnungen. Kellers großes Gewicht auf der Überwindung dieser Ordnungen mag damit zusammenhängen, dass es ihr im Ausbleiben einer Eigenständigkeit der Schöpfungstheologie gegenüber der Eschatologie (und umgekehrt!) eines Kriteriums ermangelt, bestimmte teilstabile Ordnungen in ihrer relativen Bedeutung zu würdigen und zugleich deren Bedeutung und Gültigkeit realistisch einzuordnen. Mit anderen Worten: Dass gewisse Ordnungen für das Leben eine notwendige Erwartungssicherheit bieten können, ohne dass sie für sich eine eschatologische Letztgültigkeit in Aussicht stellen, ist für Keller keine Option, da sie das Werden und Vergehen dieses Lebens selbst schon eschatologisiert. Indem wir die Tiefen des Lebens, mit der sich die Tiefen des Göttlichen selbst vermischen, annehmen, nehmen wir teil an einer Kreativität mit offenem Ausgang. Wir kauern nicht mehr länger innerhalb der erstarrten Ordnung einer absoluten Macht und warten nur darauf, von der Schöpfung selbst erlöst zu werden.60
Abgesehen davon, dass es unter diesen Voraussetzungen nur schwer möglich sein wird, von Gottes Verheißungstreue gegenüber seiner Schöpfung reden zu können, überspannt Keller zum Anderen damit den Bogen einer zur Schöpfungsverantwortung anleitenden Enteschatologisierung. Die Offenheit des (fortdauernden) Schöpfungsprozesses führt dazu, dass sowohl die Ethik, als auch die Eschatologie die Bürde einer ständigen Relativierung tragen müssen: Da nicht gewiss ist, was sein wird, darf außer einer individuellen Gewissheit gegenüber dem Göttlichen auch keine andere Gewissheit bestehen. 60
Keller, Über das Geheimnis, 97.
Die fragliche Dichotomie von Ordnung und Chaos
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Wie auch immer man dahingehend Kellers Schöpfungs- und Erlösungstheologie einordnen mag, so leistet sie einen wichtigen Beitrag für eine Theologie, die Gottes Auseinandersetzung mit dem Chaos als leitenden Denkfigur für die Eschatologie hat: Sie weist darauf hin, die Schöpfung und den Prozess des Lebens mit einer grundsätzlichen Offenheit zu verbinden, welche sie paradigmatisch in der tehom der Genesis symbolisiert sieht. Entgegen einer linearen Überführung von Dynamik in Statik macht Keller die erneute Dynamisierung sowie deren Bedingungen stark. Für eine Theologie der Neuschöpfung, die eine Befreiung von allem Leiden und Bösen verheißt, wird dieser Gedanke zur entscheidenden Voraussetzung, da ansonsten das verheißene Eschaton selbst in der Statik totalitärer Ordnungen zu versinken droht. Mit dem bis hierher dargestellten Material lässt sich eine Eschatologie der Neuschöpfung als Chaosüberwindung modellieren. Mithilfe von Chaostheorie, Systemtheorie und Prozesstheologie wurde das Problemniveau für einen Umgang mit der Ordnung/Chaos-Struktur beschrieben. Die Erkenntnisse aus diesen Exkursen sind daher kurz zusammenzufassen: Die interdisziplinäre Vertiefung mithilfe unterschiedlicher Modelle, Chaosphänomene zu beschreiben und deren Verhältnis zu Ordnungsmustern zu verstehen, hat dazu geführt, Interdependenzmuster zu erkennen. So können Chaos und Ordnung in ein produktives Verhältnis treten, indem chaotische Systeme einerseits Folgen hochkomplexer Ordnungen sein können; sie können jedoch gleichsam die Entwicklung solcher provozieren und anregen. Damit ist zugleich das Problemniveau beschrieben, dem sich eine Eschatologie in Anschluss an Barths Schöpfungslehre stellen muss: Zum einen ist mithilfe der Chaostheorie auf einer ontologischen und der Systemtheorie auf einer epistemologischen Ebene auf die notwendige Relativierung der Dichotomie von Chaos und Ordnung eingegangen worden. Die Prozesstheologie Kellers hat darüber hinaus gezeigt, dass das teleologische Gefälle zugunsten der Ordnung nicht zwingend notwendig ist. Ebenso ist anhand ihrer Überlegungen auch deutlich geworden, dass eine bloße Invertierung der Normativitäten dem Problem des der Schöpfung eingeschriebenen Risikos nicht beizukommen ist: Die Begrenzung des Chaos durch Ordnung – und sei sie noch so differenziert optimiert – wie auch deren Redynamisierung beschreiben alleine noch keine Hoffnungsperspektive für eine Erlösung von dem Bösen. Die im folgenden Abschnitt modellierte Vorstellung von Erlösung als Neuschöpfung fragt daher nach einer Eschatologie, die nach der Überwindung des Chaos, das die bleibenden schöpfungsimmanenten Risiken der Selbstgefährdung symbolisiert. Eine Neuschöpfung, die auf die endgültige Überwindung des in der Schöpfung nur gebannten Chaos abzielt, kann nicht in die allzu naheliegende Statik einer alles umfassenden Ordnung führen. Theologisch gesprochen muss die Verheißung des ewigen Lebens in der neuen Schöpfung von einem ewigen
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung
Tod zu unterscheiden sein. In dieser dynamisierenden Hinsicht bietet das im folgenden Abschnitt zu beschreibende Modell der Erlösung als Neuschöpfung eine Alternative zu Barths gebrochenem Monismus dar, wie er im vorangegangenen Kapitel herausgearbeitet wurde.
2.4 Erlösungstheologie unter dem Symbol der Neuschöpfung Die Stränge der Schöpfungstheologie Karl Barths, die mithilfe des Motivs der Chaosbegrenzung argumentieren, implizieren ein ganz spezifisches Erlösungsverständnis – so die These dieses Kapitels. Die Rekonstruktion der Schöpfungstheologie Barths kann daher als Ausgangsmaterial eines erlösungstheologischen Modells der Neuschöpfung verstanden werden. Aufbauend auf einigen wenigen Andeutungen Barths zu einer Neuschöpfung und mit den zurückliegenden kritischen Erwägungen zur Dichotomie von Chaos und Ordnung im Hinterkopf soll im Folgenden daher ein Vorschlag zur Modellierung einer Erlösungstheologie der Neuschöpfung entwickelt werden. Obgleich es sich dabei um konstruktive Überlegungen, die über Barths eigene Äußerungen hinausgehen, handelt, stellen diese Überlegungen modelltheoretisch eine Fortführung des bis hierher Rekonstruierten dar. Der Zusammenhang von Schöpfung und Neuschöpfung ist jedoch nicht nur modelltheoretisch, sondern auch inhaltlich theologisch begründbar. So formuliert Christian Link: Die Zeit in der die Sage [der Schöpfung] ihre Aussagekraft entfaltet, ist eine Zeit der Hoffnung und der Erwartung: Hier hat der geschaffene Tag die Verheißung eines sein Ende überbietenden neuen Anfangs bei sich; er verweist in der Verläßlichkeit seiner Wiederkehr auf die neue Schöpfung so wie die geschaffene Zeit auf ihr eigenes Eschaton.61
Der Charakterisierung der biblischen Schöpfungserzählung als Sage entspricht in der Eschatologie die Sprachform der Utopie.62 Unter der Berücksichtigung der wenigen von Barth selbst gemachten Andeutungen zu diesem Modell sollen in diesem Kapitel einige der konkret zu bearbeitenden dogmatischen Probleme skizziert werden und ein Vorschlag unterbreitet werden, wie die Utopie einer »Chaosüberwindung« dogmatisch entfaltet werden kann. Statt eines bis hierher dominierenden rekonstruktiven Verfahrens geht es daher nun um eine konstruktive Entfaltung einer Eschatologie der Neuschöpfung. 61 62
Link, »Theologische Aussage und geschichtlicher Ort der Schöpfungslehre Barths«, 182 [Anm.: B.F.]. Vgl. Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?, 426f. Einen Überblick zur Utopieforschung bietet: Amberger, Möbius und Saage, Auf Utopias Spuren.
Erlösungstheologie unter dem Symbol der Neuschöpfung
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Ein erlösungstheologisches Modell, das seine Gestalt von der Vorstellung einer Neuschöpfung aller Dinge gewinnt, stellt sich ganz bewusst einem der Hauptprobleme eschatologischen Denkens: Es kontrastiert diese Schöpfung in besonderem Maße mit einer Neuen Schöpfung und setzt damit einen besonderen Akzent auf die eschatologische Diskontinuität. Damit ist auch ausgesagt, dass der systematische Zusammenhang von Schöpfung und Neuschöpfung nicht durch einen kontinuierlichen Prozess optimierender Ordnungsschaffung beschrieben werden kann. Wenngleich die Intention Gottes für diese Schöpfung ungebrochen durch die Aufrichtung des Bundes gekennzeichnet bleibt, so werden doch Schöpfung und Erlösung im Handeln Gottes ad extra voneinander unterschieden: In den bisherigen Ausführungen dieses Kapitels wurde diese Diskontinuität v.a. von Seiten der Schöpfung betont, indem die Auseinandersetzung Gottes mit dem Chaos als eine vorläufige Eindämmung bzw. Einordnung chaotischer Dynamiken in den Raum der guten Schöpfung beschrieben wurde. Die auch in den biblischen Traditionen immer wieder thematisierte Existenz des Chaos im Raum der Schöpfung stellt in grundsätzlicher Weise ein Bedrohungspotenzial dar, welches ohne eine tiefgreifende Transformation dieser Wirklichkeit nicht aus der Welt zu schaffen ist. Das Chaos als Böses wird daher nicht ontologisch, sondern dynamisch und zudem existential verstanden: Nicht das Chaos, sondern die von ihm ausgehende Bedrohung, wird zum Adressaten des transformierenden Erlösungsgeschehens. Damit tritt die anthropozentrische Formatierung der Barthschen Schöpfungslehre insofern zutage, als dass die Erlösungshoffnung die Neuschöpfung vornehmlich unter dem Gesichtspunkt eröffneter Möglichkeitsund Wirklichkeitsräume des Menschen thematisiert wird.63 Daher kann eine theologische Hoffnungsperspektive nur vor dem Hintergrund einer neuen, anderen Auseinandersetzung und Durchsetzung Gottes gegen das Böse in Gestalt des Chaos entfaltet werden, die ein neues Risiko von Tod, Leiden, Sünde und selbstdestruierenden Dynamiken ausschließt. Dazu formuliert Barth selbst: Zum neuen Himmel und zu der neuen Erde aber wird nach Apoc. 21,1 auch das gehören, daß das Meer nicht mehr sein, d.h. daß der Mensch von aller und jeder Gefährdung seines Heils – und damit auch Gott von aller und jeder Gefährdung seiner Ehre endgültig und radikal befreit sein wird (KD III/1, 166).
Das in diesem Kapitel entfaltete eschatologische Modell konzentriert sich analog zu einer Schöpfung als Chaosbegrenzung auf die Aspekte einer Neuschöpfung als Chaosüberwindung. Die Zwischenüberlegungen zur biblischen Fortführung der Chaosbegrenzungslogik (2.2) und die Problematisierung eines diastatischen Verhältnisses von 63
Darauf weist eingehend hin: Moltmann, »Schöpfung, Bund und Herrlichkeit«, 194ff.
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung
Chaos und Ordnung (2.3) haben die Problemstellungen markiert, die es im folgenden zu beachten gibt: Die grundsätzliche Offenheit und Vulnerabilität der guten Schöpfung, deren auch die Chaosmächte ein Teil sind, kann als Gefährdung und Risiko, ebenso aber auch als Quell von Kreativität und Anregung für verschiedenste Selbstorganisationsprozesse der Schöpfung verstanden werden.64 Theologisch gesprochen: Die vielen biblisch beschriebenen Gefährdungslagen menschlichen und gemeinschaftlichen Lebens gestalten ebenso Gottes eigene Geschichte mit den Menschen. Gleichfalls bedarf es für die von Barth immer wieder bemühte Logik der Begrenzung des Chaos durch das Schaffen von Ordnung einer Hermeneutik, welche die Vorläufigkeit dieser Prozesse richtig einzuordnen vermag: Wie nicht jede Grenzziehung in der Welt den Schöpfungsintentionen Gottes entspricht, so hat umgekehrt auch nicht jede der guten Schöpfung zugehörige Ordnung und Begrenzung eschatologischen Bestand: Die Schöpfung ist der äußere Rahmen des Bundes, um den zu ermöglichen Gottes schöpferisches Handeln den Widrigkeiten des Lebens Einhalt zu gebieten versucht. Eine Eschatologie der Neuschöpfung widmet sich der theologischen Arbeit an der Utopie, dass diese Schöpfung einst zugunsten einer Neuen Schöpfung vergangen sein wird. Die Verheißung einer Neuschöpfung als endgültige Überwindung des Chaos darf daher nicht mit einer Durchsetzung einer alles bestimmenden Ordnung verwechselt werden. Dies ist in der Aufbrechung des Chaos-OrdnungDuals im vorigen Abschnitt hinreichend deutlich geworden. Sowohl die Hoffnungstexte der Bibel wie auch die theologische Tradition bieten ein breites semantisches Spektrum, welches die Transformation dieser Wirklichkeit zu beschreiben versucht: Diese Umbildungen werden mit einer Abkehr von jeglicher Gewalt und einer umfassenden Aufrichtung und stabilen Durchsetzung des Friedens verbunden (Jes 9.11). Ein solcher Friede, der keine Fragilität mehr kennt, stellt sich jedoch nicht allein durch einen wundersamen menschlichen Gewaltverzicht, sondern durch eine neue Art der Koexistenz alles Geschaffenen ein. Dies legt die Verheißung des eschatologischen Tierfriedens (Jes 11,6) nahe: Die Überwindung des dieses Leben mitbestimmenden Kampfes um Resourcenverteilung und Lebenssicherung angesichts endlicher Entfaltungsmöglichkeiten sowie eines wechselseitigen Misstrauens (Jes 11,8) bedarf daher gänzlich neuer Existenzbedingungen.65 Im 64
65
Die jüngsten Forschungen am Begriff der »Vulnerabilität« zeigen die Zweiseitigkeit dieses Phänomens: Vulnerabilitäten können Gefährdungspotenziale psychischer, sozialer und komplexer Systeme offenlegen; zugleich kann die bewusste Wahrnehmung, dass Leben vulnerabel ist, nicht nur zur Resilienzsteigerung, sondern auch zu kreativen Emergenzen anregen. Dies betrifft verschiedenste Aspekte des Lebens: Grundlegend anthropologisch Springhart, Der verwundbare Mensch, theo-politisch Hogue, »Ecological Emergency and Elemental Democracy: Vulnerability, Resilience and Solidarity« und ethisch Schweiker, »Vulnerability and the Moral Life: Theological and Ethical Reflections«. In ihrer Studie zu Schöpfung und Inkarnation erachtet Anne Käfer offensichtlich die scharfe Diskontinuität in der Neuschöpfungsterminologie bei Barth als Hindernis für eine angemesse-
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Folgenden soll daher den religiösen und theologischen Metaphern der Bedingungen des Lebens in der Neuen Schöpfung nachgegangen werden. Dies geschieht, indem drei prominente Symbole der Neuschöpfung auf ihre Transformationen im Gegenüber zu dieser Schöpfung hin befragt werden: Die Rede von einem Neuen Himmel und einer Neuen Erde (1.) stellt die Neueröffnung nicht nur einer neuen Wirklichkeit, sondern auch neuer Möglichkeiten vor Augen. Das Symbol der offenen Tore des Neuen Jerusalems (2.) verdeutlichen mithilfe räumlicher Metaphorik die risikofreien Bedingungen, die in der ungebrochenen Gegenwart Gottes keiner Sicherungen gegenüber einer äußeren Bedrohung mehr bedürfen. Und schließlich ist (3.) das Symbol des Neuen Lebens wiederum darauf hin zu befragen, wie die risikofreie Verwirklichung dieser neuen Lebensmöglichkeiten zu denken ist.
2.4.1 Symbol 1: Neuer Himmel und Neue Erde Die Hoffnung auf eine Neue Schöpfung im Bild eines Neuen Himmels und einer Neuen Erde impliziert die Hoffnung auf ein gemeinschaftliches Leben coram Deo in einer Wirklichkeit, die nicht mehr den Risiken ausgesetzt ist, denen sich jede Form kreatürlichen Lebens stellen muss: Stattdessen wird die Logik autopoietischer Selbstgefährdung im Lichte der alles umfassenden Gegenwart Gottes ausgesetzt. Darunter subsummiert sind schlechthin alle Selbst- und Fremdgefährdungen, die den guten Intentionen Gottes für diese Wirklichkeit in Gemeinschaft mit ihm zuwiderlaufen. Barth deutet diesen Gedanken für die Eschatologie an: Zum neuen Himmel und zu der neuen Erde aber wird nach Apoc. 21,1 auch das gehören, daß das Meer nicht mehr sein, d.h. daß der Mensch von aller und jeder Gefährdung seines Heils – und damit auch Gott von aller und jeder Gefährdung seiner Ehre endgültig und radikal befreit sein wird (KD III/1, 166). ne Entfaltung christlicher Eschatologie. Die scharfe Trennung von Versöhnung und Erlösung werde ihr zufolge dem lutherischen Realismus des simul iustus et peccator nicht gerecht. Eine Erlösung des Menschen ginge daher nur über einen »Identitätsverlust« vonstatten, der mit einer gänzlichen Negierung der »gottgewollten Vollkommenheit« der ersten Schöpfung einherginge (vgl. Käfer, Inkarnation und Schöpfung, 313). Was von Käfer offensichtlich an Barths Neuschöpfungsvorstellung für kritikwürdig erachtet, ist jedoch gerade im Blick auf die Härte der Theodizee die Stärke dieses Modells: Die erste Schöpfung, deren Güte auch hier nicht zu bestreiten ist, ist gerade keine vollkommene Schöpfung – weder auf einer naturalen, noch auf einer Ebene menschlicher Subjektivität. Die Erfahrung der verschiedenen mala (morale et naturale) kann aber kaum überzeugend mit einem Deutungsprozess, der in der Gleichzeitigkeit von simul iustus et peccator begründet liegt, aufgenommen werden. Stattdessen kann mit der theologischen Terminologie der Neuschöpfung eine Hoffnungsperspektive entfaltet werden, die eine tiefgreifende Bearbeitung der Theodizee in Aussicht stellt. Dass damit eine Umbildung naturaler, sozialer und menschlicher Existenz impliziert wird, ist der sachliche Schlüssel für dieses Kapitel.
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Für eine christliche Eschatologie, die anhand eines schöpferisch-neuschöpferischen Modells der Chaosüberwindung entwickelt wird, ist die Auferstehung Jesu Christi eines, wenn nicht das bildgebende Modell: Die Auferstehung bezeichnet die Überwindung des Todes, der Folge vielfältiger Dynamiken der Lebens- und Gottfeindlichkeit ist. Da Barth über weite Strecken seines Werkes die Auferstehung vielmehr als ein Bestätigungs- und Offenbarungsgeschehen, das den Sieg Gottes im Kreuz verkündet, versteht, ist diese Linie in der Kirchlichen Dogmatik nur spärlich ausgeführt.66 In Auseinandersetzung mit Barth und über ihn hinausgehend beschreibt jedoch Günter Thomas diesen Zusammenhang als Anheben und Vollendung der Rettung dieser Welt: Die in Christus anhebende und in der Macht des Geistes sich vollziehende Neuschöpfung ist die Vollendung der sich in ihm ereignenden Rettung des Menschen und des Kosmos. Die creatio nova ist die Vollendung der Schöpfung durch deren universale und vollendende Rettung. So ist die Neuschöpfung die Verwandlung der Schöpfung, die aus der Treue und Liebe Gottes in der Erfahrung mit seiner Schöpfung wächst. Die Rettung ist darin effektiv eine Vollendung, daß sie in einer unüberbietbaren Verwandlung besteht, welche eine weitere Rettungsbedürftigkeit ausschließt.67
Unter Aufnahme rabbinischer wie auch christlich-theologischer Überlegungen beschreibt Friedrich-Willhelm Marquardt dieses Neue als die Hoffnung auf einen Wandel von sog. Wirklichkeitsganzheiten. Marquardt bezeichnet mit diesem Begriff, der mit dem hebräischen Begriff der »olam« verwandt ist, den Zusammenhang von Lebensbedingungen und Facetten der Entfaltung gelebten Lebens.68 Die Erlösungsvorstellung eines Neuen Himmels und einer Neuen Erde zielen so auf die Neugestaltung der Dependenzen von Menschen und ihrer Umwelt: Die »Konstitution neuer Wirklichkeits-Ganzheiten führt zu neuer MenschenBildung; neue Welt bedingt neue Menschen«.69 Unter der Annahme, dass sich auch eschatologisches Leben als kreative Realisierung von Möglichkeiten abspielt und dass auch dort Prozesse der Veränderung initiiert werden, betont Marquardt die Konsequenzen, die solche veränderten Umweltbedigungen auf das Leben in dieser Neuen Schöpfung haben: dass »Ver66
67 68 69
Vgl. dazu das ernüchterde Fazit von Thomas zu den schöpfungstheologischen und neuschöpferischen Anschlussstellen bei Barth: Thomas, »Hoffen auf einen ›Neuen Himmel‹: Erwägungen zu einer Welt ohne die Macht der Nacht«; außerdem Moltmann, Theologie der Hoffnung, 43– 50. Anne Käfers Beobachtung, dass Barths Neuschöpfungsbegriff die physische Verfasstheit des Menschen nicht im Blick hat, fügt sich in das Bild ein, das sich aus ihrer Beschreibung von Erlösung im direkten Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung ergibt. Damit baut Käfer eine Brücke zwischen verschiedenen erlösungstheologischen Modellen, wie sie in dieser Studie dezidiert betrachtet werden. Vgl. Käfer, Inkarnation und Schöpfung, 310 passim. Thomas, Neue Schöpfung, 399. Vgl. Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?, 403–408. Marquardt, 407.
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hältnisse Verhalten beeinflussen«70 – »Alles neu, – neue Erde unter einem neuen Himmel, – neue Kreatur. Also: andere Lebensbedingungen für alle Geschöpfe, und damit: anderes Leben.«71 Damit einher geht die Erkenntnis, dass das Böse in der Welt nicht nur auf die Spirale menschlicher Gewalt zurückgeht. Vielmehr sind natürliche, zu dieser Schöpfung dazugehörende Dispositionen anzuerkennende, die jenseits moralischer Entscheidungen wurzeln und in prekärste Lebenslagen führen: Hungersnöte und Naturkatastrophen waren weit vor den moralischen Debatten um den menschlichen Einfluss des Klimawandels ein Brandherd für gesellschaftliche Konflikte im Kampf um das Überleben.72 Mimetische Spiralen der Selbsterhaltung und -behauptung, die als selbstverständliche Reaktionen auf jene Lebensbedingungen gelesen werden können, werden so nicht durch eine Umwertung menschlicher Leiden, sondern durch eine tiefe Verwandlung dieser Schöpfung ausgesetzt. Für eine materiale Eschatologie führt die Entfaltung des Gedankens einer Neuen Erde und eines Neuen Himmels nicht nur dazu, von einer neuen Wirklichkeit, sondern auch von neuen Möglichkeiten zu sprechen, die durch die Neuschöpfung aller Dinge eröffnet werden. Es ist die Eröffnung von Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten, die Menschen in dieser Schöpfung verwehrt oder geraubt wurden – sei es durch individuelle oder strukturelle Gewalt, einschneidende soziale, physische oder psychische Ohnmachtserfahrungen. Entgegen der auch den biblischen Texten wohl bekannten Sattheit des Alters73 darf christliche Eschatologie nicht den Blick auf die Lebensschicksale verlieren, denen ein gewisses Mindestmaß an Anerkennung, freier Entfaltung und dem Nachgehen eigener Ziele nie gegeben war. Gerade diesen Lebensschicksalen und ihrem Umfeld gegenüber wäre es fatal, die durchaus auch biblisch begründete Hoffnung auf neue zu erkundende Möglichkeiten in der Neuen Schöpfung lediglich als Folge menschlicher Ewigkeitsphantasie abzutun.74 70 71 72
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Marquardt, 417. Ebd. Von dieser Verflechtung des malum naturale und des malum morale zeugt eindrücklich die Josefs-Novelle, in der die Kompensation naturaler Engpässe zum zweifelhaften Verhalten der Brüder führt. Die Chaotisierung und der Entzug der Sicherung natürlicher Lebensgrundlagen befeuert so auch die Entwicklungen, die nicht nur die sozio-kulturellen, sondern auch die natürlich-biologischen Bedingungen des menschlichen Lebens betreffen. Vgl. Gen 35,29; Hi 42,17. Daher betont die eschatologische Hoffnung in Jes 65,20 die Marke von einhundert Jahren, die für ein gelingendes und gelungenes Leben nicht unterschritten werde. In diesem Text wird die Verschränkung eschatologischer Hoffnung und zeitlicher Erwartung plastisch. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die zweifach verschieden geschilderte Begegnung von Karl Barth und Heinrich Vogel, dessen Tochter Zeit ihres Lebens im Rollstuhl saß. Angesprochen auf die eschatologische Bearbeitung ihrer Beeinträchtigung gibt es zwei verschiedene Schilderungen von Barths Antwort: In seinen Tagebuchnotizen zum 17.10.1966 notiert Eberhard Busch: »Heinrich habe von seinem schwer behinderten Kind gesprochen und erklärt, die Erlösung werde darin bestehen, dass es dann ein Mensch sein werde, der unbehindert herum-
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Zugleich ist diesen Möglichkeiten nicht mehr das Risiko des Scheiterns an sich, an anderen Kreaturen oder an Gottes Intentionen eingeschrieben: Der Neue Himmel und die Neue Erde werden der Bedrohung der Chaoselemente nicht mehr ausgesetzt sein: Entgegen der libertarischen Free-Will-Defence, die zur Überführung von Möglichkeiten in Wirklichkeiten immer auch die Möglichkeit zur Wirklichkeit des Bösen voraussetzt, wird diese Möglichkeit in der Neuschöpfung von Himmel und Erde konsequent ausgeschlossen sein.
2.4.2 Symbol 2: Neues Jerusalem Das Symbol des neuen Jerusalems beschreibt eine literarische Ausgestaltung dieses Lebensraums: Das neue Jerusalem bezeichnet demnach nicht nur eine neue civitas, sondern beschreibt eine räumliche Umgebung dieser Gemeinschaft des Gottesvolkes.75 Dabei ist nach Barth für die biblisch geschilderte neue Stadt in Apk 21.22 die ungebrochene Gegenwart Gottes, wie auch die Anwesenheit der Völker und ihrer Herrscher in dieser Stadt kennzeichnend – während keine Nacht und keine Dunkelheit mehr sein wird und von dieser Warte aus auch keine Notwendigkeit mehr für das Schließen der Tore besteht.76 Auch diesen Gedanken deutet Barth in seiner Schöpfungstheologie an, indem er die Utopie des Neuen Jerusalems als kontrastierendes Bild zur Schöpfung als Chaosbegrenzung beschreibt: Es paßt zu dem damit angedeuteten Charakter der Nacht und ihres Verhältnisses zum Tage, wenn es in Apoc. 21,25 und 22,5 ausdrücklich heißt, daß
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rennen kann. Und er, Barth, habe vielmehr gemeint: Das dürfe aber nicht so gedacht werden, dass Gott heute einen Fehler gemacht hat, den er dann einmal korrigiere. Vielmehr wird dann das, was wir jetzt nicht sehen, ans Licht treten: dass Gott an dem Kind kein Fehler unterlaufen ist. Und das Hellwerden dessen ist dann seine Heilung« (Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 100). Heinrich Vogel schildert (ohne auch die andere überlieferte Version des Gesprächs zu unterschlagen): »Karl Barth, der ja auch in unserem Hause zu Gast war, kannte das Mädchen und verstand wohl, was es besagen wollte, als ich ihm im Zeichen meiner These von einem neuen Sein und Wesen, das wir in einer neuen Existenz zu erwarten haben, mit aller Bestimmtheit zurief: ›Sie wird laufen‹ ›Ja‹, antwortete er uns ›sie wird laufen, und sie wird bei Tisch ganz obenan sitzen, während wir beide, wenn wir überhaupt zugelassen werden, ganz unten zu sitzen kommen werden‹. – Wir schwiegen, und ich dachte im Stillen: also bejaht er doch das ontische Verständnis der eschatologischen Verheißung, die unsere Hoffnung auf ein neues Sein in einer neuen Existenz gerichtet sein läßt« (Vogel, Freundschaft mit Karl Barth, 60). Beide Überlieferungen zeigen deutlich die beiden Alternativen an, derer die ontische Veränderung einer Eschatologie der Neuschöpfung eine mögliche ist. Wenngleich der überwiegende Teil von Barths Äußerungen zweifelsohne die erste Überlieferungsvariante unterstreicht, so zeigt dieses Kapitel die Möglichkeiten einer durchaus an Barth anzuschließenden Eschatologie, die nicht primär eine noetische, sondern eine ontische Transformation der Wirklichkeit darstellt. Den Hinweis auf diese Doppelüberlieferung verdanke ich Gregor Etzelmüller. Vgl. zum Folgenden Grimm, Lebensraum in Gottes Stadt, 400 passim. Zur Metapher des Tages ohne Nacht vgl. Thomas, »Hoffen auf einen ›Neuen Himmel‹: Erwägungen zu einer Welt ohne die Macht der Nacht«.
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im himmlischen Jerusalem keine Nacht mehr sein werde. [...] Dieses Nebeneinander wird in der neuen Schöpfung aufgehoben, es wird in ihr wie keine Finsternis, so auch keine Nacht mehr ihre gefährdende, bedrohende Rolle spielen dürfen (KD III/1, 143).
Damit fällt einerseits die externe Bedrohung und andererseits auch die Not zur Sicherung, die immer auch Anreiz zur Abschottung und Ausgrenzung bietet. Das Neue Jerusalem stellt damit ein Kontrastsymbol zur Verfügung, das gleich zwei geschichtsträchtigen Katastrophen von Genozid und systemischer Exklusion entgegentritt: Es stellt einerseits für das in der Geschichte von Verfolgung und Unterdrückung immer wieder heimgesuchte Volk des jüdischen Glaubens einen Ort der Sicherheit dar. Ganz entschieden votiert Michael Grimm im Rahmen der Entfaltung einer christlichen Eschatologie für die primäre Bedeutung Jerusalems für Israel und umgekehrt. Die eschatologische Stadt sei ein offener, wie auch ein befreiter Ort, der eine Heimat für das verfolgte Gottesvolk und Befreiung von dessen unsäglichem Leiden biete: »Das neue Jerusalem als offener Lebensraum für Israel stellt in diesem Sinne sogar ein direktes eschatologisches Gegensymbol dar zu Auschwitz als dem Ort, der jüdisches Leben und Leiden in einem unvorstellbaren Maße negiert.«77 Dass der Erstadressat der Verheißung des Neuen Jerusalems Israel ist, bietet ferner jedoch keine Grundlage für einen Erwählungspartikularismus, der auch in einer nur partikular verwirklichten Erlösung gipfelt. Unter Beachtung der Tatsache, dass Jerusalem bis heute Brandherd für politische und kulturelle Konflikte ist, hebt Grimm deshalb andererseits die eschatologische Öffnung und die Überwindung der Notwendigkeit um Selbstbehauptung im Medium des Konfliktes um Territorium und Boden hervor. Das Neue Jerusalem steht dagegen im Kontrast zu den unterschiedlichsten politischen Bestrebungen, das heutige Jerusalem und seine symbolisch höchst bedeutsame Altstadt unter eine einheitlich politische und kulturelle Vormachtstellung einer der Konfliktparteien zu stellen. So betont Apk 21,24 die Offenheit der Tore und das friedvolle, aber nicht minder dynamische Miteinander der anderen Völker, das trotz der nicht verschlossenen Stadt weder durch Unreinheit, noch Gräuel und Lüge bedroht ist. Die kultische Reinheit des Neuen Jerusalems wird also nicht durch eine kulturelle Reinheit herbeigeführt. Grund hierfür ist nicht eine neue Gesinnung der Bewohner dieser utopischen Stadt, sondern die unverhüllte Präsenz Gottes, die als kosmisches Ereignis über alle Wirklichkeit hereinbricht.78 Barth selbst spielt eben darauf mit Blick auf die 77 78
Grimm, Lebensraum in Gottes Stadt, 400f. Der Frage nach der erlösenden Gegenwart Gottes widmet sich unter offenbarungstheologischer Perspektive das letzte in dieser Studie analysierte Modell. Es widmet sich der Frage nach der Vollendung von Gottes Selbsterschließung (vgl. Kap. 5).
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung
eschatologische Zurücknahme der Unterscheidung von Himmel und Erde durch das Firmament an: Der raqia’ als Schutzwall und Grenzfeste wird mit dieser Verwandlung offenbar überflüssig. Er kann also beseitigt werden, ohne, daß das für den unteren Kosmos das Ende aller Dinge bedeutet. Und auch für das Schauen Gottes von Angesicht zu Angesicht wird er dann das Hindernis, das er jetzt noch bedeutet, nicht mehr sein können (KD III/1, 158).
Das Neue Jerusalem zeichnet sich nicht nur durch seine Unangefochtenheit aus, sondern ebenso durch die Gegenwart Gottes, die jede Repräsentation seiner Herrlichkeit überflüssig macht: So werden die Sonne als Medialisierung des Lichts, das die Lebensgrundlage aller Geschöpfe ist, wie auch die Repräsentation des Bundes in Form des Tempels überflüssig. Diese direkte Präsenz verbindet Günter Thomas wiederum mit dem Ausfallen der dieser Schöpfung eingeschriebenen Bedrohungssituation, die in der alten Schöpfung durch die wiederkehrende Nacht symbolisiert ist: »Ohne die Rhythmik von Tag und Nacht eröffnet sich Gott selbst mit diesem Himmel ein neues Möglichkeitsspektrum der Gemeinschaft mit den Menschen.«79 Der Zusammenhang der eschatologischen Symbole des Neuen Himmels, der Neuen Erde und des Neuen Jerusalems wird von Thomas derart beschrieben, dass diese aufeinander aufbauen und das eine für das andere Bedingung ist: Die Neuheit der Stadt wird ja doppelt akzentuiert: Sie ist nicht nur als Neue Schöpfung geschaffen, sondern kommt darüber hinaus als im neuen Himmel vorgebildete auf die Erde nieder. Sie übersteigt das Spektrum der Möglichkeiten der »alten« Schöpfung von Himmel und Erde.80
Man könnte darüber hinaus an Barths Zuordnung von Schöpfung und Bund anknüpfen und so den Neuen Himmel und die Neue Erde als äußeren Grund des Neuen Jerusalems und umgekehrt das Neue Jerusalem als den inneren Grund der Neuen Schöpfung bezeichnen: Die so verwirklichte Kopräsenz von Neuschöpfung und Erfüllung des Bundes macht einen erneuten Fall unter die Dynamiken eines sich selbst gefährdenden und Gott fremden Lebens unmöglich. Die Überwindung des der alten Schöpfung eingeschriebenen Risikos zur Entwicklung und Entfaltung des Bösen ist nicht nur für die Menschen, sondern auch für deren Gemeinschaft mit Gott – und damit letztlich auch für Gott selbst – von Bedeutung. Theologisch zugespitzt bedeutet das, dass Gottes Erlösung nicht nur für die Schöpfung, sondern in der Universalisierung seiner Herrlichkeit im Neuen Jerusalem auch für diesen selbst zur einer Risikobefreiung führt. Die ewige Gegenwart Gottes ist dort keine angefochtene Gegenwart. Damit wird 79 80
Thomas, Neue Schöpfung, 503f. Thomas, 510.
Erlösungstheologie unter dem Symbol der Neuschöpfung
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nicht nur die Bedrohung durch das Chaos, sondern auch das letzte Risiko für Gott, das die in dieser Schöpfung noch offene Theodizee darstellt, überwunden sein.
2.4.3 Symbol 3: Neues Leben Die mit den eschatologischen Symbolen des Neuen Himmels und der Neuen Erde bezeichnete Eröffnung neuer Möglichkeitsspielräume findet ihr Gegenstück im Symbol des Neuen Lebens: Denn die verheißene Eröffnung solcher Möglichkeiten hat nur dann Sinn, wenn es auch eine Überführung dieser neuen Möglichkeiten in neue Wirklichkeiten gibt. Tatsächlich ist die Rede von einem Neuen Leben ein wesentliches Symbol, welches dem Missverständnis der Chaosüberwindung durch eine totale Ordnung entgegentritt: Theologisch muss das ewige Leben unterscheidbar bleiben vom ewigen Tod (vgl. Apk 21,8) – eine Unterscheidung, die m.E. nur wenigen individual-eschatologischen Theologien gelingt. Barth selbst und mit ihm eine Mehrheit der neuen evangelischen Theologie ist im Gefolge dogmatischer Remodellierungen in der Anthropologie zurückhaltend. Über weite Strecken des Argumentationsganges bei Barth ist die begrenzte Lebensspanne des Menschen und damit dessen Sterblichkeit als Manifestation seiner Endlichkeit ein Faktum, das Teil der guten Schöpfung Gottes ist.81 Daher votieren breite Passagen in Barths Dogmatik gegen Utopien eines vitalen, jenseitigen Lebens: Der Mensch als solcher hat also kein Jenseits, und er bedarf auch keines solchen; denn Gott ist sein Jenseits. Daß er, Gott, als des Menschen Schöpfer, Bundesgenosse, Richter und Retter sein schon in seinem Leben und endgültig, ausschließlich und total in seinem Tode treues Gegenüber war, ist und sein wird, das ist des Menschen Jenseits. Er, der Mensch als solcher aber ist diesseitig und also endend und sterbend und wird also einmal nur noch gewesen sein, wie er einmal noch nicht war. Daß er auch als dieser Gewesene nicht Nichts, sondern des ewigen Lebens Gottes teilhaftig sein werde, das ist die ihm in diesem Gegenüber mit Gott gegebene Verheißung, das ist seine Hoffnung und Zuversicht (KD III/2, 770f).
Darüber hinaus lässt sich jedoch ein weiterer Argumentationsfaden ausmachen: Barth unterscheidet in seiner Anthropologie zwischen dem Sterben als Phänomen der Endlichkeit des Menschen und dem Tod als Hereinbrechen des göttlichen 81
In Bezug auf die Zeitlichkeit des Menschen stellt Barth im Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf die Endlichkeit des Menschen als kategorischen Unterschied zur Ewigkeit Gottes fest. Vgl. KD III/2, 525ff. und dazu: Noordveld, Der Mensch in seiner Zeit und Springhart, Der verwundbare Mensch, 30–67, insbesondere: 58 passim. Ebenfalls erhellend ist ebenfalls die von E. Busch geschilderte Debatte zwischen Karl Barth und Jürgen Fangmeier vgl. Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 99ff.
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung
Gerichts. Hintergrund dieser Unterscheidung ist eine grundsätzlich zu beobachtende Ambivalenz: Sie geht hervor aus der Spannung aus einerseits schöpfungstheologisch zu würdigenden Begrenzung allen Lebens und andererseits aus der in der Todesangst zum Ausdruck gebrachten Befürchtung des Lebens verlustig zu werden. Diese Angst erscheint angesichts der drohenden Unmöglichkeit einer Entsprechung des gelebten Lebens zu seiner Bestimmung umso drängender.82 Tatsächlich wirft diese Unterscheidung Fragen auf: Ist der Tod und mit ihm die Sterblichkeit des Menschen Ausdruck der Erlösungsbedürftigkeit dieser Schöpfung oder ist er genuiner Teil der guten Intentionen Gottes? Das Modell der Schöpfung als Chaosbegrenzung bietet jenseits dieser Alternativen eine weitere Denkmöglichkeit, die im Kontext einer Neuschöpfung fruchtbar gemacht werden kann: Wird die zeitliche Begrenzung des menschlichen Lebens als Intervention Gottes gegen das exponentielle Wachstum der Gewalt unter den Menschen verstanden (Gen 6,3), kann sie sowohl als Teil der guten Schöpfung Gottes83 wie auch als eine vorläufige Grenzziehung verstanden werden, derer es in der Neuschöpfung nicht mehr bedarf: »Gott hat ihn [den Tod] bewaffnet, Gott kann ihn aber auch absetzen. Gott hat ihm Gewalt gegeben, Gott kann sie ihm aber auch wieder nehmen« (KD III/3, 740). Insofern ist der Tod des Menschen und aller Kreatur, wie auch die ihn zu Tode ringenden Mächte kein Faktum, mit dem es sich auch eschatologisch zu versöhnen gilt.84 Nur im Zeichen einer Neuschöpfung lässt sich schließlich dann auch die naturale Seite des Todes adressieren, deren Tragik weder im Lichte einer Vollendungs- noch im Kontext einer Versöhnungseschatologie realistisch wahrge82
83
84
Dagegen: Moltmann, Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens, 201: »Der Schmerz des Todes ist nur die negative Kehrseite der positiven Liebe zum Leben«. Eine kurze Übersicht über theologische Todesdeutungen und ihre ethischen Implikationen bietet Berner, »Todesdeutungen im Konflikt: Dogmatische und ethische Überlegungen zum Umgang mit dem Lebensende«. Vgl. dazu die Betonung der Endlichkeit als ausschlaggebend um »klug zu werden« in Ps 90,12. Der Duktus dieses Psalms liegt in der Kontrastierung der menschlichen Vergänglichkeit mit Gottes Ewigkeit, die dem Menschen in seinem »Werk der Hände« zur Gnade werden soll. Deutlich zu beobachten ist, wie dieser Psalm die Hoffnung auf eine neuschöpferische Zuwendung ausspart und vielmehr auf ein Geschick des gelebten Lebens und seiner Weitergabe in der nächsten Generation und dem von ihm hervorgebrachtem hofft (V. 16); vgl. Oeming und Vette, Das Buch der Psalmen: Psalm 90–151, 24f. Entsprechend votiert Stephan Schaede mit Blick auf Krankheit und die Endlichkeit des Menschen: »Krankheit ist nicht bloß Kennzeichen der Endlichkeit des Menschen. Sie demoliert seine Endlichkeit und schnürt sie mehr ein, als es einem guten maßvollen Maß entsprechen würde. Deshalb ist Krankheit ein Übel. Sie ist nichts anderes als dies. Und als solche gehört sie bekämpft. Es wird hier also die umstrittene These vertreten, dass christliche Lebenskunst im Blick auf Krankheiten nicht auf die Formel ›Widerstand und Ergebung‹ gebracht werden kann. Vielmehr gilt: Widerstand gegen die Krankheit ist richtig« (Schaede, »Endliches Leben, endliche Krankheit und unendliche Hoffnungen?«, 45). Die Pointe dieser Argumentation ist eine Anerkennung der Endlichkeit, die sich jedoch nicht in der drastischen und oftmals dramatischen Tragik von Krankheit und Tod manifestiert. Mit diesen Übertreibungen der Begrenztheit des menschlichen Lebens ist weder ethisch noch eschatologisch Frieden zu stiften.
Erlösungstheologie unter dem Symbol der Neuschöpfung
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nommen wird. Die Auferweckung der Toten vereint dann diese zwei Seiten einer Medaille: Die Überwindung der Chaosmacht des Todes und zugleich die Zurücknahme der zeitlichen Begrenzung des Lebens. Sofern im christlichen Glauben diese Hoffnung auf die Neue Schöpfung bereits in diesem Leben artikuliert wird, kann tatsächlich auch jetzt schon von der Gabe des Neuen Lebens gesprochen werden, das über die Zerrüttungen, Hemmungen und Gefährdungen dieses Lebens hinaus Grund zur Hoffnung auf die Eröffnung neuer Lebensmöglichkeiten in der Gegenwart Gottes hat.
2.4.4 Chaosüberwindung als Risikobefreiung Die entscheidende Erkenntnis für die Entfaltung der Eschatologie aus der Beschäftigung mit verschiedenen Zugängen zu Phänomenen des Chaotischen ist die Unterscheidung zwischen riskantem, Unsicherheiten beförderndem Chaos sowie anregender, vitalisierender und restrukturierender Offenheit. Damit ist die zentrale Modellproblematik für eine Erlösungstheologie der Neuschöpfung in Anschluss an Barths Schöpfungstheologie beschrieben. Der Grat zwischen beiden Alternativen ist schmal – und umso schwerer ist eine Entfaltung, die die Vorstellung einer Vitalität des neuen Lebens ohne die Gefahr eines neuerlichen Falls unter die Macht von Sünde und Tod imaginiert: Damit steht nicht nur die Lebendigkeit, sondern auch die Freiheit der befreienden Erlösung auf dem Spiel. Die Auseinandersetzung mit der Chaostheorie hat die Folge der Offenheit und Unvoraussagbarkeit der Entwicklung eines Systems als wichtige Parameter für die Beschreibung hochkomplexer, dynamischer Prozesse hervorgehoben. Die Schwierigkeit für die Entfaltung einer Eschatologie des Neuen Lebens liegt daher darin, dass prozessuale Offenheit unter geschöpflichen Bedingungen immer dem Risiko eines existentiellen Scheiterns steht: Wie der gänzliche Entzug grundlegend existentieller Erwartungssicherheiten zu einer völligen Stagnation des Lebens führt,85 so ist auch umgekehrt die forcierte Dekonstruktion der das Leben strukturierenden (und somit qualitativ unterscheidenden) Ordnungsmuster keine befriedigende Lösung: Miroslav Volf hält daher die Inklusion als falsche Alternative zu lebenszerstörenden Exklusionen: »Eine konsequente Verfolgung von Inklusion stellt einen vor die Grenze der tragischen Entscheidung zwischen einem Chaos ohne Grenzen und der Unterdrückung mit ihnen.«86 . 85
86
Der sozialwissenschaftliche Diskurs zur »Präkarisierung« untersucht eben diesen Entzug und die damit einhergehenden Folgen. O. Marchart unterscheidet diesbezüglich in fünf verschiedene Dimensionen: (1) reproduktiv-materiell, (2) sozial-kommunikativ, (3) rechtlich-institutionell, (4) Anerkennungsentzug in Folge von Abstieg in Dimension (1) und (2) und letztlich (5) arbeitsinhaltlicher Sinnverlust (vgl. Marchart, Die Prekarisierungsgesellschaft: Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung, 11). Offensichtlich ist, dass der Entzug von Erwartungssicherheiten mit materiellen, sozial kodierten und selbst zugeschriebenen Konsequenzen einhergeht. Volf, Von der Ausgrenzung zur Umarmung, 74f.
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung
Eine theologische Annäherung an die Rede vom Neuen Leben kann daher nur über die Utopie einer risikobefreiten Offenheit des zu lebenden Lebens erreicht werden. Damit wird jedoch eine Integration zweier unter den gegebenen Bedingungen inkommensurabler Parameter angestrebt. Die Rede vom Neuen Leben als risikobefreiter Offenheit unterscheidet sich dahingehend von einer naiven, jenseitigen Verdoppelung dieser Welt in einem Jenseits, sofern sie ihres Bezugsgegenstandes selbst nicht gewahr werden kann: Mit eschatologischen Symbolen wird auf einen Hoffnungsgehalt verwiesen, der weder dieser Wirklichkeit so gegeben ist, noch aus dieser abgeleitet werden kann. Eine Eschatologie der Chaosüberwindung steht daher paradigmatisch dafür, dass die Bilder, auf die eine theologische und religiöse Entfaltung des Erlösungsthemas zurückgreifen, einen Aspekt der Negation in sich aufnehmen – ohne dabei selbst in einer rein negativen Theologie aufzugehen. In seiner ökologischen Schöpfungslehre greift Jürgen Moltmann auf verschiedene »Symbole der Welt« zurück.87 Dabei nimmt insbesondere das Bild des Spiels die Problematik von Offenheit, Kontingenz und Risiko auf: Die tief empfundende[sic!] Kontingenz der Welt überhaupt und die immer wieder erfahrene Kontingenz von Ereignissen in der Welt verlieren ihren Schrecken für den Menschen, wenn er sie als Teil des großen Spiels ansieht, das mit der Welt in der Evolution und mit ihm selbst in seiner Lebensgeschichte gespielt wird. Es mag ihm oft als »grausames Spiel« erscheinen, wenn er nicht einer Vorsehung vertrauen kann.88
In der dazugehörigen Anmerkung wendet sich Moltmann explizit gegen eine Gleichsetzung von Kontingenz und Chaos. Stattdessen unterscheidet er zurecht zwischen einer Kontingenz im kontrollierbaren Naturgeschehen und Existenzrisiken, mit denen er vor allem Krankheit und Tod vor Augen hat. Dennoch bleibt offen, wie er letztere unter die unzweifelhafte Güte Gottes integrieren kann – zugespitzt lässt sich fragen: Was für ein Spiel ist das, das Gott auf der Intensivstation mit seinen Geschöpfen spielt? Nach welchen Kriterien ergeben sich Gewinner und Verlierer? Dennoch lässt sich dieses Bild für eine Eschatologie der Neuschöpfung verwenden, nämlich genau dann, wenn ein Spielverständnis zugrunde gelegt wird, das die theistische Vorstellung eines spielenden Gottes zugunsten eines gemeinsamen Spieles mit wandelnden Akteuren überwindet. Mit Moltmann lässt sich damit auf eine eschatologische Kokreativität des Neuen Lebens hinweisen: Der Erlöser spielt mit der geliebten Seele ein wunderbares Liebesspiel, um sie in Freiheit zu erlösen. Im Spiel der Erlösung vollendet sich eine Eigenart 87 88
Vgl. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 300 passim. Moltmann, 313. Vgl. dazu auch Moltmann, Die ersten Freigelassenen der Schöpfung.
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des schöpferischen Spielens des Menschen mit der Welt, denn immer ist das Spielen des Menschen mit der Welt auch ein Spielen der Welt mit dem Menschen. In seiner Kunst schafft und empfängt der Mensch zugleich.89
Aus dem Bild der Schöpfung als Spiel wird in der Erlösung eine Welt, die ihren Spielraum in der Gegenwart Gottes findet. Um das neue Leben als ewiges Leben theologisch von einem ewigen Tod unterscheidbar zu machen, sind »Notwendigkeit und Zufall, Gesetzmäßigkeit und Freiheit, Wirklichkeit und Möglichkeit, Vergangenheit und Zukunft« als Bestandteile dieses Spiels in Gott zu betonen.90 Dennoch können Spiele verloren gehen; gerade aus dieser Bedingung heraus werden ja komplexe Strategien entwickelt, welche mitunter die Spielfreude steigern können. Aber auch darin kann das Bild weitergedacht werden: Das Spiel ist im Idealfall den existentiellen Risiken des Lebens enthoben – es ist ja nur ein Spiel. Insofern bietet es Möglichkeiten, die Risiken und Bedingungen geschichtlicher Existenz zu transzendieren, neue Regeln zu entwerfen, Wege zu gehen und Ziele zu verfolgen. Spiele sind nicht ohne Struktur: Spieler können Bündnisse eingehen oder sich im Wettstreit vor Herausforderungen stellen. Auch Rivalen eines Spiels spielen miteinander und füllen gemeinsam einen Spielraum. Freilich führen bestimmte Koppelungen (z.B. in der Form des Wettspiels) zu einer Entgrenzung der gespielten Kontingenzen – ein verlorenes Wettspiel mit übermäßigem Einsatz führt ja gerade dazu, die Offenheit des Spiels mit existentiellen Risiken zu verbinden. Das Neue Leben im Neuen Jerusalem kann über die klassischen bzw. biblischen eschatologischen Symbole hinaus als ein solches Spiel imaginiert werden, das dem Risiko eines lebensbedrohenden Chaos enthoben ist, und das in der sicheren Gegenwart Gottes zu einem kokreativen Zusammenspiel der Kreaturen mit ihrem Schöpfer führt. So wird mit Mt 10,28 in der Gabe des Neuen Lebens gerade auch den Geschöpfen, die im alten Leben scheinbar alles verloren haben, die Entdeckung neuer Möglichkeiten und Entfaltung eigener Wirklichkeiten zuteil.
2.5 Leben zwischen Schöpfung und Neuschöpfung Sagen und Utopien wirken auf die, die sie erzählen und hören. Auch die Sage der Schöpfung als Chaosbegrenzung sowie die Utopie der Neuschöpfung als Chaosüberwindung implizieren ein orientierendes Verständnis für das gelebte Leben, das ethischen und kulturhermeneutischen Beobachtungen als Sinnstruktur zugrunde gelegt werden kann. In einem letzten Schritt sollen daher einige fundamentalethische und kulturhermeneutische Konkretionen folgen, womit 89 90
Moltmann, Gott in der Schöpfung, 313 [Hervorheb.: B.F.]. Ebd.
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung
gezeigt werden kann, worin die Orientierungsleistung dieses Modells liegt. Mit Blick auf den differenzierten Zusammenhang von Schöpfung und Erlösung weist auch Barth selbst auf diese Orientierungsleistung hin: Man wird aber darüber hinaus sagen müssen, daß hier auch der notwendige Zusammenhang zwischen Schöpfung und neuer Schöpfung, zwischen der geschaffenen Zeit und der Endzeit, der diese entgegengeht sichtbar wird. Gott hat die Zeit nicht ohne diesen Bezug auf ihr eigenes Eschaton geschaffen. Er hat sie, indem er sie schuf, zur Hoffnungszeit gemacht (KD III/1, 146).
Die damit angedeutete Orientierungsleistung dieses Modells ist im Hinblick auf die Ethik plausibilisierbar: Eine Ethik, die sich als christliche Ethik zwischen Schöpfung und Neuschöpfung versteht und die sich von der Metaphorik der Chaosbegrenzung und -überwindung leiten lässt, lebt einerseits aus einer schöpfungstheologischen Perspektive, die für geschöpfliche Lebensmöglichkeiten dankbar ist und zugleich um deren stete Bedrohung, Fragilität und Vulnerabilität weiß. Andererseits hat eine solche Ethik die eschatologische Verheißung einer Neuschöpfung und die damit einhergehende Vorläufigkeit aller guten, bedrohten, aber auch bedrohenden Institutionalisierungen als Erwartungshorizont. Der Ort für eine christliche Ethik in diesem Sinne ist zwischen den Zeiten.91
2.5.1 Wachsame Dankbarkeit für die Schöpfung Für eine Ethik der Chaosbegrenzung ist es zunächst sinnvoll, sich Barths Konzept von Evangelium und Gesetz zu vergegenwärtigen.92 Wie Alexander Maßmann nachgewiesen hat, bietet dieses von Barth entwickelte Gefüge in mehrfacher Hinsicht Verständigungs- und Orientierungsmöglichkeiten für die christliche 91
92
Jürgen Moltmann hat gegen ein zeitliches und damit auch sachliches Auseinanderfallen von Gegenwart und Zukunft den »adventlichen Begriff der Zukunft« hervorgehoben und zielt damit auf die lebens- und wirklichkeitsbestimmende Bedeutung des »Kommens Gottes« für diese Gegenwart; vgl. Moltmann, Das Kommen Gottes, 39. Vgl. Barth, Evangelium und Gesetz und dazu grundlegend Klappert, Promissio Und Bund. Das Potenzial der Denkfigur einer enhypostatischen Einheit von Evangelium und Gesetz skizziert Demut, »Art. Evangelium und Gesetz«: »Auch für die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung christlicher Kirchen in unserer zunehmend pluralistisch strukturierten Welt markiert die Besinnung auf ein recht verstandenes Verhältnis von Evangelium und Gesetz eine Möglichkeit, jenseits von billiger Affirmation an bestehende Verhältnisse einerseits oder wohlfeiler Selbstghettoisierung der Kirche andererseits Formen politisch-gesellschaftlichen Engagements zu gestalten, die einem durch das Evangelium formierten Gesetz entsprechen, ohne dass dabei die ideologiekritisch, um nicht zu sagen: heilsrelevante Distanz zwischen ›letzten‹ und ›vorletzten Dingen‹ [...], zwischen Gott und Mensch, zwischen Heil und Wohl, zwischen Kirche und Welt, zwischen Religion und Politik aus dem Blick gerät« (Demut, 366). In diese auflistende Gegenüberstellung fügt sich die enhypostatische Verbindung von Neuschöpfung und Schöpfung, von Chaosüberwindung und Chaosbegrenzung fließend ein.
Leben zwischen Schöpfung und Neuschöpfung
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Ethik: Zum Einen überwindet es die schroffe Grenze zwischen theologischer und allgemeiner Ethik, ohne dabei eine distinkt theologische Begründung vermissen zu lassen. Zum Anderen bietet es ein theoretisches Instrumentarium, die Spannung einer Prinzipien- und einer Folgenverantwortungsethik zu achten und die Gnade des Evangeliums im Lichte konkreter, empirischer Sachverhalte zur Sprache zu bringen.93 Zusammenfassend urteilt Maßmann: Trotz problembelasteter Ansätze bei Barth erweist sein Konzept von Evangelium und Gesetz über den unzureichenden Dual von »Zwei-RegimentenLehre« und »Königsherrschaft Christi« hinaus. Denn es umfasst ein emanzipatorisches Potenzial, das, sofern man es nicht durch falsche Allmachtsaffirmationen entstellt, wie Barth es bisweilen tut, die orientierende Substanz des christlichen Glaubens in die ethische Entscheidungsfindung einzubringen vermag, ohne in eine fideistische Isolation zu geraten, die moralische Verständigung über Glaubensdifferenzen hinweg unmöglich macht.94
Wenngleich Barths eigenes Interesse an einer genuin pluralismusfähigen Ethik mit großer Wahrscheinlichkeit eher hintergründig war, ist sein Bestreben um die Vermittlung empirischer ebenso wie generalisierbarer Sachverhalte und theologischer Positionierung bedenkenswert. Greifbar wird dies in den schöpfungsethischen Ausführungen in KD III/4 und dem Versuch, der empirischen Wirklichkeit und den Anforderungen des zu gestaltenden Lebens gerecht zu werden. Wenngleich Barth der Vorstellung essentialistischer Schöpfungsordnungen reserviert gegenübersteht,95 so stellt die Vorstellung einer prozessualen Schöpfung als Chaosbegrenzung und Ordnungsstiftung doch konstruktive Möglichkeiten für eine dezidierte Schöpfungsethik bereit. Denn die Bedeutung der Schöpfung als äußerer Rahmung des Bundes impliziert eine Sachgemäßheit, die weder prinzipiell integrierbar noch abstrahierbar ist: Indem der Mensch an der Wirklichkeit teil hat, ist er zugleich fundamental auf Bedingungen und Möglichkeiten angewiesen, die sein Handeln und Erleiden mitbestimmen. Diese Bedingungen sind jedoch nicht deterministisch zu verstehen. Vielmehr zeichnet sich Schöpfung gerade durch die kontingente, freie Ermöglichung lebensdienlicher Daseinsgestaltung aus.96
Diese Ermöglichung lebensdienlichen Daseins ist aber fragil und gerade die Entfaltung des Lebens manifestiert zugleich die selbstgefährdenden Potenziale. Das dynamische, schöpferische Handeln Gottes, das sich immer wieder in unterschiedlicher Weise den Bedrohungen seiner Schöpfung annimmt und neue Mög93 94 95 96
Vgl. Maßmann, Bürgerrecht im Himmel und auf Erden: Karl Barths Ethik, 334 passim. Maßmann, 331. Vgl. dazu kritisch Janowski, »Zur paradigmatischen Bedeutung der Geschlechterdifferenz in K. Barths ›Kirchlicher Dogmatik‹«. Maßmann, Bürgerrecht im Himmel und auf Erden: Karl Barths Ethik, 340.
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lichkeiten der Lebenssicherung auf den Plan ruft, zeugt dagegen von einer außerordentlichen Sensibilität für die Verletzlichkeiten geschöpflichen Lebens. Es optiert für die Ermöglichung von Lebensentfaltung, ohne dabei in die Unzumutbarkeiten eines Vitalismus zu gleiten. Die in den biblischen Schöpfungsund Bewahrungstraditionen beschriebene Zurückdrängung und Eindämmung chaotischer Mächte durch physische, moralische, kultische Grenzziehung und Ordnungsstiftung geschieht im Modus der immer wieder neu die Situation zu beurteilenden und die Notwendigkeit neuer Grenzen vorsichtig auslotenden Reagierens des Bundesgottes Israels. Dieses Leitbild kann für ethische Positionierungstendenzen ausschlaggebend und zur umsichtigen Gestaltung christlicher Verantwortung in Kirche und Welt anleitend sein. Gerade in Bezug auf die ethischen Grenzfälle des Lebens kann Barths Schöpfungslehre ihre Stärken ausspielen, indem diese Entscheidungstendenzen nicht prinzipiell, sondern kontextsensibel entfaltet werden.97 Die Schwierigkeit der Beurteilung solcher Grenzfälle liegt in einer Hermeneutik der Chaosbegrenzung: Nicht die Auseinandersetzung eines kämpferischen und streitenden Gottes, sondern die Güte, die aus dieser Auseinandersetzung hervorgeht, ist theologisch ausschlaggebend: Wohin führt diese? Wolf Krötke problematisiert in noch grundsätzlicherer Weise als Maßmann die ethische Rezeption der Vorstellungen von Schöpfungsordnungen, die dem Chaos wehren wollen: »Ohne zu zeigen, wo die Sicherung vor dieser Gefahr liegt, kann von ›Schöpfungsordnungen‹ in unserer Zeit verantwortlich eigentlich gar nicht mehr die Rede sein«.98 Während Maßmann stärker die Eröffnung von Lebensmöglichkeiten als Absicht des Schöpfergottes hervorhebt und von dorther auf die pneumatologische Frage nach einer differenzierten Gegenwart des Geistes überlenkt, schärft Krötke den Blick für die christologische Imprägnierung von Barths Schöpfungslehre und -ethik. In der gegenseitigen Rahmung von Schöpfung und Bund liegt eine theologische Lösung bereit, einer moralisierenden Willkür im Kontext einer Schöpfungslehre zu widerstehen: Das Ja Gottes zu seiner Schöpfung wird nicht in funktionalen Ordnungen, sondern in der Gemeinschaft Jesu Christi deutlich: »Der Glaube an Jesus Christus und die Hoffnung auf sein Reich befähigen Christen, sich an diesem Widerstand durch ihr eigenes Ordnen der Welt zu beteiligen«. 99 Das Modell der Chaosbegrenzung weist so über sich selbst hinaus, indem es in der Christologie eine notwendige Konkretion erfährt, 97
98 99
Vgl. das Kapitel zur Ethik der Schöpfungslehre bei Maßmann, Bürgerrecht im Himmel und auf Erden: Karl Barths Ethik, 199 passim. Darin werden Barths ethische Ausführungen zu Feiertagsgebot, Schwangerschaftsabbruch, Todesstrafe und Kriegs- und Friedensethik diskutiert und analysiert. Krötke, »Schöpfungsordnugen im Licht der Christologie: Zu Karl Barths Umgang mit einem unabweisbaren Problem«, 158. Krötke, 169.
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die Barth selbst in der Beschreibung des Menschen als Wesen in Gemeinschaft aufzunehmen versucht hat.100 Tatsächlich sind damit die beiden Anschlussstellen für eine Ethik der Chaosbegrenzung aufgezeigt: Eine christologische (Krötke), die stärker auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und die Solidarisierung Gottes mit seiner Schöpfung eingeht, und eine pneumatologische (Maßmann), die in der Eröffnung von Lebensmöglichkeiten die Gabe des schöpferischen Lebensatems Gottes in der Welt hervorhebt. Damit lässt sich eine geschärfte ethische Wahrnehmung von christusgemäßem Leben entwickeln, das sowohl aus der Fülle der guten Lebensmöglichkeiten in Gottes Schöpfung lebt (»unser täglich Brot gib uns heute«) als auch auf die beständige Zuwendung der Gnade Gottes (»und vergib uns unsere Schuld«) angewiesen bleibt.
2.5.2 Möglichkeitsräume als Gleichnisse der Neuschöpfung So wie es verschiedene Äußerungen und Lebensformen gibt, die für einen bestimmten Ausdruck der Dankbarkeit für geschaffene und lebensförderliche Chaosbegrenzung sowie für das Bangen um die Erwartungssicherheiten solcher Umgebungen stehen, so gibt es andere Aspekte des Lebens, die unter bestimmten Voraussetzungen bewusst auf die Ausklammerung funktionaler und geregelter Ordnungen setzen. Sie können innerhalb dieses theologischen Modells als Gleichnisse einer Neuschöpfung verstanden werden, die (selbst innerhalb bestimmter Grenzen) eine risikofreie Offenheit ermöglichen und verwirklichen, die selbst nicht von der agonal Auseinandersetzung und dem Ringen um Recht und Unrecht, Ordnung und Chaos oder Gelingen und Scheitern gekennzeichnet sind. Ich schließe die Beschreibung dieses erlösungstheologischen Modells daher mit Überlegungen ab, die nach einer Ethik im Horizont der Hoffnung auf die Neuschöpfung fragen und damit entscheidende Erkenntnisse dieses Kapitels bündeln und kulturhermeneutisch validieren. Die in diesem Abschnitt beschriebenen Gleichnisse sind signifikante Wirklichkeiten, deren Medium sich von der bezeichneten Wirklichkeit unterscheidet. Theologisch gesagt: Die Unterscheidung von Schöpfung und Erlösung wird im Modus des Gleichnisses nicht hinfällig, sondern gerade gewahrt. Innerhalb dieser von Leiden und Tod bedrohten Schöpfung ereignen sich hoffnungsvolle Momente von außerordentlicher Dynamik, die idealerweise aufgrund ihres vorläufigen (und experimentellen) Ausschlusses existentieller Risiken einen Geschmack für das Neue Leben in der Neuen Schöpfung geben können. Als Vorzeichen in einer noch unerlösten Welt können diese immer nur partiell, vorläufig und in ihrer Bedeutung und Dauer begrenzt auftreten. Dies ist jedoch 100
Dem entspricht die anthropologische Einsicht Barths, dass der Mensch nicht als, sondern »zu Gottes Partner in der Geschichte, auf die seine Schöpfung zielt« geschaffen ist (KD III/2, 386).
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kein Hinderungsgrund, sie nicht nur als Zeichen einer guten und vielfältigen Schöpfung zu würdigen, sondern in ihnen heilsame und heilbringende Momente zu sehen, die jenseits ihrer lebensbejahenden Funktion auf die gänzliche Überwindung verschiedenster Bedrohungsszenarien in Gottes erlösendem Handeln verweisen. In seinen biblischen Exkursen weist Barth mehrfach auf die eschatologische und ereignishafte Überwindung der Ordnungen und deren Qualifizierung hin. So führt er über den Begrenzungswall zwischen Himmel und Erde aus: Daß er als solcher nicht schlechthin starr ist, sondern auch abgesehen von jenen Luken und Fenstern eine Pforte hat, deren Öffnung dann nicht Unheil, sondern Heil bedeutet [...], ja daß er sich geradezu im Sinn einer Offenbarung Gottes auftun kann [...], das ist im Alten Testament verhältnismäßig vereinzelte, dem Neuen Testament aber eine sehr geläufige Anschauung. [...] Es hängt aber offenbar Alles daran, daß er so und nur so geöffnet wird, wie ihm dies in der Person Jesu und im Werk des Heiligen Geistes widerfahren ist– und alles daran, daß eben diese einzigartige Öffnung des Himmels dann auch für seine endliche Aufhebung, für seinen Ersatz durch einen neuen Himmel entscheidend ist (KD III/1, 157f.).
Drei Beispiele sollen im Folgenden exemplarisch für jeweils eine Dimension des Lebens stehen, in denen provisorisch Räume der Risikobefreiung entstehen. Diese bilden – trotz ihrer unterschiedlichen Situierung auf (1.) poimenischem, (2.) kunsttheoretischem und (3.) politischem Feld – vergleichbare Strukturen aus, indem sie allesamt eine Umgebung schaffen, die zugunsten bestimmter Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten die im täglichen Leben dominante Agonalität von Ordnungsmustern und Chaosbedrohungen temporär und partikular überwinden. Als erstes Beispiel einer dem Lebensalltag enthobenen Umgebung, die risikofreier Offenheit zuträglich ist, soll idealtypisch das seelsorgliche Gespräch genannt werden:101 Um das eigene Leben, dessen Nöte, Vulnerabilitäten, Sorgen, Ängste und Gefahren, aber auch die darin entwickelten Resilienzen, Sicherungen, Grenzen und damit die eigene Identität zum Thema zu machen, braucht es eine Situation, die selbst dieser Lebensdramatik entzogen ist. Um über Sorgen und Ängste zu sprechen, kann der Gesprächsraum in der Seelsorge einen provisorischen, zeitlich begrenzten Raum gewähren, der diese Dynamiken zwar einerseits 101
»In dem sinnhaften Sinnspiel der Seelsorge können nahezu unendlich viele Sinnpfade beschritten werden. [...] Das Mögliche kann in der Seelsorge als Wirkliches eingebracht werden. Religiöse Sinnangebote des christlichen Glaubens offeriert, die konkrete Lebenswirklichkeit coram Deo zu konstruieren. Die Inszenierung des Evangeliums ereignet sich – analog dem vieldimensionalen Kommunikationsgeschehen – in vielerlei Gestalt und erfordert vom Seelsorger eine Präsenz, die prinzipielle Offenheit und dynamische Performanz der Interaktion im Blick hat« (Kossatz, Zeichen im System, 533). Vgl. zu diesem Abschnitt insgesamt Kossatz, 507–533.
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ernst nimmt und sie versprachlicht zum Gegenstand macht, der sich aber der unmittelbar existentiellen Affiziertheit durch diese zu entziehen vermag: Erst vor den aus einer zerrütteten Beziehung zu einem einst geliebten Menschen erwachsenden Anfeindungen geschützt, können diese Anfeindungen und Verletzungen zum Thema werden. Vulnerabilitäten des menschlichen Lebens und erlebte Verwundungen können für einen Moment plastisch werden, ohne sich dem neuerlichen Risiko weiterer Verletzungen auszusetzen. Durch die Signalisierung einer bedingungslosen Annahme eines Menschen jenseits allen Rechtfertigungsdrucks kann die Sorge um Anerkennung und Würde gegenständlich werden, ohne selbst wiederum in die Spirale eines Rechtfertigungsdrucks zu führen. Damit zusammen hängt die Kompetenzanforderung an SeelsorgerInnnen, eine gesteigerte Sensibilität für diese individuellen Risiken zu entwickeln. Für diese gilt es drei Bedrohungsrichtungen im Blick zu behalten: Zum einen gilt es nicht selbst bspw. durch Achtungsentzug in Folge moralischen Urteilens zum Risiko für das Gegenüber zu werden. Wo dies trotz der Verheißung einer vermeintlich sicheren Umgebung geschieht, vergreifen sich Seelsorgende in besonders missbräuchlicher Weise an ihrem Gegenüber. Gleiches gilt zum anderen für die Rahmung und Umgebung des Gesprächs, die bis hin in die leiblichen Belange führt. Vor dem Hintergrund eines Gleichnisses risikofreier Entfaltungsräume wird die nicht zu unterschätzende Bedeutung der basal-naturalen Umwelt der Seelsorge plastisch: Ein bedrängender Raum, monumental einschüchternde Einrichtung und Positionierung der Gesprächspartner, oder unangenehme Temperaturen sind schwerlich Zeichen einer pastoraler Gastfreundschaft; sie können auch (durchaus unbewusst) die Atmosphäre eines sicheren Gesprächraums infrage stellen, wenn sich in ihnen das Gefühl der Beklemmung, Unbehaglichkeit oder gar körperlicher Bedrohung verdichtet. Zuletzt kann aber auch das Seelsorgesubjekt selbst zum Risiko werden, wenn es die Nöte des eigenen Lebens bspw. als Reinsteigern in lebensbestimmende Ängste in das Seelsorgegespräch selbst induziert und sich so selbst zur Gefahr wird. Wird die poimenische Situation unter eschatologischen Gesichtspunkten verstanden, so ist es durch eine gute Vorbereitung, Schulung und aufmerksame Präsenz der Seelsorgenden, deren Herausforderung diese Symptome, Katalysatoren oder Repräsentationen einer gefallenen Welt nicht zu verneinen, aber deren unmittelbare Bedrohung im Raum der Seelsorge nicht zuzulassen. Darin besteht die Verantwortung der Seelsorgenden, die in der Hoffnung auf Gottes vergebende, gnädige und erneuernde Liebe ihren Dienst verrichten. Als Raum in einer risikobedrohten Schöpfung bleibt jedoch auch der Seelsorge ein nicht unerhebliches Risiko mitgegeben: Seelsorge ist als eine bestimmte Form der Kommunikation dem Risiko des Missverständnisses ausgesetzt. Fragen, Aussagen und Meinungen können anders als intendiert aufgefasst werden. Das bleibende Risiko der Seelsorge ist das Missverständnis, welches zu neuem Konflikt führt.
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Ein zweites Beispiel lässt sich in kunsttheoretischer Hinsicht ausmachen: Mit der Betonung der Autonomie des Kunstwerks werden funktionale Ordnungen (ästhetisch: schön/hässlich; technisch: gut/schlecht; politisch: konform/revolutionär)102 und drohende Infragestellung künstlerischer Geltung überwunden.103 Spielräume von Kultur, die sich explizit den Anforderungen technisch gelungener, lebenshermeneutisch Tiefen erschließender oder pädagogisch tauglicher Kunst entziehen, müssen so nicht nur als avantgardistische Experimentierfelder verstanden werden. Sie können ebenfalls Offenheiten repräsentieren, ohne dass mit ihnen das Risiko des Scheiterns verbunden ist: Kunst kann verdeutlichen, versinnbildlichen, kritisieren, begleiten oder verstören. Sie kann jedoch jenseits der Alternative von Gelingen und Scheitern in hedonistisch-expressiver Schlichtheit einfach für sich stehen: Absolut und innerhalb des Kunstwerks unangefochten. Sie muss damit nicht einmal persistent sein, sondern kann in der Kurzlebigkeit des künstlerischen Moments aufgehen, leuchten und wieder verglühen.104 Die Autonomie der Kunst betont die Möglichkeit, dass sie gänzlich unverstanden bleibt – momentan oder für immer. Fraglich werden all diese Negationen, wenn sie selbst in der Kunst gegenständlich und in das Kunstwerk eingetragen werden: Unterstreicht Avantgarde ihren Avantgardismus, so wird sie trotzig-pubertär; betont sie (ausbleibende) Resonanz, wird sie selbstreflexivpathetisch; hebt sie ihre authentische Einfachheit gegenüber verfremdender Kompliziertheit hervor, wird sie kitschig-naiv.105 102 103
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Vgl. Ursprung, Die Kunst der Gegenwart: 1960 bis heute. Besonders die Kunstphilosophie Theodor W. Adorno forciert die Bedeutung der Autonomie der Kunst gegenüber hegemonialer Funktionalisierung. Die so gewonnene Distanzierung der Kunst von der Welt, der sie selbst entspringt, soll gerade nicht auf einer höheren Verständnisebene »versöhnt« werden. Der eschatologische Vorbehalt der Hoffnung auf eine Neuschöpfung wird in dieser Philosophie in die negative Hermeneutik des Kunstwerks transformiert – sofern der eschatologische Vorbehalt jedoch selbst nur eine formale Aussage ist, ist auch über die Negativität der Kunst selbst nichts gesagt: Ihr Gehalt selbst ist nicht nichtig, sondern vielmehr aus dieser Differenz zu ihrer Umwelt überraschend, belustigend, zerstörend, erhellend oder auch ironisch. Adorno, Ästhetische Theorie. »Was Kunst ist, entzieht sich der diskursiven Erörterung, Kunst ist ein Emergenzphänomen« (Lauster, »Charmlose Kunst: Die Autonomie der Kunst als Selbstbanalisierung?«, 164). Eben darin besteht der m.E. unberechtigte Vorwurf Jörg Lausters an die Absolutheit des Kunstwerks: Die bspw. in seiner kritischen Betrachtung des Autonomieanspruchs des Künstlers beobachtete Steigerung dessen Attitüde im Kampf um Aufmerksamkeit (»Da bleibt eigentlich nur noch der Spinner« [Lauster, 168]) hat nicht wirklich ein Phänomen der Autonomie vor Augen, sondern die Verlagerung der Dependenzen des Künstlers in die Sphäre verstörender Resonanzen: Die von ihm kritisierten Phänomene sind vielmehr die hier angezeigten übersteigerten Negationen der an die Kunst herangetragenen Erwartungshaltungen, denen diese proaktiv widerstehen wollen. Aber auch darüber hinaus bleibt von Lauster die Autonomie der Kunst in Bezug auf ihre religiöse Bedeutung grundlegend missverstanden, da die Religion (und so auch die Kunst) für ihn in diesem Zusammenhang nur funktionalisiert – mit Ulrich Barth als Tiefenerschließung menschlicher Existenz – ein qualifiziertes Daseinsrecht hat. Das erklärte Ziel der Absolutheit des Kunstwerks ist der Entzug aus der Nötigung von Sinnproduktionen
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Mit all diesen Selbstverdoppelungen stellt sie die eigene Absolutheit und Funktionslosigkeit infrage und stellt sich somit selbst unter den Zwang der Entwicklung eines Neuen, da sie das verneinte Unterscheidungsmuster in seiner Negation als Re-Entry in sich aufnimmt und damit nicht nur nicht vom Risiko des Scheitern befreit ist, sondern sich diesem in gesteigerter Weise aussetzt. Die Absolutheit eines Kunstwerks (nicht die Kunst selbst) ist aber ereignishaft und kann weder anerkannt, provoziert noch postuliert werden. Darin unterscheidet sich absolute Kunst generisch von primär populärer, politischer oder experimenteller Kunst, wenngleich sie Teil dieser werden kann. Es gibt daher theologische Gründe, auch der säkularen und nicht unmittelbar zugänglichen Kunst einen Raum in kirchlichen Handlungsfeldern einzuräumen.106 Sie kann als vom Risiko des Scheitern befreite Kreativität ein Zeichen für die Freude an der Neuen Schöpfung sein. Darin kann sie gerade als einfaches, hedonistisches und bedeutungsloses Ereignis zum hoffnungsvollen Zeichen des Lebens in der Neuen Schöpfung werden. Als geschöpfliches Gleichnis kann jedoch auch dieses sich nicht im Letzten dem Risiko entziehen, das in der Ereignishaftigkeit der Autonomie des Kunstwerks gründet: Die Begründung der absoluten Autonomie des Kunstwerks ist als regressus ad infinitum nicht absicherbar und steht folglich im luftleeren Raum. Die Autonomie des Kunstwerks ist damit zugleich absolut und in höchstem Maße kontingent – dies ist sein bleibendes Risiko: Dass Kunst nicht sei. Ein drittes Beispiel lässt sich im Raum des Politischen identifizieren: Die juristisch nicht abgesicherte Institution des Kirchenasyls kann sowohl dogmatisch wie auch ethisch die Spannung aus geschaffenen und konstruierten Ordnungen wie auch deren eschatologischer Obsoletheit zum Ausdruck bringen.107 Mit den für die letzten Jahrzehnte überdurchschnittlich hohen Geflüchtetenund Migrationsbewegungen wurde zuletzt immer wieder die Legitimität und damit die Möglichkeit der Unterbringung nicht-abreisewilliger Menschen, deren Aufenthaltserlaubnis durch die hiesigen Behörden nicht (mehr) gegeben war, in kirchlichen Gebäuden infrage gestellt. Immer wieder entscheiden sich lokale Kirchengemeinden – den getroffenen Entscheidungen zuständiger Behör-
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(was nicht bedeutet, dass sie nicht durchaus auch einen gewissen Überschuss an Sinn zu produzieren vermag). »Für die Religion ist diese Art des Spiels mit Sinn jedoch vollkommen witzlos. Religiöser Sinn ereignet sich in einem Modus der Ergriffenheit, der ein belangloses Spiel mit Beliebigkeit ausschließt« (Lauster, 171). Dagegen sei hier auf die wenngleich nicht absehbare aber dennoch Sinn, Lust, Unsinn und Unlust produzierende Kunst hingewiesen, deren geradezu eschatologische Freiheit darin besteht, gerade nicht der unmittelbaren Erwartung des Betrachters dienen zu müssen. Exemplarische Begegnungen von Kirchenräumen und zeitgenössischer autonomer Kunst protokolliert Meyer zu Schlochtern, Interventionen. Vgl. die ab 2015 wieder befeuerte Debatte, im Zuge derer sich u.a. der damalige Innenminister Thomas de Maizière äußerte: de Maizière und Resing, »Als politisches Instrument taugt das Kirchenasyl nicht«; von Campenhausen, »Keine rechtsfreien Räume«; Espeel, »Zum Kirchenasyl verpflichtet«.
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Modell 2: Chaosbegrenzung und -überwindung
den zum Trotz – Menschen eine Bleibe zu garantieren, denen aus ihrer Sicht in ihren Herkunftsländern politische Verfolgung droht. Sie weisen auf formale Verfahrensfehler, moralisch-ethische Unzumutbarkeit der Entscheidung oder eine besonders beachtungswürdige Gefahrensituation der Betroffenen in ihren Herkunftsländern hin. Die von einer Kirchengemeinde dann geleistete Soforthilfe, die sich in dieser konkreten Situation über eine bestimmte Rechtslage hinwegsetzt, kann unter bestimmten Voraussetzungen als Gleichnis für die Hoffnung auf eine Neuschöpfung als Chaosüberwindung stehen: Ohne auf die prinzipielle Notwendigkeit und Güte staatlicher Ordnung für ein gemeinsames Zusammenleben in dieser Welt zu verzichten, weisen Menschen in mitunter empathisch motivierten Einzelfällen auf die Vorläufigkeit dieser Ordnungen hin.108 Der Raum des Kirchenasyls wird dann für einige wenige Menschen aus der juristischen Auseinandersetzung um Asyl und subsidiären Schutz enthoben. Innerhalb der lokalen Möglichkeiten einer Parochialgemeinde wird so ein oftmals sogar mit dem physischen Raum des Kirchengebäudes identischer Raum geschaffen, der sich dem in ein geregeltes rechtsstaatliches Verfahren eingeschriebenen Risiko einer Abschiebung zu entziehen versucht.109 Ohne dabei das grundsätzliche Bekenntnis zu den rechtsstaatlichen Institutionen zu negieren, welche Teil einer komplexen und ausdifferenzierten Schöpfungswirklichkeit sind, weist eine Gemeinde im Kleinen auf die transformierende Solidarität und ein friedenbringendes Zusammenleben im Neuen Jerusalem hin.110 Als bleibendes Risiko für politische Aktionen dieser 108
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In generalisierter Weise kommt diese Spannung im Nebeneinander von These 3 und 5 der Barmer Theologischen Erklärung zum Ausdruck: Während These 5 ganz im Sinne einer Staatstheorie der Chaosbegrenzung argumentiert und die grundsätzliche Notwendigkeit solcher Ordnungen hervorhebt, weist These 3 auf die verheißene Sonderstellung der Kirche als Bekenntnis »mitten in der Welt der Sünde« hin. Wenngleich die BTE im sehr spezifischen Kontext der Bedrängnis der Kirche durch die nationalsozialistische Gleichschaltung entstanden ist, so lässt sich auch der verfassungsrechtliche Grenzfall des Kirchenasyls mit ihr reflektieren. Entscheidend für dessen theologische Beurteilung ist m.E. die Bewertung der Räumlichkeit des Bekenntnisses der Kirche: Wird ihr Zeugnis für eine entgrenzende Solidarisierung im Raum der Sprache (Zeugnis als Zeigen) oder im Raum der politischen Handlung (Zeugnis als Zeichen) erwartet? Die erste Auffassung macht insbesondere die öffentliche Theologie stark, während die zweite vornehmlich durch aktivistische Parochialgemeinden betont wird. Verschiedene Beispiele listet die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (BAG): http://kirchenasyl.de/aktuelles (zuletzt abgerufen: 14.11.2020). Die dort angegebenen Statistiken zeigen, dass die überwiegende Zahl der Kirchenasylfälle in einem anschließenden neuen Verfahren über den Rechtsweg zumindest mit einer Duldung der betreffenden Personen endete. Im Jahr 2018 führte eine bei 909 beendeten Kirchenasylfällen zur Neuaufnahme des Verfahrens, bei ganzen 867 Fällen zur Aussetzung oder gar Aufhebung des Ausweisungsprozesses. Das zeigt, dass aus der rechtlich nicht gesicherten Institution des Kirchenrechts über ihre Zeichenhaftigkeit hinaus in Einzelfällen tatsächlich auch eine Optimierung der Rechtsprechung induziert wird. Dass dies in vielen Fällen von den staatlichen Behörden toleriert wird mag Folge einer im Ganzen gesehen marginalen Bewegung sein. Fraglich wird es jedoch, wenn mit der Gewährleistung des lokalen Schutzraums eine prinzipielle Ablehnung rechtsstaatlich geregelter Asylverfah-
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Art bleibt die Nichtanerkennung dieses Sonderstatus von staatlichen Autoritäten. Übersteigen jene daher quantitativ ihre subversive Zeichenhaftigkeit und versuchen in großem Stil mit den staatlichen Institutionen, die für Asyl- und Schutzsuchende verantwortlich sind, zu konkurrieren, ist dieser Sonderstatus auf lange Sicht in Gefahr. Alle drei aufgezeigten Beispiele beschreiben geschöpfliche Räume, die von der Hoffnung auf eine letztliche Chaosüberwindung durch eine Neue Schöpfung getrieben sind. Sie operieren als gleichnishafte Zeichen nicht mit prinzipiell anderen Instrumenten als es vergleichbare Institutionen oder Ereignisse tun: Seelsorge bleibt risikobehaftete Kommunikation, die zu Missverständnissen führen kann. Die Absolutheit der Kunst lässt sich durch Instrumentalisierungsmechanismen korrumpieren. Das Kirchenasyl bleibt auf die Achtung kirchlicher Restautonomie und die Wahrung einer gewissen Sakralität des Kirchengebäudes angewiesen. Die eschatologische Zeichenhaftigkeit dieser Gleichnisse besteht daher vielmehr in ihrer graduell gesteigerten Konzentration von Sicherheit unter Absehung der Außenwelt des Alltags: Die Intimität des Seelsorgegespräch folgt nicht dem Protokoll der Alltagskommunikation, die Absolutheit des Kunstwerks entledigt sich den Regeln des guten Geschmacks und das Kirchenasyl stellt sich mutmaßlich über kodifiziertes Recht, was selbst als Rechtsbruch ausgelegt werden kann. Gleichnisse des Eschatons können daher nicht ethisch als Neue Schöpfung beschrieben werden. Indem jedoch auf sie verwiesen wird, kann die Zeichenkette verlängert werden: Die Hoffnung, dass sich »dort« Neue Schöpfung ereignet, ist zeichentheoretisch nicht auflösbar – sie kann aber pneumatologisch gewendet zum Ereignisraum von Gottes erlösendem Handeln in dieser Welt werden.
2.6 Zusammenfassung: Erlösung als Neuschöpfung Die Vorstellung einer Neuschöpfung aller Dinge ist ein Erlösungssymbol, das die Hoffnung auf die Erlösung einer sich selbst gefährdenden Welt zum Ausdruck bringt. Im Gegensatz zum vorangehenden wurde in diesem Kapitel ein Modell rekonstruiert und weiterentwickelt, das vor allem auf dem narrativen ren einhergeht. Theologisch käme dies einem eschatologischen Enthusiasmus gleich, der die mitunter durchaus zermürbenden Aushandlungsprozesse um gerechte Ordnungen aus dieser Schöpfung verabschiedet. An dieser Stelle soll nicht die umfangreiche ethische Diskussion um die Notwendigkeit und Schöpfungsgemäßheit territorialer Begrenzungen aufgenommen werden (vgl. Lesch, »Verrissenes Europa: Von Anspruch und Wirklichkeit einer postnationalen Flüchtlingspolitik aus ethischer Sicht«). Mit guten Gründen lässt sich jedoch fragen, ob die Marginalität des eschatologischen Zeichens des Kirchenasyls vielleicht mehr Strahlkraft besitzt als einerseits eine rein moralisch geäußerte Protesthaltung und andererseits ein Rückzug mit dem Argument der Unvermeidbarkeit nationalstaatlicher Grenzen. Mit der unter großem organisatorischem Aufwand gestemmten Eröffnung eines für einzelne Geflüchtete risikobefreiten Raumes wird radikale Solidarität nicht zu einer gesetzlichen Forderung, sondern zur greifbaren Gnade des Evangeliums.
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Wissen der biblischen Schöpfungserzählung aufbaut und von dort aus schließlich auch formale Strukturen herausbildet, die tragende Bedeutung gewinnen: Mithilfe der schöpferischen Unterscheidung in Ordnung und Chaos kann die Entstehung von Lebensräumen und Entfaltungsmöglichkeiten des Lebens beschrieben werden, ohne das bleibende Risiko von deren Selbstgefährdung zu unterschlagen. Die Zwischenüberlegung zum Phänomen des Chaos hat darüber hinaus gezeigt, inwiefern es nötig ist, die dichotome Unterscheidung von Chaos und Ordnung, zu der dieses Modell tendiert, zu überwinden. Dies zu leisten, ist Aufgabe einer Theologie der Neuschöpfung, wie daran anschließend skizziert wurde. Auf die Entfaltung zentraler erlösungstheologischer Symbole folgend wurde schließlich eine Validierung dieses Modells vorgenommen: Räume, die vorläufig von bestimmten Risiken befreit werden, können in diesem Modell als Gleichnisse der Neuschöpfung eine wichtige Hoffnungsperspektive stiften, ohne die Unterscheidung von Ethik und Eschatologie zu unterlaufen.
3 Modell 3: Juridische Eschatologie Die Rede vom jüngsten Gericht hat eines der kulturell prägendsten eschatologischen Modelle hervorgebracht. Es verbindet Fragen nach Gerechtigkeit, erfahrenem Unrecht und die Verstrickung in Sünde, wie auch deren Vergebung und ist in verschiedenen Phasen der Theologiegeschichte häufig remodelliert worden. Das dritte in dieser Studie zu rekonstruierende Modell widmet sich dem Erlösungsthema daher unter einer juridischen Perspektive. Es verbindet soteriologische und eschatologische Themenkomplexe, die große Teile der Christentumsund Theologiegeschichte geprägt haben: Sowohl die von Augustin ausgehende Tradition der Soteriologie im Spätmittelalter, als auch die zentralen reformatischen Entwicklungen der Rechtfertigungslehre haben zu einer regelrechten Dominanz dieses Modells im Protestantismus beigetragen. Im Korpus der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths verdichtet sich dieser Zusammenhang in der Entfaltung des Priesterlichen Amtes.1 Tatsächlich ist diese Bezeichnung missverständlich, entfaltet sie doch über weite Strecken keinen kultischen, sondern einen juridischen Zusammenhang, der begrifflich um das semantische Feld von Recht und Gericht strukturiert ist und in Barths Interpretation des Gekreuzigten als dem »gerichteten Richter« kulminiert. Das zentrale Geschehen, welches dieses Modell strukturiert, ist daher das Kreuz als Gericht Jesu Christi, welches Barth als Singularität, als das in Christus ein für alle mal geschehene Ereignis beschreibt, von wo aus die Soteriologie der Rechtfertigung zu verstehen ist. Ein Gerichtsgeschehen ist auf einen Maßstab angewiesen: Rechtsprechung bedarf eines Kriteriums dessen, was als »rechtmäßig« Geltung beanspruchen kann; daher vollzieht sich das Gericht anhand eines Rechts, was in der üblichen Rechtsprechung mithilfe kodifizierter Gesetze geschieht. Die juridisch argumentierenden Soteriologien des Christentums haben diese Vorstellung in den Dual von Gesetz und Evangelium aufgenommen.2 Das in KD IV/1 beschriebene Rechtsgeschehen orientiert sich jedoch nicht an einem äußeren Kriterium. Es ist vielmehr an einen föderalen Rechtsbegriff gebunden: Die Singularität des Gerichts Jesu Christi muss daher im Zusammenhang mit dem einen Gnadenbund verstanden 1
2
Barth gliedert seine Versöhnungslehre anhand der drei klassischerweise appropriierten Ämter Jesu Christi (Priester, König, Prophet). Zur Bedeutung des munus triplex bei Barth vgl. Reichel, Theologie als Bekenntnis, 204–219. Barth hat bekanntermaßen diesen Dual mit in reformierter Zuspitzung aufgenommen, indem er der Rechtfertigung die besondere Bedeutung der Heiligung gegenübergestellt hat. Daher rührt auch seine Neuordnung dieses Verhältnisses; vgl. Barth, Evangelium und Gesetz.
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Modell 3: Juridische Eschatologie
werden, den Barth erwählungstheologisch begründet. In diesem Rechtsgeschehen setzt sich Gott mit dem Bösen in Gestalt des menschlichen Unrechts auseinander. Barths juridische Fassung des Kreuzesgeschehens in KD IV/1 ist daher hoch voraussetzungsreich und muss im Zusammenhang mit seiner Erwählungslehre (KD II/2) analysiert werden. Auf dieser relationalen Grundlegung von Barths Rechtsbegriff aufbauend, wird im zweiten Abschnitt dieses Kapitels der juridische Prozess in den Blick genommen. Dieser läuft darauf hinaus, dass das Christusgeschehen als eine subversive Überwindung der Kategorie des Rechts verstanden werden kann. Eine Analyse des Kreuzesgeschehens als stellvertretendes Gerichtsgeschehen soll zeigen, dass Barths Vorstellung des »gerichteten Richters« und der in ihm geschehenen Erfüllung des Gnadenbundes ein komplexes Geflecht von Anerkennungsrelationen beschreibt, die sich mit Barth auferstehungstheologisch weiterführen lassen. Daran anschließend sollen die Konsequenzen und die Möglichkeit einer Eschatologie unter dem Symbol des Gerichts kritisch eruiert werden: Was ist in der am Kreuz geschehenen Auseinandersetzung Gottes mit dem Sünder erlösungstheologisch gewonnen – welche bleibenden Probleme lassen sich darin erkennen? Anhand einer Modellkritik lässt sich zeigen, dass Barths Soteriologie der Rechtfertigung nicht ohne Weiteres in eine ebenso juridisch kodifizierte Eschatologie (als sog. Jüngstes Gericht) überführt werden kann, ohne die im Christusgeschehen bereits adressierten hamartiologischen Fragestellungen zu wiederholen. Statt einer Prolongation des Gerichtsgedankens in die Eschatologie soll im vierten Abschnitt ein Exkurs zu gegenwärtigen Anerkennungstheorien zeigen, dass die bundestheologische Grundlage dieses Modells durch das Gerichtsgeschehen transformiert wird. Im Gespräch mit Axel Honneth und Judith Butler kann gezeigt werden, wie die im dritten Abschnitt beschriebenen Probleme für eine Erlösungstheologie dieses Modells adäquat bearbeitet werden können. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels sollen dann die materialdogmatischen Konsequenzen für eine Eschatologie unter dem Symbol des »Neuen Bundes« skizziert werden. Die damit markierten Eckpunkte einer Erlösungstheologie nehmen nicht nur das im Christusgeschehen angezeigte Problemniveau relationaler Anerkennung im Gott-Mensch-Verhältnis auf, sondern können in Form einer theologischen Religionstheorie auch das von Gott zu tragende Risiko des in Christus realisierten »Neuen Bundes« vor Augen führen. Damit lässt sich abschließend zeigen, dass der Aspekt des Gerichts in der materialen Eschatologie dieses Modells trotz der im Kreuz überwundenen Kategorie des Rechts von zentraler Bedeutung bleibt.
Erwählungstheologische Prolegomena des juridischen Modells
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3.1 Erwählungstheologische Prolegomena des juridischen Modells Zunächst ist der strukturellen Verbindung von Erwählungs- und Versöhnungslehre in der Architektur von Barths Kirchlicher Dogmatik nachzugehen. Anhand ihrer erschließt sich nicht nur der Referenzrahmen dessen, was für das Gericht Jesu Christi gerecht bedeutet. Auch stellt sie eine Hermeneutik zur Verfügung, die Barths Parallelführung einer teleologischen und einer interventionistischen Interpretation des Christusgeschehens und damit das Verhältnis von Schöpfung und Versöhnung erschließt. Es geht daher zunächst darum, die Bedeutung jenes bundestheologischen Duktus für eine Eschatologie zu entfalten, der das Kreuz als singuläres Gericht in und über diese Geschichte versteht. Dafür stellt Barth heraus, dass es im Versöhnungswerk Gottes »seine Teilnahme an unserem Sein, Leben und Tun und damit offenbar unsere Teilnahme an dem seinigen – und also nicht mehr und nicht weniger als das Kommen des Heils selbst: die Gegenwart des Eschaton in seiner ganzen Fülle« geht (KD IV/1, 13).
3.1.1 Die Relationalität des Rechts Die zentrale Bedeutung der Erwählungslehre für Karl Barths reife Theologie ist unbestritten.3 Sie stellt den bundestheologischen Rahmen des hier beschriebenen soteriologisch-eschatologischen Modells dar, innerhalb dessen die Inkarnation als der Gang des Sohnes in die Fremde als zentrales Heilsereignis verständlich wird. Denn Barth nimmt die Gnadenwahl Gottes zum ontologischen und epistemologischen Ausgangspunkt seiner Überlegungen: »Im Anfang bei Gott, d.h. in Gottes Ratschluß, der der Existenz, der der Möglichkeit und Wirklichkeit aller seiner Kreatur vorangeht, ist als Erstes der Beschluß, dessen Ausführung Jesus Christus heißt und ist« (KD II/2, 171). Barths Erwählungslehre beschreibt einerseits eine Selbstkonkretion Gottes als dem erwählenden Gott und andererseits eine Verhältnisbestimmung Gottes zum Menschen als seinem erwählten Gegenüber.4 In dieser erwählungstheologischen Grundbestimmung des Gott-Mensch-Verhältnisses begründet sich für Barth zugleich eine hierarchisierende Ordnung: »Wer gewählt wird, der bekommt eben damit einen Herrn« (KD II/2, 11). Dem Bund ist damit ein grundlegend asymmetrisches Verhältnis eingeschrieben, welches dem Gegenüber von Schöpfer 3
4
Zur theologischen Zentralstellung der Erwählungslehre im Gesamtwerk Barths vgl. Gockel, Barth and Schleiermacher on the Doctrine of Election; Frettlöh, »›Das Ja vor jeder Frage‹«; McCormack, »Grace and Being« und Goebel, Vom freien Wählen Gottes und des Menschen; im Kontext einer heilsgeschichtlichen Interpretation vgl. Tseng, Karl Barth’s Infralapsarian Theology; spezifisch im Kontext der forensischen Soteriologie vgl. Etzelmüller, »... zu richten die Lebendigen und die Toten«, 151–171. Vgl. Jones, The Humanity of Christ, 191f.
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Modell 3: Juridische Eschatologie
und Geschöpf entspricht. Der fundamentale Maßstab für das Rechtsverständnis dieses Bundes ist die Anerkennung und damit auch die Entsprechung der Bundespartner zu der in der Erwählung gesetzten Asymmetrie. Der implizierte Gerechtigkeitsbegriff für dieses juridische Modell unterscheidet sich daher von einem solchen, der dem Paradigma des Rechtsausgleichs folgt. Vielmehr stellt er auf die Einforderung einer Anerkennung dieses Verhältnisses ab. Der Bund wird so selbst zu einem Rechtsbegriff, der sich einerseits als Selbstverpflichtung Gottes für seinen Bundespartner, aber auch in der Forderung an den Menschen als diesen Bundespartner äußert. Barths Bundesverständnis erschöpft sich jedoch nicht allein in der abstrakten Forderung einer Anerkennung dieses Verhältnisses, sondern ist von einer relationalen Dynamik gekennzeichnet: Denn Erwählung ist als solche für Barth ein Akt der Gnade; und so ist der Bund Gottes mit den Menschen ein Gnadenbund. Damit sind aber auch die rechtlichen Konturen dieses Bundes benannt: Es ist Gottes Recht auf Dankbarkeit. Dies macht Barth bereits in seiner Anthropologie zur Grundbestimmung menschlicher Existenz: »Danken ist das genaue geschöpfliche Komplement zu Gottes Gnade« (KD III/2, 199). Diesen Gedanken erschließt sich Barth nicht allein über eine Souveränitätsfigur eines gebietenden Gottes. Stattdessen ist diese Verpflichtung eingebunden in die Selbstverpflichtung Gottes als des Menschen Bundespartner: Indem Gott in Jesus Christus offenbar macht, daß er von Anfang an für den Menschen, des Menschen Gott sein wollte, macht er auch das offenbar, daß der Mensch von Anfang an sein Mensch ist, ihm gehört, ihm verbunden und verpflichtet ist (KD IV/1, 44).
In Barths Entfaltung des priesterlichen Amtes wird dieses Verhältnis als ein Rechtsverhältnis bestimmt, dessen Gefährdung, Bewährung und Erfüllung Barth mithilfe juridischer Begrifflichkeiten von Bund, Recht, Unrecht und dessen Überwindung als Gericht ausdrückt. Diese Begriffe sind jedoch nicht durch ein kodifiziertes Recht bestimmt: Kriterium für das in diesem Modell geschilderte Gericht ist nicht ein Gesetz, sondern die Ordnung dieses Bundes. Barth entfaltet daher sein Verständnis von Gerechtigkeit von der relationalen Struktur von erwählendem Gott und erwähltem Menschen. Die Forderung, die dem Menschen im Gnadenbund auferlegt wird, ist daher im Kern der geforderte Dank und die rechte Anerkennung dieses Verhältnisses; Recht bedeutet eine Entsprechung dieses Gnadenverhältnisses.5 Der Einhaltung dieser in der Gnadenwahl begründeten Ordnung entspricht die Bundestreue, wohingegen der Entzug dieser Dankbarkeit einen Bruch dieses Bundes bedeutet. Dies wird – so entfaltet es Barths bundes5
Zur grundlegenden Bedeutung der Anerkennung bei Barth vgl. Schüz, Glaube in Karl Barths »Kirchlicher Dogmatik«, 318–335.
Erwählungstheologische Prolegomena des juridischen Modells
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geschichtliche Narration – zum menschlichen Einfallstor für das malum in der Geschichte. Damit bricht aber das erlösungstheologische Problem auf, dem sich dieses Modell in Gestalt des gerichteten Richters widmet. Denn der Mensch »steht doch ganz woanders da, wo er nach dem, was Gott ihm zugedacht hat, stehen müßte« (KD IV/1, 9). Die Tatsache dessen, dass der Mensch zur Sünde fähig ist, stellt im wahrsten Sinne des Wortes eine Herausforderung Gottes dar. Dass sich Gott dieser Herausforderung auch auf Seiten des Menschen annimmt, ist die entscheidende Weichenstellung der Theologie Karl Barths und ist für die juridische Modellierung von Versöhnung und Erlösung von zentraler Bedeutung. Denn die Geschichte des Bundes steht unter dem grundlegenden Eindruck ihrer eigenen Gefährdung durch die Geschichte des Bösen im Allgemeinen und durch die menschliche Verfehlung im Konkreten: Bedeutet es für den Menschen sicher unendlichen Gewinn, unerhörte Erhöhung, daß Gott sich ihm zu eigen geben, sein Gott sein will, so muß es für Gott auf alle Fälle eine Kompromittierung bedeuten, wenn er sich selbst dazu entschließt, diesen Bund einzugehen. Wo der Mensch nur gewinnen kann, da kann Gott nur verlieren. Eben das ist der Inhalt, der doppelte Inhalt der ewigen göttlichen Vorherbestimmung, weil diese mit der Erwählung Jesu Christi identisch ist: Gott will verlieren, damit der Mensch gewinne. Sicheres Heil für den Menschen, sichere Gefahr für Gott selber! (KD II/2, 177).
Die in der Erwählungslehre angelegte Selbstidentifikation Gottes als Partner des sündigen Menschen bedeutet angesichts der Wirklichkeit menschlicher Sünde eine Verdoppelung der bereits geschöpflich angelegten Asymmetrie. Denn die im Gnadenbund hervorbrechende Differenz von Gott und Mensch ist nicht nur schöpfungstheologisch begründet. Sie ist postlapsarisch zudem von der hamartiologischen Unterscheidung von gerecht/ungerecht gekennzeichnet. Die Sünde ist also – entsprechend der vorangehend beschriebenen relationalen Bestimmung der Gnadenordnung – als ein Entzug von Anerkennung zu verstehen: »In ihrer Wurzel und Grundform ist alle Sünde nichts anderes als eben Undankbarkeit: des Menschen Verweigerung des einen, aber Notwendigen, das ihm, dem Gott sich gnädig verbündet hat, zukommt und zugemutet ist« (KD IV/1, 43). Sie ist – so könnte man Barths Gedanken weiterführen – eine Verdoppelung und zugleich Invertierung einer ehedem bestehenden Asymmetrie der Abhängigkeit (Schöpfer/Geschöpf). Damit ist zugleich die kreuzestheologische Pointe dieses Modells begründet: Es geht nicht allein um die kategoriale Überwindung der Gott-Mensch-Unterscheidung in der Inkarnation, sondern es geht vielmehr um die Überwindung des menschlichen Sünders. Nicht die Schöpfer/GeschöpfAsymmetrie, sondern deren Perversion durch die menschliche Sünde erfährt eine Wendung.
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Modell 3: Juridische Eschatologie
Für die kreuzestheologisch argumentierende Soteriologie in KD IV/1 ist daher diese zweite Diastase von Jesu Christi Demut und des Menschen Sünde als Hochmut der Ausgangspunkt für die Beschreibung der Auseinandersetzung Gottes mit dem sündigen Menschen und dessen Überwindung im Leiden und Sterben Jesu Christi von entscheidender Bedeutung. Denn in der konkreten Geschichte Jesu von Nazareth offenbart Gott diese Diastase als Perversion der ersteren, indem er das Anerkennungsverhältnis der Gnadenordnung des Bundes in sich selbst transformiert.
3.1.2 Kondeszendenz als subversive Reversion Die bundestheologische Hinführung hat gezeigt, dass der Referenzrahmen für dieses juridische Modell ein Ordnungsdenken ist, das von der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf, ihrer Relationalität, sowie deren Anerkennung als Rechtsbestimmung des Gnadenbundes geprägt ist. Dieser Intention zum Trotz stellt die Wirklichkeit der menschlichen Sünde der Versuch einer Invertierung dieses Verhältnisses dar. Die in diesem juridischen Modell beschriebene Auseinandersetzung Gottes mit dem Menschen als Sünder ereignet sich als Gang des Sohnes in die Fremde bezeichnet. Die Auseinandersetzung Gottes mit dem Menschen als Sünder geschieht daher in der Kondeszendenz, die gegenläufig zum Hochmut des Menschen einen Akt der Demut Jesu Christi darstellt. Die Menschwerdung Jesu Christi, an deren Spitze das Kreuzesgeschehen steht, kann dann als Reinvertierung der menschlichen Wirklichkeit im status corruptionis verstanden werden. Sie ist der Versuch einer subversiven Reversion, die selbst die Gnadenordnung der Unterscheidung von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi unterläuft. So ist »Versöhnung [...] Gottes Grenzüberschreitung zum Menschen hin: höchst legitim, aber auch höchst unbegreiflich« (KD IV/1, 86). Das zentrale Geschehen, dem sich dieses Modell zuwendet, ist der sich in Kreuz und Auferstehung vollziehende Rechtsakt, »in welchem sich Gott sich dem bundbrüchigen Menschen gegenüber ins Recht setzt« (KD IV/1, 102). Das Christusgeschehen reagiert somit auf das Böse als das, was die Föderaltheologie als Bundesbruch bezeichnet: Eine Korrumpierung eines Rechtsverhältnisses, dessen Bruch eine notwendig zu bearbeitende Rechtsverletzung darstellt.6 Im Zentrum der Verbindung von Erwählungs- und Versöhnungslehre steht das Motiv, dass sich Gott dem Bösen in Gestalt dieser Korrumpierung selbst 6
Hieran wird deutlich, warum die vorangehenden erwählungs- und bundestheologischen Überlegungen notwendig waren, wird doch das Phänomen des »Rechtsbruchs« hier ganz exklusiv im Kontext der zweistelligen Relation von Gott und Mensch verstanden. Als Schwierigkeit dieses Modells ergibt sich daher, dass damit bestehende zwischenmenschliche Ungerechtigkeiten aus dem Blick geraten. Die coram Deo-Relation dominiert in diesem Modell über die coram mundo-Perspektive.
Erwählungstheologische Prolegomena des juridischen Modells
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aussetzt und es in der Person Jesu Christi überwindet. Für Barth ist eben das der Erweis von Gottes Treue gegenüber dem sich selbst ins Unrecht setzenden Geschöpf: Er setzte seine Ehre eben darein, gerade dieses Geschöpf nicht ausfallen zu lassen, den Bundbrecher nicht mit Aufhebung des Bundes zu bestrafen, gerade den sündigen Menschen dennoch und nun erst recht zu lieben, seinem Ziel entgegenzuführen und also seiner Treue keine Grenzen zu setzen. (KD IV/1, 84).
Damit wird die Wirklichkeit des Bösen in der Gestalt menschlichen Unrechts zu einer zu überwindenden und in der Geschichte Jesu Christi revidierten Zwischenepisode: »In Jesus Christus kommt er [Gott] faktisch jenem Zwischenfall gegenüber zum Tragen. Jesus Christus ist faktisch Gottes Replik auf des Menschen Sünde« (KD IV/1, 49). Beginnend mit der Menschwerdung Gottes hebt ein Geschehen an, das auf diesen Rechtsbruch reagiert: »Er macht sich das Sein des Menschen im Widerspruch gegen ihn zu eigen; er macht ihn aber nicht mit« (KD IV/1, 202). Von entscheidender Bedeutung ist für Barth, dass sich Gott selbst in der Geschichte diesem Widerstand aussetzt und gerade in der subversiven Umkehrung der Demut des Sohnes den Sieg über das menschliche Unrecht erbringt und erweist. Damit stellt Gott die Gnadenordnung wieder her, indem er sie erhält: »Gott bleibt Gott auch in seiner Erniedrigung« (KD IV/1, 196). Nicht in der Macht über die Mächte, sondern als sich diesen Mächten unterwerfender Knecht ist Jesus Christus als wahrer Gott zu erkennen. Gegenüber der Machttheorie aus seiner Vorsehungslehre, die Gottes Souveränität in und über allen Dingen lokalisiert, ist hier eine Selbstkorrektur Barths auszumachen: »Der Allmächtige existiert, redet und handelt ja hier in Gestalt eines Schwachen, eines Ohnmächtigen, der Ewige nur allzu zeitlich als ein Vergehender, der Höchste in tiefster Niedrigkeit; der Heilige steht hier an der Stelle und unter der Anklage eines Sünders wie alle anderen Sünder, der Herrliche ist hier bedeckt mit Unehre, der unaufhebbar Lebendige ist hier dem Tod verfallen, der Schöpfer unterworfen und erlegen dem Zugriff des Nichtigen, kurz: der Herr ein Knecht, ein Sklave« (KD IV/1, 192).7
Entscheidend für Barths Christologie ist, dass er die kenotische Bewegung geradezu antidoketisch ohne den Rückgriff auf eine verborgene Macht Gottes – etwa in Form einer trinitarischen Differenzierung zwischen der Macht des Vaters und der Macht des Sohnes – beschreibt. Damit lässt sich in KD IV/1 ein geradezu patripassianistischer Grenzgang Barths identifizieren. Dies bedeutet zugleich gegenüber 7
Zur machttheoretischen Selbstkorrektur Barths in der Versöhnungslehre vgl. Kress, Gottes Allmacht angesichts von Leiden, 172 passim.
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seiner Schöpfungstheologie eine Modifikation der Machtkonstellationen dieses Modells. Barth führt damit die bereits in der Erwählungslehre vollzogene Überwindung einer metaphysischen Theologie konsequent fort, sofern die Erwählung Jesu Christi eine Bestimmung zum Leiden in der Ohnmacht des Kreuzes ist (vgl. KD II/2, 130ff.). Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen wird in diesem Modell als ein einmaliges Geschehen in und unter der Macht der in der Geschichte wirksamen Gewalten beschrieben: Daher interpretiert Barth die Entwicklung von Gottes Menschwerdung hin zum Kreuzesgeschehen als die »Selbstauslieferung Gottes an den Widerspruch des Menschen gegen ihn« (KD IV/1, 202). Mit dieser Selbstauslieferung adressiert Gott den Menschen als Täter seines Unrechts. Folglich ist die Auseinandersetzung mit dem Bösen in diesem Modell vornehmlich eine Auseinandersetzung mit dem bösen Menschen. Diese anthropozentrisch-personale Struktur tritt an der Stelle hervor, wo die Kondeszendenz selbst als Heilsgeschehen gedeutet wird. Das Christusgeschehen ist nach Barth zunächst eine Konfrontation des Menschen mit der Gnade Gottes, die er in erster Linie als Krisis angesichts der gnädigen Gerechtigkeit Gottes gegen seine eigene Ungerechtigkeit erfährt.8 Versöhnung deutet demnach auf eine Aufarbeitung geschehenen Unrechts und auf eine Konfrontation des Menschen mit seiner Existenz als Sünder hin. Sie ereignet sich in der Dynamik der Widersprüchlichkeiten des sündigen Menschen gegen die durch Gott intendierte Gnadenordnung. Dabei erweist sich Gottes Gnade – gerade in seiner Auslieferung an den Widerspruch des Menschen – als mächtige Gegenbewegung. Und so spitzt Barth zu: »er konnte es wirklich nur gegen uns tun: indem er unserem Widerspruch seinen überlegenen Widerspruch, unserem Widerstand seinen überlegenen Widerstand entgegensetzt.« (KD IV/1, 276). Dieser Widerspruch Gottes gegen die Sünde behandelt Barth im ersten Band der Versöhnungslehre mithilfe der eindrücklichen forenisischen Modellierung des gerichteten Richters. Mit dieser Figur ist die grundlegend vertikale Modellstruktur. Denn das Oben/Unten-Schema der Kondeszendenzbewegung wird in der Geschichte Jesu Christi mit der Dialektik von Richten und GerichtetWerden parallelisiert.9 Um diese Dialektik von Subversion und Reversion zu 8
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Darin wird deutlich, wie entschieden Barth gegen eine Diastase von Gesetz und Evangelium, Gericht und Heil votiert. Dennoch ist auch für Barth eine Unterscheidung von Ja und Nein Gottes geboten, wenngleich die heilsame Krisis nicht deckungsgleich mit dem dem Menschen zugedachten Heil ist. So fasst Albrecht Dahm zusammen, dass der Gnade »ein Moment des Widerspruchs, der Überwindung des ihr entgegengesetzten Widerstandes« inhärent ist (Dahm, Der Gerichtsgedanke in der Versöhnungslehre Karl Barths, 92). Genau genommen müsste man eher von einer großflächigen Überlappung sprechen: Der Widerspruch gegen das Böse selbst ist ein heilsamer Widerspruch Gottes, wenngleich das Heil sich darin nicht erschöpft. Darin besteht das Mehr des Evangeliums gegenüber dem Gesetz. Diese Bewegung nach unten verbindet Barth zugleich mit einem religions- und ideologiekritischen Impetus, indem sie sowohl menschliche Herrlichkeits- und Machtvorstellungen und
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klären, arbeitet sich Barth systematisch an der Verbindung der Treue Gottes, seiner Herrlichkeit und der Demut, von der Jesu Christi Leben und Sterben gekennzeichnet ist, ab. Nach Barth konvergieren diese im Leben Jesu Christi in der Weise, dass sich Gottes Herrlichkeit und Treue in seiner Demut und damit gegen den Hochmut des Menschen erweist. Dabei ist für Barth entscheidend, dass Jesus Christus konkret »jüdisches Fleisch« geworden ist und sein menschliches Sein nicht von seinem Kontext des partikular erwählten Volkes Israel zu trennen sei (vgl. KD IV/1, 181). Er schließt damit systematisch an die alttestamentlichen Erzählungen über die Geschichte Gottes mit seinem Volk als eine Geschichte der Bindung, Selbstverpflichtung und des Treueerweises JHWHs an.10 Theologisch ist damit die Frage nach der Kontinuität und Diskontinuität zwischen Gottes Schöpfer-, Bundesund Heilswillen gestellt, der nun nachzugehen ist.
3.1.3 Intention und Intervention Barths Schilderung des Christusgeschehens ist von Kontinuität und Diskontinuität geprägt, da er – wie es die Erwählungstheologie nahelegt – geschichts- und trinitätstheologische Perspektiven miteinander verbindet.11 Damit ist ein modellinterne Spannung angezeigt, die nicht ohne größere Modellmodifikationen aufzulösen ist. Der dogmatische Ausgangspunkt dafür ist – wie im vorigen Abschnitt gezeigt – die erwählungstheologisch begründete Selbst-
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deren religiösen Projektionen umkehrt: »Sie sind in in ihrer Unweltlichkeit, Übernatürlichkeit, Jenseitigkeit usf. allzumal Spiegelbilder des menschlichen Hochmutes, der sich nicht beugen, zu dem, was unter ihm ist, nicht herablassen möchte. Gott ist nicht hochmütig, sondern gerade in seiner hohen Majestät demütig. In dieser hohen Demut redet und handelt er als der die Welt mit sich selber versöhnende Gott« (KD IV/1, 173). Kritisch bemerkt sei, dass es sich dabei nicht um eine echte Dekonstruktion handelt, sondern vielmehr um eine Invertierung einer theologia gloria. Den polaren Kategorisierungen von Macht/Ohnmacht, Oben/Unten und Hochmut/Demut entzieht sich dieses Modell nicht. Vielmehr sucht es mithilfe von Umkehrung- und Umwendungsdynamiken innerhalb dieser Pole das Drama des göttlichen Gerichts und damit die Spuren für eine forensische Eschatologie zu legen. Beachtenswert ist Barths Changieren zwischen einerseits einer Identifikation des atl. bezeugten Schöpferwillens und der Treue Gottes mit dem, was sich im Christusgeschehen ereignet, und andererseits einer qualitativen Steigerung der Selbsterniedrigung des Gottessohnes: »Eben dort, wo im Alten Testament Israel bzw. Israels König steht, steht aber im Neuen der eine israelitische Mensch Jesus: Gegenstand desselben erwählenden Schöpferwillens und derselben erbarmungsvollen Treue Gottes und eben so auch er zum Gehorsam und Dienst Gottes verpflichtet, der Sohn Gottes des Vaters in gleicher Singularität und Exklusivität, wie sie dort sichtbar ist. Gewiß: was zwischen Gott und ihm ist und geschieht, ist unverhältnismäßig viel größer, und als Gottes Selbsterniedrigung viel unerhörter als Alles, was durch die alttestamentlichen Vater-Sohn-Verhältnisse bezeichnet ist« (KD IV/1, 185). Vgl. zu diesem Abschnitt die beiden komplementär ansetzenden Arbeiten von Driel, Incarnation Anyway, besonders 63–124 und Tseng, Karl Barth’s Infralapsarian Theology. Sofern jedoch Tseng überwiegend eine vorsichtige Perspektivverschiebung anregt, steht der Versuch einer konsequent infralapsarischen Interpretation der Theologie Barths noch aus.
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konkretion Gottes in der Geschichte Jesu Christi. Darin ist begründet, dass der Bund sowohl unter der Perspektive seiner Erfüllung, aber auch als ein gebrochener und daher im Kreuzesgeschehen als wiederhergestellter Bund erkennbar wird. Barth schenkt beiden Richtungen sowohl in der Erwählungslehre, in der Grundlegung seiner Versöhnungslehre, sowie in deren materialer Entfaltung Beachtung. Systematisch hängt das zu verhandelnde Problem an Barths These aus der Erwählungslehre »daß die Erwählung des Menschen Jesus im Besonderen seine Erwählung zum Leiden und so und in dieser Gestalt der Grundakt der göttlichen Gnadenwahl ist« (KD II/2, 129). An diese schließt ein ausführlicher Exkurs zu den beiden architektonischen Alternativen einer Theologie der Heilsgeschichte an: Barth erwägt die Option des Supralapsarismus12 wie auch die des Infralapsarismus13 . Barths Darstellung des Streits der reformierten Orthodoxie gipfelt in der Anerkennung des Argumentations- und Systematisierungsvermögens der 12
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In Bezug auf die Wirklichkeit des Bösen resümiert Barth dessen Position: »Der Supralapsarismus sagt also nicht nur, daß der Sündenfall unausbleiblich und zwar nicht ohne, sondern nach Gottes Willen geschehen mußte – das haben die Infralapsarier auch gesagt – sondern er weiß warum der Sündenfall und schon die Schöpfung geschehen mußte. Er sagt, daß der Sündenfall und schon die Schöpfung darum in Gottes Plan und Absicht lagen und geschehen mußten, weil Gott seine Barmherzigkeit und Gerechtigkeit kundtun wollte. [...] Man bemerke, daß auch nach der supralapsarischen Ansicht das Böse nicht aufhört das Böse[...] zu sein. Nur daß eben der Supralapsarier weiß, warum Gott sie zugelassen und insofern gewollt hat: es soll in seiner Anschauung die Verfügung Gottes auch über das Böse nicht als eine nachträgliche Auseinandersetzung mit einer gewissermaßen als Störung in seinen ursprünglichen Plan hereingetretenen Neuigkeit, sondern als ein Element seiner ursprünglichen Anordnung sichtbar und verständlich gemacht werden« (KD II/2, 138). Diese Position gewinnt Barth nicht nur aufgrund ihrer systematischen Kohärenz, sondern gerade wegen ihrer konsequenten Verbindung von Gottes Gnade und seiner Freiheit. In dieser Verbindung zeigt sich eine auffällige Konvergenz mit der Intention der Erwählungstheologie Schleiermachers. Dazu vgl. Gockel, Barth and Schleiermacher on the Doctrine of Election. Barth zufolge schrecke der Infralapsarismus vor der systematischen Klarheit und der Fundamentalstellung der Prädestinationslehre zurück. Stattdessen würde dieser zugunsten einer vermeintlich schärferen Sicht auf die Vorsehung Gottes die Wirklichkeit des Bösen dogmatisch im Rahmen der ewigen Erwählung erörtern: »Gewiß konnte Gott ohne das Dasein der Sünde und also des Sünders seine Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nicht wirklich kund tun. Er kann und darf aber das Dasein der Sünde, das Dasein des Menschen als Sünder und sein Dasein überhaupt nicht von daher erklärt werden. Man soll nicht sagen: weil Gott Barmherzigkeit und Gerechtigkeit offenbaren wollte durch Erwählung und Verwerfung, darum wollte er auch den Sündenfall und die Schöpfung. Sondern man soll nur sagen: derselbe Gott, der die Menschen als solche, die in Sünde fallen mußten, und der als Schöpfer schon deren Existenz gewollt hat, will aus diesen Menschen die Einen aus Barmherzigkeit erretten, die Anderen der von Allen verdienten Strafe verfallen lassen. [...] Man soll aber eben dies, daß sie Sünder wurden und sind, wie schon das, daß sie geschaffen sind, nicht mit dem Praedestinationsdekret als solchem in Verbindung bringen, nicht aus diesem ableiten. [...] Man soll das Praedestinationsdekret als eine Sache für sich erstehen, die mit dem Dekret der Schöpfung und des Sündenfalls nur insofern in Beziehung steht, als eben beide in ihrer unbegreiflichen Einheit – das ewige Dekret Gottes sind.« (KD II/2, 139).
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Supralapsarier und schließt die Würdigung der beiden zentralen Einwände des Infralapsarismus darin ein. Diese sind namentlich (1) die Auflösung der starren Koppelung der Ehre Gottes mit der Entscheidung über Heil und Unheil des einzelnen Individuums und (2) die Unterscheidung zwischen dem Heilsdekret und der Zulassung des Bösen in der Welt. Diesen Anfragen zum Trotz sieht Barth »das relativ größere Recht [...] auf Seiten der Supralapsarier« (KD II/2, 150). Diese Entscheidung ist strukturtragend für dieses Modell und Barth führt sie in der Versöhnungslehre föderaltheologisch weiter. Nachdem der erste infralapsarische Einwand durch seine christozentrische Reformulierung der Prädestinationslehre ohnehin obsolet geworden ist, ist im Kontext dieser Arbeit v.a. der Anfrage nach dem Verhältnis des initiativen Heilswillens Gottes zu der intervenierenden Auseinandersetzung mit dem Bösen in der Geschichte Jesu Christi – konkret: im Kreuzesgeschehen – nachzugehen. Im Lichte von Barths Bundestheologie wird die Doppelsaspektivität des Christusgeschehens dadurch plastisch, sofern diese gleichermaßen teleologisch wie auch restitutionell beschrieben wird: Barth bezeichnet die Geschichte Jesu Christi sowohl als Erfüllung des Bundes wie auch als Wiederherstellung des gebrochenen Bundes. Die darin zutage tretende Spannung ist jedoch keine einfache Paradoxie, sondern bildet eine Spannungsfläche, auf die Barth genötigt ist zurückzugreifen, um sich das Problem von Intention und Invervention der Gnade Gottes sachgemäß erschließen zu können. Ohne eine Erfüllungslogik bliebe der in der Schöpfungslehre so stark belastete Bundesgedanke ohne eine geschichtliche Konkretion inhaltlich unterbestimmt. Das Ausbleiben dieser teleologischen Logik ließe Gottes schöpferisches Handeln grund- und ziellos erscheinen. Darüber hinaus hätte ein solches Modell keine eigentliche Eschatologie zu bieten, da ohne die zentrale Richtungsanzeige des Erfüllungsaspekts auch jede Verheißung leere Utopie bliebe.14 Barth wendet sich daher scharf gegen eine Überbetonung der kontingenten Intervention Gottes, indem er betont, dass das »Christusgeschehen in seiner ganzen Originalität und Einzigartigkeit kein Zufall, kein historisches Novum, kein Willkürhandeln eines Deus ex machina, sondern eben Erfüllung war und ist« (KD IV/1, 186). Mit einer rein interventionistischen Inkarnationstheologie wäre sowohl das in Kreuz und Auferstehung geschehene Heil, wie auch das durch ihn überwundene Unheil, Glück und Unglück einer unsteten und kaum vertrauenwürdigen Schicksalsgottheit. Dennoch bildet das Christusereignis als die Einheit von Leben und Sterben Jesu Christi keine lineare Kontinuität der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung. Denn die Erfüllung der Heilsintention Gottes schließt die Intervention der 14
Darum hebt Michael Weinrich die rahmende Bedeutung des Bundesgedankens hervor und betont, »dass die Versöhnung sachlich unterbestimmt bliebe, wenn sie dem modalistischen Missverständnis folgte und Christus nur als eine von der menschlichen Sünde evozierte Reaktion Gottes verstehen würde« (Weinrich, Karl Barth, 412).
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Menschwerdung Gottes bis in die letzte Konsequenz menschlicher Ohnmacht mit ein. Die Kontinuität der Inkarnation in Gott geschieht daher zugleich unter dem Vorzeichen einer Diskontinuität: Die Erfüllung dieses Bundes erfolgt in Überwindung eines Hindernisses, das sie, wäre jener Grund nicht unerschütterlich, nicht nur in Frage stellen, sondern verunmöglichen müßte: eines Hindnernisses, angesichts dessen seine Erfüllung gerade nur als ein mit der Gewalt jenes ewigen Grundes wirksam und heilsam eingelegter göttlicher Protest und im Blick auf den Menschen gerade nur als ein unbegreifliches Überströmen der ihm zugewendeten Gnade Gottes verstanden werden kann (KD IV/1, 71).
Dieses Überströmen wird in einer temporalen und personalen Relation positiver Bestätigung im Gehorsam Jesu Christi Realität. Es ist entscheidend, dass die Feststellung »daß Jesus Christus gehorsam wurde bis zum Tode, dem Kreuzestode« (KD IV/1, 218) diese beiden Aspekte in sich vereint: Einerseits den Gehorsam als Antipode zur menschlichen Sünde und andererseits die zeitliche Bewährung und Erfüllung dieses Anerkennungsverhältnisses. Es steht daher in dieser bestätigenden Kontinuität konträr zum disruptiven, kontingenten Widerspruch der menschlichen Sünde als Hochmut gegen Gott und damit als Wiederherstellung des Gnadenbundes Gottes mit den Menschen. Der Gedanke supralapsarischer Diskontinuität impliziert daher eine trinitätstheologische Paradoxie aus Kontinuität ad intra bei gleichzeitiger Diskontinuität ad extra: Wir haben es auch in der Knechtsgestalt seiner Gegenwart und Aktion in Jesus Christus mit ihm selbst in seiner wahren Gottheit zu tun. Die Demut, in der er in Jesus Christus wohnt und handelt, ist ihm nicht fremd, sondern eigentümlich. Ein novum mysterium ist seine Demut für uns, denen zugute er sie betätigt, indem er in seiner Freiheit dazu Gebrauch macht, seine Liebe auch seinen Feinden gegenüber, sein Leben auch im Tode ins Werk setzt und so, unseren falschen Gottesbegriffen zuwider Gebrauch macht. Für ihn aber ist diese seine Demut kein novum mysterium. (KD IV/1, 210f.)
Die bleibende Spannung aus Kontinuität und Diskontinuität der Inkarnation und des Lebens Jesu zum ewigen Sein Gottes lässt sich vorläufig so festhalten: Das tertium comparationis der Kontinuität von Gottes Heilsintention des Bundes und der Diskontinuität der Intervention des Gerichts ist der Gehorsam des Menschen Jesus von Nazareth, der in der Gnadenordnung des Bundes lebt. Nur darin entsprechen sich die Treue des trinitarischen Gottes und seine Opposition gegen die menschliche Sünde als Undankbarkeit und Hochmut. Gott selbst aber »verändert sich nicht, indem er sich selbst schenkt« (KD IV/1, 223). Das Gericht als Intervention und Reaktion auf das menschliche Unrecht wird bei Barth also von einer supralapsarischen Grundstruktur gerahmt. Barths architektonische
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Entscheidung, die Geschichte Jesu Christi als teleologische Kondeszendenzbewegung und nur als solche als intervenierendes Gerichtsgeschehen zu interpretieren, ist eine folgenreiche Weichenstellung dafür, wie Versöhnung und Erlösung in diesem Modell als Rechtsgeschehen modelliert werden. Den Einzelaspekten des Gerichts Jesu Christi in Barths Versöhnungslehre ist daher im Folgenden nachzugehen.
3.2 Das Christusgeschehen als juridischer Prozess Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass die juridische Logik dieses Modells auf einer bundestheologischen Bestimmung relationalen Rechts beruht. Indem Barth den Bund geschichtlich strukturiert, wird das Christusgeschehen als subversive Intervention Gottes gegen das Böse in Gestalt der menschlichen Sünde sichtbar. Die kenotische Bewegung Jesu Christi mündet in Barths Feststellung, dass Jesu Christi Gang in die Fremde »das Kommen des Sohnes Gottes in die Welt, die Erscheinung und das Werk ihres, eines jeden Menschen Richters in sich schließt« (KD IV/1, 238). Das forensische Modell des ersten Bandes der Versöhnungslehre perspektiviert das in Christus realisierte Heil und die durch den Heiligen Geist offenbarte Erlösung als ein Rechtsgeschehen. Diese Auseinandersetzung Gottes mit dem menschlichen Unrecht spitzt sich im Kreuz und im Tod des Gottessohnes zu. Golgatha wird daher für Barth soteriologisch, eschatologisch und epistemologisch zum archimedischen Punkt: »Die Passion Jesu Christi als das Gottesgericht, in welchem der Richter selbst der Gerichtete war, ist zentral dieser für uns, an unserer Stelle, erfochtene Sieg im Kampf gegen die Sünde« (KD IV/1, 280). Die Besonderheit und zugleich strukturelle Schwierigkeit dieses Modells ist, dass dieser Rechtsakt – wie eingangs beschrieben – nicht an ein kodifiziertes Recht (Gesetz) gebunden ist, sondern dass Barth Gerechtigkeit und Gnade Gottes in eins setzt. Indem das Recht zum Attribut des Bundes wird, bemisst sich Gottes Rechtsforderung nicht an einem externen und objektiven Maßstab, wie in der profanen Rechtsprechung in Form kodifizierter Gesetzbücher geläufig. Stattdessen versteht Barth die Rechtsforderung Gottes zirkulär: Gottes Rechtsforderung besteht in der Anerkennung von Gottes Recht 15 und das Kreuz ist die Erfüllung dieser Rechtsforderung. Barth beschreibt den juridischen Prozess, der sich in der Passion Christi vollzieht, anhand vier verschiedener Dimensionen des einen Stellvertretungsgeschehens. In ihm realisiert sich Gottes Heilsintention als rettende Intervention des
15
Dieser formalen Bestimmung von Gottes Recht soll an späterer Stelle im Gespräch mit Anerkennungstheorien nachgegangen werden.
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Gerichts, das den Menschen als Täter des Unrechts mit der Gerechtigkeit Gottes konfrontiert. Er kann es [das Gericht] auch so – und das in seiner ganzen Strenge – vollziehen, daß es eben durch seinen Vollzug zu dem kommt, was der Mensch in seiner ganzen Verkehrtheit sich selbst schaffen möchte und nimmermehr verschaffen kann: zu seinem Freispruch (KD IV/1, 243 [Anm.: B.F.]).
Dieses Kapitel analysiert daher Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen als am Kreuz geschehene Überwindung des sündigen Menschen. Dies geschieht im Folgenden zunächst anhand einer Analyse des Teilparagraphen §59.2 Der Richter als der an unserer Stelle Gerichtete.
3.2.1 Vierdimensionale Stellvertretung Die Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen am Kreuz beschreibt das Gericht als eine Auseinandersetzung mit dem Menschen als dem Täter des Unrechts. Wenn überhaupt, so wird der Mensch nur von dort abgeleitet auch als Opfer dieser selbst hervorgebrachten Umstände, thematisiert: »Als Subjekt der Sünde, der Sünden, der Übertretung befindet sich der Mensch in einem solchen für ihn fatalen Rechtsverhältnis, unter einer solchen untragbaren Verbindlichkeit, in solcher Gefangenschaft« (KD IV/1, 282). Dabei geht es in Barths forensischer Soteriologie weniger um eine Konfrontation mit den Phänomenen und Effekten des Bösen, sondern vielmehr um das Sein des Menschen, der zum Sünder geworden ist.16 Dies geschieht konkret in der Komplementärbewegung des Ganges des Sohnes in die Fremde, der eben darin zum Gericht wird. Albert Dahm hat dies in seiner Studie zum Gerichtsverständnis Barths treffend beschrieben: »Gottes Kenosis in Jesus Christus bringt den in seinem Hochmut befangenen Menschen in die Krisis. Gott richtet in der Erniedrigung des Sohnes den sich selber erhöhenden (und gerade so fallenden) Menschen.«17 Das malum, dem sich dieses Modell vornehmlich widmet, ist (der vertikal argumentierenden Logik Barths folgend) eine unrechtmäßige, die Gnadenordnung pervertierende Aufwärtsbewegung, eine Selbstüberhöhung des Menschen, der sich in die Richterposition über sich selbst zu erheben sucht. Gegen dieses Unrecht kämpft das Kreuz in der subversiven Reversion des Richters: Der als der gerichtete Knecht selbst richtende Herr handelt singulär an diesem einen Ort der Geschichte so, dass darin das fundamentalste Unrecht des Sünders offenbar, widerlegt und negiert wird: 16
17
Günter Thomas hat daher als eines der zentralen Probleme von Barths forensischer Christologie markiert, dass Barth stärker »zwischen dem Sein des Sünders und der Macht der Sünde als Nichtigem« hätte differenzieren müssen; vgl. Thomas, »Der für uns ›gerichtete Richter‹: Kritische Erwägungen zu Karl Barths Versöhnungslehre«, 218. Dahm, Der Gerichtsgedanke in der Versöhnungslehre Karl Barths, 140.
Das Christusgeschehen als juridischer Prozess
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Weil er ein Mensch war wie wir, darum war er in der Lage, als Mensch gerichtet zu werden, wie es uns zukam! Weil er Gottes Sohn und selbst Gott war, darum hatte er die Kompentenz und Macht, sich das an unserer Stelle widerfahren zu lassen! Weil er der in unsere Mitte getretene göttliche Richter war, darum hatte er die Autorität, eben damit – in dieser seiner Selbsthingabe ins Gericht an unserer Stelle – die göttliche Justiz der Gnade zu üben, uns auf Grund dessen, was ihm an unserer Stelle widerfuhr, in Wahrheit gerecht und also von Anklage, Verurteilung und Strafe freizusprechen, uns aus dem uns drohenden Verlorengehen zu erretten! Und weil er sich in göttlicher Freiheit auf dem Wege des Gehorsams befand, darum weigerte er sich nicht, in solcher Hingabe den Willen seines Vaters seinen eigenen sein zu lassen (KD IV/1, 244f.).
Das sich in diesem Zitat in nuce präsentierende Gerichtsverständnis entfaltet Barth als ein vierfaches, exklusives Stellvertretungsereignis. In vier verschiedenen Substitutionsaspekten18 interpretiert Barth die Kenosis der Geschichte Jesu Christi als performatives Gericht und das Kreuzesgeschehen als Rechtfertigung des Sünders.19 Nachweislich folgt Barths Argumentation nicht der gewohnten Dreistelligkeit des biblischen Gerichtsgedankens (Richter, Kläger, Beschuldigter).20 Vielmehr werden diese in Personalunion in Jesus Christus vorstellig. Dennoch lässt sich das Kreuzesgeschehen als Rechtsakt in verschiedene Teilmomente differenzieren, die ich im Folgenden als die vier Dimensionen der Stellvertretung beschreibe. Sie bilden den systematischen Nexus dieses Modells und lassen sich unterteilen in in die Aktion und die Passion des Geschehens, sowie in eine erste wiederum 18
19
20
Für ein Referat der hochgradig verzweigten Diskussion um den Stellvertretungsbegriff ist an dieser Stelle nicht der Ort. Für eine theologie- und kulturgeschichtliche Hinführung vgl. Janowski, »›Stellvertretung‹: Polysemie, Ambivalenzen und Paradoxien«; während auch religions- und theologiegeschichtlich häufig die Kategorie der Stellvertretung mit der Kategorie des Opfers in Verbindung gebracht wird (vgl. Frisch und Hailer, »›Ich ist ein Anderer‹: Zur Rede von Stellvertretung und Opfer in der Christologie«), betrachtet besonders Stephan Schaede die juridisch geprägte Begriffsgeschichte: Schaede, Stellvertretung; außerdem: Schaede, »Jes 53, 2Kor 5 und die Aufgabe systematischer Theologie, von Stellvertretung zu reden«. Die vitalisierenden und freiheitsstiftenden Aspekte von Handlungen und die so kulturell prägenden Denkformen der Stellvertretung betrachtet Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Dabei unterscheidet Barth nicht konsequent in ein Versöhnungsgeschehen in se und in eines pro me; vielmehr ist die zweite Perspektive in der ersten enthalten. »Im stillen Gespräch« mit Rudolf Bultmann – wie Barth im Vorwort bemerkt – betont er die ontische Priorisierung des Kreuzesgeschehens für sich und stellt heraus, dass dieses Geschehen nicht nur eine Initiation ist, die dann in der menschlichen Existenz ihren Fortgang hat: »Er wird also nicht erst ›für uns‹, indem es bei uns zu irgendwelchen Nach- und Mitvollzügen kommt, sondern er ist ›für uns‹ unabhängig von der Beantwortung der uns allerdings gestellten Frage nach solchem Mit- und Nachvollzug, in sich selber. Das Heilsereignis geschah dort, damals in Ihm und so für uns. [...] Es ist in seiner Geschichte vollständig« (KD IV/1, 252). Vgl. Thomas, »Der für uns ›gerichtete Richter‹: Kritische Erwägungen zu Karl Barths Versöhnungslehre«, 220f.
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Modell 3: Juridische Eschatologie
passive Konsequenz (Verurteilung des Unrechts) und eine zweite, nun aktive Konsequenz (Aufrichtung des Rechts) des Kreuzes als Rechtsakt.21 Aktion Jesus Christus war und ist für uns, indem er als Richter an unsere Stelle getreten ist (KD IV/1, 254).
Die erste Dimension der Stellvertetung nimmt das Subjekt des Richterspruchs in den Blick und vollzieht darin eine Umkehrung des menschlichen Seins in der Sünde: »Mensch Sein heißt praktisch: Richter sein wollen, befähigt und befugt sein wollen uns selbst frei und gerecht und die Anderen mehr oder weniger schuldig zu sprechen« (KD IV/1, 254). Das Sein in der Sünde steht damit für Barth unter dem Verdikt moralischer, religiöser und weltanschaulicher Selbstrechtfertigung. Es ist die Grundstruktur einer verwehrten Anerkennung von Gottes alleinigem Recht, über Gut und Böse zu entscheiden. Dagegen ist Jesu Richtersein am Kreuz der archimedische Punkt, von dem aus dieses Unrecht, das sündige Richter-Sein-Wollen des Menschen als solches (1) de jure ins Unrecht gestellt, (2) als solches aufgedeckt und (3) im selben Zuge de facto überwunden wird: »Es ist eben nichts mit seinem Wissen um gut und böse, er ist eben nicht Richter. Jesus Christus ist Richter« (KD IV/1, 254f.). Damit einher geht Barths konsequenter Verweis auf den actus purus des Kreuzes und dessen Selbstauslegung, worin er das Problem der epistemischen Gewissheit aufgenommen sieht. Das Problem der Anerkennung des Richterseins Jesu Christi über die vielen moralischen, religiösen und ideologischen Deutungsmachtsansprüche der Welt meint Barth damit lösen zu können, indem er in gesteigerter Rhetorik und in der Radikalisierung des solus Christus auf das Kreuzesgeschehen verweist: Er ist es nicht nur über uns: als höchste Instanz etwa, die man endlich und zuletzt auch noch zu bedenken und zu respektieren hätte. Er ist es radikal und total: für uns, an unserer Stelle. Er weiß, urteilt, entscheidet genau dort, wo wir es für unsere Sache halten, das Alles zu tun (KD IV/1, 255).
Barth interpretiert diese Stellvertretung als Grund der Befreiung des Menschen aus seinem Sündersein. Er ist faktisch aus dieser Rolle entlassen, kraft dessen, dass Jesus Christus der ist, der über Recht und Unrecht zu befinden hat: »Und so bedeutet Befreiung, daß es in Jesus Christus geschehen ist, daß wir aus jenem Richteramt entsetzt und entlassen wurden, weil zu dessen Ausübung Er an unsere 21
Diese Aufschlüsselung dieser vier Stellvertretungsaspekte entspricht Barths eigener Hervorhebung in den vorangestellten Zitaten, die als Zwischenüberschriften in diesem Teilparagraphen fungieren; vgl. dazu auch den aufschlussreichen und die sozialethischen Implikationen des Rechtsvollzugs in den Blick nehmend Gorringe, »Crime, Punishment, and Atonement«.
Das Christusgeschehen als juridischer Prozess
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Stelle getreten ist« (KD IV/1, 257). Der Mensch wird – so interpretiert Barth das Kreuz – faktisch seiner falschen Verantwortung enthoben und so in einem ersten Sinne gerichtet. Barths Argumentation trägt objektivistische Züge, die an dieser Stelle einzuordnen sind:22 Sie wehren sich gegen ein Gerichtsverständnis, welches sich im Medium des Gewissens, des Glaubens oder einer anderen Form der Anerkennung dieses Geschehens vollzieht. Damit tilgt das Kreuz die Grundbedingung der Sünde in ihrer Form als Undankbarkeit und Hochmut; nämlich darin, dass die ehedem entscheidende Frage nach der Anerkennung von Gottes Richtersein als solche keine letzte Bedeutung mehr hat. Die theologische Pointe Barths wäre also darin zu fassen, dass Jesus Christus als der Richter an die Stelle des richten wollenden Menschen getreten ist; die Gültigkeit dieses Geschehens hängt nicht an deren Anerkennung durch den Menschen, sondern besteht darin, dass sie von Gott selbst in Kraft gesetzt wird. Diese verobjektivierende Singularisierung des Kreuzesgeschehens stellt jedoch die forensische Analogiefähigkeit in Frage: Und zwar nicht nur darum, weil Barths Interpretation des Gerichts auf die notwendige (und rechtmäßige) personale Differenzierung von Rechtsprechung verzichtet (anklagende, angeklagte und richtende Person)23 . Schwierig nachzuvollziehen ist darüber hinaus, dass diesem Gericht keine unabhängige Referenzgröße vorausgeht, nach der sich Gerechtigkeit bemessen lässt. Indem Barth nämlich die Rechtsnorm wie auch den Vollzug der Gerechtigkeit in der Kenosis des Kreuzes zusammenführt, verliert das Kreuzesgeschehen als Rechtsprechung seine kritisch-komparative Funktion, weil nicht erkennbar wird, worauf es sich bezieht. Diese Schwierigkeit ist modellbedingt und in der bundestheologischen Struktur von Barths Rechtsverständnis begründet. Um die Deutung des Christusgeschehens als stellvertretendes Richten Jesu Christi angemessen nachvollziehen zu können, bräuchte es daher eine stärkere Differenzierung zwischen Gericht und Gerechtigkeit, die sich Barth aber durch die enge systematische Verbindung von Erwählungstheologie, Christologie und Epistemologie verbaut. Ohne eine solche Modifikation von Barths juridischer Soteriologie, die damit auch eine sehr spezifische Modifikation dieses Modells bedeutet, kann systematisch kaum Rechenschaft abgelegt werden, warum Christus hier Gerechtigkeit übt, wie seine Kenosis dem ewigen Ratschluss Gottes entspricht. Die Betonung der Singularität des Kreuzesgeschehens und dessen epistemologische Referenzlosigkeit durch seinen archimedischen Charak22
23
Zur Funktion der Objektivierung im Kontext von stellvertretenden Opferritualen vgl. Frisch und Hailer, »›Ich ist ein Anderer‹: Zur Rede von Stellvertretung und Opfer in der Christologie«, 71f. Auch wenn Barth die Kategorie des Opfers in seiner Kreuzestheologie nicht bemüht, ist die von Frisch und Hailer getätigte Aussage, dass »Selbstidentifizierung durch Selbstdistanzierung« stattfindet, für diesen Zusammenhang aufschlussreich. Vgl. Thomas, »Der für uns ›gerichtete Richter‹: Kritische Erwägungen zu Karl Barths Versöhnungslehre«, 220f.
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ter bringt die Schwierigkeit mit sich, dass undeutlich wird, warum dieses Gericht letztlich die Überwindung des menschlichen Unrechts bewirkt. Soll die Redeform der Versöhnung als Rechtsgeschehen theologische und religiöse Erschließungskraft haben, so muss sie zumindest partiell analogiefähig sein. Zu jedem Rechtsgeschehen gehört jedoch ein nachhaltiges System der Anerkennung juridischer Entscheidungsfindung, deren Gültigkeit darin bestätigt wird. In Barths Behandlung des stellvertretenden Richterseins bleibt jedoch die Frage nach der universellen Anerkennung von Jesu Christi universellem Richtersein als dem wahren Richter offen.24 Denn wenngleich Barth das Richtersein Jesu Christi als geschichtliches Faktum betont, so ist davon nur vom Standpunkt des Glaubens aus zu sprechen.25 Wenn die theologische Deutung des stellvertretenden Richterseins Jesu Christi ihr Gewicht auf den actus purus und weniger auf die Affizierung der menschlichen Existenz legt: Worin wehrt dieses Modell einer rein nominalistischen Auffassung von Versöhnung und Erlösung? Und sollte ihr dies dennoch gelingen, so bleibt weiter offen, wodurch ein neuerlicher Fall des Menschen in eine hochmütige Existenz ausgeschlossen sei. Passion Jesus Christus war und ist für uns, indem er an unsere, der Sünder Stelle getreten ist (KD IV/1, 259).
Unter diesem zweiten Aspekt des Einstehens für den, über den dieses Gericht gesprochen wird, macht sich Barth den klassischen Duktus reformatorischer Rechtfertigungstheologie zu eigen: Es geht um die rechtmäßige Übernahme einer Stelle, an der eigentlich der sündige Mensch zu stehen hätte. Unter diesem Gesichtspunkt ist von der passiven Rolle des Gerichtetwerdens zu sprechen, das die Konsequenzen der menschlichen Existenz als einer sündigen Existenz coram Deo bedenkt. Ebenso rechtmäßig und barmherzig26 trägt diese aber nun der an unsere Stelle getretene Gottessohn: »er handelt damit als Richter an unserer 24
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Dieser Frage widmet sich das sog. dritte Problem der Versöhnungslehre Barths. Es wird im letzten Modell dieser typologischen Studie aufgenommen und thematisiert die erlösungstheologische Bedeutung der Offenbarung als Bewahrheitung der Heilsverheißung. Diesen Zusammenhang haben Ralf Frisch und Martin Hailer in Bezug auf die repräsentative Stellvertretung Jesu Christi herausgestellt: »Aus der österlichen Perspektive besehen offenbart also die gottfeindliche Welt am Kreuz ihr innerstes Wesen, die destruktive christologischanthropologische Wahrheit über sich selbst. – Paradoxerweise verurteilt sich diese Welt aber gerade dadurch selbst, daß sie einen anderen verurteilt, d.h. im Namen ihrer Wahrheit der Unwahrheit bezichtigt« (Frisch und Hailer, »›Ich ist ein Anderer‹: Zur Rede von Stellvertretung und Opfer in der Christologie«, 68). Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass Barth das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bzw. Gnade nicht diastatisch versteht. Die Barmherzigkeit setzt nicht das Recht aus – und so ist auch das Recht nicht unbarmherzig. Diese wechselseitige Bestimmung von Recht und Barmherzigkeit ist der Grund dafür, wie der Akt der Stellvertretung zu einer Restitution eines ehedem korrumpierten Rechtsverhältnisses führt: »Es geht ihm wirklich darum, Ordnung
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Stelle, daß er eben das, was wir an dieser Stelle tun, auf sich, auf seine eigene Verantwortlichkeit nimmt« (KD IV/1, 259). Dieser zweite Aspekt der Stellvertretung impliziert eine differenzierte Verbindung von Christologie und Hamartiologie: Denn die Fleischwerdung des Sohnes bedeutet auch eine Konfrontation Gottes mit dem Fleisch, das der Sünde verfallen ist. Dementsprechend, dass Barth in diesem Modell das Böse als von einem zur Verantwortung zu ziehenden Täter ausgehenden Rechtsbruch interpretiert, besteht er darauf, die Verbindung von Christologie und Hamartiologie über die personale Kategorie des Sünders und nicht über die Tat und Handlung der Sünde zu zeichnen: Ohne dennoch selbst zu sündigen, trägt Christus die Konsequenzen und die Verantwortung für die menschliche Sünde. Am Kreuz verdrängt Christus die Person des Sünders aus dem Stand, in welchem dieser dafür haftbar gemacht werden könne: »Es ist wahr, daß wir durch ihn, indem er sich unsere Sünde zu eigen macht, auch in dieser Hinsicht von unserem Ort verdrängt sind« (KD IV/1, 265). Es geht in diesem Geschehen also weder um eine epistemische Standortverschiebung, noch um einen nominalistischen Rollentausch. Barth betont dagegen analog zu der exklusiven Stellvertretung des aktiven Gerichts Jesu Christi auch die Exklusivität unter diesem passiven Aspekt: In Jesus Christus ist das Gericht über den Sünder ein für alle mal und irreversibel gesprochen. In dieser Exklusivität lokalisiert Barth ferner eine – nicht weiter von ihm egründete und systematisch nicht geklärte – Transformation des sündigen Menschen: Eben was wir sind, wollte er selbst werden, um es von innen her anzugreifen und umzukehren, es umzuschaffen in ein Neues, in das Sein des mit ihm versöhnten Menschen. Eben in seinen Händen ist nur gerade unser Sündersein: gerade als solches ist es also in seiner ganzen Realität nicht mehr in unseren eigenen Händen: nicht mehr Gegenstand unserer Sorge und Angst vor ihm als unserem Richter (KD IV/1, 266).
Die Konfrontation Gottes mit der menschlichen Sünde findet daher in diesem Modell ontologisch auf einer Ebene statt, in der sich Gott selbst der Gefährdung des Bösen aussetzt. In diesem Sinne ist das Kreuz Gottes exklusive Auseinandersetzung mit dem Bösen, insofern es die letzte Konsequenz der Geschichte von Jesu Christi Demut im Gegensatz zum menschlichen Hochmut zur Darstellung bringt. Darin streitet der erniedrigte Christus bis zum Tiefpunkt seiner Kenosis am Kreuz. Barths Betonung der Singularität des Gerichts am Kreuz bemüht sich zugleich um eine inklusive Interpretation dieser Stellvertretung und schließt daran eine effektive Transformation des sündigen Menschen an: zu schaffen, die Welt zu sich hin umzukehren und so echt und recht mit sich zu versöhnen. Er vollzog also nicht den Akt irgend einer Willkürgüte – durch einen solchen konnte der Welt nicht geholfen sein – sondern er tat (so zu sagen!) ganze saubere Arbeit« (KD IV/1, 260).
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Modell 3: Juridische Eschatologie Daß er uns darin vertritt, heißt nicht, daß wir es in Wahrheit nicht seien, sondern daß das, was wir in Wahrheit sind, unser Sündersein, von ihm aufgenommen ist, in göttlicher Macht verantwortet und eben damit uns in göttlicher Autorität abgenommen, vergeben ist (KD IV/1, 265).
Daher impliziert dieses Geschehen eine Veränderung, die auf die göttliche Anerkennung des Menschen als gerechtfertigtem Sünder abzielt. Wie Berthold Klappert zurecht betont, vollzieht Barth »eine Korrektur eines an Schuld und Strafe, an meritum und imputatio orientierten Stellvertretungsbegriffs zugunsten eines christologisch-personalen Stellvertretungsbegriffs«.27 Die Konsequenz, die Barth daraus unmittelbar zieht, hintergeht jedoch seine eigene Einsicht aus dem ersten Stellvertretungsaspekt. Für ihn evoziert dieses Geschehen nämlich wiederum eine kaum nachvollziehbar zu machende Internalisierung des Gerichts Jesu Christi in Form einer Selbstrichtung, wenn er behauptet: »Darum sind wir Jesus Christus gegenüber zum schlichten Bekenntnis der gottwidrigen Art des Bösen und des Faktums, daß wir es tun, gezwungen« (KD IV/1, 264). Barth baut damit zwar eine vordergründige Brücke zwischen einer forensischen und einer effektiven Interpretation des Rechtfertigungsgeschehens, jedoch unterläuft er damit seine eigene Einsicht der Singularität des Gerichts auf Golgatha. Dieser Akt der Buße wird zwar nicht zur zeitlichen Vorbedingung der Versöhnung selbst gemacht; er wird jedoch als deren zwingende Folge einer bereits de jure und (!) de facto vollzogenen Veränderung zu deren neuerlicher Konditionierung. Denn offensichtlich bedarf das Kreuzesgeschehen einer Anerkennung seiner juridischen Funktion. Damit steht jedoch zugleich die radikale Singularität des Gerichts Jesu Christi auf dem Spiel. Wird aber die Ausgangsthese dieser beiden ersten Stellvertretungsaspekte ernst genommen, so kann das Kreuz als singuläres Gerichtsgeschehen nicht erneut in eine Logik rechtmäßiger Erwartung überführt werden. Die eigentliche Pointe des Gerichts vereint beide Aspekte der Stellvertretung Jesu Christi; dass nämlich Jesus Christus »der ganz allein Gerichtete und Verurteilte, Verworfene, wie er auch ganz allein der in unserer Mitte getretene und amtierende Richter ist« (KD IV/1, 261). Damit wird die Stellvertreterrolle Jesu Christi auch material zum archimedischen Punkt des Gerichts, der beide Dimensionen miteinander verbindet. Er gipfelt in Barths bekanntem Diktum, dass Christus in der Versöhnungstat am Kreuz als der »gerichtete Richter« erscheint. Als exklusives, singuläres Geschehen kennt es keine Analogie in der Geschichte. Und so schließt Barth an eine frühere Einsicht aus der Gotteslehre: »Das wirkliche Gericht Gottes ist die Kreuzigung Christi allein« (KD II/1, 445).28 27 28
Klappert, Versöhnung und Befreiung, 107. Die weitreichenden Folgen dieser Feststellung können nicht im einzelnen ausgeführt werden. Angedeutet sei zumindest eine geschichtstheologisch bedeutsame Konsequenz: Barth wendet sich mit dieser These scharf gegen jede Vorstellung, dass die Geschichte selbst das Gericht
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Die Exklusivität dieses einen ist für Barth die Grundlage für einen eschatologischen Realismus, von dem her er den gesamten epistemologischen Apparat seiner Theologie einer Kritik zu unterziehen sucht. Konkret wird dies darin ertragreich, dass er die Christologie zum Erkenntnisprinzip für eine der Kernfrage rechtfertigungstheologischen Denkens erhebt – der Frage nach der Freiheit eines Christenmenschen: Eben dort, wo wir unsere vermeintlich so glorreiche Freiheit hatten und ausübten, uns selbst zu rechtfertigen und Recht zu verschaffen – unsere Freiheit zu sündigen! – eben dort steht nun, für uns verklagt, verurteilt und verworfen, aber in seiner ganzen göttlichen Majestät Er. [...] Und schlüge er [der nunmehr befreite Mensch] diesen Weg aufs Neue ein, dann könnte es auch nicht fehlen, daß ihm seine Sünde aufs neue Angst und Sorge bereiten müßte (KD IV/1, 267 [Anm.: B.F.]).
Letzteres wird angesichts Barths exklusiv-christologischer Ontologie jedoch zur unmöglichen Möglichkeit; wenngleich sich der Mensch in dieser Sorge wähnte, so sei diese Sorge jedoch ein Verkennen der in Christus vollbrachten Versöhnung, die an der soteriologischen Realität dieses Geschehens vorbeiginge. Der Versuch, das Rechtfertigungsgeschehen in einer zeitlichen Abfolge logisch kohärent zu fassen, ist, wie das Paradoxon des simul iustus et peccator zeigt, nicht durchzuführen. Die formallogisch schwer nachvollziehbare Formulierung der »unmöglichen Möglichkeit« der menschlichen Sünde macht demnach weniger auf einen Schwebezustand aufmerksam, sondern stellt vielmehr den Versuch dar, die Differenz von Versöhnung und Erlösung angesichts des ein für alle mal bereits erwirkten Heils in Jesus Christus aufrechtzuerhalten – ohne die archimedische Heilsontologie des Kreuzes infrage zu stellen. Auch unter dem Aspekt Jesu Christi stellvertretenden Einstehens an des Sünders Stelle weist dieses bereits geschehene und so auch nicht mehr zu wiederholende Gericht auf eine Eschatologie hin, in der diese letzte Differenz, die dem paradoxen Werden des Bösen eingeschrieben ist, de jure und de facto überwunden sein wird.29
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wäre. Insofern ist auch geschichtliches Leiden nicht auf ein strafendes oder richtendes Handeln Gottes zurückzuführen – eine Perspektive, die gerade in der Theologie nach der Schoah und den Völkermorden des 20. und 21. Jahrhunderts einerseits heilvoll ist, aber auch schwerwiegende Fragen aufwirft: Welche Hoffnung auf Gerechtigkeit eröffnet die Rede vom gerichteten Richter für diese Opfer gravierendsten Leidens ohne die Verheißung eines jüngsten Gerichts, das darüber hinaus nicht nur menschlichen Hochmut, sondern auch menschliche Demütigung adressiert und korrigiert? Eine forensische Eschatologie, die grundlegend rechtfertigungstheologisch argumentiert, bleibt diesem Malum gegenüber bedeutend schweigsam. Die Frage nach der Kompensation von erfahrenem Unrecht und die daran anschließenden fundamentalethischen Anschlussprobleme bleiben damit ungelöst. Sie sollen im Rahmen einer eigenen Kritik dieses Modells später aufgenommen werden (vgl. Kap. 3.3.2). Vgl. KD III/3, 418.
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Die Überwindung des Sünders Jesus Christus war und ist für uns, indem er an unserer Stelle gelitten hat, gekreuzigt wurde und gestorben ist (KD IV/1, 269).
Der dritte Aspekt der Stellvertretung Jesu Christi beleuchtet weniger die Relationen, sondern vor allem den Gerichtsprozess des Kreuzes. Barth baut damit auf den beiden vorangehenden Aspekten auf, die gemeinsam die Einheit von Aktion und Passion des gerichteten Richters zum Ausdruck bringen, wobei er nun auf das mit dem als Rechtsgeschehen bezeichnete Leiden, Gekreuzigtwerden und Sterben Jesu von Nazareth eingeht. Barth betont, »daß es laut des in Kraft getretenen und offenbarten Ratschlusses Gottes keines Geringeren als seiner selbst bedurfte, um die Verkehrtheit unseres Seins, um uns selbst zurechtzustellen« (KD IV/1, 276). Es geht also im Eigentlichen nicht um ein Leiden, das als Strafleiden einen Ausgleich zu erzielen sucht, sondern es geht im Wesentlichen darum, wer da leidet und stirbt. Erst von dorther kann das Leiden Jesu Christi als stellvertretendes Gericht und als Überwindung des status corruptionis verstanden werden. Die Frage nach dem cur Deus mortuus steht daher auf einer Linie mit der Beantwortung der Frage cur Deo homo. Denn nur von der funktionalen Bestimmung der mit der Inkarnation anhebenden Stellvertretung Jesu Christi als Richter und als an der Stelle des Sünders Gerichteter wird ersichtlich, warum in seinem Sterben das Gericht über den Menschen ergangen ist. Obwohl Barth die Kategorie der Sühne zu vermeiden sucht, greift er dennoch wiederholt auf diese Vorstellung des Todes als gerechter Strafe und als der Sünde Sold zurück (vgl. KD IV/1, 278).30 Der eigentliche Fokus Barths liegt jedoch nicht auf der Vergeltung, sondern der Überwindung des Bösen.31 Die theologische Weichenstellung ist hier in der Menschwerdung und 30 31
Vgl. Kaltwasser, »Barth on Death«, besonders 222–224. Günter Thomas hat gezeigt, dass sich Barth der Tradition Anselms nicht vollends entziehen kann. Insbesondere die Deutung des Kreuzesgeschehens als innertrinitarisches Ereignis lässt die Frage aufkommen, ob »die Vorstellung eines tötenden Zornesgerichts des Vaters an dem gesandten Richter nicht einen Keil in die Liebe des dreieinigen Gottes« treibt (Thomas, »Der für uns ›gerichtete Richter‹: Kritische Erwägungen zu Karl Barths Versöhnungslehre«, 213). Die Differenzen zwischen Barth und Anselm betont dagegen Jones, »Barth and Anselm«. Neben einer systematischen Untersuchung, die ebenfalls die innertrinitarischen Verhältnisse in beiden Theologien zu klären versucht, beschreibt P.D. Jones zudem die entscheidende Verbindung der Gehorsamskategorie (als stellvertretender Gehorsam) mit der Menschlichkeit Jesu Christi: »To his mind, Christ draws into his being the totality of human wickedness on the cross, thereby effecting an unmediated confrontation between God and sin – a confrontation in which the fire of God’s love ›burns up‹ humanity’s morbid fascination and involvement with das Nichtige, with that which God does not will« (Jones, 276). So richtig Jones Betonung der Menschlichkeit Jesu Christi in der Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen ist, ihm ist entgegenzuhalten, dass sich die Auseinandersetzung nicht gegen eine ontologisch unbestimmbare Größe des Nichtigen, sondern vielmehr gegen das Böse in menschlicher Person, gegen den bösen Sünder wendet.
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der Stringenz einer personal-christologischen Stellvertretung auszumachen. Mit Blick auf Barths Umstellung gegenüber einer Stellvertretung für den Sünder statt einer Sühne für die Sünde resümiert Klappert: Ist Jesus Christus an unsere Stelle getreten, wird der messianische Richter für uns zum Gerichteten, tritt der Sohn Gottes selbst an die Stelle der Gottlosen, dann ist angesichts dieser Solidarität Jesu mit den Sündern eine Unterscheidung zwischen dem Sünder und der Sünde unmöglich, dann ist in der Tat die Schuld nicht etwas Dinghaftes, etwas akzidentiell am Menschen Haftendes, das wie eine Geldschuld abgetragen werden kann.32
Das Gericht Jesu Christi kann daher vor dem Hintergrund von Barths substitutioneller Kreuzestheologie nicht als eine Differenzierung der Person des Sünders und der Taten seiner Sünde verstanden werden – es gibt für ihn in diesem Sinne keine Trennung von Person und Werk. Denn auf Golgatha stirbt Jesus Christus nicht für die Sünde, sondern für den Sünder. Indem er an die Stelle des Sünders tritt, macht er sich dessen Sein zu eigen – daher ist am Kreuz der Sünder selbst gestorben: »So, nicht durch irgendeine Beseitigung seiner Sünden, sondern durch die des Sünders selbst [...] des Subjekts der Sünde wird da Ordnung geschaffen« (KD IV/1, 326). Wenn das Kreuz mit einer strafenden Intention Gottes in Verbindung gebracht werden soll, dann »nicht aus irgendeiner göttlichen Vergeltungs- und Rachsucht, sondern kraft der Radikalität der göttlichen Liebe, die sich selbst nur eben in der völligen Auswirkung ihres Zornes gegen den Menschen der Sünde, nur eben in seiner Tötung, Auslöschung und Beseitigung ›genug tun‹ konnte« (KD IV/1, 280). Am Kreuz auf Golgatha wird daher nicht die Schuld der Sünde gesühnt, sondern es kommt zur Annihilation des an die Stelle des Sünders getretenen Christus. Als Aktion umschrieben ist es die Vernichtung der Wurzel des Bösen als die Auslöschung des Menschen, der Gott, seinem Richter, die Anerkennung als solchem verweigert hat und sich damit ins Unrecht gesetzt hat. Damit stellt das Kreuz die Einheit von Krisis und Versöhnung dar, indem es die Aufdeckung des Bösen wie auch dessen eigene Vernichtung ist. Jesu Christi Leiden trägt daher nicht die Schuld der Sünder, sondern er steht als logos ensarkos an der Stelle des Menschen. Das Kreuzesleiden ist daher kein stellvertretendes Strafleiden, sondern es ist Gottes radikale Option einer Überwindung des Bösen durch die Vernichtung des Sünders. Denn die selbstaufopfernde Demut Christi ist nicht nur das Komplement zum menschlichen Hochmut, sondern auch die Aufdeckung, dass »[w]as Jesus Christus ans Kreuz gebracht und was er am Kreuz besiegt hat, [...] das wirklich Nichtige« ist (KD III/3, 338). Dogmatisch ist damit die Verschränkung von Gericht und Versöhnung angedeutet.33 32 33
Klappert, Versöhnung und Befreiung, 108. »Therefore, in the vent of Christ’s death on the cross, God is not only faithful and just in Godself, God also destroys both sin and the sinful human, restoring us as God’s covenant
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Dieser Weg kann jedoch noch konsequenter verfolgt werden als dies Barth selbst tut. An dieser Stelle soll daher über Barth hinaus eine Modifikation der Denkfigur der stellvertretenden Annihilation erwogen werden, die Barths eigenen Grundlegungen entspringt: Denn die Analyse der beiden ersten Stellvertretungsaspekte hat gezeigt, dass Jesus Christus nicht nur stellvertretend gerichtet wird (Passion), sondern er auch stellvertretend und exklusiv Gericht spricht (Aktion). Gottes Verneinung des Sünders im Akt des Kreuzes kann daher nicht nur als die Annihilation des Gerichteten, sondern muss konsequenterweise zugleich auch als die Negation und Überwindung des Richters verstanden werden. Indem das Kreuz den Tod der Person des Sünders bedeutet, negiert es aber das Gericht als Ganzes. Konsequenterweise impliziert dann die Vorstellung der Singularität des Gerichts, dass in Christus das stellvertretend geschehene Gericht zugleich seine eigene Überwindung bedeutet – εϕαπαξ. Damit verliert aber – lässt man diese Modelllogik gelten – die Kategorie des Rechts ihre Bedeutung im Gnadenbund Gottes. Angesichts des Todes der Person des Sünders wird der Mensch aus seiner Rechtsverpflichtung entlassen, der er im status corruptionis de facto nicht nur nie nachgekommen ist, sondern der er auch praktisch nie nachkommen konnte. Dies erschließt für Barth die (von ihm tatsächlich selbst nur selten aufgerufene) Möglichkeit, das Gott-Mensch-Verhältnis nicht in der wiederum rechtlich zu fassenden Kategorie der (Bundes-) Partnerschaft,34 sondern in der Kategorie der Freundschaft zu verstehen: In Christus »ist der Mensch Gottes Freund und nicht mehr sein Feind. In Ihm ist der von Gottes Treue gehaltene, vom Menschen gebrochene Bund erneuert und wiederhergestellt« (KD IV/1, 277).35 Barth deutet diese Kategorie jedoch nur an und entfaltet sie im Kontext der Gott-Mensch-Relation nicht konsequent. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass sie im oben genannten Sinne das Potential zu einer Überwindung der auch in der Soteriologie des späten Barth weiterhin präsenten Ordnungstheologie hätte. Die Radikalität, mit welcher Barth das Auseinandersetzungsgeschehen am Kreuz als geschehene und exklusive Stellvertretung behauptet, lässt – wie im Abschnitt zuvor bereits kritisch gegen Barth gewendet – kein prozessuales und partizipierendes Nachvollziehen dieses Geschehens mehr zu. Soteriologisch ordnet Barth damit das solus Christus dem sola fide kosequent vor. Er spricht daher auch in Bezug auf das Leiden davon, dass das Kreuz etwas von unserem Glauben und
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partners. This substantiates our acquittal in Christ as God keeps the promise given humanity in its election as God’s covenant people« (Smythe, »Barth on Justification«, 297). Zur Partnerschaft als Metapher für die Gott-Mensch-Relation vgl. Krötke, »Gott und Mensch als ›Partner‹. Zur Bedeutung einer zentralen Kategorie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik«; Krötke hat diese Kategorie zuletzt auch für ein evangelisches Taufverständnis aufgerufen: Krötke, »Der ›Dienstantritt‹ der Partnerinnen und Partner Gottes: Die Taufe«. Zur Wiederentdeckung dieser Metapher für eine relationale Theologie vgl. Hofheinz, Mathwig und Zeindler, Freundschaft.
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unserer Existenzerfahrung »an sich Unabhängiges« ist (KD IV/1, 274). Damit wird, wie im folgenden Abschnitt noch weiter bedacht werden soll, das Gericht primär zu einem innertrinitarischen Geschehen. Die rechtfertigende Ökonomie des Wirkens des Heiligen Geistes als der Person der Trinität, die den menschlichen Glauben wirkt, hat in Bezug auf das Gerichtsgeschehen keine Bedeutung mehr. Das ist auch nur konsequent: Denn die Anerkennung des Kreuzes als Gerichtsgeschehen durch den Menschen, die im Wirken des Geistes durch den Glauben internalisiert wird, muss der Frage nach Recht oder Unrecht enthoben sein. In seiner Interpretation der Versöhnungslehre Barths weist Bruce McCormack auf eben diese Objektivität des Versöhnungsgeschehens als reformatorische Stringenz der Theologie Barths hin: [W]hat Jesus Christ accomplishes is not merely the possibility of reconciliation but the reality of it. Expressed even more concretely: justification is not first made effective when the Holy Spirit awakens faith in us; rather, the Spirit awakens faith in us so that we might live from an toward the reality of a justification that is already affective for us even before we come to know of it.36
Diese personal-stellvertretende Annihilation und die konsequente Betonung der Objektivität dieses Geschehens setzen jede Logik außer Kraft, in der eine neuerliche Korrumpierung der Anerkennung Gottes als seinem gerichteten Richter dem Menschen zum Verderben werden könnte. Indem er von Gott als ein Gerechtfertigter anerkannt wird, ist der Anlass und Ausgangspunkt des Rechtsbruchs, die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Anerkennung des Gnadenbundes Gottes obsolet; sie ist ein für alle mal beantwortet. Am Kreuz stirbt daher stellvertretend nicht allein der Gerichtete, sondern ebenso der Richter. Zu dieser Konsequenz kommt Barth expressis verbis selbst jedoch nicht. Eine konsequente Betonung der exklusiven und singulären Stellvertretung des Gerichts kommt hingegen zu dem Schluss, dass die Frage nach Gerechtigkeit keine eschatologische Entscheidungsgewalt über die Freundschaft Gottes mit dem Menschen haben kann. Was angesichts der offenkundigen Perspektivierung des Menschen als Täter der Sünde eine Hoffnungsperspektive entfaltet, ist in Bezug auf die Opfer dieser Geschichte hingegen höchst problematisch. Auf diese schwerwiegende Leerstelle des Barthschen Gerichtsgedanken ist später einzugehen. Das Tun der Gerechtigkeit Jesus Christus war und ist für uns, indem er an unserer Stelle das vor Gott und also in Wahrheit Rechte getan hat (KD IV/1, 282).
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McCormack, »Justitia Aliena«, 179.
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Die vierte Dimension der Stellvertretung thematisiert das Kreuz als Gericht Jesu Christi unter dem Aspekt der getanen Gerechtigkeit – sie fragt nach der Realisierung, Aktualisierung und Vollendung der Kategorie des Rechts. Rechtsprechung hat die kritische Aufgabe der Bewahrung und Bestätigung des Rechts. Diese Funktion erfüllt das Kreuz innerhalb dieses Modells, indem »diese negativ gestaltete Aktion [der Annihilation des Sünders] die große Position Gottes innerhalb der ihm feindlich und damit ihn verunehrenden und sich selbst zerstörenden Welt« ist (KD IV/1, 282). Die Vernichtung der Wurzel aller menschlicher Ungerechtigkeit ist somit die intervenierende Verwirklichung der Intention von Gottes Heilswillen. Im Tod Jesu Christi wird, indem über das Unrecht Gericht gesprochen wird, der Gerechtigkeit Gottes Recht getan. Darin erfährt Gottes Gerechtigkeit die von ihm selbst eingeforderte Anerkennung. Barth betont verschiedentlich, dass das Kreuz nicht nur als Überwindung des Sünders, sondern zugleich als Umkehrung des Menschen zu Gott hin gilt. Innerhalb der bereits hinreichend herausgearbeiteten vertikalen Denkstruktur, in welcher die Demut Jesu Christi als Kontrastierung des menschlichen Hochmuts gilt, gewinnt der Begriff des Gehorsams Jesu Christi als Anerkennung und Bestätigung der Gerechtigkeit Gottes entscheidende Bedeutung. Er bildet den systematischen Nexus aus Erwählung, Gericht und Heil: Das Recht, das Jesus von Nazareth als der gehorsame Sohn Gottes für uns tat, bestand aber schlicht in seiner völligen Bejahung jener Umkehr, jenes Vollzugs des Gerichts im Gerichtetwerden des Richters. Es bestand darin, daß er sich selbst eben dazu hingab. [...] Er betrat und bezog gewissermaßen einen archimedischen Punkt, von dem aus er die Erden bewegen konnte und tatsächlich bewegt hat (KD IV/1, 284).37
Damit wird aber deutlich, was Jesu Christi Aktion im Grunde ist. Sie ist zuallererst eine innertrinitarische Selbstbestätigung: Im Gerichtetwerden des Richters erweist sich Gott in Knechtsgestalt selbst die Anerkennung, die der Mensch als Sünder ihm in der Geschichte des Bundes als bundesbrüchiger Partner stets verwehrt. Jesu Christi Gehorsam ist Gottes eigene Selbstbejahung, die Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte Gottes ad intra und ad extra bedeutet: Dieses Geflecht aus Kontinuitäten und Diskontinuitäten äußert sich im Konkreten (a) in der Buße Jesu Christi als Unterbrechung des Kreislaufs der Gewalt, (b) in der Anerkennung des Kreuzes als Konsequenz einer Geschichte der Gewalt und (c) in der finalen Selbstbestätigung der Erwählung Jesu Christi, sich dieser Geschichte nicht zu entziehen. 37
Im Rahmen dieser Studie schenke ich dem Terminus der Bejahung jener Umkehr besondere Aufmerksamkeit. M.E. zeigen sich mit ihr nicht nur die sprachlichen Mittel, mit denen Barth Gericht und Gerechtigkeit inhaltlich darlegt, sondern auch Barths machttheoretisches Bemühen, die Passion als Aktion Jesu Christi und somit als Erfüllung der Mission des Gottessohnes zu verstehen.
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(a) Ein wesentliches Moment in der Versöhnungsgeschichte Jesu Christi ist seine Buße und die damit verbundene Unterbrechung der Eskalationskette menschlicher Sünde als Selbstrechtfertigung des Menschen. In der Inkarnation begibt sich Gott unter die Glieder dieser Kette und bewährt darin seinen Widerspruch zur Spirale menschlicher Gewalt im Gewand öffentlicher Ordnung sowie moralischer und religiöser Gerechtigkeit. Jesu Buße ist hingegen Gottes eigener Protest gegen die Autopoiesis menschlicher Sünde: »Es ist seine [des Menschen] Unbußfertigkeit, in der sich seine Sünde fort und fort erneuert. Jesu Sündlosigkeit bestand darin, daß er dieses Spiel nicht mitmachte« (KD IV/1, 284f.). Dagegen streitet das Leben, Leiden und Sterben Jesu, welches Barth im Blick auf die Gethsemane-Erzählung im Ganzen als ein Leben in der stellvertretenden Buße beschreibt; ein Leben, das auch als Opfer im Angesicht seiner Täter diese Haltung bewahrt und bewährt: »Er wollte in der Buße und also im Gehorsam verharren« (KD IV/1, 289). Mit der Betonung des Gehorsams Jesu Christi unterstreicht Barth die Aktivität in der Passion Gottes. Zwischen den Zeilen wird damit angedeutet, dass Gottes Intervention in seiner Reaktion auf die menschliche Sünde unverbrüchlicher Teil der Intention der Geschichte der Trinität ist. Sacrifice und victim sind im Opfer Jesu kopräsent. Sie sind jedoch differenzierbar: (b) Die Passionsgeschichten der Evangelien erzählen das Schicksal des leidenden Gottessohnes nicht als das eines souveränen Akteurs. Sie weisen sehr deutlich daraufhin, dass Jesus zum Spielball der Gewalten wird und der Gottessohn mit allen Mitteln des öffentlichen und religiösen Rechts letztlich hingerichtet werden muss. Barth bindet diese exegetische Beobachtung in den Rahmen einer Vorstellung der Vorsehung ein, in der zwar nicht die Eskalation der Gewalt der Passion als solche gutgeheißen wird, in deren Gesamtzusammenhang aber Jesu Hingabe (sacrifice) an sein Schicksal (victim) als Akt des Gehorsams gewertet wird.38 Die stellvertretende Gerechtigkeit des Gottessohnes besteht für Barth daher darin, »daß Jesus eben zu dieser Sprache der Tatsachen, zu dieser verdeckten Herrschaft Gottes durch die Herrschaft des Bösen, zu dieser im Rate der Vorsehung beschlossenen Wendung und Entscheidung gegen ihn nicht nur als zu Gottes eigenem Richterspruch Ja sagte, sondern sich dazu hergab, diesen Richterspruch selber und also über sich selbst auszusprechen, ja, indem er sein Leiden und Sterben unter den Händen der αµαρτωλι auf sich nahm, selber zu vollziehen« (KD IV/1, 298).
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An dieser Stelle sei auf die staurologische Teleologie der Vorsehungslehre Barths hingewiesen (vgl. KD III/3, 32f.) Wenngleich diese in der Geschichtstheologie in KD III/3 ohne weitere Folgen bleibt (vgl. Ritschl, »Sinn und Grenzen der theologischen Kategorie der Vorsehung«, 123), so wird dieser Gedanke von Barth hier wieder aufgenommen und konsequenter entfaltet. Denn das Gericht bricht nicht wundersam herein, sondern führt in der Fügung des Lebenswegs Jesu von Nazareth zu seinem Ziel am Kreuz von Golgatha.
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Jesus Christus wird zum Opfer einer Geschichte der Gewalt, indem er sich den Konsequenzen öffentlicher, religiöser und juristischer Verurteilung nicht entzieht. In der Geschichte der Passion identifiziert der Sohn seine eigene Leidensgeschichte als Gericht des Vaters. Dabei nimmt er das Handeln der Menschen, welches ihn ans Kreuz bringt, als Vollzug von Gottes verborgener Herrschaft an: Das Kreuz ist als die Koinzidenz von Vorsehung und Gericht die Mitte der Geschichte des Bundes. Es beschließt endgültig die Episode von Gottes Interaktion mit den Menschen, die die Gerechtigkeit des Menschen zur Bedingung des einen Gnadenbundes macht und eröffnet eine Episode, in der Gott seine Menschenfreundlichkeit ungeachtet der Kategorie des Rechts erweist. Die Versöhnungstat Gottes am Kreuz impliziert Jesu Christi Annahme seines Schicksals als Anerkennung, dass die Welt, die hier mit Gott versöhnt wird, eine Welt ist, die nicht allein durch den Aufruf zu einer besseren Gerechtigkeit dem Rechtswillen Gottes entspricht. Vielmehr ist es ein Eingeständnis Gottes, dass er mit dem Menschen nur trotz seines Sünderseins und gerade darum im Widerspruch dagegen Frieden schließen kann. (c) Das Kreuz markiert damit zugleich eine innertrinitarische Zäsur. Denn indem Jesus Christus am Kreuz stellvertretend für den Menschen das Gericht vollzieht und erleidet, verschafft Gott sich selbst im Gegenüber zum Menschen Gerechtigkeit. Er bestätigt damit die in der ewigen Gnadenwahl dem Menschen zukommende Bestimmung, indem er sie in und gegen diese Geschichte von Gewalt und Tod realisiert: Eben damit machte er den Sündenfall in seiner Person an ihrer Stelle und für sie alle ungeschehen. Er tat also damit das Rechte, daß er sich das zu sein nicht weigerte, was sie alle durchaus nicht sein wollen: der eine große Sünder, der mit allen Konsequenzen, die das nach sich zieht, Buße tut, er selber das eine verlorene Schaf, der verlorene Grosche unter hundert, der verlorene Sohn (Luk. 15,3f.) und also: Der Richter selbst der Gerichtete zu sein. Eben so war er Gott gehorsam (KD IV/1, 285).
Das Kreuz stellt somit in der Bewährungsgeschichte des Gehorsams des Sohnes den Klimax dar. Am Kreuz wird dieser Gehorsam schließlich als die radikale Anerkennung des richtenden, vernichtenden und annihilierenden Gerichts proklamiert. Der Sohn, als wahrer Gott in Knechtsgestalt, gibt dem Willen des Vaters recht, denn stellvertretend für alle Menschen hat er das von Gott eingeforderte Rechte getan. Treffend bemerkt daher Albert Dahm in Bezug auf die innertrinitarische Dynamik des Kreuzes: »Damit hat er das Rechte und so Gottes Rechtsanspruch Genüge getan. [...] Gottes Bundeswille trifft nun nicht mehr ins Leere, sondern findet auf seiten des Menschen Bestätigung und dankbare Anerkennung.«39 39
Dahm, Der Gerichtsgedanke in der Versöhnungslehre Karl Barths, 174.
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Zusammenfassend lässt sich zu dieser vierten Dimension der Stellvertretung sagen, dass sie das Gericht als Koinzidenz des Willens des Vaters und des Sohnes interpretiert. Denn mit dem Gehorsamstod Jesu Christi ist der Gerechtigkeit Gottes ein für allemal Recht gegeben. Die Kenosis des Gottessohnes bis zum Kreuz kontrastiert und invertiert den Hochmut des sündigen Menschen. In dieser stellvertretenden Anerkennung von Gottes Rechtsanspruch ist das Heil der Welt in der immanenten Trinität beschlossene Sache.
3.2.2 Die Auferstehung als Urteil des Vaters Die vorangehende Interpretation von Barths Kreuzestheologie bildet den Nexus dieses Modells. Er erschließt das stellvertretende Gericht nicht allein als Heilsereignis, sondern darüber hinaus als eine Zäsur in der Geschichte der Trinität. Zugleich bildet es die Grundlage für einen in der Modelllogik selbst angelegten Modellumbau: Indem Gott in Christus als stellvertretender Richter wie auch als stellvertretend Gerichteter sich selbst gegenüber Gerechtigkeit tut, negiert es jene Implikationen des Bundes, die den Menschen in ein juridisch codiertes Anerkennungsverhältnis zu Gott stellen.40 Es ist ersichtlich geworden, dass mit der stellvertretend getanen Gerechtigkeit am Kreuz der Weg für eine neue Kategorie des Gott-Mensch-Verhältnisses eröffnet wurde: Die Kategorie der Freundschaft. Barth selbst hat jedoch diese dogmatische Option nicht belastbar entfaltet und fällt in seiner Beschreibung des rechtfertigenden Glaubens wiederholt in das Muster einer bedingenden Anerkennung zurück. Im Folgenden soll dagegen eine – trotz dieser Rückfälle auch in Barths Versöhnungslehre aufscheinenden – Theologie der Auferstehung entfaltet werden, die dem radikalen ephapax des Gerichts im Sinne der oben rekonstruierten vierfachen Stellvertretung Rechnung trägt. Dieser Abschnitt versteht sich daher nicht als eine Rekonstruktion von Barths Auferstehungstheologie, sondern als eine systematische Fortschreibung der bis hierhin rekonstruierten Innovation dieses juridischen Modells – er geht damit mit Barth über Barth hinaus. Diese konstruktive Weitermodellierung ist darum notwendig, weil in Barths eigener Auferstehungstheologie in KD IV/1 die forensische Rollenverteilung nochmal eine neue, innerhalb dieses Modells geradezu inkonsistente Wendung erfährt: Während der 40
Damit ist eine Figur der Dekonstruktion angedeutet, denn das juridisch codierte Verständnis des Todes Jesu Christi eröffnet die Möglichkeit der Überwindung der Kategorie des Rechts im Gott-Mensch-Verhältnis. S. Mark Heim hat einen ähnlichen Dekonstruktionsmechanismus in der Opfertheologie beschrieben. In Anschluss an die Sündenbock-Theorie von R. Girard entwickelt er die Vorstellung, dass das Kreuz angesichts seiner Sinnlosigkeit die Kategorie des stellvertretenden Opfers offenbart, indem sich Christus zum Sündenbock machen lässt, dass aber dieser Mechanismus an sich selbst zerbricht und in der Auferstehung schließlich überwunden wird. In lebendiger Bildsprache beschreibt er dies als einen Akt göttlicher Subversion: »We realize that God did not crush our evil through domination by power and violence, but in a kind of divine judo move threw it down by its own weight« (Heim, Saved from Sacrifice, 314).
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Modell 3: Juridische Eschatologie
kreuzestheologische Abschnitt über den gerichteten Richter in eigentümlicher Rollenunion überwiegend die zweite Person der Trinität als Rechtssubjekt (und zwar als Richter, wie als den Gerichteten) versteht, so wird in der Auferstehung der Vater mit der Rolle dessen betraut, der »Urteil spricht«. Die Auferstehung ist jedoch – so ließe sich mein methodisches Vorgehen für die folgenden Ausführungen zusammenfassen – konsequent anhand der bis hierher beschriebenen juridischen Modelllogik zu erschließen. Zunächst ist mit Barths Interpretation der Auferstehung als Urteil des Vaters zu beginnen: »Die Auferweckung Jesu Christi ist das große Gottesurteil, der Vollzug und die Proklamation der göttlichen Entscheidung über das Kreuzesgeschehen« (KD IV/1, 340). Sie ist damit nicht nur Gottes Replik auf den Zwischenfall der Sünde als menschliche Verfehlung an der Gnadenordnung des Bundes, sondern ist ebenso ein Moment der Geschichte der Trinität als dass sie die »Rechtfertigung Gottes selbst« ist (KD IV/1, 341); nicht in dem Sinne, dass gegenüber dem Kreuz etwas Anderes getan würde, sondern dass die Auferstehung das im Kreuzesgeschehen bereits erfüllte und getane Recht bestätigt und proklamiert. Entsprechend vermerkt Barth: »Gott bejaht in dieser Aktion allererst sich selbst« (KD IV/1, 593). Was als Ereignis in der Geschichte der Trinität bereits im Kreuz beschlossen ist, wird in der Auferstehungsbotschaft geschichtliche Wirklichkeit. Gott bekennt sich in der Auferstehung zu dem, was auf Golgatha geschehen ist. Er bekennt es im Raum der Kirche Jesu Christi als der Versammlung seiner Zeuginnen und Zeugen. Die Auferstehung ist vor diesem Hintergrund also vor allem eine Bestätigung des Kreuzes. Sie ist die geschichtliche Antwort des Vaters auf das Geschehen des Kreuzes und die durch ihn proklamierte »Anerkennung des von Jesus Christus geleisteten Gehorsams« (KD IV/, 337). Sie ist die Bestätigung und »Gutheißung« des im status exinanitionis vollzogenen Rechts (vgl. KD IV/1, 340). Dieser Gehorsams- und Anerkennungsakt begründet die Ökonomie der darin einbezogenen Anerkennung des Menschen als gerechtfertigtem Sünder: Denn die Anerkennung des Gehorsams Jesu Christi in seiner Auferstehung ist zugleich die heilsame Aberkennung des Sünderseins des Menschen: »Gott hat ihm, um seines Rechtes und seiner Ehre willen, ganz und gar in seiner eigenen Sache handelnd, sein Sein in der Ungerechtigkeit aberkannt und abgesprochen« (KD IV/1, 103). Die Rechtfertigung des Menschen ist daher die Aberkennung seines Sünderseins. Damit schließt Barth an die Soteriologie des Heidelberger Katechismus an, der in Frage 36 die Rechtfertigung dezidiert als einen Akt des Sohnes gegenüber dem Vater beschreibt: Mit seiner Unschuld bedeckt der Sohn das Angesicht Gottes vor der Sünde des Menschen – er produziert damit geradezu eine Verkennung des sündigen Menschen, die diesem zum Heil wird. Die Rechtfertigung ist daher von einer Rechtsetzung zu unterscheiden. Sie ist vielmehr eine unkenntlich machende Interzession des Sohnes zugunsten des Sünders.
Das Christusgeschehen als juridischer Prozess
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Die Auferstehung, die die Anerkennung der Gerechtigkeit des Sohnes proklamiert, ist damit zugleich die Rechtfertigung des Sünders. Sie beantwortet die triftige Frage, wie das Kreuz als kontingentes und singuläres Ereignis der Geschichte zu einer »Veränderung unserer Situation« führen kann (vgl. KD IV/1, 341). Denn das Auferweckungsgeschehen sei sowohl ein Ereignis der Geschichte der Trinität, wie es auch als ein in die Weltgeschichte hinein wirkendes Geschehen greifbar wird. Die Unterscheidung dieser beiden, ist die theologische Fassung von Lessings garstigem Graben, dem sich Barths Auferstehungstheologie in diesem Übergangskapitel widmet. Die Auferstehung ist daher sowohl als ein selbstbestätigendes, wie auch als vermittelndes Geschehen zu begreifen. Daher vereint es die Rechtfertigung Jesu Christi und die in ihm geschehene Rechtfertigung des Menschen: Er selbst, Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, wurde durch seine Auferweckung von den Toten von Gott gerechtfertigt! Er als Mensch und in ihm als dem Stellvertreter aller Menschen auch sie alle von Gott gerechtfertigt (KD IV/1, 337).
Zugleich hebt Barth die kommunikative Bedeutung der Auferstehung hervor. Sie habe als analogielose »Vermittlung einer [...] zuvor verschlossenen und unzugänglichen Erkenntnis« (KD IV/1, 332) zu gelten. Daher kehrt sie die Verborgenheit der Überwindung des Sünders um, indem – wie Berthold Klappert beschreibt – sie den »göttliche[n] Subjekts- und Offenbarungscharakter der Passion Jesu Christi allererst zum Leuchten« bringt.41 Die Rechtfertigung ist daher nicht nur eine Unkenntlichmachung der Sünde des Menschen, sondern sie begründet zugleich eine transformierende Bewegung, in die der Mensch zum neuen Menschen verändert wird. Die Rechtfertigung ist daher im Kern auch als ein transformierendes Wirken Gottes am Menschen zu verstehen. Barth beschreibt dies als die göttliche Macht des Verzeihens: Die göttliche Verzeihung ist also kein Verzeihen »als ob«, der Mensch kein Sünder wäre. Sie ist gerade als Verzeihung das schöpferische Werk Gottes, in dessen Kraft der Mensch als derselbe alte Mensch, der er war und noch ist, nicht mehr derselbe, sondern schon ein anderer ist: der, der er sein wird, der neue Mensch (KD IV/1, 667).
Die eigentliche Pointe, die für dieses Modell über Barth hinaus zu entfalten ist, besteht darin, dass sich Gott in der Auferweckung Jesu Christi in der Einheit von gerichtetem Richter, seinem stellvertretenden Leiden und dem stellvertretenden Tun des Rechts offenbart. Sie ist die Bekundung und Besiegelung Gottes, dass das Gericht in Jesus Christus vollzogen ist und dass in ihm der neue Bund Gottes 41
Klappert, Die Auferweckung des Gekreuzigten, 300.
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Modell 3: Juridische Eschatologie
aufgerichtet ist, der nicht mehr von der Forderung heteronomer Anerkennung gekennzeichnet ist.42 Diese Proklamation ist zugleich die eigentliche Kenosis der Geschichte Gottes: Sie liegt nicht in der Hingabe eines Menschen, der unter die Räder der Gewalt gekommen ist. Es ist vielmehr die radikale Selbstbindung Gottes an eine Geschichte der Gewalt über den Tod seines Sohnes hinaus. Die Auferstehung ist – so ließe sich innerhalb der Logik dieses Modells schließen – keine Widerlegung und Überwindung des Bösen in der Welt. Sie ist keine Kompensation geschehenen Unrechts. Die Auferstehung ist Gottes Kompromiss mit einer Welt, die zum Äußersten fähig ist. Indem sie die Anerkennung des Gerichts Jesu Christi proklamiert, ist sie zugleich Gottes Anerkennung, dass mit dem Menschen nur trotz seines Hangs zur Gewalt und deren Selbstrechtfertigung und zum Bösen Frieden zu schließen ist. Dieser Kompromiss ist Gottes radikaler, subversiver Protest gegen die Kompromisslosigkeit menschlichen Unrechts. Die Auferstehung offenbart, dass das Kreuz Jesu Christi nicht nur eine Selbstrechtfertigung Gottes, sondern eben die Rechtfertigung der Welt ist. Dass Jesus zwischen Ostern und Himmelfahrt in der Welt seinen Jüngerinnen und Jüngern erscheint, lässt sich in Anschluss daran so verstehen, dass sich Gott wieder einer Welt zugewandt hat, die auch durch Tod und Auferstehung Jesu Christi keine gottes- und menschenfreundlichere Welt geworden war. Dennoch lässt sich mit Barth deutlich machen, warum auch die Auferstehung auch in der juridischen, singulären und exklusiven Fassung des Kreuzesgeschehens keinesfalls obsolet ist: Gerade auf sein eigenes Recht, auf sein Geschöpf hätte er ja dann verzichtet. Und eben die Macht des Todes, des Nichtigen über sein Geschöpf, hätte er damit, wenn nicht de iure, so doch de facto anerkannt. Seine ursprüngliche Wahl zwischen Himmel und Erde auf der einen und dem Chaos auf der anderen Seite, seine Entscheidung für das Licht, und seine Verwerfung der Finsternis (Gen. 1,3), und also sich selbst als Schöpfer der von ihm gut geschaffenen und gut befundenen Welt und Menschheit, hätte er dann nicht bestätigt; [...] er hätte sich dann in seinem Zorn damit begnügt, sein Recht gegen die Welt, in deren Destruktion nämlich zu behaupten; er hätte aber sein Recht auf die Welt und in der Welt nicht durchgesetzt, nicht erwiesen, nicht offenbar gemacht (KD IV/1, 338). 42
Frisch/Hailer haben darauf verwiesen, dass die Vergebung und der in Christus begründete »Neubeginn« nicht mit einem »Übergehen« des menschlichen Unrechts zu verwechseln sei. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Der daraus gezogenen Konsequenz, dass innerhalb des stellvertretenden Rechtfertigungsgeschehens auch die Kategorie des »Zornes Gottes« ihren Ort hat, ist jedoch an dieser Stelle zu widersprechen. Denn der Zorn hat keinen logischen Anschluss an die Kategorie des Rechts. Dagegen behaupten Frisch/Hailer: »In den Neuanfang, auf den Gottes Zorn zielt, muß integriert sein, was ihn allererst hervorbrachte« (Frisch und Hailer, »›Ich ist ein Anderer‹: Zur Rede von Stellvertretung und Opfer in der Christologie«, 74). Wie noch zu zeigen ist, bietet Barths juridische Deutung des Christusgeschehens tatsächlich die Möglichkeit einer Überwindung der Kategorie des Rechts an, jedoch nicht so, dass diese – wie Frisch/Hailer vorschlagen – in das Rechtsgeschehen reintegriert werde.
Das Christusgeschehen als juridischer Prozess
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Für Barth ist die Auferweckung in diesem juridischen Modell also nicht als vitaler Triumph des Lebens über den Tod zu verstehen. Denn was im Gericht Jesu Christi überwunden wird ist nicht der Tod, sondern der Sünder. Die Auferstehung ist demgegenüber Gottes Bekundung, dass er entgegen der notorischen Feindseiligkeit des Menschen das Recht seiner Gnade in der Treue zu diesem Menschen als Gnade erweist. Der in Jesus Christus aufgerichtete Neue Bund steht daher ad extra auf ganzer Linie in der Kontinuität des einen Bundes Gottes mit Israel und erfüllt damit die Intention des einen Gnadenbundes. Zugleich kösst sich aber auch eine machttheoretische Diskontinuität beobachten: In der Auferstehung nimmt sich Gott in Bezug auf die von ihm als notwendig erachtete, machtvolle Durchsetzung seiner geschichtlichen Anerkennung selbst zurück – die Auferstehung ist gewissermaßen Gottes eigenen Verzicht darauf. Denn das Gericht Jesu Christi verändert im Kern nicht die menschliche Undankbarkeit, die innerhalb dieses Modells als Grundform menschlicher Sünde identifiziert wurde (vgl. KD IV/1, 43). Auch die biblischen Texte interpretieren die Auferstehung nicht als eine Überwindung der systemischen Mächte, die Christus ans Kreuz gebracht haben. Vielmehr ist mit Barth der rechtfertigende Charakter der Auferstehung zu betonen. Die Auferstehung realisiert des Menschen »Einsetzung in ein bestimmtes Recht, das an die Stelle des von ihm begangenen, nun aber von Gott ignorierten Unrechts tritt« (KD IV/1, 668). Soll Gottes Bund mit dem Menschen mit all seiner Heilsintention weiter Bestand haben, so ist dies offensichtlich auch für Gott nur in der Anerkennung dieser Realität, der Realität der unmöglichen Möglichkeit der Sünde, möglich. Die Gerechtigkeit des Menschen gegenüber Gott muss daher rechtfertigungstheologisch konsequent von der exklusiven Stellvertretung Jesu Christi her verstanden werden. Sie hat daher nur als eine fremde Gerechtigkeit zu gelten: Sie ist Sache der Erkenntnis dieses Anderen, seines Übergangs vom Fluchtod zur Lebensherrlichkeit, seines Heute, das uns, auch indem es unser eigentliches Heute ist, immer ein fremdes Heute sein wird. [...] Sie ist Sache der Erkenntnis des Waltens der Gerechtigkeit Gottes in Ihm, die, indem sie über uns waltet, an uns geschieht, immer auch eine uns fremde Gerechtigkeit ist: iustitia aliena, weil zuerst und wesentlich die iustitia Christi und nur als solche nostra, mea iustitia (KD IV/1, 613).
Die Anerkennung des Menschen durch Gott als dessen gerechtfertigter Mensch hat also nur in der Gerechtigkeit Jesu Christi ihren Grund wie auch ihre Wirklichkeit. Rechtfertigung ist von dorther als eine Transformation des Menschen aus der dem Sünder immer auch fremd bleibenden Gerechtigkeit Jesu Christi zu verstehen. Bruce McCormack hat diese Interpretation von Barths Rechtfertigungslehre nachdrücklich betont: »The ground of our justification is always, at
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Modell 3: Juridische Eschatologie
every moment of our earthly existence, to be found in Jesus Christ. Justitia aliena – first, last, and always, the doctrine of justification is about alien righteousness«.43 Die durch Kreuz und Auferstehung in die Wege geleitete Veränderung kann daher in Bezug auf den Menschen nicht mit der Kategorie der eigenen gerechten Entsprechung erfasst werden; vielmehr ist die Kategorie des Rechts als solche unzureichend. Die Auferstehung hat somit nicht allein retrospektive Bedeutung. Vielmehr weist sie nach vorne in die Geschichte der Zeuginnen und Zeugen dieser Proklamation des lebendigen Christus. Damit wird deutlich, was es mit Barths Auferstehungstheologie als Bearbeitung eines »Übergangs- und Zeitproblems« auf sich hat: Sie stellt die Frage nach der Partizipation am Gericht und an der Interpretation des Kreuzes als Zeitenwende für alle Menschen: Daß Gott die Welt in Jesus Christus mit sich versöhnt hat, das bedeutet jedenfalls auch, daß er in ihm mit der ihm widersprechenden und wiederstehenden Welt Schluß gemacht [...] hat, daß ein alter Äon unserer Weltzeit (die einzige, die wir von uns aus kennen und haben!) mit allem, was in ihr gilt und groß ist, zu Ende gekommen ist. Die Demut, in der Gott sich uns gleich machen wollte, der Gehorsam Jesu Christi, in welchem diese Selbstdemütigung Gottes und eben in ihr der Beweis seiner göttlichen Majestät ein zeitliches Ereignis wurde, bedeutet in der Tat, daß unsere Stunde geschlagen hat, daß unsere Zeit abgelaufen, daß es mit uns aus ist. (KD IV/1, 324).
Ganz entscheidend ist die Perspektivierung dieses Abbruchs der menschlichen Existenz als Sünder: Die Auferstehung als Proklamation der Versöhnung Gottes mit der Welt ist das Urteil des Vaters über den Sohn und in ihm über die Menschen. Sie temporalisiert das Gericht Jesu Christi; aber nicht in der Weise, dass die Auferstehung als existentielles Ereignis im Menschen die Erkenntnis des Kreuzes als Heilsgeschehen aktualisiert. Die Auferstehung ist vielmehr eine innertrinitarische Differenzmarkierung und damit mehr als nur die noetische Kehrseite des Kreuzes. Sie ist »nicht nur die Erklärung von dessen positiver Bedeutung und Tragweite« (KD IV/1, 335), sondern wird in der Anerkennung des Gehorsams Jesu Christi zum realen Freispruch in der Rechtfertigung des Menschen. In der Auferstehung wird ihm die im Kreuz de jure geschehene Überwindung seines Sünderseins de facto verkündet und erschlossen. Entgegen der universalistischen Formatierung der Kreuzestheologie Barths lässt sich hier die Partikularität des Auferstehungsglaubens nachvollziehen.44 Diese Differenz der universalen Anerkennung und der nur partikular im Glauben vollzogenen Anerkennung 43 44
McCormack, »Justitia Aliena«, 195. Dem sich hieraus eröffnenden Potenzial der Verkennung widmet sich der abschließende Teil dieses Modells, der in Anschluss an Barths juridische Versöhnungslehre eine Eschatologie des Neuen Bundes entwirft.
Zur Kritik dieses Modells in KD IV/1
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von Gottes Verzicht zugunsten der Welt markiert den eschatologischen Vorbehalt, der theologisch in der Differenz dieser beiden Wiederkünfte Jesu Christi aufgenommen wird.45
3.3 Zur Kritik dieses Modells in KD IV/1 Der dichte theologische Gehalt von Barths juridischer Versöhnungslehre erfordert einen eigenen Zwischenschritt der Kritik. Im Folgenden sollen zwei Konsequenzen genauer betrachtet werden, die sich aus der Logik dieses Modells ergeben: Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Rechtfertigung, sowie das mit der Juridik dieses Modells zusammenhängende Problem einer notwendigen ausgleichenden Gerechtigkeit im Gericht Jesu Christi. Modelltheoretisch betrachtet, handelt es sich hierbei um den Übergang von einem analytischen hin zu einem konstruktiven Modellieren, welches den bis hierher etablierten Konstruktionsbedingungen dieses juridischen Modells folgt und nach den Möglichkeiten für eine daran anschließende materiale Eschatologie fragt.
3.3.1 Glaube, Taufe und Rechtfertigung Reformatorische Theologie, die unter dem Theologumenon des sola fide steht, hat über das Verhältnis der Geschichte Jesu Christi, der Rechtfertigung und dem Glauben der Nachfolgegemeinschaft Rechenschaft abzulegen. Barths »intensive[s], in der Hauptsache stille[s] Gespräch mit Rudolf Bultmann« (KD IV/1, Vorwort) äußert sich vor allem in der Priorisierung der Auferstehung gegenüber dem Auferstehungsglauben der Christen. Jene ist der Ausgangspunkt, die Begründung und zugleich das Anheben des Kommens Jesu Christi, das in Form des christlichen Glaubens und seiner Rechtfertigungsbotschaft geschichtlich Raum greift. Daher ist das Auferstehungsereignis nicht nur in seinem innertrinitarischen Bezug auf das Kreuz, sondern auch als Gottes Bewegung in der Geschichte zu verstehen. Es vermittelt die Einheit von Kreuz und Auferstehung zugunsten der Verheißung des Neuen Bundes. Die Auferstehung leitet von der Singularität der Geschichte Jesu von Nazareth in die Universalisierung des Gerichts über. Barth selbst beschreibt diese Überleitung in geradezu existentialistischer Sprachgestalt als das Perfectum der Auseinandersetzung Gottes mit dem Sünder, das zu allen Zeiten zur Gegenwart Jesu Christi wird: 45
Im Gegensatz zur dreifachen Parusie Jesu Christi in KD IV/3 arbeitet Barth in KD IV/1 noch mit einem dipolaren Modell, welches auferstehungstheologisch zwischen Versöhnung und Erlösung schärfer unterscheidet als in KD IV/3. Vgl. Oblau, Gotteszeit und Menschenzeit: Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, 210; und Etzelmüller, »... zu richten die Lebendigen und die Toten«, 206, Anm. 554.
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Modell 3: Juridische Eschatologie Der Augenblick dieser »zufälligen Geschichtstatsachen« war der Augenblick aller Augenblicke! Kein Augenblick, in dem Jesus Christus nicht der Richter und Hohepriester wäre, der Alles vollbracht hat. Keiner in dem dieses Perfektum nicht Praesens wäre (KD IV/1, 347).
Mit dieser Vergegenwärtigung des Gerichts wiederholt Barth die im Gericht vollzogene innertrinitarische Transformation in der Person des glaubenden Individuums, das so in die Bewegung der Auferstehung hineingenommen wird. Damit stellt Barth den scheidenden Charakter des Gerichts in den Zusammenhang der individuellen Existenz als simul iustus et peccator, einer Existenz zwischen den Zeiten: Jener war ich und bin ich noch: der Mensch als Unrechttäter, dessen Unrecht und dessen Dasein in seiner Identifikation mit seinem Unrecht vor Gottes Gericht, vor dem Leben dessen, der ihm gegenüber in majestätischer Unbedingtheit im Rechte ist, nur vergehen kann und tatsächlich schon vergangen ist, dem Tode verfallen und unter Gottes Zorn tatsächlich gestorben, erledigt, vertilgt und vernichtet ist. Und dieser bin ich schon und werde ich sein: der Mensch, den Gott für sich wählt und geschaffen hat, dessen Recht, von ihm selbst verspielt und verwirkt, von Gott aber geschützt, erhalten und neu aufgerichtet ist: seinem Unrecht zum Trotz und zum Trotz auch der Katastrophe, die über ihn als dessen Täter hereinbrechen mußte – vor Gott kein ungerechter, sondern sein gerechter Mensch (KD IV/1, 606f.).
Damit wird das Gericht in der Person des Glaubenden als Rechtfertigung nachvollzogen. Durch die Temporalisierung in dieser existentialen Deutung der Aufstehung Jesu Christi wird das am Kreuz ein für allemal geschehene Gericht eine Wirklichkeit, an der Christinnen und Christen partizipieren.46 Barths Interpretation der Zwischenzeit zwischen der ersten und der zweiten Parusie Jesu Christi stellt einen Versuch dar, die Rechtfertigung als lebensgeschichtlich bestimmendes Dispositiv der christlichen Existenz zu beschreiben – soweit Barths Versuch, von der Singularität des Gerichts zu seiner existentialen Bedeutung vorzudringen. Doch ein genauer Blick zeigt, dass er damit das eigentliche hamartiologische Problem der Sünde als versagter Anerkennung Gottes nicht hinreichend bearbeiten kann. Denn auf geradezu unverständliche Weise verknüpft Barth das Gericht in der Rechtfertigung des Sünders mit der notwendigen Unterwerfung unter jenes: Glauben heißt: daß ich auf Jesus Christus schaue, mich seinem Urteil unterwerfe und mich daran halte, daß ich in ihm und laut seines Urteils trotz 46
Smythe weist darüber hinaus auf die Gleichzeitigkeit dieses existentiellen Geschehens mit der Geschichte Jesu Christi hin: »Justification in the Christian life is dialectical precisely as it is actualized in the particular, historical event in Christ, which is made present to us by the Word and the Spirit« (Smythe, »Barth on Justification«, 299).
Zur Kritik dieses Modells in KD IV/1
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allem, was gegen mich spricht, nicht verdammt, sondern gerechtfertigt, und also nicht verworfen, sondern angenommen und also nicht draußen, sondern drinnen bin (KD IV/1, 780).
Dieses Rechtfertigungsverständnis zeigt an, dass Barth die Temporalisierung des Gerichts erneut mit einem problematischen Hang zur Forderung menschlicher Anerkennung des Gerichts verbindet. Die Distinktion des simul iustus et peccator stellt er nämlich zugleich unter die Bedingung der menschlichen Unterwerfung unter Gottes richtendes Handeln. Damit ist jedoch das anfängliche Problem der menschlichen Sünde ante Christum als Aberkennung der Gottheit Gottes nur noch einmal gesteigert, indem das Gericht Gottes post Christum erneut unter die Konditionierung seiner Anerkennung gestellt wird. Mit dieser Problematik bleibt Barth jedoch doppelt hinter der Einsicht seiner vierfachen Stellvertretung zurück: Zum Einen stellt er damit die Exklusivität des zweiten Stellvertretungsaspekts infrage, wenn er von einer neuerlichen Unterwerfung des Menschen im Glauben unter dieses Gericht spricht. Zum Anderen deutet er damit auch an, dass der christliche Glaube selbst als ein Akt der Anerkennung des Gerichts Jesu Christi zu gelten habe. Barth selbst zieht eben diese Verbindung, wenn er festhält: »Anerkennung ist eine folg- und fügsame, eine sich beugende, sich unterordnende Kenntnisnahme« (KD IV/1, 848). Damit führt Barth jedoch durch die Hintertür wieder ein, was im Gericht Jesu Christi bereits ein für allemal geschehen ist: Die im unterordnenden Gehorsam erwiesene Anerkennung von Gottes Rechtsanspruch.47 Die höchst problematische Kombination aus der Anerkennungsforderung Gottes und einem hierarchisch geordneten Verhältnis zwischen Gott und Mensch stellt aber eine Konditionierung des Bundesverhältnisses dar, die im Gericht Jesu Christi als der Wiederherstellung des Bundes bereits als erfüllt und damit überwunden wurde. Den eigenen Anspruch, das Gericht Jesu Christi als die ein für allemal vollzogene Versöhnung von Gott und Mensch zu interpretieren, löst Barth damit jedoch gerade nicht ein. Was Barth durch die existentialistischen Tendenzen seiner Rechtfertigungslehre ohne systematische Notwendigkeit einleitet, setzt sich in seiner Tauftheologie fort, wenn er dort die Geisttaufe als »Wiederholung des Anfangs des neuen 47
So auch Schüz, Glaube in Karl Barths »Kirchlicher Dogmatik«, 331. Es ist Schüz’ Verdienst, die erkenntnistheoretischen Aspekte von Barths Anerkennungsbegriff herauszuarbeiten. Gleichzeitig betont sie die Reziprozität in Barths bundestheologisch geprägtem Anerkennungsgefüge. Im Folgenden möchte ich jedoch bewusst eine Alternative zu dem von Schüz betonten Verständnis von Barths Charakterisierung des Rechtfertigungsglaubens als »Demutsgehorsam« vorschlagen; vgl. Schüz, 333 passim. Dies geschieht mit dem Ziel, die im Kreuz geschehene Auseinandersetzung Jesu mit der menschlichen Sünde als eine Transformation der Anerkennungsrelationen zu verstehen, die der Erfüllung des Bundes eher gerecht wird, als es ein Glaubensverständnis tut, in welchem die Gehorsamsforderung Gottes weiterhin als offene Bedingung das Gott-Mensch-Verhältnis prägt.
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Modell 3: Juridische Eschatologie
Lebens« beschreibt (KD IV/4, 43). Damit wird jedoch die Bedeutung der Singularität des Gerichts Jesu Christi grundlegend verdunkelt, indem es nicht nur zur Aktualisierung sondern gar zur Wiederholung der Einsetzung in die Wirklichkeit des Neuen Lebens kommt. Folglich stellt sich daher aber auch die Frage, wie das Verhältnis dieses Ereignisses mit dem Ereignis des Gerichts Jesu Christi in Verbindung steht, was auch in der deutlichen pneumatologischen Schwäche dieser Tauftheologie begründet ist: Sie erfasst das Wirken von Gottes Geist nicht in seiner lebenspendenden Dimension, sondern vor allem als eine machtvolle Wendung des Menschen, die ihren Unbedingtheitscharakter offen zur Schau stellt: So eröffne die Geisttaufe keinen Raum für Zweifel oder für die Fraglichkeit Gottes: »Sie verdient und sie fordert volle, rückhaltlose, unbedingte Dankbarkeit« (KD IV/4, 38). Daran schließt Barths Beschreibung der Wassertaufe an, die er als menschliche Nachzeichnung des Gerichts mit der Kategorie des Gehorsams verbindet: Die Taufe vollzieht nicht, sie anerkennt und proklamiert aber diese von Gott herbeigeführte Krisis. Sie setzt nicht, sie bezeugt aber die von Gott gezogene Grenze zwischen einer vergehenden und einer kommenden Weltzeit und je auch persönlichen Lebenszeit. Sie ist die im Blick auf Jesus Christus im Gehorsam gewagte menschliche Nachzeichnung der göttlichen Gerichtstat, die als solche seine Versöhnungstat ist (KD IV/4, 175).
Indem der Täufling zum Akteur des eingeforderten Gehorsams gegenüber Gott wird, verdeckt eine solche Tauftheologie jedoch die iustitia aliena des Gerichts Jesu Christi. Wenn dieses die bereits exklusiv geschehene Auseinandersetzung Gottes mit dem sündigen Menschen sein soll, dessen Verfehlung in der Grundform der Sünde als Undankbarkeit und Nicht-Anerkennung Gottes besteht, ist die Wiederholung der Struktur gehorsamer Anerkennung im Glauben und im Vollzug der Taufe keine Lösung, sondern eine forensisch spezifizierte Steigerung des eigentlichen Problems. Das Leben und Werk Jesu Christi könnte dann mithin weder als Erfüllung noch als Wiederherstellung des Bundes interpretiert werden, sondern bestenfalls als Neustiftung eines faktisch wieder und wieder gebrochenen Bundes. Davon, dass in Christus der Sünder oder dessen Sünde endgültig überwunden ist, kann jedoch dann nicht die Rede sein. Die in der Tauftheologie sich fortsetzende Reinjektion hierarchisierender Kategorien des Gehorsams, der Dankbarkeit und der Unterordnung erweist sich darüber hinaus nicht nur systematisch als nicht konsistent mit den gewonnenen Einsichten aus Barths forensischer Versöhnungslehre, sondern bringt nicht zuletzt auch machttheoretisch problematische Implikationen mit sich: Sie eröffnet ein fragwürdiges Bild der Kirche als der Gemeinde Jesu Christi, die von ihrer Konstitution durch die Taufe als eine Gemeinschaft der Unterworfenen zu bezeichnen wäre.
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Zudem bleibt die geschichtliche Partikularität der Anerkennung Gottes post Christum ein ungeklärter Sachverhalt. Jede Ablehnung, Indifferenz oder NichtKenntnisnahme auf die neuerliche Zuwendung Gottes in der Auferstehung Jesu Christi müsste aufgrund eines Verständnisses von Anerkennung als Gehorsam als ein neues Scheitern der Heilsintention Gottes verstanden werden. Daher ist es systematisch notwendig zu klären, wie es zur Preisgabe von Gottes Forderung seiner universellen Anerkennung in der Geschichte kommt. Nimmt man jedoch mit Barth die anerkennungstheoretische Dimension des Gerichts Jesu Christi ernst, so kann sich eine Erlösungstheologie in Anschluss an dieses Modell durchaus mit den kritischen Implikationen eines machtbesetzten Anerkennungbegriffs auseinandersetzen und daran anschließend fragen, wie sie sich dieser problematischen Tendenzen entledigen kann, indem sie das subversive Potential der transformierenden Anerkennung des Gerichts Jesu Christi erkennt.
3.3.2 Iustitia aliena und Iustitia correctiva Karl Barths juridische Versöhnungslehre hat im Anschluss an seine Erwählungslehre in der Betonung der Singularität des Gerichts in Jesus Christus folgerichtig den Weg für eine dogmatische Erschließung des Theologumenons der Allversöhnung bereitet.48 So innovativ damit Barth trotz seiner personalistisch argumentierenden Theologie in Richtung einer apokatastasis panton argumentiert, so problembeladen sind die damit verbundenen engen Perspektivierungen dieses Modells. Denn die Rekonstruktion des Gerichts Jesu Christi in der Barthschen Konzentration auf die iustitia aliena und die Perspektivierung des Menschen als Täter des Unrechts lässt bisher offen, inwiefern die Gerechtigkeit Jesu Christi eine neuschöpferische Gerechtigkeit ist. Diese Leerstelle ist Folge des starken theologischen Personalismus in der Christologie von KD IV/1. Indem Barth das Bundesverhältnis von Gott und Mensch im Rahmen der Rechtsforderung Gottes gegenüber dem Menschen in den Blick nimmt, wird der Mensch hier im Allgemeinen nur als Täter des Unrechts in den Blick genommen. Wie Gregor Etzelmüller gezeigt hat, haftet dieser Interpretation des Gerichtsgedankens ein problematischer Gerechtigkeitsbegriff an: Von dieser Fassung des Begriffs der Gerechtigkeit Gottes aus ist aber nicht in den Blick zu bekommen, daß sie sich auch darin erweist, daß Gott im Gericht dem Recht verschafft, dem es in der Geschichte verwehrt wurde. Anders ausgedrückt: Das Gericht erweist auch insofern Gottes Gerechtigkeit als es deutlich machen wird, daß die Weltgeschichte nicht das Weltgericht war. Als ausgleichende Gerechtigkeit, als iustitia correctiva kommt die Gerechtigkeit Gottes bei Barth aber nicht in den Blick. Denn Barth versteht 48
Die theologiegeschichtliche Entwicklung und darüber hinaus die modellbedingt notwendige Unterscheidung von Allversöhnung und Allerlösung hebt Janowski, Allerlösung hervor.
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Modell 3: Juridische Eschatologie Gottes Gerechtigkeit ausschließlich als dessen den Sünder rechtfertigendes Handeln.49
Für eine konstruktive Fortschreibung einer Gerichtstheologie in Anschluss an Barth zieht Etzelmüller daher mehrere theologische Denkformen heran, womit er eine adäquate Beschreibung einer eschatologischen iustutia corrective zu erzielen versucht. Erwählungstheologisch hebt er das Verhältnis von Israel und Kirche und deren eschatologische Zusammengehörigkeit hervor. Daran schließt eine Analyse eines biblisch-theologischen Verständnisses von Gerechtigkeit garantierenden Institutionen in Konfliktsituation an, die schließlich für eine situative Unterscheidung von Täter und Opfer sensibilisiert. Entscheidend ist dabei, dass sich Etzelmüller diese Differenzierung nicht über das priesterliche, sondern mithilfe Barths Überlegungen zum königlichen Amt Jesu Christi erschließt. Unter systematisch ertragreichem Einbezug von KD IV/2 beschreibt er Jesu Christi Parteigang für die Armen und Marginalisierten, womit Etzelmüllers Interpretation von Barths Gerichtsvorstellung den Einbezug empirisch-sozialer Verhältnisse und den Ungerechtigkeiten, welche jene bergen, garantieren kann. Ohne den in der Singularität des Gerichts Jesu Christi begründeten Universalismus Barths grundsätzlich aufzugeben, zielt Etzelmüller auf eine Lösung ab, welche die (vermeintliche Hoffnung) [überbietet], daß alles bleibt. Denn während dieses [d.h. eine Allversöhnung ohne differenzierendes Gericht] immer auch die ewige Wiederkehr des Gleichen ohne endgültiges Zurechtbringen meinen und so in Trostlosigkeit umschlagen kann, ist die Hoffnung, daß alles Lebensförderliche bleibt, eine realistische, die auch angesichts von Sünde und Leid zu trösten vermag. [...] Diese Hoffnung impliziert deshalb die andere, daß alle lebensfeindlichen Zusammenhänge vergehen werden, damit die Gerechtigkeit des Reiches Gottes alle bleibenden Kommunikationszusammenhänge erfüllen kann.50
Etzelmüller erreicht damit eine um situative und personale Differenzierungen angereicherte Perspektive mithilfe derer er sich eine Eschatologie des Gerichts unter dem Aspekt der Zurechtbringung erschließen kann. Der eschatologischen Vorstellung einer iustitia correctiva nähert er sich anhand der Beachtung der Menschlichkeit Jesu Christi, womit er der systematischen Einheit von Barths Versöhnungslehre gerecht wird. Damit provoziert Etzelmüller jedoch eine Verschiebung im Verständnis des Gerichts Jesu Christi, die so in KD IV/1 nicht vorgesehen ist: Zugunsten der stärkeren Betonung einer iustitia correctiva richtet er die Aufmerksamkeit auf das noch ausstehende Richten Gottes, das Gottes Auseinandersetzung mit zwischenmenschlichen Kommunikationszusammenhängen 49 50
Etzelmüller, »... zu richten die Lebendigen und die Toten«, 246. Etzelmüller, 317.
Eine anerkennungstheoretische Transformation der Kategorie des Rechts
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der Unversöhntheit, Lieblosigkeit und Hoffnungslosigkeit in den Mittelpunkt rückt. Damit bleibt jedoch die Spannung aus iustitia aliena und der iustitia correctiva bestehen, womit auch offen bleiben muss, wie das Verhältnis von Christi Kreuzesleiden, dem ein für allemal erfüllten Bund, zwischenmenschlichem Unrecht und einem noch ausstehenden Gericht konturiert ist. Alternativ zu Etzelmüllers Vorgehen soll im Folgenden mithilfe einer anerkennungstheoretischen Zwischenüberlegung versucht werden, die Grundlage für eine Weiterentwicklung dieses Modells zu legen, die anschließend unter dem eschatologischen Symbol des Neuen Bundes Wege für eine Integration der iustitia correctiva in die Vorstellung der stellvertretenden iustitia aliena eröffnet.
3.4 Eine anerkennungstheoretische Transformation der Kategorie des Rechts Indem das juridische Modell im Vollzug seine eigene Transformation anstößt, vollzieht es gewissermaßen eine Metamorphose, die in diesem Abschnitt nachvollzogen werden kann. Die bis hierher vorgelegte Rekonstruktion basierte auf der Beobachtung, dass sowohl die Bundestheologie als auch die damit verbundene Rahmung der Gerechtigkeitsforderung Gottes als Anerkennungsforderung problematisiert. Es ging dabei vor allem um die bleibend asymmetrische Anerkennung von Gott und Mensch. Die Rekonstruktion von Barths Kreuzestheologie in KD IV/1 schloss mit der Pointe, dass die rechtmäßige Anerkennungsforderung Gottes an den Menschen im stellvertretenden Gericht Jesu Christi ein für allemal erfüllt ist. Diese Erkenntnis hat Konsequenzen, die – wie in der voranstehenden Modellkritik gezeigt – von Barth selbst nicht hinreichend entfaltet worden sind. Die These der folgenden beiden Abschnitte ist hingegen, dass sich im Gespräch mit neueren Anerkennungstheorien die in der Modellkritik herausgearbeiteten Probleme dieses juridischen Modells bearbeiten lassen und sich eine Eschatologie des Neuen Bundes mit Barth über Barth hinaus modellieren lässt. In den Sozialwissenschaften hat sich seit zuletzt ein umfangreicher Diskurs zur Theorie der Anerkennung entwickelt. In einem Zwischenschritt sollen zwei wichtige Entwürfe dazu skizziert werden, um das transformative und konstruktive Potential des Phänomens der Anerkennung zu erschließen. Dabei geht es um eine systematische Einbindung sozialphilosophischer Einsichten aus verschiedenen Anerkennungstheorien, womit die Möglichkeit einer über Barth hinausgehenden Fortschreibung dieses juridischen Modells im Rahmen einer Eschatologie des Neuen Bundes eröffnet wird.51 51
Die theologische Rezeption von Anerkennungstheorien hat Konjunktur. Exemplarisch für die Diskussion im deutschsprachigen Raum vgl. Albrecht, »Anerkennung: Eine Herausforderung,
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3.4.1 Anerkennung als Bestätigung (A. Honneth) Der Philosoph und Sozialtheoretiker Axel Honneth hat im deutschsprachigen Raum einen der wichtigsten Beiträge des 20. Jahrhunderts zum Verständnis der Genese und Bedeutung sozialer Anerkennung geleistet.52 Die große Leistung seiner Theorie, die den Kampf um Anerkennung beschreibt und welche in Anschluss an G. F. W. Hegel und G. H. Mead entwickelt ist, weist vor allem in zwei Richtungen, die für eine Theologie der Anerkennung fruchtbar gemacht werden können: Es ist zum einen Honneths Erkenntnis, dass Anerkennung kein Phänomen ist, das allein in personalen Verhältnissen aufgeht. Vielmehr weist er auf die komplexe und mehrdimensionale Vermittlung von Anerkennung auf verschiedenen Sozialebenen hin, die nur als hochgradig spezifizierte Interdependenzverhältnisse auftreten. Darüber hinaus betont Honneth die Verbindung von Anerkennung und Gerechtigkeit und stellt den Begriff der Anerkennung als moralisch-normativen Leitbegriff in den Raum. Die Forderung, der Erweis, wie auch der Entzug von Anerkennung lassen sich als wesentliche Momente moralischer Konflikte in spätmodernen Gesellschaften benennen. Damit koppelt Honneth die Frage von Anerkennung an das Problem sozialer Gerechtigkeit, um sein Anerkennungstheorie zu einer »normativ gehaltvollen Gesellschaftstheorie« auszuweiten.53 Grundsätzlich versteht Honneth Anerkennung als eine Form erkennender und bestätigender Wertschätzung, die sowohl geäußert, entzogen oder gänzlich verweigert werden kann.54 Sie ereignet sich grundsätzlich auf drei verschiedenen Ebenen des Sozialen, auf denen sich Anerkennung in je unterschiedlicher Gestalt manifestiert, und die sich aufsteigend bedingen: 1. Als Liebe stellt sie das Band der Primärbeziehungen von Familie und Freundschaften dar. In der Dialektik von Abhängigkeit und Selbstständigkeit beschreibt Honneth bspw. anhand der Mutter-Kind-Beziehung die grundständige Form der Erfahrung von Anerkennung, welche die Möglichkeit für komplexere Sozialformen erst eröffnet: Weil dieses Anerkennungsverhältnis [...] einer Art von Selbstbezeichnung den Weg bereitet, in der die Subjekte wechselseitig zu einem elementaren Vertrauen in sich selber gelangen, geht es jeder anderen
52 53 54
Gerechtigkeit neu zu denken?«; Albrecht, »Öffentliche Theologie, Milieuorientierung und die Theorie der Anerkennung«; Braune-Krickau, Religion und Anerkennung; Karle, »Die Suche nach Anerkennung – und die Religion«; Lauster, »Glück und Gnade«; Kohl, Die Anerkennung des Verletzbaren. Honneth, Kampf um Anerkennung, Honneth, Das Ich im Wir, Honneth, Kampf um Anerkennung. Honneth, 148. Vgl. Honneth, 212 passim.
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Form der reziproken Anerkennung sowohl logisch als auch genetisch voraus.55
2. Im liberalen bzw. posttraditionalen Staat wird dagegen Anerkennung über das Recht gesteuert. Als ein Akt der generalisierenden Bestätigung von Personen werden diese als gleichberechtigte Rechtssubjekte (d.h. als BürgerInnen) erkannt und anerkannt. Diese Ebene der Anerkennung steht nach Honneth zugleich in einer universalisierenden Ausrichtung. Darin unterscheidet sich das moderne Recht vom traditionellen Ständerecht, worin die soziale Stellung einer Person zugleich über deren Rechte bestimmt. In posttraditionalen Gesellschaften wird hingegen allen BürgerInnen ein gleiches Maß an Rechten und Pflichten auferlegt, welches – hier steht Honneth ganz in der Tradition der Frankfurter Schule – auf einem umfassenden Konsens aller Beteiligter beruht: Insofern ist jede moderne Rechtsgemeinschaft, allein weil ihre Legitimität von der Idee einer rationalen Übereinkunft zwischen gleichberechtigten Individuen abhängig wird, in der Annahme der moralischen Zurechnungsfähigkeit all ihrer Mitglieder.56
3. Als soziale Wertschätzung verstanden gilt Anerkennung nicht nur der Besonderheit bestimmter sozialer Rollen, sondern bindet die »lebensgeschichtlich entwickelten Fähigkeiten« und Eigenschaften von Personen in die Wertvorstellungen einer Gesellschaft ein.57 Dies geschieht in traditionell strukturierten Gesellschaften über den ideellen Wert der Ehre, den Honneth als Ausdruck einer stabil geglaubten und metaphysisch verankerten Moral versteht. In modernen Gesellschaften greift hier vielmehr der Begriff des Ansehens, welches sich nicht zuletzt einer bestimmten Aufmerksamkeitsökonomie und den momentanen gesellschaftlichen Präferenzen spezifischer Leistungsformen verdankt. Mit dieser dritten Ebene wird zugleich die individuelle Wertschätzung von Personen wie auch deren Bedeutung in einer Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. Während also die Sphäre des Rechts vor allem eine universalisierende Form der Anerkennung beschreibt, rückt in Form der sozialen Wertschätzung die partikulare Identität in den Vordergrund. Das Phänomen der Anerkennung wird von Honneth als eine Form der Bestätigung von Personensubjekten verstanden. Im Rahmen dieses konstatierenden Prozesses geht sie jedoch weit über ein rein personales Geschehen hinaus. Wenngleich es im konkreten Fall Personen sind, denen auf allen diesen Ebenen Anerkennung 55 56 57
Honneth, 172. Honneth, 184f. Vgl. Honneth, 203f.
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geschenkt wird, so wird Anerkennung immer zugleich als Bedingung wie auch als Folge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse verstanden. Posttraditionale Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie einem steten und zuweilen zähen Kampf um Anerkennung unterworfen sind. Dieser Kampf geht auf die trianguläre Differenz der allgemein moralischen Zurechnungsfähigkeit aller Menschen einer Gesellschaft, deren partikularer bzw. individueller Fähigkeiten und schließlich ihres personalen und biographischen Selbst zurück. Die immer wieder zum Vorschein kommenden Differenzen sind die Aufgabe der Aushandlung emotionaler, juridischer und sozialer Anerkennung. Die Stärke dieses Ansatzes ist, dass mit einer solchen Fassung des Anerkennungsbegriffs sowohl das Individuum wie auch Sozialität konsequent aufeinander bezogen und kokonstitutiv verstanden werden: Anerkennung vollzieht sich nicht erst nachträglich im Aufeinandertreffen zweier Subjekte. Vielmehr ist die Gabe der Anerkennung immer über sozial vermittelnde Strukturen präsent (Familie, Recht und Wertegemeinschaft). Die Erfahrung des Anerkanntwerdens hat damit sowohl für menschliche Personalität als auch für multisystemisch beschreibbare Gemeinschaften konstitutive Bedeutung. Anerkennung wird daher auch nicht einfach spontan geäußert; ebenso wenig geht sie in der personalen Interaktion auf. Sie ist vielmehr in Form familiärer, politischer und sozialer Wertschätzung Ausgangspunkt und Folge hochgradig spezifizierter und kulturell divergierender Verhältnisse. Diese Auffassung ist auch in Bezug auf eine atl. Bundestheologie plausibilisierbar. Denn die Anerkennung der Forderung des deuteronomistischen Hauptgebots ist im Bundesschluss Gottes mit Israel mit der Gabe eines umfassenden Gesetzeskorpus verbunden, der diese Anerkennung kodifiziert und gesellschaftlich verankert. Im Medium des Rechts bzw. der Gebote vollzieht sich das wechselseitige Anerkennungsverhältnis zwischen Gott und seinem Volk in den vielfältigen Sozialverhältnissen des dtr. Gesellschaftsideals. Die Anerkennung Gottes bemisst sich aber nicht allein anhand dessen Adressierung im Kult, sondern auch über das soziale Miteinander. Der Bundesgott JHWH gilt dabei nicht nur als eine regulative Idee der Moral. Vielmehr werden die Lebensvollzüge Israels bzw. Judas als Teil der Geschichte Gottes mit seinem Bundespartner erzählt.58 Anders als die drei von Honneth für die neuzeitliche Gesellschaft herausgearbeiteten Ebenen der Anerkennung sieht das dtr. Gesetz kultische, politische und private Regularien vor, die die Anerkennung des Bundeswillens Gottes in Form kultischer und sozialer Gerechtigkeit äußern. Die Anerkennung Gottes erfolgt daher in der 58
Bernd Janowski hat gezeigt, dass insbesondere in den Psalmen ein hoch dynamisches Geflecht von Anerkennungsforderungen und -praktiken zum Ausdruck kommt. Dabei lässt sich in den Texten zwischen der Bitte um die Anerkennung durch Gott und einer sozialen Anerkennung unterscheiden, die sich aber wechselseitig bedingen. Janowski weist darüber hinaus darauf hin, dass damit kognitive und sozialethische Dimensionen untrennbar zusammenhängen; vgl. Janowski, »„JHWH kennt den Weg von Gerechten“ (Ps 1,6)«, besonders 221–231.
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Symbiose von kultischer Orthopraxie und der Aufrechterhaltung sozialer Gerechtigkeit. Diesem Sachverhalt entsprechen die Äußerungen der hinteren Propheten, die bereits in früher Textgestalt sozial- und kultkritische Sprüchesammlungen überliefern.59 Bei Axel Honneth wird Anerkennung gleichzeitig zu einem moralischen Leitbegriff, der auf die personale Integrität und Wertschätzung des Anderen abzielt. Darin werden konstatierende (bestätigende) und konstituierende (zusichernde) Bedeutung vereint. Indem Honneth Anerkennung als Voraussetzung menschlicher Personalität versteht, wird sie im Rahmen einer Sozialtheorie zu einem normativen Gradmesser ethischen Handelns. Auch hier wird also Gerechtigkeit nicht über positives Recht, sondern über eine moralische Leittheorie gedacht. Norbert Ricken stellt daher zurecht die fundamentalethische Bedeutung von Honneths Theorie heraus: »Anerkennung ist daher in dieser grundbegrifflichen Fassung als Wertschätzung und Bestätigung ebenso Orientierungsprinzip moralischen Handelns wie auch Begründungsprinzip ethischer Argumentation.« 60 Die Angewiesenheit des Menschen auf mehrdimensional strukturierte soziale Anerkennung wird damit im Kampf um Anerkennung zur evolvierenden Triebfeder sozial, kulturell, politisch und nicht zuletzt rechtlich auszuhandelnder Verhältnisse. Das Erzielen und Bestätigen solcher Anerkennungsverhältnisse wird in diesem Konzept als erstrebenswert verstanden; der Entzug von Anerkennung gilt dagegen als ein gesellschaftliches Malum, das das Problem sozialer Ungerechtigkeit verschärft. Auf den drei Ebenen wird der Entzug von Anerkennung daher als (1) Misshandlung und Vergewaltigung, (2) Entrechtung und Ausschließung und als (3) Entwürdigung und Beleidigung fassbar.61 Gegen diese Konzeption lassen sich zwei wesentliche Kritikpunkte vorbringen.62 Ihnen ist gemein, dass sie auf die inneren Paradoxien des Phänomens der Anerkennung Wert legen und von dorther den harmonisierenden Grundtenor Honneths kritisieren: 1. Anerkennung im Honnethschen Sinne wird im Wesentlichen als positive Affirmation verstanden, die eine würdigende Zuerkennung personaler Identität und Individualität im Ensemble sozialer Institutionen beschreibt. Damit suggeriert dieser Begriff jedoch auf optimistische Weise eine eindeutige Unterscheidbarkeit zwischen An- und Aberkennungsbekundungen. Dies wird von Honneth zudem moralisch unterlegt, indem beide Begriffe normativ geladen sind: Anerkennung ist ein zu erreichendes Gut, welches für ein gelingendes Miteinander elementar ist; Aberkennung hingegen wird als Quelle disfunktionaler 59 60 61 62
So z.B. in einer anerkennungstheoretischen Untersuchung von Mi 7,1–7 Janowski, 233f. Ricken, »Das Problem der Anerkennung und die Religion«, 416f. Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung, 212–225. Zur Kritik von Honneths Anerkennungstheorie vgl. Ricken, »Das Problem der Anerkennung und die Religion«, 418ff.
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Sozialstrukturen verstanden. Dabei blendet Honneth jedoch weitgehend aus, dass Anerkennung immer auch hermeneutische Varianzen mit sich bringt. Dabei bergen gerade sie auch ein konstruktives Potential, weil Identitäts-, Rechts- und Achtungszuschreibungen nicht nur das was ist, sondern auch das was sein soll und darüber hinaus was sein könnte artikulieren. Honneth arbeitet hingegen mit der polaren Leitdifferenz aus Anerkennung und deren Verweigerung. Das transformatorische Potential erkennt er im Aufbau sozialer Komplexität durch die Aushandlung wechselseitiger Anerkennungsprozesse und insbesondere in deren Steigerung. Inwiefern es dabei aber auch zu einer Veränderung des Individuums zu dieser oder jener Person kommt, bleibt unbeantwortet. Die Verweigerung von Anerkennung (Aberkennung) wird daher drastisch mit Misshandlung, Entrechtung und Entwürdigung identifiziert. Die Erfahrung wie auch die Äußerung von Aberkennung ist also durchweg als gesellschaftliches Übel zu bezeichnen. Dabei setzt Honneth jedoch eine implizite Kommensurabilität von Rechtfertigung und der Forderung nach Anerkennung voraus. Dies ist jedoch fraglich, wie die kulturellen Kämpfe selbst deutlich machen: Nimmt man die wirklichkeitsbildende Teilkomponente von Anerkennung ernst, so bestehen sozialethische Fragestellungen nicht nur darin, diese Prozesse zu fördern, sondern auch auszuhandeln, welchen Anerkennungsforderungen eine Gesellschaft nicht entsprechen soll.63 So stellt Norbert Ricken angesichts gewalttätiger Identitätskonflikte die berechtigte Frage »ob nicht – statt des Mangels – auch ein Zuviel an Anerkennung fatale Folgen haben kann«.64 Die atl. Narrationen des Ringens um die Anerkennung JHWHs und die darin enthaltene Einsicht, dass Fremdgöttern ihre Anerkennung um des sozialen, religiösen und politischen Friedens willen entzogen werden muss, weist auf diese besondere Qualität von Anerkennung hin; sie vollzieht sich nicht nur linear auf der Ebene eines Mehr oder Weniger (»Dass«), sondern ist zugleich Trägerin normativer Dispositionen (»Anerkennung als wer/was«). 2. Honneths Anerkennungstheorie arbeitet nicht nur konsensorientiert, sondern blendet machtspezifische Asymmetrien weitgehend aus. Gerade im Kontext eines sozialtheoretischen Umgangs, aber auch für eine Theologie der Anerkennung ist diese Frage aber von entscheidender Bedeutung. Denn die gestalterischen Möglichkeiten von Anerkennung sind eng an die Deutungsmacht ihrer Institutionen gebunden. Honneth selbst weist lediglich auf die notwendige Wechselseitigkeit dieses Geschehens hin. Gerade in Bezug auf moderne Rechtsgebilde ist dies jedoch nicht evident: So ist das Anerkennungsverhältnis zwischen modernem Staat und seinen BürgerInnen grundlegend durch die Asymmetrie der 63
64
Auch im Kontext der Erziehungswissenschaften wird dieses Problem in Bezug auf die Belohnung und Sanktionierung von Schülerinnen und Schülern thematisiert; vgl. Hafeneger, Henkenborg und Scherr, Pädagogik der Anerkennung. Ricken, »Das Problem der Anerkennung und die Religion«, 418.
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notfalls gewaltsamen Durchsetzung des Rechts durch die Exekutive gekennzeichnet. Rechtsgemeinschaften leben davon, dass sie ihre Anerkennung wenn nötig erzwingen können. Zudem ist Anerkennung, wenn man sie über Honneth hinaus nicht nur als konstatierendes, sondern auch als einen hermeneutischen Akt beschreibt, selbst keine neutrale Äußerung. Denn sie setzt nicht nur ein hohes Maß an Deutungsmacht für den jeweiligen Kontext ihrer Bekundung voraus, sondern sie nutzt diesen auch in einer bestimmten Direktion. Dies lässt sich bereits auf personaler Ebene verdeutlichen: Alter wird nicht nur durch Ego anerkannt. Vielmehr findet ein Mensch immer nur Anerkennung als ein ganz bestimmter Jemand. Diese Anerkennung birgt zugleich das Risiko der Verkennung, da dieser Mensch immer auch einer ganz bestimmten, qualifizierten Deutung seiner Person unterworfen wird.65 Wie jede Macht ist auch Deutungsmacht ein riskantes Unternehmen, sofern sie sich konstituieren, behaupten, bewähren und durchzusetzen weiß. Dass auch hier die Möglichkeit zum Machtmissbrauch gegeben ist, zeigt, dass umgekehrt auch Anerkennung »gerade kein bloß positiver, moralisch aufladbarer und mit Freiheit besetzter Begriff, sondern selbst mindestens ambivalent und mit Macht eng verknüpft« ist.66 Diese Ambivalenz gilt es im spezifischen Kontext einer Theologie der Anerkennung selbstkritisch im Raum der Kirche zu reflektieren: Denkt man bspw. an die bedeutungsgeladenen Performanzen der Selbst- und Fremdanerkennung im Schuldbekenntnis (»Ich bekenne und anerkenne mich als schuldig«), Sündenvergebung (»dir sind deine Sünden vergeben und dein Sündersein aberkannt«) oder in der Taufe, die den Wunsch nach Teilhabe an der Gemeinschaft Jesu Christi anerkennt und ihm entsprechend anerkennend antwortet, so wird deutlich, wie wichtig ein machtsensibler Zugang für eine Theorie der Anerkennung ist. Denn wie Honneth überzeugend herausgestellt hat, ist Anerkennung systemisch verankert und wird daher institutionell repräsentiert. Wie ist aber in einer religiösen Gemeinschaft, die in der Performanz distinkter Anerkennungsbekundungen gegründet ist, der lauernden Gefahr des Machtmissbrauchs zu begegnen? Mit Honneth ist auf diese Problemlage nur schwerlich zu antworten. Es bedarf daher einer macht- und mächtesensiblen Theorie der Anerkennung.
3.4.2 Anerkennung und Subjektivation (J. Butler) In Die Psyche der Macht formuliert Judith Butler eine Theorie der Anerkennung, die nach der gesellschaftlich vermittelten Konstitution ihrer Subjekte fragt.67 65 66 67
Vgl. Bedorf, Verkennende Anerkennung. Ricken, »Das Problem der Anerkennung und die Religion«, 422. Zur theologischen Rezeption der Sozialtheorie J. Butlers vgl. Grümme und Werner, Judith Butler und die Theologie. Paradigmatisch ist, dass sich die in diesem Band versammelten Bände überwiegend auf eine sozialethische und kulturtheologische Perspektive konzentrieren. Stär-
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Auch ihr Theoriegebäude verläuft entlang der Leitdifferenz von Individuum und Gesellschaft, wobei sie die grundlegende Verschränkung von Anerkennung und Unterwerfung betont. Butler weist dabei auf die inhärenten Paradoxien der von M. Foucault geprägten Vorstellung einer »Subjektivation«. Diese bezeichnet den »Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung«.68 Damit gemeint ist die Unterwerfung unter ein bestimmtes Ensemble an Erwartungen und Praktiken, welches das Anerkanntwerden eines Subjekts als solches durch seine Umwelt zur Folge hat und damit in dialektischer Weise eine Ermächtigung impliziert. Butler geht es darum, die passive Erfahrung von Anerkennung als mündiges Subjekt in engster Verbindung zur Anerkennung der ordnenden Dispositive der Umwelt hervorzuheben. Sie treibt damit die Verzahnung von Psyche und Politik radikal auf die Spitze, indem sie vom Individuum vollzogene Unterordnung und die darin erfahrene Adressierung und Achtung nicht trennt: Die Sache ist nicht einfach die, daß man die Anerkennung des anderen braucht und daß Unterordnung eine Form der Anerkennung gewährt; vielmehr ist man schon zur Formung seiner selbst abhängig von der Macht, ist diese Formung ohne Abhängigkeit nicht möglich und besteht die Haltung des erwachsenen Subjekts eben in der Verleugnung und Wiederholung dieser Abhängigkeit.69
Butler gelingt es mithilfe einer psychoanalytischen Rekonstruktion der Entstehung sozialer Institutionen zu beschreiben, wie es zu einer Internalisierung dieser Unterordnung im individuellen wie auch im kollektiven Gewissen kommt. Dabei zeigt sie, dass es sich bei der Subjektivation nicht einfach um eine Spiegelung der strukturierenden Umwelt in der Psyche handelt. Auch wenn die Unterwerfung unter ein bestimmtes Machtdispositiv nicht willkürliche Folgen hat, so sind dem werdenden Subjekt hier Gestaltungsräume bzw. Möglichkeiten des Widerstands einzuräumen, denn »der Aneignungsakt kann eine Veränderung der Macht beinhalten, so daß die übernommene oder angeeignete Macht gegen jene Macht arbeitet, die diese Übernahme ermöglicht hat«.70 Damit bietet Butler ein Verständnis für ein Phänomen an, das ich als produktive Verkennung bezeichne und welches die emanzipatorisch-transformative Funktion von Anerkennungsprozessen beschreibt.71 Es ist Folge der partiellen Opazität von Menschen und Menschengruppen. Wenn diese innerhalb einer bestimmten
68 69 70 71
ker auch mögliche materialdogmatische Konsequenzen beachtend und vom Gedanken der Ebenbildlichkeit geprägt vgl. Kohl, Die Anerkennung des Verletzbaren. Butler, Psyche der Macht, 8. Butler, 14. Butler, 17. Vgl. Killius, »Grenzen der Anerkennung: Eine Diskussion zwischen Charles Taylor und Judith Butler«; außerdem Bedorf, Verkennende Anerkennung.
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Ordnung und innerhalb distinkter Kategorien Anerkennung erfahren, so ergibt sich sowohl ein Seins- als auch ein Sollensüberschuss. Der Seinsüberschuss der Anerkennung liegt in der Identität des Anerkannten selbst begründet: Denn aufgrund ihrer Bestimmung als Anerkennung als bzw. für bleibt jeder Akt der Anerkennung nicht nur notwendigerweise defizitär, sondern bildet zugleich auch einen Überschuss an Erwartungen, zu denen sich das Subjekt verhalten kann. Sofern Anerkennen schlussendlich auch eine Form des Erkennens mit sich bringt, ist jede Person mehr als wofür sie gehalten wird – und umgekehrt. Was Butler im politischen Raum als das Potential des Widerstandes versteht, ist allgemeiner bezeichnet die stete Möglichkeit der Überraschung durch eine Person, sich zu diesem Anerkanntwerden zu verhalten. Gleichzeitig impliziert der Akt der Anerkennung immer auch einen Sollensüberschuss, indem an das Subjekt Erwartungen gestellt werden, die einem bestimmten Reglement entsprechen. Wie zwei sich nichtdeckungsgleiche Kreise überlappen sich daher die Seinsidentität des Subjekts und die Sollensidentität des Dispositivs der Anerkennung. Der Aspekt der produktiven Verkennung bezeichnet also nicht einfach eine missverstehende Abweichung von einer Wirklichkeit. Sie bezeichnet vielmehr den Effekt der Anerkennung, dass Menschen durch die widerfahrene Anerkennung verändert werden. Mit jeder Form der Anerkennung geht nicht nur eine Unterwerfung, sondern zugleich eine ermächtigende Verkennung einher, die eine Veränderung des Subjekts und seines Erwartungshorizonts bedeutet. Anerkennung eröffnet damit immer auch neue Handlungsmöglichkeiten. Damit führt Butler über Honneth hinaus: Während das konstruktive Potential von Anerkennungsphänomenen bei Honneth allein über die Komplexitätssteigerung der Sozialstruktur zu erreichen ist (denn Anerkennung selbst bestätigt nur, was bereits da ist), weist Butler auf die im Prozess der Anerkennung selbst inhärente formative Kraft hin. Anerkennungsverhältnisse implizieren produktive Verkennungen, die über eine rein konstatierende Wirkung hinaus Handlungs- und Verstehensrahmen verändern. Sie leben damit aus der transformativen Dialektik von Unterwerfung und Ermächtigung. Butlers Theorie kann mit Barths Theologie des Gerichts ins Gespräch gebracht werden. Drei Schnittstellen sollen an dieser Stelle exemplarisch kenntlich gemacht werden, die den Grundstein für eine anerkennungstheoretische Fortschreibung dieses Modells im letzten Abschnitt legen: 1. Die Geschichte Jesu Christi kann nicht nur als eine Auseinandersetzung mit den Mächten dieser Welt beschrieben werden, sondern muss auf der Linie der Taufe am Jordan und dem Kreuzestod wesentlich auch als eine Unterwerfung unter die Macht der Sünde verstanden werden. Zentrales Ereignis der Menschwerdung Jesu Christi ist die Buße des Gerechten in seiner Begegnung mit Johannes dem Täufer. Dabei findet eine kreative Umbildung dieser Macht statt, indem er sich einerseits den Konsequenzen der Universalität der Sünde unterwirft, deren
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Kreislauf durch seine in der Taufszene geschilderte Buße jedoch gerade aussetzt. Die Buße Jesu Christi wird damit zur kreativen Leerstelle, in der die subversive Macht des Gottesknechts begründet ist. Was in der Taufe für die Person Jesu singulär Ereignis war, wird in Kreuz und Auferstehung dann zur Begründung einer universalen Heilsbotschaft: Dabei steht Golgatha zunächst für die radikale Unterwerfung unter die systemischen Mächte der Sünde. Der Aufforderung, vom Kreuz hinabzusteigen und im physischen Kampf der Mächte seine Herrlichkeit zu erweisen, kommt der Gekreuzigte nicht nach. Stattdessen folgen der Todesschrei und das Verstummen des Gestorbenen. Gott erkennt und anerkennt darin die Macht der Sünde als das über ihn hereingebrochene Böse – Gott selbst widerfährt die Subjektivation des Gotteslästerers. Die Auferweckung lässt sich dagegen als die Ermächtigung Jesu Christi und als Folge lebendigmachender Verkennung verstehen. In ihr verkennt Gott auf produktive Weise seine Schöpfung, die sich ihres Schöpfers zu entledigen versucht: Der Tod Jesu Christi ist nicht der Abschluss der Geschichte Gottes mit dieser Welt, sondern in der Auferstehung bekennt er sich zu einem weiteren Miteinander; sie ist die Eröffnung der Möglichkeit des Neuen Bundes. In der Auferstehung erweist sich Gott als mächtig über den Tod Jesu Christi als der Konsequenz menschlicher Sünde. Dabei ist von Butler zu lernen, dass eine solche Ermächtigung nicht als eine Selbstbehauptung, konträr zu den lebensbestimmenden Mächten, zu verstehen ist, sondern dass diese vielmehr als »Umkehrung und Verschleierung« vonstatten geht.72 Es ist eine Umkehr der lebenszerstörerischen Kräfte der Sünde und eine produktive Verschleierung ihrer korrumpierenden Bedeutung für die Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung. Die Einheit von Kreuz und Auferstehung kann daher als eine Subjektivation Gottes verstanden werden, die einerseits auf die Ambivalenz und die damit bleibende Gefährdung der Schöpfung durch die menschliche Sünde hinweist und zugleich die überwindende Präsenz Gottes in der Welt verkündigt. Mit Butler ließe sich daher trinitätstheologisch präzisieren, »daß das Subjekt selbst Schauplatz dieser Ambivalenz ist, in welcher das Subjekt sowohl als Effekt einer vorgängigen Macht [als der Gekreuzigte] wie als Möglichkeitsbedingung [als der Auferstandene] für eine radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit [in der Gegenwart des Geistes] entsteht«.73 2. In der bundestheologischen Rahmung der juridischen Christologie ist die Einforderung von Anerkennung der Rechtsforderung Gottes als Modellrahmen herausgestellt worden. Dabei zeigt Barths Hamartiologie der Undankbarkeit bzw. des Hochmuts mit sozusagen negativem Vorzeichen, inwiefern das Anerkennungsverhältnis zwischen Gott und Mensch von einer grundlegenden Asymmetrie geprägt ist. Gottes Forderung nach seiner menschlichen Anerkennung 72 73
Butler, Psyche der Macht, 20. Butler, 19 [Anm.: B.F.].
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impliziert eine Gehorsamsforderung und kann dabei unter machttheoretischen Gesichtspunkten als ein Akt der Unterwerfung gedacht werden. Butler exemplifiziert diesen Prozess im politischen (am Beispiel des Petrus auch im religiösen) Kontext mit der Althusserschen Theorie der Interpellation. Diese bezeichnet den Ruf einer Autorität, der einem Subjekt durch die zurecht- und einweisende Anrufung zugleich seine Identität vermittelt. Dabei vollzieht sich die Interpellation als Inszenierung und Aktualisierung einer symbolischen Ordnung, die einerseits Anerkennung verspricht, diese zugleich auf machtvolle Weise einfordert und zudem deren Abweichung drohend zur Schau stellt. Dabei fallen Identität und Differenz zu dieser Ordnung als Gesetz in eins. Butlers Analyse der Interpellation weist damit auf den Zusammenhang von Anerkennung, Unterwerfung und Schuld hin: »Der Ruf selbst wird auch dargestellt als Aufforderung, sich dem Gesetz anzuschließen, als Umwendung [...] und Eintritt in die Sprache der Selbstzuschreibung – ›Hier bin ich‹ – durch die Übernahme von Schuld«.74 Dabei sieht Butler scharfsinnig ein Problem, das sich auch in der oben genannten Hamartiologie ergibt, denn »damit geht die ›Schuld‹ dem Wissen um das Gesetz vorher [sic!] und ist in diesem Sinne immer merkwürdig unschuldig«.75 Was Butler im Kontext der Konstitution des Subjekts beschreibt, ist zugleich das eigentliche Problem von Barths supralapsarischer Erwählungslehre und deren impliziter Hamartiologie: Denn das asymmetrische Bundesverhältnis zwischen Gott und dem Menschen, das sich in der Rechtsforderung der Anerkennung Gottes artikuliert, ist immer schon dem unterwerfenden Gestus der Gehorsamsforderung unterworfen und kann nur im Modus der zuvorkommenden Buße unterbrochen werden – einem Akt, den Gott in der Selbsterwählung zum Leiden für sich selbst vorsieht. Barths Problem bietet jedoch zugleich eine Lösung an, indem sich das Gericht Jesu Christi nicht vor aller Zeit, sondern als Unterwerfung unter die Mächte der Sünde in der Geschichte vollzieht. So erfüllt er nicht nur Gottes Forderung nach Anerkennung, sondern durchbricht zugleich die gebietende Dynamik der Unterwerfung unter den Schöpferwillen und ist damit – ohne, dass bei Barth dessen kodifizierte Form der Thora selbst zur Geltung käme – tatsächlich das »Ende des Gesetzes« (Röm 10,4). Damit ist jedoch mit einem tiefen Missverständnis der Theorie des Christentums aufzuräumen, das sich auch in Butlers Beschreibung des christlichen Taufverständnisses wiederfindet. Indem sie nämlich den Ruf des Petrus und den Akt der Taufe wiederum als einen Ruf in den Gehorsam versteht, verkennt sie gerade die Pointe der transformierenden Anerkennung Jesu Christi, die diese Logik aussetzt: 74 75
Butler, 101. Butler, 102.
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Modell 3: Juridische Eschatologie Die Taufe verdeutlicht die sprachlichen Mittel, durch die ein Subjekt ins soziale Dasein hineingezwungen wird. Gott benennt »Petrus«, und seine Anrede macht Gott zum Ursprung von Petrus; der Name bleibt dauerhaft mit Petrus verknüpft kraft der impliziten fortdauernden Gegenwart des Benennenden im Namen.76
Worin liegt aber das Missverständnis? Es liegt in der Verkennung der Preisgabe von Gottes Transzendenz in seiner Kondeszendenz. Was Butler beschreibt, ist ein Akt der Unterwerfung unter eine symbolische Ordnung, die durch einen großen Anderen garantiert wird. Sie missversteht damit aber das Christentum als eine Ideologie mit stabilen moralischen und hierarchischen Ordnungen, die in einer metaphysischen Gestalt den Grund schlechthinniger Abhängigkeit sowie die Legitimation ihrer (klerikalen) Repräsentation behauptet. Der christliche Glaube ist aber angesichts des Christusgeschehens nicht ohne weiteres als Folge einer gehorsamen Unterwerfung zu verstehen. Er erwartet nicht die Erlösung in der Unterwerfung unter eine höchste, die Psyche und das Politische reglementierende Macht. Vielmehr besteht das Proprium des Bekenntnisses zum gerichteten Richter darin, dass das glaubende Subjekt, die christliche Gemeinde, die Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen in der originären Unterwerfung des wahren Gottes unter die Mächte der Sünde bekennt und bezeugt. Gerade dieses Merkmal macht die christlichen Kirchen jedoch umso anfälliger für einen Machtmissbrauch. Denn wo der christliche Glaube nicht bereits in seinen Grundsätzen von der einen, stellvertretenden Unterwerfung Jesu Christi her gedacht wird, kann sich dieser Missbrauch die menschliche Vulnerabilität gegenüber eben solchen Mächten zunutze machen. Was im einen Fall zur moralischen Unterwerfung von Menschen führen mag, kann im anderen Fall zur Grundlage missbräuchlicher Verhältnisse in Glaubensgemeinschaften reichen – ohne dass hier grundsätzlich unterschiedliche Machtmechanismen am Werk wären: In beiden Fällen geht es um die gewaltsame Ausrichtung der Unterwerfung eines Menschen unter ein Reglement der Kontrolle durch in der Psyche internalisierten Zwang. Dass dies in Religionsgemeinschaften eine erhöhte Gefahr darstellt, hängt nachweislich damit zusammen, dass machtbesetzte Gottesbegriffe und deren Medialisierung umso wirkungsvoller auf eine Sanktionierung menschlicher Praktiken hinwirken. Es kommt zur Gewissensbildung im Namen einer religiösen Autorität. »Das Gewissen ist das Mittel, durch das ein Subjekt sich selbst zum Objekt wird, indem es über sich reflektiert und sich zum reflektierenden und reflexiven Subjekt macht.«77 Folglich realisiert das Gewissen für eben solche Unterwerfungspraktiken eine innere Verdoppelung (und Verkleidung) ihrer Wirkung, indem der oder die Unterworfene vor dem Forum internalisierter Nor76 77
Butler, Psyche der Macht, 105. Butler, 26.
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men – wie lebensabträglich diese auch sein mögen – über sein Unterworfensein Rechenschaft ablegen zu müssen meint. Realistischerweise ist davon auszugehen, dass christliche Religionsgemeinschaften, die die elementare kreuzestheologische Formatierung von Anerkennungspraktiken aufgeben, immer wieder aufs neue von Missbrauchsskandalen erschüttert werden. Wie die vorangehenden Überlegungen gezeigt haben, eröffnen diese nicht nur ein kirchenrechtliches und religionssoziologisches, sondern ganz wesentlich auch ein theologisches Problemfeld. Damit eröffnet dieses erlösungstheologische Modell eine religionstheoretische Theodizee: Sie erwächst aus der Paradoxie, dass die neuerliche Verkennung der gnädigen Freundschaft Gottes in der vermeintlich Recht stiftenden Unterwerfung Jesu Christi zu neuem Leiden, neuen Tätern und neuen Opfern führt. Es kommt zur fatalen Verkennung der Güte Gottes und zu deren Perversion in der Unterwerfung von Menschen durch andere Menschen. 3. Butlers Theorie der Interpellation hat jedoch nicht nur in ihrer religionstheoretischen und bisweilen religionskritischen Gestalt Bedeutung. Sie kann (und muss) im Rahmen einer Theologie der wechselseitigen Anerkennung auch auf den Kopf gestellt werden. Denn die Einheit von Kreuz und Auferstehung ist Gottes Offenbarung, dass er nicht dieser unterwerfende Gott ist und dass er sich trotz der Erfahrung des Kreuzes nicht gegen, sondern zu dieser Welt hinwendet. Damit wird aber das Gottesbild des großen Anderen nicht nur obsolet, sondern wird in der jesuanischen Aufforderung zum Gebet an den »Abba« depotenziert. Nicht nur der Mensch, sondern auch Gott wird im Gebet an- und sogar aufgerufen. Während die ersten drei Bitten des Vater-Unsers im Lobpreis Gottes und der Einstimmung in die göttliche Anordnung eine Wiederholung der theistischen Anerkennungsforderung suggerieren, kehren die drei folgenden Bitten das Verhältnis geradezu um: Die Bitte um das tägliche Brot, die Vergebung der Schuld und die Erlösung von dem Bösen werden zum Appell an Gott. Ihm werden die natürlichen, moralischen und lebensabträglichen Dimensionen menschlicher Existenz – die das Leben strukturierenden Ordnungen in all ihrer dramatischen Dynamik – vergegenwärtigt. Und so kommt es im Gebet zur Subjektivation Gottes: Indem Gott in das Dispositiv dieser Bitten gestellt wird, wird er im Ensemble einer distinkten Erwartungshaltung der bittenden Gemeinde lokalisiert. Die Psalmen verdeutlichen dies mit der Erinnerung an Gottes Rettungstaten, die für sie Grund und Legitimation ihrer Bitte sind. Sie erinnern darin primär nicht sich selbst, sondern appellieren an Gott, sich dieser Geschichten zu vergewissern, und verorten ihn in die tradierten Erzählungen seines erlösenden Handelns. Es kommt zur überraschenden Wendung, dass die Psalmisten im Lobgelübde Gott ihre Anerkennung verheißen, sollte er diesem Erwartungshorizont entsprechen. Das Gebet impliziert damit ein zweifaches Potential der Verkennung: Es riskiert auf der Seite der Betenden eine Verkennung der Wirklichkeit Gottes angesichts ih-
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rer womöglich vergeblichen Hoffnung auf ihre Erhörung. Damit stellt es zugleich Gott in die Möglichkeit des Verkanntwerdens, da seine Erhörung ihrer Gebete auch eine überraschende, wundersame Erhörung sein kann, die gerade nicht den Erwartungen des Gottesbildes der Betenden entspricht. Die Geschichte des Christentums kann daher auch von dessen Gebetspraxis her als eine Geschichte des beständigen Risikos von Verkennungen verstanden werden. Die Beschäftigung mit den Anerkennungstheorien Axel Honneths und Judith Butlers hat gezeigt, dass die bei Barth die für dieses Modell zentrale Kategorie der Anerkennung in einen auch sozialtheoretisch wirkungsvollen Zusammenhang überführt werden kann. Judith Butler macht darüber hinaus dafür sensibel, sowohl das konstruktive Potential von Anerkennungsphänomenen, als auch deren bleibende Ambivalenz zu erkennen. Die Hoffnung auf die Erlösung von dem Bösen muss sich daher mit der Frage beschäftigen, inwiefern das Christusgeschehen diese Ambivalenz und damit den folgenreichen Zusammenhang von Anerkennung und Schuld überwindet.
3.5 Eschatologie des »Neuen Bundes« Die anerkennungstheoretischen Zwischenüberlegungen in Anschluss an Karl Barths juridische Christologie bekräftigt die Einsicht, dass die einseitige Rechtsforderung als Forderung der Anerkennung Gottes keinen Bestand haben kann, wenn die Bedeutung von Kreuz und Auferstehung als singuläres Gericht nicht verdunkelt werden soll. Darüber hinaus hat die Modellkritik im dritten Abschnitt dieses Kapitels gezeigt, dass mit Barths Betonung der Exklusivität des Christusgeschehens das geschichtliche Problem der Wirklichkeit des Bösen als zwischenmenschliches Unrechts nicht unmittelbar adressiert werden kann. Zugleich betont jedoch Barths forensische Kreuzestheologie, dass in der stellvertretenden Gerechtigkeit Jesu Christi der Rechtsforderung Gottes ein für alle mal entsprochen ist. Im Rückgriff auf gegenwärtige Anerkennungsdiskurse habe ich darum gezeigt, dass eine solche an Barth anschließende – jedoch an entscheidenden Punkten über ihn hinausgehende – Theologie der Anerkennung diesen Problemen gewahr werden kann. In diesem abschließenden Abschnitt soll daher ein geschichts- und erlösungstheologischer Ausblick die Analyse dieses juridischen Modells abschließen. Damit soll theologisch konstruktiv mit dem eschatologischen Symbol des »Neuen Bundes« eine anerkennungstheoretische Erlösungstheologie angeboten werden, die an die forensische Soteriologie Barths anschließt.
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3.5.1 Der Neue Bund als Verkennungsgeschichte Das Symbol des »Neuen Bundes« ist ein Hoffnungssymbol, das Karl Barths selbst vergleichsweise selten verwendet.78 Dennoch schließt es systematisch an die bundestheologische Rahmung dieses juridischen Modells an. Es folgt auf die Feststellung der ein für alle mal in Jesus Christus vollzogenen Gerechtigkeit, die Barth wieder und wieder betont: In Ihm ist der von Gott in Treue gehaltene, vom Menschen gebrochene Bund erneuert und wiederhergestellt. Er ist – alle Anderen in sich darstellend und vertretend – der menschliche Partner Gottes in diesem neuen Bunde. Er in der Rechtskraft, Geltung und Macht seines Leidens und Sterbens! Er ist es aber für uns. In Ihm ist Gott selbst – indem er unser aller Gericht vollstreckt, aber eben so vollstreckt – für uns. Es ist in diesem Gottesgericht die in der Passion dieses Einen vollzogene Versöhnung die unsrige. Das ist der Ursprung und primäre Gegenstand des Glaubens und der Verkündigung. Und eben von daher geht es im Glauben primär darum, an Jesus Christus zu glauben, und in der Verkündigung primär darum, Ihn zu verkündigen: Ihn, in welchem uns Gott Alles schenken wird (Röm. 8, 32). Alles! (KD IV/1, 277).
Das Gericht Jesu Christi eröffnet als Ursprung des Glaubens und der Verkündigung eine Geschichte, die im Licht der vollzogenen Versöhnung steht. Es provoziert Zeugnisgeschichten, von denen die Auferstehungsberichte als initiale Erzählungen gelten. In ihnen wir deutlich, wie der Auferstandene in subtiler und kreativer Weise bekannte Handlungsmuster seines vorösterlichen Wirkens aufgreift und so in der Gemeinschaft seiner ZeugInnen um die Anerkennung dieses Geschehens wirbt.79 Dieses Werben ruft bei den Menschen, die diese Erfahrungen machen, immer wieder Erschrecken und Zweifel, aber auch Glaube, Freude und Vertrauen hervor. Wenngleich die Berichte die Wahrheitsfrage der Auferstehung nicht ausklammern, stellen sie diese den differenzierten Beschreibungen des wiedererkannten Handelns Jesu Christi hinten an. Jegliche Unbedingtheit einer Anerkennungsforderung wird dadurch konterkariert, dass es sich bei den ersten Zeuginnen um Frauen handelt, die in damaligen Gerichtsprozessen nicht als autoritative Zeuginnen auftreten konnten. Diese religionsgeschichtliche Besonderheit unterstreicht, dass die Anerkennung des Auferstehungsglaubens und der aus ihm hervorgehenden Zeugnisse nicht als Bestätigung und Akklamation eines 78
79
In der gesamten Kirchlichen Dogmatik kommt der Terminus insgesamt nur 42 mal vor; überwiegend in exegetischen Verweisen. Gerade vor dem bundestheologischen Hintergrund seiner Versöhnungslehre ist es umso verwunderlicher, dass Barth diesen Pfad einer möglichen Eschatologie unter diesem Symbol nur spärlich vorbereitet hat. Vgl. dazu und zum Ineinander von Kontinuität und Diskontinuität des Auferstanden zum vorösterlichen Christus Welker, Gottes Offenbarung, 133f.
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objektiven Sachverhalts Geltung beanspruchen, dessen Unbedingtheitscharakter sich in einer machtvollen Durchsetzung dieser Deutung des leeren Grabes als Auferstehung niederschlägt. Die Auferstehungsbotschaften entspringen vielmehr einem Ringen um die Wiedererkennung des veränderten, auferweckten Gekreuzigten. Damit ist der Glaube der ersten ChristInnen als Anerkennung immer auch ein (im oben herausgearbeiteten Sinne) konstruktives Verkennen des Auferstandenen, sofern es eine Veränderung ihres Gottesbildes und eine entsprechende eschatologische Erwartung evoziert. Die Gemeinschaft des Neuen Bundes konstituiert sich nicht durch eine Anerkennung einer monolitischen Wahrheit, sondern vollzieht sich im Leben der Gemeinde als ein vitales und kreatives Suchen nach Erkenntnis und im Versuch eines angemessenen Verstehens der Gegenwart Jesu Christi. Sie ist eine Geschichte der Anerkennung Gottes. Diese Geschichte kann nicht mit dem Honnethschen Anerkennungsbegriff in Verbindung gebracht werden, der Anerkennung als eine Konstatierung und Bestätigung eines vorangehenden Sachverhalts versteht. Vielmehr ist die Geschichte des Neuen Bundes von der Möglichkeit beständiger Verkennung geprägt, sofern der Auferstandene und das Zeugnis der Ostergemeinde in Kontinuität und Diskontinuität zum vorösterlichen Jesus existieren. Wenngleich die Auferstehung dem Auferstehungsglauben vorangeht, so ist sie niemals ohne dessen konstruktive Verkennung zu verstehen. Die christliche Gemeinde ist daher im eigentlichen Sinn eine verkennend-emanzipatorische Gemeinschaft, zu deren Gottesbildern – so die Hoffnung der christlichen Religion – sich Gott immer wieder bekennt. Die initiierende Verkennung ist dabei Gottes eigene Anerkennung des Sünders als Gerechtfertigtem. Sie eröffnet das Miteinander der Gemeinde trotz deren beständigen Angewiesenseins auf die Vergebung untereinander und die Vergebung von Gott. Eine Eschatologie des »Neuen Bundes« ist daher davon geprägt, dass sich Gott auf eine Geschichte einlässt, die ihn auf ambivalente Weise verkennt. Eine anerkennungstheoretische Fortschreibung dieses juridischen Modells muss darum an dieser Stelle ebenso eine kritische Perspektive auf die verkennenden Implikationen der Anerkennung Gottes werfen. Die faktische Möglichkeit der Verkennung Gottes bietet nicht einfach nur Anlass zur naiven Feier religiöser Pluralisierung. Hier muss zwischen verschiedenen Typen der Verkennung Gottes differenziert werden; denn Verkennungen – so wurde bereits oben angedeutet – können produktive, korrigierende, aber auch schließlich destruktive Wirkung entfalten. Im Folgenden möchte ich daher in Form einer Typologie drei Formen der Verkennung Gottes skizzieren. Religionsgeschichte(n) als pluralisierend-kreative Verkennungen Mit diesem ersten Typus der Verkennung sind die mannigfachen geschichtlichen Verschiebungen und Varianzen in der Genese von Gottesbildern und Hoffnungs-
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bildern gemeint: Gottes Wirklichkeit wird in unterschiedlichen Lebenskontexten verschieden verstanden, reflektiert und nicht zuletzt angebetet. Die Areopag-Rede des Paulus steht für diese Verkennung paradigmatisch: Paulus knüpft in seiner Verkündigung der Auferstehung Jesu Christi an die athenische Verehrung des unbekannten Gottes an und regt vor dessen Altar eine Verkennung des einen Schöpfergottes an. Die apophatische Verkennung der Athener führt Petrus daher konsequent weiter: Seine Worte »Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt« (Apg 17,23b) sind nicht als autoritative Korrektur, sondern vielmehr als eine Verschiebung dieses Gottesbildes zu verstehen. Seine Hoffnung auf die Auferstehung der Toten steht nicht in der Direktion der Unterwerfung unter diesen Glauben, sondern regt eine kreative Verkennung an, die sowohl weitere Varianzen als auch ein deutliches Aberkennen dieser Wirklichkeit zulässt.80 . Die Areopag-Rede steht damit paradigmatisch für die aus der Wirklichkeit der Auferstehung angeregte Pluralität der Religions- und Kulturgeschichte, die einen vitalen Entdeckungszusammenhang der Wirklichkeit Gottes beschreibt und dabei ganz sicher auch Abwege negativer Verkennung in sich trägt. Zentral an dieser Denkfigur ist, dass der Auferstandene und die Wirklichkeit Gottes nicht einfach als solche sind. Vielmehr wird Gott in unterschiedlichen (impliziten) Theologien auf verschiedene Weise Anerkennung geschenkt. Dies führt zu einer Pluralisierung der Lebensäußerungen des Glaubens an den Auferstandenen, der nicht ohne handfeste Differenzen auskommt. Gotteserfahrungen und die aus ihnen erwachsenden Traditionen figurieren nicht-beliebige, aber auf stets neue Weise das Bild von dem Gott, dem sie Anerkennung schenken. Diese kreative Figuration lässt Gott selbst zu und eröffnet daher den Raum zur Pluralität der Doxologien. Dieses Zugeständnis Gottes an die Geschichte, dass seine Anerkennung nicht monodirektional als Unterwerfung unter seine Rechtsforderung durchgesetzt werden kann, eröffnet eine von Gott geduldete Kreativität in der Entstehung unterschiedlicher Gottesverehrungen. Atheismen als kritisch-negierende Verkennung Der zweite Typus der Verkennung ist eine negierende Form der Verkennung Gottes. Er gewinnt im religionskritischen sowie im praktischen Atheismus geschichtliche Gestalt. Der religionskritische Atheismus versucht die Kette der geschichtlichen Verkennungen zu brechen und strebt auf seiner Linie zunächst einen radikalen Abbruch der Kreativität der Religionsgeschichten an. Er lässt sich nicht von verkennenden Zeugnissen zu oben genannten Verschiebungen 80
Auf diese Realität weist explizit Apg 17,32 hin.
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anregen, sondern drängt auf das Ende der Geschichte der Verkennungen Gottes hin. Dabei pocht der Atheismus auf die radikalste Form der Verkennung, die kein Erkennen mehr zulässt, weil nach seiner Auffassung das anerkennende Dispositiv kein Korrelat als Gegenüber hat. Dem christlichen Gottesbild entspräche keine Wirklichkeit der Auferstehung – Gott ist tot. Also verkennt der Atheismus auf negierende Weise die Wirklichkeit Gottes. Abgesehen von seinen zweifelsohne existenten vulgären Formen hat der Atheismus im Ensemble der Verkennungstypen eine kritisch-konstruktive Funktion: Indem er nämlich nicht nur negierend das Spiel geschichtlicher Verkennungen Gottes abbricht, sondern diese als solche entlarvt, verkörpert er den kritischrealistischen Einspruch gegen jede Religionstheologie, die ausschließlich den Typus kreativer Verkennungen gewichtet. Der religionskritische Atheismus weist dagegen alle religiösen Anerkennungsformen darauf hin, was sie in Wirklichkeit sind: Verkennungen. Der religionskritische Atheismus erhebt damit Einspruch gegen jede Identifikation von Gottesbildern mit der Wirklichkeit Gottes. Damit hat v.a. die philosophische Religionskritik in Anschluss an Ludwig Feuerbach eine zentrale Aufgabe in der Geschichte des Neuen Bundes: Sie stellt die geschichtliche Relativität aller Anerkennungsverhältnisse zur Schau, indem er ihre Notwendigkeit und Endgültigkeit unterläuft. Der praktische Atheismus vollzieht diesen Einspruch nicht argumentativ, sondern performativ. Er lebt die in der Kenosis Jesu Christi eingeräumte Möglichkeit der Verkennung als Ignoranz. Die Auferstehungszeugnisse sind als verkennende Zeugnisse keine zwingenden Direktiven. Das Eingeständnis Gottes, mit einer Welt, die ihn ans Kreuz geschlagen hat, einen Neuen Bund zu leben, ist auch ein Eingeständnis und eine Rechtfertigung all jener, die die Gottesfrage nicht nur negieren, sondern sie nicht einmal stellen. Der praktische Atheismus ist damit zugleich performatives Zeugnis der Rechtfertigung des Menschen und der lebendige Hinweis auf den eschatologischen Vorbehalt. Totalitarismen als unterwerfend-ideologisierende Verkennungen Die Verkennung der Wirklichkeit Gottes kann in der (impliziten wie auch expliziten) Neuformierung von Gottesbildern verhängnisvolle Gestalt annehmen: In Form von religiösen, moralischen, kulturellen und politischen Totalitarismen können Verkennungen unterwerfend-ideologisierende Wirkung entfalten. In ihnen zeigt sich das auf ihren Machtbereich ausstrahlende Gefährdungspotenzial der Verkennung Gottes. Ideologien besetzen damit ein Machtvakuum, das Gottes Selbstzurücknahme im subtilen Zeugnis der Auferstehung Jesu Christi eröffnet. Totalitäre Verkennungen sind nicht mehr innerhalb der pluralistischen Varianz von anderen Religionsformen angesiedelt, wenngleich es zwischen beiden histo-
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risch zu Überlappungen in Form fundamentalistischer Bewegungen kommt. Ihre ideologische Macht gewinnen Totalitarismen aus der Verkennung und negierenden Verschleierung der subversiven Überwindung der Logik der Unterwerfung in Kreuz und Auferstehung. Indem sie Anerkennung als Unterwerfung identifizieren erwarten ideologisierende Verkennungen unbedingten Gehorsam und setzen sich geschichtlich als Unterwerfung von Individuen und ganzen Gesellschaften fort. Sie sind die radikalste Form der Subjektivation, die die Varianzen produktiver Verkennung nicht nur ignorieren, sondern gewaltsam unterdrücken. Totalitarismen entwerfen Utopien des Sieges durch Anerkennung verheißende Unterwerfung. Die Wirkungsvollsten sind dabei diejenigen, die diese Unterwerfung verschleiern. Gegenüber dieser Gefahr ist auch der christliche Glaube nicht immun. Dass sich Gott auch von religiösen Fundamentalismen verkennen und damit instrumentalisieren lässt (»Im Namen Gottes«), ist die tragische Konsequenz der Zurücknahme der Deutungsmacht Gottes über sich selbst. Gott geht mit dem von ihm initiierten Machtvakuum auch dieses Risiko ein. Die unterwerfend-ideologischen Verkennungen von Totalitarismen und Fundamentalismen zeigen, dass die Geschichte des Neuen Bundes fragil und eine angefochtene Geschichte ist. Sie zeigen, dass der Neue Bund nicht nur der Stiftung, sondern ebenso der Erfüllung bedarf. Diese Erfüllung entscheidet darüber, wie sich Gott gegenüber dieser Geschichte verhält, und in welchen Verkennungen er sich zu erkennen gibt. Damit ist aber ferner die Denkmöglichkeit geboten, dass Gott sein Wesen durch produktive Verkennungen der Geschichte mitbestimmen lässt: Er riskiert seine eigene Subjektivation durch den Menschen. Die Geschichte des Neuen Bundes ist unter der göttlichen Zulassung seiner Verkennung nicht nur eine Exploration von Menschen, sondern auch ein göttlicher Entdeckungszusammenhang, bei dem nicht von Anfang an über Gottes Sein und wie es sein wird entschieden ist (vgl. Ex 3,14). Diesem Entdeckungszusammenhang ist nun final nachzugehen.
3.5.2 Gebet und Gericht In den anerkennungstheoretischen Fortführungen in Anschluss an Butler wurde die Affizierbarkeit Gottes durch die Zeugnis- und Religionsgeschichte mit der Denkform der Subjektivation Gottes begründet. Subjektivation ist aber ein Prozess von machttheoretischer Relevanz. Daher ist nicht nur von den Varianzen und Verschiebungen in An- und Verkennungsprozessen zu sprechen, sondern ebenso davon, was diese produktiven Verkennungen mit dem machen, dem hier auf distinkte Weise Anerkennung geschenkt wird. Auf diese Dimension kann Barths erwählungstheologischer Zusammenhang des Kreuzes befragt werden: Die Unterwerfung Jesu Christi am Kreuz unter die Mächte dieser Welt und zugleich
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unter den Willen des Vaters macht deutlich, dass sich Gott dieser Subjektivation durch die Mächte dieser Geschichte aussetzt. Die Erwählung Jesu Christi ist primär seine Erwählung zum Leiden und sie ist darum auch der Ausgangspunkt dafür, dass sich Gott im Willen um das Heil des Menschen kreativ und in der Auferweckung neuschöpferisch zu dieser Geschichte verhält. Kreuz und Auferstehung Jesu Christi bilden so das theologische Paradigma der Responsibilität Gottes in der Geschichte des »Neuen Bundes«. Damit ist der Bereitschaft Gottes, sich auf Kontexte und Konsequenzen von Gewaltgeschichten und Erfahrungen von Leiden einzulassen, in unüberbietbarer Weise Ausdruck verliehen. Dem entspricht in besonderer Weise die Praxis des Gebets. In der Doxologie, dem Lob und dem Dank des Gebets wird eine ganz bestimmte Form der Anerkennung Gottes in der Verbindung mit konkreten Lebenskontexten geäußert. Sie stellt damit den oben genannten ersten Typus der Verkennung Gottes im Horizont der Erfahrungen gelebten Lebens dar. Dem steht korrelierend die Bitte sowie die Fürbitte gegenüber: In ihnen macht die Gemeinde auf die konkrete Wirklichkeit von Leiderfahrungen und lebensabträglichen Bedingungen aufmerksam und appelliert an Gottes intervenierendes, rettendes, sicherndes und schöpferisches Wirken. Die Bitte trägt damit in die Wirklichkeit der Versöhnung des Neuen Bundes den Realismus der noch ausstehenden Erlösung von dem Bösen ein. Dabei lässt sich anerkennungstheoretisch eine Doppelstruktur erkennen: Die Bitte artikuliert einerseits die Anerkennung der Potentialität von Gottes Retter-Sein angesichts konkreter Notlagen. Ohne diese Form anerkennenden Vertrauens entbehrt das Bittgebet jeglicher Grundlage. Zugleich artikuliert die Bitte eine Erwartungshaltung an Gott als den Erlöser von dem Bösen, die sich aus der Erfahrung von Unrecht speist. Sie macht auf die Differenz aufmerksam, dass Menschen angesichts ihrer konkreten Lebensumstände der Aussage, dass in Jesus Christus schon aller Gerechtigkeitsforderung genüge getan sei, keine Anerkennung schenken können. Diese Differenzmarkierung ist zentral für eine theodizeesensible Erschließung des Heilsgeschehens Jesu Christi. Dessen iustitia aliena ist nicht mit einer iustitia correctiva gleichzusetzen, sondern eröffnet vielmehr den Raum für den menschlichen Appell an eine solche. Die Klage, das Bittgebet und die Fürbitte nehmen eben diesen Raum in unterschiedlicher Weise für sich und für andere in Anspruch. Denn mit der Subjektivation Gottes im Gebet geht eine Anerkennungsforderung menschlichen Leidens einher. Diese wird in der Performanz des Gebets zum Maßstab jener kompensierenden, ausgleichenden Gerechtigkeit, welche die Betenden einfordern. Die im Gebet artikulierten Erfahrungen ausbleibender Gerechtigkeit tragen an Gott die Erwartungen und Bedingungen der Anerkennung seines erlösenden Wirkens heran. Naiv gesprochen: Gott lernt an ihnen. Dabei macht Mt 6,8 dafür sensibel, dass dieses Lernen kein linearer und progressiver Prozess ist, sondern dass
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Gott Gebete und ihre Inhalte antizipiert: »Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet« (Mt 6,8b). Die einleitenden Worte zum Vater Unser behaupten sodann nicht, dass Gott auch ohne diese Worte wüsste, was Menschen bedürfen, sondern dass er es schon zuvor wisse. Damit lässt sich in den Lernerfahrungen Gottes in der Geschichte eine Kontinuität ausmachen, die ein wirkungsvolles Instrument gegen eine strukturelle Abwertung jeder Theologie ante Christum ist. So ist die Eröffnung des Raums für die Anerkennung menschlichen Leidens nicht in eine lineare Lern- und Heilsgeschichte post Christum einzutragen. Vielmehr ist auch die hebräische Bibel voll solcher Eröffnungen und den daraus folgenden Aushandlungsprozessen zwischen Gott und Menschen um das, was als Heil zu gelten habe. Dass sie damit auch einen religionsgeschichtlich-hermeneutischen Rahmen für die Christusbotschaft des Neues Testaments bildet, ist dahingehend geradezu als Nebenprodukt dieser genuinen Zeugnisse zu bezeichnen. Gottes Bereitschaft zur Subjektivation durch die allzu menschliche Geschichte seiner ZeugInnen ist daher weder im Gebet noch in Christus ein Proprium des christlichen Glaubens, sondern ist in der Mose-Begegnung am brennenden Dornbusch (»Ich bin der ich bin«) bereits grundlegend festgehalten. Aus den Zeugnissen der klagenden und um Erlösung von dem Bösen bittenden Menschen werden an Gott die Bedingungen seines Anerkanntwerdens als Erlöser formuliert. Leiderfahrungen werden damit zu einem kontextuellen und subjektiven Korrektiv von Gottes Heilsintention. Klage und Bitte artikulieren einen vermeintlichen Rechtsanspruch auf ein Leben in der Wirklichkeit des Neuen Bundes, das nicht mehr von diesem Leiden geplagt sein soll – wobei es der eschatologischen Vollendung der Geschichte des Neuen Bundes obliegt, wie Gott diesem Anspruch gerecht wird. Dabei ist ein wichtiger Impuls der Gebetstheologie Karl Barths aufzunehmen, dass das eigentliche Subjekt des Gebets stets das »Wir« der Gemeinde ist (vgl. CL 131). In der Fürbitte wird die Bitte daher über einen personalen Akt der Anrufung Gottes hinaus zu einem intersubjektiven Kommunikationsgeschehen: Als Versammlung der Gläubigen bittet die Gemeinde Gott um die Anerkennung, Rettung und schließlich um die Kompensation dessen, was für diejenigen aussteht, für die sie betet. Sie bezeugt darin zugleich, was sie sich von Gottes Erlösung erhofft und welchen Gott sie als diesen Kommenden erwartet. Fürbittengebete sind eschatologische Interpellationen und damit Subjektivationen Gottes, die in der Einforderung der Anerkennung und Veränderung der Leidenssituation von Menschen Gott die Anerkennung als dem Schöpfer, Versöhner und Erlöser zusprechen. Die Geschichte des Neuen Bundes ist – so lässt sich zu diesem Hoffnungssymbol ethisch schließen – in der Hoffnung auf dessen Vollendung eine Geschichte des beständigen Gebets, das Gott konstant an die in so vielen Lebenskontexten noch ausstehende Erfahrung von Gerechtigkeit sensibilisiert. Die in Kreuz und
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Auferstehung überwundene Kategorie des Rechts als Rechtsforderung Gottes an den Menschen, der nie im Stande war ihr zu entsprechen, wird also in der Geschichte des Neuen Bundes durch das Bittgebet wieder aufgenommen. Im Bittgebet artikuliert sich die Frage nach der Erlösung von dem Bösen auch in der Weise, dass sich Gott ihrer Beantwortung selbst stellen muss. So besteht – so hat diese Modellrekonstruktion und ihre anerkennungstheoretische Fortschreibung gezeigt – paradoxerweise in der Exklusivität des Gerichts Jesu Christi die Möglichkeit, dass sich Gott eschatologisch noch einmal den geschichtlich aufgebrochenen Fragen nach der Gerechtigkeit und dem dann transformierten Anerkennungsverhältnis zwischen Gott und Mensch zuwenden wird müssen. In diesem eschatologischen Gericht, das Gott auch über sich selbst zu sprechen hat, wird darüber zu entscheiden sein, welchen Anerkennungsforderungen Gott entsprechen und welche er als Richter auch über das menschliche Gebet hinweg zurückweisen wird. Das Gebet, insbesondere in seiner Gestalt der Bitte, wird dann als Korrektiv der Gerechtigkeit Gottes keine Bedeutung mehr haben; oder mit Barth zu sprechen: Im Eschaton wird der Mensch »sein Recht auf ein Leben als ewiges Leben, sein Recht auf sein ewiges Heil nicht mehr erst erwarten, suchen, erbitten müssen, um es zu haben. Er wird es dort einfach haben und nur noch ausüben« (KD IV/1, 673).
3.6 Zusammenfassung: Erlösung durch die Gerechtigkeit Gottes Die Rechtfertigungsbotschaft ist zweifelsohne eines der Zentren reformatorischer Theologie. Sie modelliert das Kreuzesgeschehen im Rahmen einer juridischen Logik, anhand derer die Gerechtigkeit Gottes als Grund menschlicher Hoffnung verstanden werden kann. Daran anschließend lassen sich Fragen nach dem Verständnis dieser Gerechtigkeit, dem Recht als ihrer Referenzgröße, aber auch nach der Kompensation von erfahrenem Unrecht stellen. Insbesondere Letzteres stellt sich mit Blick auf eine Täter/Opfer-Differenzierung als ein gewichtiges Modellproblem innerhalb juridischer Konzepte heraus. Diese Problematik muss jedoch nicht zu einer Entwertung des juridischen Modells führen. Vielmehr kann mit der bundestheologischen Rahmenstruktur dieses Modells eine Remodellierung vorgenommen werden, die die genannten Anfragen aufnimmt. Unter Zuhilfenahme gegenwärtiger Anerkennungstheorien kann die Bedeutung des Symbols des Neuen Bundes freigelegt werden um daran anschließend die Hoffnung auf Gottes zurechtbringendes Gericht, das schließlich seiner Gerechtigkeit Anerkennung verschafft, zu begründen. Das Gebet, worin Menschen auf den noch ausstehenden Erweis der Gerechtigkeit Gottes angesichts der Erfahrung von
Zusammenfassung: Erlösung durch die Gerechtigkeit Gottes
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Unrecht beharren, wird so zum Ort der Klage und Anklage Gottes. Über den materialdogmatischen Gewinn dieser Remodellierung hinaus hat sich gezeigt, dass solche aus theologischen Modellen hervorgehende Problemlagen nicht einfach nur zum Abbruch, sondern vielmehr zu internen Umbauten und Erweiterungen theologischen Denkens anregen können. Damit wurde auch nachgewiesen, dass theologische Modelle nicht als stabile Gebilde konzipiert sind, sondern dass sie modellspezifische Möglichkeiten der Rekonfiguration anbieten. Entlang derer können alternative theologische Optionen erwogen und Veränderungen vorgenommen werden, um bestimmte Problemlagen besser zu adressieren.
4 Modell 4: Humanität und Reich Gottes Menschen hoffen auf die Erlösung von unmenschlichem Leiden. Insbesondere die Erzählungen Jesuanischer Heilungswunder fassen diese Realität menschlichen Leidens ins Auge, ohne sie zu romantisieren. Diese Narrationen können den materialen Ausgangspunkt für ein erlösungstheologisches Modell bilden, das auf eine Überwindung von inhumanen und lebensabträglichen Umständen hinweist. Das in diesem Kapitel untersuchte Modell beschreibt Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen als ein transformatives Geschehen, das Versöhnung und Erlösung als eine Überwindung der Unmenschlichkeit zugunsten der Realisierung von Humanität versteht. Barth entfaltet diese Auseinandersetzung anhand der Evangelienerzählungen, die von Jesus Christus als dem königlichen Menschen sprechen. Insbesondere anhand der Heilungs- und Rettungsgeschichten kommt dessen Menschlichkeit als Mitmenschlichkeit zum Tragen. Von diesen Erzählungen her erschließt sich für Barth ein theologisches Verständnis von Humanität. In diesem Kapitel soll darüber hinaus gezeigt werden, wie Barth diesen Begriff in den Zusammenhang mit dem eschatologischen Symbol des Reiches Gottes stellt. Die prägende Denkform dieses Modells ist Barths Ansatz einer Christologie von unten, die sich in Form einer Eschatologie von unten fortschreiben lässt. Das Symbol des Reiches Gottes fungiert in diesem Modell als eine Brücke zwischen Christologie und Eschatologie Für die Textanalyse dieses Modells steht vor allem der zweite Band der Versöhnungslehre gemeinsam mit den korrespondierenden Teilen der Versöhnungsethik im Vordergrund. Insbesondere im dezidiert christologischen Paragraphen dieses Bandes gewinnt Barth seine Einsichten aus einer intensiven Relektüre der biblischen Narrationen des Lebens Jesu. Für die Soteriologie bzw. Eschatologie dieses Modells ist hier besonders zentral, dass für Barth vor allem die biblischen Traditionen im Vordergrund stehen, in denen Jesu Wirken in konkreten Begegnungen als Einsatz für andere Menschen zum Ausdruck kommt. Diese Mitmenschlichkeit äußert sich einerseits als Solidarisierung insbesondere mit leidenden Menschen und andererseits als Aufbegehren gegen Gefährdungen und Bedrohungen des Lebens, die als Unmenschlichkeit erfahren werden. Als Formen des Bösen lassen sich in diesem Modell sowohl anthropologische Dimensionen, wie sie in seiner
229 Hamartiologie der Trägheit zum Ausdruck kommen, soziale Phänomene, wie sie in Gestalt der sog. »herrenlosen Gewalten« beschrieben werden, aber auch leibliche Übel der Krankheit in den Blick nehmen. Die Parallelführung restituierender und transformierender Denkformen ist damit in diesem Modell vergleichbar mit der im vorangehenden Modell beschriebenen Spannung aus Wiederherstellung und Erfüllung des Bundes. Die Verbindung von Schöpfung und Erlösung lässt sich anhand von vier Aspekten beschreiben, welche die Christologie dieses Modells strukturieren. Zum Ersten ist diese Verbindung in der Realisierung der Gemeinschaft von Gott und Mensch in Jesus Christus angelegt: Versöhnung wird als eine Transformation des Verhältnisses des Schöpfers und seines Geschöpfes gedacht. Zweitens werden Gottes rettende Interventionen im Leben Jesu zugunsten anderer Menschen von Barth als »Normalisierung« beschrieben. Die eschatologische Hoffnung rekurriert damit auf partikulare Möglichkeiten der Überwindung von Übeln, die als schöpfungsimmanent klassifiziert werden, nicht aber der Güte von Gottes Schöpfung zuzuordnen sind. Zum Dritten weisen diese realen und nicht zuletzt leiblichen Errettungen über sich auf etwas ganz Neues hinaus. Wiederherstellungen von gefährdetem und gebrochenem Leben werden als Gleichnisse des Himmelreichs verstanden. Damit ist zugleich das zentrale eschatologische Symbol dieses Modells angesprochen: Denn viertens antizipiert die Gemeinde in ihrer Bitte um das Kommen des Reiches Gottes dessen Realisierung. Gerade in der bittenden, hoffenden und tätigen Erwartung der zukünftigen, erlösenden Gemeinschaft mit Gott ereignet sich für Barth eine Entmächtigung unmenschlicher Mächte. Fundiert ist dieses Modell in der dogmatischen Denkfigur der unio hypostatica, der hypostatischen Vereinigung von Gott und Mensch in Jesus Christus. Die grundlegende Dynamik der innerhalb dieses Modells zu entfaltenden erlösungstheologischen Transformationen wird durch diese Realisierung von Gemeinschaft strukturiert, die der Bestimmung des Menschen zur Mitmenschlichkeit entspricht. Genau diese soziale Dimension dieses Abschnitts der Versöhnungslehre Barths provoziert jedoch die Rückfrage, wie demgegenüber soziale Dynamiken verstanden werden können, die gerade aufgrund ihrer Eigendynamik für Menschen zur Gefährdung werden: Nicht jede Form der Gemeinschaftsbildung ist heilsam. Und so ist mit diesem Modell ebenso nach einer Hamartiologie des Sozialen zu suchen, die einer romantisierenden Beurteilung von Sozialität Einhalt gebietet. In einem letzten Abschnitt können die gewonnenen Einsichten dieses Modells im Kontext einer Theologie der Behinderung plausibilisiert werden. Dazu werden drei im Behinderungsdiskurs zentrale Verständnisse von Behinderungen skizziert (medizinisch, sozial, kulturell) um daran anschließend eine Modellvalidierung vorzunehmen. Damit kann auch gezeigt werden, welche Fragen mit diesem Modell adressiert und welche unbeantwortet bleiben müssen.
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Modell 4: Humanität und Reich Gottes
4.1 Die Menschlichkeit Gottes in Christus Das in diesem Kapitel analysierte Modell ist dogmatisch in Barths Überlegungen zur Menschlichkeit Gottes verwurzelt, die sich in seiner Entfaltung des königlichen Amtes verdichtet. Als Textgrundlage für dieses Kapitel dient daher der zweite Band der Versöhnungslehre.1 Ausgehend von einigen epistemologischen und christologischen Überlegungen soll damit ein Zugang zur Erlösungstheologie skizziert werden, welcher die systematische Verbindung der Person Jesu Christi und dem eschatologischen Symbol des Reiches Gottes zu entfalten vermag.
4.1.1 Die Denkform der unio hypostatica Barth verbindet im zweiten Band seiner Versöhnungslehre eine Christologie der Menschlichkeit Gottes mit einer Soteriologie, die sich mit der Heiligung des Menschen befasst. Diese Verbindung ist für Barth darin begründet, dass Akt und Sein sowie Person und Werk Jesu Christi nicht voneinander getrennt, sondern nur in der konkreten Geschichtlichkeit der Person Jesu von Nazareth erkannt werden können. Darin ist zunächst eine epistemologische Pointe angezeigt, der in ihrem christologischen Zusammenhang zunächst nachzugehen ist. Zur Rekonstruktion dieses komplexen Verhältnisses von Christologie, Soteriologie und Epistemologie ist ein geeigneter Ausgangspunkt zu wählen, um die zirkuläre Denkbewegung Barths nachzuvollziehen. Ich wähle hierfür Barths Ansatz, der die Heiligung des Menschen, die in der Person des königlichen Menschen Jesus Christus Wirklichkeit ist, zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Barth formuliert: »In Jesus Christus ist nicht nur ein Mensch, ist vielmehr das Menschliche aller Menschen als solches in die Einheit mit Gott versetzt und erhoben« (KD IV/2, 52).2 Diese christologisch eröffnete Erkenntnisbewegung ist jedoch gerade angesichts ihrer geschichtlichen Konkretheit nicht exklusiv geformt, sondern nimmt für sich eine universelle Gültigkeit in Anspruch – wenngleich sie noetisch auf 1
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Zur Bedeutung des königlichen Amtes im Kontext von Barths Christologie vgl. Jones, The Humanity of Christ, 150–186, welcher im Übrigen entsprechend der weiter unten zu analysierenden Erkenntnisrichtung konsequenterweise KD IV/2 als hermeneutischen Schlüssel für KD IV/1 ansieht; außerdem Maurer, »›Der königliche Mensch‹: Das Leben Jesu in Barths Christologie«; ten Boom, »Ecce homo agens«. Barth greift in der dogmatischen Entfaltung dieses Satzes auf die verschiedenen Denkmöglichkeiten zurück, welche die reformierte und lutherische Orthodoxie hervorgebracht haben. Zu Barths Rezeption der nachreformatorischen Streitigkeiten um die Menschlichkeit Jesu Christi insb. mit Blick auf die communicatio idiomatum vgl. Jones, The Humanity of Christ, 129-146; außerdem Lang, »Anhypostatos – Enhypostatos: Church Fathers, Protestant Orthodoxy and Karl Barth« und Matthias, »Barth’s Use of the Post-Reformation Orthodoxy in His Christology in CD IV/2, § 64.2 (›The Homecoming of the Son of Man‹)«. Zu Barths Restrukturierung dieser Lehre und der darin zentralen Bedeutung der communicatio operationum vgl. Sumner, »Common Actualization«.
Die Menschlichkeit Gottes in Christus
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diesen einen zugespitzt formuliert ist. Denn die inkarnatorische Gemeinschaft von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi schließt nach Barth deren Universalisierung mit ein; im Leben Jesu Christi ist diese bereits wirklich: »Die Weihnachtsbotschaft redet von dem, was in diesem einen für alle Menschen und also für einen Jeden von uns objektiv wirklich ist« (KD IV/2, 299). Die Gott-Mensch-Gemeinschaft, die im Leben Jesu Christi geschichtliche Wirklichkeit geworden ist, ist für Barth also als solche das Versöhnungsgeschehen. Und genau an dieser Stelle setzt das in diesem Kapitel beschriebene Modell an: Jesus von Nazareth wirkt nicht die Versöhnung von Gott und Mensch, sondern die in seiner Person wirklich gewordene Gemeinschaft ist diese Versöhnung. In dieser Einheit von Akt und Sein, Person und Werk, sind – ebenso wie in den anderen in dieser Studie beschriebenen Modellen – dramatisch-agonale Auseinandersetzungen Gottes mit dem Bösen auszumachen, die auf eine spezifische Eschatologie hinweisen. Barths christologischer Ansatz in diesem Modell ist zunächst auf seine epistemologischen Konsequenzen zu befragen. Er beschreibt weite Strecken dieses Modells anhand biblischer Narrationen des Lebens Jesu und führt auch in seinen systematischen Begriffsbildungen immer wieder konsequent darauf zurück.3 Theologisch von dem in den biblischen Texte erzählten Miteinander von Gott und Mensch zu abstrahieren bedeutete – so die epistemologische These dieses Modells – ein Zurückfallen hinter die Wirklichkeit des wahren Menschen. Die Gott-Mensch-Gemeinschaft in Jesus Christus stellt für Barth daher auf einer grundlegenden Ebene ein erkenntnistheoretisches Werkzeug der Kritik dar, welches er auf traditionelle dogmatische Denkformen anwendet. Denn die Zurückweisung all jener Abstraktionen nötigt Barth zu einer neuen Interpretation des chalcedonensischen Bekenntnisses der zwei Naturen in Christus. Die Neufassung dieser Christologie in KD IV/2 setzt daher nicht substanzontologisch bei den beiden Naturen an, die dann erst in einem zweiten Schritt zur personalen Einheit gebracht würden. Stattdessen greift Barth auf das klassische Theologumenon der unio hypostatica zurück, um das Leben Jesu Christi in seiner konkret geschichtlichen Form als realisierte Gemeinschaft von Gott und Mensch zu beschreiben. Jesus von Nazareth ist damit nicht ein (menschlicher) Teil der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen; vielmehr ist er selbst diese Gott-Mensch-Gemeinschaft. Und so konvergieren in Jesus Christus nicht nur Akt (der Versöhnung) und Sein (der Gott-Mensch-Gemeinschaft), sondern er ist als diese konkrete Person auch die konkrete Sozialität zwischen Mensch und Gott, von der aus gesehen jede substanzontologisch trennende Beschreibung nur 3
Zu diesem Vorgehen und der Begründung einer christologischen Methode vgl. Krötke, »Die Christologie Karl Barths als Beispiel für den Vollzug seiner Exegese«; Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung von Barths christologischer Bibelauslegung vgl. Zimmermann, »Nur der gemalte Christus?«
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als unsachgemäße Abstraktion zu gelten hätte.4 Denn Barth denkt die Ontologie dieser Union jenseits einer Zusammenführung zweier ehedem selbstständiger Entitäten. Stattdessen beschreibt er eine Ontologie dieser Gemeinschaft als die Verbindung der Geschichte Jesu von Nazareth mit der Geschichte der Trinität: In dieser hypostatischen Union ereignet sich eine Geschichte, die sich in dem lebendigen Jesus Christus abspielt zwischen seinem menschlichen Sein als Menschensohn und seinem göttlichen Sein als der Gottessohn, der er auch und zuerst ist – Geschichte zwischen dem Vater und Geschichte zwischen dem Heiligen Geist und dem Sohn, der als solcher auch Menschensohn ist (KD IV/2, 104).
Barth versteht diese Geschichte konsequent von den Theologumena der Anhypostasie bzw. Enhypostasie her: Theologiegeschichtlich dienen diese als Instrument zur Abwehr der klassischen christologischen Häresien des Doketismus und Nestorianismus. Die Anhypostasie erhebt nach Barths Interpretation den kritischen Einwand gegen die Vorstellung einer »selbständigen Existenz« des Menschen Jesus von Nazareth außerhalb dieser hypostatischen Einheit.5 Folglich gibt es außerhalb dieser Gemeinschaft kein unabhängiges menschliches Wesen. Dagegen betont umgekehrt die Enhypostasie positiv die substantielle Ausschließlichkeit dieser Einheit und »daß Er im Unterschied zu uns Anderen allen nur als Gottes Sohn auch ein wirklicher Mensch ist« (KD IV/2, 53). Damit ist gemeint, dass vom Menschen und damit auch von Humanität nur in Bezug auf diesen Menschen in der Gemeinschaft mit Gott theologisch verantwortlich gesprochen werden kann. Barth kann dies nicht nur wie hier als Differenz, sondern ebenso positiv als Identität ausdrücken: »Seine Existenz als Mensch ist mit der Existenz Gottes in seinem Sohn identisch« (KD IV/2, 99). Aus dieser Formulierung wird Barths Anliegen deutlich, die Identität des geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth mit dem ewigen Logos, der zweiten Person der Trinität auszudrücken. James P. Haley stellt dies zutreffend in einen soteriologischen Rahmen: This absolute union of humanity in the Logos undergirds Barth’s understanding of Christ’s humanity, and grounds his appropriation of anhypostasis and enhypostasis in God’s reconciliation of humanity to Himself. The eternal Christ takes true humanity to Himself, not a man into whom God changed Himself.6 4
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»Because Christ is God as being-in-act, his person and his work cannot be separated, and so the operationum not only describes the work of the Mediator but has ontological significance for him. Barth thus rejected what he saw to be a basic distinction between being and act underlying the tradition« (Sumner, »Common Actualization«, 475). Darüber hinaus hat Eberhard Jüngel nicht nur die Bedeutung der An-/Enhypostasie für Barths Christologie, sondern auch für dessen Gotteslehre betont: Vgl. Jüngel, Gottes Sein ist im Werden, 95f. Haley, »Karl Barth’s Interpretative Construal of the Anhypostasis and Enhypostasis of Christ’s Human Nature in Relation to Historical Protestant Orthodoxy«, 155.
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Die fundamentale Bedeutung der unio hypostatica, die in der Christologie von KD IV/2 den ontologischen und noetischen Ausgangspunkt darstellt, macht die enge Verbindung von Christologie, Soteriologie und theologischer Epistemologie dieses Modells deutlich: Denn Barth entfaltet die Bedeutung der Gemeinschaft von Gott und Mensch derart, dass diese nicht außerhalb der Person Jesu Christi bestimmt werden kann. Und ebenso ist von wahrer Menschlichkeit nicht anders zu reden, als sie in dieser Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen, wie er als Mensch unter anderen Menschen als deren Mitmensch lebt. Die Aufnahme dieser Begrifflichkeiten stellt für Barth also nicht nur ein technisches Werkzeug zur spekulativen Bestimmung der Person Jesu Christi. Vielmehr wird die Einheit seiner Person zum Zentrum dieses erlösungstheologischen Modells. Jesus Christus wird daher nicht nur zu einem Mittler der Gemeinschaft von Gott und Mensch, sondern er ist selbst die geschichtliche Realisierung dieses Miteinanders.
4.1.2 Die unio hypostatica als kritische Denkform Die Person Jesu Christi stellt für Barth den Ausgangspunkt dar, um die Menschlichkeit Gottes nicht als eine substanzontologische Transformation, sondern als relationale (bzw. wie später sichtbar wird: als multirelationale) Mitmenschlichkeit zu beschreiben. Als dogmatisches Instrument dient ihm dafür die hypostatische Union, die den biblischen Aussagen über die Gottesnähe in der Mitmenschlichkeit Jesu am besten gerecht wird. Jene mache aus Barths Sicht deutlich, dass sich Gottesgemeinschaft in der menschlichen Gemeinschaft dieses Menschen ereignet. Die soziale Präsenz Gottes wird daher enhypostatisch im Leben dieses Menschen erfahrbar und somit »[a]ls irdische Wirklichkeit: also als Wirklichkeit derselben Art wie alles Geschaffene, alles Menschliche insbesondere [...] konkret als ein, wenn auch sehr besonderes Spezimen der menschlichen Natur« (KD IV/2, 184f.). Freilich stellt sich dabei die Frage, in welchem Verhältnis andere Menschen zu dieser Wirklichkeit stehen. Gottes Mitmenschlichkeit ist der konkrete Mensch Jesus Christus, der als Mitmensch anderer Menschen lebt; Barth nennt dies seine wahre »Humanität«,7 die in diesem Modell mit großer phänomenologischer Sensibilität beschrieben werden kann. Dabei fungiert die Denkform der unio hypostatica als ein kritisches Instrument, das alle theologischen Versuche, eine Christologie außerhalb dieses Menschen und isoliert von seinem konkret-geschichtlichen Umfeld zu
7
Zur Betonung der Humanität Gottes im Gegenüber zur analogen Vergottung des Menschen vgl. KD IV/2, 88f. Vgl. dazu auch Plasger, »Ernstmachen mit Gott und die Menschlichkeit des Menschen«.
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konstruieren, infrage stellt.8 Die Mitmenschlichkeit Gottes ist vielmehr die Mitmenschlichkeit dieses Menschen, die sich in den mannigfaltigen Begegnungen, von denen die Evangelien erzählen, realisiert. Während das juridische Modell eine unmittelbare Verknüpfung von Universalität und Singularität (dort als Stellvertretung dieses einen für alle) zur strukturellen Grundlage hat, dezentriert das hier beschriebene Modell Gottes erlösendes Handeln,9 indem es auf partikulare Verwirklichungen des Heils zu sprechen kommt.10 Diese Dezentrierung der Soteriologie ist sachlich mit einer Kritik an essentialistischen Verständnissen von Gottheit und Menschheit verbunden. Barths Vorwurf lautet daher nicht nur in Richtung essentialisierender Anthropologien, sondern auch in Richtung der chalcedonensischen Tradition, dass diese aus einer grundlegenden Fehlabstraktion hervorgeht, wenn sie Jesus Christus als die Verwirklichung einer abstrakten Idee des Menschlichen (und ebenso des Göttlichen) denkt. »Barth denkt der Geschichte Gottes in Christus nach und versucht nicht, mit eigenen Kategorien Gottes Handeln zu begrenzen.«11 Was Plasger in Bezug auf handlungstheoretische Aspekte hervorgehoben hat, lässt sich auf die gesamte Ontologie dieses Modells ausweiten: Selbst eine Rede von zwei Naturen in Christus sei daher unsachgemäß, »weil keine von beiden als solche existiert und wirklich ist« (KD IV/2, 71). Barth strebt mit seiner Christologie einen methodischen Neuansatz an, der substanzontologische Denkformen 8
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Dies lässt sich durchaus als eine Antwort auf den Vorwurf, dass Barths Theologie (und im Speziellen seine Christologie) Denkformen »von oben« favorisierte, verstehen. Zur Klärung dieses Verhältnisses vgl. den folgenden Abschnitt (Kap. 4.1.3). Anders urteilt Georg Plasger, der auch in Bezug auf den königlichen Menschen die Kategorie der Stellvertretung heranzieht und damit die Singularität Jesu Christi soteriologisch mit der Universalität des Heils verbindet; vgl. Plasger, »Jesus Christus als Urbild des Menschen und wahrer Mensch. Erwägungen zu Schleiermachers und Barths anthropologischer Christologie«, 125f.: »Jesus Christus ist nicht nur am Kreuz Stellvertreter gewesen, indem er die Sünde des Menschen stellvertretend getragen hat [...] Jesus Christus ist der wahre Mensch, und in ihm können sich die Christen schon jetzt als in dieses wahre Menschsein hineingenommen verstehen und erkennen«. Barths Erkenntnisrichtung kann daher als Versuch der Durchführung eines induktiven Verfahrens gelten: Den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt für die Christologie in KD IV/2 sollen ihm zufolge weder theologische Allgemeinbegriffe noch metaphysische Annahmen über den ewigen Logos bilden. Auch die Denkform der unio hypostatica ist nicht als eine solche Präsupposition gedacht, sondern eröffnet Barth vielmehr den in der Christologie zu beschreitenden Denkweg. Barth argumentiert daher in der Beschreibung des »königlichen Menschen« entschieden von den Erzählungen des Neuen Testaments ausgehend, um dann von dorther nicht nur die Adäquatheit der unio hypostatica selbst zu prüfen, sondern auch, um mit diesem Mittel der Induktion weitere theologische Begriffe zu bestimmen: »Dort ist es uns als Faktum vorgegeben. Dort existiert der königliche Mensch Jesus Christus: nicht nur dort, aber für unsere Erkenntnis nur dort« (KD IV/2, 174). Es gehört jedoch zur bleibenden Spannung innerhalb dieses Modells, dass diese induktiven Schlüsse nicht ohne Teilabstraktionen auskommen, die dann wieder deduktive Verwendung finden. Plasger, »Jesus Christus als Urbild des Menschen und wahrer Mensch. Erwägungen zu Schleiermachers und Barths anthropologischer Christologie«, 128.
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bereits in seinem Ansatz überwindet. Diese Überwindung ist – wohlgemerkt – keine willkürliche dogmatische Setzung. Sie ist vielmehr der theologisch und methodisch sachgemäße Nachvollzug dessen, was bereits den erlösungstheologischen Gehalt dieses Modells umreißt: Sie ist die notwendige Überwindung einer bereits begrifflich falsch gefassten Gottlosigkeit des Menschen, wie auch einer falschen Menschenlosigkeit Gottes. Systematisch ist dies die konsequente Fortführung der Anhypostasie, die nun allerdings nicht nur auf den Menschen Jesus von Nazareth, sondern auch für die Gotteslehre kritische Bedeutung gewinnt: »Gottheit, göttliche Natur, göttliches Wesen an und für sich existiert nämlich nicht, ist nichts Wirkliches« (KD IV/2, 70). Genau darin findet die Inkarnation nicht nur als Ereignis in der Geschichte der Trinität ihre Bedeutung, sondern auch als theologisches Symbol, welche die Menschlichkeit als Gottes wesentliche (Selbst-)Bestimmung anerkennt: In Jesus Christus wird theologisch ersichtlich, was in ihm geschichtlich wirklich geworden ist: »Gott hat das Sein als Mensch zu seinem Sein als Gott hinzugenommen« (KD IV/2, 44).12 Die KD IV/2 zugrunde liegende Epistemologie entfaltet ihr kritisches Potenzial ebenso in Richtung der Anthropologie. Denn durch die epistemische Fokussierung auf die Menschlichkeit Gottes in Jesus Christus ist für Barth zugleich klar, woher eine theologische Beschreibung des Mensch-Seins nur kommen kann. Auch mahnt das Theologumenon der Anhypostasie zur Vorsicht: Denn eine theologische Anthropologie, die von einem »Wesen des Menschen« außerhalb 12
Genau genommen lässt sich dieser Satz in zwei Richtungen entfalten: Er kann zunächst in Bezug auf die Gotteslehre entfaltet werden. Dies würde auf eine ontologische Veränderung Gottes durch die Inkarnation des ewigen Logos in der Zeit hindeuten. Konsequent hat diesen Weg Jürgen Moltmann in seiner Kreuzestheologie beschritten (vgl. Moltmann, Der gekreuzigte Gott). Zum Anderen kann dieser Satz ebenso als ein fundamentaltheologischer Satz verstanden werden, der die Rede von Gott wesentlich von seiner Menschlichkeit her entfaltet wissen will, von der nicht im Sinne einer klassischen Zwei-Naturen-Lehre abstrahiert werden dürfe. Mit anderen Worten liegen hier zwei Interpretationsoptionen auf dem Tisch: Wandelt sich das Wesen Gottes mit der Inkarnation oder nötigt die Vorstellung der Menschwerdung Gottes vielmehr zu einer grundsätzlichen Infragestellung eines vor-christologischen Verständnisses von Gott und Mensch? Während Barths postmetaphysische Revision der juridischen Kreuzestheologie von KD IV/1 mithilfe der Kenosis vollzogen wird und dort teilweise zu ersterem tendiert, so tritt an deren Stelle in KD IV/2 eher die kritische Abwehr einer Vorstellung einer göttlichen Natur. Damit nimmt Barth Erkenntnisse aus der Erwählungslehre auf, wo die Gotteslehre grundlegend aus der Selbsterwählung Gottes in Jesus Christus ihre Mitte hat (»Jesus Christus ist der erwählende Gott. [...] Es gibt keine Gottheit an sich. Sie ist die Gottheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes« [KD II/2, 123]) und bestimmt also die Ewigkeit Gottes von der Geschichte des Sohnes her. Fraglich bleibt freilich an dieser Stelle, wie Barth sich diese Absage an eine göttliche Natur ontologisch denkt und wie er die Inkarnation als eine innergöttliche Dynamik versteht: Denn, dass Gott »das Sein als Mensch zu seinem Sein als Gott hinzugenommen hat«, deutet ja zumindest sprachlich auf eine ehedem selbstständige Wirklichkeit Gottes ohne diese Partizipation des menschlichen Seins hin. Liest man die Christologie in KD IV/2 – wie oben vorgeschlagen – als einen Entwurf, der sich von einem induktiven Erkenntnisverfahren leiten lässt, so lassen sich konträr dazu zumindest auf der Sprachebene auch deduktive Formulierungen identifizieren.
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der konkreten Person Jesu Christi spricht, kann sich nach Barth nicht des Vorwurfs entledigen, folgenschwere Fehlabstraktionen zu bilden. Auch dies lässt sich analog zur kritischen Funktion der Anhypostasie konstruktiv, und also enhypostatisch beschreiben. Denn der Blick auf diesen Menschen erschließt die Situation von uns Menschen, die Barth als Stiftung der Gemeinschaft mit Gott und also als Heiligung des Menschen beschreibt: In dieser seiner Erhöhung ist exemplarisch vorgebildet und dynamisch begründet, was in der Versöhnung des Menschen mit Gott als Erhöhung des Menschen Ereignis wird und zu erkennen ist. In seiner Gemeinschaft mit Gott und so in unserer aktuellen Gemeinschaft mit ihm, diesem Einen, kommt es zu unserer Gemeinschaft mit Gott, zu jener Bewegung des Menschen von unten nach oben, von sich selbst zu Gott hin (KD IV/2, 19).
Indem Barth die Möglichkeit verneint, von allgemeinen Begriffsbestimmungen (Gottheit, Menschheit) ausgehend auf die Person Jesu Christi zu schließen und stattdessen diese Begriffe aus dem biblischen Zeugnis von Jesus von Nazareth zu gewinnen, vollzieht er eine christologische Neubestimmung seines Erkenntniswegs. Demnach ist es Barths Anspruch, zentrale Begriffe der Christologie und der Soteriologie induktiv von den Erzählungen der Evangelien zu erschließen. Diese Erzählungen entfalten Jesu Menschlichkeit – so lässt sich Barths für dieses Modell fundamentale Erkenntnis zusammenfassen – im Besonderen als Werk seiner »Mitmenschlichkeit«. Die inkarnatorische Gemeinschaft von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi bedeutet daher nicht eine Zusammenführung von Gott und Mensch, deren Eigenständigkeit die gedankliche Voraussetzung dieses Modells wäre; Ausgangspunkt ist vielmehr die Geschichte dieses wahren Menschen unter anderen Menschen. Diese Begegnungen haben als solche einen transformativen Charakter: Als menschliche – und das bedeutet: mitmenschliche – Zuwendungen, werden sie von Menschen, deren Leben von unmenschlichem Leiden gekennzeichnet sind, als rettende Begegnungen erlebt. Dies kennzeichnet zugleich die hamartiologische Perspektivierung des Bösen in diesem Modell: Die Menschen, denen in der transformativen Gemeinschaft mit Jesus Rettung widerfährt, »sind hier gerade nicht vor allem sündige, sondern vor allem leidende Menschen« (KD IV/2, 247). Barth versteht die Wunder- und Heilungstaten Jesu daher sowohl als königliche Überwindung, auf der in KD IV/2 zweifelsohne das argumentative Gewicht liegt, als auch als eine Aufdeckung dieser Bedrängnis als conditio humana: »Denn der Aspekt des Menschenlebens, der in diesem seinem Tun sichtbar wird, ist allerdings der des großen Spitals, in welchem sich so oder so alle Menschen befinden« (KD IV/2, 245).13 Die Realität von Leidenserfahrungen 13
Der Paradigmenwechsel gegenüber dem juridischen Modell, das den Menschen vor allem als Täter der Sünde perspektiviert, zugunsten einer Sicht auf den leidenden Menschen wird hier noch sehr universell und wenig differenziert beschrieben. Nicht nur aus ethischen Gründen ist
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wird daher nicht aus der Begegnung zwischen Gott und Mensch ausgeschlossen. Sie zu adressieren ist gerade ein grundlegender Vektor in diesem Modell. Barth bindet dazu die ntl. Heilungsgeschichten als Narrationen der Rettung ein, die Jesu Christi Mitmenschlichkeit nicht nur als eine empathische, sondern zugleich als eine transformierende und diese Bedrängnis überwindende Begegnung erzählen. Die Gegenwart Jesu Christi wird in den Evangelienerzählungen daher als eine Zuwendung gerade zu den auch körperlich Versehrten beschrieben, deren Elend in der Gefährdung ihrer leiblichen Existenz besteht. Bevor dem in Form einer Phänomenologie Jesuanischer Humanität nachgegangen werden kann, ist zunächst die Frage zu stellen, ob Barth diesen induktiven Erkenntnisweg konsequent durchhält oder ob hier nicht viel eher von einer bleibenden, modellinternen Spannung die Rede sein müsste.14 Denn an einigen Stellen lässt sich ein umgekehrter Denkweg erkennen, der deduktive Begründungsmuster aufweist: So ist z.B. offensichtlich, dass Barth »Humanität« bzw. Menschsein immer wieder auch im Sinne eines allgemeinen Gattungsbegriffs verwendet.15 Solche Deduktionen sind in das Paradigma der hier skizzierten Erkenntnistheorie Barths nur schwer zu integrieren, sie sind aber für dessen Argumentationslogik unabdingbar: Zwar ist Barths Verständnis von Humanität vordergründig dadurch bestimmt, was in den Begegnungen mit dem Menschen Jesus Christus geschieht. Gleichzeitig greift er insbesondere dann, wenn er Jesu Person in seiner Konkretheit und also in seiner Singularität im Unterschied zu anderen Menschen beschreibt, auf einen allgemeinen Begriff des Menschen im Sinne aller anderen Menschen zurück. Dies wird besonders dort plastisch, wo Barth nach der Macht
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es aber zwingend notwendig, konkrete Nöte menschlicher Existenz nicht nur generalisiert als Erlösungsbedürftigkeit der ganzen Schöpfung, sondern differenziert zu benennen. Dies wird angesichts der Parteilichkeit Jesuanischer Zuwendung noch genauer zu betrachten sein. Entsprechend der Methodik dieser Studie ist also hier wieder darauf zu verweisen, dass die in sich als kohärent herauszuarbeitenden Modellierungen von Barths Theologie im Gesamtgeflecht der Kirchlichen Dogmatik immer wieder durchbrochen werden. Wenngleich also die Begründung und inhaltliche Entfaltung dieses Modells vor allem in KD IV/2 vorkommt, sind in diesem Band selbstverständlich auch andere Erkenntniswege und nicht zuletzt Einflüsse von Teilrationalitäten anderer Modelle auszumachen. Barths Theologie, die sich bemüht zeigt »immer wieder mit dem Anfang« anzufangen, muss früher oder später nicht nur auf bereits erarbeiteten Erkenntnissen aufbauen, sondern auch um der Argumentation wegen mit vorläufigen, verallgemeinernden Begriffen arbeiten, die deduktive Schlüsse zulassen. So z.B. KD IV/2, 51: »das Menschliche: dasjenige Sein und Wesen, diejenige Art und Natur, die die aller Menschen ist, die sie alle als Menschen auszeichnet und von anderen Geschöpfen unterscheidet«. Friedrich-Wilhelm Marquardt hat betont, dass Barths Vorstellung der Enhypostasie auffällige Nähe zu Ludwig Feuerbachs Gattungsbegriff aufweist: »Barth trifft sich im Verständnis der Humanität mit Feuerbach in der differenzierten Betrachtung von homo und humanitas. Aber gerade das bringt ihn auch in eine offensichtliche Nähe zum gattungsgeschichtlichen Denken Feuerbachs, zur Beschreibung Jesu als des ›Gattungsmenschen‹, der zwar nicht in sich die Gattung ist, der aber unmöglich ohne die Gattung Mensch gedacht werden kann« (Marquardt, Theologie und Sozialismus, 274).
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der Sünde über diesen Menschen fragt und den radikalen Unterschied zwischen diesem Menschen und allen anderen Menschen beschreibt. Denn einerseits ist Jesus Christus analog zu allen Menschen ein »Mensch in diesem Widerspruch und Zwielicht alles menschlichen Seins« (KD IV/2, 28). Von dieser Ambivalenz hebt sich der königliche Mensch jedoch wiederum ab: »Er ist, weil und indem er Gottes Sohn ist, dasselbe, was wir sind, ganz anders als wir« (KD IV/2, 28f). Diese qualitative Differenz wird von Barth dann hamartiologisch konkretisiert: Menschliches Wesen kann und muß im Blick auf alle anderen Menschen ein in seiner Geschöpflichkeit von Gott streng geschiedenes und in seiner Unart geradezu gottloses, Gott fremdes, Gott feindliches Wesen genannt werden, nicht aber im Blick auf diesen Einen. In Ihm ist es das nicht. In Ihm ist es in seiner Geschöpflichkeit wohl von Gott verschieden, ihm aber auch verbunden und ist seine ganze Gottlosigkeit, Gottfremdheit, Gottwidrigkeit, Gottfeindlichkeit nicht nur Lügen gestraft, sondern beseitigt, ersetzt durch seine vollkommene Gemeinschaft mit Gott (KD IV/2, 130).
Auch wenn Barth also in diesem Modell nicht konsequent auf deduktive Schlüsse verzichten kann, so liegt das argumentative Gewicht dennoch auf einem induktiven Verfahren. Das erlösungstheologische Modell der Humanität operiert auf der Basis einer Christologie von unten. Aufgrund dieser erkenntnistheoretischen Entscheidung kann im Folgenden auf eine inhaltliche Konkretion der Humanität dieses Menschen, Jesus von Nazareth, hingearbeitet werden, womit das transformative Potenzial dieses Modells zum Ausdruck gebracht wird.
4.2 Eine Phänomenologie transformatorischer Humanität Das in diesem Kapitel beschriebene Modell wird von Barth mit hoher phänomenologischer Dichte entfaltet. Wie im vorigen Abschnitt herausgearbeitet worden ist, ist die Realisierung der Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen, wie sie Barth mit der enhypostatischen Union beschreibt, in den konkreten Begegnungen Jesu mit seinen Mitmenschen erkennbar; und so müssen die transformatorischen Dynamiken dieses Modells anhand der konkreten, partikularen Erfahrungen der Errettung, wie sie in den Evangelienerzählungen berichtet werden, rekonstruiert werden. Wenngleich die Denkfigur der unio hypostatica zunächst singulär bei der Person Jesu Christi ansetzt, so wird dessen Leben in den Evangelien als Mannigfaltigkeit von Begegnungen geschildert. Während das juridische Modell eine unmittelbare Verknüpfung von Universalität und Singularität (dort als Stellvertretung dieses einen für alle) zur strukturellen Grundlage hat, dezentriert das hier beschriebene Modell Gottes erlösendes Handeln, indem es auf partikulare Verwirklichungen des Heils zu sprechen kommt.
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Als »irdische Wirklichkeiten« geschehen diese erlösenden Begegnungen nicht willkürlich und auch nicht in indifferenter Weise gegenüber den Lebenskontexten und -erwartungen, in denen sie sich ereignen. An ihnen lässt sich ein bestimmtes Muster der Zuwendung Jesu Christi erkennen. Dieses Muster soll im Folgenden anhand von drei Dimensionen beschrieben werden: Die charakteristischen Kennzeichen der erlösenden Gottesgemeinschaft, wie sie vor allem im Abschnitt über den »königlichen Menschen« in Erscheinung treten (KD IV/2, 173–292), lassen sich (1) als Neuheit seines Wortes und Werkens, (2) als eine seiner Zuwendung anhaftende Parteilichkeit und schließlich (3) als besondere Würdigung der Leiblichkeit menschlicher Existenz identifizieren.16 Das Thema der Menschlichkeit spielt bereits für Barths Anthropologie eine entscheidende Rolle. Bereits in KD III/2 beschreitet Barth einen grundlegend christologischen Erkenntnisweg. Als Herausforderung stellt sich für ihn – ebenso wie oben bereits angedeutet – der qualitative (sc. hamartiologische) Unterschied zwischen dem Menschen Jesus Christus und der Menschheit heraus. Angesichts dieses Unterschieds fragt Barth nach »Mindestforderungen oder Kritierien« (KD III/2, 83), die trotz ihrer begrifflichen Abstraktion induktive Schlüsse von dem Menschen Jesus Christus in Bezug auf eine theologische Anthropologie erlauben. Bekanntlich entfaltet Barth daher seine Anthropologie anhand von vier Relationen: Menschsein ereignet sich im Verhältnis zu Gott, zum anderen Menschen, im Selbstverhältnis und im Verhältnis zu der dem Menschen gegebenen Zeit. In geringfügig abgewandelter Form repräsentieren die im Folgenden dargestellten Phänomene Jesuanischer Mitmenschlichkeit eben diese vier Relationen: 1. Die Neuheit des Wirkens Jesu korrespondiert mit dem Verhältnis des Menschen zu seiner Zeit. Offensichtlich ist, dass dieser Zeitbegriff nicht allein die individuelle, endliche Lebensspanne meint, sondern dass Barth hier von dem Menschen Jesus in seiner Zeit, d.h im Kontext seiner Zeit spricht. 2. Das Verhältnis Jesu zu seinem Mitmenschen ist kein indifferentes Verhältnis, sondern die Aufmerksamkeit seiner Zuwendung konkretisiert sich in der Parteilichkeit des königlichen Menschen für die »wirklich Armen«. Diese Relation erinnert an die anthropologische Bestimmung des Menschseins »als Zusammensein mit dem anderen Menschen« (KD III/2, 290). 3. Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, welches die Anthropologie in KD III/2 die Wirklichkeit des »ganzen Menschen« nennt, der als »leibhafte Seele« und »beseelter Leib« existiert (KD III/2, 394), wird im Kapitel über den königlichen Menschen mit der leiblichen Zuwendung und der soteriologisch-eschatologischen Interpretation der Heilungen als Heiligung eingeholt. Das Gottesverhältnis des Menschen wird hingegen in diesem Kapitel nicht durch eine eigene Relation thematisiert; sie ist in diesem Modell 16
Diese drei Dimensionen sind nicht zufällig gewählt, sondern spiegeln die »Phänomene des Menschlichen« aus Barths Anthropologie (vgl. KD III/2, 82 passim) wider, die im Übrigen auch in der Struktur der Hamartiologie dieses Bandes wiederkehren (vgl. KD IV/2, 459).
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(noch nicht einmal begrifflich) von den übrigen drei Relationen der Menschlichkeit Jesu Christi zu abstrahieren. Der Logik von Barths Interpretation der hypostatischen Unio folgend ist das Verhältnis dieses Menschen in diesen drei Relationen zugleich die Realisierung der wahren Gott-Mensch-Gemeinschaft. »Menschsein heißt: mit Gott zusammensein« (KD III/2, 167); und so ließe sich analog für KD IV/2 (exklusiv) mit Blick auf den wahren Menschen Jesus Christus sagen: Mit Gott zusammensein heißt: Mensch und also Mitmensch sein. Der Schnittpunkt von Barths theologischer Anthropologie in KD III/2 und der Christologie des wahren Menschen in KD IV/2 ist die Identifikation der Gottesgemeinschaft als Gemeinschaft Jesu mit seinen Mitmenschen.17
4.2.1 Neuheit Wie oben bereits beschrieben, gewinnt Barth seine Einsichten über die Menschlichkeit Jesu Christi als Mitmenschlichkeit aus der Lektüre der Erzählungen seiner Wort- und Tathandlungen. Darin tue sich eine grundsätzliche Neuheit kund; Jesu Gegenwart sei eine »außerordentliche Wirklichkeit« (KD IV/2, 233). Denn in der Wunderhaftigkeit des Umgangs Jesu mit seiner Umwelt stellt sein Handeln gegenüber dem Erwarteten etwas Neues dar. Das Verhältnis von Jesu Wirken zu den Erwartungshorizonten seiner Umwelt ist daher sowohl von einer relativen Konformität wie auch von einer überraschenden Disruptivität gekennzeichnet. Barths Interesse gilt dabei nicht einer irgendwie gearteten Supranaturalität der Jesuanischen Wunder. Vielmehr legt er großen Wert auf den »ausgesprochen revolutionären Charakter seines Verhältnisses zu den in seiner Umgebung gültigen Wertordnungen und Lebensordnungen« (KD IV/2, 191). Barths Hauptaugenmerk gilt daher der Verwunderung, die den Erwartungshorizont des Gewohnten durchbricht. Jesu Menschlichkeit ereignet sich mitunter in seiner Distanznahme zu dem, was sonst für selbstverständlich, alternativlos und zwingend gehalten wird. Aus dieser Distanznahme erwächst zugleich die Kritik, die gerade in den 17
Dabei ist jedoch auf eine systematische Differenz hinzuweisen: Dass Barth in seiner Anthropologie und nicht zuletzt in den problematischen Abschnitten zum Verhältnis von Mann und Frau in der Schöpfungsethik nicht die Jesuanische Mitmenschlichkeit und damit die geschichtliche Konkretheit des wahren Menschen, sondern das bundestheologisch begründete vertikale Verhältnis von Gott und Mensch zur Grundlage seiner Analogiefigur macht, ist in Barths Vorliebe für hierarchisierende Denkformen begründet. Eine theologische Anthropologie, die ihren Ausgangspunkt nicht in einem hierarchischen (und damit von der inneren Dynamik des Gehorsams geprägten) Verhältnis, sondern aus der multirelationalen Konkretheit der Mitmenschlichkeit Jesu Christi gewinnt, verspricht dagegen auch ein weiterführendes Gespräch mit queeren Anthropologien, die zum einen geschlechtliches Menschsein nicht von einer abstrakten Dualität, sondern von der konkreten (d.h. auch sexuellen) Wirklichkeit des Menschen verstehen und damit implizite wie explizite Hierarchien im Geschlechterverhältnis überwinden können. Einen solchen Versuch einer realistischen Anthropologie in Anschluss an Barth unternimmt Bodley-Dangelo, Sexual Difference, Gender, and Agency in Karl Barth’s Church Dogmatics.
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selbstverständlichsten Dingen Unverständnis hervorruft: »Es konnte durchaus sein, und es geschah auch faktisch, daß seine Erscheinung als Mensch seiner Umgebung in höchstem Widerspruch zu dem, was er war, zum ›Ärgernis‹ wurde, daß er sich selbst ihr gewissermaßen verstellte, befremdlich, unbegreiflich, anstößig machte« (KD IV/2, 187). In Anschluss daran lässt sich das politische, moralische, religiöse und allgemein kommunikative Risiko der Reich-GottesBotschaft in Tat und Wort fassen: Nicht dass sie ihrer Grundstruktur nach die Opposition suchte, sondern dass sie ob ihrer Neuheit Widerspruch hervorruft und diesen schließlich auch erfährt. Daher ist es für dieses Modell entscheidend zu verstehen, worin genau die Neuheit, das Revolutionäre und damit auch die Andersartigkeit der Mitmenschlichkeit Jesu gegenüber dem ist, was sie kritisiert. Denn für ein prozessuales Verständnis von Erlösung muss ersichtlich werden, wie Gottes veränderndes Handeln im Verhältnis zu seiner Schöpfung steht. Auch hierfür erweist sich bei Karl Barth das Theologumenon der unio hypostatica als leistungsfähiges Instrument, die Neuheit der Mitmenschlichkeit Gottes in Jesus Christus zu verstehen. Ausgehend von der hypostatischen Einheit Jesu Christi zeichnet Barth ein Bild von dessen Novität in zweifacher Gestalt: »Der da handelt und redet ist Einer und als solcher der Garant der Gemeinsamkeit, in der er sich als dieses göttliche und menschliche Novum verwirklicht, [in] der Einheit des großen Novums in dieser seiner doppelten Gestalt« (KD IV/2, 128). Mithilfe dieses Zugriffs auf die phänomenale Bestimmung der Gemeinschaft Jesu Christi gelingt es Barth, ein theologisches Sensorium für die weltanschauungs-relative Neuheit des Wirkens Jesu zu bringen. Einerseits transzendieren die Begegnungen Jesu die kulturellen Bedingungen seines Auftretens. Zugleich aber fügen sie sich unscheinbar und nahtlos in ihre Umwelt ein. Das jesuanische Wirken in seiner »Neuheit« (Transzendenz) ereignet sich also relativ zu seinem kulturellen Setting in einer differenzierten Einheit von (kultur-)immanenten und (kultur-)transzendenten Aspekten. Schematisch gesprochen kommt die Neuheit der Person Jesu Christi in der Einheit von immanenter Transzendenz und transzendenter Transzendenz zum Tragen.18 Dies lässt sich anhand verschiedener Aspekte des Auftretens Jesu verdeutlichen, wie Barth selbst herausstellt: 1. Jesu Wirken in seinem Wort tritt zunächst in der unscheinbaren Gestalt alltäglicher, menschlicher Sprache ohne einer »ihm eigentümlichen Begrifflichkeit« auf (vgl. KD IV/2, 216). Seine Verkündigung kommt weder sprachlich noch formal in besonderer Neuheit zum Tragen. Gerade die metaphorische Profanität der Gleichnisse, in der Jesus die Reich-Gottes-Botschaft verkündigt, zeugt von
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Zum Konzept der immanten Transzendenz vgl die Beiträge in Dalferth, Bühler und Hunziker, Hermeneutik der Transzendenz.
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dieser tiefen kulturellen Immanenz der Jesuanischen Wortverkündigung.19 Mit dieser Beobachtung verbindet Barth die »Unbekümmertheit« des Umgangs der frühen Gemeinden mit den zum teil verschiedenen Mehrfachüberlieferungen seiner Worte. An diesen Gedanken anschließend lässt sich heutige neutestamentliche Exegese mit ihrem historischen Zugang als konsequente Fortführung dieser Erkenntnis verstehen, sofern sie die Zeugnisse vom Wirken Jesu im linguistischen, soziokulturellen und narratologischen Horizont ihrer Zeit untersuchen. Denn die Neuheit der Reich-Gottes-Botschaft ereignet sich in formaler, medialer und kultureller Kontinuität zu den Kontexten, in denen sie verkündigt wird. 2. Ein weiterer Aspekt der Neuheit im Wirken Jesu kommt in seinem wundersamen Handeln, wie es in den Heiligungen, den Exorzismen und der Totenaufweckung des Lazarus Gestalt annimmt. Hier wird die Neuheit des Auftretens dieser Person bereits in der Art und Weise ihres Wirkens plastisch: Barth weist explizit auf »die ›supranaturale‹ Art der überwiegenden Mehrzahl der eigentlichen Handlungen Jesu« hin (KD IV/2, 235). Aber diese haben wieder nur einen »relativ außerordentliche[n] Charakter« (ebd.). Barth nimmt hier deutlich die Impulse aus Bultmanns Entmythologisierungsprogramm auf,20 indem er erkennt, dass sich die Wunder Jesu innerhalb eines bestimmten Imaginationshorizonts ereignen: Jesu Wundertaten sind nichts grundsätzlich Neues. Sie geschehen in einem kultur- und religionsgeschichtlichen Setting, das solche charismatischen Gestalten mitsamt ihren therapeutischen Fähigkeiten kennt: Ihre Neuheit ist bekannt und ihre Außerordentlichkeit ist weltanschaulich nur punktuell disruptiv.21 Jesu Wirken bleibt dabei aber wundersam und ruft Erstaunen, Erschrecken und Entsetzen hervor:22 Die Wundertaten bleiben doch immer noch relativ außerordentliche Ereignisse: Dem allgemeinen Ablauf der Dinge in seiner von der übergroßen Mehrzahl der Menschen als selbstverständlich und unzerbrechlich vorausgesetzten Normalität warf sich in den Handlungen Jesu ein ihnen fremder Wille und eine ihnen unbekannte Macht entgegen, dem System des Gewohnten widerfuhr in ihnen eine Durchbrechung, für deren Möglichkeit sie, [. . . ] keine Erklärung hatten, durch das sie an die Grenze alles dessen gestellt waren, was ihnen als der Inbegriff menschlichen Seins, Sehens und Verstehens bekannt war (KD IV/2, 234). 19
20 21 22
Bereits 1919 hebt Barth in seinem Tambacher Vortrag diese Immanenz der Sprache der synoptischen Gleichnisse hervor und stellt sie gerade darum in einen eschatologischen Zusammenhang: »Das ist alles so banal, so illusionslos, so ganz ohne eschatologische Spitze hingestellt, wie eben das Menschenleben tatsächlich ist, und gerade darum von Eschatologie voll bis zum Rand« (Barth, »Der Christ in der Gesellschaft (1919)«, 581). Zur hermeneutischen Bedeutung der Gleichnis-Figur vgl. grundlegend Link, Die Welt als Gleichnis, 288–294. Vgl. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Vgl. Theißen und Merz, Der historische Jesus: Ein Lehrbuch, insb. 175ff. Vgl. exemplarisch Mk 5,42 und öfter.
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Verbindet man Barths Konzept einer relativen Außerordentlichkeit also mit der Immanenz-Transzendenz-Distinktion, so ist das relativ Außerordentliche als ein Zwischenbereich zu verstehen, der einen Möglichkeitsraum für Imaginierbares aber Nicht-Erwartbares darstellt. 3. Barth stellt jedoch heraus, dass diese relative Neuheit nicht die eigentliche Pointe der Begegnung Gottes mit dem Menschen in Jesus Christus ist. Vielmehr wird die relative Außerordentlichkeit, das Partikulare und momenthaft Neue der Wunder Jesu selbst zum Medium des »radikal Neuen«: Jesu Wunder sind in ihrer Einheit mit der guten Botschaft, der Lehre, der Verkündigung Jesu also mit der Existenz dieses Menschen selbst, dem ganzen, dem nicht alltäglichen wie dem alltäglichen, dem ordentlichen wie dem relativ außerordentlichen Menschenwesen und Weltgeschehen gegenüber ein schlechthin Anderes, Neues (KD IV/2, 238).
Dies fügt sich nahtlos in die Denkform der enhypostatischen Union ein. Denn das schlechthin Neue, wovon Barth spricht, ist die Begegnung und das Miteinander von Menschlichkeit, geschöpflicher Kontinuität und Immanenz mit der Gottheit, Transzendenz und wunderhaften Disruption des Ordentlichen. In dieser Begegnung und in ihrem Spannungsverhältnis aus inkarnatorischer Solidarisierung mit der Welt, der rettenden Bewahrung einer gefallenen und bedrohten Schöpfung, ereignet sich das wahrhaft Neue der eschatologischen Verwandlung dieser Wirklichkeit. Trotz der Betonung dieser Neuartigkeit geht es in der Begegnung mit Jesus Christus nicht um die Konfrontation mit dem radikal Anderen per se. Barth führt hier notwendige Abstufungen ein, die die Neuartigkeit, aber auch ihre gedankliche und kulturelle Integrierbarkeit und damit die Verstehbarkeit der Gegenwart Gottes zu beschreiben versuchen. Dies ist weiterer Präzisierung bedürftig: »es geht um die Macht Gottes und also nicht um irgendeine maximale Verfügungsfreiheit an sich, die ja, abstrakt als solche gedacht, nur das maximal Böse, die teuflische Macht sein könnte« (KD IV/2, 243). Die Besonderheit der Verkündigung des Reiches Gottes und der Wunder, die diese Verkündigung begleiten, liegt also nicht in der Disruption geschöpflicher Ordnung um des reinen Machterweises wegen, sondern darin, dass sie über diese disruptive Wunderhaftigkeit hinweg auf das wahrhaft Neue, die Entstehung dieser außerordentlichen und damit neuen Gemeinschaft von Gott und Mensch verweist. Die relative Neuheit der Wunder Jesu ist selbst nicht das Eschaton an sich. Wo diese Wunder aber auf die Erlösung dieser Schöpfung im Kommen des Reiches Gottes hinweisen, antizipieren sie momenthaft diese; gleichnishaft re- und prä-präsentieren sie das Reich Gottes. Das schlechthin Neue der Wunder Jesu ist nicht ihre relative Außerordentlichkeit, sondern ihr Zeugnis und Charakter des Zeichens, das auf das Kommen des Reiches Gottes hinweist. Die relative Neuheit und Andersartigkeit der Medien (seien dies Wortverkündigung, heilsame Zuwendung oder die soziale Struktur einer Glaubensgemein-
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schaft), in denen die Ankündigung des Reiches Gottes zum Tragen kommt, sind jedoch nur ein Charakteristikum dieser erlösenden Begegnung: Sie ist ferner davon gekennzeichnet, wem im Speziellen diese Zuwendung gilt.
4.2.2 Parteilichkeit Durch die Zentralstellung seiner Erwählungslehre trägt die Theologie Karl Barths im Ganzen einen Grundzug der Universalisierung des Heils. Für Barth ist dies in der Selbsterwählung Jesu Christi zum Bundespartner des Menschen und die damit auf sich genommene Verwerfung. Im juridischen Modell, das Barth vorwiegend in KD IV/1 entfaltet, setzt sich diese Universalisierung in der singulären Stellvertretung des Gerichts Jesu Christi fort. In der kritischen Bestandsaufnahme jenes Modells wurde bereits entfaltet, dass diese dialektische Einheit aus Singularität des Gerichts und Universalität des Heils Fragen nach einer notwendigen iustitia correctiva provoziert, also nach einem Rechtsausgleich für die, denen in der Geschichte das Erfahren und die Wahrung von Gerechtigkeit versagt bleibt. Vordergründig bleibt Barth dieser dogmatischen Grundentscheidung treu. In den Evangelien sei dies gerade aus den Schilderungen ersichtlich, in denen Jesus von der geradezu anonym bleibenden Menschenmenge zum Handeln und zu Stellungnahmen bedrängt wird. Hier sei keine Differenzierung in der göttlichen Zuwendung und im jesuanischen Heilshandeln auszumachen: »Es erbarmte ihn [... ] das Menschenvolk als Masse, als Menge, als Haufe, ›die Leute‹, das namenlose ›Man‹. Gemeint ist also nicht nur irgendwelches ›niedere‹, arme Volk, obwohl solches wohl auch dabei war: es waren ja doch auch solche dabei, wie jener Mann von Luk. 12,13, der von Jesus verlangte, daß er in dem Erbschaftsstreit mit seinem Bruder für ihn Partei ergreife. Genau genommen gehörte niemand nicht dazu« (KD IV/2, 205).
Dass es grundsätzlich keinen Ausschluss einzelner Individuen und Menschengruppen aus der barmherzigen Zuwendung Gottes gibt, bedeutet jedoch nicht, dass die erlösende Gegenwart Gottes in Jesus Christus eine indifferente, gleichförmige und gegenüber den spezifischen Bedingungen und menschlichen Bedürfnissen unsensible Gegenwart wäre. Für dieses Modell ist eine spezifische Perspektive der Partikularität charakteristisch. Denn mit ihr konkretisiert sich die oben bereits angedeutete Präzisierung des Neuen dieser Mitmenschlichkeit Jesu: »Seine Existenz war nicht neutral« (KD IV/2, 175). Sie ist weder neutral gegenüber den kulturellen Umständen, dem sozialen Ordnungsgefüge oder den Hoffnungen und Erwartungen, die Menschen an ihre Zukünfte und die der Welt stellen. Noch ist sie neutral gegenüber den individuellen Lebenskontexten und erfahrenen Verletzungen und Marginalisierungen bedürftiger Menschen. Die erfahrene Gefährdung von Leib und Leben, soziale Exklusionen und Margina-
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lisierungen werden in diesem Modell geradezu zu Indikatoren der spezifischen Aufmerksamkeit von Gottes Verheißung seiner Gegenwart. Die Neuheit der Mitmenschlichkeit Jesu Christi ist, dass sie von einer Parteilichkeit gekennzeichnet ist, die diese Zuwendung konkretisiert. Das Revolutionäre im Handeln Jesu Christi ist daher die Zielrichtung seiner Aufmerksamkeit für diejenigen, die der heiligenden und erlösenden Zuwendung besonders bedürfen: Er handelt in Wort und Tat konkret als der »Parteigänger der Armen« (KD IV/2, 200). Jedoch wäre es ein Missverständnis, die Passivität von Opfern als eschatologisches Privileg dieser Menschen zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit dem Elend des Menschen führt nach Barth nicht zu einer Heiligung des Elends, wie auch das Leiden als solches kein Heil ist. Das Leiden wird nicht im Modus des Martyriums aufgewertet, sondern es steht in diesem Modell unter der Verheißung seiner Überwindung. Heiligung, so interpretiert Barth diesen Zusammenhang, geschieht in den Wundererzählungen im Medium der Heilung.23 Jesu Mitmenschlichkeit ist daher nicht allein am Mitleid des Menschensohnes zu messen, sondern aus dem, was aus diesem Mitleiden erwächst: »Er greift die Sünde an, indem er sich der als Sünder so elenden Menschen erbarmt« (KD IV/2, 201). Im Blick auf die strukturelle Macht des Bösen, aber auch angesichts der besonderen Sozialität als Solidarität dieses Menschen mit den elenden Menschen, tritt eine Unterscheidung von Opfern und Tätern hinter der Auseinandersetzung mit Umständen, die das menschliche Leben in seiner natürlichen, kulturellen, individuellen und sozialen Verfasstheit bedrohen und zerstören, zurück.24 23
24
Dieser Zusammenhang ist in der Christentums- und Theologiegeschichte nicht nur durch religiös-medizinische Metaphern des Christus medicus sondern auch durch die Kultivierung eines karitativen Ethos von großer Bedeutung (vgl. von Bendemann, »Christus Medicus«, Steiger, Medizinische Theologie und Wendte, Jesus der Heiler und die Gesundheitsgesellschaft). Zur Kehrseite dieser Realität gehört aber auch eine Sichtweise, die Ulrich Bach hervorgehoben hat: »Mit der weit verbreiteten Gleichsetzung nun von ›krank‹ und ›besessen‹ in der heutigen theologischen Literatur werden auch Krankheit und Behinderung zur Wirkung göttlicher Mächte; der Nichtgeheilte (also zum Beispiel jeder Behinderte) kann nicht (ganz) im Frieden Gottes sein; auch eine körperliche Heilung bekommt soteriologische (das heißt: aus dem gottverlassenen Unheil herausrettende) Qualität; der Nicht-Geheilte befindet sich demnach noch im (durch Christus vergangenen!) ›Alten‹ (2Kor 5, 17), er ist im ›Machtbereich des Todes‹. Damit werden aber nicht nur behinderte Menschen willkürlich, unrealistisch, menschen-gemacht, von Gott und seinem Heil weggerückt, sondern gleichzeitig werden nichtbehinderte Menschen in eine unrealistische Nähe zu Gott gebracht« (Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz, 349f.). In der kritischen Auseinandersetzung mit Bach macht Günter Thomas geltend, dass weder die strikte Koppelung noch die strikte Entkoppelung von körperlicher Unversehrtheit und Heil, wie sie Bach geltend macht, eine adäquate Lösung darstellt (vgl. Thomas, »Behinderung als Teil der guten Schöpfung Gottes?«, 82). Vgl. KD IV/2, 206f. Gerade das Konglomerat aus Verstrickungen in lebensgefährdende Lebenszusammenhänge und die alternativlos erscheinende Dramatik, in der sich drohendes Übel überindividuell und nicht einzelnen Agitatoren zuschreibbar zuspitzt, provozieren in Jesus die Reaktion tätiger und sogar kämpferischer Barmherzigkeit.
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Die Humanität Gottes im Leben Jesu Christi interveniert gegen diese Zustände. Dies geschieht in »einzelnen, konkreten« und partikularen Zeichenhandlungen (vgl. KD IV/2, 234). Der in diesem Modell zentrale Handlungsmodus der Intervention von Gottes erlösender Gegenwart wird in der mitmenschlichen Zuwendung Jesu zu diesen Menschen geschichtlich konkret. In diesem Menschen erfahren rettungsbedürftige Menschen die Nähe Gottes. Diese räumliche Spezifizierung konkretisiert auch die zeitliche Kategorie der Neuheit: Seine Mitmenschlichkeit erscheint darin neu, indem er »an Allen, die in der Welt hoch, groß, mächtig, reich sind, vorübersah, auf die Niedrigen, die Leidenden, die Schwachen, die Armen – und das bis hinein in die moralische Ordnung« (KD IV/2, 188). Barths eigenes Diktum der »Umwertung aller Werte« (vgl. KD IV/2, 188) erscheint im Lichte dieser Parteilichkeit daher viel zu allgemein, wird es lediglich vor einem sozialkonstruktivistischen Hintergrund auf eine Fluidisierung und Rekonfiguration sozialer Anerkennung und Wertevorstellungen reduziert.25 Der Modus der Freiheit, worin sich Jesus Christus Menschen in Not, im Leiden und in Marginalisierungen zuwendet, impliziert demgegenüber eine wesentlich differenziertere Zuwendung zu spezifischen, zuwendungsbedürftigen Lebensverhältnissen, die sich Barth anhand der Seligpreisungen erschließt.26 Diese preisen nicht alle selig, sondern im Speziellen diejenigen, die dieser Zuwendung bedürfen, weil sie diese so bislang nicht erfahren. Die Veränderung ihrer Situation durch die Mitmenschlichkeit Gottes mit den Armen ist keine urteilende Bestandsaufnahme, sondern die eschatologische Verkündigung des Reiches Gottes für die, denen diese Freude und dieser Friede in ihrem Leben bislang versagt bleiben. Daher hält Barth fest, die Seligpreisung der Armen sei »ein synthetischer, kein analytischer Satz« (vgl. KD IV/2, 212), denn sie beschreibe »die durch die Gegenwart Jesu begründete Situation dieser Menschen samt ihrer Bedeutung und Verheißung für diese« (KD IV/2, 209). Zur weiteren Konkretisierung bemüht Barth eine räumliche Beschreibung, die die Stellung dieser Armen am Rand verdeutlicht: Sie befinden sich in ihrem Elend an der äußersten Grenze des mit dem Reich Gottes konfrontierten, durch den Menschen Jesus zu erneuernden Kosmos. In ihrem Elend kommt dessen Brüchigkeit zum Vorschein, wird er gewissermaßen durchsichtig, transparent. In der Glorie der reichen, der lachenden, der hohen, der gerechten, der in diesem Kosmos »glücklichen« Menschen bleibt seine Todeswunde zugedeckt, wird er nicht transparent. 25
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Dass Barth diese nietzscheanische Formel nicht nur kritisch-negativ, sondern zum einen an der Not des Sünders und zudem – wie im folgenden Abschnitt noch zu entfalten ist – an der leiblich-vitalen Grundlage des Menschseins konkretisiert, unterstreicht auch Janowski, »Karl Barth trifft Friedrich Nietzsche: Zu Barths Umgang mit Nietzsches Christentumskritik«, 84–88. Barths Umgang mit der Bergpredigt untersucht Grieb, »›Lebendige Gerechtigkeit‹«.
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In der Existenz der Elenden als solcher wird er es (KD IV/2, 212 [Hervorheb.: B.F.]).
Die gesellschaftlich randständige Existenz der Armen, Kranken und Entwürdigten, und ihre Konfrontationen mit dem drohenden Ende, macht sie einerseits zu Propheten der Erlösungsbedürftigkeit dieser Welt und rückt sie »als solche« in die Nähe der erlösenden Gegenwart. Ihr Elend ist kein besonderes Verdienst, sondern bleibt eine Bürde, deren Rechnung in der noch unerlösten Welt offen bleibt. Aber gerade darum gilt insbesondere ihnen die »konkret reale, seine himmlische Kompensation und Entsprechung von Heil, Leben und Freude« (KD IV/2, 213). Der räumlichen Nähe der Gegenwart entspricht daher die zeitliche Distanz in der Feststellung, dass das Übel und Leiden dieser Menschen noch nicht gut ist: »Er hat Schwarz nicht Weiß genannt, und also das üble Dransein jener Menschen durchaus nicht als ihr wahres Wohlsein interpretiert« (KD IV/2, 211). Es gibt daher, so könnte man diese Linie der Barthschen Theologie fortführen, von Gott präferierte Orte seiner rettenden und erlösenden Gegenwart:27 Es gibt Orte der Marginalisierung, denen eine besondere Form der Aufmerksamkeit in der eschatologischen Verheißung Gottes gilt. Die Mitmenschlichkeit Gottes – so müsste man diesen Gedanken in Bezug auf die Anhypostasie weiterführen – hat ihren geschichtlichen Ausgangspunkt in dem Juden Jesus von Nazareth, der am Rande des römischen Reiches inmitten eines Volkes lebt, das sich unter der besonderen Verheißung Gottes wähnt, während Teile von ihm auf ihre politische Befreiung von der imperialen Macht Roms hoffen. Dass Gott seinen Gemeinschaftswillen in diesem Menschen realisiert, ist keine geschichtliche Kontingenz, sondern erschließt Gottes Parteinahme auch für die geopolitischen Ränder der Welt. Die »Umwertung aller Werte« durch die Menschlichkeit Gottes bezieht sich also im Konkreten auf die Heiligung als eschatologische Privilegierung derer, die »wirklich elende Menschen« sind (vgl. KD IV/2, 211). Erst von dorther wird der Sinn des Titels, unter dem dieser §64 steht, erkennbar: Die Erhöhung des Menschensohnes ist keine vertikale Erhebung menschlicher Existenz, die die Erfahrung existenzieller Tiefe hinter sich lässt, sondern sie ist im wahrsten Sinne Jesu Zusammen- und Auseinandersetzung mit dem notleidenden Menschen. Sie ereignet sich darin, dass sich Gott in Christus von der konkreten Situation spezifischer Menschen affizieren lässt. Dafür ist es notwendig, verschiedene handlungstheoretische Aspekte zu verbinden: Denn es geht hier (1) um ein Sehen, das zum einen dem wirklichen Leiden von Menschen Anerkennung schenkt. Dass sich Gott von dieser Situation angehen lässt ist dabei zugleich bereits der erster Schritt in der Auseinandersetzung mit dem Bösen: »Jesu Trauern [ist] 27
Sie schließt der Präferenz der atl. Verheißungen an Israel als dem kleinsten unter allen Völkern an, das in seinem kollektiven Gedächtnis die Erfahrung der besonderen Zuwendung Gottes in dessen Sklavenschaft und Unterdrückung erinnert (vgl. Dtn. 7,7–9).
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schon eine strikte Auflehnung gegen den Grund ihres und seines Trauerns, schon sein entschlossenes Nein zu dieser Realität.« (KD IV/2, 252). Daher geht es (2) über die Wahrnehmung hinaus um eine empathische Anteilnahme. (3) Wird gegenüber diesen Menschen Gottes Verheißung laut »Ihr sollt mein Volk sein«. Die heilende und heiligende Gemeinschaft wird ihnen nicht primär als Auftrag zur Nachfolge, sondern als Verheißung der Initiative Gottes vor Augen gestellt. Und (4) weisen die Heilungserzählungen Jesu auf die konkrete Hilfestellung und Überwindung geschöpflicher Nöte hin. Gottes Zuwendung erschöpft sich gerade nicht in seinem Mitleid mit den Armen, sondern in der Wendung ihres Schicksals. Was aber bedeutet diese Verheißung der Parteinahme Jesu für die Armen für den Parteigänger selbst und dann auch für die, die in seiner Nachfolge stehen? Anhand dieser Frage wird das entscheidende Proprium dieses Modells deutlich: Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen geschieht durch die Überwindung der Isolierung des leidenden Menschen. Indem ihm Gottes Nähe gilt, begibt sich Gott an die Orte der Prekarisierung: In Gemeinschaft und Konformität mit diesem in der Welt armen Gott ist der königliche Mensch Jesus selbst ein Armer und vollzieht er jene Umwertung aller Werte, bekennt er sich zu denen, die in dieser Welt, ohne darum bessere Menschen zu sein, in irgend einem Sinn arme Menschen sind (KD IV/2, 188).
Jesu Parteinahme für die Armen geschieht an den Orten der Armut und der Lebensbedrängnis. Vor allem gegenüber den schöpfungstheologischen Modellen geschieht sie nicht in der strategischen Bannung der Gefährdungen des Lebens, sondern darin, dass sich Gott ihre Nähe wählt. Jesu Parteigang für die Armen steht damit für eine wichtige Konkretisierung dessen, was Barth bereits 1940 im ersten Band seiner Gotteslehre angedeutet hat, nämlich dass Gottes Allgegenwart als dynamische und in verschiedenen Kontexten unterschiedlich artikulierende Zuwendung zu denken sei: Daß es keine Abwesenheit, keine Nicht-Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung gibt, das hindert nun aber, eben weil es um die Gegenwart des lebendigen Gottes geht, wieder nicht, daß es [.. .] eine ganze Fülle von besonderer Gegenwart, von konkretem Hier- und Dortsein Gottes gibt, das sich in der allgemeinen Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung erhebt wie Berge aus einer Ebene (KD II/1, 537).28 28
Zur Unterscheidung von allgemeiner und besonderer Gegenwart Gottes in Barths Gotteslehre und ihre spätere Transformation insbesondere in der Ausarbeitung des prophetischen Amtes vgl. Höfner, »Gottes Gegenwart und die ›Zeit der Gemeinde‹: Eine Problemskizze im Gespräch mit Karl Barth«, besonders 121–123.
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Was Barth vor der Entwicklung seiner Erwählungslehre jedoch nur formal andeuten konnte, wird in der besonderen Verheißung der erlösenden Gegenwart Gottes in der menschlichen Armut konkret: Gottes spezifische Gegenwart gilt ebenso spezifischen Kontexten. Dies kann für ein theologisches Verständnis diakonischer Einrichtungen fruchtbar gemacht werden: Diese sind nicht die karitative Außenstelle der Volkskirche. Vielmehr ist die Diakonie, wenn durch sie leidende Menschen Zuwendung und Aufmerksamkeit erfahren, Orte, denen im Besonderen die eschatologische Verheißung der Gegenwart Gottes gilt. Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Suchtberatungen, Einrichtungen der Fürsorge für Schutzbedürftige, Frauenhäuser und Obdachlosenheime sind nicht aufgrund ihrer konfessionellen Zuordnung, sondern allein aufgrund ihrer Nähe zu diesen konkreten Menschen und ihren Situationen an sich Orte der besonderen Präsenz Gottes.
4.2.3 Leiblichkeit Was dieses erlösungstheologische Modell als Heiligung und also als das verheißene Heil bezeichnet, geht »klar und kräftig den ganzen Menschen« an (KD IV/2, 272f.). Auch dieser Aspekt lässt sich auf Barths Betonung der An- bzw. Enhypostasie zurückführen. Denn in der Inkarnation realisiert Gott seine Gemeinschaft mit dem ganzen Menschen Jesus von Nazareth; und sein leibliches Wirken in der Gemeinschaft mit anderen Menschen wird zu einem bestimmenden Teil der Geschichte der Trinität. Die Vorstellung der Mitmenschlichkeit Gottes muss daher auch von ihrer leiblichen Dimension her erschlossen werden, da die Gottesgemeinschaft als leibliche Gemeinschaft auch auf die Rettung von den körperlichen Übeln wirkt. In dieser dritten Dimension kommt die anthropologische Grundrelation des Menschen in seinem leib-seelischen Selbstverhältnis zur Sprache. Theologisch ist die Leiblichkeit sowohl (1) in Bezug auf das Leben Jesu und die Sozialität der Nachfolgegemeinschaft zu verstehen. Mit Blick auf die materiale Eschatologie dieses Modells lässt sich deren Bedeutung jedoch ebenso für das Verständnis der Auferstehung Jesu Christi als Überwindung des Todes plausibilisieren. Leiblichkeit in der transformativen Gemeinschaft des vorösterlichen Jesus Im Abschnitt zum königlichen Menschen geht Barth neben dem Worthandeln insbesondere auf das Tathandeln Jesu Christi ein: Sein Interesse lässt sich dabei von der besonderen Aufmerksam aller Evangelien auf Jesu Heilungstaten und der Errettung aus physischen Notlagen leiten. Die leibliche Gemeinschaft wird für Menschen durch den Christus medicus zu einer transformativen Gemeinschaft.29 29
Den Christus medicus im Kontext spätmoderner Medizinsysteme untersuchen die Beiträge in Wendte, Jesus der Heiler und die Gesundheitsgesellschaft; vgl. darin besonders die Beiträge
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Jesus übt seine Mitmenschlichkeit insbesondere in Situationen geschöpflicher Bedrängnis: Er heilt kranke Menschen und interveniert damit gegen Zustände, die nicht nur die naturale Grundlage geschöpflichen Lebens gefährden, sondern ebenso zu sozialen Stigmatisierungen der Betroffenen führen. In der leiblichen Zuwendung Jesu Christi wird nach Barth ein physischer Überschuss des Glaubens sichtbar (vgl. KD IV/2, 271f.). Dieser Überschuss transzendiert zum Einen die Regelmäßigkeit des natürlich Erwartbaren: In den Wundererzählungen wird Gottes Heil als Intervention beschrieben, die entgegen aller sorgenvollen Resignation Erschrecken und Verwunderung als Reaktionen hervorruft. Der »Überschuss des Glaubens« ist aber zum Anderen auch ein zeitlich präsentischer Überschuss, sofern in den Heilungserzählungen das Heil nicht eine zukünftige Hoffnung bleibt, sondern die Überwindung geschöpflicher Nöte für diese Menschen als realpräsente Erlösung von ihrem Bösen erfahren wird. Die Wundererzählungen von Jesu Handeln stellen auch dahingehend einen Überschuss dar: In ihnen ist die Gnade Gottes »in dieser ihrer Partikularität jetzt und hier schon nicht nur göttliche Verheißung und also Wahrheit für Jedermann, da und dort aufgerichtetes Zeichen! – auch göttlich erfüllte Verheißung, göttliche verwirklichte Wahrheit« (KD IV/2, 272). Diese Erfahrungen rettender Zuwendung sind »jetzt und hier schon reale Errettungen« (ebd.).30 Das hier beschriebene Modell beschreibt mit der leiblichen Dimension der Versöhnung auch eine präsentische Erlösung von dem Bösen, insofern als es die Überwindung von Krankheit und die Rettung aus der Bedrängnis der Gefährdung von natürlichen Existenzgrundlagen als Phänomene der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen betont. Die Heilung wird zur Heilserfahrung.31 Sie adressiert das Böse in einer Form, wie es in der Schöpfung als malum naturale le30
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von Martin Wendte (9–18) und die christologischen Grundlegungen von Markus Mühling (19–34). Barth hat die Anstößigkeit dieser Formulierungen, die auf eine physische Betonung der rettenden Gnade Gottes so viel Wert legt, durchaus im Blick; wobei er bereits für seine Zeit bemerkenswert hellsichtig die im ökumenischen Horizont besondere Reserviertheit des »westlichen Christentums und insbesondere des Protestantismus« gegenüber der »physischen«, der erlösenden Zuwendung Gottes in den Blick nimmt (vgl. KD IV/2, 273). Zur pentakostalen Heilungstheologie in der Gegenwart vgl. Kupsch, »Arzt unter Ärzten: Christus medicus und die pfingstlich-charismatische Heilungstheologie im Kontext moderner Medizin«. Zur kritischen Würdigung dieser Nähe von präsentischer und futurischer Eschatologie im Kontext der Erfahrung von Heiligung vgl. Koopman, »Endgültige Heilung? Vorläufige Heilung? Fürsorge? Christliche Hoffnung und Krankheit«. Trotz allem Engagements für ein Verständnis von Heiligung im Horizont einer christlichen Eschatologie spricht jedoch auch Koopmann entschieden von der Differenz von »Bemühungen für die vorläufige Heiligung« (KD IV/2, 407) im Gegensatz zur Konzentration »auf endgültige Formen der Heilung« (KD IV/2, 404). Diese Differenz wird in Barths Modell der Menschlichkeit Gottes nicht christologisch begründet; sie kehrt aber an anderer Stelle im Gegenüber von der »Gerechtigkeit des Reiches Gottes« und dem »Kampf um menschliche Gerechtigkeit« wieder, die in der diesem Modell zuzuordnenden Reich-Gottes-Bitte aus der Versöhnungsethik eigens zu thematisieren ist (vgl. Kap. 4.3 und 4.4.3).
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benszerstörende Macht gewinnt, die gerade nicht der gutgeheißenen Endlichkeit aller Kreatur entspricht. Barths Ausführungen in KD IV/2 stellen dabei eine modellbedingte Verschiebung gegenüber seiner Äußerungen zur Krankheit aus der Schöpfungsethik in KD III/4 dar. Bereits dort legt er eine theologische Deutung der Krankheit vor und differenziert – auf der Grundlage seiner doppelten Unterscheidung von Tag und Nacht des ersten Schöpfungstages und deren Übergangsbereich der »Schattenseiten« der guten Schöpfung – zwischen zwei verschiedenen theologischen Einordnungen: Als Widerstand gegen die Gesundheit, als »Kraft zum Menschsein« (KD III/4, 405) sind Krankheiten »reine Unnatur und Unordnung« und also »ein Element und Zeichen der die Schöpfung bedrohenden Chaosmacht« (KD III/4, 417). Unter diesem Gesichtspunkt, ihrer Entgegensetzung zu Gottes gutem Schöpferwillen, kann eine menschliche Antwort darauf »immer nur der Widerstand bis aufs Letzte sein« (KD III/4, 418). Emphatisch begrüßt Barth daher das Bündnis des Christentums mit der modernen Medizin, insofern der Mensch »zur Hoffnung, zum Mut, zum Kampf « gegen diese Todesbedrohung aufgerufen sei (vgl. KD III/4, 423). Diesbezüglich ist also zwischen einer Kongruenz von Barths Krankheitsdeutung in seiner Schöpfungslehre und in der Versöhnungslehre zu sprechen. Denn in seiner Paraphrase der Heilungserzählungen identifiziert Barth diesen Kampf im Handeln Jesu an den Kranken, die zu ihm gebracht werden.32 In seiner Schöpfungsethik kommt jedoch (anders als in KD IV/2!) ein weiterer Aspekt zum Tragen: Barths zweite Einschätzung geht von der anthropologischen Einsicht aus, dass das menschliche Leben ein »nach Gottes gutem Schöpferwillen und also natürlicher und normaler Weise anhebendes und endendes und also befristetes Leben ist« (KD III/4, 423). Der Schwund der Kraft zum Leben, wie er sich als körperliche, seelische und geistige Beeinträchtigung äußert, kann daher nicht allein negativ, sondern vielmehr als eine Manifestation der Endlichkeit des Lebens verstanden werden: Es ist ein natürliches und schöpfungsgemäßes Geschehen, »daß da neben Kraft immer auch Unkraft, neben Aufbau immer auch Abbau, neben Entfaltung immer auch Behinderung wirklich wird« (KD III/4, 424). In Barths Schöpfungsethik gewinnen Krankheiten und Beeinträchtigungen der natürlichen Lebensgrundlage des Menschen daher einen ambivalenten Charakter, der nicht unzweideutig dem guten Willen Gottes entspricht. »Es muß klar sein und bleiben: [...] daß das, was wir als Krankheit kennen, in tiefer Verborgenheit auch eine Gestalt hat, in der es nicht nur die Macht des Teufels und auch nicht nur den Zorn Gottes, sondern auch Gottes herzliches Wohlmeinen spiegelt« (KD III/4, 425). Die modellbedingte Ambivalenz der Krankheit 32
Zur Einordnung dieser Ambivalenz der Krankheit zwischen der Nacht- und Schattenseite der Schöpfung vgl. Eibach, »Umgang mit schwerer Krankheit: Widerstand, Ergebung, Annahme«, 344–346.
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in der Schöpfungsethik gibt Barth in seinen Schilderungen zur Menschlichkeit Jesu Christi zugunsten einer radikalen Zuordnung der Krankheit zum »Unwillen« Gottes auf. Gregor Etzelmüller hat daher vorgeschlagen, diese Verschiebung dahingehend zu interpretieren, dass in der Schöpfungsethik ein umfassender Krankheitsbegriff vorliegt, der sowohl Krankheit als auch Nicht-Krankheit umfasst, während in der Versöhnungslehre ein engerer Krankheitsbegriff vorliegt. Dann würde die Differenz zwischen Barths Schöpfungsethik und seiner Versöhnungsethik darauf aufmerksam machen, dass nicht jede Beeinträchtigung des menschlichen Lebens pathologisiert werden darf und als Krankheit gedeutet werden sollte.33
Dem kann hinzugefügt werden, dass Barth in KD IV/2 sein Krankheitsverständnis nicht im Zusammenhang einer schöpfungstheologischen Anthropologie gewinnt, die die Endlichkeit des Lebens und also auch die Prozesse, die dieses Ende manifestieren, als eine anthropologische Konstante voraussetzt, sondern dass er sein Verständnis der Krankheit aus den Erzählungen der transformierenden Begegnungen mit dem Christus medicus gewinnt.34 Dies erschließt auch die Bedeutung von Barths Diktum der »Umwertung aller Werte«, die nicht allein als kulturelle Umdeutung zu verstehen ist. Für Barth sprechen daher besonders die Makarismen eine realistische Sprache: »Die Seligpreisungen beziehen sich nicht auf scheinbar, sondern auf wirklich elende Menschen« (KD IV/2, 211). Dass deren Elend in der Konkretion und Schilderung ihrer prekären Lebensverhältnisse und das Aufbegehren gegen die Erfahrungen physischer Übel hervorgehoben wird, unterstreicht für Barth den Realismus, den die Verheißung Jesu Christi für diese Menschen enthält. Ihren Leiden wird kein besonderer Sinn zugesprochen, sie erfahren keine Aufwertung ihrer spezifischen Leidenssituation, sondern stehen trotz ihrer Bedrängniserfahrung im Fokus der Verheißung der Erlösung von dem Bösen. In der Verheißung von Gottes Zuwendung, dass ihr Heil als Heilung real werden soll, geht es um eine Wendung und eine Veränderung dieser Zustände, die eine Bedrohung ihrer natürlichen Lebensgrundlage darstellen und die zumeist von einer sozialen Isolation begleitet werden. Ihnen fehlt es daher in einem sehr umfassenden Sinn an erfahrener Mitmenschlichkeit, nämlich sowohl in Bezug auf ihre körperliche Not als auch darin, dass sie in ihrer Sorge um ihrer selbst auf sich alleine gestellt sind. »Nicht weniger als das Reich Gottes als solches, nicht weniger als er selbst ist der Lohn, den er [...] jenen Leidenden zuspricht« (KD IV/2, 212). 33 34
Etzelmüller, »Christentum als Religion der Heilung«, 462. Das unterstreicht eine der zentralen Thesen dieser Studie, nämlich dass der dogmatische Kontext eines Modells für dessen inhaltliche Entscheidung von Bedeutung ist: Barth kommt im Kontext seiner Schöpfungstheologie zu einer wesentlich ambivalenteren Einschätzung zur Krankheitsthematik als in den konfrontativen Teilen des königlichen Amtes.
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Problematisch bleibt freilich die unzweideutige Vollmundigkeit, mit welcher Barth die Verheißungen der Makarismen ausdeutet. Angesichts der zerstörerischen Realität degenerativer Erkrankungen, den verheerenden Wirkungen von Pandemien wirkt es fraglich, diese Realitäten als Differenzmarkierung von Versöhnung und Erlösung zu deuten. Theodizeesensibel ist dies freilich nicht – Barths Lösung, die Wirklichkeit des malum naturale im Modus seiner verheißenen Überwindung zu perspektivieren, wird gerade dort nicht überzeugen können, wo die zeitliche Latenz dieser Überwindung zu weiteren Leiden führt. Ferner hat Barths Behauptung, dass dieses dritte Phänomen der Humanität Jesu Christi – die physisch-leibliche Konkretheit seiner Zuwendung – ein Luxus sei, einen eigentümlichen Beigeschmack. Sie beruht auf einem Fehlschluss Barths, der hinter seiner anthropologischen Einsicht, dass der Mensch nicht in der Alternative von Natur und Kultur, Leib und Geist, sondern nur in der Einheit von beiden existiert, zurückbleibt. Barth lässt hier offensichtlich eine Höherbewertung eines Seelenheils gegenüber der nicht ebenso notwendigen körperlichen Gesundung durchscheinen und verfällt damit in einen Leib-Seele-Dualismus, welcher die menschliche Hoffnung auf leibliche Integrität zum Luxus-Problem abqualifiziert. Hier ist eine kritische Modifikation an Barths Argument vorzunehmen. Denn in der Tat handelt es sich hier um einen Luxus, d.h. um ein exzessives Moment, das jedoch nicht auf der Leib-Seele-Linie, sondern vielmehr auf der Linie zwischen Versöhnung und Erlösung zu verorten ist. Was Barth als Luxus bezeichnet, ist die exzessive Vorwegnahme der Erfüllung der universellen Verheißung der Erlösung von dem Bösen in der kontingent erfahrenen Rettung von diesen Übeln. Der Luxus der jesuanischen Zuwendung ist, dass sie nicht universale Verheißung, sondern partikulare Rettung ist. In ihrer physischen Realität sind diese Erfahrungen der leiblichen Zuwendung Gottes in Jesus Christus zugleich Gleichnis und anbrechende Wirklichkeit des Reiches Gottes. Als partikulare Ereignisse in der Geschichte sind sie Zeugnisse und Zeichen für das, was die Universalität des Reiches Gottes eschatologisch sein wird.35 Leiblichkeit in der transformativen Gemeinschaft des Auferstandenen Theologisch ist die Leiblichkeit von Gottes Mitmenschlichkeit nicht nur in Bezug auf den vorösterlichen, sondern auch auf den auferstandenen Christus relevant. So betont Barth nicht nur die geschichtliche Neuheit als Wunderhaftigkeit der Auferstehung, sondern explizit auch deren physisch-körperliche Dimension. Die Auferstehung ist ein »auch körperlich geschehenes, von bestimmten Menschen innerlich, aber auch äußerlich miterlebtes und bezeugtes Ereignis« (KD IV/2, 35
»Insofern die Überwindungen der Risiken des geschöpflich-naturalen Lebens Teil der Universalität des Heils ist, werden die – faktisch selektiven, und in ihrer Wirkungstiefe wie Wirkungsdauer begrenzten – Heilungen dann auch zu realen Zeichen des Anbruchs der eschatologischen Verwandlung« (Thomas, »Krankheit im Horizont der Lebendigkeit Gottes«, 517.)
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Modell 4: Humanität und Reich Gottes
160). Bezeichnend ist, dass Barth die Körperlichkeit Jesu Christi mit der leiblichen Zeugnisgemeinschaft in Verbindung bringt, hat sie ja (entsprechend der bereits in KD IV/1 etablierten Linie) vor allem Offenbarungs- und Kommunikationscharakter. Nach Barth erschließt sie primär das Kreuzesgeschehen als ein Heilsgeschehen. Innerhalb des hier beschriebenen Modells gewinnen die Ostererscheinungen – über Barths eigene Erörterungen hinaus – jedoch noch in anderer Hinsicht Bedeutung: Die Auferstehung kann als die partikularste Zuwendung Gottes und als Erweis seiner Verheißungstreue zu diesem auf Golgatha gekreuzigten Menschen verstanden werden. In ihr schenkt Gott seine Leben spendende Aufmerksamkeit demjenigen, der selbst sozial exkludiert, körperlich gedemütigt und in der Gottverlassenheit am Kreuz gestorben ist. Dem nach römischem Recht verurteilten königlichen Menschen widerfährt in seiner Auferweckung das Recht, was den Getöteten lebendig macht. In der Auferweckung Jesu Christi überwindet Gott den Tod als die Zerstörung der leib-geistigen Einheit dieses Menschen. Er überwindet sie durch die Kraft des Heiligen Geistes, der einem offensichtlich anderen, einem eschatischen Leib neues Leben schenkt. Dabei muss nicht unmittelbar die alte Debatte um das leere Grab und die Wiederbelebung des Leichnams der Person Jesu Christi aufgerufen werden. Wenngleich Barth diese leibliche Dimension der Osterberichte explizit hervorhebt, lässt sich diese entsprechend der christologischen Grundstruktur dieses Modells, welche in der Einheit von Personalität und Sozialität besteht, vor allem als Spezimen der in der Auferstehung begründeten Nachfolgegemeinschaft verstehen: Im Fokus der Debatte um die Leiblichkeit der Auferstehung steht also ebenso wenig eine substanzontologische Frage, sondern die Bedeutung der leiblichen Sozialität der JüngerInnen, denen der Auferstandene körperlich präsent wird.36 Damit gilt aber auch im Rahmen der Frage nach der Leiblichkeit der Auferstehung die Frage nach deren konstitutiver Bedeutung für die Sozialität der Auferstehungsgemeinschaft gegenüber der Frage nach dem individuellen Körper Jesu Christi. Architektonisch schlägt sich dieser Sachverhalt darin nieder, dass Barth die Abschnitte (in allen drei dogmatischen Bänden) der Versöhnungslehre, die sich dezidiert der Auferstehung widmen, als »Übergangskapitel« kennzeichnet und diese die epistemologische Schnittstelle zwischen Christologie und Ekklesiologie bilden. Die Auferstehung ist für Barth weniger an und für sich von Interesse. Vielmehr thematisieren Barths Übergangskapitel dezidiert den Kommunikationsprozess, den das Zeugnis der Auferstehung in der Geschichte anstößt. Barths Hauptaugenmerk gilt daher der sozialen und nicht der personalen Leiblichkeit des Auferstandenen. Der Auferstandene begründet leiblich vermittelte Sozialität. Diese konstituiert sich aus der Interaktion, deren 36
Ähnlich argumentiert auch Michael Welker, der soweit geht, den Auferstehungsleib mit der Gemeinschaft der ZeugInnen des Auferstandenen zu identifizieren, wenn er »die Kirche als de[n] nachösterliche[n] ›Leib Christi‹« bezeichnet (Welker, Gottes Offenbarung, 125).
Hamartiologie der Unmenschlichkeit
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wesentlich leibliche Vollzüge die biblischen Osterberichte herausstellen. Seine Gemeinschaft ist ihnen Zeichen für das Kommen des Reiches Gottes und für die Jüngerinnen und Jünger der folgenden Generationen Grund zur Hoffnung auf seine endgültige Offenbarung. Barths Auferstehungstheologie weist also darauf hin, dass die jesuanische Mitmenschlichkeit nicht nur im vorösterlichen Leben von einer spezifisch leiblichen Zuwendung gekennzeichnet ist, sondern auch dass sich diese in der transformativen Gemeinschaft der ZeugInnen seiner Auferstehung fortsetzt. Sie entspricht damit der diesem Modell zugrunde liegenden Denkfigur, welche die Person des wahren Menschen mit der Sozialität der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen identifiziert. Gottes Mitmenschlichkeit ist also nicht nur in seinem vorösterlichen Leben, sondern auch in der körperlichen Gestalt des Auferstandenen ein Zeichen für das anbrechende Gottesreich, insofern er die Lebensgemeinschaft Gottes mit dem Menschen über den Tod hinaus in der Nachfolgegemeinschaft verwirklicht. Die in diesem Kapitel beschriebenen Kennzeichen der Neuheit, Parteilichkeit und Leiblichkeit sind die kennzeichnenden Phänomene der Mitmenschlichkeit Jesu Christi. Als gemeinschaftlich erlösendes Wirken behaupten sich diese gegen verschiedene Gestalten der Unmenschlichkeit. Auch in diesem Modell ist daher ein dramatisch-agonales Gefälle, eine konkrete Auseinandersetzung mit dem, was Menschen als Böses widerfährt, zu entfalten. Diesen konträren Kräften der Unmenschlichkeit ist im Folgenden nachzugehen.
4.3 Hamartiologie der Unmenschlichkeit Anhand des christologisch gewonnenen Begriffs der Menschlichkeit erschließt sich Barth eine bestimmte Hamartiologie. Jesu Humanität bildet in ihrer Neuheit, Parteilichkeit und Leiblichkeit einen Gegensatz zu Lebensformen, -strukturen und Mächten, die innerhalb dieses Modells als Unmenschlichkeit beschrieben werden können. Im folgenden sollen daher zwei systematische Anschlüsse für eine Hamartiologie dieses Modells gesucht werden. Sie sind einmal im als solchen Ausgewiesenen hamartiologischen §65 (»Des Menschen Trägheit und Elend«) zu suchen. Eine kritische Einordnung dieses Paragraphen wird zeigen, dass Barths Hamartiologie der Trägheit für sich genommen unterkomplex und der menschlichen Selbstgefährdung in sozialen Dynamiken nicht gerecht werden kann. Daher ist andererseits auf Barths anspruchsvolle sozialtheoretische Überlegungen zu den sog. »herrenlosen Gewalten« in den Fragmenten der Versöhnungsethik nachzugehen, anhand derer eine soziale Hamartiologie zu entfalten ist, die gegenüber Barths personalistischer Hamartiologie in §65 in der Lage ist, das systemische Gefährdungspotenzial gesellschaftlicher Dynamiken aufzudecken.
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Modell 4: Humanität und Reich Gottes
4.3.1 Barths personalistische Hamartiologie der Trägheit Als Negativum zur Heiligung des Menschen in Jesus Christus beschreibt Barth die menschliche Sünde als Trägheit. Dabei suggeriert die Überschrift des Paragraphen eine Problemstellung der Statik (als Sünde), die es zugunsten einer Dynamisierung (als Heiligung) zu überwinden gilt. Barth unterstreicht diese Frontstellung eingangs explizit: »Es geht doch der Bewegung, in die er [Jesus Christus] sie [die Geheiligten] gebracht hat, ein früheres Unbewegtsein voran« (KD IV/2, 429). Als ihren tragenden Kern hebt er die Verwehrung der Gemeinschaft mit Jesus Christus hervor: »Die Sünde in der Gestalt der Trägheit kristallisiert sich in der Ablehnung des Menschen Jesus« (KD IV/2, 455). Barth entfaltet diese These wiederum phänomenologisch in vier Richtungen, die den bereits bekannten anthropologischen Grundrelationen entsprechen.37 Als erstes stellt Barth in höchst polemischer Weise die Dummheit des Menschen als dessen fehlende Erkenntnis Gottes heraus. Insbesondere dem praktischen Atheismus hält er vor, durch seine indifferente Haltung zur lebendigen Wirklichkeit Gottes seiner Trägheit durch »seine Puerlität und Senilität, seine Mediokrität« Gestalt zu verleihen (KD IV/2, 461). Barth folgert daraus ein grundlegend epistemisches Defizit des Menschen, das zugleich verhängnisvolle und gefährliche Konsequenzen mit sich bringt: Die Dummheit äußert sich als Orientierungslosigkeit des Menschen, die sich gegen die Wirklichkeit der Versöhnung zu behaupten versucht. Dies illustriert Barth anhand von Handlungsoptionen, die der Mensch in seiner Orientierungslosigkeit vertauscht: Die Dummheit ist genial darin, alles zur Unzeit zu meinen, alles den unrichtigen Leuten zu sagen, alles in verkehrte Richtung zu tun, keine Möglichkeit mißzuverstehen und mißverständlich zu sein, vorübergehen zu lassen, das Einfache, das Notwendige, das Komplizierte, das Überflüssige, das eben jetzt nur Störende und Aufhaltende zu wählen, zu wollen und zu tun (KD IV/2, 465).
Auch wenn viele Äußerungen Barths in diesem Paragraphen nach brachialer Polemik gegen eine areligiöse Existenz klingen mögen, ist doch hervorzuheben, dass es ihm hier nicht einfach um die Verteidigung eines moralischen Gottesgedanken geht. Vielmehr weist er verschiedentlich darauf hin, auf welche Weise diese erste Form der Trägheit Sozialität korrumpiert. Denn Barth baut hier auf seinen epistemologischen Grundsatz auf, dass der ethische Gehalt christlicher Humanität nur angesichts der Menschlichkeit Gottes zu verstehen sei. Und so folgert er in Bezug auf den Menschen, der sich der Bindung an Gott verweigert: »Ihm geht nämlich in und mit der Erkenntnis Gottes notwendig auch diejenige 37
Sc. das Verhältnis des Menschen zu Gott, zu anderen Menschen, zu sich selbst und zu seiner Zeit.
Hamartiologie der Unmenschlichkeit
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Bindung verloren, die seinem Dasein den Charakter der Menschlichkeit gibt: seine Bindung an den Mitmenschen« (KD IV/2, 473).38 Damit weist Barth einen natürlichen Humanismus entschieden zurück und nimmt für die Hamartiologie (und schließlich auch die Ethik) Grunderkenntnisse aus der Christologie dieses Modells auf, wonach nur der wahre Mensch die entscheidende Maßgabe für ein adäquates Verständnis von Mitmenschlichkeit sein kann. Als zweite Form der Trägheit benennt Barth daher die Unmenschlichkeit:39 Barth setzt hier – konsequenter als im ersten Aspekt – christologisch an, wenn er hervorhebt: »In ihm [Jesus Christus] ist also der Mensch nicht nur Gott, sondern eben damit auch dem anderen Menschen zugekehrt: [...] In ihm lebt er nicht nur in der Gemeinschaft mit Gott, sondern eben damit auch in der mit den anderen Menschen« (KD IV/2, 487). Die Sünde als Trägheit verneint diese Wirklichkeit und setzt damit gar das ganze Menschsein aufs Spiel: Es gibt, so Barth, auch einen Unmenschen, der meint, seine »Menschlichkeit minus Mitmenschlichkeit ins Werk setzen zu können und zu sollen« (KD IV/2, 493). Dabei spricht sich Barth entschieden gegen ein moralisches Gegensteuern aus, welches er für grundsätzlich aussichtslos hält. Mit Appellen sei der Unmenschlichkeit nicht beizukommen. Denn hellsichtig hebt er den Machtcharakter der Unmenschlichkeit hervor, die nicht allein subjektiver Handlungsintentionen oder dem Ausbleiben solcher entspringt: Die Unmenschlichkeit gewinnt den Charakter einer Gewalt, die, einmal entfesselt, wie es in der Tat bzw. Untat unseres Versagens geschieht, unserer Kontrolle entzogen, ihrem eigenen Gesetz folgt, ihre eigene Dynamik besitzt, deren Auswirkungen wir dann nur noch [...] als Zuschauer miterleben können (KD IV/2, 491).40 38
39
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Hier zeigt sich noch einmal, dass eine eigene Rekonstruktion der Gottesrelation des königlichen Menschen im vorangehenden Abschnitt nicht zielführend gewesen wäre. Denn in diesem Modell sind diese Relationen nicht kategorial voneinander zu unterscheiden; vielmehr erschließt sich das Gottesverhältnis (und das heißt auch dessen Perversion und Korrumpierung) in der Destruktion des Verhältnisses des Menschen zu seinen Mitmenschen. Vom inhaltlichen Ertrag hätte Barth die Dummheit jedenfalls nicht als eigene Dimension thematisieren müssen. Dass die Destruktion des Gottesverhältnisses mit einem falschen Menschen-, Leib- und Zeitverhältnis identisch ist, ist in Anschluss an die vorangehenden Überlegungen vielmehr offensichtlich. Tatsächlich wirft diese Bezeichnung Fragen in Bezug auf die systematische Stringenz von Barths Hamartiologie im Kontext dieses Modells auf: Denn die Unmenschlichkeit stellt hier gleichzeitig eine spezifische Dimension der Trägheit des Menschen in Bezug auf seinen Mitmenschen wie eine allgemeine Beschreibung der Sünde im Gegenüber zur Menschlichkeit Jesu Christi dar. Als spezifische Unterkategorie thematisiert hier das Phänomen der Unmenschlichkeit die Destruktion der Relation des Menschen zu seinen Mitmenschen. Barth spielt hier auf die Entstehung unmenschlicher Dynamiken an, die in komplexen, sozialen Verhältnissen weder durch Appelle, noch durch individuelles Gegensteuern oder eine andere Direktive einzufangen sind. In diesem Zusammenhang weist Barth auf den Machtcharakter der Unmenschlichkeit hin, mit welchem diese nicht nur auf einzelne Menschen, sondern auch auf gewichtige Institutionen der Aufrechterhaltung und Ermöglichung von Sozialität (»der Staatsanwalt oder Richter auf seinem Stuhl!« [vgl. KD IV/2, 491]) Einfluss nehmen kann.
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Die Verkehrung des Menschseins zur Unmenschlichkeit liegt für Barth in der Verschleierung der Unmenschlichkeit als vermeintlicher »Sachlichkeit« begründet, die den Menschen um der (sicherlich wichtigen und gar lebensnotwendigen) Sache entweder zur allgemeinen »Menschheit« oder zum »anonyme[n] Menschen« stilisiert (vgl. KD IV/2, 493). Sie stellt dabei aber eine Fehlabstraktion dar, die nicht nur epistemologisch sondern auch ethisch verheerende Konsequenzen nach sich zieht.41 Die Sünde in dieser Form entmenschlicht nicht nur sich selbst, sondern vor allem den Mitmenschen auf ganzer Linie: »Er wird dann seelenlos und letztlich auch leiblos« (KD IV/2, 500). Ohne dass sie Barth explizit erwähnt, lassen sich hier verschiedenste Formen psychischen Missbrauchs und körperlicher Ausbeutung anschließen. Dabei ließe sich der Gewaltcharakter der Unmenschlichkeit in zwei Richtungen ausdifferenzieren: Nämlich einerseits als forciertes Unterdrücken der Mitmenschlichkeit in Form erzwungener Isolation und Marginalisierung und andererseits als eine gewaltsame Inanspruchnahme in Gestalt unterwerfender und entmenschlichender Bemächtigung.42 Beide Alternativen beschreiben die Abwege jeder Form von Sozialität, für deren lebensförderliche Wirkung das rechte Verhältnis von Identität und Differenz notwendige Bedingung ist.43 Die dritte Form der menschlichen Trägheit beschreibt die Verlotterung. Barth bezeichnet damit ein »[V]erwahrlosen, durch Nachlässigkeit in Unordnung, aus den Fugen kommen und damit: herunterkommen« (KD IV/2, 510). Er fasst damit die Existenz des ganzen Menschen ins Auge und wie sich die beiden grundlegenden Aspekte der Leiblichkeit und der Geistigkeit zueinander verhalten. Barth setzt dabei als Idealzustand ein Verhältnis der Ordnung zwischen beiden voraus,
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Dieser überindividuelle Machtcharakter der Unmenschlichkeit als Überkompensation menschlicher Bedürfnisse soll später im Rahmen einer sozialen Hamartiologie der sog. »herrenlosen Gewalten« weiter ausgearbeitet werden. Hieran lässt sich jedoch deutlich machen, dass diese später noch eigens zu entfaltende soziale Hamartiologie direkt an die in diesem Abschnitt gemachten Beobachtungen anschließt. Systematisch schließt diese Beschreibung anonymer Abstraktionen des Menschlichen direkt an Barths Kritik an der Zwei-Naturen-Lehre an. Der Sozialphilosoph Avishai Margalit beschreibt diese beiden Richtungen – gemeinsam mit Handlungen, die Autonomie verwehren – als die drei Sinnebenen des Begriffs »Demütigung«: »Menschen so zu behandeln, als ob sie keine Menschen wären, der Ausschluß aus der Menschengemeinschaft und Handlungen, die zum Verlust der Selbstkontrolle führen oder diesen verdeutlichen« (Margalit, Politik der Würde, 149). Miroslav Volf hat diese Notwendigkeit in der Hamartiologie seines versöhnungstheologischen Entwurfs Von der Ausgrenzung zur Umarmung mit dem Begriff der Exklusion auf den Punkt gebracht. Exklusion beschreibt dabei nicht einfach nur eine gewaltsame Differenz, sondern ebenso eine gewaltsame Identität: »Exklusion findet statt, wenn die Gewalt der Vertreibung, Assimilation oder Unterwerfung und die Indifferenz der Preisgabe des anderen die Dynamik des Hereinnehmens und Heraushaltens wie auch die Wechselseitigkeit von Geben und Nehmen ersetzen« (Volf, Von der Ausgrenzung zur Umarmung, 79).
Hamartiologie der Unmenschlichkeit
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welches in der Verlotterung zur Unordnung wird.44 Im wechselseitigen Aufbegehren, dem Versuch der Beherrschung des Einen durch das Andere, sieht Barth die Übel leiblicher Verwahrlosung und Zügellosigkeit sowie als deren Gegenüber die überkompensierende Form moralischer Leibfeindlichkeit begründet. Anhand von Barths Ausführungen zu dieser dritten Form lässt sich die sachliche Schwierigkeit einer Hamartiologie im Kontext dieses Modells am deutlichsten formulieren – es ist die Frage nach der Verantwortung: Geht es in der leiblichen Zuwendung des königlichen Menschen gerade um die Adressierung leiblicher Nöte und Übel, so wird diese Perspektivierung hier in eine personalistische Richtung verschoben, die den Menschen nicht als Angriffsfläche, sondern selbst zum Hort dieser Unordnung werden lässt und ihn damit moralisch zur Verantwortung zieht. Damit ist diese Ordnung jedoch dem souveränen Menschen – genauer: dem souveränen Geist, der die rechte Ordnung von Geist und Leib zu garantieren habe – anheim gestellt. Bezeichnenderweise schließt Barth daran einen reichlich banalen Lasterkatalog mit Beispielen der Verlotterung an. Er spricht von einer »Emanzipation des Fleisches«, der Existenz als »Vagabunden« und der »Torschlußpanik« (vgl. KD IV/2, 520ff.). Barth unterbietet damit nicht nur das systematische Niveau, das er mit den differenzierten Beschreibungen des königlichen Menschen für dieses Modell bereits etabliert hat. Denn statt eine Hamartiologie zu entwickeln, die bspw. die Interdependenzen von Krankheit, mangelnder Hygiene und Gesundheitsversorgung, sozialen und kulturellen Faktoren einbezieht,45 arbeitet sich Barth an einer hamartiologischen Fragestellung ab, die er als dualistisch gefasstes Leib-Seele-Problem ausschließlich ins Individuum verlagert. Auch die Lektüre von Barths abschließendem Verweis auf die Heiligung als Heilung kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich diese dritte Form der Trägheit nicht den Herausforderungen stellt, die der Theologie mit Jesu Handeln an Menschen, die von der Macht der Sünde leiblich affiziert sind, aufgegeben sind. Stattdessen verflechtet Barth in seine Ausführungen eine zweifelhaft metaphorisierte Universalisierung der Krankheit: »Es ist wohl wahr: im Licht jenes Einen wird die Krankheit unseres Seins als eines schuldhaften Seins im Fleische offenbar« (KD IV/2, 524). 44
45
Barth sieht diese Ordnung durchaus in einem hierarchischen Gefälle, sofern der Mensch »in königlicher Freiheit die Seele seines Leibes ist« (KD IV/2, 510). Von einem echten Aspektdualismus ist daher bei Barth selbst nicht zu reden, wenngleich er auf die problematische Tradition eines gerade im Christentum reichlich forcierten Kampfes des Geistes gegen das Fleisch anspielt (vgl. KD IV/2, 512f.). Und obwohl diese Ordnungssemantik im Laufe von Barths Ausführungen zunehmend einer Friedenssemantik weicht, ist offensichtlich, dass Barth diese beiden Kategorien immer aufeinander bezogen denkt. Vgl. KD IV/2, 512: »Gott, der ein Gott nicht der Unordnung, sondern des Friedens – der Schöpfer und Garant gerade auch des Friedens, auf den des Menschen Natur als Seele seines Leibes ausgerichtet ist«. Vgl. Link und Phelan, »Social Conditions As Fundamental Causes of Disease« und Viner u. a., »Adolescence and the Social Determinants of Health«.
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Barth lässt damit die Chance verstreichen, einen theologischen Zugang zum Aufbau zwischenmenschlicher Fürsorge zu entwickeln, der sich als Seelsorge wie auch als diakonisches Handeln (nicht zuletzt auch vorsorglich) dem »ganzen Menschen« und seiner Belange annimmt. Barth lässt diese Möglichkeit jedoch nicht nur ungenutzt, sondern führt die Individualität-Sozialität-Dichotomie geradezu auf die Spitze, wenn er als vierte Form der menschlichen Trägheit die Sorge behandelt: »Es fängt alles Böse auch damit an, daß wir der Begrenzung unseres Daseins nicht dankbar standhalten wollen, wo wir gerade im Blick auf sie hoffen, der Erfüllung unseres Lebens gerade in der Erwartung seines Endes gewiß, u. zw. freudig gewiß sein dürfen« (KD IV/2, 529). Die Sorge, wie sie Barth als diese letzte Form der menschlichen Trägheit skizziert, erwächst aus der Konfrontation des Menschen mit seiner Endlichkeit. Sie ist daher die praktische Folge aus der menschlichen Einsicht in die eigene Zeitlichkeit, um deren Gelingen und Erfüllung sich der Mensch Sorgen macht. So wird sie zur »Scheu vor seiner Grenze, die Gottes gute Ordnung ist« (KD IV/2, 530). Die Sorge sei der Versuch des Menschen, seine eigene Begrenztheit, die Grenze seines Seins zu seinem NichtSein zu transzendieren. Christologisch hält Barth dagegen, dass alle Angst vor diesem Nicht-Sein (sc. das Nichtige) in Christus keinen Bestand haben könne: »Von daher ist unserem Sorgen der Boden und die Luft entzogen [...]: von ihm, der an eben der Grenze, im Blick auf die wir scheuen und zurückweichen und uns sorgen, der eben im Ausgang und Ende seines Lebens Sieger und als Sieger offenbar wurde« (KD IV/2, 529). Dabei zeigt sich, dass Barths Beschreibung der Sorge eine zwischenmenschliche Relektüre des homo incurvatus in se darstellt.46 Barths Interesse gilt ausschließlich den Folgen der Sorge in ihrer individualisierten Gestalt der Selbstsorge: »Die Sorge zersetzt, destruiert, atomisiert die menschliche Gemeinschaft« (KD IV/2, 540). Der Einspruch gegen diese Einschätzung liegt im Blick auf moderne Sozialsysteme auf der Hand; denn es ist offensichtlich, dass gerade die Sorge vor den Risiken und um die besonderen Bedürfnisse eines endlichen, verwundbaren und ohne diesen Schutz nicht auskommenden Lebens zur Bildung umfassender Sozialsysteme führt. Wie bereits angemerkt, liegt Barths Augenmerk nicht auf der Sorge um andere, sondern um den partikularisierenden Drang der Selbsterhaltung des Menschen in seiner Zeit. Für die weitere Beschäftigung mit diesem Modell lässt sich anhand dieser Blickverengung Barths deutlich sehen, dass die Bildung von Gemeinschaft nicht reduktionistisch als Überwindung von Individualität und Relativierung der Bedürfnisse konkreter Individuen verstanden werden darf. Vielmehr muss eine Theologie, die sich die Menschlichkeit als Mitmenschlichkeit zum Zentrum macht, solche Institutionen theologisch würdigen, die die Funktion haben, vulnerables Leben zu erhaltenden oder gar zu retten. Es ist 46
Zum Verhältnis von Karl Barths Hamartiologie zur augustinischen Tradition vgl. Jenson, The Gravity of Sin.
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daher notwendigerweise zu unterscheiden zwischen einer isolierenden Sorge um die eigene Existenz und einer Praxis der Gemeinschaftsbildung, die partikulare Zuwendung und Fürsorge ermöglicht, mitmenschlichem Leben zuträglich ist und gerade daraus ein Vertrauen in gute Gemeinschaften und zugleich Instrumente der Kritik an ihren Institutionen zu ermöglichen vermag. In seiner Hamartiologie der Sorge leistet Barth diese Binnendifferenzierung nicht, sondern konzentriert sich in seiner Polemik ausschließlich auf isolierende und individualisierte Formen der Sorge. Folgerichtig beschreibt er sie als Form gesellschaftlicher Trägheit, die im Interesse der individuellen, eigenen Lebenserhaltung angesichts der Endlichkeit des menschlichen Lebens Konflikte erwachsen lässt. Dabei liegen – wie Barth selbst bemerkt – die sorglose Verwahrlosung des Anderen und die sorgenbehaftete Durchsetzung der eigenen Interessen nahe beieinander: »Der Weg von der fatalen Neutralität in die noch fatalere Konkurrenz der verschiedenen Sorgen und Besorgten ist ganz kurz« (KD IV/2, 539). Auch die Sorge entwickelt eine Strategie der Verschleierung ihrer selbst. Sie kommt für Barth explizit dort zum Tragen, wo sie sich aktiv als »Pflicht der Arbeit« und passiv als »heroische Resignation« ausgibt (vgl. KD IV/2, 534ff.). Beide können als falsche Strategien im Umgang mit der eigenen Partikularität (seien es Individuen oder Kollektive) gewertet werden, denen eine verabsolutierte Grenzziehung der Verantwortlichkeit gemein ist.47
4.3.2 Offene Fragen an Barths Hamartiologie der Trägheit – modellinterne Kritik Die Beschäftigung mit Barths Hamartiologie aus KD IV/2 hat vor dem Hintergrund ihrer voranstehenden Christologie der Mitmenschlichkeit gezeigt, dass Barth die komplexe Doppelperspektive auf Personalität und Sozialität bzw. die konsequente Bestimmung der Menschlichkeit als Mitmenschlichkeit nicht aufrecht hält. Der Ertrag ist daher zunächst ernüchternd. Barths Hamartiologie der Trägheit kann jedoch als Kontrastmittel dafür dienen, welchen Herausforderungen sich eine Hamartiologie der Unmenschlichkeit zu stellen hat. Zwei Probleme in der Betrachtung des Bösen drängen sich daher vor allem auf: 1. Agency: Als ein Grundproblem stellt sich die Lokalisierung des Bösen heraus, wenn es als menschliche Sünde einem individuellen Akteur zugeordnet wird. Dies geschieht vor allem dann, wenn die Wirklichkeit der Sünde als Tat bzw. (negativ) als deren Unterlassung verstanden wird. Die biblischen Begegnungserzählungen mit Jesus von Nazareth verweigern sich jedoch zu einem Großteil 47
In ganz ähnlicher Weise formuliert Dietrich Bonhoeffer zur Struktur menschlicher, und daher geschöpflich begrenzter Verantwortung: »Niemals kann es eine absolute Verantwortung geben, die nicht an der Verantwortung des anderen Menschen ihre wesenhafte Grenze fände« (Bonhoeffer, Ethik, 269).
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sowohl der Frage nach der Identifikation eines spezifischen Akteurs als auch dem Problem einer menschlichen Verantwortung für erfahrenes Übel. Was Barth in der Christologie von IV/2 hellsichtig beschreibt, hat für seine Hamartiologie im gleichen Band erstaunlich wenig Konsequenzen. Die Heilungen, Exorzismen und Totenauferweckung werden nicht als Überwindung eines malum verstanden, für das es einen Schuldigen als Verursacher zu identifizieren gilt; sie verweigern sich vielmehr vielfach der Frage nach dem sündigen Menschen – wie Barth explizit geltend macht (vgl. KD IV/2, 248). Menschliches Leiden ist transmoralisch. Die wirkungsgeschichtlich problematische Krankheitsdeutung in der Kategorie von Schuld hat sich gegenüber dieser Einsicht systematisch verschlossen.48 Barths Ansichten zur Verlotterung wie auch zur Sorge legen aufgrund ihrer Akteurszentrierung diese Verknüpfung von malum und hamartia zwar nahe, weisen jedoch ein Detail auf, das für die Frage der Lokalisierung des Bösen Bedeutung hat: Allen diesen Beschreibungen der Sünde gehen vulnerable Spezifika geschöpflichen Lebens voraus, denen sich der Mensch nicht entziehen kann: Dass der Mensch zur Erhaltung seines Lebens von leiblichen Nöten, ungestillten Begierden, unerfüllt gebliebenen Hoffnungen und der Angst um sein eigenes Lebensende geplagt ist, lässt sich geradezu als Grundsituation des Lebens identifizieren. Sie stellt dabei vielfach einen Ausgangspunkt dar, anhand dessen sich aufzeigen lässt, wie die Sünde aus einem Zusammenhang emergiert, der das Individuum und seine autonome Verantwortung übersteigt.49 Barth entfaltet diesen Komplex entlang der vier Grunddimensionen der Trägheit und zeigt, wie deren katalysierende Wirkung lebenszerstörenden Mächten einen Entfaltungsraum bietet. In Barths phänomenologisch dichter Argumentation stellt sich genau das als das ethische Dilemma dar, dem sich der Mensch nicht entziehen kann: Menschen sind unweigerlich mit lebenswidrigen Wirklichkeiten konfrontiert und verstärken diese ebenso unweigerlich. Ein erlösungstheologisches Modell, das in der Menschlichkeit Jesu Christi begründet ist, kann nicht unter Absehung des faktischen Beschädigt- und Bedrängt48
49
Vgl. Klöcker, »Schuld an Krankheit?« In der Auseinandersetzung mit der theologischen Krankheitsdeutung Friedrich Schleiermachers weist Gregor Etzelmüller auf den Unterschied einer objektiven und einer subjektiven Verbindung von Krankheit und Schuld hin: »Obwohl Krankheit objektiv betrachtet nach Schleiermacher keine Folge der Sünde ist, leugnet er keineswegs die Macht der religiösen Deutung von Krankheit als Schuld. Denn als Menschen unter der Macht der Sünde empfinden wir die Hemmung unserer sinnlichen Verrichtung als Übel – und deuten sie als Strafe« (Etzelmüller, »Christentum als Religion der Heilung«, 453). Jede Form kirchlicher Verkündigung habe daher den Zusammenhang von Krankheit und Schuld aufzubrechen. Dies stellt eine bleibende Aufgabe der Seelsorge dar: »Dennoch müssen auch die Gebildeten unter den Gläubigen stets damit rechnen, dass sie in der konkreten Situation schwerer Erkrankung aufgrund ihres gehemmten Gottesbewusstseins sich ihre Krankheit wiederum als Schuld zurechnen werden« (ebd.). Zur Notwendigkeit und Entwicklung eines transmoralischen Sündenbegriffs vgl. Brandt, »Sünde: Ein Definitionsversuch«.
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seins menschlichen Lebens entfaltet werden. Die hamartiologische Fragestellung dieses Modells kann daher auch nicht lauten, auf welche Weise der Mensch das Böse hervorbringt. Ebensowenig kann die Ethik dieses Modells danach fragen, wie der Mensch das Gute vollbringt. Stattdessen muss eine realistische Anthropologie und eine daran anschließende Ethik im Horizont der Menschlichkeit Gottes von der Grundsituation der menschlichen Vulnerabilität, Endlichkeit und in der realen Erfahrung konkreter Verletztheit ausgehen. Mitmenschlichkeit kann sich nur in der Doppelbewegung vollziehen, die sich den Leidenden zuwendet und aus dieser Zuwendung heraus Strategien der Wehrung des konkreten Leidens entwickeln, welche gerade keine neuerlich katalysierende Wirkung auf die Entstehung weiterer Unmenschlichkeit hervorbringt.50 2. Barths Hamartiologie der Trägheit ist von einer problematischen Heuristik geleitet, die in der Polarität von Individualität und Sozialität wurzelt. Denn die Vorstellung, dass jede Form der Sozialität das Böse zu überwinden vermag ist nicht nur zu einfach, sondern birgt eigenes Gefahrenpotenzial. Sie lebt einerseits von einer zu einfachen Identifikation von Individualität als Singularisierung und ignoriert andererseits das nicht triviale Risiko des Hervorbringens neuer Unmenschlichkeit in der konkreten Gestaltung sozialer Strukturen. Innerhalb dieses Modells muss die Polarität von Individualität und Sozialität daher zugunsten eines differenzierteren Verständnisses sozialer Eigendynamiken und deren Begründungsmustern überwunden werden.51 Sozialität kann, wenn sie nicht rein relational, sondern überindividuell verstanden wird, systemisch beschreibbare Zusammenhänge der Fürsorge entwickeln. Sie kann darin gegenseitiges Vertrauen stärken, das insbesondere den Schutzbedürftigen einer Gesellschaft die Lebensbedürfnisse sichert, wobei es Erkenntnisund Überprüfungsmechanismen braucht, die diese Bedürfnisse auch in ihrer Konkretheit verstehen. Die Bildung von Gemeinschaften und komplexen systemischen Zusammenhängen kann aber ebenso zu Dynamiken der Unterdrückung führen. Daher ist im Folgenden nach einer Erweiterung von Barths Hamartiologie der Trägheit zu fragen, die ein Sensorium bietet, die Entstehung komplexer Sozialität nicht nur auf eine Überwindung von Vereinzelung zu reduzieren, sondern ebenso deren destruktives Potenzial ins Auge fassen kann. So bietet das hier beschriebene Modell auch einen Anknüpfungspunkt für eine Hamartiologie des Sozialen. 50 51
Vgl. Springhart, Der verwundbare Mensch und Springhart, »Exploring Life’s Vulnerability: Vulnerability in Vitality«. Die biblischen Texte beider Kanonteile machen im beständigen Bestreben um den Aufbau von Volks-, Rechts- und Nachfolgegemeinschaft auf die Schwierigkeit der Organisationsform bei steigender Bedürfnisse der jeweiligen Sozialstrukturen aufmerksam. Sie vereinen in unterschiedlichem Kontext die Bestrebungen, integrativ in Bezug auf besonders Schutzbedürtige und die Schwachen zu sein und zugleich den Schutz der Gemeinschaft und deren Fortbestehen zu organisieren und zu sichern. Politische und soziale Bestrebungen gehen dabei Hand in Hand.
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4.3.3 Zu einer Hamartiologie sozialer Wirklichkeiten Barths Hamartiologie der Trägheit ist von einer bleibenden Dichotomie aus Individualität und Sozialität geprägt. Dabei macht explizit das oben herausgearbeitete Charakteristikum der jesuanischen Neuheit deutlich, dass sich die Mitmenschlichkeit Jesu Christi weder als Konformität noch als Indifferenz zu den sozialen Wirklichkeiten seiner Umwelt äußert. Die Christologie dieses Modells weist vielmehr darauf hin, dass die kritische Auseinandersetzung in der jesuanischen Reich-Gottes-Botschaft auch Erschließungskraft für eine Hamartiologie des Sozialen bereitstellt. Barth hat dieses Potenzial zwar nicht in der Hamartiologie in KD IV/2 ausgeschöpft, bietet jedoch in den Fragmenten der Versöhnungsethik52 mit seiner Theorie der »herrenlosen Gewalten« eine theologische Lösung an, die an die Logik dieses Modells anschließt. Auch wenn diese Überlegungen im Kontext der Ethik stattfinden, fügen sie sich sowohl systematisch als auch semantisch in das hier beschriebene erlösungstheologische Modell ein. Barth überwindet darin jedoch die Dichotomie von Individualität/Sozialität bzw. Vereinzelung/Vergemeinschaftung zugunsten einer kritischeren Betrachtung sozialer Dynamiken. Im Folgenden soll Barths Problemskizze als eine Hamartiologie des Sozialen gewürdigt werden um daran anschließend Barths Hoffnungstheologie zu analysieren, wie sie Barth in der Auslegung der Reich-Gottes-Bitte entfaltet.53 Mit dem Begriff der herrenlosen Gewalten beschreibt Barth die Entwicklung systemischer Größen und Dynamiken, die der geistig-kreativen Fähigkeit des Menschen entspringen und zu sozial bestimmenden Wirklichkeiten werden, die als solche wiederum eine destruktive Macht gegen den Menschen entfalten.54 Dazu führt Barth eine Reihe von Beispielen solcher sozialer Systeme an, die ihr eigenes Gelingen und Fortbestehen mithilfe ausdifferenzierter Wirkmechanismen garantieren: Speziell stehen ihm Politik, Wirtschaft und sog. »chtonische Mächte« d.h. geistig-kulturelle Lebensformen des Sozialen vor Augen. Alle drei 52
53 54
Barth, Karl Barth Gesamtausgabe; im Folgenden abgekürzt als CL; eine vor allem von Marx’ Fetischismus-Theorie geprägte Interpretation dieses Abschnitts bietet Plonz, Die herrenlosen Gewalten. Zur eschatologischen Verortung dieses Passus vgl. Plonz, 319–321. Das bei Barth weithin unhinterfragte Hintergrundnarrativ bildet eine bereits mehrfach angedeutete Präferenz von Ordnung gegenüber Unordnung: So wird z.B. auch in der Hamartiologie der Trägheit die Verlotterung in ihrem Kern als Unordnung im Verhältnis von Seele und Leib beschrieben (vgl. KD IV/2, 510f.). In analoger Weise wird die Destruktionskraft der herrenlosen Gewalten als eine Folge der beherrschenden Unordnung im Gegenüber zur »heilsamen Ordnung und Gerechtigkeit Gottes« beschrieben (CL 363). Es kommt daher nicht von Ungefähr, dass Barths Bemerkungen zur Eschatologie in diesem Modell eine Überwindung des »Reich[es] der menschlichen Unordnung« durch das »Reich der göttlichen Ordnung« andeuten (vgl. CL 399). Dem Motiv der Überwindung von Unordnung wurde im zweiten Modell der Chaosbegrenzung und -Überwindung bereits hinreichend Rechnung getragen. Es rückt in der weiteren Analyse dieses Modells in den Hintergrund, kann jedoch als eine Verbindungslinie beider Modelle gelten.
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werden zunächst in ihrer lebensförderlichen und Menschen dienlichen Wirkweise beschrieben. Als Lebensformen des Sozialen stellen Sie konstruktive Umgangsstrategien mit den Grundbedürfnissen menschlichen Lebens dar. Sie können also als Kompensationsmechanismen mit den pathischen Dimensionen menschlicher Existenz gelten. An diese Würdigungen anschließend, erörtert Barth jeweils den mit ihnen korrespondierenden Fetischismus.55 Dabei legt Barth jeweils auf einen idealtypischen Umschlagspunkts wert, an welchem aus lebensdienlichen, soziokulturellen Behelfseinrichtungen Gewalten werden, die »eigentlich und ursprünglich des Menschen eigene Gewalten, im Verhältnis zu ihm eine gewisse Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, ja Überlegenheit gewonnen haben« (CL 368). Barth beschreibt die herrenlosen Gewalten (in sehr ähnlicher Manier wie in der Vorsehungslehre die Wirklichkeit des Nichtigen) als pseudo-objektive Wirklichkeiten (CL 366 und 368), die ihre Macht aus einem kontrafaktischen Geltungsanspruch gewinnen: Sie behaupten ihre »eingebildete Gottlosigkeit« (CL 364) und können doch niemals »ontologisch gottlose Mächte werden« (CL 366). Sie entwickeln sich jedoch in der Einforderung ihrer unbedingten Geltung zu den »großen unpersönlichen Absolutismen« (CL 372), die zur Illusion menschlicher Freiheit und zum Mythos menschlicher Herrschaft werden. Sie stellen damit eine pervertierte Form der Dynamisierung gegenüber der menschlichen Trägheit dar. Sie folgen aus einer Überkompensation menschlicher Sorge. Als Illusionen der Wirklichkeit entwickeln sie mythologische Metanarrationen und gewinnen so eine eigene evolvierende und weltgestaltende Macht. Barth beschreibt sie als zentrale Elemente des Sozialen, an dem Menschen unweigerlich partizipieren: [S]ie sind die wahren Stützen nicht nur, sondern Motoren der Gesellschaft – sind die heimliche Garantie der großen und kleinen menschlichen Selbstverständlichkeiten, Gewohnheiten, Sitten, Traditionen und Institutionen – sind die heimlichen Drahtzieher in den großen und kleinen menschlichen Unternehmungen, Bewegungen, Hervorbringungen und Umwälzungen – sind Potenz nicht nur, sondern die eigentlichen Faktoren und Agenten menschlichen Fortschritts, Rückschritts und Stillstands in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kunst, aber auch der Evolutionen und Hemmungen des ganz persönlichen Lebens einzelner Menschen (CL 368f.)
Ihre Wirklichkeit lässt sich daher nicht allein in ihrer Destruktivität beschreiben, sondern muss vielmehr der problematischen gesellschaftlichen und kulturellen Poietik verstanden werden, die sich als Manifestation der Unmenschlichkeit vollzieht. Sie sind Wesenheiten eigenen Rechtes und eigener Würde, sie sind ihm [dem Menschen] also längst entfremdet, schalten und walten sie ihrerseits absolutis55
Sabine Plonz spricht treffend von der »Wirklichkeit« und der »Verkennung ihrer Götzen« (vgl. Plonz, Die herrenlosen Gewalten, 354).
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Modell 4: Humanität und Reich Gottes tisch ohne ihn, hinter und über ihm, gegen ihn: nach dem Gesetz, nach welchem sie angetreten, genau entsprechend dem Gesetz, nach welchem der Mensch selbst vor Gott auf der Flucht antreten zu sollen meinte (CL 365).
Barths Analyse ist vor allem ideologiekritischer Art: Er setzt der behaupteten Notwendigkeit und alternativlosen Schicksalshaftigkeit der herrenlosen Gewalten ihre Kontingenz entgegen. Die herrenlosen Gewalten sind Wirklichkeiten, die nur aus einem falschen Geltungsanspruch heraus ihre destruktive Wirkung entfalten. Was zunächst als geltungstheoretisches und damit als fundamentalethisches Problem auf den Plan tritt, hat – so ließe sich Barths These zusammenfassen – in der konkreten Wirksamkeit dieser Mächte verheerende Folgen, da dieser Geltungsanspruch wiederum auf die Mechanismen dieser Gewalten zurückwirkt. Als diese überindividuellen Wirkmechanismen stellen die herrenlosen Gewalten auf sozialer Ebene das Negativum dieses gesamten Modells dar: Sie sind »die Denaturierung der Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit« (CL 363). Dabei wiederholt Barth nicht einfach die Leitdifferenz von Individualität und Sozialität, welche die Hamartiologie von KD IV/2 strukturiert. Ebensowenig führt er die Destruktivität der herrenlosen Gewalten alleine auf ihre systemische Natur zurück. Stattdessen würdigt Barth anhand von Einzelfallbeispielen zunächst den positiven und konstruktiven Charakter, um dann in eine Kritik der Verabsolutierungsmechanismen verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme überzuleiten. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass diese Ausführungen systemischer Hamartiologie nicht anhand der Kategorie Schuld entwickelt werden, sondern stattdessen die aus der systemischen Wirkweise emergierende Unmenschlichkeit zum grundlegenden Kritikpunkt stilisiert wird. Dies soll im Folgenden kurz nachvollzogen werden. Staatlichkeit und Absolutismus Analog zur fünften These der Erklärung von Barmen würdigt Barth in einem ersten Abschnitt zunächst die schöpfungstheologische Bedeutung des Staates: Er sei eine »heilsame göttliche Anordnung [...], der sich die Christen weder entziehen noch widersetzen, der sie sich vielmehr [...] ein- und unterordnen sollen« (CL 374). Der Staat habe nicht konstitutive, aber sichernde, weil ordnende Bedeutung in der Komplexität der sozialen Wirklichkeit. Diese Funktion erfüllt er mit der Macht des Rechts, wobei in der riskanten Verknüpfung von Macht und Recht der Ermöglichungsgrund staatlicher Ordnung liegt: Staatlichkeit heißt ja nicht nur Aufrichtung und Übung von Recht unter den Menschen, sondern um seiner Aufrichtung willen auch Aufrichtung von Souveränität und Herrschaft, um seiner Übung willen auch Übung von Macht und Gewalt von Menschen über Menschen (CL 374).
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Der guten Anordnung der Staatlichkeit entsprechend gibt es also auch in der von Gott intendierten Sozialität eine Form wechselseitiger Ausübung von Macht, die damit zugleich eine rechtliche Regulierung dieser Gemeinschaft erst ermöglicht. Barth betont daher das wechselseitige Konturieren von Herrschaftssouveränität und Recht. So wichtig wechselseitige Konstitution und Kontrolle von Recht und Souveränität innerhalb eines politischen Systems sind, so verheerend entwickelt sich dieses System in eine »Dämonie des Politischen«, wenn es diese notwendige Balance hinter sich lässt. Die herrenlos gewordenen Gewalten des politischen Absolutismus fassen Legalität und Legitimität in der Hand der Macht zusammen. Damit schwindet aber auch die Möglichkeit der Differenzierung von Macht und Recht: Recht ist nun nicht mehr die dem Menschen helfende, sein Leben sichernde, befreiende und befriedende Ordnung: Recht ist nun die Begründung und Verstärkung der von Menschen ergriffenen und verwalteten, andere Menschen unterwerfenden Macht. Und Macht schützt nun nicht mehr das Recht, hat also in diesem nicht mehr ihre Bestimmung und Grenze (CL 374).
Eben damit wird die Verquickung von Recht und Macht zur unmenschlichen Gewalt: sie wird zur »unmenschlichen Idee des Imperiums« (CL 374), in welchem Macht und Recht aus der Singularität des Souveräns emanieren. Staatlichkeit hat in dieser Form ihre lebensermöglichenden Funktionen hinter sich gelassen: Sie dient nicht mehr dem Menschen und seiner Mitmenschlichkeit; vielmehr wird der konkrete Mensch zum Diener einer Idee abstrahiert, die in der politischen Herrschaft verkörpert wird. Gegenüber der in Barmen V angedeuteten schöpfungsgemäßen, guten Unterordnung gibt es also eine menschenfeindliche Form der Unterwerfung, in welche die Dämonie des Politischen in Gestalt des Absolutismus zwingt. Geld und der Fetischismus des Kapitalismus Als zweites Beispiel führt Barth den »höchst mobilen Dämonen« des Mammon, der in seiner generischen (in seiner geradezu »schlüpfrigen Natur«; vgl. CL 380) Form des Geldes das menschliche Vermögen symbolisiert: Ein der Natur des Menschen eigenes, neutrales, ja an sich gutes, von ihm in Freiheit anzuwendendes »Vermögen« steht auch hier am Anfang: des Menschen in seiner Verfügung über bestimmte materielle Güter und Werte sich darstellende Macht zur Garantie und Sicherung seines Lebensunterhaltes (CL 378f.).
Außer Frage stehen für Barth die Sozialität fördernden Potenziale eines Wirtschaftssystems. Es bietet die Möglichkeit, primäre und sekundäre Bedürfnisse
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des Lebens sowie deren Stillung über den unmittelbaren Bedarf und das aktuelle Angebot hinweg abstrahierend zu adressieren. Erwirtschaftetes Vermögen bietet einen wesentlich höheren Grad der mittel- und langfristigen Lebenssicherung, da es zum Mittel wird. Geld, welches einen vernachlässigbaren Eigenwert hat, treibt diesen Prozess der Abstrahierung auf die Spitze, indem es als Mittel mit dem höchsten Grad an Flexibilität verspricht, über einen unbestimmten Zeitraum hinweg und unabhängig von spezifischen zwischenmenschlichen Interessen- und Sympathielagen seinen symbolischen Wert jederzeit zu materialisieren.56 Eben diese Flexibilität, die auf einer spezifizierbaren Vertrauensgrundlage fußt, bietet zugleich jedoch das Potenzial, dass das Geld zur herrenlosen Gewalt mutiert: Die mythologische Zuschreibung, dass es über seinen rein symbolischen Wert hinaus von »eigener Wichtigkeit, Hoheit und Würde« (CL 379) sei, wird zum Umschlagpunkt, der zur rasanten Bedrohung menschlicher Existenz wird.57 Barth zeigt darüber hinaus, was die lebensabträgliche Dialektik der Fetischisierung des Geldes auslöst und begünstigt: Es ist neben der höchst flexiblen Symbolik des Geldes die »konventionelle[] Fiktion«, die das menschliche Vermögen zu quantifizieren und darin kleinste Veränderungen nachzuvollziehen erlaubt: »Das Ding, das ihn [den Menschen] dazu macht, indem er als Vermögender darüber verfügt, ist jetzt nicht die Scheune und ihr Inhalt [...] – das eigentlich interessante, ihm verfügbare Ding ist jetzt sein größeres oder kleineres ›Bißchen‹ Geld« (CL 381). Auch hier kommt es wieder zu einer Umkehrung der Beherrschung, die sich im Nutzen dieser Größe kleidet: das Geld, das der Mensch zu haben meint, während es in Wahrheit ihn hat, und zwar darum hat, weil er es ohne Gott haben will und damit das Vakuum schafft, in welchem es an sich eine harmlose, ja brauchbare Fiktion, zum absolutistischen Dämon und in welchem der Mensch selbst dessen Sklave und Spielball werden muß (CL 382).
Barth zeigt mit seiner Analyse, wie komplexe Gesellschaftsformen auf der wertsymbolisierenden Funktion des Geldes erst entstehen können. Zugleich macht er 56 57
Zur wechselseitigen Beleuchtung von Theologie und Geldtheorie vgl. Hagen und Welker, Money as God? und Ruster, Der verwechselbare Gott, 124-165. Darin zeigt sich die Parallele zwischen den herrenlosen Gewalten und dem, was Barth in KD III/3 mit einer formallogischen Begründung als »das Nichtige« bezeichnet: Beide leben aus der Einforderung und der Zuschreibung einer bestimmten Geltung, aufgrund derer sie zu lebensbestimmenden und -zerstörerischen Wirklichkeiten werden. Es geht in Beidem um Entitäten, die aus einer negativen Dialektik heraus zu Phänomenen des Bösen werden. Dabei ist jedoch zu betonen, dass es sich bei den herrenlosen Gewalten um Resultate menschlicher Möglichkeiten handelt, wohingegen das Nichtige eine eigene ontologische Größe beschreibt, die keinem geschöpflichen Potenzial entspringt, sondern bei Barth einen erwählungstheologischen Grund hat. Vgl. zu dieser kategorialen Unterscheidung auch Klein, Depotenzierung der Souveränität, 255 Anm. 373.
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deutlich, welche Verlockungen von diesem Instrument ausgehen, die zu einem Kippen der Souveränitäten führen. So ist der Kapitalismus in seinen vulgären Formen nicht mehr Mittel, sondern wird zu einer beherrschenden Gewalt, die Unmenschlichkeiten nicht nur verstärkt, sondern deren Ursache ist. Barth bietet jedoch in diesem Zusammenhang keine Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem an; ihm geht es auch nicht darum, System gegen System zu stellen. Barth zeigt hier vielmehr ein analytisches Gespür für den idealtypischen Umschlagpunkt und die Dynamiken, welche die Emanzipation der Mächte von ihrer Kontrollierbarkeit durch den Menschen begünstigen. Ideen und Ideologien Der Mensch ist in der Lage, geistige Gebilde zu erschaffen. Er ist imstande, Anschauungen seiner Innen- und Außenwelt zu systematisieren, in Begriffen zu sammeln und in Form von Wissen zu reflektieren. »Er kann sich überzeugen oder überzeugen lassen von der Notwendigkeit, bei dem, was er im Einzelnen und Konkreten weiß und will, denkt, sagt und tut, zunächst von diesen und diesen theoretischen und praktischen Ideen« (CL 383). So werden Ideen und ihre Strukturierung zu wirkungsvollen und erfolgreichen heuristischen Mitteln der kognitiven Bewältigung komplexer Probleme. Sie werden als Produkte des menschlichen Geistes zu dessen Werkzeug, indem sie bestimmte geistige Entwicklungen durch ihre strukturierende Leistung evozieren und plausibilisieren. Dieser Prozess ist jedoch zugleich die dem Phänomen der Ideen inhärente Gefahr: Eine Gefahr, die sich auftut, wenn Ideen zu Idolen, zu (Grund-)Prinzipien und »die ganze Fülle seiner Anschauungen und Begriffe in ein System, seine Ideen in einer Ideologie zusammengefasst werden und wieder entfaltet werden sollen« (CL 384). Als herrenlose Gewalten wird die Heuristik zur Scheuklappe und verwehrt sich damit den Entwicklungen des lebendigen Geistes: »Alle seine Erwägungen, Bemühungen, Bestrebungen sind nun durch sie prädestiniert, rollen nun wie Kugeln auf einer schiefen Ebene ihrer weiteren Bestätigung, ihrem Triumph entgegen« (CL 384). Dabei bleibt der Übergang von der Heuristik der Ideen zur Verblendung der Ideologie nur formal durch die Revidierbarkeit ersterer bestimmbar. In der Praxis stellt sich dieses Kriterium jedoch als problematisch heraus: Denn jede Heuristik braucht ein notwendiges Maß an Stabilität, um ihre Wirkung zu entfalten. Sie hat sich in einer hinreichend komplexen Problemlage zunächst zwingend gegenüber kontingenten Anschauungen zu behaupten, um überhaupt ihr strukturierendes, begreifendes Potenzial entfalten zu können. Aus eben diesem Grund ist in öffentlichen Debattenlagen der wechselseitige Ideologievorwurf ein Stück weit in der Funktionsweise der Idee selbst begründet. Es stellt sich daher die Frage, ob die Leitunterscheidung zwischen Idee und der Ideologie daher über-
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haupt selbst heuristische Qualität zu bieten hat. Den Umschlagpunkt der Ideen zur Ideologie allein am formalen Kriterium der Revidierbarkeit festzumachen ist jedoch nicht hinreichend, da (neben den äußeren erschwerenden Faktoren einer solchen Revision) der Moment einer notwendigen Brechung einer Heuristik nicht theoretisch bestimmbar ist. Wieder bietet Barth hierfür keine Lösung – auch keine theologische. Stattdessen belässt er es bei der Sensibilität für die Problematik der Autarkie von Ideen, die zu unmenschlichen Ideologien werden. Kulturen und Hysterien Als viertes Beispiel herrenloser Gewalten beschreibt Barth die chtonischen Mächte, die die leib-geistige Einheit menschlicher Existenz bestimmen. Barth verweist auf die kulturelle Ermächtigung der Erde als den Teil der Schöpfung, der dem Menschen gestaltbar zugänglich ist: »Er erforscht sie, er macht sie für sich brauchbar, er stellt sie als ihr Herr in seinen Dienst« (CL 389). In seiner kreativen Freiheit ist auch der Mensch dazu bestimmt, gestalterisch in der Natur zu wirken. Wieder bildet eine klare Ordnungsvorstellung für Barth die Grundlage für seine Überlegungen: Der Mensch sei »Herr der Natur, indem er Gottes Knecht ist« (CL 389). In der schöpfungsgemäßen Unterordnung des Menschen unter seinen Schöpfer ist ihm selbst eine schöpferische Freiheit zur Entfaltung seiner Künste gegeben. So wird der Mensch zum Schöpfer der Kultur. Barth illustriert diese Kreativität mit einem Durchgang durch die ihm vor Augen stehenden Bereiche profaner Kultur, als da wären: Technik, Mode, Sport, Vergnügen und Verkehr.58 Kulturelle Errungenschaften, wie sie Barth vor Augen stehen, bereichern das Leben. Sie sind als lebensdienliche Schöpfungen Ausdruck der gestalterischen Freiheit des Menschen. Dabei weisen sie auf eine eigentümliche Spannung zwischen Dienlichkeit und der Zwecklosigkeit der Polyphonie des menschlichen Lebens hin. Aus eben jener Spannung heraus erwächst jedoch das gefährliche Potenzial ihrer Herrenlosigkeit: Sicher er [der Mensch] ist es, der sie entdeckt, ihre Verwendbarkeit zu seinem Dienst erfindet. [...] Aber eben automatisch, in Eigenbewegung rumoren, wirken, rollen, rauschen, knattern sie nun doch außer ihm, ohne ihn, an ihm vorbei, über ihn hinweg. Eben ihrem von ihm vorgegebenen Gesetz, eben ihrer von ihm freigegebenen Mächtigkeit findet er sich nun seinerseits unterworfen (CL 390). 58
Barth belässt es in seinen Ausführungen bei einer kurzen Notiz zur Technik – bereits für einen Text in den 1960er Jahren hellsichtig und darum wissend, dass die Herrenlosigkeit dieser Gewalt nicht mehr eigens zu begründen ist. Überraschender ist hingegen, wie sparsam er die künstlerische Kultur betrachtet. Er subsumiert sie als Aspekt des Geschmacks und ordnet sie dem Feld der Mode unter (vgl. CL 391).
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Zum Wendepunkt werden auch hier die autopoietische Stabilität und die selbstverstärkende Dynamik kultureller Errungenschaften, die aufgrund ihrer erwiesenen Funktionalität zum Selbstzweck werden. Barth geht es dabei nicht allein um mechanistische Gesetzmäßigkeiten, sondern vor allem um die (Selbst-)Potenzierung ihrer Bewegungen: Die herrenlosen chtonischen Mächte haben alle eine Form der Hysterie zur Folge, indem sie in ihrer Eigengesetzlichkeit ein gesellschaftliches Interesse für sich selbst evozieren. Indem sie in sich selbst ihren Zweck bergen, werden sie zur Quelle neuer Bedürfnisse und Begierden: »Kleine Sorgen nehmen sie ihm ab, aber nur um ihm andere, größere zu bereiten. Mut, erhöhte Lust zum Dasein scheinen sie ihm zu verheißen, vermehrte Sorge um sein Dasein ist die Erfüllung ihrer Verheißung« (CL 390).59 Auch hier lässt sich jedoch der Übergang zwischen begeisternder Kultur und der Hysterie, welche die chtonischen Mächte hervorrufen, nicht trennscharf bestimmen.60 Es ist davon auszugehen, dass gerade im komplexen Rahmen einer Hamartiologie des Sozialen die Unterscheidung zwischen lebensdienlichen und lebensabträglichen sozialen Dynamiken nicht mit letzter Gewissheit entschieden werden kann. Über Barth hinaus müsste man daher an dieser Stelle nach der herrenlosen Gewalt der Moral fragen, die mit der Intention lebensförderlicher Unterscheidungen ebenjene mit notwendiger Gewissheit zu bestimmen sucht und damit zur moralischen Herrschaft über den Menschen und damit zur Unmenschlichkeit verleitet. Insofern fällt es auch nicht letztgültig der Ethik zu, der Unordnung der herrenlosen Gewalten mit anderen Ordnungen entgegenzutreten. Auch ist dem Kontext dieser Überlegungen genaue Beachtung zu schenken: Zwar findet sich Barths Theorie der herrenlosen Gewalten in der Ethik, sie ist aber zugleich verflochten in Andeutungen zu einer Eschatologie, die an die Christologie von KD IV/2 anschließt und sich im Symbol des Reiches Gottes verdichtet. Dieses – und nicht eine alternative menschliche Macht – stellt sich als »Damm« der Herrschaft der 59
60
Neben der Gottlosigkeit als Bedingung der Genese der Gewalten (CL 364) und der Unmenschlichkeit politscher Absolutismen (CL 374), bildet die falsche Sorge, die durch die chtonischen Mächte hervorgerufen wird, eine weitere direkte semantische Verbindung zwischen der Hamartiologie aus KD IV/2 und Barths sozialer Hamartiologie der herrenlosen Gewalten. Damit gibt es in drei der vier von Barth herausgearbeiteten Grundrelationen des Menschen direkte sprachliche Korrespondenzen zwischen diesen beiden Werkteilen. Dass die Dimension des leib-geistigen Selbstverhältnisses des Menschen hier außen vor bleibt, liegt vermutlich daran, dass diese Relation stärker als die anderen aus Barths personaler Perspektivierung hervorgeht und somit in Barths sozialer Hamartiologie weniger Beachtung findet. Möglicherweise hätte eine intensivere (und vom grundlegenden Kulturpessimismus dieses Textes befreite) Beachtung der Kunst wertvolle Einsichten in die Notwendigkeit einer Autarkie der Kultur gegeben. Vgl. dazu die ethischen Überlegungen in Modell II (vgl. Kap. 2.5.2) Zur wahren Entfaltung der Polyphonie menschlichen Lebens ist gerade die eigenständige und unverzweckte Entfaltung einzelner Kulturbereiche als Erweiterung von Imaginationsräumen und die rein immanent begründete Begeisterung in Form von öffentlicher Aufmerksamkeit zu würdigen.
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herrenlosen Gewalten entgegen: »Dem Reich der menschlichen Unordnung das Reich der göttlichen Ordnung« (CL 399).61 Der Entfaltung dieses eschatologischen Symbols, das die Überwindung der Mächte der Unmenschlichkeit anzeigt, widmet sich der folgende Abschnitt.
4.4 Erlösung als Kommen des Reiches Gottes Die Christologie der Menschlichkeit Jesu Christi steht in systematischem Zusammenhang mit einer Eschatologie des Reiches Gottes. Mit diesem Symbol trägt dieses Modell erlösungstheologisch dem christologischen Satz Rechnung, dass Jesus Christus die Verwirklichung der Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen ist: »Sein Reich, seine Herrschaft, sein Königtum ist konkret das Reich, die Herrschaft, das Königtum dieses von ihm in die Gemeinschaft mit seinem Sein und Werk erhöhten Menschen« (KD IV/2, 173). Barths Äußerungen zum Reich Gottes sind – wie oben beschrieben – eng mit seiner Ethik sowie mit einer Ekklesiologie verbunden, die im Zeichen der Zeugnisgemeinschaft der Gemeinde stehen.62 Darin ist festzustellen, dass die phänomenalen Kennzeichen Jesuanischer Humanität (die Neuheit, Parteilichkeit und Leiblichkeit) in der Beschreibung des Kommens des Reiches Gottes wiederkehren.
4.4.1 Jesus Christus – das Reich Gottes in Person Der Begriff des »Reiches Gottes« ist in der Versöhnungslehre Barths durchweg christologisch bestimmt: Barth entfaltet dies epistemologisch wie material, insofern er Jesus Christus gar mit dem Reich Gottes gleichsetzt.63 Angesichts dieser exklusiven Formulierung ist es wenig überraschend, dass Barth zunächst einige negative Abgrenzungen vollzieht: Es sei unmöglich »sich von ihm auch nur eine Utopie zu machen« (CL 409). Er vollzieht diese Abwehr in ähnlicher Absicht, 61
62
63
Die Entfaltung dieses Gedankens findet sowohl in den Fragmenten zur Versöhnungsethik als auch in der Christologie von KD IV/2 angedeutet. Dabei entspricht die mächtekritische Kontrastierung in der Ethik durch die Reichsbitte der in der Christologie in KD IV/2 begründeten Einheit von Sozialität und Personalität in der Person Jesu Christi, der selbst diese Bewegung gegen die Gewalten der Welt ist: »Das Reich Gottes offenbart sich ja in diesem Ruf: inmitten aller Reiche dieser Welt ihnen allen gegenüber, ihnen allen widersprechend und widerstehend, die in der Existenz des Menschen Jesus schon proklamierte, ja schon vollzogene Revolution Gottes« (KD IV/2, 614). Der hier untersuchte Textbestand erstreckt sich aus diesem Grund ebenso auf die christologischen, soteriologischen und ekklesiologischen Abschnitte in KD IV/2 sowie auf die Passagen in den Nachlass-Fragmenten zu KD IV/4 Das christliche Leben, die den christologischen Zugang zu einer Eschatologie des Reiches Gottes fortführen. Vgl. KD IV/2, 743 und 745. Darüber hinaus explizit in KD IV/1, 227.273 und KD IV/3, 118.206.686.815.
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wie dies schon in Bezug auf die Zwei-Naturen-Lehre herausgestellt worden ist: Barth führt die konkret geschichtliche Wirklichkeit Jesu gegen eine eschatologische Utopie eines Reiches Gottes an sich ins Feld. Das Reich Gottes sei dagegen nur in seinem faktischen Vollzug im Seinsmodus seines Kommens zu beschreiben; und so führt auch für die Eschatologie dieses Modells kein Weg an einer Kritik theologischer Abstraktionen von der konkret geschichtlichen Wirklichkeit vorbei: Das Reich Gottes ist nicht auszusagen. Es ist gerade nur wirklich, indem es geschieht, daß Gott selbst als König und Herr kommt, Gerechtigkeit in unserem Verhältnis zu ihm und in unseren Verhältnissen zueinander begründet und so den Frieden auf Erden schafft (CL 406).
Dieses Kommen Gottes ist das Kommen Jesu Christi, dem »Reich Gottes in Person«. Barths christologische Fassung des Reich-Gottes-Begriffs führt darüber hinaus dazu, dass dieses Modell nicht in einer futurischen Eschatologie aufgeht, sondern im vielschichtigen Ineinander von Verheißung, Leben in der Liebe, Bitte um das Kommen des Reiches und der Antizipation der Erfüllung dieser Bitte in ihrem Vollzug präsentische und futurische Elemente verbindet.64 Das Kommen des Reiches Gottes ist die eschatologische Entsprechung zur in Jesus Christus Wirklichkeit gewordenen Gemeinschaft von Gott und Mensch. Als diese Realisierung gilt – wie in der Phänomenologie jesuanischer Menschlichkeit herausgearbeitet wurde – insbesondere Gottes Solidarisierung mit der vulnerablen und erlösungsbedürftigen Schöpfung. Schöpfung und Erlösung sind daher in diesem Symbol gerade nicht kategorial zu unterscheiden, sondern unvermischt und ungetrennt aufeinander bezogen zu denken. Erlösende Solidarisierung heißt in diesem Sinne auch geschöpfliche Transformation: In dieser Bezogenheit äußert sich gerade die radikale Neuheit und Inkommensurabilität des Reiches Gottes zu allen »Gegebenheiten«, »Lebensordnungen« und »Geschichtsmächten«, gegen die es gleichsam einen »Angriff« darstellt (KD IV/2, 615). Das Reich Gottes ist daher nun in jener transformierenden Kraft nachzuzeichnen, die Barth mal kritisch als Überwindung »von oben« und dann wieder als emergierende Veränderung aus der Konvivenz von Gott und Mensch, aus deren »Begegnung« und »Partnerschaft« fasst (KD IV/2, 382). Die in Christus reale Gott-Mensch-Gemeinschaft ist eine transformierende Gemeinschaft. Barth verknüpft dabei trinitarische und soteriologische Momente, die er als das Wirken des Geistes beschreibt: Es ist der Heilige Geist, der jene Gemeinschaft schafft – »die Gemeinschaft, die Einheit, der Friede, die Liebe nämlich, die in Gott ist, in 64
Wie später noch herausgearbeitet werden soll, kommt inbesondere der Gemeinde als der um das Kommen des Reiches Gottes bittenden Gemeinschaft entscheidende Bedeutung zu: Denn die Bitte um das Reich Gottes »hat ihren Grund darin, daß sein Kommen nicht nur bevorsteht, sondern schon Ereignis ist« (CL 427).
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der Gott Gott war und ist und sein wird von Ewigkeit zu Ewigkeit. Wir reden von der Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes« (KD IV/2, 381). Diese pneumatologische Einsicht führt Barth dann soteriologisch fort: Derselbe Geist ist es, der die Gemeinschaft zwischen Gott und uns Menschen schafft und damit die Versöhnungstat Jesu Christi in der Menschheitsgeschichte Wirklichkeit werden lässt: »Gott selbst handelt in eigenster Sache, wenn er im Heiligen Geist zwischen dem Menschen Jesus und uns anderen Menschen in die Mitte tritt« (KD IV/2, 383). Diese durch den Geist geschaffene Verbindung ist das zentrale Charakteristikum der Lebensform des Reiches Gottes: In augustinischer Tradition beschreibt ihn Barth als die Liebe – konkret: die christliche Liebe. In ihr realisiert sich das christliche Leben als ein von Gottes Wirken bestimmtes, versöhntes und erlöstes[!] Leben: Nur indem und sofern der Christ liebt, wird und ist die ewige Zukunft seines und alles Daseins mitten in dessen zeitlichem Vollzug, indem sie noch fern ist, schon nahe, indem sie noch Zukunft ist, schon Gegenwart. Nachglanz der Auferweckung Jesu Christi von den Toten (KD IV/2, 948).
Barth schildert die durch den Heiligen Geist gewirkte Liebe als die Verbindung zwischen der Zukunft des Reiches Gottes und seinem Hereinbrechen in diese Schöpfung. Die Liebe charakterisiert das Zusammenleben dieser eschatologischen Gemeinschaft, die Barth den »ewigen Dienst der Kreatur im Lichte der letzten und abschließenden Offenbarung der Königsherrschaft Jesu Christi« nennt. Daher ist der Dienst der Liebe bereits »Vorglanz der Wiederkunft Jesu Christi und also der Vollendung, der Erlösung, indem und sofern er Liebe ist« (KD IV/2, 949). Gottes Humanität ist seine Mitmenschlichkeit, d.h. seine Solidarität mit dem Menschen. Christen seien daher »von Haus aus ›Humanisten‹« (CL 463): »Wie es den Christen in der Bitte um das Kommen des Reiches nur um Gott selbst gehen kann, so in ihrem sonstigen Denken, Reden und Tun nur um den Menschen selbst« (CL 466).65 Diese Einsicht bestimmt innerhalb dieses Modells das Verhältnis von Kirche und Welt: Denn die christliche Gemeinde als Gemeinschaft der Geheiligten existiert nicht allein in der Unterscheidung von der Welt, sondern selbst in tiefer Solidarität und Anteilnahme am Weltgeschehen. Zugleich relativiert Barth diese Solidarität nicht, wenn er feststellt, dass diese Gemeinschaft nicht Identität bedeutet. Dem chalcedonensischen unvermischt und ungetrennt entspricht demnach ekklesiologisch Barths dialektische Bestimmung dieses Verhältnisses: »Der Weg der Christen kann nun einmal, wie solidarisch sie sich mit 65
Wie im abschließenden Kapitel dieser Modellanalyse noch zu zeigen ist, ist aber mit Barth eine kritische Stimme gegenüber eines vom konkreten Menschen abstrahierenden Humanismus als Ideal zu erheben. Zugespitzt bedeutet dies, dass für Barth Humanismus kein ethisches, sondern ein erkenntnistheoretisches Paradigma ist.
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ihr wissen und verhalten mögen, nicht der der Welt – wohl am allerwenigsten der einer vermeintlich christianisierten Welt – sein« (KD IV/2, 690).66 Und daher spielt in diesem Modell die Gemeinde als Gemeinschaft, die durch ihre zeugnisgebende Nachfolge gekennzeichnet ist, eine eschatologische Rolle: »Die Gemeinde ist nicht das Reich Gottes. Aber das Reich Gottes ist – in seiner irdisch-geschichtlichen Existenzform von Sündern unter Sündern verkündigt und geglaubt, indem Unheilige in Erkenntnis seines Anbruchs Gottes Heilige sein dürfen – die Gemeinde« (KD IV/2, 742). Dies kann als ekklesiologische Interpretation der Anhypostasie verstanden werden: Denn auch wenn Barth der Gleichung Reich Gottes = Gemeinde entschieden widerspricht, so ist damit doch deutlich ausgesagt, dass die Gemeinde in all ihren menschlichen, allzu menschlichen Lebensformen, die sich in ihrer geschichtlich-empirischen Gestalt niemals der Macht der Sünde wird entziehen können, einen Anteil an diesem Reich hat. Mit dieser christologischen Begründung der Ekklesiologie ist allerdings auch klar herauszustellen, dass weder ihre eigene Existenz noch ihre distinkte Erkennbarkeit als solche ihrem eigenen Möglichkeitsspielraum entspringt.67 Darum soll auch der systematische Zusammenhang von Ekklesiologie und Ethik nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim Reich-Gottes-Begriff um einen eschatologischen Begriff handelt, der auf eine Transformation des menschlichen Zusammenlebens hinweist, ohne dabei die Geschöpflichkeit des Menschen zu transzendieren. Das »Reich Gottes« [...] ist die von Gott selbst und so von oben, vom Himmel zu erwartende und hereinbrechende universale und definitive Offenbarung seiner die Menschheit richtenden und aufrichtenden Gerechtigkeit – die Herraufführung seiner vollkommenen Herrschaft in den menschlichen Verhältnissen und Beziehungen und so die Aufrichtung seiner heilsamen Ordnung des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Das Reich Gottes ist Gott selbst in der Tat seiner Normalisierung des menschlichen Daseins und also Gott selbst seiner Tat der siegreichen Überwindung der die Menschheit noch und noch beherrschenden Unordnung (KD IV/2, 361).
Trotz Rekurrierens auf die Schematisierung von Ordnung und Unordnung und die damit systematische Nähe zum Modell der Chaosbegrenzung und -überwindung (vgl. Kap. 2.1.3), zeigt sich hier eine deutliche Differenz dieses Modells: 66
67
Da Barth das Verhältnis von Kirche und Welt in diesem Modell analog zu den chalcedonensischen negativen Formulierungen fasst, lässt sich an dieser Stelle nicht mehr als eine solche dialektische Bestimmung formulieren. Jedoch entwickelt das letzte in dieser Studie analysierte Modelle eine Hermeneutik der Unterscheidung von Kirche und Welt (vgl. Kap. 5.4.4). Dies stellt Barth im dritten Band seiner Versöhnungslehre explizit heraus, welcher als Grundlage für das letzte in dieser Studie zu rekonstruierende Modells ist: »die Gemeinde ist, indem Jesus Christus sie durch den Heiligen Geist werden lässt« (KD IV/3, 868).
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Modell 4: Humanität und Reich Gottes
Die Transformation der erlösungsbedürftigen Schöpfung geschieht nicht als Alterierung ihrer Geschöpflichkeit zugunsten einer Neuen Schöpfung, sondern die Neuheit des Reiches Gottes ist in der Normalisierung menschlicher Relationen begründet. Sie ist die Realisierung von Mitmenschlichkeit als Bedingung der Möglichkeit des wahren Menschen. Diese Normalisierung schließt Gottes Kritik an diesen Relationen mit ein. Auf diese disruptiven Momente ist im Folgenden einzugehen.
4.4.2 Die Dramatik des Reiches Gottes Barth beschreibt das Reich Gottes in seiner Dynamik als »kommend« und zugleich als »Normalisierung« menschlicher Verhältnisse. Darin drückt sich das besondere Ineinander präsentischer und futurischer Aspekte innerhalb dieses Modells aus. Das Kommen des Reiches Gottes ist gerade in seiner Bezogenheit auf diese Welt und diese Schöpfung jedoch auch ein disruptives Geschehen. Die mit der Vorstellung der unio hypostatica dargestellte Mitmenschlichkeit Jesu Christi als Verwirklichung der Gott-Mensch-Gemeinschaft ereignet sich als Gottes Partizipation an der Situation des Menschen; sie erschöpft sich jedoch nicht in deren Affirmation. Barth zeigt (wieder in Anschluss an die neutestamentlichen Berichte) großes Interesse dafür, die daraus resultierenden kritischen Momente hervorzuheben, die dieses Miteinander auch zu einer Auseinandersetzung werden lassen. Anhand dessen lässt sich ein Verständnis dessen erschließen, was Barth mit der Normalisierung der Verhältnisse meint und dass sich diese nicht allein als eine Affirmation der menschlichen Lebensverhältnisse verstehen lassen. Jesu Erbarmen ist ein streitbares Erbarmen, das sich Unmenschlichkeiten zugunsten der Mitmenschlichkeit entgegenstellt (vgl. KD IV/2, 257). Der in diesem Modell dominanten Dynamik der Vereinigung ist also zugleich ein Prozess der Differenzierung eingeschrieben, aus der dieses Modell seine eschatologischtransformative Kraft gewinnt. Der Würdigung und Heiligung der Menschlichkeit entspricht die Ablehnung des Bösen als Unmenschlichkeit in seinen verschiedenen leiblich und sozial destruktiven Facetten. Das Reich Gottes überwindet menschliches Leiden und unterbricht Wirkungszusammenhänge der Sünde, die jenes Leiden evozieren: »Das Kommen des Reiches Gottes [...] geschieht als Tat Gottes nicht in Fortsetzung jenes tief problematischen Kreislaufs, nicht als eine jener Wiederholungen und Variationen des Gleichen« (CL 401f.). Als diese Unterbrechung ist es Gottes Tat und damit »das ganz Neue« (CL 409), worauf insbesondere die ntl. Wunderberichte hinweisen. Besonders plastisch wird dies in Barths Aufnahme der neutestamentlichen Heilungserzählungen. In diesen Erzählungen kommt die transformative und disruptive Dynamik dieses Modells zeichenhaft zum Tragen: Die geschichtliche Verwirklichung der
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Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen drückt sich aus im Handeln Jesu, das Barth in großer Regelmäßigkeit als »Kampfhandlung« (vgl. KD IV/2, 257) und darüber hinaus als die »Revolution Gottes« (KD IV/2, 615) bezeichnet.68 Doch steht auch dieser Kampf im selben Vektor wie schon die Heiligung: Ist die Heiligung die Realisierung wahrer Menschlichkeit, so ist der Kampf des Reiches Gottes gegen die Unmenschlichkeit ein subversiver Kampf des Friedens, der niemals den Menschen zum Gegner hat: Er kommt und mit ihm jener »Frieden auf Erden unter den Menschen seines Wohlgefallens« (Luk. 2,14), d.h. unter den von ihm erwählten, geschaffenen, geliebten, geretteten und bewahrten Menschen. Dieser Friede auf Erden, verwirklicht, indem Gott selbst als König und Herr kommt und ihn schafft und aufrichtet, ist das Reich Gottes (CL 405).
Dies geht mit Barths Einsicht einher, dass sich das in den Heilungserzählungen abzeichnende konfrontative Geschehen nicht personal und hamartiologisch differenzieren lässt – Gottes Kampf ist kein Kampf gegen Menschen. Denn wie gezeigt, stellt die anthropologische Perspektive dieses Modells (im Gegensatz zum juridischen Modell) von einer Täter- auf eine Opferperspektive um: In Bezug auf die biblischen Schilderungen von Heiligungen und Exorzismen stellt Barth fast beiläufig fest: »daß der Mensch ein Sünder und also Gottes Feind ist, wird in diesen Erbarmens- und Kampfhandlungen Jesu nicht in Betracht gezogen, dem Menschen nicht angerechnet« (KD IV/2, 257). Systematisch betrachtet, stellt daher die Rechtfertigung des Sünders, wie sie im vorigen Kapitel anerkennungstheoretisch ausformuliert wurde, bereits die Bedingung für die Zuwendung Jesu Christi zu den Menschen.69 68 69
Den Zusammenhang von christologischer und kosmologischer Kampfmetaphorik Barths im Horizont der Eschatologie betont Thomas, Neue Schöpfung, 170–174. Barths eigene Formulierung, dass die Wundertaten Jesu »an seiner [des Menschen] Sünde vorbei oder über sie hinweg oder durch sie hindurch« geschehen, weist auf Grundstrukturen des im vorangehenden Kapitel entwickelten Verständnisses von Rechtfertigung als Verkennung des menschlichen Sünderseins hin (vgl. KD IV/2, 248). Damit lässt sich zeigen, dass dieses Modell der Humanität über sich hinaus auf die grundlegende Bedeutung der Überwindung der Kategorie des Rechts in der rettenden Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen zurückweist. Mit Blick auf die in diesem Modell zentrale theologische Deutung von Krankheit gewinnt diese Verschiebung große Bedeutung: Sie überwindet nicht nur die Bedeutung der Kategorie des Rechts für die Gott-Mensch-Gemeinschaft, sondern entflechtet zugleich auch die in der Christentumsgeschichte folgenschweren Verbindungen von Krankheit und Sünde. Dass diese Entflechtung den theologischen Zusammenhang von der Rechtfertigung sola fide und Heilung nicht grundsätzlich obsolet macht, sondern einen Ausnahmefall der kanonischen Überlieferungen darstellt, unterstreicht Günter Thomas: »Eine strikte kausale Koppelung von Sünde und Krankheit sowie von Vergebung und Heilung wird [in den Evangelienüberlieferungen] vielfältig problematisiert, ja zurückgewiesen. Menschliche Sünde ist nicht die Ursache von Krankheit und der Erfahrung von Vergebung und Glaube entspricht nicht unmittelbar das Ereignis von Heilung. [...] Die Trennung von Heilung und Glaube ist eine mögliche Randlage des Handelns Jesu« (Thomas, »Krankheit im Horizont der Lebendigkeit Gottes«, 517).
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Modell 4: Humanität und Reich Gottes
Die in Jesus Christus realisierte Gemeinschaft mit dem Menschen führt Gott in die Nähe menschlichen Leidens, das er in Christus nicht nur mitleidig und barmherzig begleitet, sondern das ihn zu einer Entscheidung nötigt: »Gott will das nicht, was den Menschen plagt, quält, stört und zerstört« (KD IV/2, 249). Und so ist Jesu Erbarmen ein »schlechthin streitbare[s] Erbarmen« (KD IV/2, 257), das Gottes Widerwillen gegen das zum Ausdruck bringt, was den Menschen in seinem Menschsein bedroht. Dem Willen zur Mitmenschlichkeit Gottes entspricht daher ein Unwillen gegenüber der Unmenschlichkeit, die das Leben dieser Menschen bedrückt, gefährdet und tötet. Um die besondere Struktur dieses Modells plastisch zu machen, lohnt sich wiederum ein kurzer Vergleich mit dem anhand von KD III/1 herausgearbeiteten Modell der Chaosbegrenzung und -überwindung: Dort entwickelt Barth die Vorstellung der Schöpfung als »Erstellung des Raumes für die Geschichte des Bundes« (KD III/1, 46), die als äußerer Rahmen des Bundes und damit für eine Ermöglichung von Lebensräumen steht. Der Bund als das geschichtliche Miteinander von Gott und Mensch folgt in dieser heilsgeschichtlichen Narration erst auf die Schöpfung. Gottes Intervention gegen das Chaos wird damit zur Bedingung seines Miteinanders mit seiner Schöpfung. Die Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen wird dort auf Makroebene als kosmisches Gegenüber beschrieben. Als Eröffnung des Raums des Bundes ist die Schöpfung die den äußeren Rahmen bildende Bedingung der Möglichkeit des Bundes. Umgekehrt zu der damit etablierten Möglichkeit-Wirklichkeit-Abfolge, geht das in diesem Kapitel rekonstruierte Modell der Humanität Gottes eine umgekehrte Richtung: Die in Jesus Christus realisierte Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen führt in diesem Modell nämlich erst in dieser Vereinigung auf Mikroebene zur Konfrontation mit den lebensabträglichen Mächten, die in den Wundern Jesu als deren eschatologische Überwindung vonstatten geht. Von dieser Mikroebene weisen sie als sog. »Reichswunder« auf die darin anbrechende Wirklichkeit des Reiches Gottes. Gewissermaßen ist in KD IV/2 die Begegnung von Gott und Mensch erst der Ausgangspunkt für eine kritische Differenzierung zwischen einer das Leben affirmierenden Mitmenschlichkeit und einem intervenierenden Auf- und Widerstand gegen die Macht des Bösen. Diesen Widerstand gegen die transmoralisch verstandene Macht der Sünde begründet Barth mit einer vitalisierenden Deutung der Auferstehung: »Ich bin« – das Leben nicht nur, sondern weil das Leben, weil seine Gegenwart und Kraft mitten in der dem Tod verfallenen Welt, darum – »die Auferstehung und das Leben«, das gegen den Tod sich behauptende und durchsetzende, ihn überwindende Leben (KD IV/2, 252).
Das Leben Jesu Christ, das sich in seiner Mitmenschlichkeit als aufopferungsbereites Leben für andere erweist, offenbart unüberbietbar in der Auferstehung
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seine Macht gegen die Mächte der Sünde und der Zerstörung des Lebens. Das Miteinander des wahren Menschen mit anderen Menschen äußert sich in der Auseinandersetzung mit dem Bösen als Frieden schaffendes Handeln: die Kraft der Auferstehung Jesu Christi ist daran erkennbar, daß sie den Menschen zugleich, miteinander, in den Frieden mit Gott, in den Frieden mit den Menschen und in den Frieden mit sich selbst treibt. Der Friede, den sie verbreitet, ist unteilbar (KD IV/2, 352).70
Jesu Kampf gegen die Mächte des Unfriedens muss daher als ein Streit wider den Streit verstanden werden, der allem anderen voran Frieden schafft. Er ist nicht als eine Auseinandersetzung zu denken, die um das Ziel eines höheren Friedens zu erwirken, einer sachlichen Notwendigkeit wegen in den Streit tritt. Diese sachliche Notwendigkeit des Kampfes ist ja gerade, was die herrenlosen Gewalten zu solchen macht: In der erlösungsbedürftigen Welt »können sie alle nur ruhelos und friedlos da sein und auch in ihrer Umgebung nur Unruhe und Unfrieden stiften« (CL 398). Vielmehr erschließt sich Barth aus der enhypostatisch begründeten Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen in Jesus Christus die rettende und erlösende Transformation des Menschen aus der Überwindung seiner vereinzelnden und vereinsamenden, aber auch aus seiner systemisch von der Wirklichkeit des wahren Menschen abstrahierenden Feindschaft. Das Reich Gottes ist die Überwindung dieser Kämpfe. Und so wird – wie Barth dann doch überraschend präsentisch formuliert – die menschliche Existenz in der Gemeinschaft Gottes zu einer »sturmfreie[n] Anhöhe«, die ihm »jenen guten Kampf natürlich, dieses leidige Gezänk aber, an dem er ja immer noch gar sehr beteiligt sein mag, mindestens unheimlich macht« (KD IV/2, 351). Der kritische Charakter dieser Auseinandersetzung emergiert jedoch aus der subversiven und transformativen Kraft seiner barmherzigen Gemeinschaft: »Er greift die Sünde an, indem er sich der als Sünder so elenden Menschen erbarmt« (KD IV/2, 201).71 In diesem Erbarmen wird Gottes Gnade sichtbar, die »mitten in der 70 71
Bemerkenswert sind auch hier wieder die vier anthropologischen Grundrelationen, die im Frieden stiftenden Kommen des Reiches Gottes adressiert werden. Ähnlich wie zum juridischen Modell müsste auch hier gefragt werden, ob die Eschatologie dieses Modells nicht stärker auf eine Überwindung der ihr zugrunde liegenden hamartiologischen Kategorien (die hier als Kampf in Erscheinung tritt) abzielen müsste. So erscheint das statische Gegenüber von »gutem Kampf« und »leidigem Gezänk« bei Barth nicht nur sprachlich ungeschickt; es bleibt darüber hinaus auch epistemologisch und daher fundamentalethisch völlig offen, was sowohl formale (jenseits einer einfachen theistischen Überbietung) als auch inhaltliche Kriterien dafür sein könnten, dass diese Auseinandersetzung als zu überwindender Streit und jene als Kampf um menschliche Gerechtigkeit zu gelten hat. Innerhalb dieses Modells böte sich hier an, die Phänomenologie Jesuanischer Mitmenschlichkeit zugleich zu einer Kriteriologie auszuarbeiten, die neben der formalen Bestimmung der Neuheit auch das differenzierende Kriterium der Parteilichkeit mit den wirklich Armen und dem utilitaristischen Kriterium der leiblichen Interventionspraxis zugunsten der Erhaltung und Rettung menschlichen Lebens
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Zeit, in Wiederherstellung der Glorie und des Friedens der Schöpfung und in Antizipation der Glorie und des Friedens der Endoffenbarung des Willens und des Reiches Gottes jetzt und hier schon reale Errettungen zu vollzieh[t]« (KD IV/2, 272). Das Symbol des Reiches Gottes weist daher auch auf »physische Errettung jetzt und hier schon« hin und umgreift daher also auch die naturale Grundlage dieser Schöpfung (vgl. KD IV/2, 273). Doch obwohl Barth in der Beschreibung der revolutionären Kraft des Reiches Gottes immer wieder auf eine kämpferische Semantik zurückgreift, zeigt er insbesondere hier im Übergang zur Ethik Vorbehalte: Die militia Christi wird nicht in seinem [sc. des Christen] Streit gegen Andere, sondern entschieden in seinem Streiten gegen sich selbst und dann eben darin bestehen, daß er von Anderen bestritten wird, von ihnen das Seinige in dieser oder jener Form zu leiden bekommt und daß er sich das gefallen lässt (KD IV/2, 618).72
Barth nimmt hierin also explizit die staurologische Form der revolutionären Menschlichkeit Jesu für die Ethik in Anspruch, die in der Nachfolge explizit die risikobereite Solidarität im menschlichen Handeln nach sich zieht. Denn für Barth charakterisiert das Kreuz die mimetische Verbindung von Christologie und Ekklesiologie: »Die besondere Gemeinschaft des Christen mit Christus zieht die Teilnahme an seinem Kreuzesleiden nach sich« (KD IV/2, 683). Entscheidend ist nun, dass Barth dieses Kampfgeschehen nicht allein als einen heilsgeschichtlich-teleologischen Progress beschreibt, sondern dass er ihn zugleich schöpfungstheologisch als einen Kampf für die menschliche Kreatur zuspitzt: Die Erlösung von dem Bösen führt nicht aus der Kreatürlichkeit hinaus. Sie ist »der Kampf Jesu für die Sache des Menschen als Gottes Kreatur, die von Gott zum Leben und nicht zum Tod bestimmt ist« (KD IV/2, 252). Damit gelingt es Barth auch innerhalb dessen, was dieses Modell als eschatologische Transformation beschreibt, eine Dichotomie von Schöpfung und
72
zu etablieren. Eine humanitäre Ethik, die ihre normative Kraft aus Praktiken des Erbarmens gewinnt, wäre dann folglich innerhalb dieser Dreierkonstellation auszuhandeln. Vgl. dazu auch die entsprechende Passage in den Ethik-Fragmenten: »Auflehnung, Aufstand, Widerstand und also Kampf gegen die Anfechtung auf dieser Ebene kommt genau genommen nicht in Frage [...] Hier greift entscheidend das Bild des gekreuzigten Herrn ein« (CL 452f.). Dieser Antagonismus wird dann wenig später zu einem Kampf »für alle Menschen« umgedeutet. Eine parteiliche Unterscheidung sei hier aber fehl am Platz: »Ein Denken, Reden und Handeln im Freund-Feind-Verhältnis, d.h. zugunsten eines bestimmten Kreises von Menschen zuungunsten eines anderen, wird ihre Absicht nie sein können« (CL 357). Vielmehr sei es die »Not« der Menschen, die in diesem Kampf des Reiches Gottes um Gerechtigkeit im Fokus stehe. Für eine Ekklesiologie ist daher zu bedenken, inwiefern die Kategorie der Vulnerabilität nicht in Bezug auf die Not der Menschen zur Sprache kommen müsste, sondern darüber hinaus auch die Gestalt der Kirche als irdisch-geschichtlicher Existenzform Jesu Christi kreuzestheologisch prägen müsste (vgl. Koopman, »Vulnerable Church in a Vulnerable World?«).
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Erlösung zu vermeiden: Jesu Christi Handeln erschöpft sich nicht in seiner Neuheit, sondern ist insbesondere ein restituierendes Wirken, wie es in den Wundererzählungen der Evangelien geschildert wird: In der Begegnung mit dem königlichen Menschen wird die Existenz des leidenden Menschen überwunden und so seine »Existenz als Kreatur im natürlichen Kosmos [...] normalisiert« (KD IV/2, 246). Konsequent reiht Barth daher verschiedene eschatologische Begrifflichkeiten aneinander, die in dieser differenzierenden Auseinandersetzung seiner streitenden Barmherzigkeit Intervention, Restitution und Erneuerung zusammenführen: »Darum muß gerade das Handeln des Menschensohnes als Verwirklichung und Kommentar seines Wortes zentral und entscheidend diese Spitze haben, Befreiung, Erlösung, Wiederherstellung, Normalisierung, neue Schöpfung sein« (KD IV/2, 250). Der hamartiologische Abschnitt dieser Modellanalyse hat gezeigt, dass sich mit Barth trotz der Leitkategorie der Menschlichkeit nicht nur ein anthropologisches, sondern ebenfalls ein sozial-hamartiologisches Verständnis des Bösen bedenken lässt. In der humanitären Zuwendung zum Menschen setzt er sich nicht nur therapeutisch mit dessen Leiden, sondern auch mit den überindividuell lebenszerstörenden Gewalten auseinander, die sich aus der Wirksphäre menschlicher Gestaltungsmöglichkeiten entwickelt und von dieser emanzipiert haben. Auf die Auseinandersetzung mit diesem Bösen soll daher abschließend eingegangen werden.
4.4.3 Die dramatische Antizipation des Reiches Gottes Die Rekonstruktion dieses Modells hat bis hierher gezeigt, dass Barth verschiedene semantische und dogmatische Denkformen miteinander verschränkt. In Barths Auslegung der Reich-Gottes-Bitte im Kontext seiner Ethik wird dies besonders plastisch: In der Bitte um das Kommen des Reiches Gottes schneiden sich bei Barth die Linien von Christologie, Ekklesiologie, Eschatologie und politischer Ethik. Barth hat diese Überlegungen insbesondere in der Versöhnungsethik entfaltet, wo er der Unordnung der herrenlosen Gewalten die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes gegenüberstellt. Die kreuzestheologisch begründete mimetische Verbindung von Christologie und Ekklesiologie wird also durch die antizipatorische Praxis der Bitte ergänzt und zugleich relativiert. Denn die Bitte der Gemeinde um das Kommen des Reiches Gottes ist ein politischer Akt, der selbst in der Dynamik des Kommens des Reiches vollzogen wird. Dabei ist zu beachten, dass diese Antizipation nicht auf ein kognitives Moment reduzierbar ist. Stattdessen ist diese Bitte selbst schon ein Hereinbrechen dieser Wirklichkeit und steht damit selbst in der Dynamik der kommenden Erlösung. Martin Hailer ist daher zuzustimmen, »dass genau diese Entmächtigung in der
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Reichsbitte und ihren Implikationen geschieht, die Erörterung der Entmächtigung also genau die Erörterung der Reichsbitte ist«.73 Die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes ist ein Ereignis, das selbst in der Dynamik des Kommens als dessen »Reflex« involviert ist (vgl. CL 403) und darin das radikal Neue des Reiches Gottes antizipiert (vgl. CL 425): Sie blickt über die zyklischen Wiederholungen der Geschichte hinaus in Richtung dieser außerordentlichen Neuheit. Die Bitte um dieses Reich ist nach Barth daher auch als ein Akt der Freiheit zu bezeichnen, der sich über die herrenlosen Geschichtsmächte erhebt: »Es erfordert und schafft darum auch die Freiheit zu einem menschlichen Denken und Wollen in einer neuen Dimension« (CL 402). Die Verschränkung von perfektischer, präsentischer und futurischer Eschatologie wird für Barth darum in der Reichs-Bitte relevant: »Nicht von einem ihm fremden, ihm gegenüber neutralen Ort, sondern von seinem schon geschehenen und also gegenwärtigen Kommen her blickt die neutestamentliche Gemeinde hinüber nach seinem künftigen, in Erkenntnis des göttlich Neuen ruft sie erst recht nach dessen Offenbarung von Gott her« (CL 427). Barth ruft dabei insbesondere die narrative Bedeutung der Reich-Gottes-Bitte als einen Akt der Verkündigung in Erinnerung, in deren Performanz Erinnerung und Erwartung, Dankbarkeit und Hoffnung eins werden. Dabei geht es Barth nicht allein um die transzendentale Bedeutung der ReichGottes-Imagination in dieser Bitte.74 Genau genommen hat der Akt der Bitte selbst Anteil an der Entmächtigung und Überwindung der herrenlosen Gewalten; ihre Performanz hat eine politische Relevanz, da sie in ihrer Erwartung des Reiches Gottes die Macht der herrenlosen Gewalten zu depotenzieren vermag. Sie ist – um mit Barth zu sprechen – das beste Werk menschlicher Gerechtigkeit wozu die christliche Gemeinde fähig ist und ist im Gegensatz zu allen vorläufigen Bündnissen, die geradezu nur um einer Schadensbegrenzung willen geschmiedet 73 74
Hailer, Gott und die Götzen, 357. Diesen Aspekt betont vor allem Sabine Plonz, die in ihrer befreiungstheologischen Studie zur Theologie Karl Barths die Überwindung der herrenlosen Gewalten dann für möglich erachtet »wenn sie als Kräfte des Menschen, die sich gegen ihn gewandt haben, erkannt werden« (Plonz, Die herrenlosen Gewalten, 322). Die von Barth entwickelte Theorie der herrenlosen Gewalten wird von Plonz vor dem Hintergrund einer marxistischen Fetischismus-Theorie als Instrument der Aufklärung genutzt: Es geht um eine »Entzauberung« der Welt, die sich vor allem gegen zwei Tendenzen abzugrenzen hat: Einerseits gegen eine Mythisierung und Vergötzung der scheinbaren Versachlichung im rational-wissenschaftlichen Zeitalter und andererseits gegen die Mythisierung und Verkennung der Rationalität biblischer Wahrheitserkenntnisse. Die von Plonz verfolgte Strategie in Bezug auf die Überwindung der herrenlosen Gewalten ist also auf ganzer Linie eine epistemologische. Damit erfasst sie jedoch nur einen Teilprozess in der Entmächtigung dieser Gewalten; darüber hinaus sollen aber im Folgenden insbesondere die pneumatologische und handlungstheoretische Deutung Martin Hailers sowie die christologisch präzisierte ideologiekritische Deutung Rebekka Kleins stärkere Beachtung finden, die über Plonz’s Analyse hinausgehen; vgl Hailer, Gott und die Götzen und Klein, Depotenzierung der Souveränität.
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sind, »das Echteste, Stärkste, Wirksamste, was von menschlicher Seite [...] in diesem Kampf geschehen kann« (CL 451).75 Über den reinen religions- und ideologiekritischen Erkenntnischarakter der Reich-Gottes-Bitte hinaus76 stellt Martin Hailer deren pneumatologisch begründete handlungstheoretische Implikationen heraus. In beachtlicher Nähe zu einer transzendentalen Eschatologie, wie sie Jürgen Moltmann entworfen hat77 , betont Hailer, dass das Handeln der Betenden von ihrer Bitte affiziert und inhaltlich bestimmt werde: »Dass Gott kommt und dass er sein Reich dereinst ganz aufrichten wird, hat für sie eine verändernde Kraft, die sowohl ihr Leben als auch ihr Handeln beeinflusst. Sie können gar nicht mehr anders, als in einer Weise zu handeln, die dieser neuen Wirklichkeit entspricht«.78 Dabei wird jedoch gerade der Unterschied zwischen Gottes erlösendem Handeln und der menschlichen Wirksphäre unter den Bedingungen einer noch nicht erlösten Welt gewahrt. Hailer weist daher auf die von Barth selbst eingeführte Unterscheidung zwischen Gottes Iustitia und menschlicher iustitia hin: »Die kleine iustitia ist Ausdruck des Wunsches, Gottes Solidarität mit den Menschen nach Kräften zu entsprechen und also dort tätig zu werden, wo deutlich wird, dass des Menschen Würde unter die Mächte geraten ist.«79 In ihrer Studie zu der Frage nach Möglichkeiten der Depotenzierung von Souveränität betont dagegen Rebekka Klein die Bedeutung der Christologie für die Überwindung der herrenlosen Gewalten. Sie fragt nach der Verbindung der Macht Gottes in ihrer Konkretion in Jesus Christus angesichts der Mächte. Zur rettenden Macht wird Christus in Barths Theologie darum, weil er als »einzig reale Wirklichkeit vor deren Verblendungen und Illusionen ›erretten‹ kann«.80 Gegenüber der Pseudowirklichkeit der herrenlosen Gewalten ginge es Barth um das Reale, den wirklichen Menschen: Gedacht und imaginiert werden könne Menschlichkeit und Versöhnung auch anders, aber allein in Christus als dem Versöhner von Gott und 75
76 77 78 79 80
Nur im Lichte dieser Bitte geht Barth dann auch auf die Frage nach »menschlicher Gerechtigkeit« ein, die »auch im besten Fall, nur eine unvollkommene, brüchige, tief problematische Gerechtigkeit sein wird« (CL 458). Diese Gerechtigkeit kann – will sie wirklich so heißen – immer nur in ihrer »Beziehung zum Reich Gottes und also zu Gottes vollkommener Gerechtigkeit« gesucht und kritisiert werden (CL 460). »Das heißt aber: der eigentliche, der erstlich und letztlich interessante Gegenstand der Aufmerksamkeit, ihrer Liebe, ihres Wollens und so ihres menschlichen Denkens, Redens und Tuns kann in Übereinstimmung mit ihrer Bitte und in Entsprechung zu dem, was sie bitten, nur der Mensch sein« (CL 461). Diese konkretanthropologische Zentrierung von Barths Ethik soll im letzten Abschnitt dieses Kapitels in ihrer leiblichen und geschichtlichen Konkretheit auf den »wirklichen Menschen« zugespitzt werden. Vgl. Plonz, Die herrenlosen Gewalten, 330–337. Vgl. Moltmann, Theologie der Hoffnung. Hailer, Gott und die Götzen, 359. Hailer, 361. Klein, Depotenzierung der Souveränität, 248.
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Modell 4: Humanität und Reich Gottes Mensch sei sie realisiert. Denn allein er sei die lebendige Gegenwart des »einzig Realen« und keine fiktiv-imaginäre Gestalt der menschlichen Phantasie.81
Mit Klein lässt sich daher sagen, dass die Bedeutung der Bitte um das Kommen des Reiches Gottes bei Barth nicht nur ein transzendentaler Akt, sondern ein geradezu politisches Ereignis ist. Dies ist insbesondere in der christologischen Konzentration Barths begründet, die in Christus den Realen82 der Versöhnung Gottes mit dem Menschen sieht. Als ein solches politisches Ereignis antizipiert die Reich-Gottes-Bitte die Depotenzierung der herrenlosen Mächte, wobei mit Klein auf die Gefahr hinzuweisen ist, dass die reine Mächte-Überbietung der herrenlosen Gewalten durch Gottes Allmacht als potentia nicht zu einer Lösung des Problems, sondern vielmehr zu dessen Verschärfung beitragen würde. Sie würde als eine kontrastierende Neu-Imagination von Souveränität gerade nicht Gewalten überwinden, sondern sich als religiöse Fiktion noch tiefer in die Spirale mächtiger Ideologien verwinden.83 Barth besteht daher darauf, dass allein Gott vor der Wirkmächtigkeit der Ideologien zu erretten vermag, da allein ihm wahrhaft Macht zukomme. Gottes Macht definiert Barth in diesem Zusammenhang als wirksame Gegenwart und als befreiendes Tun. Die Macht der politischen Ideologien dagegen sei eine Illusion, die jeglicher Wirklichkeit entbehre.84
Darüber hinaus ist Gottes Auseinandersetzung nicht nur im Gegenüber von Realem und Imaginärem zu fassen, sondern in der konkreten Wirklichkeit solidarisierender Macht Gottes, sodass »die gewaltvolle, den ›Anderen‹ unterwerfende, beschädigende oder sogar vernichtende ›obszöne Unterseite‹ souveräner Macht christologisch entschärft wird«.85 Die christologische Entschärfung theologischer Souveränität im Kontext einer Erlösungstheologie, die nach der Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen fragt, kann entsprechend Barths Bestimmung der Menschlichkeit Gottes anhand der konkreten Zuwendung des wahren Menschen zu seinen Mitmenschen entfaltet werden. Entsprechend der Kriteriologie der Mitmenschlichkeit Jesu, die 81 82 83
84 85
Klein, Depotenzierung der Souveränität, 264. Im Gegensatz zu dieser von mir gewählten Formulierung spricht Klein in Anschluss an Lacan/Zizek durchgehend vom Realen als Neutrum. Machttheoretisch steht dieses Modell daher auch im scharfen Gegensatz zum ersten in dieser Studie analysierten Modell einer kontraevidenten Allmacht Gottes. Gegen ein abstrahiertes Verständnis von Allmacht führt auch Klein die Lebendigkeit Gottes ins Feld, würde jene doch nur das Problem verschärfen: »Die politische wird dann lediglich durch eine theologische Souveränitätsfigur ersetzt, deren ideologisches Potenzial jedoch in keiner Weise suspendiert« (Klein, Depotenzierung der Souveränität, 268). Klein, 265. Klein, 263.
Zur Validierung dieses Modells im Gespräch mit einer Theologie der Behinderung
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anhand der christologischen Überlegungen dieses Kapitels entworfen worden ist, soll im abschließenden Abschnitt das diakonische Handeln als Praktikumsraum der Liebe untersucht werden, der die menschlichen Nöte als reale Nöte adressiert.
4.5 Zur Validierung dieses Modells im Gespräch mit einer Theologie der Behinderung Die tiefgreifende systematische Verbindung von Ethik und Eschatologie, die dieses Modell nahelegt, ist in der vorangehenden Entfaltung des Symbols des Reiches Gottes bereits deutlich geworden. Darüber hinaus drängt sich für diesen letzten Abschnitt eine ethische Konkretion auf, die einem spezifischen kirchlichen Handlungsfeld entspricht: die Diakonie. Gerade im Hinblick auf die bereits entwickelte Phänomenologie der Humanität Gottes ließen sich anhand der drei Hauptcharakteristika (Neuheit, Parteilichkeit und Leiblichkeit) Handlungsmaxime beschreiben, die nicht nur eine spontane, sondern auch eine institutionalisierte Hilfestellung für in Not geratene Menschen nahelegen. Jedoch zeigt sich, dass die Modelllogik der Humanität Gottes nur Teilaspekte einer realistischen Theologie der Diakonie adressieren kann. Ein solcher Versuch müsste auf der mimetischen Verbindung von in diesem Modell beschriebener präsentischer Erlösungstheologie und Ethik aufbauen. Dem Christus medicus entspricht in dieser Zuordnung die institutionalisierte Form der Zuwendung und Fürsorge für die wirklich Armen.86 Insbesondere die Professionalisierung der Diakonie und die damit verbundenen Notwendigkeiten der Distanzierung und funktionalen Differenzierung würden dabei allerdings zeigen, dass dieses eschatologische Modell der Humanität mit seiner vergemeinschaftlichenden Grunddynamik, die stärker auf eine Verbindung denn auf eine Distanzierung hindrängt, schnell an seine Grenzen stößt. Es kennt zwar Vergemeinschaftung und Zuwendung als Distanzüberwindung, aber kaum Formen notwendiger Distanzierung, die im Rahmen professionalisierter Pflege und Lebenshilfe ebenso notwendig sind.87 Mit dem Modellmaterial dieses Kapitels eine eigene Theologie der Diakonie zu entwerfen 86
87
Dass dies im diakonischen Handeln nicht nur die körperliche Genesung umfasst, sondern mehrdimensionale Zuwendungen erfordert, unterstreicht Johannes Eurich: »So ist das Charakteristische an den Heilungswundern Jesu, dass Menschen nicht nur körperlich gesunden, sondern Jesus sie als leib-seelische Einheit in ihren Lebensbezügen anspricht. Als ›unrein‹ bezeichnete, ausgesonderte Menschen werden zurück in die menschliche Gemeinschaft geführt« (Eurich, »Religiöse Deutung und medizinisches Verständnis von Krankheit und Heilung: Überlegungen zu ihrer Differenzierung und Ergänzung«, 438). Vgl. dazu mit Blick auf die Zielvorstellungen im Rahmen professioneller Diakonie Eurich, »Professionalisierung statt ›ewiges Leben‹? Diakonische Zielvorstellungen der Gegenwart«. Aus sozialethischer und gesellschaftstheoretischer Perspektive vgl. Jähnichen, »Vom Leistungsträger im Sozialstaat zum Wettbewerber auf dem Sozialmarkt«.
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Modell 4: Humanität und Reich Gottes
stößt daher auf Schwierigkeiten, die zumindest als eine Problemanzeige für eine solche gelten können.88 Jedoch führt die in diesem Modell beschriebene transformatorische Humanität eine Spannung vor Augen, die im spezifischen Feld einer Theologie der Behinderung Plausibilität beanspruchen kann. Dieser Topos drängt sich geradezu auf, wenn man beachtet, dass dieses Modell nicht nur das Verhältnis von Heil und Heilung, sondern auch das Verhältnis von Anthropologie und einem Ethos der Humanität thematisiert. Dazu gilt es zwei Pole dieses erlösungstheologischen Modells zu vergegenwärtigen, um daran anschließend zu zeigen, wie diese in der Debattenlage um ein angemessenes Verständnis von Behinderung wiederkehren. Ein erster zentraler Ansatzpunkt für eine Theologie der Behinderung lässt sich in Anschluss an dieses Modell im Kontext von Barths Rezeption der Heilungswunder ausmachen. Konkret geht es um die dezidierte Zuwendung Jesu zu den Armen, die Barth als Parteinahme hervorhebt (vgl. Kap. 4.2.2). Diese schildern die jesuanische Zuwendung zu den in Not geratenen Menschen als Wiederherstellung im Sinne einer »Normalisierung« menschlicher Existenz (KD IV/3, 250). Letzteres deutet daraufhin, dass in der Interaktion Jesu mit seiner Umgebung eine Unterscheidungsnotwendigkeit zutage tritt, mithilfe derer die besondere Zuwendung des Christus medicus zu bedürfenden Menschen identifiziert werden. Die Differenzierungsleistung, um die es hierbei geht, ist die notwendige Unterscheidung zwischen tragbaren und untragbaren Lebenseinschränkungen.89 Diese Differenzierung ist darum sinnvoll und notwendig, weil erst auf der Grundlage einer notwendigerweise generalisierten Feststellung dessen, was Menschsein und dessen tragbare Lebensumstände überhaupt impliziert, eine erwartungssichere Möglichkeit gegeben ist, Menschen als fürsorgebedürftig zu erkennen: Jesu Parteinahme für die Armen ist die Parteinahme für die »wirklich elenden Menschen« (KD IV/2, 211). Diese Parteinahme erfordert aber bereits aus epistemischer Sicht 88
89
So auch Thomas, Neue Schöpfung, 180, der von einer »Engführung« spricht, welche die Diakonie »ausschließlich auf ›den Menschen‹ zulaufen lässt«. Bezeichnenderweise entwickelt Thomas seine Überlegungen zur Diakonie überwiegend anhand der ekklesiologischen Zeugnistheorie in KD IV/3. Von der anthropologischen Perspektive ist dagegen der Teil der Rezeption von Barths Krankheitsdeutung geprägt, der sich entweder auf eine kosmologische Deutung von Krankheit oder auf die gebotene »Haltung« gegenüber Krankheitsphänomenen konzentriert (vgl. Etzelmüller, »Christentum als Religion der Heilung«; Hofheinz, »›Willst du gesund werden?‹ (Joh 5, 6): Gesundheit und Krankheit aus theologischer Sicht«; Eibach, »Umgang mit schwerer Krankheit: Widerstand, Ergebung, Annahme«; Thomas, »Krankheit im Horizont der Lebendigkeit Gottes«; Rieger, »Gesundheit als Kraft zum Menschsein«). Sowohl die Rezeptionen, die an die Schöpfungsethik anschließen, als auch diejenigen, die ihren Ausgangspunkt in der Versöhnungslehre haben, sind stärker an der Zuordnung des malum der Krankheit im Zusammenhang theologischer Kosmologie interessiert als an den Fragen ihrer institutionellen Verstetigung, wie es z.B. für die Diakonie gilt. Im Rahmen des Behinderungsthemas geht es hierbei um langfristige bis dauerhafte Einschränkungen. In Deutschland ist die Dauer der zu erwartenden Einschränkung nach SGB IX §2 auf min. sechs Monate normiert.
Zur Validierung dieses Modells im Gespräch mit einer Theologie der Behinderung
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eine Differenzierungs- und Selektionsleistung im Umgang mit Menschen, die auf einer operativ notwendigen Konkretisierung dessen, was Menschsein bedeutet, aufbaut. Auch das Jesuanische Hilfehandeln baut offensichtlich auf einem gewissen Standard auf, anhand dessen diese Differenzierung getroffen werden kann, wenngleich dieser Standard nicht ohne Weiteres zu formulieren ist. Die Hoffnung auf die Erlösung, oder zumindest Linderung von körperlichen, seelischen und geistigen Übeln, ist an diese Unterscheidungsfähigkeit gebunden. Nur aufgrund dieser ist es Menschen möglich, eine Linderung von Schmerzen und eine Erleichterung ihrer Lebensumstände als partielle Erlösung zu erfahren und zu deuten. Dies ist jedoch nur die eine Seite der Spannung innerhalb dieses Modells. Ihr gegenüber lässt sich der erkenntnistheoretische Ansatz des gesamten Modells hervorheben, das im Sinne der Anhypostasie konsequent eine Theologie von unten zu entwerfen versucht. In diesem Zusammenhang – so stellt Barth kritisch gegenüber einer substanzontologischen Zwei-Naturen-Lehre aber auch gegenüber Versuchen einer natürlichen Anthropologie heraus – ist der wirkliche Mensch nicht in einer abstrahierenden Idealgestalt des menschlichen Wesens zu identifizieren. Die Aussage, dass Jesus Christus der wirkliche Mensch ist, weist nicht allein auf eine christozentrische Begründung der Anthropologie hin, sondern lässt sich auch als ein Einspruch gegen eine Generalisierung dessen was das Menschsein und die Möglichkeiten der Lebensentfaltung umfassen soll, verstehen. Diese modellinterne Spannung kann in aktuellen Behinderungsdiskursen hohe Plausibilität beanspruchen. Im Folgenden werden mit dem medizinischen, dem kulturellen und dem sozialen Behinderungsbegriff drei in der Diskussion zentrale Verständnisse von Behinderung skizziert, wobei das medizinische und das kulturelle Verständnis jeweils das Äquivalent zu den oben genannten Polen darstellen.90 Damit kann gezeigt werden, dass die interne Spannung dieses erlösungstheologischen Modells eine paradigmatische Frage für gegenwärtige Diskussionen zum Verständnis von Behinderung aufwirft. Medizinisches Verständnis Dar medizinische Behinderungsbegriff ist in gesundheitspolitischen Diskursen das zentralste Modell für ein Verständnis von Behinderung. Es adressiert mithilfe normierter Indikatoren, die als Kriteriologie am Anfang einer jeden Diagnose und einer möglichen anschließenden Therapie stehen, körperlich, geistige, aber auch psychische Beeinträchtigungen. Dies geschieht durch eine Devianzanalyse, welche anhand eines medizinischen Wissens um die als normal verstandenen körperlichen, geistigen und seelischen Fähigkeiten eines Menschen geschehen kann. Die entscheidende Differenzierungsleistung 90
Zur Entwicklung dieser Modelldebatten vgl. Kastl, Einführung in die Soziologie der Behinderung; Cloerkes, Wie man behindert wird; Cloerkes, Felkendorff und Markowetz, Soziologie der Behinderten und Kastl und Felkendorff, Behinderung, Soziologie und gesellschaftliche Erfahrung
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dieses Modells liegt darin, dass nicht jede festgestellte Abweichung auch zu einer Diagnose einer therapiebedürftigen Beeinträchtigung führt. Stattdessen werden innerhalb dieses Verständnisses von Behinderung empiriebasierte Schwellenwerte definiert, die einen Grad der dauerhaften Beeinträchtigung feststellen lassen, welcher dann als Behinderung gilt. Diese Schwellenwerte bilden den Anhaltspunkt für eine medizinische Beurteilung, welche Varianzen körperlicher, psychischer und kognitiver Fähigkeiten als für diese Menschen unzumutbare und durch eine entsprechende Leistung zu kompensierende Lebenserschwernisse zu bewerten sind. Das medizinische Verständnis von Behinderung basiert daher auf der Notwendigkeit von Normierungen. Damit ist jedoch kein zeitloses und kontextfreies Ideal des Menschen und seiner Fähigkeiten gemeint. Insofern ist das medizinische Verständnis von Behinderung auch keinesfalls einfach als rein naturalistische Heuristik misszuverstehen. So ist nicht nur die medizinische Forschung selbst von sozio-kulturellen Umständen geprägt;91 auch die Beurteilung der genannten Schwellenwerte ist statt auf einer linearen Skala vielmehr auch von vielen weiteren Parametern abhängig vorzunehmen: Körperliche Beweglichkeit, kognitive Aufmerksamkeitsspannen oder auch die Frage nach der Fruchtbarkeit sind z.B. entscheidend vom Alter oder dem Geschlecht der Betroffenen abhängig. Eine sehr breite Varianz der Artikulationsfähigkeit ist im Kleinkindalter ein völlig normales und durch die Entwicklung des Kindes hinnehmbare Abweichung, vergleicht man diese mit den Fähigkeiten gesunder, erwachsener Menschen. Doch gibt es selbst hier ab einem bestimmten Alter erfahrungsbasiert gewonnene Normen, deren Unterschreitung auf eine besondere Förderbedürftigkeit hinweist. Das medizinische Modell hat nicht nur für den klinisch-therapeutischen Bereich, sondern auch für Sozialsysteme zentrale Bedeutung und stellt dort seine Leistungsfähigkeit unter Beweis: Es ist dahingehend entscheidungsfähig, ob und in welchem Maße identifizierte Einschränkungen Menschen für Hilfeleistungen und Unterstützung aus öffentlicher Hand berechtigen. Die Feststellung, dass die Einschränkungen eines Individuums als Behinderung zu gelten haben, wird darüber hinaus nicht nur als entweder/oder-Entscheidung getroffen, sondern ist selbst wiederum graduell bestimmt. Damit leistet das medizinische Modell nicht nur eine diagnostische Entscheidung, sondern es spezifiziert auch die Parameter, um Menschen mit einer medizinisch indizierten Behinderung begründete Hoffnung auf Linderung, Kompensation oder fürsorgliche Begleitung ihrer Beeinträchtigung geben zu können. Diese Perspektive knüpft innerhalb dieses erlösungstheologischen Modells bei Barth an Jesu Parteilichkeit für die leidenden Menschen an: »Gott will das nicht,
91
Vgl. Vogd, Zur Soziologie der organisierten Krankenbehandlung.
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was den Menschen plagt, quält, stört und zerstört« (KD IV/2, 249).92 Damit artikuliert sich theologisch die Notwendigkeit von Entscheidungen gegen Unzumutbarkeiten, die Menschen zu tragen haben und dass diese auf eine heilsame Zuwendung hoffen dürfen. Was innerhalb dieses erlösungstheologischen Modells unterbestimmt bleibt, ist die Frage, an welchen konkreten Kriterien sich diese Entscheidung bemisst, was als menschliches Elend und damit als untragbare Beeinträchtigung des Lebens zu gelten hat. In besonderer Weise stellt sich in der theologischen Rezeption dieses Verständnisses das Problem, in welcher Weise Heil und Heilung bzw. Unheil und körperliche, seelische und geistige Versehrtheit miteinander verbunden sind.93 Soziales Verständnis Der soziale Behinderungsbegriff ist besonders aus verschiedenen Behindertenrechtsbewegung hervorgegangen.94 Er hebt nicht nur die auch im medizinischen Modell eine Rolle spielende sozio-kulturelle Bedingtheit von Normierungen des Humanums hervor. Vielmehr verschiebt er die Perspektive, indem er danach fragt, welche Barrieren des sozialen Umfeldes Menschen behindern. Damit wird nicht mehr vorrangig das Individuum, sondern insbesondere sozial bedingte Lebenserschwernisse in den Blick genommen. Das Paradigma, wie dieses Modell mit solchen identifizierten Lebenseinschränkungen umgeht, lautet Teilhabegerechtigkeit durch Barrierefreiheit. Dabei operiert es – trotz einer anderen Ausgangsperspektive – mit einer ähnlichen Unterscheidungstechnik: Es unterscheidet zwischen hinnehmbaren und nicht hinnehmbaren Erschwernissen, welche die Umwelt eines Menschen prägen. Solche nicht hinnehmbaren Erschwernisse identifiziert dieses Modell als behindernde Diskriminierungen, die es im Sinne einer besseren Zugänglichkeit zum gesellschaftlichen Leben zu überwinden gilt. Auch dieses Modell ist daher darauf angewiesen, die Notwendigkeit möglicher Interventionen zu erkennen und deren Priorität zu kategorisieren. Diese basiert – analog zum medizinischen Modell – auf einer Normierung eines Standards, welche Lebens- und Gesellschaftsbereiche allen Menschen zugänglich sein sollten. Seine Leistungsfähigkeit stellt dieses Modell insbesondere für Menschen mit körperlichen Behinderungen unter dem Paradigma der Barrierefreiheit im Bil92
93 94
Zutreffend bemerken Weissenrieder/Etzelmüller in Bezug auf die Dämonenaustreibungen, denen dieselbe Entscheidungslogik eingeschrieben ist: »Barth verabschiedet sich hier von jeder monistischen Weltanschauung, die Gott als alles bestimmende Wirklichkeit versteht, und nähert sich einem zeitlich befristeten Dualismus: Es gibt in dieser Welt chaotische Mächte und Gewalten, die nicht Gottes Willen repräsentieren, sondern gegen die sich Gott mit seinem Willen, im Kommen seines Reiches durchsetzen muss« (Weissenrieder und Etzelmüller, »Christus Medicus«, 82). Zur Diskussion vgl. Anm. 36. Dabei gibt es nach wie vor eine intensive Debatte, ob das soziale Modell als ergänzende oder als konträre Alternative zum medizinischen Modell gelagert ist; vgl. Shakespeare und Watson, »The Social Model of Disability«.
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dungsbereich, aber auch auf dem Arbeitsmarkt unter Beweis. Für Schwerstbehinderte, aber auch für Menschen mit psychischen Behinderungen ist eine Integration in den Arbeitsmarkt hingegen wesentlich seltener erfolgreich.95 Darüber hinaus hat das soziale Modell ebenfalls einen großen Einfluss auf die Sozialgesetzgebung. Die entsprechenden Formulierungen im begriffsdefinierenden Paragraphen des Sozialgesetzbuchs sprechen hier von einer Wechselwirkung jener Aspekte, die das medizinische Modell herausstellt, mit den Beeinträchtigungen durch die Umwelt, die in diesem sozialen Modell herausgearbeitet sind.96 Innerhalb des erlösungstheologischen Modells sind ebenfalls zentrale Anliegen des sozialen Behinderungsbegriffs präsent.97 Zum einen lässt sich die Entscheidungslogik Jesuanischer Mitmenschlichkeit nicht allein für die medizinische, sondern auch für die soziale Dimension geltend machen. Auch hier zeigt sich die Notwendigkeit einer Sensibilität für die entscheidenden Kriterien der Intervention, durch welche die Umwelt von zuwendungsbedürftigen Menschen adressiert wird. Barth weist hier jedoch nur mit einer relativen Bestimmtheit auf diesen Ort hin. Er spricht lediglich von der »äußersten Grenze des mit dem Reich Gottes konfrontierten, durch den Menschen Jesus zu erneuernden Kosmos«, an welcher die wirklich Armen zu finden sind (KD IV/2, 212). Insbesondere der soziale Behinderungsbegriff macht jedoch dafür sensibel, dass es für diese Sphäre des äußersten Randes auch ein Unterscheidungskriterium nach innen geben muss: Wer sind die wirklich Armen? Diese Frage kann mit Barth nur schwer beantwortet werden. Kulturelles Verständnis Der kulturelle Behinderungsbegriff ist eine sozialkonstruktivistische Zuspitzung des sozialen Ansatzes. Auch historisch ist es aus diesem hervorgegangen und wird im deutschsprachigen Raum besonders von Anne Waldschmidt vertreten, die darauf das Forschungsprogramm der kulturwissenschaftlich orientierten Disability Studies begründet.98 Ähnlich wie dar soziale Ansatz konzentriert es sich auf die sozio-kulturellen Umstände, die allerdings 95 96
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98
Einen empirisch basierten Überblick bieten die Beiträge in Böhm, Baumgärtner und Dwertmann, Berufliche Inklusion von Menschen mit Behinderung. »Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung [...] liegt vor, wenn der Körperund Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht« (SGB IX §2 (1)). Theologischerseits wird dieses Verständnis von Behinderung besonders von Ulrich Bach in die Diskussion eingebracht. Vgl. Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Zu Bachs Plädoyer für eine »ebenerdige Theologie« vgl. Krauß, Barrierefreie Theologie. Vgl. Waldschmidt, »Disability Studies«; Waldschmidt und Schneider, Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung; Bösl, Klein und Waldschmidt, Disability History; für die englischsprachige Diskussion grundlegend: Oliver, Understanding Disability.
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in diesem Schema Behinderung erst hervorbringen. Nach diesem Modell sind Menschen nicht behindert, sie werden auch nicht behindert – vielmehr brächten die Normierungen und Differenzierungen, mithilfe derer medizinisches und soziales Begriffsmodell arbeiten, Behinderung erst hervor. Damit bietet sich dieses Behinderungsverständnis nicht als Alternative in Bezug auf die Perspektivierung zu den anderen beiden an, sondern lehnt jegliche Formen normierender Abstraktion von Behinderung bzw. von Standards der Lebensentfaltungsmöglichkeiten und der Anteilhabe am gesellschaftlichen Leben ab. Während also der medizinische und der soziale Ansatz regulatorische und funktionale Idealtypen des Menschen und seiner sozialen Einbindung kennen und für sich nutzbar machen, identifiziert dieser Behinderungsbegriff eben jene Normierungen als malum, dessen Überwindung es durch eine konsequente Dekonstruktion abstrahierender Anthropologien vorantreibt. Da es aus Sicht dieses Modells keinen normalen Menschen gibt, sind auch Idealtypen des Menschen von diesem Ansatz her zu kritisieren. Dieses Verständnis von Behinderung weist zwar zurecht darauf hin, dass die Kriterien der Differenzierung in medizinischem und sozialem Verständnis nicht ohne Konstruktionen auskommen. Es ist über diese kritische Funktion hinaus aber nicht imstande, einen konstruktiven Beitrag zur Unterscheidung von lebensförderlichen Differenzierung mithilfe funktionaler Teilabstraktionen des Menschen und den destruktiven Folgen einer Diskriminierung und Entmenschlichung zu unterscheiden. Zumindest das Anliegen des kritischen Einspruchs dieses Behinderungsverständnisses lässt sich aber auch im erlösungstheologischen Modell dieses Kapitels identifizieren.99 Barths Rezeption der Anhypostasie und die damit verbundene Kritik an einer abstrahierenden Anthropologie weist auf eben diese Figur hin: Wie es für den kulturellen Behinderungsbegriff keinen normalen Menschen gibt, so betont die Christologie dieses Modells, dass es in Jesus Christus gerade nicht um »die Idee des Menschlichen«, sondern um »die konkrete Möglichkeit der Existenz eines Menschen« geht (KD IV/2, 52). So ist die Wirklichkeit Jesu Christi nicht nur ein religionskritischer Einspruch gegen falsche Gottesbilder, sondern auch ein Einspruch gegen falsche Menschenbilder. Das erlösungstheologische Modell der Humanität Gottes bietet das Potenzial einer konstruktiven Korrektur des kulturellen Behinderungsverständnisses, indem es auf einen Kurzschluss dieses Ansatzes hinweist. Denn es bietet sich hier eine Modifikation an, die sich anhand von Barths Beschreibung der herrenlosen 99
Darüber hinaus wird dieses Verständnis – trotz einer anfänglichen Doppelperspektive – überwiegend von Eiesland, Der behinderte Gott vertreten. Eieslands Essay ist inzwischen zu einem der Standardwerke in der englischsprachigen Theologie der Behinderung geworden. Eiesland hat besonders Formen körperlicher Behinderung vor Augen. Diese enge Perspektive bricht hingegen Swinton, »Who Is the God We Worship?« auf. Kritisch in Bezug auf die fehlenden leiblich-transformativen Momente in Eieslands impliziter Eschatologie ist Yong, »Disability, the Human Condition, and the Spirit of the Eschatological Long Run«.
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Gewalten gewinnen lässt: Diese Mächte gehen alle aus gesellschaftlichen Innovationen hervor, die als ein Gewinn sozialer Gerechtigkeit, Erwartungssicherheit und sozialem Zusammenleben verstanden werden können. Damit erfüllen sie Funktionen, die den Bereich des Sozialen nicht einfach nur regulieren, sondern ebenso Lebensmöglichkeiten schaffen. Für jede dieser Einrichtungen lassen sich jedoch Kipppunkte identifizieren, in denen die Eigendynamik dieser Institutionen eine gefährliche und lebensbedrohende Macht gewinnt. Das Verhältnis der Unterscheidungslogiken von medizinischem und sozialem Ansatz sowie deren grundsätzliche Infragestellung durch den kulturellen Behinderungsbegriff lässt sich mit dieser Dynamik der herrenlosen Gewalten differenzierter darstellen, als es das kulturelle Modell selbst vermag: Denn ein rein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Behinderung ist nicht in der Lage, zwischen den funktionalen, für ein Ethos der Fürsorge unabdingbaren Formen der Normierung und tatsächlich gewaltsam diskriminierenden Normierungen zu unterscheiden. Gerade im Hinweis auf diese Unterscheidung läge aber das relative Recht eines kulturellen Behinderungsbegriffs, der einerseits auf die Einsicht drängt, dass auch medizinische und soziale Normierungen nicht einfach nur kontingent, sondern auch im Sinn einer besseren Fürsorge dynamisch zu halten sind, da sie nur aufgrund dieser Dynamik für Optimierungen offen sind. Die Skizzierung der drei im gegenwärtigen Behinderungsdiskurs dominierenden Ansätze weisen notwendige Spannungen auf. So weisen auf unterschiedliche Aspekte im Umgang mit Phänomenen der Behinderung hin und korrigieren sich darüber hinaus kritisch. Gezeigt wurde auch, dass sich die entscheidenden Anliegen dieser drei Behinderungsverständnisse in dem hier vorgestellten erlösungstheologischen Modell wiederfinden lassen. Es knüpft damit mit seiner inneren Spannung an die Komplexität gegenwärtiger Debatten an, wenngleich offen bleiben muss, wie ausgeglichen dessen innere Spannung tatsächlich sind. Auch für dieses Modell lassen sich daher im Gespräch mit außertheologischen Debatten nicht nur konstruktive Potenziale sondern auch Grenzen und innere Gewichtungen aufdecken.
4.6 Zusammenfassung: Erlösung durch transformierende Humanität Der Glaube an Jesus Christus ist Grund zur Rede von der Menschlichkeit Gottes. Fern von einer Hoffnung auf ein vages Jenseits bilden die biblischen Erzählungen von der Zuwendung Jesu zu denen, die besonderer Fürsorge bedürfen, das Fundament für ein Modell der Humanität, das unter dem eschatologischen Symbol des Kommens des Reiches Gottes steht. In diesem verdichtet sich die Hoffnung auf
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eine transformierende Humanisierung, womit sowohl eine konkrete Linderung von Not, als auch eine Überwindung von sozialen Dynamiken der Unmenschlichkeit bezeichnet sind. Als besonderer Vektor dieses Modells ist das Anliegen der Bildung von mitmenschlicher Gemeinschaft sowie eine epistemische Präferenz für Konkretheit gegenüber Verallgemeinerung herausgearbeitet worden. Der Versuch einer Validierung dieses Modells anhand der Frage nach einer möglichen Theologie der Diakonie im Anschluss daran hat die Leistungsgrenzen dieses Modells aufgezeigt. Damit hat sich auch nachweisen lassen, dass Remodellierungen nicht beliebig vonstatten gehen können. Stattdessen hat sich aber die angelegte Grundspannung dieses Modells zwischen Konkretion und notwendiger Abstraktion im Gespräch mit gegenwärtigen Ansätzen zum Phänomen der Behinderung als hilfreiches Verständigungsinstrument erwiesen.
5 Modell 5: Revelatorische Eschatologie Mit dem dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses sprechen Menschen ihre Zuversicht in die Treue Gottes zu seiner Verheißung aus. Sie sprechen damit in einer Welt voller Ungewissheit und trotz der Erfahrung von Anfechtung und Zweifel ihre Hoffnung in die Bewahrheitung von Gottes Zusage aus. Theologisch lässt sich diese Hoffnung in einem Modell fassen, das es in diesem letzten Kapitel zu erörtern gilt. Das hier analysierte erlösungstheologische Modell behandelt die Frage der Erlösung im Zusammenhang mit der Selbsterschließung Gottes in seiner Offenbarung. Es geht daher um ein Modell, das sich noch expliziter als die vorigen Modelle der Frage nach der Erkenntnis und der eschatologischen Überwindung der Verborgenheit Gottes widmet. Gerade dieser Zusammenhang deckt eine bemerkenswerte Denkentwicklung in Barths theologischem System auf, sodass in einem ersten Abschnitt zunächst einige Entwicklungsstufen seiner theologischen Epistemologie durchschritten werden müssen, um zu klären, warum es sich hier um einen eigenen Zugang zur Erlösungstheologie handelt. Denn Fragen nach der Erkennbarkeit Gottes, dem Glauben als Korrelat zur Offenbarung oder auch der Anerkennung als reziprokem Verhältnis zwischen Mensch und Gott haben erkenntnistheoretische Fragen bereits immer wieder aufgenommen. Wie zu zeigen ist, gewinnt die Erkenntnisfrage im dritten Band von Barths Versöhnungslehre jedoch als das »dritte Problem der Versöhnungslehre« eine eigene erlösungstheologische Bedeutung. Gottes Offenbarung wird – durchaus in vermittelnder Weise – darin selbst zu einem versöhnenden und erlösenden Geschehen. Barth verwebt diesen erlösungstheologischen Zugang zur Epistemologie in einen Metaphernraum, der dieses Modell grundlegend prägt: Es ist die besonders aus der johanneischen Theologie bekannte Rede von Christus als dem Licht des Lebens.1 Die diesem Kapitel zugrundeliegende Textbasis ergibt sich aus den Ausführungen im dritten Band der Versöhnungslehre der Kirchlichen Dogmatik, 1
Vgl. Herrmann, »Die Lichtmetapher in biblischen Schriften«, Schwankl, Licht und Finsternis, Syrén, »The Metaphoric Use of ›light‹ and ›darkness‹ in Some Biblical and Post-Biblical Traditions« und Popkes, »›Ich bin das Licht‹: Erwägungen zur Verhältnisbestimmung des Thomasevangeliums und der johanneischen Schriften anhand der Lichtmetaphorik«. Darüber hinaus fungiert auch in der gelebten Religiosität das Begriffspaar von Licht und Finsternis als Metaphernraum für die Dialektik von Glaube und Zweifel: Hoffmann, »Licht und Dunkel«.
295 deren Logik sich diesem optischen Sprachspiel verdankt. Sie lässt sich mit Barth anhand von drei Differenzierungs- und Relationierungsebenen nachvollziehen: Die erste Ebene beschreibt eine agonale Unterscheidung, die sich anhand von Barths Christologie des prophetischen Amtes rekonstruieren lässt. Eine weitere Ebene stellt die schöpfungstheologisch begründete Wirklichkeit und Bedeutung einer Pluralität von Lichtern und ihr Verhältnis zu Christus als dem Licht der Welt. Auf einer dritten Ebene wird Barths Soteriologie der Berufung als eine pneumatologische Denkfigur von Bedeutung, mithilfe derer sich das Verhältnis von Christus und der ihn bezeugenden Gemeinde als Reflexion seines Lichts beschreiben lässt. Mithilfe dieser trinitarischen Relationierungen lässt sich die in diesem Modell begründete Denkform der Erlösung als geschichtlich-revelatorisches Geschehen rekonstruieren. Die Zentralstellung der Erkenntnisfrage in diesem Modell führt dazu, dass Barth die anthropologischen Anschlussfragen, die sich aus den zuvor erarbeiteten Denkformen dieses Modells ergeben, in seine Überlegungen integriert: Die Frage, inwiefern der Mensch als Erkennender an diesem Erschließungsgeschehen passiv und als Zeuge dieser Offenbarung aktiv an diesem Geschehen partizipiert, ist ein genuiner Teil dieses Erlösungsprozesses und trägt zu dessen geschichtlicher Realisierung bei. Anders als in den Modellrekonstruktionen der vorangehenden Kapitel geschieht die Erörterung der Frage nach dem Involviertsein des Menschen bzw. dessen Existenz in der in diesem Modell beschriebenen Hoffnungsperspektive bereits vor der Rekonstruktion der materialen Eschatologie. Modelltheoretisch bedeutet das, dass sich die praktische Validierung dieses Modells aus seinen eigenen Voraussetzungen her stellt. Sie geschieht in Form einer Rekonstruktion von Barths zeugnistheoretisch begründeter Kirchentheorie, die die Existenz der Gemeinde in ihrer relativen Verschiedenheit von der Welt als Zeugin Jesu Christi thematisiert. Im abschließenden Abschnitt werden die zuvor skizzierten Wege auf ihre materialdogmatischen Konsequenzen für eine Eschatologie der Offenbarung befragt. Damit sollen Barths Andeutungen der »Erlösung als Vollendung der Versöhnung« unter dem eschatologischen Symbol der dritten Gestalt der Wiederkunft Jesu Christi systematisch zusammengeführt werden. Zur liturgischen Prägekraft dieser Metapher vgl. Kopp, »Vom Dunkel zum Licht«; besondere Bedeutung im Horizont der Eschatologie gewinnt das Licht in den orthodoxen Traditionen, die es in eine größere optische Symbolik der Gottesschau stellt, vgl. exemplarisch: Hausammann, Das lebenschaffende Licht der unauflösbaren Dunkelheit. Einen kulturgeschichtlichen Überblick bieten darüber hinaus die Beiträge in Lechtermann und Wandhoff, Licht, Glanz, Blendung. Zum Licht als Metapher für Wahrheit vgl. Blumenberg, »Licht als Metapher der Wahrheit« und ausführlicher Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Dazu für eine Hermeneutik grundlegend: Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 70–80. Nicht zuletzt fungiert das Begriffspaar transkulturell als Bezeichnung von (Nicht-)Verstehensprozessen vgl. Burik, »Darkness and Light«.
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5.1 Offenbarung als Erlösung? – Eine Modellverortung Die besondere Charakterisierung der Theologie Barths im Ganzen als Offenbarungstheologie verlangt nach einer Präzisierung, inwiefern Offenbarung überhaupt im Rahmen dieser Studie als erlösungstheologisch relevanter Topos behandelt werden kann. Damit ist aber auch eine genaue Spezifizierung dessen erforderlich, was im Rahmen dieser Untersuchung als Erlösung und damit als soteriologisches bzw. eschatologisches Handeln Gottes zu verstehen ist: Alle Modelle dieser Arbeit widmen sich der Frage nach einer adäquaten Verhältnisbestimmung von Gott zur Wirklichkeit des Bösen in Gestalt des Nichtigen, menschlicher Sünde und Leiden bzw. der aus diesen Zusammenhängen emergierenden systemischen Mächte, die lebensabträgliche und zerstörerische Dynamiken entfalten. Dafür hat sich in den bisherigen Kapiteln die Arbeitsthese bewährt, dass erlösungstheologische Modelle in der Theologie Karl Barths, die in Bezug auf die Geschichte ein transformatives Erschließungspotenzial bergen, als dramatische Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen zu charakterisieren sind. Obwohl der Fokus dieser Studie auf einer synchronen Interpretation der späten Theologie Barths liegt, ist an dieser Stelle auf eine Entwicklung in Barths Kirchlicher Dogmatik einzugehen, die zeigt, dass sich Barth erst zum Ende seiner theologischen Entwicklung ein Verständnis von Offenbarung zu eigen gemacht hat, welches Gottes Selbsterschließung nicht nur als erkenntnistheoretische Kategorie, sondern auch als geschichtlich transformatives Geschehen begreift. Diese Entwicklung soll im Folgenden kurz skizziert werden.
5.1.1 Offenbarung als Ereignis (KD I/1) In den Prolegomena der Kirchlichen Dogmatik deutet Barth eschatologische Implikationen für das dort beschriebene Verständnis von Offenbarung an. Doch sind diese bereits als eine für diese Studie relevante dramatische Denkform von Erlösung als »Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen« zu veranschlagen? Dass Barth in der Entfaltung seiner Trinitätslehre Gottes Seinsweise im Heiligen Geist als den »Erlöser« bezeichnet, gibt Anlass, diesen Zusammenhang von Offenbarungslehre, Pneumatologie und Eschatologie genauer zu bedenken. Barths Lehre von der Offenbarung entfaltet das Ereignis der Erschließung Gottes in drei Seinsweisen: als Subjekt, Prädikat und Objekt des Satzes »Gott offenbart sich als der Herr« (KD I/1, 323). »Demselben Gott, der in unzerstörter Einheit der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein ist, wird auch in unzerstörter Verschiedenheit in sich selber gerade diese dreifache Weise von Sein zugeschrieben« (KD I/1, 315). In KD I/1 beschreibt Barth das Ereignis der Offenbarung als dialektische Einheit der Selbstunterscheidung Gottes in der unzerstörbaren Einheit des dreieinigen Gottes. Dem Heiligen Geist wird dabei die Funktion der subjektiven Seite der Offenbarung zugeschrieben (KD I/1, 472),
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die die »Belehrung«, »Erleuchtung« und »Bewegung« des Menschen bedeutet (KD I/1, 475). In seiner Offenbarung erschließt sich Gott dem Menschen als Schöpfer, Versöhner und Erlöser. Diese Selbsterschließung wird auf der Seite des Menschen selbst wiederum durch die Seinsweise des Erlösers subjektive Wirklichkeit, welche zugleich den Ermöglichungsgrund des Glaubens konstituiert. Zentral für Barths Behandlung der Pneumatologie im Rahmen seiner Offenbarungslehre ist die These, dass die Seinsweise Gottes als Erlöser – ebenso wie die der anderen beiden trinitarischen Personen – im Prozess der Selbstunterscheidung und so in der Freiheit Gottes begründet ist. In dieser Freiheit gibt sich nach Barth Gott dem Menschen in seinem Offenbarsein zu erkennen, das er in der Seinsweise des Geistes selbst ist. In der Selbstunterscheidung Gottes ist Gott aber zugleich mit sich selbst identisch und offenbart eben darin seine Herrschaft. Dabei macht ein genauer Blick auf dieses Ereignis der Selbsterschließung klar, worin die Dialektik der Selbstoffenbarung Gottes besteht: »Offenbarung bedeutet in der Bibel die Menschen zuteil werdende Selbstenthüllung des seinem Wesen nach dem Menschen unenthüllbaren Gottes« (KD I/1, 332.338.342 mit je unterschiedlicher Hervorhebung). Die in diesem Satz dargestellte Dramatik, die es im Rahmen dieser Studie zu analysieren gilt, stellt sich als Spannung zwischen der Selbstenthüllung und der Unenthüllbarkeit Gottes dar. Die Frage nach der erlösungstheologischen Relevanz dieser Aussage entscheidet sich jedoch nicht nur anhand der Konstatierung dieser Dramatik, sondern auch im Hinblick darauf, auf was sich diese Selbstenthüllung bezieht bzw. worin Barth die Unenthüllbarkeit Gottes begründet sieht. Den theologischen Rahmen seiner Offenbarungslehre bildet Barths Auffassung der absoluten Subjektivität Gottes.2 Entsprechend verlagert er auch das noetische Problem der Offenbarung als Erkenntnis Gottes in die Gotteslehre: »Unenthüllbarkeit, Verborgenheit, gehört aber zum Wesen dessen, der in der Bibel Gott genannt wird« (KD I/1, 338). Die Dramatik, die sich daher im Offenbarungsgeschehen abspielt, ist also nur an zweiter Stelle eine geschichtliche Dramatik und an erster Stelle eine innertrinitarische.3 Das bedeutet, dass die Unmöglichkeit der Gotteserkenntnis in Gottes eigener Möglichkeit seiner Verhüllung begründet ist: Die Nicht-Erkenntnis Gottes behandelt Barth hier daher nicht unter einem hamartiologischen Gesichtspunkt, der auf der Seite des Menschen zu lokalisieren wäre. Vielmehr »liegt es in dem Wesen dieses Gottes, daß er dem Menschen unenthüllbar ist« (KD I/1, 338). 2
3
Matthias Fischer nennt dies die »absolute Wirklichkeit Gottes«, die im trinitarischen Wesen Gottes ihren Grund hat und als die Gott sich in seiner eigenen Offenbarung selbst entspricht. Vgl. Fischer, Was ist Offenbarung?, 32f. Vgl. dazu auch von Sass, »Nachmetaphysische Dreifaltigkeit«, besonders 312–320. Auf diesen Zusammenhang weist auch die einschlägige Interpretation von Barths Trinitätsund Gotteslehre von Eberhard Jüngel hin: Jüngel, Gottes Sein ist im Werden, besonders 27–37.
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Modell 5: Revelatorische Eschatologie
Barth verbindet diese These mit der Feststellung der radikalen Freiheit Gottes in seiner Offenbarung: »Es muß nämlich bedeuten, daß Gott auch in der Gestalt, die er annimmt, indem er sich offenbart, frei ist, sich zu offenbaren oder sich nicht zu offenbaren« (KD I/1, 339). Der Grund der Erkenntnis Gottes in seiner Offenbarung ist also Gottes eigene Entscheidung – und vis-a-vis entspringt daher auch das Ausbleiben dieser Erkenntnis der freien Entscheidung Gottes (vgl. KD I/1, 388).4 In dieser frühen Entwicklungsphase der Kirchlichen Dogmatik wird daher zwar die Enthüllung Gottes als ein eschatologisches Geschehen beschrieben, nicht jedoch als eine Überwindung einer externen Größe, die einen Widerstand gegen die Bekundung der Wahrheit Gottes darstellte. Das retadierende Moment in der Offenbarung Gottes beschreibt Barth stattdessen dialektisch als das Geheimnis der Offenbarung, in der Gott er selbst ist: »Gott ist immer wieder Geheimnis« (KD I/1, 33). Die erlösungstheologische Frage nach der Erkenntnis Gottes ist daher in Gott selbst und die Frage nach ihrem Ausbleiben im Nicht-Ereignis der Offenbarung zu suchen, welche in der Freiheit Gottes begründet ist: »das ist Gottes Wort, die fallende Entscheidung, das Ereignis des Glaubens oder auch sein Nicht-Ereignis, das alles entzieht sich unserer und jedes Menschen Sicht und Zugriff« (KD I/1, 278). Damit korrespondiert auch die anthropologische Dimension dieses Geschehens: Barth differenziert in KD I/1 (noch) nicht zwischen der schöpfungstheologischen Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf und der hamartiologischen Unterscheidung zwischen Gottes guter Schöpfung und der durch die Macht der Sünde korrumpierten Natur des Menschen. Beide subsummiert Barth unter den bleibenden »nicht nur quantitativen, sondern qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch« (KD I/1, 512).5 Und so ist es nur folgerichtig, dass Barth im Rahmen seiner Prolegomena das Offenbarwerden Gottes nicht als eine erlösungtheologisch signifikante Transformation des Menschen bezeichnet; er schließt diese vielmehr explizit aus: »Auch im Empfang des Heiligen Geistes bleibt der Mensch Mensch, der Sünder Sünder« (KD I/1, 485). 4
5
Vor diesem Hintergrund erscheint Michael Roths These fraglich, dass Barth »das Verstehen eines Ereignisses als Tat Gottes und die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens nicht bedenkt« (Roth, »Evidenz und Gewißheit«, 216). Dagegen ist einzuwenden, dass Barths Offenbarungsverständnis nicht darin problematisch ist, weil dieser die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis nicht bedenke – dies tut er eben mit pneumatologischen Mitteln, mithilfe derer Barth die Selbstunterscheidung Gottes in seiner Offenbarung zu beschreiben versucht. Viel problematischer ist, dass Barth dieses Geschehen nicht in seiner transformativen Dimension ernst nimmt, da er die Differenz von Geschöpflichkeit und Sündersein nicht bedenkt, sondern beide unter den qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch subsumiert. Entsprechend parallelisiert Barth im Folgenden auch die »Distanz des Menschen als Geschöpf gegenüber Gott als dem Schöpfer, des Menschen als Sünder gegenüber Gott als dem Richter, des Menschen Begnadigung gegenüber Gott als dem frei und grundlos Barmherzigen« (KD I/1, 512f.)
Offenbarung als Erlösung? – Eine Modellverortung
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In Barths Prolegomena kommt also trotz der Bezeichnung des Heiligen Geistes als Erlöser die erlösungstheologische Bedeutung der Offenbarung noch nicht als ein dramatisch-transformatives Geschehen zur Sprache. Als dialektische Selbstunterscheidung Gottes thematisiert Barths frühe Offenbarungstheologie keine Aspekte der Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen. Sie ist damit nicht als geeigneter Ausgangspunkt für die Modellierung einer Erlösungstheologie der Offenbarung geeignet.
5.1.2 Kontraevidenz der Weltregierung Gottes in KD III/3 Die Grundlegungen und Neuorientierungen der Erwählungslehre führen Barth auch zu einer neuen theologischen Perspektivierung der Geschichte, die er fortan nicht allein in dialektischer Ambivalenz, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Weltregierung Gottes betrachtet. Barths Vorsehungslehre und deren erlösungstheologische Implikationen sind bereits im Rahmen des ersten Modells dieser Studie eingehend untersucht worden. Als Ziel einer geschichtlichen Teleologie, die in der Allmacht Gottes als Allwirksamkeit begründet ist, wurde dort die Erlösung als Vollendung der Geschichte beschrieben, die in der Zuordnung von Kreatur- und Heilsgeschichte durch Gottes koordinierendes Wirken begründet ist. In der Tradition Johannes Calvins nimmt Barth die Vorstellung der Geschichte als theatrum gloriae Dei auf, welche die heilsgeschichtliche Teleologie bestimmt und deren Ende nicht nur die Vollendung der Geschichte einschließt, sondern auch die Revolvierung von Gottes kontinuierlichem Handeln an seiner Schöpfung. Aus diesem Zusammenhang sieht es Barth als begründet an, dass alles Geschehen als Heilsgeschichte »in der Vollendung oder Erlösung, bestehend in dem allgemeinen Offenbarwerden von Gottes Schöpferwillen und Versöhnungstat, zu seinem Ziel [. . . ] kommen« wird (KD III/3, 221). Im Rahmen des ersten erlösungstheologischen Modells wurde bereits auf Barths kategoriale Unterscheidung der ontischen Objektivität der von Gott erhaltenden, begleitenden und regierten Schöpfung und der Frage nach deren epistemischer Evidenz eingegangen. Der Vorsehungsglaube wurde im Modus seines »kontraevidenten Vertrauens« in Gottes Vorsehung eingehend thematisiert.6 Die ontische Wirklichkeit von Gottes Vorsehung ist jedoch getrennt von deren Noetik und also von deren revelatorischer Erschließung zu betrachten.7 So beschwört Barth auch angesichts einer drohenden Verdunklung durch die Annahme eines deus absconditus: »Man wird zum vornherein mit aller Bestimmtheit damit und nur damit rechnen, daß auch hier, wo von besonderer heiliger 6 7
Vgl. Kap. 1.5.2. Barth denkt nicht nur diese Unterscheidung prinzipiell, sondern geht auch von einem Normalzustand des Nicht-Erkennens aus: »Gottes Plan und also jener Zusammenhang alles Geschehens sind uns noch verborgen« (KD III/3, 224).
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Geschichte nichts zu bemerken ist, in Wahrheit alles und Jedes von Gottes gnädiger Schöpfung über die in Jesus Christus vollbrachte Versöhnung der letzten Offenbarung entgegeneilt« (KD III/3, 223). Doch auch wenn in Barths Vorsehungslehre das Telos der Geschichte mit der Erkenntnis der Geschichte als Heilsgeschichte in der Eschatologie zusammengeführt wird und daher die Offenbarung der Heilsgeschichte erlösungstheologische Qualität hat, muss im Rahmen dieser Studie gefragt werden, inwiefern diese Erschließung der Geschichte als Heilsgeschichte selbst ein transformatives Geschehen darstellt: Inwiefern ist die Offenbarung der Geschichte als Heilsgeschichte mehr als nur die subjektive Seite eines eschatologischen Realismus? Anders gefragt: Ist die Fraglichkeit der Gewissheit über »das Konstante, dem der glaubende Mensch auch im Blick auf morgen entgegensehen wird«, selbst ein Phänomen, dessen erlösender Überwindung es bedarf (KD III/3, 65)? Der Begriff der »Verborgenheit Gottes« spielt auch im Kontext von Barths Vorsehungslehre eine entscheidende Rolle – darin gleicht diese der Offenbarungstheologie der Prolegomena. Sie wird jedoch nicht auf das Wesen Gottes, sondern auf sein Werk in und an seiner Schöpfung projiziert: »Hier geht es nun eben um die Verborgenheit Gottes und seines regierenden Waltens, auf deren Beseitigung wir zwar von seiner uns schon gegebenen Offenbarung her bestimmt warten dürfen, aber auch warten müssen, ohne sie von uns aus beseitigen zu können« (KD III/3, 224). Die konsequente Unterscheidung der Ontologie von der Noetik dieses Geschehens führt bei Barth jedoch dazu, dass er das Ausbleiben dieser Erkenntnis nicht auf seinen Einfluss auf die Richtung der Geschichte untersucht. Dass diese Schöpfung von Gott erhalten, begleitet und regiert wird, ist die eine Sache; dass diese Wirklichkeit nur in sehr partikularer Weise und darüber hinaus nur unter einem großen »Dennoch!« angesichts der Ambivalenzen der Geschichte zu er- und bekennen ist, ist für Barth eine andere.8 Entfaltet Barth die revelatorische Dramatik in KD I/1 in einer Dialektik aus Enthüllung und Unverhüllbarkeit Gottes, so wird diese Spannung in der Providenzlehre in der Differenz von Gottes Wirken und dessen Kontraevidenz aufgenommen, wobei beide – und hier denkt Barth immer noch im Rahmen einer radikalen Subjektivität Gottes – ihren Grund in Gott selbst haben. Die ontologische Kontinuität des erlösungstheologischen Modells der Vollendung der Geschichte wird um den Preis einer noetischen Diskontinuität erkauft, deren Überwindung in der »Endoffenbarung« der Geschichte als Heilsgeschichte ontisch nichts hinzuzufügen hat: Denn daß es in jener Mitte, in jenem in Jesus Christus vollbrachten Heilsgeschehen gebrochen, gerichtet, widerlegt und erledigt ist, das gilt nicht nur dort, sondern von dort aus für den ganzen Kosmos und für das ganze 8
Zur existentiellen und gleichzeitig erkenntnistheoretischen Frage nach der Begründung des Vorsehungsglaubens im kontraevidenten »Dennoch« vgl. KD III/3, 298.
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kosmische Geschehen, das ist hier zwar noch nicht sichtbar und erkennbar, das ist aber auch hier nicht wieder in Frage zu stellen, das bedarf auch hier keiner Wiederholung, Überbietung, Verbesserung, Erweiterung, das ist damals ein für allemal und für überall gültig geschehen. (KD III/3, 424)
Gegenüber der dialektischen Offenbarungstheologie der Prolegomena kündigt dies jedoch eine systematische Verschiebung an, die Barth in seiner Theorie des Bösen als des Nichtigen einlöst: Denn das noetische Problem der Verborgenheit Gottes ist vom perfectum des in Christus bereits realen Heils bestimmt und muss diesem zwar sachlich nach- aber sekundär ebenso zugeordnet werden. Während die Wirklichkeit des Bösen in den offenbarungstheologischen Überlegungen von Barths Trinitätslehre hinter dem qualitativen Unterschied von Schöpfer und Geschöpf verschwindet, erscheint es in der Vorsehungslehre als das Nichtige, welches zwischen Sein und Nicht-Sein eine Ontologie dritter Art begründet, die aus einer sehr paradoxen Noetik heraus ihre Gestalt und Macht gewinnt (vgl. KD III/3, 402). Durch Kreuz und Auferstehung ist das Nichtige in Christus zwar ontisch überwunden; die Wirksamkeit des Bösen, die seiner bereits geschehenen Überwindung zum Trotz von ihm ausgeht, wird jedoch erst eschatologisch noch zu überwinden sein: Es kann das Nichtige nur noch insofern in Geltung stehen und zur Geltung kommen, als die allgemeine Offenbarung seiner Erledigung noch nicht geschehen ist, als die ganze Kreatur ihrer allerdings noch zu warten, ihr erst entgegenzusehen hat (KD III/3, 424).
Unbeeindruckt vom Ausbleiben dieser Endoffenbarung konstatiert Barth jedoch den in Christus bereits realisierten status quo der Wirklichkeit des Bösen: »Das Reich des Nichtigen aber ist zerstört« (ebd.). Die bedeutende Verschiebung in der Vorsehungslehre gegenüber den Prolegomena liegt auf der Hand: Sie besteht darin, dass Barth mithilfe der konsequenten Unterscheidung von Ontologie und Noetik und ihrer paradoxen Verschränkung in der Wirklichkeit des Nichtigen die eschatologische Bedeutung von Gottes Offenbarung in Bezug auf eine Größe beschreiben kann, die weder Teil der Wirklichkeit Gottes noch der von diesem unterschiedenen guten Schöpfung ist. Indem Barth die Ontologie des Nichtigen von dessen Erkenntnis und Verschleierung her beschreibt, nähert er sich im Umkehrschluss einem Verständnis von Offenbarung, das als »Auseinandersetzung mit dem Bösen« gelten kann und also im Rahmen dieser Studie als erlösungstheologisches Geschehen zu verstehen ist. In KD III/3 ist diese Verschiebung jedoch nur angedeutet und noch nicht konsequent vollzogen. Denn das Nichtige verbleibt trotz seiner verheerenden Wirkung in der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott (»zur Linken Gottes«, KD III/3,
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405). Den eschatologischen Vorbehalt fasst Barth daher nicht als einen Widerstand gegen die in Christus bereits begründete eschatologische Disposition der Geschichte, sondern als der schlechthinnigen Souveränität Gottes unterworfen: »Gott läßt es jetzt noch zu, daß wir sein Reich noch nicht sehen und uns insofern vom Nichtigen noch immer bedrängt finden« (KD III/3, 425). Über den Grund dieser Zulassung lässt sich jedoch keine theologisch qualifizierte Aussage treffen.
5.1.3 Offenbarung als Versöhnung: Das »dritte Problem der Versöhnungslehre« Der dritte Band der Versöhnungslehre widmet sich in der Christologie dem prophetischen Amt und behandelt unter diesem Gesichtspunkt die Soteriologie der Berufung, die Barth sowohl individual-soteriologisch als auch ekklesiologisch entfaltet. Auch hier ist der Dreh- und Angelpunkt die Frage nach der Erkenntnis Gottes und seines versöhnenden Handelns. Barth nimmt damit die offenbarungstheologischen Fragestellungen der vorigen Bände auf, indem er sie im Licht des Christusereignisses betrachtet. Diesen Problemkomplex erschließt er sich jedoch dezidiert christologisch, insofern die Wiederkunft Jesu Christi, die für Barth als Heuristik für eine heilsgeschichtliche Periodisierung dient, Jesus Christus zu seinem eigenen Zeugen werden lässt. Diese Selbstkundgebung ist der Grund für die christliche Existenz, die sich als Erkenntnis durch dieses Zeugnis auszeichnet: Vom geschichtlichen Christusereignis in Jesus von Nazareth herkommend und auf die Wiederkunft in seiner dreifachen Gestalt ausgerichtet ist die christliche Existenz eine (freilich partikulare) Existenz zwischen den Zeiten: Der christliche Glaube erkennt darum, dass er es in Jesus Christus »mit der neuen Wirklichkeit der Weltgeschichte« zu tun hat (KD IV/3, 815). Barth betont dabei jedoch, dass es sich hier um ein »Glauben« und nicht um ein »Schauen« handelt. Diese Differenz, die den eschatologischen Vorbehalt epistemologisch aufgreift, prägt die Zeit des Volkes Gottes im Weltgeschehen: Dies ist die Einschränkung, die sich daraus ergibt: Die Versöhnung der Welt mit Gott, die Erfüllung des Bundes, die hergestellte Ordnung zwischen Gott und Mensch und so die neue Wirklichkeit der Weltgeschichte ist auch der Gemeinde gerade nur in Jesus Christus, und sie ist der der Erkenntnis Jesu Christi noch nicht teilhaftigen Welt überhaupt nicht erkennbar. Erkennbar! Die Einschränkung betrifft also nicht die neue Wirklichkeit der Weltgeschichte als solche. [...] Die Einschränkung betrifft aber die Offenbarung und Erkenntnis dieser neuen Wirklichkeit. (KD IV/3, 818)
Barths Differenzierung der in Christus realisierten neuen Wirklichkeit und der Möglichkeit ihrer Erkenntnis schließt damit also auf den ersten Blick an die bereits bekannte Unterscheidung aus der Vorsehungslehre zwischen Ontologie und Noetik an. Allein, Barth belässt es über weite Strecken dieses dritten Bandes der
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Versöhnungslehre nicht bei dieser Differenzierung zwischen der Ontologie der in Christus universal realisierten Versöhnung und ihrer geschichtlich-partikularen Noetik. Vielmehr integriert er mithilfe des prophetischen Amtes diese Unterscheidung als eine Binnendifferenzierung in das Werk des Versöhners, sofern Jesus Christus als Versöhner auch der Offenbarer dieser Versöhnung ist: »Er äußert, erschließt, vermittelt, offenbart sich selbst« (KD IV/3, 6f.). Barth behandelt daher die Frage nach der Erkenntnis der Versöhnung selbst als einen Teil des Dramas, welches sich in der Geschichte der Schöpfung als dem theatrum gloriae Dei vollzieht. Mit dem christologischen Satz, dass Jesus Christus das Licht des Lebens ist, welches in der Finsternis der Welt aufleuchtet, stellt Barth heraus, dass die epistemologische Seite der Versöhnung in den transformativen Prozess von Versöhnung und Erlösung eingebunden ist: In dem »ist«, mit dem wir das Leben dem Licht, den Bund dem Wort Gottes, die Versöhnung der Offenbarung, Jesus Christus den Hohepriester und König Jesus Christus dem Propheten gleichgesetzt haben, verbirgt sich ein Drama (KD IV/3, 188).
Ganz im Gegensatz zur Offenbarungstheologie der Prolegomena, wo der epistemologische Vorbehalt der Gotteserkenntnis im Geheimnis des Wesens Gottes begründet und im Geschehen der Offenbarung ereignishaft und dialektisch überwunden wird, unterstreicht Barth hier die Tatsache, dass auch die Offenbarung der Versöhnung in der Geschichte der Prophetie Jesu Christi auf Widerstände trifft. Es werde »wie die Versöhnung so auch ihre Offenbarung durch eine ihnen begegnenden Opposition in Frage gestellt« (KD IV/3, 190). Indem Barth dieses Problem der geschichtlichen Nicht-Erkenntnis Gottes nicht auf eine Dialektik der Offenbarung und damit auf die Wirklichkeit Gottes selbst zurückführt, sondern diese als Manifestation des menschlichen Widerstands in Gestalt der Lüge gegen die Versöhnungswirklichkeit Gottes identifiziert, gewinnt umgekehrt die Frage nach der Erkenntnis Gottes eine erlösungstheologische Bedeutung. Die Universalität des Heils in Jesus Christus ist aufgrund seiner nur partikularen Sichtbarkeit angefochtene Heilswirklichkeit.9 9
Barth thematisiert die partikulare Noetik der Versöhnung bereits im Anschluss an das priesterliche Amt. Dort diagnostiziert er eine »in unserer Zeit noch vorhandene Schranke der Gegenwart, Aktion und Offenbarung des lebendigen Jesus Christus«, die sich als die »Unvollkommenheit der Art der Vergegenwärtigung des Gekreuzigten in dieser unserer jetzigen Zeit« zeigt (KD IV/1, 358). Dem im Kreuz schon faktisch schon geschehenden Heil entsprechend verschiebt Barth dort jedoch die Frage der Erkenntnis als ein zwar nicht zu leugnendes Faktum, das jedoch vorerst weder als theologisches noch als existentielles Problem für den christlichen Glauben bedeutend ist. Christliche Existenz halte sich nicht am »Minuszeichen eines betrübten Noch nicht« auf, sondern betone das »Pluszeichen eines Schon« (KD IV/1, 361). Dieses Schon ist in der durch das Kreuz bereits veränderten menschlichen Situation begründet: »Es ist also auch das klar,
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Barths Neuverhandlung der Thematik der Offenbarung im Rahmen des prophetischen Amtes Jesu Christi kann im Rahmen dieser Studie daher als ein eigenes Modell betrachtet werden, das nicht alleine als die epistemologische Kehrseite einer schon in den vorangehenden Modellen beschriebenen Ontologie zu bezeichnen ist. Vielmehr ist zu zeigen, dass die Erschließung der Versöhnung als Selbsterschließung Gottes eine eigene Ontologie des Zeugnisses Jesu Christi mit sich bringt: »Das göttlich Noetische, Gottes Selbstkundgebung als der, der er im Sein und Tun Jesu Christi ist, die Prophetie des gottmenschlichen Mittlers hat auch in dieser Hinsicht die volle Kraft des göttlich Ontischen« (KD IV/3, 344). In der reifen Theologie Barths wird Gottes Offenbarung zu einem eigenständigen eschatologischen Symbol ausgearbeitet, mithilfe dessen sich Gottes geschichtliche Auseinandersetzung mit dem Bösen in Gestalt der menschlichen Lüge beschreiben lässt. Die Überwindung der geschichtlichen Nicht-Erkenntnis begreift Barth daher auch als ein Geschehen, das nicht disruptiv, sondern geschichtlich und prozesshaft zu verstehen ist. Damit wird die bereits in KD III/3 angedeutete Verbindung von Ontologie und Noetik, die im vorangehenden Abschnitt in der Wirkmächtigkeit des Nichtigen aufgezeigt wurde, weiter zugespitzt: Denn während §50 die Wirklichkeit des Bösen als das ontisch bereits Überwundene behandelt, das nur noch aufgrund seines kontrafaktischen Geltungsanspruchs eine parasitäre und paradoxe Existenz gewinnt, wird dieser Geltungsanspruch in KD IV/3 in Gestalt der menschlichen Lüge wider die Wahrheit der Versöhnung zu einem persistenten und erlösungstheologisch zu adressierenden Problem. Diesem Problem begegnet Jesus Christus daß zwischen der Sicht der menschlichen Situation, die sich aus der Zusammenschau, und der anderen, die sich aus der Unterscheidung der Zeiten ergibt, ein mehr als formaler Gegensatz nicht bestehen kann« (KD IV/1, 362). Entsprechend der Singularität des Kreuzesgeschehens, die im Rahmen des juridischen Modells herausgearbeitet wurde, kann für Barth daher die Partikularität der Heils- und Gotteserkenntnis keine ernsthafte Infragestellung der Universalität des Heils bedeuten. Auch unter dem Gesichtspunkt der Menschlichkeit Gottes im königlichen Amt kehrt die Frage der partikularen Erkennbarkeit Gottes offenbarungstheologisch in KD IV/2 wieder: Dort wird die Erkennbarkeit des Faktums der Existenz des wahren Menschen jedoch – in erstaunlicher Nähe zu Barths Ausführungen in KD I/1 – im Rahmen einer SubjektObjekt-Struktur verhandelt. Im Charakter der Offenbarung ist das Faktum der Geschichte Jesu Christi das »Licht, das als solches sichtbar und tatsächlich gesehen wird [...] d.h. aber: macht es sich selbst zum erkannten Faktum. Es öffnet gewissermaßen die Schranke, das Tor seiner Objektivität, es erweitert sich selbst in der Richtung auf ein Subjekt hin, es umgreift und umschließt auch dieses Subjekt, es wird das erkannte Objekt dieses Subjekts« (KD IV/2, 136). Direkt daran anschließend betont Barth die damit einhergehende cartesianische Diastase von Ontologie und Noetik: »Es wird wohl deutlich, daß wir es in diesem sekundären[!], dem Offenbarungscharakter jenes Faktums mit einem vollkommenen Analogon zu seinem primären (als das Sein und Geschehen, als das es in jenem offenbar und erkannt wird) zu tun haben. Es geht dort, in seinem ontischen, und hier in seinem noetischen Charakter [.. . ] um eine einzige und einheitliche Aktion« (KD IV/1, 136). Dass die Erschließung der Versöhnung aber als ein eigenes Problem im Drama der Geschichte Gottes mit den Menschen zu thematisieren ist, wird für Barth schließlich erst mit der Entfaltung des prophetischen Amtes zum Thema.
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als das Licht der Welt: »Es scheint aber, indem es als solches aufgeht, in der Finsternis und so wird seine Geschichte zur Geschichte seines Kampfes gegen diese« (KD IV/3, 272). Damit wird aber auch die Frage der Noetik der Versöhnungswirklichkeit selbst als ein ontologisches Problem begriffen, mit dem sich Gott in Jesus Christus in der Kraft des Geistes geschichtlich auseinandersetzt – die Noetik der Versöhnung bildet in der Erlösung als Apokalypsis eine eigene eschatologische Ontologie, die es auch in diesem Kapitel zunächst von seinen christologischen Grundlegungen her zu verstehen gilt. Barth erschließt sich diese Ontologie auf der Grundlage eines biblisch prominenten und für die Geschichte des Christentums bedeutenden Metaphernraums, welche dieses Modell strukturiert: Barth beschreibt die Prophetie Jesu Christi mithilfe optischer Begrifflichkeiten, die Jesu Christi Erkenntnis stiftendes Wirken mit seinem Sein als Licht des Lebens identifizieren. Zur Rekonstruktion von Barths erlösungstheologischer Offenbarungstheologie ist der Binnenlogik von Barths Verwendung dieses Metaphernraums im Folgenden nachzugehen. Dabei sind in diesem Modell drei verschiedene Ebenen zu unterscheiden, auf denen die eschatologische Metaphorik des Lichts entfaltet wird. Über die LichtChristologie verbunden repräsentieren sie drei verschiedene Anliegen, die Barth in der versöhnungstheologischen Behandlung des Erkenntnisproblems verfolgt. Die eine Achse beschreibt den christologisch gegründeten Kontrast zwischen Licht und Finsternis. Mit ihr schildert Barth die Auseinandersetzung des wahrhaftigen Zeugen gegen die Lüge der Welt und etabliert mit dieser Leitdifferenz einen für dieses Modell tragenden heilsgeschichtlichen Rahmen. Während diese erste Ebene stark von dualisierenden bis hin zu martialischen Denkformen geprägt ist, beschreibt eine zweite Ebene eine kritisch-inklusive Wahrheitstheorie, die eine Verbindung von schöpfungs- und versöhnungstheologischen Denkformen darstellt. Auf einer dritten Ebene wird die besondere, geistliche Bedeutung der Berufung zum christlichen Zeugnis und die Sendung der Gemeinde beschrieben. Die Lebensformen der Gemeinde, die Barth als Grundformen des kirchlichen Zeugendienstes beschreibt, sind vom Zeugnis Jesu Christi jedoch zu unterscheiden. Modelltheoretisch gesprochen handelt es sich bei den drei Ebenen um miteinander verbundene Binnenstrukturen dieses Modells. Sie sollen zunächst in den folgenden drei Abschnitten voneinander unterschieden rekonstruiert werden und schließlich auf ihre notwendige Zuordnung hin befragt werden (4.4).
5.2 Licht und Finsternis: Die dramatische Leitdifferenz dieses Modells Die werkgenetische Hinführung hat gezeigt, dass die Besonderheit der Offenbarungsthematik im dritten Band der Versöhnungslehre ihre agonale Struktur
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ist. Sprachlich macht sich dieser Umstand in der dualisierenden Verwendung der Licht-Metapher im Gegenüber zur Finsternis bemerkbar. Wenngleich die Unterscheidung von Licht und Finsternis bzw. Barths dramatische Schilderung der Überwindung der Lüge durch das Zeugnis Jesu Christi nicht die einzige für dieses Modell kennzeichnende Relation ist, so hat sie dennoch fundamentale bzw. eschatologisch absolute Bedeutung. In Barths Lehre der dreifachen Parusie Jesu Christi etabliert er sie als Leitdifferenz dieses Modells, welches erst im darauf folgenden Kapitel weitere Ergänzung erfährt. Als absolute Metapher steht das Licht Jesu Christi für sein Erkenntnis schaffendes Zeugnis; ihm gegenüber entspricht die Finsternis der Nicht-Erkenntnis und der Macht der Lüge, die sich der Erkenntnis des wahrhaften Zeugen verschließt.10 Diese Gegenüberstellung ist vor allem polemischer Gestalt und kommt in der Geschichte der Prophetie Jesu Christi als dezidierte Kampfgeschichte zum Tragen. Diese erste Modellebene gilt es zunächst in ihrer tragenden Bedeutung zu rekonstruieren.
5.2.1 Die Dramatik der Parusie Jesu Christi Karl Barths Lehre von der dreifachen Parusie bildet eine geschichtstheologisch tragende Struktur für das in diesem Kapitel beschriebene erlösungstheologische Modell. In ihr wird die differenzierte Einheit von Versöhnung und Erlösung als Jesu Christi »neues Kommen und also sein Sichtbarwerden in wirksamer Gegenwart in der Welt« beschrieben (KD IV/3, 338). Barths Rede von der dreifachen Wiederkunft Jesu Christi stellt das sog. »dritte Problem« der Versöhnungslehre in einen eschatologischen Zusammenhang, indem es nach der Kommunikation der Versöhnung als deren geschichtlicher Realisierung fragt. Barth begründet diesen Zusammenhang auferstehungstheologisch und entwickelt seine Lehre von der dreifachen Parusie Jesu Christi als die dreifache Einheit von Ostern, der Prophetie Jesu Christi in der Geschichte seines Zeugnisses und der die in diese Geschichte vollendende, dritte Gestalt der Wiederkunft. Die Auferstehung als die »Ur- und Grundgestalt seiner Herrlichkeit, des Aufgehens und Leuchtens seines Lichts« (KD IV/3, 324) bildet als das Urereignis in der Geschichte der Prophetie zugleich die Einheit der Ontologie und Noetik für eben jene. Damit ist gemeint, dass die Auferstehung sowohl der Sieg über den Tod als auch dessen geschichtliche Proklamation ist und als solche »sein eigener realer Durchbruch in die Welt, in die Menschheit, zu uns hin« (ebd.). Ohne die Kommunikation, die Mitteilung und die Erkenntnis der Versöhnung wäre sie keine wahre Versöhnung; und so hängt für Barth alles daran, dass gerade der Auferstandene nicht ohne die Seinen, nicht ohne das von ihnen gehörte Zeugnis 10
Diese schematische Polarität entspricht vor allem dem Ductus von §69; sie ist daher als Arbeitshypothese für den folgenden Abschnitt angemessen, muss jedoch mit Blick auf Barths wesentlich differenzierter argumentierende Hamartiologie der Lüge später noch weiter aufgeschlüsselt werden.
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seiner Prophetie und auch nicht in der verborgenen Ungewissheit des leeren Grabes verbleibt.11 Das Zeugnis Jesu Christi will gehört werden – und mit Barth ließe sich ergänzen: Es wäre nicht das Zeugnis Jesu Christi, wenn es nicht gehört werden würde.12 Damit bildet die Auferstehung als die erste Gestalt der Wiederkunft Christi die geschehene Urgestalt dieser neuen Wirklichkeit. Sie bildet das eschatologische Vorzeichen, welches die Wirklichkeit der Geschichte als mit Gott versöhnter Wirklichkeit erschließt. In ihr ist Barth zufolge nicht eine, sondern die totale, universale und definitive Bestimmung der gesamten Weltwirklichkeit vollzogen, welche damit den Rahmen der Geschichte post Christum absteckt. Damit ist der Grundstein für das Verständnis der anderen beiden Gestalten der Wiederkunft Christi gelegt, wenn Barth unterstreicht, »daß das erste in der Auferstehung Jesu Christi ausgesprochene Wort Gottes auch sein letztes in sich schließt« (KD IV/3, 354). Das bedeutet freilich nicht, dass mit dem Osterereignis als einem vergangenen Geschehen alles gesagt, noch viel weniger: dass damit alles getan wäre. Barths Rede von der dreifachen Parusie schließt nämlich ferner ein, dass sich von diesem Ereignis die Geschichte als Geschichte des Zeugnisses unter dem Vorzeichen des Sieges Jesu Christi aufspannt, deren universale Realisierung der Eschatologie vorbehalten bleibt: Die beiden anderen Formen der Parusie beschreiben daher die geschichtlich vollendete Realpräsenz Jesu Christi. Barth nimmt die für dieses Modell zentrale Lichtmetaphorik vor allem in der zweiten, der geschichtlichen Form der Wiederkunft Christi auf. In ihr wird deutlich, dass es sich in der Parusie um ein transformativ-revelatorisches Geschehen handelt:
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Der testimoniale Zusammenhang von Christus als seinem eigenen Zeugen und der Gemeinde als der Gemeinschaft der nicht nur sein Zeugnis Hörenden, sondern selbst Zeugnis Gebenden soll in diesem Abschnitt zunächst nur von der christologischen Seite her entfaltet werden. Auf die Frage nach einer zeugnistheoretisch qualifizierten Kirchentheorie ist im vierten Abschnitt dieses Modells einzugehen. Hier ist auf einen signifikanten modellabhängigen Unterschied zum ersten in dieser Studie beschriebenen Modell hinzuweisen: Ganz im Gegenteil zur Kontraevidenz und Verborgenheit der geschichtlichen Teleologie, die anhand der Vorsehungslehre Barths rekonstruiert wurde, thematisiert Barth das Heilshandeln Gottes hier explizit unter dem Gesichtspunkt der österlichen Erkenntnis. Der Sieg Jesu Christi über den Tod in der ersten Form der Parusie ist in diesem Modell gleichbedeutend mit seiner Bekanntmachung in seiner zweiten und diese abschließenden dritten Gestalt: Er ist »in seiner eigenen Wirklichkeit Wahrheit und eben als Wahrheit Wirklichkeit auch für die Welt« (KD IV/3, 327). Die Unterscheidung von Ontologie und Noetik, wie sie sowohl für Barths Vorsehungslehre, aber auch für die daran anknüpfende Möglichkeit der Weiterführung eines liberalen Paradigmas für den Vorsehungsglauben beschrieben wurde, wird in diesem Modell nicht mehr aufrecht erhalten: Es geht in diesem Modell sowohl um die geschichtliche Bewahrheitung der Geschichte Jesu Christi und zugleich darum, dass diese Geschichte als Zeugnis wie auch das Zeugnis als Geschichte Wirklichkeit schafft. Vgl. Peeters, »Christus und seine Kirche«, 164f.
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Modell 5: Revelatorische Eschatologie In seiner Offenbarung, als Wort geht er m.e.W. hinein in die Finsternis der Nicht-Erkenntnis, in welcher die Sünde notwendig Raum und Macht hat, in welcher das Leben derer, deren Errettung und Heil in ihm doch schon verwirklicht ist, [. ..] deren Existenz aber, indem sie noch nicht darum wissen, noch nicht die dieser Verwirklichung entsprechende Gestalt annehmen kann (KD IV/3, 323).
Die Parusie in ihrer zweiten Gestalt stellt eine geschichtliche Bewegung Gottes in die Welt dar, deren Richtung mit der Auferstehung bereits beschlossen ist: Barths programmatischer Ausspruch »Jesus ist Sieger!«, den er der christologischen Grundlegung seiner Parusielehre voransetzt (vgl. KD IV/3, 188-317), stellt daher gerade keine rhetorische Proposition für die Entfaltung des prophetischen Amtes dar, sondern ist im engsten Sinne der Nachvollzug des Ostergeschehens.13 Die Entfaltung der zweiten Gestalt der Parusie in der Geschichte der Prophetie Jesu Christi steht daher explizit unter dem Vorzeichen des in der Auferstehung vollzogenen Sieges – als Siegesgeschichte ist sie jedoch auch eine Geschichte des Kampfes des Lichtes gegen die Finsternis. 13
Damit widerspricht Barth der schon zu seinen Lebzeiten lautgewordenen These, seine Theologie folge dem Prinzip eines »Triumphes der Gnade« (vgl. Berkouwer, Der Triumph der Gnade in der Theologie Karl Barths). Barth widmet sich diesem Vorwurf in einem eigenen Exkurs (KD IV/3, 198-206) und weist die damit verbunden Konsequenzen, die insbesondere in der Relativierung der Wirklichkeit des Bösen als dem Nichtigen bestehen, entschieden zurück. Dabei verweist er vor allem auf die Geschichte des Sieges Jesu Christi als Kampfgeschichte. Der erste Abschnitt dieses Kapitels hat gezeigt, dass sich Barth die erlösungstheologische Bedeutung der Erkenntnis als dramatischem Geschehen erst in der späten Entwicklungsphase seiner Kirchlichen Dogmatik erschlossen hat. Es ist nicht auszuschließen, dass Barths Exkurs zu Berkouwer daher nicht allein als das Ausräumen eines Missverständnisses zu verstehen, sondern vielmehr als Zeugnis einer selbstkritischen Weiterentwicklung Barths zu lesen ist. Demgegenüber hat zwar nicht mit Blick auf die Wirklichkeit des Bösen, sondern mit der Frage nach der geschichtlichen Beteiligung des Menschen im Versöhnungsgeschehen im Hintergrund, den Grundtenor Berkouwers zuletzt auch Anne Käfer noch einmal bestärkt. Für den Vorgang der Konstitution des Glaubens, die im prophetischen Amt mit dessen Berufung zusammenhängt, »muß angenommen werden, er geschehe am Menschen, aber ganz ohne den Menschen, am Menschen vorbei und abgesehen vom Geschaffensein des Menschen durch Gott den Schöpfer allein als besondere Tat Jesu Christi, des Schöpferwortes.« (Käfer, Inkarnation und Schöpfung, 316). In der Barth-Forschung wird dies häufig unter dem Stichwort der »Geschichtsvergessenheit« von Barths Theologie verhandelt, die insbesondere im hamartiologischen Kontext aufleuchtet. Für einen forschungsgeschichtlichen Überblick vgl. Wüthrich, Gott und das Nichtige: Eine Untersuchung zur Rede vom Nichtigen bei Karl Barth, 274–281. Eine Alternative erwägt dagegen Axt-Piscalar, »Offenbarung als Geschichte: Die Neubegründung der Geschichtstheologie in der Theologie Wolfhart Pannenbergs« in Anschluss an Pannenberg u. a., Offenbarung als Geschichte. Dagegen hat Juliane Schüz explizit mit Blick auf das prophetische Amt noch einmal herausgestellt, dass sich dieser Vorwurf in dieser Pauschalität nicht halten lässt (vgl. Schüz, Glaube in Karl Barths »Kirchlicher Dogmatik«, 244). Die Verschränkung des Christus victor mit dem Christus militans soll dies im Folgenden auch unter einer erlösungstheologischen Perspektive noch einmal angesichts der Dramatik des geschichtlichen Zeugnisses unterstreichen.
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5.2.2 Universal- und Realgeschichte »Jesus ist Sieger!« – Barths auferstehungstheologisch begründete Programmformel stellt den unhintergehbaren Inhalt und zugleich den Rahmen der Wiederkunft Jesu Christi in ihren drei Gestalten dar.14 Nicht als Triumph eines Prinzips, sondern als Sieg »der lebendigen Person Jesu Christi« (KD IV/3, 198) impliziert dieser auch seine Anfechtung. Diese Anfechtung stellt die negative Voraussetzung für die Dramatik dieses Modells dar. Und so sind weite Teile von Barths Ausführungen zur Parusie nicht allein von dem Bild eines Christus victor, sondern vielmehr von dem des Christus militans geprägt: Als das Licht des Lebens, das im Ostergeschehen die Finsternis des Todes überwunden hat, kämpft Christus in der Geschichte seiner Prophetie, sofern sein Wort in der Welt Widerspruch provoziert. Das Datum der Versöhnung ist unter dem Gesichtspunkt seiner Erkenntnis infrage gestellt. Diese Verschränkung des siegreichen und kämpfenden Christus prägt die geschichtliche Dynamik dieses erlösungstheologischen Modells. Michael Weinrich hat den Vorschlag gemacht, die Geschichtlichkeit des prophetischen Amtes dreigestaltig als Siegesgeschichte in der Universalgeschichte, als Kampfgeschichte in der Realgeschichte und als Geistesgeschichte in der Aktualgeschichte zu schematisieren.15 Weinrichs Deutung stellt dabei keine Periodisierung der Geschichten dar. Denn analog zur Dreigestalt der Parusie geht es drei mal um je verschiedene Blickrichtungen, die den geschichtlichen Zusammenhang der offenbarenden Gegenwart Jesu Christi erschließen: Unter dem Vorzeichen der Auferstehung betrachtet Weinreich die Universalgeschichte als Siegesgeschichte. Weinrich macht damit die erste Gestalt der Wiederkunft Christi universalgeschichtlich geltend. Damit wird die unbedingte Überlegenheit Jesu Christi über die Geschichte als bereits entschieden betrachtet; dies geschieht aber nicht allein im Sinne einer hermeneutischen Rückschau auf ein vergangenes Ereignis: »Nicht ein Siegerdenkmal und die von dem auf den Sockel gestellten Sieger geschaffene Ordnung bleibt zu pflegen [. .. ], sondern wir werden in die aktuale Bewegung der sich vollziehenden Geschichte Gottes mit den Menschen hineingestellt«.16
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Zum Ineinander von hermeneutischer (d.h. noetischer) und geschichtseschatologischer (d.h. ontischer) Bedeutung der Auferstehung als erster Gestalt der Parusie vgl. Peeters, »Das Drama der Vollendung«, 260–264. Ich beziehe mich auf Weinrich, »Christus als Zeitgenosse«, insbesondere: 192–206. Im Folgenden konzentriere ich mich vor allem auf die Verschränkung von Sieges- und Kampfgeschichte. M.E. entspricht jedoch Weinrichs Bezeichnung der dritten Dimension (nämlich der Geistesgeschichte als Aktualgeschichte) nicht dem eigentlichen Kern dessen, was Barth in seiner Hamartiologie mit der Kategorie des Zeugnisses erreicht. Wie in der materialen Eschatologie dieses Kapitels zu zeigen ist, müsste als dritte Dimension auf die Geschichte Jesu Christi vielmehr der Zusammenhang von Zeugnis- und Heilsgeschichte herausgestellt werden. Weinrich, 194.
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Weinrichs Deutung zielt daher darauf ab, dass Barth die Geschichte nicht allein von einem in der Vergangenheit liegenden Ereignis her versteht, das zum Spezifikum einer allgemeinen Geschichte stilisiert werde. Es geht um mehr als nur um eine noetische Vergegenwärtigung des Vergangenen im Sinne eines erinnerten Interpretaments der Wirklichkeit; es geht vielmehr um die »Realpräsenz« des Lichts, das die Finsternis überwindet (vgl. KD IV/3, 242. 320 u.ö.). Daher zielt Weinrichs Charakterisierung der Universalgeschichte als Siegesgeschichte auf die spezifische Frage der Gegenwart des Auferstandenen ab. Damit zusammen hängt für ihn aber auch die Durchdringung der Gegenwart durch die Präsenz Jesu Christi: »Die Gegenwart ist für Barth keine Passierstation auf einem sich dem Ziel immer mehr annähernden Weg, sondern sie steht vor allem unter dem Anspruch der ontischen Bewahrheitung des Herrschaftsanspruches Gottes«.17 Die Charakterisierung der Geschichte als Siegesgeschichte impliziert daher zugleich die agonale Dramatik dieses erlösungstheologischen Modells, die Weinrich mit der Charakterisierung der Realgeschichte als Kampfgeschichte herausstellt.18 Diese Kampfgeschichte nimmt den eschatologischen Vorbehalt als epistemischen Vorbehalt ernst: »So ist der Sieg Jesu, des Siegers, noch nicht vollendet. Daß er noch nicht vollendet ist, das ist die Grenze unseres Bereiches, unseres Gesichtskreises« (KD IV/3, 302).19 Als Konsequenz dessen hebt Barth selbst hervor, dass diese Nicht-Vollendung der Versöhnung nicht auf Gott selbst, sondern auf die seine Versöhnung anfechtende Macht des Bösen zurückgeht, die in dieser Geschichte eine kontra-agonale Rolle spielt: »Einbezogen in die Geschichte Jesu Christi 17 18 19
Weinrich, »Christus als Zeitgenosse«, 200. Vgl. Weinrich, 195f. Zu bemerken ist, dass es sich hier nicht nur um eine proto-eschatologische, sondern ebenso um eine fundamentaltheologische Aussage handelt; denn Theologie hat in ihrem Vollzug selbst eben jene Grenze nicht zu überschreiten. Von der Ostererkenntnis als einer geschichtlichen Erkenntnis herkommend ist es ihr weder im Vorhinein noch im Nachhinein möglich, ihre Erkenntnisvoraussetzung selbst zu garantieren. Dies hat auf modernitätstheoretischer Grundlage besonders Georg Pfleiderer herausgestellt, der Barths »Praktischer Theologie als dogmatische Legitimationstheorie« bezeichnet (vgl. Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie, besonders 423–444). Umso überraschender ist aber, dass Barths eigene Denkbewegung viel weniger vom Zweifel an der Wahrheit Jesu Christi, denn von der Anfechtung von Gott her geprägt ist (vgl. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Kap: Anfechtung). Bedeutsam ist dieser Umstand daher, weil hier deutlich wird, auf welcher Seite der Erkenntnis sich Barth selbst wähnt und in welche Richtung Barths Schilderung der Prophetie Jesu Christi geht: Sie zielt insbesondere auf eine selbstkritische Theologie, die sich gerade nicht als Triumph des Christentums (vgl. KD IV/3, 198) als eines der Lichter mit dem Licht Jesu Christi identifiziert, sondern die sich im Bewusstsein, dass auch sie als »Lehre« zu gelten hat, hamartiologisch selbst problematisiert: »Es könnte übrigens eine solche Lehre von ihm in ihrer Menschlichkeit und also Anfechtbarkeit auch ein ernstliches Hindernis des Hörens seines Wortes werden« (KD IV/3, 483). Dies ist mitnichten als Ausschlussklausel zu verstehen, sondern entspricht vielmehr der theologischen Existenz zwischen den Zeiten, die sich der Kampfgeschichte und ihrem Kampf der Wahrheiten nicht entziehen kann. Dieser Umstand ist mit besagter »Grenze unseres Bereichs« beschrieben.
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wird mit dem Menschen und seiner Geschichte also auch das Nichtige, das Böse, das in der noch nicht erlösten Welt noch und noch gegenwärtig und wirksam ist« (KD IV/3, 214). In der Geschichte ist der Christus victor als Christus militans gegenwärtig. Der zweiten Gestalt der Parusie entspricht daher die Charakterisierung der Geschichte als Kampfgeschichte,20 in der Jesus Christus als der wahre Zeuge gegen die Finsternis, welche Barths Hamartiologie mit der Lüge identifiziert, im Kampf begriffen ist: Denn die Lüge stellt einen Widerstand, eine reale Opposition und ein »Fremdelement« in der Geschichte als Siegesgeschichte dar. Daher ist die Versöhnungsgeschichte auch als eine kämpferische Auseinandersetzung gegen die Nicht-Erkenntnis zu verstehen: Sie geschieht »in der durch ihre Offenbarung begründeten christlichen Erkenntnis« (KD IV/3, 247). Die christliche Erkenntnis wird von Barth daher sekundär an die Selbstbezeugung Jesu Christi gekoppelt; sie gewinnt damit eschatologische Bedeutung, indem sie als menschliche Erkenntnis der Wirklichkeit in Gottes Bewegung in die Welt eingeschlossen ist. Das eschatologische Symbol des Lichts ist daher die Begründung für eine Eschatologie der Apokalypsis.21 Dabei hängt alles daran, dass Barth die drei Gestalten der Parusie Jesu Christi nicht voneinander trennt, sondern sie in ihrem Zusammenhang als das »kontinuierliche eine Geschehen« des Kommens Jesu Christi versteht (vgl. KD IV/3, 338). Eine abstrakte Trennung der geschichtlichen Prophetie und einer davon zu unterscheidenden Apokalypsis würde das Problem der Erlösung nur als retrospektive Eschatologie, als Enthüllung des bereits Geschehenen in den Blick nehmen. Das hier beschriebene Modell geht hierbei jedoch einen anderen Weg: Für Barth ist die Auferstehung weder ein historisches Ereignis der Vergangenheit, das es zu vergegenwärtigen gilt, noch ein symbolisches Interpretament, mit dem auf die Vergangenheit zu blicken wäre. Es ist vielmehr die reale Eröffnung einer Zukunft, die noch nicht vollendet ist: Noch hat eben die Zukunft – der Welt und unser aller Heilszukunft – damit, daß sie in Jesu Christi Auferstehung schon Gegenwart wurde, indem sie uns dort in ihrer ganzen Fülle gegenwärtig ist, nicht aufgehört, uns anderswo, außerhalb jenes Ereignisses, d.h. aber im Bereich unseres und des ganzen übrigen Weltdaseins, auch erst Zukunft zu sein (KD IV/3, 367).22 20 21
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Zur Bedeutung der zweiten Gestalt der Parusie in ihrer perichoretischen Einheit mit den anderen beiden vgl. Thomas, Neue Schöpfung, 183f. Hier ist allerdings weiter auf den Zusammenhang von Ontik und Noetik einzugehen: Denn wie Weinrich mit der Bezeichnung der Realgeschichte als Kampfgeschichte deutlich gemacht hat, geht es nicht um die Proklamation einer von dieser Geschichte unabhängigen Wahrheit, sondern um die geschichtliche Bewahrheitung des Lichts Jesu Christi als dem wahren Licht des Lebens. Auf die realgeschichtliche Transformation durch diese Erkenntnis ist später noch detailliert einzugehen. Mit gutem Grund hat Jürgen Moltmann in seiner Theologie der Hoffnung darauf hingewiesen, dass Barth »die transzendentale Eschatologie seiner dialektischen Phase später selber revidiert«
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Dass für Barth der Ausgang dieses Kampfes bereits beschlossene Sache ist, dass der Grundstein für diese Zukunft gelegt ist und diese Geschichte vom Eschaton her gesehen immer schon eschatologisch und also Heilsgeschichte ist, ändern für Barth nichts an der Dramatik der revelatorischen Präsenz des Lichtes gegen die Finsternis der Welt, als welches Christus gegen die »scheinbar totalitär herrschende Nicht-Erkenntnis« streitet (KD IV/3, 219). Für Barth ist dabei zentral, dass Christus und damit Gott selbst dieser Streitende ist (vgl. KD IV/3, 308). Auch wenn an späterer Stelle noch detaillierter auf die geschichtliche Bewahrheitung des Zeugnisses und den expliziten Einbezug der Schöpfung, der Menschheit und nicht zuletzt der Kirche im Sinne einer Agency einzugehen ist, ist hervorzuheben, dass es sich in der Frontstellung der Erkenntnis des Lichts gegen die Nicht-Erkenntnis der Finsternis nicht um einen Triumph der christlichen Wahrheit, sondern – wie Barth nicht müde wird zu betonen – um die geschichtliche Selbstkundgebung Jesu Christi handelt.23 Die Rekonstruktion dieser fundamentalen Leitunterscheidung des Lichts von der Finsternis hat den agonalen Charakter in der Christologie dieses Modells in formaler Hinsicht aufgezeigt. Die darin als dramatisches Kampfgeschehen angelegte Auseinandersetzung Jesu Christi mit der Finsternis wird in Barths Hamartiologie der Lüge zeugnistheoretisch weitergeführt: Mit ihr lässt sich die transformative Bedeutung des Christus militans, die der Licht-Metaphorik dieses Modells inhärent ist, weiter entschlüsseln.
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hat (Moltmann, Theologie der Hoffnung, 49). Dieses Urteil kann vor dem Hintergrund des werkgeschichtlichen ersten Abschnitts dieses Kapitels als gesichert gelten. Aus Moltmanns Sicht ergeben sich jedoch weitere Anfragen an Barth, ob mit einer Eschatologie der Selbstoffenbarung Gottes tatsächlich die Tragweite der Verheißung des Osterereignisses angemessen Rechnung getragen wird: »Soll der Gedanke der Selbstoffenbarung nicht unter der Hand zu einem Ausdruck für den Gott des Parmenides werden, so muß er geöffnet werden für die Verheißungsaussagen des 3. Glaubensartikels. Doch nicht so, daß die in der Christusoffenbarung verheißene zukünftige Erlösung nur zum Anhang und zur noetischen Enthüllung der Versöhnung in Christus würde, sondern so, daß sie deren wirkliches Ziel und deren wahre Tendenz, mithin deren real-ausständige, noch nicht erreichte und noch nicht verwirklichte Zukunft verheißt« (Moltmann, 50). Vor dem Hintergrund der unter dem Aspekt der Kampfgeschichte dargestellten realen Anfechtung der Gegenwart Jesu Christi wird jedoch fraglich, ob Moltmanns Kritik tatsächlich zutrifft. Ebenso ist die im genannten Zitat explizite Betonung der Zukünftigkeit der universalen Gegenwart Jesu Christi ein deutlicher Hinweis darauf, dass Barth in diesem Modell die noch ausstehende Vollendung des Heils nicht nur auf die noetische Ebene reduziert. Den Zusammenhang von Noetik und Ontologie stellt Barth mit der geschichtlichen Bewahrheitung der Wahrheit Jesu Christi heraus. Peeters hat diesen Umstand als Barths Antwort auf die Herausforderung Ludwig Feuerbachs gedeutet: »Die Seinsordnung ist das strukturierende a priori der Erkenntnisordnung. ›Bedeutsamkeit‹ ist nur möglich wegen der Priorität des ›Bedeutsamen‹« (Peeters, »Das Drama der Vollendung«, 260).
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5.2.3 Der wahrhaftige Zeuge gegen die Lüge In der Entfaltung seiner Hamartiologie dient Barths optische Metaphorik nicht mehr als alleiniger Referenzrahmen. Vielmehr wird dieser um zeugnistheoretische Aspekte erweitert.24 Es handelt sich hierbei um eine produktive Entwicklung, die zu einer phänomenologisch präziseren Beschreibung dieser Kampfgeschichte führt und darüber hinaus den dynamisch-geschichtlichen Charakter von Barths Wahrheitsbegriff veranschaulichen kann. Barth erschließt sich das polemische Verhältnis Jesu Christi zum Bösen mit dem Begriff des Zeugnisses der Prophetie Jesu Christi: Als sein eigener Zeuge streitet Christus als das Licht des Lebens gegen die Finsternis der Lüge. Die Wahrheit der Versöhnung tritt geschichtlich als das Zeugnis des wahrhaftigen Zeugen auf den Plan und widersetzt sich einem Machtgeflecht, das jedoch als reine Negation von Wahrheit im Sinne einer Unwahrheit bzw. als Negation von Erkenntnis als Nicht-Erkenntnis unterbestimmt wäre. Die Lüge leugnet die Wahrheit nicht nur, sondern sie vollzieht eine erfinderische »Ausweichbewegung« (vgl. KD IV/3, 500). Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum Barth eine zunehmende Dynamik der Lüge konstatieren muss: »Unser Zeit- und Geschichtsbereich ist also nicht, wie man wohl träumen möchte, der Schauplatz einer Abnahme, sondern der einer Verdichtung und Zunahme der Finsternis« (KD IV/3, 453). Diese Zunahme liegt im paradox-konstruierenden, reaktionären und parasitären Charakter der Sünde in Gestalt der Lüge. Sie ist darum paradox-konstruierend, weil sie sich als unmögliche Möglichkeit eine irreale Wirklichkeit schafft, die die faktische Wirklichkeit der Versöhnung verkennt und ihr so ausweichend opponiert. Diese paradoxe bzw. negativ-dialektische Genese des Bösen kennzeichnet alle hamartiologischen Paragraphen von Barths Versöhnungslehre. Sie prägt Barths Verständnis der Sünde in Gestalt des Hochmuts in der Opposition zur in Christus bereits geschehenen Rechtfertigung des Menschen; analog widerspricht die Sünde in Gestalt der Trägheit der in Christus bereits realen Heiligung des Menschen. Barth trägt dem geschichtlichen Charakter des dritten Problems der Versöhnungslehre nun dahingehend Rechnung, dass er die Hamartiologie dieses Modells im 24
Henning Theißen unterscheidet in seiner Studie zur Ekklesiologie Barths in KD IV/3 zwischen einem christologischen »Typus des Zeugen« und einem »Typus des Propheten« (vgl. Theißen, Die berufene Zeugin des Kreuzes Christi, 418). Dabei handelt es sich um eine begriffliche Differenz, die einerseits den Anschluss an die atl. Prophetie und zudem die unterschiedliche zeittheoretische Konnotation unterstreichen möchte: Die Prophetie blicke voraus, wohingegen das Zeugnis zurückverweise. Diese typologische Unterscheidung entspricht in dieser Stringenz selbstverständlich nicht dem atl. Verständnis von Prophetie. Wie zu zeigen ist, impliziert Barths Typus des wahrhaftigen Zeugen zu großem Maße auch eine vorausweisende, prospektive Perspektive, welche die Retrospektive auf die in Christus geschehene und immer noch geschehende Versöhnung integriert.
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Vollzug ihres Widerstandes nicht nur gegen das vollzogene, sondern gegen das sich vollziehende Versöhnungsgeschehen betont: In der Begegnung mit Jesu Christi prophetischem Werk, als negativer Reflex der Selbstoffenbarung, der Herrlichkeit des Mittlers, als die dem Licht des Lebens widerstrebende Finsternis, als Widerspruch gegen die den Menschen treffende Wahrheit erscheint seine Sünde in ihrer Gestalt der Lüge (KD IV/3, 426).
Die Prophetie Jesu Christi als die geschichtliche Bewahrheitung seines Zeugnisses bringt diese negative Abhängigkeit der Macht der Lüge zum Ausdruck. Die Lüge wird von ihrer Konfrontation mit dem wahrhaften Zeugen erst als solche erkennbar. Die Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen im prophetischen Amt geschieht daher auch als Aufdeckung der Verschleierung dieses Widerstandes. Im Folgenden soll dieser Prozess, der den heilsgeschichtlichen Zusammenhang von Versöhnung und Erlösung in diesem Modell begründet, anhand von drei Dimensionen beschrieben werden: In zeittheoretischer, wahrheitstheoretischer und kreuzestheologischer Hinsicht wird deutlich, in welchen konkreten Frontstellungen sich die Auseinandersetzung des Zeugnisses Jesu Christi gegen das Böse in Gestalt der Lüge vollzieht. Jede für sich genommen würde ein reduktionistisches Bild dieser Auseinandersetzung zeichnen; im Zusammenhang gesehen, führen sie jedoch die komplexe und interdependente Struktur dieses erlösungstheologischen Modells vor Augen. Die Prospektivität des Zeugnisses (Zeittheorie) Der wahrhaftige Zeuge konfrontiert den Menschen mit seinem in Kreuz und Auferstehung bereits realisierten Heil. Damit verbindet Barth die mit dem priesterlichen und königlichen Amt beschriebene bereits vollzogene Veränderung der Situation des Menschen mit der Frage nach deren Realisierung.25 In der Geschichte der Prophetie Jesu Christi geht es gerade um die Auseinandersetzung mit dem, was sich dieser Realisierung entgegen der bereits vollzogenen, ein für allemal und definitiven Neubestimmung des Christusereignisses widersetzt. Dass die Welt die geschehene Wirklichkeit ihrer Versöhnung nicht realisiert und der Sünder die unmögliche Möglichkeit des Widerstandes heraufbeschwört – durch sein Ignorieren, seine Indifferenz und sein Lügen – beschreibt Barth als einen »Rückstand«, der sich in seiner Kontrafaktizität zum Widerspruch gegen die Prophetie Jesu Christi entwickelt (vgl. KD IV/3, 212). Er protestiert damit 25
Die Doppeldeutigkeit der Verwendung des Wortes Realisierung in seiner ontologischen als auch noetischen Bedeutung ist hier bewusst vorausgesetzt. Sie nimmt den für Barth unauflösbaren Zusammenhang von exklusiver und inklusiver Christologie im prophetischen Amt ernst. Vgl. Reichel, Theologie als Bekenntnis, 220.
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respektiv gegen den – im oben erläuterten Sinn – universalgeschichtlichen Sieg Jesu Christi in seiner Auferstehung als der ersten Gestalt der Parusie. Die Lüge ist ein frevelhaftes Herausbrechen und Heraustreten aus der Wirklichkeit des Bundes, den Gott auf Grund seiner ewigen Gnadenwahl schon in und mit der Erschaffung aller Dinge gestiftet, in der Erniedrigung und der Erhöhung, in der wahren Gottheit und Menschheit Jesu Christi zu seiner Ehre und zum Heil des Menschen erfüllt [.. .] hat. (KD IV/3, 429)
Der Kampf Jesu Christi besteht jedoch in seinem vorausweisenden Vektor, der auf das Kommen des lebendigen Christus und damit auf die in der Auferstehung schon angekündigte, aber in der Geschichte noch ausstehende Bewahrheitung seiner selbst hindeutet (KD IV/3, 507). Dass Christus sein eigener Zeuge ist, bedeutet für Barth auch, dass es abseits der Realisierung seiner Versöhnung nur vergangene Wirklichkeit, aber keine Zukunft gibt. Gegen den respektiven, an der bereits geschehenen Wirklichkeit vorbeischielenden Charakter der Lüge, opponiert das prospektive Zeugnis der Prophetie Jesu Christi. Paulinisch gesprochen überführt sie den alten Adam mit der Gegenwart des neuen Adams, dem die Zukunft gilt. Der Mensch der Lüge aber bezieht sich zurück auf eine Wirklichkeit, die seit Christus keinen Bestand mehr hat, die er zu behalten und zu erhalten sucht. Diese Beschreibung ist nicht als eine naiv heilsgeschichtliche Perspektive abzutun. Der retrospektive Charakter der Lüge ist vielmehr im Kontext von Barths soteriologischem Zeitbegriff, der den alten Adam als den vergangenen Menschen und den neuen Menschen als den in Christus versöhnten Menschen beschreibt, zu verstehen: »Die Sünde ist nun einmal das wesenhaft Unerklärliche und Unverständliche, sie ist ante und post Christum des Menschen unmögliche und darum keiner Begründung zugängliche Möglichkeit« (KD IV/3, 533).26 Diese zeittheoretische Dimension, die als Abwehr des Perfectums der in Christus geschehenen Versöhnung besteht, ist für Barth jedoch zunächst nur eine »potentielle, latente Lüge« (KD IV/3, 519). In dieser Dimension stellt die Lüge zwar gegenüber dem Versöhnungsgeschehen, das mit dem priesterlichen und königlichen Amt beschrieben ist, eine Leugnung dar, der Mensch der Sünde reagiert mit ihr jedoch noch nicht im eigentlichen Sinn auf die Konfrontation mit der Prophetie Jesu Christi, deren Beschreibung der sachlichen Erweiterung bedarf.
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Vgl. Oblau, Gotteszeit und Menschenzeit: Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, 212–237.
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Die Geschichtlichkeit der Wahrheit (Wahrheitstheorie) Unter einem zweiten, wahrheitstheoretischen Gesichtspunkt wird der spezifisch reaktionäre Charakter der Lüge sichtbar. Denn Barth betont, dass die Lüge aus der Konfrontation mit dem wahrhaftigen Zeugen erwächst. Wie eingangs bemerkt, steht die Lüge in einem abgeleiteten Verhältnis zur Wahrheit, als welche sie sich kleidet und ausgibt. Die Wahrheit, welche der wahrhaftige Zeuge in seiner Prophetie bezeugt, ist aber nun gerade »keine Idee, kein Prinzip, kein System, [.. .] kein Gefüge von Richtigkeit, keine Lehre« (KD IV/3, 434). Barth hebt damit hervor, dass es sich bei der Wahrheit Jesu Christi nicht um einen zu systematisierenden, rational in Begrifflichkeiten zu fassenden Wissenskomplex handelt, über den der Mensch im Rahmen seiner geistigen Fähigkeiten verfügen könne. Eben dies sei aber gerade der Versuch der Lüge, die sich als »theoretisches und praktisches Wahrheitssystem« zur Begründung von »Wahrheitsparteien«, »Wahrheitsfronten«, »Wahrheitsschulen« und »Wahrheitsakademien« der Wahrheit zu bemächten sucht (vgl. KD IV/3, 502). Die Lüge erscheint in ihrer ganzen Rationalität einleuchtend und fügt sich damit in ein Rationalitätskontinuum ein, das ihr als Vorbedingung ihrer Einsichtigkeit dient und das sie systemisch und beständig verfestigt. Barth betont dagegen auch die disruptiven, überraschenden und zu einem »notvollen Entscheidungskampf« nötigenden Phänomene der Wahrheit. Barth begründet dies mit der Kreuzesgestalt des in der Realgeschichte gegenwärtigen Christus: Dieser Zeuge begegnet nämlich dem Menschen nicht in einer ihn leichthin gewinnenden, ihm natürlich imponierenden Prachtsgestalt, sondern durch Gottes Macht von den Toten auferweckt, in der verächtlichen und abschreckenden Gestalt des Gekreuzigten und Getöteten von Golgatha (KD IV/3, 436).
Barth geht es hierbei jedoch nicht um eine christliche Kritik an nicht-christlichen Weltanschauungen. Sein Impuls ist vielmehr ein christentums- und damit auch notwendigerweise selbstkritischer, zu dessen Exemplifizierung er u.a. auf die öffentliche Kommunikation von Wahrheit bezieht. Zuspitzend bezeichnet er daher die Lüge als die »spezifisch christliche Gestalt der Sünde« (KD IV/3, 432).27 27
In einem für diesen Band typischen gegenwartsanalytischen Exkurs blickt Barth auf die dafür entscheidende Rolle der öffentlichen Medien, welche »mit ihren immer im Dienst irgendeines einseitigen Interesses stehenden Deutungen, Insinuationen, Lobpreisungen und Schmähungen, immer zugleich Sklave und Tyrann irgendeiner öffentlichen Meinung« sind (KD IV/3, 521). Barths Polemik ist gerade keine Fremdpolemik, sondern ist vor dem explizit genannten Hintergrund einer christianisierten Medienlandschaft und deren Verwurzelung in einer christianisierten Kultur explizit als eine Selbstkritik zu verstehen. Es geht ihm daher nicht um eine allgemeine Kritik an öffentlicher Wahrheitskommunikation, sondern sehr konkret um eine
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Barth nimmt von dieser Kritik auch die Theologie als christliche Wissenschaft, die sich mit wissenschaftlichen Methoden der Wahrheitssuche (und -proklamation) verschreibt, nicht aus. Er problematisiert in dieser Hinsicht die spezifisch christliche Wahrheit, wo sie als theologische Gewissheit aufgrund ihrer rationalen Systematizität zu plausibilisieren versucht wird. Explizit eingeschlossen ist damit auch der fragwürdige Versuch des theologischen Unternehmens als Ganzem. Hier klingen Reminiszenzen an Barths dialektische Religionskritik aus KD I/2 an: Hatte Barth dort die Religion als den Versuch des Menschen, sich der dynamischen Wirklichkeit der Offenbarung zu bemächtigen und also als einen Versuch der Selbstrechtfertigung zu unternehmen gebrandmarkt,28 so lässt sich dieselbe kritische Bewegung hier im Aufeinandertreffen der Person des wahrhaftigen Zeugen im Gegenüber zur rational-systematisierenden Unternehmung der Theologie beobachten: Religion ist Unglaube und Theologie als System ist Lüge. Theologie kann daher auch, wo sie sich wahrheitstheoretisch äußert, nicht als eine Begründungswissenschaft auftreten; im Licht des wahrhaften Zeugen werden – so ließe sich Barths wahrheitskritische These zusammenfassen – die Versuche solcher Lehren ihrer Lüge überführt. Freilich ist mit dieser Zuspitzung nur die eine Hälfte von Barths kritischem Impuls zur Sprache gebracht. Gegenüber der dialektischen Kritik aus KD I/2 unterbreitet Barth in diesem dritten Band der Versöhnungslehre einen konstruktiven Vorschlag: Alles liegt für Barth darin, dass Christus als sein eigener Zeuge der lebendige Christus ist und er daher den geschichtlichen Charakter der Wahrheit im Gegensatz zu allen Systematisierungsversuchen hervorhebt. »Er ist aber in keine Lehre, auch in keine Lehre von ihm, er ist auch in die richtigste Christologie nicht einzufangen und einzuschließen« (KD IV/3, 435). Dies schließt an Barths methodische Grundentscheidung an, die Geschichtlichkeit des prophetischen Amtes Jesu Christi dahingehend ernst zu nehmen, dass es nicht als Lehre, als Proklamation oder Prinzip der Offenbarung, sondern
28
solche, die sich mehr oder weniger offensichtlich mit der Identität des Christlichen schmückt. Dem, was mit der primären Leitdifferenz dieses Modells im Gegenüber des Lichts Jesu Christi zur Finsternis der Welt beschrieben ist, können sich gerade die vermeintlich christlichen Teile dieser Welt nicht entziehen. Barths Hamartiologie der Lüge als der christlichen Gestalt der Sünde widmet sich gerade diesen. »Dieses Zu-uns-Kommen der Warhheit ist eben die Offenbarung. Sie trifft uns aber nicht in einem neutralen Zustand, sondern in einem Tun, das zu ihr als dem Zu-uns-Kommen der Wahrheit in einem ganz bestimmten, ja entschiedenen Verhältnis steht. Sie trifft uns nämlich als religiöse Menschen, d.h. sie trifft uns mitten in jenem Versuch, Gott von uns aus zu erkennen« KD I/2, 329.
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nur als Geschichte zu erzählen ist.29 Barth stellt dies insbesondere mit Blick auf seine Position, dass Jesus Sieger ist, heraus: Es geht natürlich nicht um das Pathos einer sogenannten Überzeugung, geschweige denn um das irgendwelcher geistlicher Rhetorik. Es geht um die – sei es denn tief verborgene, geräuschlose, weil als solche ja eigentlich gar nicht aussprechbare, sondern nur indirekt faktisch zu beweisende Sicherheit, daß eine andere als eben eine positive Beantwortung unserer Frage, von ihrem Ursprung in der Osteroffenbarung her, gar nicht möglich, daß sie als positive Beantwortung von dort her nun allerdings – selbstverständlich ist! (KD IV/3, 332).
Diese Selbstverständlichkeit schließt nun aber nicht an eine allgemeine Rationalität an. Vielmehr geht es Barth darum hervorzuheben, dass sich Jesus Christus selbst verständlich macht.30 Damit rückt Barth dieses wahrheitstheoretische Problem in eine erlösungstheologische Sphäre, indem er die Bewahrheitung des Sieges Jesu Christi ihm selbst anheimstellt. Die Bewahrheitung der Wahrheit Jesu Christi erscheint also weniger als erkenntnistheoretisches Problem, sondern es stellt ein eschatologisches Geschehen dar, welches in der Hand des Erlösers liegt: »Die Wahrheit selbst und also Gott selbst allein kann sie wahr machen« (KD IV/3, 473).31 Barths Wahrheitsbegriff im Gegenüber zur Lüge ist von seinem grundlegenden Interesse der Geschichtlichkeit der Wahrheit Jesu Christi in der Geschichte seiner Prophetie geprägt. Die Geschichtlichkeit dieser Wahrheit impliziert aber gerade auch ihre Angefochtenheit, die der Vulnerabilität der Schöpfung und der faktischen Gebrochenheit menschlicher Existenzen nicht ausweicht. Die 29
30 31
»[E]r existiert auch in dieser besonderen Gestalt seiner Geschichte. Und so muß Christologie auch in dieser dritten Gestalt: als Lehre von Jesus Christus, dem wahren Licht, Wort und Offenbarer, als Lehre von seinem prophetischen Amt, Erzählung seiner Geschichte sein« (KD IV/3, 189). Zur Bedeutung der Narration für Barths theologische Methode vgl. Maurer, »Narrative Strukturen im theologischen Denken Karl Barths«. Kritischer argumentiert hingegen Dietrich Ritschl, der zwar der heilsgeschichtlichen Erzählung bei Barth eine Rahmenfunktion zugesteht, diese aber gerade nicht als Substitut theologischer Begriffsentfaltung versteht. Ritschl kommt daher zu dem Ergebnis, dass »Barths Methode nicht als narrativ bezeichnet werden« könne (Ritschl, »Theologie ist explikativ und argumentativ, nicht narrativ – auch bei Karl Barth«, 32). Vgl. Peeters, »Das Drama der Vollendung«, 263. Dies stellt in besonderer Weise der Abschnitt aus Barths Auslegung des Hiob-Buches heraus, der das »sinnvolle System von Gut und Böse, Heil und Unheil« der Freunde Hiobs problematisiert (vgl. KD IV/3, 528). Barths Exegese zufolge entlarvt das Hiob-Buch deren Wahrheit daher nicht primär wegen ihres Inhalts als Lüge, sondern aufgrund ihrer »Ungeschichtlichkeit«: »Sie reden aber als Leute, die von dem verzweifelten Kampf um die Erkenntnis Gottes, in den Hiob sich durch das, was ihm widerfahren ist, verwickelt findet, gänzlich unberührt sind« (KD IV/3, 527). Ihre Reden präsentierten abstrakte, ungeschichtliche und in ihrer Formvollendung den existentiellen Brüchen des Hiob nicht gerecht werden könnende Denksysteme.
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Geschichtlichkeit der Wahrheit Jesu Christi, die sich gerade dieser Anfechtung durch das Böse aussetzt, macht Barth daher kreuzestheologisch deutlich. Theologia crucis: Barths zeugnistheoretische Reminiszenz an Luthers Heidelberger Disputation Die Auseinandersetzung des Zeugnisses Jesu Christi gegen die sich als Wahrheit inszenierende Lüge ist für Barth nicht nur in der Geschichtlichkeit des Zeugnisses, sondern auch in der geschichtlichen Gestalt des wahrhaftigen Zeugen begründet. Obwohl Barths Theologie der dreifachen Parusie und das darin begründete erlösungstheologische Modell der Erlösung als Offenbarung zentral von auferstehungstheologischen Denkformen geprägt ist, rückt Barth in der geschichtlichen Gestalt des wahrhaftigen Zeugen auch die kreuzestheologische Dimension in den Fokus. Es geht ihm hierbei jedoch nicht um das Ereignis des Kreuzes, sondern vielmehr um die Gestalt des Gekreuzigten, die zum Erkenntnismerkmal des in der Geschichte gegenwärtigen Christus wird. Der wahrhaftige Zeuge ist der auferstandene Gekreuzigte, der in seinem geschichtlichen Zeugnis immer nur in der Gestalt des Gekreuzigten und also nur indirekt erkennbar wird (vgl. KD IV/3, 449). Was unter wahrheitstheoretischen Gesichtspunkten als disruptive Kritik der einleuchtenden christlichen Wahrheit verstanden wurde, wird im Rahmen von Barths kreuzestheologischen Ausführungen als Durchkreuzen der Zeugenisse der »falschen Propheten, Messiasen, Heilsverkündigungen, Friedensaposteln« zur Sprache gebracht (KD IV/3, 451). Barth schließt damit nicht nur an die paulinische Torheit vom Kreuz (1Kor 1,18), die die Anstößigkeit der Gestalt des Gekreuzigten im nicht-christlichen Raum betont, sondern insbesondere an die Tradition von Luthers Heidelberger Disputation von 1518 an, in der dieser zwei Typen von christlicher Theologie einander gegenüberstellt: Auf der einen Seite eine Theologie der Herrlichkeit (theologia gloriae), die den »im Leiden verborgenen Gott nicht kennt« und auf der anderen Seite eine Theologie des Kreuzes (theologia crucis), welche Gott in Kreuz und Leiden Jesu Christi zu erkennen sucht.32 In ähnlicher Weise polemisiert Barth gegen eine Theologie der Herrlichkeit, die sich im Gewand der christlichen Gewissheit und eines christlichen Ethos gibt. Die Parallelen zu Luther werden insbesondere in dessen Beschreibung der pathologischen Konsequenzen dieser falschen Herrlichkeitstheologie offensichtlich: In These 21 beschreibt er die Maskerade einer theologia gloriae, die »das Übel gut und das Gute ein Übel« nennt.33 Eben dieses Phänomen der Verkleidung identifiziert Barth aber als die Lüge in ihrem heuchlerischen Wahrheitsglanz, die sich der peinlichen und ohnmächten Gestalt des Gekreuzigten entledigen möchte. 32 33
Luther, »Disputatio Heidelbergae habita: Heidelberger Disputation (1518)«, Thesen 20–22. Vgl. dazu Welker, Gottes Offenbarung, 137–142. Luther, »Disputatio Heidelbergae habita: Heidelberger Disputation (1518)«, 53 (These 21).
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Die kreuzestheologische Dimension dieser Konfrontation des wahrhaften Zeugen mit der Lüge ist verbunden mit einem geschichtstheologischen Aspekt: Wie oben beschrieben wurde, ist der Sieg Jesu Christi geschichtlich nur in der Gestalt des Christus miltans ersichtlich. Das impliziert nicht nur, dass Christus selbst streitet, sondern auch, dass sein Zeugnis als angefochtenes Zeugnis und seine Erkenntnis nur als indirekte Erkenntnis geschichtlich wirklich ist. Die kreuzestheologische Gestalt seines Zeugnisses ist daher auch in Bezug auf die Erkennbarkeit des lebendigen Christus hin zu verstehen: »Dieser Jesus [als der leidende Gottesknecht] lebt und ist mitten unter uns in dieser unserer Zeit: der wie einst Bedrängte und Verlassene, Angeklagte und Verurteilte, Verachtete und Geschlagene« (KD IV/3, 454). Der Spannung zwischen Kreuz und Auferstehung in der ersten Form der Parusie entspricht daher in der Geschichte seines Zeugnisses als der zweiten Form der Parusie die Spannung zwischen der gehörten und geglaubten Verkündigung Jesu Christi und ihrer Anfechtung. Die Kreuzesgestalt ist daher die conditio sine qua non des geschichtlichen Zeugnisses. All dies wäre jedoch notorisch doketisch, wenn diese Kreuzesgestalt allein als ein spekulatives Symbol zur Dekonstruktion eines bestimmten Typus von Rationalität (und Moralität) gelten würde. Zweifelsohne ist sie das auch. Barth fasst die Kreuzesgestalt des Zeugnisses jedoch derart realistisch, dass er damit auch eine tief inkarnatorische Präsenz des leidenden Christus in den Leiden dieser Geschichte zum Ausdruck bringt. Der Gekreuzigte ist keine Analogiegestalt von diesen, sondern er ist in diesen Leiden als der gegen die Leugnung ihres Leidens streitende Zeuge gegenwärtig: So ist er in den im engen und weiteren Sinn so zu nennenden Elendsquartieren, Gefängnissen, Spitälern und Irrenhäusern unserer kollektiven Existenz, auf all den Gräberfeldern unserer begründeten und unbegründeten Hoffnung, in all den besonderen inneren und äußeren Nöten, Bedrängnissen und Peinlichkeiten, die offen oder im Verborgenen die individuellen Probleme sind, in denen ein Jeder an den Rätseln und Härten der gegenwärtigen Weltgestalt mitleidet (aber auch mitschuldig wird und ist an deren Entstehen und Bestehen!) der Zeuge ihrer Grenze und ihres nahenden Endes und so unserer Befreiung, Erlösung und Vollendung. (KD IV/3, 456)
Damit klingt bereits an, dass die Leidensgestalt des angefochtenen Zeugen die Gestalt des Zeugen in einer versöhnten, aber noch nicht erlösten Welt ist. Der wahrhafte Zeuge erinnert damit auch an die noch ausstehende Erlösung der Welt. Die Leidensgestalt Jesu Christi ist daher nicht die vollendete, wohl aber die geschichtliche Gestalt des wahrhaftigen Zeugen, der auf Golgatha gezeigt hat, dass er sich den Konsequenzen dieser Anfechtung der Lügensysteme aussetzt. Mit dem Satz »Jesus ist Sieger« ist daher noch nicht alles gesagt. Damit ist auch ersichtlich, dass die Lüge mit Barth nicht nur intellektualistisch zu verstehen ist: Sie ist vielmehr performant, insofern sie nicht nur eine falsche Deutung der
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Wirklichkeit, sondern selbst eine Wirklichkeit darstellt, der sich Gott am Kreuz ausgesetzt und die er in der Auferstehung überwunden hat. Diese dritte Dimension lässt den eschatologischen Vorbehalt als Differenz zwischen der zweiten und der dritten Form der Parusie Jesu Christi auch in der Gestalt des in der Geschichte gegenwärtigen Christus sichtbar werden: Denn der Christus militans, der nicht nur der kämpfende, sondern auch der angefochtene Zeuge der Versöhnung ist, ist – so legen es Barths Andeutungen zu einer Eschatologie in Anschluss an das prophetische Amt nahe – nur seine vorläufige, geschichtliche Gestalt. Seinem Sieg im Osterereignis über den Tod entspricht hingegen seine Gestalt als Christus victor in der Vollendung seines Werks in der dritten Form seiner Parusie: »Und eben als dieser Sieger wird er am Ende aller Tage in seiner letzten, universalen, definitiven Offenbarung wiederkommen« (KD IV/3, 450).
5.2.4 Zwischenfazit Mit dieser ersten Unterscheidungsebene dieses Modells, welche den Metaphernraum des Lichts in der Gegenüberstellung zur Finsternis beschrieben hat, wurden die polemischen Aspekte einer Eschatologie der Offenbarung beschrieben. Ich habe gezeigt, dass Barths Christologie des prophetischen Amtes eine agonale, transformative Dynamik beschreibt, deren revelatorisches Potential in der Aufdeckung der Lüge als Lüge besteht und in der Selbstbezeugung des streitenden Zeugen das Problem der angefochtenen Bewahrheitung der Wahrheit Jesu Christi in einen geschichtlichen Horizont stellt. Barths Kampfesmetaphorik nimmt dabei zum Teil verstörende Züge an. Nicht nur darum, weil dieser eine Kampf alle anderen Kämpfe (womöglich auch den für die Versöhnungsethik so wichtigen Kampf um menschliche Gerechtigkeit) überbieten soll und damit das Verhältnis von dogmatischer Versöhnungslehre und Versöhnungsethik unklar wird. Auch darum, weil es kaum nachvollziehbar ist, die militäre Redeform von einer »Kriegserklärung«, einem »entscheidende[n] Schlag« (KD IV/3, 275) und die auf die Frage »Gegen wen oder was?« zynische gestellte Gegenfrage »gegen wen und was eigentlich nicht?« (KD IV/3, 281) als theologische Beschreibung einer Versöhnungsgeschichte zu begreifen. Barths bisweilen dezisionistische Denkformen verfallen damit immer wieder einer christomonostischen Apokalyptik, die die Güte der Schöpfung, aber auch die Vitalisierung des Geistes hinter einem Deus dixit verschwinden lässt. Dies ist sicherlich nicht der Grundtenor von Barths Entfaltung des prophetischen Amtes; im Sinne einer kritischen Rekonstruktion dieses Modells muss dies jedoch als eine Grenze der Logik des Christus victor als dem geschichtlichen Christus militans festgehalten werden.
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Die Begrenztheit der theologischen Erschließungskraft dieser Leitdifferenz ist aber ferner auch eine Folge der Entscheidung Barths, dass er den primären Akteur des Zeugnisses, dessen Inhalt und letztlich auch dessen kämpferische Gestalt mit dem auf sich und sein eigenes Werk verweisenden Christus identifiziert; in seiner Person sind diese drei Seinsmodi vereint. Dass die Geschichte der Versöhnung vor allem sich selbst bezeugt und also ihre eigene geschichtliche Bewahrheitung darstellen soll, dynamisiert einerseits Barths Wahrheitsbegriff und weist damit auf die noch ausstehende Heilswirklichkeit hin. Sie stellt in ihrer Grundstruktur damit zugleich eine zirkuläre Logik dar: Im Kampf gegen die Lüge verweist der wahrhaftige Zeuge auf die in der Auferstehung anhebende, in der Geschichte angefochtene und der eschatologischen Bewahrheitung noch ausstehende Wahrheit seiner selbst. Dies ist die konsequente Folge der Grundentscheidung dieses erlösungstheologischen Modells, dass sich die Offenbarung Gottes als dessen versöhnende und erlösende Selbstmitteilung vollzieht. Die Rekonstruktion von Barths Lichtmetaphorik kann an diesem Punkt daher nicht enden. Mit der Frontstellung zwischen Licht und Finsternis ist zwar eine für Barth absolute Differenzierungsebene innerhalb des Metaphernraums des Lichts aufgezeigt, sie ist jedoch nicht die einzige. Wenn in den folgenden beiden Abschnitten davon zu unterscheidende Ebenen dieses Modells beschrieben werden, so ist bereits von vornherein darauf hinzuweisen, dass die Licht-FinsternisDifferenz auf der Fundamentalebene dessen systematischen Rahmen bildet, der in den noch folgenden Differenzierungsebenen weder unterlaufen, noch relativiert wird. Vielmehr stellt die Christologie dieses Modells ein Kriterium für die weiteren Relationierungsebenen dar, wie in den folgenden beiden Abschnitten gezeigt werden kann.
5.3 Die Differenz von absoluter und relativer Wahrheit Während die Christologie des prophetischen Amtes von dualistischen und agonalen Denkformen geprägt ist, lässt sich mit Barths sog. Lichterlehre eine zweite Differenzierungsebene innerhalb dieses Modells aufzeigen: Auch hier stellt das Licht eine Heuristik für ein spezifisches Wahrheitsverständnis dar. Anders als die erste optiert diese zweite Ebene dieses Modells jedoch nicht ausschließlich für eine Kontrastierung, sondern fragt auch nach der Kontinuität und dem Verhältnis des Lichts Jesu Christi zu der Wirklichkeit anderer Lichter. Anhand einer Analyse von Barths sog. Lichterlehre lässt sich zeigen, dass die damit implizierte Wahrheitstheorie zwar christologisch fundiert, jedoch schöpfungstheologisch integrierend wirkt. Sie weist auch auf das in diesem Modell komplexe Verhältnis von Schöpfung und Erlösung hin, das trotz der verdächtig gnostisch klingenden Metapher des Lichts die Tatsache geschöpflicher Wahrheiten würdigen kann. Wie zu zeigen ist, stößt Barth damit eine Pluralisierung des Wahr-
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heitsbegriffs an, welche einem spät- bzw. postmodernen Problembewusstsein der Rede von Wahrheit und Wahrheiten zu entsprechen vermag, ohne dabei auf eine kritische und qualifizierte Verwendung dieses Begriffs zu verzichten.34 Barth unterscheidet in seiner Lichterlehre zwischen einem christologischen und einem schöpfungstheologischen Wahrheitsbegriff. Obwohl beide auf dieser zweiten Ebene unterschieden sind, stellen sie keine fundamentalen Alternativen dar, sondern werden kritisch integriert. Dies ist im Einzelnen zu zeigen.
5.3.1 Die beiden Pole der Lichterlehre Während sich ein großer Teil der Forschung vor allem mit den religionstheologischen Fragen und der Möglichkeit einer nicht-exklusivistischen Deutung von Barths Offenbarungsbegriff beschäftigt,35 soll im Folgenden gezeigt werden, dass Barths Lichterlehre nicht allein das Problem religiöser Wahrheitsansprüche thematisiert, sondern ein Verständnis von Wahrheit entwickelt, das gerade auch für den profanen Bereich die Möglichkeiten einer theologischen Wahrheitskriteriologie auslotet.36 Damit kann gezeigt werden, dass dieses erlösungstheologische Modell nicht allein auf eine Kontrastierung von Schöpfung und Erlösung baut, sondern unter wahrheitstheoretischen Gesichtspunkten auch integrative Momente und emergente Prozesse mitgedacht werden können, die auch auf Kontinuitäten zwischen beiden hinweisen. Diese entziehen sich der christologischen Begründung dieses Modells zwar nicht, sie lassen sich jedoch ebenso wenig von ihr ableiten: Sie stellen vielmehr zwei Pole eines Zusammenhangs dar, der auf einer anderen Differenzierungsachse als die Unterscheidung von Licht und Finsternis stattfindet, aber dennoch mit dieser verbunden bleibt.
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Auch wenn die Frage nach der Verortung von Barths Theologie zwischen Moderne und Postmoderne als solche anachronistisch ist, so lässt sich doch zeigen, dass mit Barths Theologie auf zentrale Anliegen beider Denkrichtungen zu antworten ist. In Bezug auf die theologische Ethik Barths hat dies insbesondere Haddorff, »The Postmodern Realism of Barth’s Ethics« herausgestellt. Philipp Stoellger hat darüber hinaus nicht nur für die Epistemologie, sondern auch in Bezug auf auf die Konvergenzen zentraler Denkformen Barths mit Anliegen postmoderner Theorien hingewiesen: Stoellger, »Barth und die Postmoderne«. Vgl. exemplarisch Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums, 171–173, Hofheinz, »›Das gewisse Extra!‹ Oder: Christologie als ›Türöffner‹? Das ›Extra-Calvinisticum‹ und die ›Lichterlehre‹ Karl Barths als Zugänge zu einer Theologie der Religionen«; in kritischer Abgrenzung von der postmodernen Rezeption von Barths Religions- und Wahrheitstheorie vgl. Dierken, »Karl Barths Religionstheologie: Probleme und Potentiale«, der insbesondere das fundamentaltheologische Problem der Geltungsfrage und die Bedingungen der Möglichkeit wahrheitsfähiger Aussagen thematisiert. Vgl. hierzu Theißen, Die berufene Zeugin des Kreuzes Christi, 508–512; außerdem grundlegend Link, Die Welt als Gleichnis, 294–302. Günter Thomas hat darüber hinaus die Bedeutung von Barths Lichterlehre für einen theologischen Zugang zur Kultur herausgestellt. Vgl. Thomas, Medien, Ritual, Religion, 110–117.
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Zum einen baut diese zweite Differenzierung auf der Problemstellung der ersten auf: Dies ist in der Natur der Licht-Metaphorik begründet, wonach Licht seine Funktion nur im Gegenüber zur Dunkelheit ausüben kann. Und so steht auch die Frage nach einer möglichen Pluralität von Lichtern im Kontext der Dramatik, dass das Leuchten dieser Lichter die Dunkelheit erhellt. Der eine Pol in Barths Lichterlehre schließt daher an die Fundamentalunterscheidung von Finsternis und Licht in seiner singulären Gestalt an. Sie ist christologisch begründet und spricht von Christus als dem »Licht des Lebens«, »das das Leben selbst und als solches ausstrahlt und verbreitet, indem es selbst Licht ist« (KD IV/3, 49). Die Metaphorik des Lichts begründet in der Erkenntnisfrage ein eindeutig soteriologisches Gefälle. Die Wirklichkeit des Heils ist an dessen Erkenntnis gekoppelt, welche selbst wiederum den Grund für die Partizipation an dem Versöhnungswerk Jesu Christi begründet: Das Zeugnis der Versöhnung ist Teil ihrer selbst und der Versöhner ist als Versöhner auch der Offenbarer und damit der Mittler zwischen sich und der bereits versöhnten, aber noch nicht erlösten Welt (vgl. KD IV/3, 40). Dieser christologische Pol, der zugleich einen Knotenpunkt zwischen der ersten und zweiten Unterscheidungsebene dieses Modells darstellt, schließt unter wahrheitstheoretischen Gesichtspunkten zunächst an die polemische Religionskritik aus KD I/2 an. Dort formuliert Barth die Opposition der Offenbarung Jesu Christi zur Position der Religion(en) und geht damit vor allem auf die kritische Funktion des Wortes Gottes ein: »es ist Gottes Offenbarung in Jesus Christus und sie allein, durch die diese Charakterisierung der Religion als Götzendienst und Werkgerechtigkeit und damit ihre Entlarvung als Unglaube wirklich vollzogen wird« (KD I/2, 343). Ganz auf dieser Linie vollzieht dieser christozentrische Pol der Lichterlehre eine ebenso radikale Relativierung aller menschlichen Heilszeugnisse:37 Indem er das tut, indem er sein Wort unmittelbar redet, ist dieses inkoordinabel, mit keinem Menschenwort vergleichbar: auch nicht mit dem höchsten oder tiefsten, auch nicht mit dem erhellendsten und hilfreichsten, auch nicht mit dem in seinem Auftrag und Dienst gesprochenen Menschenwort (KD IV/3, 109).
Den einen Pol von Barths Lehre vom prophetischen Amt stellt also eine christozentrische Bestimmung des Wahrheitsbegriffs dar, die Christus als den Akteur 37
Entsprechend nivelliert Barth in seiner Religionskritik selbst angesichts der fundamentalen Unterscheidung von Gott und Mensch, Offenbarung und Religion die zwischenmenschlichen Bekenntnisunterschiede: »Der christliche Glaube lebt nun einmal gerade nicht von dem Selbstbewußtsein, in welchem sich der christliche Mensch von dem nicht-christlichen unterschieden weiß« (KD I/2, 362) – eine Relativierung, die Barth am anderen Pol des prophetischen Amtes zurücknimmt.
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des Zeugnisses von der Versöhnung ausgibt und damit eine fundamentale Unterscheidung zwischen der Wahrheit Jesu Christi als dem Wort Gottes und allen anderen Worten konstatiert. Barth radikalisiert diese Konzentration, sodass darin ein eindeutig exklusivistisches Offenbarungsverständnis zum Ausdruck kommt: »er ist das eine, das einzige Licht des Lebens« (KD IV/3, 95). Von dieser Seite her votiert Barth daher für eine kategoriale Unterscheidung zwischen der Wahrheit Jesu Christi und allen anderen geschichtlichen Wahrheitsansprüchen. Die Unterscheidung von Gotteswort und Menschenwort ist hier jedoch primär von der Unterscheidung von Gott und Mensch und nicht von einer hamartiologischen Disqualifikation des menschlichen Bestrebens nach wahrheitsfähiger Erkenntnis und Kommunikation bestimmt. Es ist vielmehr darauf hinzuweisen, dass – bevor die Linien der Kontinuität in Barths Lichterlehre herausgearbeitet werden können – auf dieser Ebene zunächst eine nicht-antagonistische Unterscheidung notwendig ist: Die Unterscheidung zwischen dem Licht Jesu Christi und der Wirklichkeit anderer Lichter als wahrer, menschlicher Worte. Den anderen Pol dieses Komplexes stellen Barths Überlegungen dar, welche die Existenz anderer wahrer Zeugnisse in der Geschichte für plausibel erachten und deren nicht-polares Verhältnis zur Wahrheit Jesu Christi erörtern. Dass es sich dabei nicht von dieser gänzlich unabhängige Worte handeln kann, steht für Barth außer Frage. Der zweite Pol der Lichterlehre geht allerdings auf die empirische Tatsache ein, dass es in der Welt »Lichter«, »Zeugnisse« und »Wahrheiten« gibt, welche auch unter theologischen Gesichtspunkten mit Recht als solche zu bezeichnen sind. Während der christologische Pol auf die grundsätzliche Unterscheidung von Licht und Lichter hinweist, offeriert dieser zweite Pol von Barths Lichterlehre einen schöpfungstheologischen Zugang und bildet die Grundlage eines plural strukturierten Wahrheitsverständnisses. Barth wehrt damit dem Missverständnis, dass »alle außerhalb des biblisch-kirchlichen Kreises [...] aufgehenden und scheinenden Lichter als solche Irrlichter« sein müssten (KD IV/3, 108). Wäre dies der Fall, so stünde Barth im Verdacht, mit seiner Lichtmetaphorik und der darin begründeten Verbindung von Heil und Heilserkenntnis einer gnostischen Denkweise zu verfallen; Heilserkenntnis wäre dann aber das geistige Transzendieren der geschaffenen Welt und die Erlösung bestünde in deren Überwindung. Barth sucht mit diesem zweiten Pol den Anschluss an eine Schöpfungstheologie, die davon spricht, dass auch die Geschöpfwelt, der Kosmos, die dem Menschen in seinem Bereich verliehene Natur und die Natur dieses Bereichs als solche ihre eigenen Lichter und Wahrheiten und insofern ihre Sprache, ihre Worte hat. [...] Und so sind sie auch durch das Leuchten des einen wahren Lichtes des Lebens, durch die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus zwar entdeckt und gekennzeichnet als Lichter, Worte und Wahrheiten des geschaffenen Kosmos und also im Unterschied zu jenem als geschaffene Lichter. [...]
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Modell 5: Revelatorische Eschatologie Wie das Gotteswerk der Versöhnung das Gotteswerk der Schöpfung weder vernichtet noch seines Sinnes beraubt, so nimmt es ihm auch seine Lichter, seine Sprache nicht, so zerreißt es auch nicht die ursprüngliche Beziehung zwischen geschöpflichem esse und geschöpflichen nosse (KD IV/3, 157f.)
In der schöpfungstheologischen Würdigung dieser Lichter, die auf den ersten bzw. vierten Schöpfungstag verweist,38 entwirft Barth einen interimistisch-pluralistischen Zugang zur Frage nach den Lichtern dieser Welt. Interimistisch darum, weil auch diese Lichter unter dem Vorbehalt ihrer Bewahrheitung stehen; pluralistisch, weil diese Wahrheiten nicht auf ein Grundprinzip, ein Ereignis oder ein wesentliches Telos zurückzuführen sind. Barth schließt mit diesem Gedanken an die Unterscheidung und wechselseitige Zuordnung von Schöpfung und Bund aus seiner Schöpfungslehre an: Dieser zufolge ist die Schöpfung selbst zwar nicht der Bund; sie bildet jedoch dessen äußeren Rahmen und erweist sich damit als das theatrum gloriae Dei (vgl. KD IV/3, 173). Analog zu dieser Zuordnung sind die Lichter der Welt nicht in eins zu setzen mit dem Licht Jesu Christi. Und auch wenn sie in ihren eigenen Begründungsund Argumentationszusammenhängen ihren Bestand und auch einen wahrheitstheoretischen Mehrwert haben, müssen sie theologisch im Zusammenhang mit diesem einen Licht Jesu Christi betrachtet werden. Als geschöpfliche Lichter sind sie »keine ewigen Wahrheiten«; sie haben eine relative, vorläufige Bedeutung und damit Anteil an der Güte der Schöpfung, die menschliches und soziales Leben ermöglicht (KD IV/3, 160). Was in der Forschung häufig als inklusivistische Entwicklung in der Religionstheorie des späten Barth gedeutet wird,39 steht im größeren Zusammenhang einer Wahrheitstheorie, die er in der Tat nicht exklusiv offenbarungstheologisch begründet. Vielmehr äußert er ausdrückliche Vorbehalte gegenüber der Verwendung dieses Begriffs und begründet diese darin, dass die Erkenntnis dieser Lichter als Wahrheiten nicht mit einer Erkenntnis des Glaubens zusammenhängt, sondern »nur der Anwendung der guten, aber beschränkten Gottesgabe des common sense bedarf« (KD IV/3, 161). Die für das Thema dieser Studie entscheidende Erkenntnis Barths ist die Beschreibung der Funktion dieser Lichter, denn Barth ist sich darin bewusst, dass die Wahrheitsfrage dieser Wahrheiten selbst einen realitätsbildenden Aspekt zum Vorschein bringt: Ihre Funktion liegt darin, »daß die Welt nicht schlechthin sprachlos und vernunftlos werden kann« (KD IV/3, 160). Barth nimmt dabei die Perspektive auf eine von der Vernichtung durch das Chaos bedrohten Schöpfung ein und hebt die konfrontative Bedeutung dieser geschaffenen Lichter hervor: 38 39
Vgl. KD III/1, 140–143.180–187 und im Kontext der Lichterlehre KD IV/3, 164. Vgl. Chung, »Karl Barth’s Theology of Reconciliation in Dialogue with a Theology of Religions«, besonders: 215; außerdem Ensminger, Karl Barth’s Theology as a Resource for a Christian Theology of Religions.
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[E]s ist ihre weltliche Wahrheit bei allem denkbaren und wirklichen Irrtum des Menschen über Gott, seinen Mitmenschen und sich selbst, in der ganzen Relativität ihrer Gültigkeit mindestens eine Verhinderung des Einbruchs des Chaos in das durch diesen Irrtum schwer bedrohte Weltleben (KD IV/3, 160).
Damit ist aber auch angedeutet, dass die Differenzierung von Licht und Lichtern, der sich diese zweite Ebene widmet, nicht unabhängig von Barths Leitunterscheidung von Licht und Finsternis zu denken ist – vielmehr bildet die erste Unterscheidungsebene das Fundamentent für die zweite. Gegenüber seinem eigenen christozentrischen Pol betont Barth auf schöpfungstheologischer Seite den kontinuierlichen und konstanten Charakter der Lichter als »Schemata des geschöpflichen Seins« (KD IV/3, 160f.). Es geht in diesem zweiten Pol in der Lichterlehre also nicht nur um eine Theologie der Religionen, die sich an deren Geltungsanspruch gegenüber dem Zeugnis Jesu Christi abarbeitet. Vielmehr geht es Barth um eine viel umfassendere Wahrheitstheorie, die einen Blick auf die Intelligibilität der Schöpfung wirft. Als deren Phänomene verweist Barth auf grundlegende Charakteristiken (1) im zeitlichen Füreinander-Dasein der Wirklichkeit, (2) im Rhythmus des weltlichen Seins, (3) in der Dialektik von Leben und Sterben, (4) in der natur- und kulturwissenschaftlich zu untersuchenden Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit, (5) der Struktur von menschlicher Freiheit und Verantwortung und schließlich (6) im unauflösbaren Geheimnis der Spannung von Notwendigkeit und Kontingenz, von Gesetzmäßigkeit und Freiheit (vgl. KD IV/3, 162–171). Der Christozentrik von Barths Lichterlehre steht also ein schöpfungstheologisch begründeter Rationalismus gegenüber, der einerseits den Wahrheitsbegriff dezentriert und zugleich auf eine erlösungstheologisch signifikante Einsicht drängt: Die für Barth schöpfungstheologisch begründete Annahme einer Pluralität von Wahrheiten lässt ihn ein differenziertes Bild von Schöpfung, Fall und Erlösung skizzieren, das die Beteiligung der schöpferischen Güte an der Erwehrung gegen das Böse in den Blick nehmen kann. So steht an diesem zweiten Pol die Einsicht, dass ein theologischer Wahrheitsbegriff nicht alleine vom Dual der Wahrheit Jesu Christi im Gegenüber zur Unwahrheit (in hamartiologischen Begriffen: im Gegenüber zur Lüge) der Welt her entfaltet werden kann, sondern die schöpfungstheologische Ambivalenz von Licht und Dunkelheit im Zusammenhang mit dem Licht des Lebens zu verstehen ist. Diese zweite Unterscheidungsebene dieses Modells zeigt, dass Barth an einer mehrfachen Differenzierung gelegen ist: Während der christologische Pol nicht nur eine fundamentale Unterscheidung von Licht und Finsternis, sondern auch die Verschiedenheit von geschöpflichen Wahrheiten und der Wahrheit Jesu Christi konstatiert, geht es am schöpfungstheologischen Pol um die konstruktive Bedeutung der geschöpflichen Lichter im Zusammenhang der Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen. Mit Blick
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auf die Eignung der Schöpfung als der Bühne des heilsgeschichtlichen Dramas formuliert Barth daher explizit: »Die creatura, die Geschöpfwelt als solche hält als der Ort und Raum der Sünde und der in Jesus Christus geschehenen und geschehenden Versöhnung durch« (KD IV/3, 156). Im Folgenden ist daher auf die Zwischenstufen und die Zuordnung dieser beiden Pole einzugehen, um der erlösungstheologischen Bedeutung von Barths Wahrheitsbegriff im Kontext des prophetischen Amtes Jesu Christi in der Welt weiter nachgehen zu können.
5.3.2 Die Wahrheit und die Wahrheiten Die in Barths Lichterlehre angezeigte Spannung zwischen dem Licht Jesu Christi und den geschöpflichen Lichtern der Welt wirft die unumgehbare Frage nach deren Verhältnis auf. Barth selbst erörtert drei verschiedene Möglichkeiten der Zuordnung: Die Tatsache, dass auch in der Sphäre der Profanität von Wahrheiten die Rede ist, nötigt Barth (1) zur Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit einer »natürlichen Theologie«. Dabei ist es – trotz seiner schöpfungstheologischen Begründung der Wahrheiten bzw. Lichter in der Welt – keine Überraschung, dass Barth jegliches theologische Interesse an einer Wahrheit »abseits von Schrift und Kirche« vermissen lässt (vgl. KD IV/3, 131). Barths ablehnende Haltung in dieser Sache ist vor allem in der Erkenntnisrichtung begründet: Denn die Anerkennung von Lichtern liegt für ihn nicht in einer Substitution des christologischen Ausgangspunkts der theologischen Erkenntnis begründet. Die geschöpflichen Lichter stellen keine eigenständige Alternative zum Licht Jesu Christi dar. Barth schließt damit erwartungsgemäß an seine frühe Ablehnung der natürlichen Theologie als Alternative zu einer Offenbarungstheologie an. Allerdings modifiziert er deren exklusivistische Stoßrichtung zugunsten eines integrativen Wahrheitsverständnisses.40 Denn in KD IV/3 geht es ihm vielmehr darum, »daß das Vermögen Jesu Christi, sich selbst solche menschliche Zeugen zu erschaffen, sich nicht in dem erschöpft, was er an und in seinen Propheten und Aposteln wirkte und von daher auch in seiner Gemeinde möglich und wirklich macht« (KD IV/3, 132). Eine natürliche Theologie im oben genannten Sinn würde besagte Spannung gerade nicht als solche würdigen, sondern unter Absehung der Zuordnung von dem Licht Jesu Christi und den Lichtern der Welt einseitig zu40
Bereits lange vor der Entwicklung der Lichterlehre hat Hans Urs von Balthasar in Barths früheren Bänden der Kirchlichen Dogmatik (bis KD III/3 [1950]) entgegen dessen vordergründiger Polemik gegen eine theologia naturalis eine »unleugbare Annäherung« zwischen diesem und einem katholischen christozentrischen Denken behauptet (von Balthasar, Karl Barth, 389). Die Entwicklung der katholischen Debatte um Natur und Gnade im 20. Jh. beschreibt Rahner, »Natur und Gnade«.
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gunsten eines dieser geschöpflichen Lichter (sei es eine szientistische Vernunft, das religiöse Subjekt, oder eine andere für universell erachtete Kategorie) optieren. Die beiden in der Lichterlehre identifizierten Pole lassen sich (2) schematisch mit der Komplementarität eines christologischen und eines schöpfungstheologischen Wahrheitsbegriffs erfassen. Daran anknüpfend vollzieht Barth eine Relektüre der lutherischen Zwei-Regimenten-Lehre. Auch diese Alternative kommt für ihn nicht infrage, sofern diese eine Trennung des theatrums von der gloria Dei forciere (vgl. KD IV/3, 171f.). Auch diese dualistische Option scheidet für Barth aus, da ihr zufolge das Verhältnis »zwischen Versöhnung und Schöpfung nur eben das gegenseitiger Fremdheit« wäre (KD IV/3, 172). Eine solche Aufteilung würde jedoch verkennen, »daß es sich dort zwar um das eine Licht und Wort der einen Wahrheit Gottes, hier aber [.. .] um die vielen Lichter Worte und Wahrheiten der Welt, aber immerhin: der von demselben Gott geschaffenen Welt handelt« (KD IV/3, 171). Die komplementäre Zuordnung würde die Partizipation der guten Schöpfung an Gottes erlösendem Handeln daher gerade verkennen. Barth entwirft gegenüber diesen beiden Varianten eine weitere Option, die ich (3) als eine christologisch-kritische Zuordnung bezeichne: Im Kern geht es dieser dritten Zuordnung darum »daß und wie die Wahrheit Gottes die Wahrheit seiner Kreatur problematisiert und relativiert, aber auch daß und wie sie sie integriert und instauriert« (KD IV/3, 174). Damit ist die Pointe dieser zweiten Unterscheidungsebene ausgesagt, die nicht nur auf eine Differenzierung drängt, sondern auch eine kritische Integrierung beider bedenkt. Barth entfaltet diesen Gedanken in Bezug auf (a) die Verbindlichkeit, (b) die Einheit und Ganzheit, sowie (c) die unwiderrufliche Endgültigkeit der Wahrheit Gottes (vgl. KD IV/3, 175–188). Seine Ausführungen sind dabei durchgehend von einer schlechthinnigen Überbietung der Wahrheiten der Welt durch die Wahrheit Gottes geprägt. Damit wird der christologische Pol der Lichterlehre zum Kriterium für den schöpfungstheologischen Pol. Denn in dem einen Licht des Lebens wird nun die »letzte Unverbindlichkeit«, die »Relativität«, aber auch die »Nicht-Endgültigkeit« der Wahrheiten der Welt sichtbar. Aber gerade darum stellt die Enthüllung ihrer Relativität einen entscheidenden Aspekt der Prophetie Jesu Christi dar: Es ist ihre prophetische Einordnung als bloße »Leuchtkörper«, die sich in ihrer Mannigfaltigkeit nicht nur ergänzend relativieren, sondern im Streit der Wahrheiten ebenso problematisieren und darum in ihrer Zerstreuung ihre Vorläufigkeit manifestieren. Ihnen bildet die Wahrheit der Prophetie Jesu Christi, die selbst »keinem von ihm selbst unterschiedenen Wahrheitskriterium unterworfen« ist, ein endgültiges Kriterium (KD IV/3, 183). Das in seiner Verbindlichkeit, Ganzheit und Endgültigkeit die geschöpflichen Lichter der Welt überbietende Licht Jesu Christi überwindet jene trotz ihrer Problematisierung jedoch nicht. Das Verhältnis der göttlichen Wahrheit zu den Wahrheiten der Welt ist kein schlechthin polemisches! Diese Einsicht ist für die
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Rekonstruktion dieses eschatologischen Modells zentral. Es zeigt, dass Barth neben der absoluten Unterscheidung von Licht und Finsternis weitere Differenzierungen zu denken und miteinander zu verbinden vermag. Barths theologische Sensibilität für die Bedeutung der Lichter als geschöpfliche Wahrheiten stellt einen Sicherungsmechanismus gegen die oben bereits angedeutete gnostische Tendenz dieses erlösungstheologischen Modells dar. Denn die geschaffenen Lichter sind zwar einerseits von dem Licht Jesu Christi zu unterscheiden, sie sind dennoch nicht identisch mit dem, was Barth als Finsternis der Welt bezeichnet. Stattdessen haben sie als geschöpfliche Wahrheiten ihr Recht gegenüber dem Bösen in der Gestalt der Lüge. Dieses Recht wird ihnen in ihrer Integrierung und Instaurierung zuerkannt: »Als Lichter, Worte und Wahrheiten von problematischer, von relativer Gültigkeit haben sie je zu der Zeit und der Situation, in der sie in größerer oder geringerer Klarheit erkennbar und erkannt werden, höchste praktische Würde, Macht und Bedeutung« (KD IV/3, 186).41 Barths Lichterlehre stellt damit eine christologisch-kritische Alternative zu exklusivistischen, aber auch zu inklusivistischen Wahrheitsbegriffen dar: Indem sie diesen einerseits christologisch konzentriert und aus dieser Konzentration heraus eine dezidierte Würdigung der Pluralität von Wahrheiten ableitet, stellt die Lichterlehre ein Instrumentarium dar, das über eine dualistische Verhältnisbestimmung von Schöpfung und Erlösung bzw. Natur und Gnade hinausgeht, beide aber ebenso wenig miteinander identifiziert. Die wahrheitstheoretische Präferenz der Prophetie Jesu Christi soll nicht auf Kosten der für die in ihrem Fortbestehen von der Lüge bedrohte Schöpfung so wichtigen Wahrheiten der Kulturen, der Religionen, der Wissenschaften und Weltanschauungen geschehen. Als relativierte und instaurierte Worte spielen sie mit ihrem eigenen Ringen um Wahrheit eine bedeutungsvolle Rolle in der Bewahrung der Welt vor der bedrohenden Wirklichkeit des Bösen in Gestalt der Lüge. Als geschaffene Elemente sind sie in den Prozess der Erlösung von dem Bösen einbezogen: »Sie sind solcher Integrierung nicht unfähig« (KD IV/3, 178). Ausgehend von der im ersten Abschnitt beschriebenen erlösungstheologischen Signifikanz des Offenbarungsthemas hat diese Analyse der Lichterlehre das Problemniveau dieses Modells angehoben: Es konnte gezeigt werden, dass in 41
Bemerkenswert ist, dass Barth in seiner Lichterlehre dezidiert nicht zwischen sog. christlichen und nicht-christlichen Wahrheitsansprüchen unterscheidet. Das für sich sprechende Schweigen in diesem Abschnitt über die Kirche ist darin begründet, dass Barth hier das Christentum und seine organisierten Gestalten in die Reihe der geschöpflichen Lichter einreiht: »Es [sc. das Licht Jesu Christi] trifft, begrenzt und relativiert also die in der Exklusive jenes Satzes laut werdende Kritik die Prophetie der Christen und auch die der Kirche als solcher nicht weniger als die durch ihn gleichfalls beiseitegeschobenen und relativierten sonstigen Prophetien, Lebenslichter, Gottesworte anderer, nicht-christlicher Art« (KD IV/3, 101). Den relativen Unterschied von christlicher und nicht-christlicher Erkenntnis gewinnt Barth erst mit der Entwicklung eines qualifizierten Zeugnisbegriffs, der auf der dritten Unterscheidungsebene dieses Modells zu suchen ist und dem sich der nächste Abschnitt dieses Kapitels widmet.
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der Verbindung der beiden Pole dieser theologischen Wahrheitstheorie die Möglichkeit für einen christologisch-kritischen Wahrheitsbegriff begründet liegt und Barth damit in der Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen die Integration geschöpflicher Wahrheiten bedenkt.
5.4 Die operativ-fiktionale Differenz von Kirche und Welt Während die erste Differenzierungsebene die dramatische Grunddynamik dieses Modells beschrieben hat, wurde auf der zweiten Ebene nachgezeichnet, in welchem Rahmen Barth die Möglichkeit der Beteiligung bzw. »Integrierung« geschöpflicher Dynamiken – mithin menschlicher Wahrheiten – in diese Auseinandersetzung erwägt. Die Bedeutung des Offenbarungsthemas in Barths Entfaltung des prophetischen Amtes ist für dieses Modell im Zusammenhang schöpfungsund versöhnungstheologischer Überlegungen herausgestellt worden. Die Pointe dieses Modells, dass das Heilsgeschehen Jesu Christi für Barth nur im Zusammenhang von Noetik und Ontologie, dass also die Bekanntmachung des Heils durch das Zeugnis Jesu Christi selbst als ein Heilsgeschehen zu verstehen ist, hat die Beteiligung des Menschen an diesem Geschehen jedoch bislang nur nebenbei – und hauptsächlich über eine schöpfungstheologische Denkform vermittelt – behandelt. Gleichzeitig ist mit Barth darauf hinzuweisen, dass Christus nicht nur sein eigener Zeuge ist, sondern, indem er Menschen zu seinen ZeugInnen beruft, diese am geschichtlichen Prozess seiner Selbstkundgabe beteiligt. Es geht auf dieser dritten Ebene um die besondere Existenz des Menschen als Christenmenschen und um die Rolle der Kirche in der von ihrer eigenen Geschichte zu unterscheidenden Universalisierung der Versöhnung.42 42
Auch Henning Theißen hat in seiner Habilitationsschrift eine dogmatische Kirchentheorie vorgelegt, die über ein Wahrheitskriterium argumentiert. Im Rahmen seiner Rekonstruktion von Barths Ekklesiologie ist es Theißens Verdienst, dass er die kreuzestheologische Grunddimension in dessen Zeugnistheorie herausgestellt hat. Pointiert nimmt er damit die wesentliche Gleichwesentlichkeit von sichtbarer und unsichtbarer Kirche auf: »Sichtbar kann die Kirche demnach genannt werden, insofern Christus in ihr und damit sie als der Leib Christi gesehen werden kann, während die Unsichtbarkeit Christi in der Kirche mit dem dogmatischen Terminus als die Verborgenheit desselben Christus in ihr zu verstehen ist« (Theißen, Die berufene Zeugin des Kreuzes Christi, 457); wahrheitstheoretisch lässt sich dies damit verbinden, »dass die Übereinstimmung der Kirche mit ihrer kreuzestheologischen Verborgenheit der evangelische Begriff von der Wahrheit der Kirche ist« (Theißen, 458). Demgegenüber liegt der Fokus des folgenden Abschnitts stärker auf der auferstehungstheologischen Begründung, die den Zusammenhang von Ekklesiologie und Eschatologie freilegt. Die mithilfe der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche gewonnene Problemsensibilität im Hinblick auf die Wahrheitsfrage soll im späteren Verlauf aufgrund des im Rahmen dieses Modells begründeten Gewichts auf der Kirche als sichtbarer Darstellung mit der Relationierung von Kirche und Welt aufgenommen werden.
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Auf dieser dritten Relationierungsebene soll vor dem Hintergrund von Barths Soteriologie die Unterscheidung von Kirche und Welt thematisiert werden.
5.4.1 Die Berufung als dritter Zeugnistypus Barths Rede von der dreifachen Wiederkunft Jesu Christ bildet den strukturellen Rahmen dafür, dass das Christusereignis nicht nur als Singularität in der Weltgeschichte zu denken ist, sondern dass mit ihr eine Bewegung Gottes in diese initiiert ist, die die menschliche Existenz affiziert. Diese versteht Barth als einen umfassenden Erkenntnisprozess, der weit über ein ausschließlich kognitives Geschehen hinausgeht: Und so ist die dem Menschen durch seine Erleuchtung geschenkte Erkenntnis Gottes nicht ein bloßes Zur Kenntnis Nehmen und Verstehen und allenfalls so etwas wie ein intuitives Schauen seines Seins und Tuns, sondern die Inanspruchnahme wie seines Denkens so auch seines Wollens und seines Werkes, des ganzen Menschen für ihn – seine Umgestaltung zum Schauplatz, Zeugen und Werkzeug seiner Taten. (KD IV/3, 586).43
Dass diese Selbstkundgabe Gottes in und durch seine Schöpfung unter Beteiligung der Menschen stattfindet, liegt an der inklusiven Grundstruktur des prophetischen Amtes. Denn in seinem prophetischen Amt leuchtet Christus als das Licht des Lebens nicht nur in der Welt, sondern erleuchtet Menschen, die so zur Teilnahme an dieser Bewegung Gottes befähigt werden: Menschen werden zu geschichtlichen ZeugInnen. Eine konkrete Rolle an dieser Bewegung spielt die 43
Barths verobjektivierende Begriffe geben Anlass zur Frage, ob es sich hierbei nicht um eine Entsubjektivierung des Menschen oder gar um die Negation geschöpflicher Freiheit handelt. Barths Wahl dieser Begrifflichkeiten zielt jedoch vielmehr auf die individuelle Konkretheit dieser Berufung als eine jeweilige Berufung ab. Indem Menschen selbst eine Rolle im theatrum gloriae Dei spielen, lässt sich ihre Berufung zwar nicht generalisieren: »Kein Zweifel, daß diese sich in der Zeit [. . . ], in der Geschichte (als in seiner Geschichte) aufs mannigfaltigste differenzieren und auseinanderlegen wird« (KD IV/3, 587). Es handelt sich in diesen Erfahrungen als Erleuchtungen durch die Begegnung mit Gott, um Realität schaffende Erkenntnisprozesse und damit um reale Vergegenwärtigungen Jesu Christi zum Zeugnis dieser konkreten Menschen. Das schließt für Barth gerade auch die Dialektik von disruptiver und kontinuierlicher Bedeutung von Bekehrung (KD IV/3, 591f.), von äußerer Vermittlung in Wort und Sakrament und innerer Berufung durch den Heiligen Geist (KD IV/3, 593f.) ebenso wie die von einmaliger und dauerhafter Berufung ein (KD IV/3, 594ff.). In alledem geht es für Barth jedoch auch um die konkrete Verbindung von Christologie und Pneumatologie: »Der lebendige Herr Jesus Christus in der Macht seines Wortes und also in seinem Heiligen Geist ist das in diesem Ereignis handelnde Subjekt« (KD IV/3, 596). Gerade weil die christologische Grundlegung dieses Modells Jesus Christus als den primären Akteur herausgestellt hat, bietet Barth mit dieser pneumatologischen Verbindung eine Möglichkeit, im Modus der Erkenntnis dem Menschen als erleuchteten und also erkennenden Menschen eine eigene, in dieser Verbindung eine »Selbstständigkeit, Eigenart und Eigentätigkeit« zu eröffnen (vgl. KD IV/3, 621) – diese lässt sich in jedem Fall nicht allein auf eine »bloße[] Passivität bestimmte[r] Zuhörer und Zuschauer« reduzieren (KD IV/3, 623).
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Kirche als die Gemeinschaft der so zum Zeugnis ermächtigten und beauftragten Menschen. Schon in den christologischen Abschnitten von KD IV/3 schließt Barth die Zeit der Gemeinde und ihre Geschichte direkt an die »durch die Offenbarung, die Erscheinung, die Prophetie Jesu Christi gegründete, erweckte und gestaltete christliche Erkenntnis« an (KD IV/3, 241); mehr noch: in seiner Offenbarungsgeschichte macht sich das »Gotteswerk der Rechtfertigung und Heiligung [...] in der Welt, unter den Menschen realpräsent« (KD IV/3, 242). Doch auch wenn dieses Modell das Erkenntnisproblem als Teil des Versöhnungswerks Jesu Christi beschreibt und also die Epistemologie dieses Modells selbst Teil des darin zur Sprache gebrachten transformatorischen Handelns Gottes wird, beschreibt die Verbindung von Christologie und Ekklesiologie über die christliche Erkenntnis keine Identität. Mit anderen Worten: Die partikulare Existenz der Kirche ist nicht gleichbedeutend mit der partikularen Realisierung des Heils in der Welt zu beschreiben. Wie Markus Höfner zutreffend analysiert, ist bei Barth – trotz dessen Ontologisierung der Noetik der Versöhnung – die »Differenz von Kirche und Nicht-Kirche [...] nicht entlang der Unterscheidung von Heil und Unheil bestimmt«.44 Darum ist die in diesem Abschnitt zu thematisierende dritte Unterscheidungsebene von Christen und Nicht-Christen bzw. die von Kirche und Welt zunächst getrennt von der eschatologischen Leitunterscheidung von Licht und Finsternis zu betrachten. Denn gegenüber der geschichtlichen Partikularität des christlichen Bekenntnisses, welche klassischerweise mithilfe eben jener Unterscheidung von Kirche und Welt zum Ausdruck gebracht wird, gilt Barths Hauptaugenmerk der universalen Bestimmung der Menschheit. Diese Bestimmung und die in ihr begründete Ekklesiologie der Zeugnisgemeinschaft muss daher zunächst ins Auge gefasst werden, da sie den hermeneutischen Rahmen für diese dritte Differenzierungsebene bildet. Denn ebenso wie Barth das geschichtliche Zeugnis des Christus militans in eine universal- bzw. heilsgeschichtliche Perspektive einordnet, so ist auch die durch ihre Partikularität angefochtene Gestalt der Kirche und des christlichen Bekenntnisses in der Geschichte nur von seiner universalen Bestimmung her zu verstehen: Aber wie es zwischen der Gemeinde, den Christen einerseits und der übrigen Welt anderseits zwar eine bestimmte, aber nun doch keine absolut bestimmte, sondern – bedrohlich für die Christen und verheißungsvoll für die Nicht-Christen – nur eine fließende, veränderliche Grenze gibt, so sind die Erkennenden und die Nicht-Erkennenden bei allen wichtigen Unterschieden, die sie tatsächlich trennen, letztlich oder vielmehr erstlich, 44
Höfner, »Gottes Gegenwart und die ›Zeit der Gemeinde‹: Eine Problemskizze im Gespräch mit Karl Barth«, 131.
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Modell 5: Revelatorische Eschatologie nämlich von der ihnen allen zugewendeten, ihnen allen gegenüber aber auch souveränen Offenbarung des Wortes her im selben Boot, unter einer ihnen allen gemeinsamen Bestimmung, will sagen: in zwar sehr verschiedenem Verhältnis des Einen zum Anderen sind sie Alle Erkennende und Nicht-Erkennende, Alle durch den großen Gegensatz bestimmt, daß das Licht leuchtet, aber eben in der Finsternis leuchtet. (KD IV/3, 219)
Damit depotenziert Barth zunächst die Bedeutung des Unterschieds von Christen und Nicht-Christen. Denn selbst wenn es hier im Bezug auf das Erkennen, welches sich im Bekennen der Kirche äußert, mehr oder minder erhebliche Unterschiede geben mag, so sind diese Differenzen unter dem »großen Gegensatz«, den die erste in diesem Kapitel beschriebene Leitunterscheidung repräsentiert, zu relativieren. Mit der bloßen Relativierung ist es hierbei jedoch nicht getan, denn ebenso unterstreicht Barth, dass die Nivellierung der Bedeutung dieses Unterschieds aufgrund der »allen gemeinsamen Bestimmung« gilt. Diese Bestimmung ist – so verbindet Barth die drei Ämter Jesu Christi – die universale Rechtfertigung, Heiligung und Berufung aller Menschen: »Er allein ist aller Menschen Leben und das Licht ihres Lebens, er allein von den Toten auferstanden zur Offenbarung der Herrlichkeit seiner Sendung und seines Werkes« (KD IV/3, 864). Barth fährt fort, dass Christus das alles »für die ganze Menschheit und so auch und zuerst für seine Gemeinde [ist], die ihn als Diesen der Menschheit zu bezeugen hat, die er dazu beruft und ausrüstet durch die erleuchtende Macht seines Heiligen Geistes« (ebd. [Hervorheb.: B.F.]). In der universalen Bestimmung der ganzen Menschheit relativiert Barth daher die Unterscheidung von Kirche und Welt dahingehend, dass er sie zwischen dem Christusereignis und dessen eschatologischer Universalisierung als funktionales Gegenüber des Zeugnisdienstes der Gemeinde einordnet.45 Und so ist die Unterscheidung von Kirche und Welt eine operative Unterscheidung, deren Sinn in der Spezifizierung des Adressaten des Zeugnisses der Kirche zu suchen ist. Exemplarisch stellt Barth daher beide einander gegenüber: Es gebe eine »Zeit für die Gemeinde, das Wort von Jesus Christus und dem, was in Ihm geschehen ist, zu verkündigen und Zeit für die Welt, dieses Wort zu vernehmen – Raum für die Geschichte der Prophetie Jesu Christi« (KD IV/3, 817). 45
Ferner zu bestimmen wäre, inwiefern der Universalismus Barths nicht nur als formales Kriterium, sondern auch als inhaltliche Bestimmung des Zeugnisdienstes der Gemeinde dienen kann. Annelore Siller hat diese universale Perspektive zum Anlass für eine Konturierung des Dienstes der Gemeinde genommen: »Letztlich geht es um ein Handeln, welches versucht, die Gegensätze, in denen die Menschen in der Spätmoderne gefangen sind, zu überwinden und zu einer menschlichen Gemeinschaft zu werden, die über sich selbst hinausweist« (Siller, Kirche für die Welt, 322). In Bezug auf die Preisgabe jeglicher institutioneller Selbstabsicherung der Kirche ist Siller hier sicherlich zuzustimmen; auch, dass ihre bare Existenz als Zeugnis über sich selbst hinausweist. Ob mit der Überwindung der Gegensätze der Moderne jedoch tatsächlich das Problemniveau von Barths Hamartiologie der Lüge erfasst ist, bleibt fraglich.
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Barths unbefangen parallele Rede von der Selbstbezeugung Jesu Christi in der Geschichte, d.h. als Akteur der Bewahrheitung seines Versöhnungswerks und dem Zeugnis der Kirche andererseits wirft unmittelbar die Frage nach deren Verhältnis auf. Mit dem Instrumentarium der vorangehenden Abschnitte sind grundsätzlich zwei Zuordnungen denkbar, die Barth in seiner Ekklesiologie tatsächlich auch beide immer wieder aufzurufen scheint: Zum Einen ließe sich das Zeugnis der Kirche und ihrem Anspruch, durch ihr Zeugnis in Wort und Tat wahrheitsgemäß von Gott zu reden, als eines der geschöpflichen Lichter bezeichnen: Ebenso wie z.B. die modernen Wissenschaften, Religionsgemeinschaften und andere Kulturerrungenschaften ihre lebensförderliche Funktion in der Erforschung und Präsentation relativer, geschöpflicher Wahrheiten haben, die im besten Fall einem »immanenten Frieden« der Schöpfung zuträglich sind, ließe sich die Kirche und ihr Zeugnis als ein solches geschöpfliches Licht von relativer Bedeutung bezeichnen. Barths Ekklesiologie bietet hier logische Anschlüsse an seine Lichterlehre.46 Semantisch lässt sich dies dahingehend plausibilisieren, dass wie auch die geschaffenen Lichter, welche als »Brechungen des einen Lichts« (KD IV/3, 173) dieses nur »spiegeln«, auch das Zeugnis der Kirche im besten Fall nur »das Licht seines prophetischen Wortes reflektieren« (KD IV/3, 697) könne. Mit dieser Option ist eine schöpfungstheologische Kontinuität angedeutet, welche die Kirche den geschaffenen Lichtern der guten Schöpfung Gottes zuordnet. Für diese Zuordnung spricht, dass sie die Partikularität der Kirche und den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens in die Pluralität konfessioneller, weltanschaulicher und methodologisch divergierender Deutungen der Wirklichkeit einordnet. Freilich lässt diese Option damit aber auch das spezifische Proprium des christlichen Glaubens in Bezug auf ihr wahrheitstheoretisches Potential, das über eine rein utilitaristische Einordnung hinausgeht, vermissen. Eine zweite Option bietet sich von der christologischen Seite dieses Modells an, welche die Kirche stärker in der Kontinuität des inkarnierten Christus versteht. Insbesondere Barths Rede von der Kirche als der »irdisch-geschichtlichen Existenzform« Jesu Christi, welche im Zeugnis der Gemeinde nicht nur ein Gleichnis der Versöhnung Jesu Christi, sondern gerade in ihrer Existenz als Gleichnis die reale Gegenwart ihres Versöhners lokalisiert, bietet diese Deutung an.47 Indem 46 47
Diese Möglichkeit erkennt auch Theißen, Die berufene Zeugin des Kreuzes Christi, 509. In diese Richtung argumentiert die Interpretation der Ekklesiologie Barths von Kimlyn Bender, der bspw. die christologischen Denkformen der Anhypostasie und Enhypostasie als Heuristik für die Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt verwendet; Bender, Karl Barth’s Christological Ecclesiology; besonders 221–225. Zur Kritik an dieser Interpretation vgl. Theißen, Die berufene Zeugin des Kreuzes Christi, 440. Noch radikaler hat dagegen Wolf Krötke Barths ekklesiologische Formel der Kirche als irdisch-geschichtlichen Existenzform Jesu Christi abgelehnt, sofern damit eine fragwürdige »mythische[] Denkfigur des Inkorporiertsein einer Gemeinschaft in eine Gründerfigur« angedeutet sei, »was unter den Bedingungen unserer Zeit
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sich der wahrhaftige Zeuge im Zeugnis der Kirche selbst vergegenwärtigt, wird diese unmittelbar in die Auseinandersetzung des Lichts gegen die Finsternis einbezogen. Diese Option setzt gegenüber der schöpfungstheologischen Einordnung der Kirche stärker auf eine exklusivistische Lösung der Wahrheitsfrage. Zugleich wird die empirische Partikularität der Kirche aber auch in dieser Zuordnung bedacht. Hier fügen sich Barths Äußerungen dazu ein, dass die christliche Existenz in Analogie zum Christus militans nicht zuletzt auch eine kämpferische, weil in ihrer Geltungskraft angefochtene Existenz ist (vgl. KD IV/3, 1056). Während die erste, schöpfungstheologische Zuordnungsoption die in diesem Kontext zu thematisierende Unterscheidung von Kirche und Welt als eine kontingente, innergeschöpfliche Unterscheidung fasst, wird die Differenz von Kirche und Welt in der zweiten Option zu einer eschatologischen Differenz: Die Universalisierung der Versöhnung in der Erlösung kann – nimmt man dies für die damit beschriebene Ekklesiologie in Anspruch – nur in der Überwindung der Welt durch die Universalisierung der Kirche vollzogen werden. Mit diesen beiden Optionen erschöpft sich jedoch nicht das Potential, das Barths pneumatologische Grundlegung seiner Soteriologie der Berufung bietet. Anhand dieser lässt sich eine dritte Option ausmachen. Mit dem Ereignis der Berufung beschreibt Barth ein dezidiert »geistliches« Geschehen, das sich in seiner Genese und seiner wahrheitsfähigen Qualität von den geschöpflichen Lichtern grundlegend unterscheidet: Des Menschen Berufung aber ist darum unter allen Umständen ein geistlicher Vorgang, weil ein anderes Subjekt als der in der Macht seines Wortes und so durch den Heiligen Geist direkt und unmittelbar handelnde lebendige Jesus Christus in ihr gar nicht in Frage kommt (KD IV/3, 577).
Dieser dritte Zuordnungstypus steht der christologischen Bestimmung der Kirche durchaus nahe, unterscheidet sich von dieser jedoch dahingehend, dass er Jesus Christus und die Kirche als Kollektivsubjekt nicht miteinander identifiziert. Dies begründet für Barth die spezifisch christliche Existenz als die Gemeinschaft (nicht Identität!) mit dem lebendigen Christus (vgl. KD IV/3, 619).48 Die Berufung, welche Barth mithilfe der Lichtmetaphorik als »Erleuchtung zu tätiger Erkenntnis« beschreibt, die den Christen zu einem »Kind des Lichtes« werden lässt (KD IV/3, 611), stellt daher einen eigenen Typus der Wahrheitsfähigkeit dar. Der darin begründeten christlichen Verkündigung kommt daher auch in der Auseinandersetzung Gottes gegen die Lüge eigene Bedeutung zu. Auf die 48
nicht geraten ist« (Krötke, »Die Kirche als ›vorläufige Darstellung‹ der ganzen in Christus versöhnten Menschenwelt: Die Grundentscheidungen der Ekklesiologie Karl Barths«, 88). Hanna Reichel hat diese Begründung als Ämterübertragung beschrieben, die Barth im engeren Sinn so nur für das prophetische, nicht aber in gleicher Weise für das priesterliche und das königliche Amt vorsieht: »Christus ist der wahrhaftige Zeuge; der Mensch, der Christ wird, ist Zeuge, indem er diesen Zeugen bezeugt« (Reichel, Theologie als Bekenntnis, 221).
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erlösungstheologischen Implikationen von Barths Ekklesiologie ist daher im Folgenden genauer einzugehen.
5.4.2 Die Visibilität der Kirche Für Barth bedeutet christliche Existenz notwendigerweise auch kirchliche Existenz. Und wie es im eigentlichen Sinn keine Erwählung des »Einzelnen« gibt,49 so ist auch die Berufung der Christen zum Zeugnis Jesu Christi nur als eine gemeinschaftliche Berufung denkbar (KD IV/3, 780). In der Versöhnungslehre der Kirchlichen Dogmatik wird die Kirche als Zeugnisgemeinschaft beschrieben. Damit legt Barth den Grundstein für eine Kirchentheorie, die weder bei einem institutionellen Kirchenbegriff ansetzt, noch über eine organisatorische Einheit das Spezifikum der Kirche zu bestimmen versucht. Das Wesen der Kirche besteht vielmehr nur in ihrem Zeugnisdienst, den sie in ihrem Christusbezug verkörpert.50 Barth hat damit nicht nur ein nominales Bekenntnis zu Christus vor Augen, vielmehr steht und fällt damit auch alle geschichtliche Bewahrheitung des Zeugnisses der Kirche: Sie bezeugt den einen wahrhaftigen Zeugen und also gedeckt und garantiert nicht durch eine ihrem Zeugnis immanente Wahrheit, sondern durch die seines Zeugnisses (KD IV/3, 966).
Darüber hinaus ist Barths Kirchenbegriff in hohem Maße eschatologisch bestimmt: Nicht in dem Sinne, dass die Kirche selbst eine eschatologische Größe wäre und dass die Universalität Jesu Christi ihre Universalisierung bedeuten würde. Dagegen betont Barth, dass die Kirche nicht als »Selbstzweck« oder gar als eine Agentin fungiert, deren Aufgabe es sei, »das Reich Gottes in seiner Schöpfung aufzurichten« (KD IV/3, 908). Die eschatologische Bestimmung dieses Kirchenbegriffs ist vielmehr so zu verstehen, dass ihr Auftrag, den Barth als einen verheißungsvollen Dienst bezeichnet, eschatologisch codiert ist. Ihr Zeugnis hat eschatologischen Gehalt und gewinnt damit auch eschatologische Form. Denn die Kirche ist ihrem Wesen nach dazu berufen als vorläufige Darstellung der in Christus versöhnten Menschheit ein proleptisches Gleichnis des Reiches Gottes zu sein. Es geht für Barth daher um ein Doppeltes: Eine in der Berufung eröffnete
49 50
Vgl. KD II/2, 387f. Zum Verhältnis von Christologie, Pneumatologie und Ekklesiologie bei Barth vgl. Buckley, »A Field of Living Fire«. Zentral ist dabei seine Unterscheidung zwischen dem, »what Barth states against the background of what he shows« (85). Buckley unterscheidet dabei zwischen dezidiert katholischen und protestantischen Tendenzen in Barths Ekklesiologie, die sich aus einer unterschiedlichen Verhältnisbestimmung von Christus und dem Geist und deren Pragmatik in Barths theologischer Denkbewegung ergeben.
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spezifische Anschauungsform und eine daraus erwachsende erkenntnispraktische Darstellung.51 Die spezifisch christliche Anschauungsform ist die christliche Hoffnung für die Welt. Diese Hoffnung kennzeichnet dabei einerseits ein Realismus, der sich stets dies vor Augen halten muss: »die vollendende Offenbarung Jesu Christi und ihr erlösendes Werk steht noch aus, ist noch nicht Ereignis« (KD IV/3, 1052). Darum impliziert die christliche Erkenntnis gerade auch ein realistisches Wissen »um die Welt, wie sie ist« (KD IV/3, 880). Die christliche Hoffnung weiß darum, dass das Zeugnis Jesu Christi und das in ihm begründete Heil wie auch die Güte der Schöpfung von der »Verwirrung« des Menschen (hominum confusione) fundamental in Frage gestellt wird. Die Verwirrung des Menschen ist selbst nicht das Böse, aber sie bietet ein Einfallstor für die Wirklichkeit des Nichtigen, insofern sie die Gegenwart Gottes in seiner Welt in all ihrer »Zweideutigkeit und Unentschiedenheit« negiert (KD IV/3, 796). Die christliche Hoffnung leugnet diesen Zustand nicht, sie depotenziert dessen reale Gefahr auch nicht, welche von dieser Verwirrung und den daraus erwachsenden Missbräuchen der Schöpfungsgüter erwächst. Sie ist vielmehr als spezifisch christliche Anschauungsform dazu in der Lage, einerseits die Selbstgefährdung der Schöpfung in ihrer Drastik wahrzunehmen, um sie zugleich im Licht der Gnade Gottes, die diese Selbstgefährdung zu überwinden verheißt, anzuschauen. Die christliche Erkenntnis besteht daher darin, jeden einzelnen Menschen, aber auch jede natürliche oder geschichtliche Gruppe von Menschen darauf ansehen, daß Gottes gute Schöpfung, ihre eigene Sünde und Gottes versöhnende Gnade bestimmt auch ihr Dasein und Sosein, ihr Tun und Lassen bestimmen möchte (KD IV/3, 881).
Christus-Erkenntnis ist also eine Anschauungsform, die Schöpfung, Fall und Erlösung einerseits zu unterscheiden, aber damit auch aufeinander bezogen zu denken vermag. Von dorther wird sie zu einer eschatologischen Erkenntnis, die in ihrer Hoffnung auf die universale Offenbarung Jesu Christi zu einer bestimmten christlichen Weltsicht wird. »Die Christliche Gemeinde wagt es, weil auf Jesus Christus, darum auf die Welt zu hoffen« (KD IV/3, 824). Ihre Sicht auf die Welt ist damit bei allem Realismus gegenüber der ambivalenten Gestalt der Welt von 51
Auf diese Doppelperspektive der noetischen Dimension der Versöhnung weist Cornelis van der Kooi schon mit Blick auf KD IV/1 hin: »In the first part of the doctrine of reconciliation we hear that it is one thing to acknowledge the pro nobis of Christ, and quite another to hear the pro nobis not merely as an assertion, but to explore its range and implications as man, and let it resonate against the walls of one’s own life. Learning to know is making the first steps on a way; it is a battle, even though in the light of the priority of grace it is a ›battle filled with the expectation of victory‹« (van der Kooi, As in a Mirror. John Calvin and Karl Barth on Knowing God, 413f. mit Verweis auf Barth, Karl Barth Gesamtausgabe, 80.) Die agonale Dramatik und die begründeten Hoffnung auf den Sieg in diesem Kampf weisen darauf hin, dass diese Beobachtung tief in diesem Modell verwurzelt ist.
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einer grundlegenden Zuversicht für die Welt geprägt. Die Kirche als das Volk Gottes im Weltgeschehen weiß, daß unter, hinter und in allem, was da sichtbar wird und ist, die neue, die allein in erstem und letztem Ernst ernst zu nehmende Weltgestalt verborgen ist und zum Licht drängt. Es kann darum weder den Enthusiasmus derer teilen, die jene alte Weltgestalt für wirklich und durchgreifend verbesserungsfähig halten, noch die Skepsis derer, die angesichts der Unverbesserlichkeit jener alten Weltgestalt an der Möglichkeit einer anderen verzweifeln zu müssen meinen. (KD IV/3, 821)52
Aus diesem erkenntnistheoretischen Spezifikum der christlichen Anschauungsform geht eine erkenntnispraktische Konsequenz hervor, welche auf das spezifische Involviertsein der Kirche in die Offenbarungsgeschichte hinweist. Der spezifisch eschatologische Gehalt des Zeugnisses der Kirche ist ihre Existenz als »vorläufige Darstellung der in Jesus Christus ergangenen Berufung der ganzen Menschheit, aller Kreaturen in den Dienst Gottes« (KD IV/3, 908). Als diese vorläufige Darstellung bleibt sie in der Geschichte der Prophetie Jesu Christi auf deren vollendende Universalisierung ausgerichtet. Diese ist für die Gemeinde der Grund ihrer Hoffnung und Erwartung der Wiederkunft Jesu Christi. Dazwischen aber, in der Geschichte der Prophetie Jesu Christi, lokalisiert Barth die Zeit der Gemeinde, die als partikulare Gemeinschaft der schon Erkennenden und damit Bekennenden als Volk Gottes im Weltgeschehen in eben dieser Spannung zwischen den Zeiten existiert. Dabei versteht Barth die ganze Existenz dieser Gemeinschaft und ihrer Lebensäußerungen von ihrer Funktion als Zeugin: Eingebunden in das Drama der Selbstkundgebung der Gnade und Herrlichkeit Gottes wird sie in den Dienst dieser geschichtlichen Darstellung berufen.53 Aus diesem Grund legt Barth großes Gewicht auf die Sichtbarkeit der Kirche: Denn die Zeugnisgemeinschaft soll eine soziale und damit leiblich verfasste Gemeinschaft sein, die auf wahrnehmbaren Interaktions- und Kommunikationsformen basiert.54 »Die christliche Gemeinde ist den übrigen Elementen, Größen und Faktoren des Weltgeschehens nicht nur ähnlich, sondern bei aller Besonderheit ihrer Struktur und Situation auch gleichartig« (KD IV/3, 828). 52
53
54
Dies schließt nach Barth eine Hoffnung auf die Transformation dieser Wirklichkeit zu einer »neuen Wirklichkeit« ein. Auf die geschichtseschatologischen Implikationen dieser Zuversicht, die in der Bewahrheitung des Heilszeugnisses besteht, ist im abschließenden Kapitel dieser Modellrekonstruktion noch einmal dezidiert einzugehen (vgl. Kap. 5.5.2). In der Forschung hat sich der darstellende Aspekt kirchlicher Handlungsformen als ein Brückenkonzept zwischen der Ekklesiologie Schleiermachers und der von Barth erwiesen. Vgl. Gräb, »Die sichtbare Darstellung der Versöhnung«, der insbesondere auf die theologische Komplementarität von sichtbarer und unsichtbarer Kirche herausstellt. Vgl. außerdem Rieger, »Schleiermacher und Barth über die Kirche und ihre Gestalt«. Vgl. Siller, Kirche für die Welt, 301: »[D]as ist das Spezifische des prophetischen Aspektes der Ekklesiologie – das Geheimnis ihrer Existenz bleibt nicht verschlossen in dem unsichtbaren Wesen der Gemeinde, sondern drängt von innen nach aussen [sic!], hinein in die Sichtbarkeit«.
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Damit wird Barths optische Semantik zu einem Kriterium der Kirche, insofern ihre Fähigkeit zur Darstellung mit ihrer Sichtbarkeit steht und fällt. Als »Aktion im Heiligen Geist als Reflex und Replik der ihm und nur ihm eigenen Herrlichkeit, partizipierend an ihr doch auch noch und schon herrlich: herrlich als Darstellung, als Anzeige, als Gleichnis seiner Prophetie« (KD IV/3, 908f.). Eben darin ist die Kirche auf ihre Sichtbarkeit verwiesen – nicht um sich selbst in einem bestimmten Licht zu präsentieren, sondern um darin die Eindeutigkeit der Güte Gottes und die unbedingte Hoffnung auf die eschatologische Erlösung von dem Bösen gegen alle Zweideutigkeit der Welt zu bezeugen. Die besondere Bedeutung von Barths Diktum der »Gemeinde für die Welt« (KD IV/3, §72.2) liegt in ihrer sichtbaren, für die Welt vernehmbaren und damit letztlich weltlichen Gestalt, die die Bedingung der Möglichkeit ihrer aktiven Beteiligung am Zeugnis Jesu Christi bildet. Ihre spezifische Erkenntnis drängt sie dazu in Sozialformen, die dieser entsprechen, äußerlich zu werden. Damit folgt auch Barths Ekklesiologie der in diesem Modell immer wieder hervorbrechenden Struktur, dass die Noetik der Versöhnung ihre Ontik ist. In ausführlicher Weise widmet sich Barth daher einer Reihe von sichtbaren »Grundformen« des kirchlichen Dienstes, die ihm als performative Darstellungen der Erkenntnis Jesu Christi als dem Licht des Lebens gelten: Als grundlegende Sprachformen führt Barth das Lob, die Predigt und den Unterricht, als Zeugnisformen, in denen die Kirche besonders nach innen ihr Wort erhebt. Die in ihrem Kern nach außen gerichteten Zeugnisformen sind demgegenüber die Evangelisation, die Mission und die Theologie (vgl. KD IV/3, 991–1011). Allein Barths Theologiebegriff zeigt jedoch, wie wenig trennscharf Barths innen/außenUnterscheidung in Bezug auf die Grundformen des Wort-Zeugnisses ist. Denn Theologie ist – auch als universitäres Unternehmen – eine Selbstprüfung des Tuns der Gemeinde »am Maßstab dessen, was ihr aufgetragen ist« (KD IV/3, 1007). Kritische Theologie verrichtet damit ihren Zeugnisdienst auch in der Auseinandersetzung gegen die in der Gemeinde latente Lüge. Diese Unschärfe von Innen/Außen setzt sich auch in den sechs Grundformen kirchlichen Handelns fort. Als diese nennt Barth das Gebet, die Seelsorge, das Hervorbringen persönlicher Vorbilder, die Diakonie, das prophetische Handeln und die Gemeinschaft (vgl. KD IV/3, 1011–1034). Allen diesen Zeugnisformen ist gemeinsam, dass sie nicht nur implizit wie explizit auf Jesus Christus verweisen, sondern dass sie als religiöse, kulturelle, intellektuelle, soziale, moralische und karitative Lebensäußerungen auf konkrete und vorläufige Weise die Hoffnung auf die Erlösung von dem Bösen verkörpern. Sie verweisen auf die Verheißung von Gottes universaler Zuwendung und Solidarisierung mit den Menschen und sollen mit ihren konkreten Akten Gleichnisse des Reiches Gottes darstellen.
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Doch damit ist auch ein grundlegendes Paradoxon der menschlichen Berufung und der damit verbundenen Sendung der Gemeinde angezeigt: Die von Barths – nicht ohne eine gewisse Zahlensymbol – aufgezählten Grundformen mögen als rituelle und soziale Praktiken dem christlichen Bekenntnis entsprechen – sie sind jedoch nicht fundamental als christliche Handlungen, Haltungen oder Äußerungen von anderen religiösen, kulturellen, intellektuellen, sozialen, moralischen und karitativen Handlungen unterscheidbar. So können sie, selbst als Grundformen gewürdigt, der Kirche keine eigentümlich, äußere Sozialgestalt garantieren, die nicht auch verwechselbar mit anderen Sozialgestalten wäre. Die sichtbare Kirche bleibt damit wesenhaft der Zweideutigkeit ihres Zeugnisses ausgesetzt: Sofern es keine der Kirche eigentümlich sichtbare Gestalt gibt, mit welcher sie unzweideutig Jesus Christus als das Licht des Lebens bezeugen könnte, bleibt es ihr Schicksal, »dem Mißverständnis ihres Wesenes wehrlos ausgesetzt zu sein« (KD IV/3, 828). Anders gesagt: Wahrheitstheoretisch gesprochen, kann die Kirche ihrem Zeugendienst keine bewahrheitende Geltung verschaffen – sie kann sich nicht selbst nicht ins Licht der Wahrheit stellen, sondern ist gegenüber den Deutungen und Missdeutungen ihres Wesens letztendlich machtlos. Ihr sprechendes und handelndes Zeugnis steht in der Gefahr, dass sie selbst mehr Verwirrung stiftet. Mehr noch: dass sie sich nicht nur in der Zweideutigkeit der versöhnten aber noch nicht erlösten Welt verliert, sondern selbst unter dem Deckmantel des Christentums den lebenszerstörerischen Kräften des Bösen Vorschub leistet. Kirchliche Predigt kann falsche Hoffnungen verkündigen, Mission im Bündnis mit kolonialen Bestrebungen agieren und die Theologie kann – wie Barths theologiekritische Hiobauslegung veranschaulicht – zur Etablierung von Wahrheitssystemen beitragen, die sich der Geschichtlichkeit der Gegenwart Gottes in dieser Welt verschließt. Demselben Risiko sind die Grundformen der kirchlichen Handlungen ausgesetzt: Persönliche Vorbilder des Glaubens können zu götzenartigen Idolen stilisiert werden, organisierte Diakonie hat Anteil an den lebensrettenden, aber im selben Maße auch an den ausbeuterischen Ungerechtigkeiten der Gesundheitssysteme, in die sie eingebunden ist. Und selbst das prophetische Handeln der Kirche kann als politisches Werkzeug menschen- und gottesfeindlicher Agenden instrumentalisiert werden. Das äußerliche Handeln – in Wort und Tat – ist also die genuine Bestimmung der Kirche und führt dennoch in eine tiefe Paradoxie, die die Problematik ihrer Beteiligung an der geschichtlichen Prophetie Jesu Christi kennzeichnet: Sie soll in ihrem sichtbaren Zeugnis die »vorläufige Darstellung der von ihr unterschiedenen Gott-menschlichen Wirklichkeit« (KD IV/3, 906) sein, ohne dabei selbst der Verwirrungen der Welt zwischen Gut und Böse entkommen zu können. Damit mündet die zeugnistheoretisch entfaltete Ekklesiologie Barths in derselben Paradoxie, die Barth als das Grundproblem aller Theologie beschrieben hat: »Wir sollen Beides, daß wir von Gott reden sollen und nicht können, wissen
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und eben damit Gott die Ehre geben.«55 Die Ambivalenz, in welcher das Zeugnis der Gemeinde auch der Grundsituation aller Theologie entspricht, kann nicht in einem Schwebezustand der bleibenden Paradoxie verharren, will das Zeugnis der Kirche und ihre theologische Selbstkritik in irgendeiner Form wahrheitsrelevant und auskunftsfähig bleiben. Wie ist dies aber angesichts der »Torheiten und Irrtümer, deren sie sich dabei bestimmt immer wieder schuldig machen wird« überhaupt möglich (KD IV/3, 966)?
5.4.3 Die Unterscheidung von Kirche und Welt als theologische Pragmatik Die Lösung dieser fundamentaltheologischen und zugleich zeugnistheoretischen Frage ist mit Barths inhaltlichen Einsichten nur unbefriedigend zu beantworten. Im Gegenteil: Wie Barth bereits 1922 in Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie beschreibt, wird diese Frage selbst nicht nur zu einer erkenntnistheoretischen, sondern auch zu einer existentiellen Bestimmung der Theologie im Ganzen.56 Statt Barths inhaltlichen Einsichten zu folgen, ist vielmehr seine theologische Pragmatik beachtenswert, in welcher diese Fraglichkeit nicht nur in einer offenen Spannung verbleibt, sondern sie zu einem wirksamen Werkzeug theologischer Selbstkritik werden lässt. So lässt sich mit der Pragmatik einer bestimmten Denkform von Barth ausgehend über ihn hinausgehen. Meine These ist, dass dieses Werkzeug in der operativ-fiktionalen Unterscheidung von Kirche und Welt besteht, welche auf dieser dritten, ekklesiologischen Ebene stattfindet. Barths Ekklesiologie ist in KD IV/3 sprachlich über weite Strecken von einem Zwei-Räume-Denken geprägt: Wenngleich Kirche und Welt keine gegenseitigen Alternativen bilden und erst recht nicht dem Dualismus von Licht und Finsternis nachempfunden sind, so werden damit dennoch zu unterscheidende Größen bezeichnet, deren Bezug zueinander Barth nicht eindeutig klärt: Einerseits existiert die Kirche ihrem Wesen nach »weltlich« (KD IV/3, 828). Als solche ist sie »mitten im Weltgeschehen« zu lokalisieren (KD IV/3, 834). Zugleich jedoch ist sie »dem Weltgeschehen gegenübergestellt« (KD IV/3, 834). Darüber hinaus ist sie in dieser Gegenüberstellung »mit der Welt solidarisch« (KD IV/3, 884). Gerade aus dieser Solidarität und Verantwortlichkeit gegenüber 55 56
Barth, »Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922)«, 172. Vgl. Barth erhält sich diese dialektische Denkform auch in seiner Einführung in die evangelische Theologie. Dort behandelt er die besondere Bedrängnis des gesamten Unternehmens der Theologie als Einsamkeit, Zweifel und Bedrohung, wobei letztere explizit auf die Frage nach der bedrängenden, richtenden und läuternden Gegenwart Gottes gegen die theologische Arbeit eingeht. Barths cantus firmus-artige Anweisung dazu spiegelt die hier beschriebene Spannung: »Gerade sie [die Anfechtung] will offenbar ausgehalten und ertragen sein. Wo gerade sie nicht ausgehalten und ertragen wird, da kann die Theologie keine fröhliche Wissenschaft sein« (Barth, Einführung in die evangelische Theologie, 158).
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der Welt erwächst aber auch die Notwendigkeit zu einer »Distanz«, welche dem Zeugnis der Kirche ihre Freiheit gewähren soll (KD IV/3, 893).57 Die angedeutete Schwierigkeit einer Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt vermag für eine realistische Ekklesiologie, die auch für das kirchliche Handeln in der Welt Orientierung bieten soll, kaum zu überzeugen, denn aus der Pendebewegung zwischen Kirche und Welt (bzw. Öffentlichkeit) lässt sich weder eine empirisch informierte, noch eine theologisch gehaltvolle Kirchentheorie entwerfen, die für konkrete Fragen der Transformation der Kirchen in der Gegenwart hinreichend orientierend ist. Als realistische Beschreibung von zwei unabhängig zu fassenden Größen – und das heißt als eine Außenperspektive auf diese – überzeugen weder Barths noch viele andere Unterscheidungen von Kirche und Welt. Die hier verfolgte These lautet dagegen, dass die Unterscheidung von Kirche und Welt nicht in ihrer wirklichkeitsbeschreibenden Funktion zu verstehen ist, sondern dass ihre funktionale Bedeutung in der theologischen Pragmatik Barths zu suchen und würdigen ist.58 Denn der Welt-Begriff ist für eine Deutung von Barths Ekklesiologie nicht im eigentlichen Sinn realistisch zu verstehen, als dass er im Gegenüber zur Kirche eine von dieser klar zu unterscheidenden Wirklichkeit sprachlich abbilden würde – auch wenn dies die Sprachpragmatik Barths vielerorts suggeriert. Meine These ist hingegen, dass Barths Welt-Begriff ein operativ-fiktionales Gegenüber darstellt, welches zu einer Binnendifferenz in der Ekklesiologie führt: Die Unterscheidung von Kirche und Welt bezeichnet keine realistische innen/außen-Unterscheidung, sondern ist ein theologisches Sprachenkonstrukt, das die Selbstgefährdung des Zeugnisses der Kirche in die begriffliche Größe Welt auslagert.59 Da auch Barths funktionaler Kirchenbegriff keine institutionelle Absicherung zulässt, dient ihm der Welt-Begriff als ein kritisches Gegenüber, das sowohl die eschatologische Universalität von Gottes Heilswillen, als auch die sichtbare Ambivalenz der noch nicht erlösten Weltgeschichte zur Sprache bringt. In eben dieser Situation lautet aber der Inhalt des 57 58
59
Zur Zuordnung von Kirche und Welt und den daraus hervorbrechenden erkenntnistheoretischen aber auch hamartiologischen Problemen vgl. Siller, Kirche für die Welt, 292–302. Genau umgekehrt verfährt Hans-Martin Rieger, der darin das kritische Potential seiner Ekklesiologie erkennt: »Angesichts dessen, dass es weit verbreitet ist, Barth eine Wirklichkeitsferne oder eine ›Dysfunktionalität‹ im Blick auf die Erfassung der real-existierenden Kirche und ihrer Herausforderungen zu unterstellen, ist zu fragen, ob nicht gerade in der Nichtentsprechung zu dieser real-existierenden Kirche das kreativ-kritische Potential des Kirchenbegriffs – und zwar auch und gerade zu ihrer Selbststeuerung – zum Ausdruck kommt« (Rieger, »Schleiermacher und Barth über die Kirche und ihre Gestalt«, 210). Im Folgenden soll eben dieses Potential umgekehrt von Barths nicht-empirischem Welt-Begriff her verstanden werden. Das deutet auch Henning Theißen an, der von einer »Integrierung des Gegensatzes von Kirche und Welt in den Begriff der Kirche« spricht und diese Integration mithilfe der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche kritisch weiterführt (Theißen, Die berufene Zeugin des Kreuzes Christi, 444 und 454–463).
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christlichen Zeugnisses unzweideutig, »daß in Jesus Christus Gottes Gnade der Welt zugewandt wurde, ist und bleiben wird« (KD IV/3, 810). An keiner Stelle in Barths Ekklesiologie wird dieser Unterscheidung um ihrer selbst willen Relevanz eingeräumt. Vielmehr stellt sie eine begriffliche und also denkerische Voraussetzung dar, um dem sichtbaren Zeugnis der Kirche seine Verstrickung unter die Verwirrung menschlicher Existenzen vor Augen zu führen, ohne dabei den Grund ihres Zeugnisses selbst fraglich werden zu lassen. Barths Kirche-Welt-Unterscheidung ist damit der Versuch, die im vorigen Abschnitt beschriebene Paradoxie des Auftrags zum sichtbaren Zeugnis nicht in einer Apophatik enden zu lassen. Stattdessen fungiert diese relative Unterscheidung als sprachliches Instrument, um der Kirche die theologische Selbstkritik zu ermöglichen, die zur Grundlage ihres eigentlichen Dienstes werden kann: Nur die kirchliche Selbstkritik ist sinnvoll und fruchtbar, die sie in diesem Wagnis nicht etwa aufhält, sondern erst recht dazu anregt und neu in Schwung setzt. Und nur indem sie es wagt, kann sie auch der Vergebung ihrer Sünden gewiß sein. Sich selbst zugewendet, existiert die Welt, kann – in sichtbarem Unterschied zu ihr – gerade die Kirche nicht existieren (KD IV/3, 893).
Der Unterschied von Kirche und Welt ist damit in diesem Modell als ein rein noetischer Unterschied zu verstehen – jedoch nicht in dem Sinn, dass es sich bei der einen um eine Größe mit einer bereits gewonnenen Erkenntnis im Unterschied zu einer Größe, die diese Erkenntnis noch nicht hätte, handelt. Vielmehr ist es eine operativ-fiktionale Unterscheidung, die den Ermöglichungsgrund selbstkritischer Erkenntnis der Kirche bildet. »Man kann nicht Christ und Nicht-Christ sein. Eben das sind wir aber« (KD IV/3, 395). Die Unterscheidung von Kirche und Welt ist damit ein begriffliches Instrumentarium, diese Paradoxie auf operativer Ebene des theologischen Denkens begrifflich und konstruktivistisch zu ordnen – um sie dann realistisch zu überwinden. Der Dienst der Kirche an der Welt ist somit vor allem eine selbstkritische Auseinandersetzung der Kirche mit ihrem eigenen Zeugnis. Sie tritt nicht gegen eine ihr fremde, sondern gegen ihre eigene Lüge als kämpferisches Zeugnis an: »Es gibt keinen Menschen, an den sie sich in Ausführung ihres Auftrags nicht zu wenden hätte: so gewiß es eben keinen Menschen gibt, der nicht gerade in seiner besonderen, von allen Seiten determinierten Situation unmittelbar zu Gott und zu seinem Nächsten wäre« (KD IV/3, 921). Eine Innen/Außen-Trennung des Bereichs der Kirche bzw. der Welt kann daher eine momenthafte begriffliche Klarheit herstellen; sie entspricht aber weder den komplexen Erscheinungsformen des Zeugnisses Jesu Christi noch ist sie selbst ein Zeugnis der antizipierten Universalität des Heils. Mit dieser aktualistisch-begrifflichen Klärung ist aber zugleich eine Unschärfe in der theologischen Situation gegeben: Denn wer diese Unterscheidung vollzieht,
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verliert zugleich die Gewissheit darüber, auf welcher Seite der Unterscheidung er steht. Dies hebt Barth insbesondere mit Blick auf die Bewahrheitung des menschlichen Zeugnisses hervor, welche sich zwar nicht in der Ambivalenz der Welt auflöst, die sie aber ebenso wenig selbst garantieren kann; denn »der Christ wird sich selbst endlich auch in Zukunft konfrontiert sehen mit dem Geheimnis des noch nicht gefallenen Entscheides darüber, ob sein Zeugendienst endlich und zuletzt als recht getan Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens und also endgültig bejaht und angenommen ist« (KD IV/3, 1040).60 Um dieses Geheimnis in Erinnerung zu behalten und nicht zugleich vor diesem magnum mysterium zu verstummen, führt Barth die relative aber operativrelevante Unterscheidung von Kirche und Welt ein, die dem kirchlichen Zeugnis seine selbstkritische Richtung in der Auseinandersetzung gegen die eigene latente Lüge und die manifeste Verwirrung in Erinnerung ruft.
5.4.4 Zur Hermeneutik dieser dritten Unterscheidungsebene Im Rahmen dieses offenbarungstheologischen Modells koppelt Barth die operativfiktionale Differenz von Kirche und Welt an die Leitunterscheidung von Licht und Finsternis. Barth verbindet diese Fundamentalopposition mit der klassischen Unterscheidung von Kirche und Welt; sie findet jedoch auf einer anderen Unterscheidungsebene als jene statt und wird dadurch in ihrer Bedeutung relativiert. Denn in keinem Fall ist die Unterscheidung von Kirche und Welt der Unterscheidung von Licht und Finsternis gleichzusetzen. In diesem letzten Schritt sollen daher die beiden in diesem Zusammenhang relevanten Modellebenen sowie ihr Verhältnis zueinander erörtert werden. Damit kann schließlich gezeigt werden, inwiefern die architektonische Besonderheit dieses Drei-Ebenen-Modells für konstruktive Spannung innerhalb dieses Modells verantwortlich ist. Zum einen ist auf den heilsgeschichtlich-dramatischen Rahmen und die eschatologische Leitdifferenz von Licht und Finsternis hinzuweisen, welche den Prozess der Selbstkundgebung Gottes in der Geschichte grundsätzlich bestimmt und der an die Christologie des prophetischen Amtes anschließt. Diese Differenz fungiert für die Unterscheidung von Kirche und Welt als eine Art Metaunterscheidung, welche alle weiteren Differenzierungen einschließt, von diesen aber selbst zu unterscheiden ist. Damit trägt dieses Modell sowohl der universalen Bestimmung der Menschheit, aber auch ihrer universalen Selbstgefährdung durch ihre Sünde Rechnung. Beides charakterisiert die Situation aller Menschen: »Indem das Licht des Lebens in der Finsternis leuchtet, befindet sich die Welt, befinden sich alle Menschen in seiner Reichweite – indem es aber auch in der Finsternis leuchtet, 60
Zur ambivalenten Beurteilung des Wirklichkeitsbezugs und der Wahrheitsfähigkeit des christlichen Zeugnisses (resp. der christlichen Religion) vgl. Thomas, Medien, Ritual, Religion, 101–109.
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ist die Welt, sind alle Menschen auch in deren Bereich« (KD IV/3, 218). Unter der fundamentalen Leitdifferenz von Licht und Finsternis fasst Barth also alle Menschen zusammen: Dass es in diesem agonalen Aufeinandertreffen von Licht und Finsternis, von Wahrheit und Lüge relative Unterschiede gibt, lässt sich nicht unmittelbar mit dieser Fundamentalstruktur identifizieren. Erkenntnistheoretisch lässt sich hingegen festhalten: »Aus irgendwelchen Menschheitssiegen wird sich der Sieg Jesu Christi und also der ernstlich so zu nennende Sieg des Lichtes über die Finsternis nie – jedenfalls nie mit echter haltbarer Gewißheit – ablesen lassen« (KD IV/3, 304). Damit ist nicht nur allem konfessionellen, sondern auch moralischen, politischen und anderweitig begründeten geschichtlichen Triumphalismus eine Absage erteilt. Indem Barth die eschatologische Leitdifferenz von Licht und Finsternis als Rahmung der Menschheitsgeschichte und nicht als deren innere Differenz betrachtet, wird für die funktionale Unterscheidung von Kirche und Welt klar ersichtlich, dass sie nicht als eine statische Differenz zwischen verschiedenen Menschengruppen zu denken ist. Neben dieser eschatologischen Leitdifferenz ist in diesem Kapitel die begrifflichfunktionale Unterscheidung von Kirche und Welt als die dritte Differenzierungsebene herausgestellt worden. Die Kirche-Welt-Unterscheidung bildet in Barths theologischer Pragmatik ein begriffliches Mittel, welches die Beteiligung des menschlichen Zeugnisses an der eschatologischen Überwindung der Finsternis in Gestalt der menschlichen Lüge verdeutlicht. Denn die Existenz des Menschen als Christenmenschen ist – wie in Barths Verständnis der Berufung bereits dargelegt – in der Erkenntnis des Menschen durch dessen Erleuchtung begründet. Zugleich ist aber die Differenz von Christen und Nicht-Christen bzw. die Unterscheidung von Kirche und Welt nicht als eine empirisch-soziologische, sondern als eine operativ-fiktionale Differenz zu fassen, wobei Barth diesen Unterschied (ganz im Gegensatz zu seiner eschatologischen Leitdifferenz von Licht und Finsternis) grundlegend relativiert. Denn selbst diese geistliche Erkenntnis der Christen ist von einer grundlegenden Latenz geprägt, sofern sie eine »schlummernde, ja noch ungeborene, zurückgehaltene, scheinbar nur eben virtuelle Erkenntnis« ist (KD IV/3, 219). Barth spricht daher davon, dass es zwischen Kirche und Welt »zwar eine bestimmte, aber nun doch keine absolut bestimmte, sondern – bedrohlich für die Christen und verheißungsvoll für die Nicht-Christen – nur eine fließende, veränderliche Grenze gibt« (KD IV/3, 219), deren Dynamik also gerade für jede kirchliche Identität selbst nur eine Verunsicherung bedeuten kann. Die Unterscheidung von Kirche und Welt ist also pneumatologisch begründet und wird zugleich als eine provisorische Differenz eingeordnet: »Von einer starren Trennung der Christen von den Nichtchristen kann unter diesen Umständen bei allem Ernst ihrer Verschiedenheit keine Rede sein« (KD IV/3, 568). Wenngleich mit der Berufung der Christen und der Sendung der Gemeinde die Beteiligung des Menschen an der Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen
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angezeigt ist, so ist damit nicht gesagt, dass die Berufung und die Sendung selbst mit dem eschatologischen Prozess der Selbstkundgabe identisch wären. Die Rekonstruktion dieses Modells hat aus eben diesem Grund auf drei verschiedenen Unterscheidungsebenen stattgefunden, die den drei trinitarischen Personen appropriiert sind: Die christologische Fundamentalunterscheidung von Licht und Finsternis findet auf einer anderen Ebene statt als die Relationierung des Lichts Jesu Christi und der geschöpflichen Lichter in ihrer relativen Wahrheit. Und wieder eine andere Wahrheitsfähigkeit wurde mit der Berufung zum Zeugnis durch den Geist und die Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi in der Existenz seiner Gemeinde zum Ausdruck gebracht. Das Zeugnis der Gemeinde ist damit aber nicht nur von dem der geschaffenen Lichter, sondern auch vom Zeugnis Jesu Christi selbst zu unterscheiden: »Sie lebt als wahre Prophetie davon, daß sie von der seinigen unterschieden bleibt« (KD IV/3, 958).61 Denn im Gegensatz zur Prophetie Jesu Christi, deren Inhalt die geschichtliche Bewahrheitung des in ihm realisierten Heils besteht, ist das Zeugnis der Gemeinde nicht selbstreferenziell. Sie bezeugt nicht sich selbst, sondern verweist in allen christlichen Lebensäußerungen auf Christus als den wahrhaftigen Zeugen. Trotz des Involviertseins der Kirche in die Unterscheidung von Licht und Finsternis und trotz ihrer Unterscheidung von der Welt ist sie selbst nicht das Licht Jesu Christi. Ihr Involviertsein in die eschatologische Unterscheidung von Licht und Finsternis ist daher nur vermittelt.62 Als sichtbare Kirche ist es ihr aufgegeben, in vorläufiger Gestalt die in Christus versöhnte Menschheit darzustellen; sie stellt damit nicht Christus selbst dar, referenziert in ihrem Zeugnis jedoch auf diesen. Barth stellt entsprechend 61
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So auch Theißen, der darauf hinweist, »dass christologisches und ekklesiologisches Zeugnis zwar sorgfältig zu unterscheiden, aber nicht als zwei getrennte Instanzen aufzufassen sind« (Theißen, Die berufene Zeugin des Kreuzes Christi, 431). Immer wieder betont Barth, dass dem Zeugnis der Gemeinde das Zeugnis Jesu Christi gegenübergestellt ist. Dies hat für ihn pneumatologische Gründe, sofern dem Geist der Gemeinde der Geist Gottes als kritisches Gegenüber zu gelten hat. James Buckley hat jedoch zurecht darauf hingewiesen, dass Barth dieses kritische Potential häufig nicht ausschöpft: »[W]hen we place what Barth’s meditatio on the Spirit ›states‹ about consolidation and criticism against the background of his ecclesiology, we do not find that Barth has ›shown‹ much about the issue of how the Spirit is consoler and critic of the Church. Here what Barth ›states‹ about the work of the Spirit on the Church is more catholically evangelical or evangelically catholic than what he ›shows‹« (Buckley, »A Field of Living Fire«, 97). Barth nimmt damit in diesem Band der Versöhnungslehre einen weiteren Strang seiner Prolegomena auf, wo er von der dreifachen Gestalt des Wortes spricht und darunter das offenbarte, das geschriebene und das verkündigte Wort fasst. Die Unterscheidung des Lichts Jesu Christi und dessen Reflexion durch den Zeugendienst der Kirche repräsentiert dabei die erste und die dritte Gestalt dieses Wortes. Analog zur Wort-Gottes-Theologie in den Prolegomena spricht Barth auch hier davon, dass es »neben dem einen, ersten, primären, in Jesus Christus gesprochenen Worte Gottes und im Verhältnis zu ihm mindestens zwei andere wahre Worte, von ihm und unter sich verschieden, aber in der angegebenen Folge mit ihm unter sich zusammenhängend« gibt (KD IV/3, 127). Zur Kontinuität dieser Denkform in der KD vgl. Theißen, Die berufene Zeugin des Kreuzes Christi, 412–416.
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heraus, dass Christen durch ihre Berufung »keine Christusse« werden (KD IV/3, 695); vielmehr ist ihr Zeugnis der noch unerlösten Welt gegenüber ein zutiefst menschlicher Dienst: »Indem Gott in seiner göttlichen, und in Jesus Christus in seiner göttlich-menschlichen Weise für sie [die Welt] da ist, ist es in der ihr eigenen rein menschlichen Weise auch die christliche Gemeinde« (KD IV/3, 899). Die für diesen Problemkreis abschließende Differenzierung betrifft also den Unterschied zwischen Jesus Christus und seiner Gemeinde. Er lässt sich auf den unterschiedlichen Charakter der Referenzialitäten des Zeugnisses des wahrhaften Zeugen und des Zeugnisdienstes der Gemeinde zurückführen. Während erster in seiner Selbsterschließung als Immanuel die Menschheit als in ihm zur Gemeinschaft mit Gott erwählten und berufenen Menschheit inkludiert, besteht der Zeugendienst der Kirche in ihrer Christus-Referenzialität.63 Einen eigentlichen »Selbstzweck« gesteht Barth der Kirche jedoch nicht zu (vgl. KD IV/3, 874). Die Skizzierung der drei Unterscheidungsebenen haben gezeigt, dass Barth den Begriff der Selbsterschließung Jesu Christi und die Kommunikation des Heils in seiner Offenbarung innerhalb eines spannungsgeladenen Geflechts verortet, das christologische, schöpfungstheologische und pneumatologische Strukturen aufweist. Insbesondere im letzten Abschnitt ist dabei die dezidiert menschliche Beteiligung an der Auseinandersetzung des wahrhaftigen Zeugen gegen die menschliche Lüge zur Darstellung gekommen, ohne der pneumatologischen Begründung der christlichen Existenz und der Kirche Anlass zu einem ekklesialen Optimismus zu liefern. Die kategoriale Verschiedenheit dieser Ebenen ist gerade darum zu beachten, weil die nicht nur sichtbare, sondern auch institutionelle und also auch weltliche Kirche in der unabwendbaren Gefahr steht, selbst das Zeugnis Jesu Christi zu verdunkeln. Denn das nominale Bekenntnis der Christen zu Jesus Christus und der Selbstausweis der Kirche als Gemeinde Jesu Christi ist für Barth zwar eine notwendige Bedingung kirchlicher Existenz; als hinreichendes Kriterium für ihre Partizipation an der geschichtlichen Bewahrheitung ihres eigenen Zeugnisses wird sie jedoch keinesfalls dienen können. Damit sind die verschiedenen Relationierungsebenen beschrieben, mithilfe derer sich Barths Modell der Erlösung als Offenbarung verstehen lässt. Der abschließende Abschnitt kann nun darauf aufbauend – mit und über Barth
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Annelore Siller ist zwar zuzustimmen, dass es sich bei Barths Kirchenbegriff im Rahmen seiner Zeugnistheorie vor allem um einen »funktionalen Kirchenbegriff« handelt (vgl. Siller, Kirche für die Welt, 105). Jedoch ist gegenüber ihrer Interpretation, welche die Unterscheidung von Kirche und Welt zur Leitdifferenz ihrer Studie »Kirche für die Welt« macht, die für Barth noch wichtigere Unterscheidung von Christus und seiner Gemeinde – und damit auch die ihr inneliegende Referenzialität – zu veranschlagen. Zweifelsohne ist die Kirche dann auch als Sendungskirche in ihrem Dienst gegenüber der Welt zu verstehen. Jedoch ist ganz im Sinne der hier beschriebenen mehrfachen Differenzierungen Barths zwischen dem Adressaten und der Begründung des Zeugendienstes der Gemeinde zu unterscheiden.
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hinausgehend – die Eckpunkte einer materialen Eschatologie der Offenbarung in Anschluss an das prophetische Amt skizzieren.
5.5 Geschichtlich-revelatorische Eschatologie Die vorangehenden Abschnitte haben eine differenztheoretische Struktur dieses soteriologisch-eschatologischen Modells auf drei Ebenen rekonstruiert. Darin sind die verschiedenen Denkformen herausgearbeitet worden, welche die Umrisse einer geschichtlich-revelatorischen Eschatologie markieren. Ausgehend von der anhand des prophetischen Amtes herausgearbeiteten Auseinandersetzung des wahrhaftigen Zeugen gegen das Böse in Gestalt der Lüge sollen die geschichtstheologischen Konsequenzen dieser Denkform nun skizziert werden. Die folgende an Barths späte Offenbarungstheologie anschließende Geschichtstheologie wird mit Überlegungen zum eschatologischen Symbol der Wiederkunft Jesu Christi abgeschlossen, das im Spannungsfeld quantitativer und qualitativer Veränderung im transformativen Handeln Gottes zu beschreiben ist.
5.5.1 Die dynamische Teleologie der Geschichte Dass Barth der Geschichtlichkeit des Zeugnisses Jesu Christi im Gegenüber zur Ungeschichtlichkeit der sich als Wahrheit maskierenden Lüge entscheidende Bedeutung beimisst, ist in wahrheitstheoretischer Hinsicht herausgearbeitet worden. Die Konsequenzen dieser Gegenüberstellung sind nun auch im Besonderen auf die damit implizierte Geschichtstheologie herauszustellen. Denn es ist danach zu fragen, was unter der eschatologischen Bewahrheitung des Zeugnisses Jesu Christi zu verstehen ist. Barths Konzeption der dreifachen Parusie spannt einen geschichtstheologischen Bogen, der in der Auferstehung Jesu Christi begründet ist, welche die Geschichte des Zeugnisses Jesu Christi eröffnet, die in der Endoffenbarung ihren Abschluss und ihre Vollendung findet. Der Zusammenhang der zweiten und dritten Gestalt der Parusie erschließt für Barth zum Einen eine teleologischheilsgeschichtliche Bestimmung der Geschichte. Ihre Unterscheidung impliziert zum Anderen aber auch eine für die Geschichte dieses Zeugnisses konstitutive Offenheit. Diese Dialektik aus heilsgeschichtlicher Teleologie und dynamischer Offenheit prägt die implizite Geschichtstheologie dieses Modells. Denn die in diesem Kapitel rekonstruierte Charakterisierung der Erlösung als Offenbarung vereint eine prozessuale Geschichtstheologie, in der sich Gott einer für ihn riskanten Offenheit in der Bewahrheitung seines Zeugnisses aussetzt, mit einer Konzeption von der Geschichte als einer zielgerichteten Heilsgeschichte: »Indem alles Geschehen in diesem Raum, indem jeder in ihm existierende Mensch von jenem Anheben herkommt, geht Alles und geht ein Jeder diesem Abschluß
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entgegen« (KD IV/3, 452). Diese eschatologische Richtung der Geschichte ist jedoch nicht in dem Sinn monistisch zu verstehen, dass sie als zeitliche Entfaltung eines praedisponierten Plans und damit vollständig determiniert zu denken wäre. Vielmehr betont Barth, dass das Verhältnis der Erlösung als Offenbarung zur Geschichte »dynamisch-teleologisch« zu denken sei (KD IV/3, 192).64 Die Gratwanderung Barths ist bereits im ersten in dieser Studie entfalteten Modell ebenfalls unter einem eschatologischen Symbol der Vollendung beschrieben worden. Die geschichtstheologischen Äußerungen Barths sind in diesem Modell jedoch wesentlich deutlicher christologisch geprägt. So geht Barths Rede von der Wiederkunft Christi nicht von einer universalen Allgegenwart Gottes aus, sondern zeigt sich besonders für die Frage nach einer spezifischen Gegenwart Jesu Christi sensibel, welche der Geschichte ihre Zukunft als reale »Heilszukunft« erschließt (KD IV/3, 363). Mit Blick auf den oben bereits skizzierten soteriologischen Zeitbegriff gilt Barths besonderes Interesse der geschichtlichen Bewegung nach vorne: »Ihre Versöhnung schließt ein Vorwärts! in sich. Indem Gott sie mit sich selber versöhnt hat, hat er ihr eine dem entsprechende Zukunft geschenkt« (KD IV/3, 363). Die transformative Dynamik dieses Modells entspricht eben dieser Bewegung: Die Erlösung als geschichtlich-revelatorisches Geschehen offenbart nicht die Vergangenheit und deren Bedeutung für die Gegenwart, sondern fokussiert das in der Geschichte anbrechende Kommen des Erlösers und die »Gegenwart der Zukunft« (KD IV/3, 364). Hinsichtlich des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung hat dieser grundlegend futurische Grundzug dieses Modells auch keine eschatologische Überwindung der Schöpfung oder gar Auslöschung ihrer Vergangenheit im Sinn: Nichts, gar nichts von seiner Schöpfung soll und wird in diesem Übergang vom alten zum neuen Äon zerstört, kaputtgemacht, vernichtet – es soll und wird aber – und eben darin triumphiert seine Treue! – was ihre Gestalt betrifft, nicht nur Einiges, sondern Alles, und Alles nicht nur ein wenig, sondern ganz anders, es soll und wird ihre Gestalt radikal und universal verwandelt werden (KD IV/3, 277).
Barths eschatologische Offenbarungstheologie ist also von der transformativen Bedeutung der Zukunft des Auferstandenen für die je und je neu von dorther geprägte Gegenwart zu verstehen. Für Barth schließt diese Vergegenwärtigung 64
Auch wenn Barth in diesem Zusammenhang nicht explizit auf die Parallelen zur Providenzlehre hinweist, erinnert diese dynamisch-teleologische Klassifizierung an die Unterscheidung einer providentia generalis und einer providentia specialis bzw. specialissima. Der teleologische Charakter der Geschichtstheologie dieses Modells betrifft vornehmlich die Dimension der erstgenannten. Die im Folgenden noch weiter zu entfaltende Offenheit bzw. die Dynamik der Geschichte zielt in diesem Modell auf die Aspekte, welche üblicherweise im Rahmen der providentia specialis bzw. providentia specialissima zu thematisieren sind. Anhand dieser spannungsreichen Differenzierung zeigt sich Barths Ringen um eine angemessene geschichtstheologische Begrifflichkeit, die dem responsiven und transformativen Charakter der Offenbarung Gottes Rechnung trägt.
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der Zukunft an die geschichtliche Richtung des Zeugnisses der Prophetie Jesu Christi an, wenn er betont: »Es geht also in allen Gestalten des Anhebens der Geschichte des in der Finsternis leuchtenden Lichtes primär um dieses nicht abgeschlossene, sondern offene, weil sich selbst immer wieder aufschließende Faktum« (KD IV/3, 257). Dies weist aber zugleich auf eine geschichtliche Offenheit hin, die in der Bestimmung der Geschichte der Schöpfung und in der Kopräsenz des Schöpfers, Versöhners und Erlösers mit seiner Schöpfung gründet: Die in der mit der Auferstehung initiierte Zeugnisgeschichte ist dazu da, »um also zwischen ihm und uns Kommunikation zu begründen, eine Geschichte wechselseitigen Gebens und Nehmens zu eröffnen« (KD IV/3, 486). An dieser Kommunikationsgeschichte sind die geschöpflichen Lichter im Allgemeinen und die durch den Geist in die Welt gesendete Gemeinde im Speziellen beteiligt. Barth schließt darüber hinaus an eine Grundentscheidung seiner Erwählungslehre an, wonach Gott in Jesus Christus über sich selbst bestimmt hat, zum Heil des Menschen das Risiko der Verwerfung auf sich zu nehmen. Dass Barth das prophetische Amt und damit die Auseinandersetzung Gottes mit der Lüge als eine Geschichte der Bewahrheitung des Zeugnisses Jesu Christi auffasst, bedeutet für die diesem Modell inhärente Geschichtstheologie, dass die Geschichte für Gott selbst zu einem offenen Abenteuer wird, das er gewillt ist, auch unter Einbezug der Anfechtung der Lüge einzugehen: »Er fürchtet keine denkbare Gefahr für dieses Abenteuer« (KD IV/3 438). Dies gilt für das Leben Jesu, das sich der Gefahr des Kreuzes aussetzt, viel mehr aber auch der Gefahr, das Zeugnis seines Sieges über den Tod und die Verheißung der Geschichte als Heilsgeschichte der verhängnisvollen Verkennung auszusetzen. Diese Gefahr der Anfechtung prägt in gleichem Maße das sichtbare Zeugnis der Kirche. In eben dieser Hinsicht ist die Geschichte offene Kampfgeschichte; sie ist – das ist im Zusammenhang mit der Kreuzesgestalt dieses ganzen Geschehens herauszustellen – selbst noch keine Heilsgeschichte und darum als solche auch noch nicht erkennbar. Mit Barth selbst lässt sich diese Offenheit sicherlich nicht soweit fassen, dass damit womöglich ein anderer Ausgang als der definitive Sieg Jesu Christi denkbar wäre. Unter dem Aspekt der Geschichte als Kampfgeschichte attestiert er dieser ja explizit »ein bestimmtes Telos und Gefälle« (KD IV/3, 225). Das geschichtliche Ereignis des Ostermorgens bestimmt also auch alle eschatologische Gegenwart und Zukunft. Die Offenheit der Geschichte als Kampfgeschichte besteht daher in der Abwehr der Vorstellung, als ob die Prophetie Jesu Christi und die auf sie verweisende Verkündigung seiner Gemeinde eine Wahrheit zur Darstellung brächte, die bereits geschichtstranszendent feststünde. Die Wahrheit der Versöhnung ist weder in ihrem noetischen noch in ihrem ontischen Charakter eine ungeschichtliche Wahrheit.
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In der Zeugnisgeschichte als Kampfgeschichte identifiziert Barth gleichzeitig ein eindeutig progressives Gefälle zugunsten der geschichtlichen Durchsetzung der Erkennbarkeit Gottes: Das Telos dieser Kampfgeschichte wird der eindeutige und völlige Sieg des Wortes Gottes und die eindeutige und völlige Ausschaltung der ihm widerfahrenden Verkennung und Verleugnung [sein] – und auf den Verlauf des Streites gesehen: das schrittweise, aber unaufhaltsame Überhandnehmen und Erkennbarwerden der Überlegenheit des einen, der Unterlegenheit des anderen Streiters (KD IV/3, 225).
Die dieser These zugrundeliegende Geschichtstheologie ist daher mehrdimensional: Unter wahrheitstheoretischer Perspektive wurde bereits deutlich, dass es sich hierbei nicht um die Durchsetzung einer ungeschichtlichen Wahrheit im Sinne einer Weltanschauung, Religion, Moralität oder eines Gottes- und Menschenbildes handeln kann. Die Geschichte ist nicht die Rezeptionsfläche einer ihr enthobenen, transzendenten Wahrheit. Und so ist auch die Zeugnisgeschichte nicht von dem von ihr Bezeugten unabhängig zu denken. Dies entspräche auch nicht der Vorstellung des theatrum Gloriae Dei, als welche Barth die Geschichte der Schöpfung in Anschluss an Calvin immer wieder bezeichnet. Allein, diese Geschichte ist nicht der Zuschauerraum einer göttlichen Komödie, sondern sie ist der Schauplatz, der mitsamt all seiner Akteure in das Drama des Bundes verstrickt ist. Die Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung sieht jedoch ihrer geschichtlichen Bewahrheitung als Heilsgeschichte noch entgegen. Die Offenheit der Geschichte besteht nach dieser Logik nicht in einer abstrakten Unbestimmtheit ihres Ausgangs, sondern vielmehr in der Ungeklärtheit dessen, wie Gott diese Geschichte und ihre Geschichten zu Heilsgeschichten wendet und also darin das Zeugnis seines Sieges nicht abstrakt, sondern in der Erlösung von ihrem Bösen bewahrheitet. Die Wahrheit Jesu Christi ist in der Bewegung Gottes in der Welt daher im Werden begriffen.65 Der unter wahrheitstheoretischen Gesichtspunkten nur zur Lüge verdammte Versuch, Wahrheit als ein von einem prinzipiellen Punkt aus sich entfaltendes System zu fixieren, entspricht der Unmöglichkeit, die Geschichte als lineare Heilsgeschichte zu erkennen. Das Überhandnehmen des Wortes Gottes muss daher vielmehr als ein Prozess verstanden werden, der selbst der mehrdimensionalen und mindestens zweideutigen Wirklichkeit der Geschichte entspricht. Die 65
Robert Peeters hat dies als den »Werdeprozess von Wahrheit« beschrieben: »In diesem Sinne müssen wir es verstehen, dass die wahre Wirklichkeit der Versöhnung nach ihrer werdenden Wahrheit strebt« (Peeters, »Das Drama der Vollendung«, 265). Die Frage der Selbsterschließung Gottes in der Geschichte drängt daher auf die Frage nach der Korrespondenz der Geschichte mit der in Christus realisierten Heilsgeschichte: Die Vollendung der Auferstehung Jesu Christi ist das Bedeutsamwerden der Auferstehung dieses Einen in der universalen Auferstehung der Toten.
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Zukunft dieser Geschichte besteht also für Barth nicht darin, dass sie als (womöglich kontraevidente) Heilsgeschichte offenbar wird, sondern dass sie von Gott zur Heilsgeschichte verwandelt wird und sie als solche in öffentlicher Klarheit bewahrheitet. Eine materiale Eschatologie der Offenbarung, die an dieses Modell anschließt, kann es daher nicht dabei bewenden lassen, dass Gott seine immer schon im Verborgenen siegreiche Präsenz des Lebens über den Tod nachträglich erschließen würde. Sie muss vielmehr angesichts der realen und wirksamen Anfechtung durch die Wirklichkeit des Bösen auf die Zukünftigkeit der Bewahrheitung des Sieges Jesu Christi über den Tod bestehen. Die noetische Dimension der Erlösung als Offenbarung impliziert daher auch in einem sehr realistischen Sinn die Notwendigkeit einer ontischen Transformation dieser Geschichte hin zur Heilsgeschichte. Eine solche Eschatologie kann daher selbst – ganz im Sinne der vorwärts gewandten Richtung des Zeugnisses – nur auf die Zukünftigkeit dieses Geschehens hinweisen: Noch hat eben die Zukunft – der Welt und unser aller Heilszukunft – damit, daß sie in Jesu Christi Auferstehung schon Gegenwart wurde, indem sie uns dort in ihrer ganzen Fülle gegenwärtig ist, nicht aufgehört, uns anderswo, außerhalb jenes Ereignisses, d.h. aber im Bereich unseres und des ganzen übrigen Weltdaseins, auch erst Zukunft zu sein (KD IV/3, 367).
Die transformativen Momente dieses erlösungstheologischen Modells sind daher ebenfalls von einem Blick nach vorne geprägt. In seiner Auslegung der HiobGeschichte macht dies Barth besonders dort plastisch, wo sich die Antwort Gottes nicht im eigentlichen Sinn als kompensierende oder gar als sich gegenüber der vergangenen Leidensgeschichte Hiobs rückwirkend rechtfertigt, sondern wo er den für Hiob erlösenden Ausgang als eine Bestätigung und eine neuerliche Aufforderung von seiner Freiheit Gebrauch zu machen versteht.
5.5.2 Versöhnung und Erlösung – ein quantitativer oder qualitativer Unterschied? Während Barth noch bis zum zweiten Band seiner Versöhnungslehre das Verhältnis von Geschichte und der Selbsterschließung Gottes in seiner Offenbarung mit dem Symbol einer »Endoffenbarung« beschreibt,66 suggeriert die Struktur des in diesem Kapitel rekonstruierten Modells den Verzicht auf solche disruptivapokalyptische Denkformen. Tatsächlich verwendet Barth diesen Terminus in KD IV/3 an keiner Stelle. 66
Vgl. KD III/3, 205; KD IV/1, 390.795; KD IV/2, 272. Lediglich in den Fragmenten von KD IV/4 taucht dieser Terminus in einem Exkurs zur biblischen Tauftheologie noch einmal im Zusammenhang mit anderen eschatologischen Symbolen (Auferstehung der Toten, Gericht und ewiges Leben) auf.
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Dass das eschatologische Symbol der Endoffenbarung in diesem Modell keine Rolle mehr spielt, ist darauf zurückzuführen, dass Barth die dreifache Wiederkunft Jesu Christi zum geschichtlichen Rahmen der Offenbarung macht und die Erschließung Gottes schöpferischen, versöhnenden und erlösenden Werks als Offenbarungsgeschichte beschreibt. Diese Geschichte entfaltet Barth in seiner Christologie als das dreifach gleiche Geschehen der Wiederkunft Christi, die in ihrer dritten Gestalt ihren Abschluss findet. Sie ist jedoch kein disruptives transgeschichtliches Ereignis, sondern steht als »Vollendung« der Geschichte des Zeugnisses Jesu Christi in einer grundsätzlichen Kontinuität zu diesem.67 Auf die Logik, dass die Noetik der Versöhnung selbst deren Ontik ist bzw. dass diese Erschließung selbst ein eschatologisch-transformatives Geschehen ist, ist hinlänglich verwiesen worden. Barth bezeichnet die Kontinuität zwischen den drei Gestalten der Wiederkunft Jesu Christi als einen »Übergang« von der Nicht-Erkenntnis zur Erkenntnis: »Es ist nicht die Nicht-Erkenntnis, sondern die Erkenntnis, die in dieser Auseinandersetzung im Überhandnehmen begriffen ist und der die Zukunft gehört« (KD IV/3, 226): Das Osterereignis, die Zeit des geschichtlichen Zeugnisses seiner Gemeinde und die Vollendung der Versöhnung als Erlösung unterscheiden sich also anscheinend weder in ihrem Inhalt noch in ihrer Qualität: »Gerade ›eschatologisch‹ ist also das Parusiegeschehen in seinem ganzen Verlauf« (KD IV/3, 341). Diese Sprachform Barths suggeriert daher den Eindruck, dass die dogmatische Unterscheidung von Versöhnung und Erlösung ein gradueller Übergang ist, welcher christologisch in die Rede von der dreifachen Parusie integriert ist. Dass die eschatologische Behandlung der Offenbarungsfrage in diesem Modell jedoch nicht nur als eine quantitative Steigerung der relativen Bekanntheit Gottes, sondern auch als eine qualitative Überwindung einer der Gotteserkenntnis entgegenwirkenden Wirklichkeit des Bösen zu denken ist, wurde im ersten Abschnitt dieses Kapitels gezeigt. Darüber hinaus ist der eschatologische Vorbehalt, mithin die qualitative Differenz von Versöhnung und Erlösung auf allen drei Ebenen dieses Modells nachvollziehbar: 1. Auf der christologischen Achse wurde dieser im Kontext der Auseinandersetzung des wahrhaftigen Zeugen gegen die Sünde in Gestalt der Lüge beschrieben. Damit ist gezeigt worden, dass der für Barth epistemologisch in der Osterbotschaft begründete Sieg Jesu Christi in der Geschichte sei67
So auch Juliane Schüz, die die Genese des Glaubens als zur Vorsöhnung zugehöriges Geschehen als »Anfang« eines kontinuierlichen Prozesses beschreibt: »Gerade Barths Bestimmung des Glaubens als ›Anfang‹ sichert, dass das gegenwärtige Werden nicht kategorisch von seiner eschatologischen Gestalt unterschieden ist. Der Anfang zielt auf seine Vollendung und muss ihr gerade als deren Anfang qualitativ entsprechen« (Schüz, Glaube in Karl Barths »Kirchlicher Dogmatik«, 293).
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nes Zeugnisses ein noch unabgeschlossener Kampf in der Anfechtung ist. Barth bemerkt dazu selbst, dass damit noch nicht alles gesagt ist: »Daß er selbst in Angriff und Verteidigung streitet, heißt nicht, daß sein Werk sich in diesem Streit erschöpft, daß es immer und immer in diesem Streit bestehen wird« (KD IV/3, 224). Christologisch lässt sich der eschatologische Vorbehalt also auf den Unterschied des Christus militans und des Christus victor zuspitzen. Der Unterschied zwischen Kampf und Sieg ist jedoch kein gradueller, sondern ein qualitativer Unterschied, der bereits in der nur theoretischen Existenz einer widerstreitenden Dynamik liegt. 2. Anhand der Lichterlehre wurde gezeigt, dass die geschöpflichen Lichter ihren Anteil an der Bewahrung der Schöpfung vor dem Einbruch des Chaos haben. Sie haben allerdings als »vorläufige Annahmen« (KD IV/3, 186) nur eine relative Geltungskraft inne, die von der Wahrheit Jesu Christi als einem faktischen, absoluten Kriterium noch zu problematisieren und in diese zu integrieren ist. Diese Kritik und Integrierung deutet aber auf die Notwendigkeit eines gerichtlichen Geschehens hin, welches zu einer Klärung dieser Wahrheitsansprüche führt, das deren Geltung transparent macht;68 einem eschatologischen Symbol, das im eigentlichen Sinn nicht zu diesem erlösungstheologischen Modell gehört, welches aber an die darin zutage tretende Problematik anschließt. Dieses verheißt auch eine endgültige Entscheidung darüber, welche geschöpflichen Lichter sich tatsächlich als solche bewährt haben, oder welche (um innerhalb dieser optischen Metaphorik zu bleiben) als Blendungen demaskiert werden. 3. Anhand von Barths Soteriologie der Berufung wurde gezeigt, dass die in der Gemeinde versammelten Christen zur sichtbaren Darstellung der Versöhnung am Kommunikationsprozess Gottes aktiv beteiligt werden. Barth begründet diese Indienstnahme pneumatologisch und unterscheidet sie daher von der sekundären Beteiligung der geschöpflichen Lichter. In dem nicht nur – aber auch – nominalen Bekenntnis zu Jesus Christus und der in den Grundformen des kirchlichen Zeugnisses zum Ausdruck gebrachten Hoffnung gründet Barths Hermeneutik des positiven Verdachts. Ich habe daraufhin gezeigt, dass die Unterscheidung von Kirche und Welt nicht dazu dient, die religionsgeschichtlich evidente Partikularität des christlichen Zeugnisses nachträglich theologisch zu begründen. Vielmehr fungiert sie als heuristisches Mittel, um die bleibende Ambivalenz des christlichen Zeugnisses als nicht nur von außen, sondern vor allem von innen gefährdetes Zeugnis zu problematisieren. Die Paradoxie, die aus der notwendigen Vereindeutigung des christlichen Bekenntnisses 68
Entsprechend weist auch Etzelmüller in seiner juridischen Interpretation von KD IV/3 darauf hin, dass die Universalität Jesu Christi auch als ein Gericht vor »universaler Öffentlichkeit« zu denken ist (vgl. Etzelmüller, »... zu richten die Lebendigen und die Toten«, 240).
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und der bleibenden Gefahr ihres religiösen, politischen, moralischen und kulturellen Missbrauchs hervorgeht, markiert damit die Spannung aus dem eschatologischen Zeugnis der Kirche und der bleibenden Latenz der Lüge. Auch auf dieser dritten Zeugnisebene ist der eschatologische Vorbehalt also auch als ein qualitativer Unterschied zwischen Versöhnung und Erlösung zu bestimmen. Trotz der in diesem Modell augenscheinlichen Dominanz geschichtlich-prozessualer Strukturen stellen sich auf allen drei Ebenen auch Fragen nach einer qualitativen Transformation, die allein mit einer gesteigerten Intensität der Gottesgegenwart, ihrer Evidenz und der damit verbundenen quantitativen Bedeutung des Christuszeugnisses in der Geschichte nicht adäquat zu adressieren sind.69 Das macht – stärker als in den anderen beiden Modellen, die anhand von Barths Versöhnungslehre rekonstruiert wurden – eine begriffliche Unterscheidung von Versöhnung und Erlösung notwendig. Auch wenn theologisches Denken diese Unterscheidung nur von der schon geschehenen und also von der noch ausstehenden (Vollendung der) Erlösung betrachten kann, sind Barths wenige Überlegungen zur dritten Gestalt der Parusie Jesu Christi aufschlussreich. Barth ist sich dieser fundamentaltheologischen Schwierigkeit, über die Wirklichkeit der Erlösung zu sprechen, durchaus bewusst. Entsprechend vorsichtig 69
Robert Jan Peeters hat in seiner kurzen Studie zur Eschatologie des prophetischen Amtes von der »Perichorese« der drei Gestalten der Wiederkunft Jesu Christi gesprochen. Die lässt ihn zu dem Schluss kommen, dass die Annahme einer »materiellen Differenz zwischen erster und letzter Parusie [...] in grobem Widerspruch sowohl zu der perichoretisch strukturierten Parusie als auch zu Barths Ausgangspunkt par excellence [steht]: der vollkommenen Versöhnung zwischen Gott und Welt durch Jesus Christus auf Golgatha« (Peeters, »Das Drama der Vollendung«, 276). Dagegen sind gleich vier Einwände zu erheben: 1. Mit seiner Betonung der Perichorese unterläuft Peeters Barths perspektivische Unterscheidung von Sieges- und Kampfgeschichte (274). Dazu passt 2., dass er die Partikularität der christlichen Erkenntnis lediglich von ihrer geschichtlichen Offenheit her bestimmt. Die hamartiologische Komponente, dass sich dem wahrhaftigen Zeugen die menschliche Lüge entgegenstellt, findet bezeichnenderweise keine Beachtung. 3. Damit wird auch nicht geklärt, inwiefern die Erlösungstheologie, die an das prophetische Amt anschließt, über Barths frühe Offenbarungstheologie der Prolegomena hinausgeht, denn was die »Dramatik« der Vollendung als solche ausmacht, wird weder von der latenten noch der manifesten Wirklichkeit des Bösen her konturiert. Bezeichnenderweise ist auch die von Peeters beschriebene »›Neuheit‹ der nachösterlichen Heilsgeschichte« als »Offenbarung dessen, was bereits absolut universal wirklich« ist, auffällig unspektakulär. Die Theodizeeproblematik bleibt konsequenterweise unter dem Radar. 4. Peeters entfaltet diese Eschatologie daher auch nicht als eine Erlösung von dem Bösen, sondern als eine Universalisierung des Gekreuzigten. Barths kreuzestheologisches Interesse gilt in diesem Band jedoch nicht dem Ereignis, sondern vielmehr der Gestalt des Gekreuzigten in der versöhnten aber noch nicht erlösten Welt. Bezeichnenderweise fehlt daher auch in Barths Ausführungen zur christlichen Hoffnung jeder Kreuzesbezug. Gegenüber Peeters sollen daher die Spuren zu einer Erlösungstheologie freigelegt werden, die gerade kein perichoretisches Verhältnis von Versöhnung – Zeugnis – Erlösung suggerieren, sondern mithilfe derer eine kontrastierende Zuordnung und eine qualitative Unterscheidung von Versöhnung und Erlösung zu erschließen ist.
Zusammenfassung: Erlösung als Offenbarung
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sind seine Überlegungen, welche die Kontinuität und Diskontinuität zwischen der zweiten und der dritten Gestalt der Wiederkunft Jesu Christi betreffen. Diese sei »nicht eine[] Ergänzung oder Überbietung ihres Inhalts, ihrer Aussage – sie bedarf keiner solchen, ist einer solchen auch nicht fähig – wohl aber einer höchst grundsätzlichen Veränderung und Erweiterung hinsichtlich der Art, der Gestalt, des Modus ihres Geschehens« (KD IV/3, 1036). Christologisch deutet sich der qualitative Unterschied zwischen Versöhnung und Erlösung in der geschichtlichen Dialektik des Christus victor als dem Christus militans an. Wie auf der ersten Ebene dieses Modells beschrieben, ist es eines der zentralen Anliegen Barths, die Überwindung der Finsternis durch das Licht nicht als ungeschichtlichen Triumph eines Prinzips, sondern als geschichtliche Bewahrheitung des wahrhaftigen Zeugen zu schildern. Die Realgeschichte, so habe ich in Anschluss an die Typologie Michael Weinrichs herausgestellt, ist für Barth eine Kampfgeschichte, in der der Sieg Jesu Christi noch nicht vollendet, sondern von der Wirklichkeit des Bösen, das die Güte der Schöpfung und die Versöhnung des Menschen mit Gott manifest in Zweifel zieht, angefochten ist: Gegen den in der Geschichte realpräsenten Christus und also gegen die Güte Gottes und die Menschlichkeit des Menschen haben sich die Mächte der Sünde verschworen. Darum ist der wahrhaftige Zeuge der »leidende Jesus Christus« (KD IV/3, 450). Die Veränderung des Modus des Offenbarungsgeschehens in der dritten Parusie impliziert damit die Überwindung dieser Mächte und die endgültige Befriedung des Verhältnisses von Gott und seiner Schöpfung. Barth denkt dies nicht von einer Selbstüberwindung der Gestalt des kämpferischen Christus, sondern von deren Anlass her: Die Vollendung der Offenbarung geschieht »unter Ausschluß jedes nur denkbaren Widerspruchs und Widerstands« sofern sie universal, unmittelbar und abschließend ist (KD IV/3, 1036). Symbolisch gesprochen ist es die reale Allgegenwart des Lichts, dessen Klarheit durch keinen Schattenwurf eines Gegenübers getrübt wird. Während die Affizierbarkeit Gottes durch die menschliche Lüge in einer noch nicht erlösten Welt Christus zum Anlass wird, dass er sich in der Geschichte seines Zeugnisses mit der Welt auch im Kampf befindet, ist mit dem, was dieses Modell als die Vollendung seiner Offenbarung bezeichnet, jeder solche Anlass ausgeräumt. Die unmögliche Möglichkeit der Sünde wird damit unzweideutig unmöglich und der wahrhafte Zeuge in seiner »reinen Gestalt« sichtbar (vgl. KD IV/3, 470). Dies ist – christologisch beschrieben – die qualitative Veränderung der Erlösung.
5.6 Zusammenfassung: Erlösung als Offenbarung Wenn Menschen von Offenbarung sprechen, dann ist meist die Rede von einer sich aufdrängenden Erkenntnis. Diese schafft dann nicht nur nur Gewissheit, sondern überwindet auch Ungewissheiten und Unkenntnis. Der christliche Glau-
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Modell 5: Revelatorische Eschatologie
be hofft auf die Ungewissheit überwindende Offenbarung Gottes. In biblischen und religionskulturellen Zusammenhängen ist dafür die Metapher des Lichts, das die Finsternis überwindet, prägend. Diese Leitmetapher kann als Ausgangspunkt eines erlösungstheologischen Modells fungieren, das in diesem Kapitel rekonstruiert wurde. Als strukturelle Besonderheit hat sich für dieses Modell die Überlagerung von gleich drei Ebenen erwiesen, die einem trinitarischen Verständnis von Offenbarung und deren geschichtlicher Vermittlung entsprechen. Mithilfe differenztheoretischer Überlegungen im Kontext einer Kirchentheorie konnte gezeigt werden, worin die Leistungskraft dieses erlösungstheologischen Drei-Ebenen-Modells liegt: Es kann die Bedeutung der Kategorie der Wahrheit im Kontext einer multimedialen Zeugnistheorie hervorheben und gleichzeitig für deren bleibende Problematik sensibilisieren. Die besondere Struktur des Modell bedingt damit auch seine Erschließungskraft. Denn die genannte Spannung kann nur aufrechterhalten werden, wenn die drei Ebenen trotz der notwendigen Unterscheidung von Schöpfung, Versöhnung und Erlösung aufeinander bezogen bleiben. Modelltheoretisch hat sich damit schlussendlich auch der besondere Einfluss der Architektur eines Modells auf das Verständnis von dessen zentralen Symbolen nachweisen lassen.
6 Schluss Die zurückliegenden Kapitel dieser Untersuchung haben fünf erlösungstheologische Modelle in Barths Kirchlicher Dogmatik anhand repräsentativer Texte rekonstruiert. Dabei sind nicht nur unterschiedliche Begründungs- und Argumentationsmuster und ihre Verbindung zu dogmatischen Denkfiguren aufgezeigt worden, vielmehr wurden diese Modellierungen im Zusammenhang der zentralen Fragen der Eschatologie untersucht. Dass dabei an manchen Stellen über den eigentlichen Textbestand der Kirchlichen Dogmatik hinausgegangen, aber damit den angelegten Modelllogiken gefolgt wurde, liegt in der modelltheoretisch basierten Methodik begründet, die eingangs beschrieben wurde. Erlösungstheologische Modelle sind theologische Konstruktionen, die in dieser Arbeit auf die Frage hin untersucht wurden, welche theologische Beschreibungsund Orientierungsleistung sie bieten können, um von der Hoffnung auf die Erlösung von dem Bösen zu sprechen. Wie die folgende Tabelle (Abbildung 6.1) zeigt, haben sich über den Anfangsverdacht hinaus (vgl. 0.3.5) weitere Erkenntnisse über die Funktionsweise und die tragenden Strukturen dieser Modelle gewinnen lassen. Damit soll eine hoch reduzierte Übersicht geboten werden, um die zentralen inhaltlichen Erkenntnisse und Parameter für dieses abschließende modelltheoretische Fazit zu präsentieren. Abschließend soll noch einmal hinter die materialdogmatischen Einzelerkenntnisse, welche die Arbeit an den Modellen geprägt hat, zurückgetreten werden und gewonnene Erkenntnisse im modelltheoretischen Kontext reflektiert werden. Dies soll in einem Dreischritt geschehen. In einem ersten Abschnitt soll systematisch nach den systematischen und erkenntnistheoretischen Konstruktionsbedingungen erlösungstheologischer Modelle, wie sie in dieser Studie anhand der Theologie Barths identifiziert werden konnten, gefragt werden. In diesem Bewusstsein, dass Modelle konsequent als theologische Konstruktionen zu verstehen sind, kann zweitens danach gefragt werden, welche Potenziale der notwendigen Dekonstruktion sie bereitstellen. In einem letzten Schritt soll schließlich noch einmal dem Phänomen Rechnung getragen werden, dass die in dieser Arbeit rekonstruierten Modelle nur im Kontext einer komplexen Konstellation auftreten. Es kann daher nach den Interaktionen zwischen Modellen gefragt werden und welche Wirkung diese wechselseitig aufeinander ausüben.
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Schluss
Abbildung 6.1: Übersicht Modelle
Konstruktionen
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6.1 Konstruktionen Theologische Modelle basieren auf einer Vielzahl an Bedingungen, die deren Modellierung erst möglich macht. Ich gehe daher im Folgende auf die zentralen Konstruktionsbedingungen der in dieser Studie bei Barth identifizierten und rekonstruierten Modelle ein, sofern die hier durchgeführten Rekonstruktionen nicht umhin kommen, selbst in einem gewissen Sinn Konstrukte zu sein. Die Bedingungen dieser (Re-)Konstruktion von Modellen sind dabei systematischer und erkenntnistheoretischer Art.1 Dogmatische Kontexte Die Rekonstruktion der einzelnen Modelle ist meist anhand (weitgehend) zusammenhängender Textpassagen vonstatten gegangen. Damit wurde immer eine Doppelstrategie verfolgt, indem einerseits die zu dem jeweiligen dogmatischen Locus zugehörigen Erkenntnisgewinne von Barths Denkbewegungen nachvollzogen werden konnten und andererseits die diesen Überlegungen impliziten Modellierungen für eine Erlösungstheologie im Sinn einer Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen identifiziert werden konnten. Dabei hat sich gezeigt, dass der dogmatische Locus, auf den sich die Rekonstruktion konzentrierte, formative Wirkung auf die daran anschließende Erlösungstheologie hat. Ähnlich wie historische und soziokulturelle Kontexte wirken offensichtlich auch dogmatische Kontexte und ihre erkenntnisfördernden Angebote in Form von traditionellen Denkformen und Problemsensibilisierungen auf die theologische Modellbildung. Exemplarisch lässt sich anhand von Modell I zeigen, dass die Macht-, bzw. Allmacht-Frage, die im Kontext von Gottes Handeln in der Geschichte thematisiert wird, für Barth zum Anlass wird, eine theologisch anspruchsvolle Theorie des Bösen als Nichtiges zu entwickeln. Sowohl die ontologischen als auch die epistemologischen Entscheidungen in §50 basieren auf den monistischen Denkformen von Barths Providenzlehre wie auch auf deren spezifischen Brechungen. Wenngleich Barth im Kontext der Hamartiologie in seiner Versöhnungslehre die metaphysischen Komponenten des Nichtigen nicht mehr so stark betont, bleibt die formallogische Denkform des Bösen als unmöglicher Möglichkeit auch in anderen erlösungstheologischen Modellen präsent. Die Entwicklung dieser Denkform im Kontext der monistischen Tendenzen dieses Modells ist jedoch nicht willkürlich, sondern ist angesichts von Barths Konzeption der Allmacht als Allwirksamkeit Gottes naheliegend. In ähnlicher Weise wirkt in Modell IV der Kontext der Christologie unter der Perspektive des vere homo auf die Modellierung des Erlösungsverständnisses 1
Valide Alternativen, die jedoch bereits ein anderes Forschungsdesign der gesamten Arbeit voraussetzen, würden den Fragen nach den biographischen, dogmengeschichtlichen oder auch religions- und soziokulturellen Konstruktionsbedingungen dieser Modelle nachgehen.
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Schluss
unter dem Symbol des Reiches Gottes und der Realisierung von Humanität. In keinem anderen Modell sind Phänomene menschlicher Existenz und damit zentrale Kategorien theologischer Anthropologie in dieser Konzentration auf den Plan gerufen. Dies liegt zum einen an der spezifischen Epistemologie des Modells und zum anderen am inkarnatorischen Realismus der Christologie von KD IV/2, der zu einer Eschatologie beiträgt, die in der Beachtung der Bedingungen realen Menschseins die Überwindung unmenschlicher Mächte erkennt. Eine erste Erkenntnis über die Konstruktionsbedingungen theologischer Modelle kann daher lauten, dass die fokussierte dogmatische Arbeit, die an einem spezifischen Locus ansetzt, als eine Form kontextueller Theologie gelten kann, die wie jede andere Art der Kontextualisierung spezifische Probleme präferiert in den Blick nehmen kann. Semantische Dependenzen Wie bereits in der Einleitung dargelegt, besteht das Modellierungsmaterial theologischer Arbeit im Wesentlichen aus ihrer Sprache und den verwendeten Semantiken. Indem erlösungstheologische Modelle nicht nur darstellenden, sondern ebenfalls konstruierenden Charakter haben, sind sie in der Lage, zentrale Begrifflichkeiten zu definieren und dafür eine Hermeneutik anzubieten. Die Semantik eines Modells ist daher nicht allein in ihrer abbildenden Qualität, sondern auch in ihrer disponierenden Funktion zu beachten. Denn alles Modellieren baut auf bestimmten Semantiken auf, von deren Vorverständnissen es zehrt. Die Semantik eines Modells kann als Metaphernfeld fungieren, welches schließlich die Funktionsweisen des Modells wesentlich steuert. Besonders erkennbar sind diese semantischen Dependenzen anhand von Modell III, das unter dem Symbol des Gerichts eine juridische Eschatologie entfaltet. Nicht nur, dass Akteure und Prozesse, die hiermit modelliert wurden, wesentlich auf das Vorverständnis juridischer Begrifflichkeiten aufbauten; auch der bereits zu Beginn der Rekonstruktion eingeführte Begriff des Rechts konnte nur mithilfe eines Rückgriffs auf Barths Erwählungstheologie in seiner relationalen Bestimmung verstanden werden. Dieses relationale Rechtsverständnis musste als semantische Dependenz dieses Modells zunächst dekodiert werden, um dann zu verstehen, inwiefern eine anerkennungstheoretische Fortführung dieses juridischen Modells Probleme adressiert, die durch diese Dependenzen erst eingeführt wurden. Auch in Modell V ist mit der Fundamentalunterscheidung von Licht und Finsternis eine fundamentaloppositionelle Semantik eingeführt, deren Elemente sich a priori wechselseitig ausschließen. Darüber hinaus sind an diese Begrifflichkeiten weitere Prozesse innerhalb dieser optischen Semantik angebunden, deren jeweiliges Verständnis nur innerhalb dieses Metaphernfeldes gegeben ist (Licht, Leuchten, Sichtbarkeit und Erleuchtung). Eine eigentliche Begründung für die
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Verwendung dieser Metaphorik liefert Barth nicht. Vielmehr hat sich das Feld um diese Begriffe als eschatologische Leitdifferenz dieses Modells zu bewähren. Insbesondere in Anschluss an diese Polarität ist auch Barths problematische militarisierende Semantik zur Sprache gekommen, die ebenfalls Folge einer solchen semantischen Dependenz ist. Modelle sind daher nicht allein als autonome oder gar hermetische Rationalitätskonstruktionen zu verstehen. Insbesondere weil sie mithilfe von Sprache modelliert werden, definiert kein Modell seine eigenen Konstruktionsbedingungen vollständig selbst. Vielmehr verdanken sich viele Konstruktionslogiken den ins Modell eingetragenen Semantiken, die es im Einzelnen nachzuvollziehen gilt und deren Effekte nicht ohne weiteres antizipierbar sind. Generell lässt sich daraus schließen, dass zwischen dem Gehalt und der Semantik eines Modells ein so enger Zusammenhang besteht, dass ein willkürlicher Austausch dieser Semantik ausgeschlossen ist. Semantik und Gehalt sind analog zu Material und Form kodependent und praktisch kaum zu trennen. Narratives Wissen Der christliche Glaube lebt von seinem narrativen Wissensbestand. Dies ist auch für die Erlösungstheologie relevant. In mehreren Modellen spielen daher Erzählungen eine besondere Rolle in der Entwicklung von erlösungstheologisch relevanten Denkformen. Insbesondere anhand von Modell II konnte gezeigt werden, wie das narrative Wissen der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung eine Handlungslogik der Chaosbegrenzung entwickelt und damit die Grundlage für ein Erlösungsverständnis der Neuschöpfung bildet. Das Modell behält diesen Typus des narrativen Wissens auch in der Fortschreibung der materialen Eschatologie bei, sofern an die Rezeption der Schöpfungssage aus Gen 1 die Utopie der Neuschöpfung anschließt. Diese erzählerische Logik bildet – ähnlich wie bereits oben die semantischen Dependenzen – einen Verständnisrahmen, der entweder bereits selbst bestimmte Modellierungen vollzieht oder diese zumindest nahelegt. Darüber hinaus gewinnen Erlösungshoffnungen ihre Evidenz nicht nach einer einfachen dezisionistischen Zustimmungslogik (»Entweder man glaubt daran, oder nicht«). Vielmehr gehört es zu den grundlegenden Einsichten über gelebte Religiosität, dass die biblischen und religiösen Erzählungen selbst Medien religiösen Wissens sind und ihre erzählerische und ritualisierte Performanz ein zentrales Kriterium für die Evidenz des christlichen Symbolsystems sind.2 Die Frage nach dem Gewissheitsmodus, in welchem dieses Wissen auftritt, ist daher vor allem die Frage danach, welche Narrationen sich religiöse Gemeinschaften zu eigen machen. 2
Vgl. Thomas, »Die Multimedialität religiöser Kommunikation: Theoretische Unterscheidungen, historische Präferenzen und theologische Fragen«.
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Schluss
Gerade weil sich der christliche Gottesgedanke und die mit ihm verbundene Erlösungshoffnung nicht auf ein formales Prinzip zurückführen lässt, spielen die Stories als Rohmaterial der Theologie3 eine entscheidende Rolle in der Konstruktion erlösungstheologischer Modelle. Wenngleich alle Modelle in irgendeiner Weise auf narrativem Wissen aufbauen, wird dies bei einigen eher explizit als in anderen. Insbesondere Modelle III und IV, die beide an Barths Christologie anschließen, haben hier drastische Unterschiede erkennen lassen: Während das juridische Modell seine Evidenz eher von einer Meta-Narration der Bundesgeschichte gewinnt, die ihre Pointe im Ereignis der Passion findet, bilden im eher dezentrierten Modell IV (Humanität und Reich Gottes) die Wundererzählungen im Leben Jesu den Ausgangspunkt der Modellkonstruktion. Gerade in Modell IV wird jedoch zugleich deutlich, wie stark der Typus narrativen Wissens mit einem weiteren Wissenstypus die Konstruktionsbedingungen dieses Modells formt. Formalisiertes Wissen Neben dem narrativen Wissen bildet ein zweiter Wissenstypus eine entscheidende Rolle: Das formalisierte Wissen in Form von ausgearbeiteten Denkfiguren bildet das Komplement zu narrativem Wissen. Modell I basiert im Wesentlichen auf einer formalisierten (und damit auch die Folgeüberlegungen formalisierenden) Auffassung der Allmacht als Allwirksamkeit. Die Entfaltung dieser Vorstellung in Bezug auf die Geschichte geschieht ebenfalls als formale Zuordnung, welche monistische und dialektische Denkformen verbindet. Formalisiertes Wissen in der Modellkonstruktion greift häufig auf mächtige und bewährte Konzepte der Theologie- und Dogmengeschichte zurück und gewinnt seine wissenschaftlich-theologische Evidenz in der Auseinandersetzung mit der theologischen Tradition, die auch im protestantischen Kontext nicht zuletzt formal-logisch geprägt ist. Formalisiertes Wissen eignet sich jedoch nicht nur hinsichtlich der Historisierung eines Modells, sondern auch um generalisierbare und dann kontextuell applizierbare Aussagen zu treffen. Formalisiertes Wissen kann jedoch auch genau den umgekehrten Effekt haben. So hat bspw. die Analyse von Modell IV gezeigt, dass die Denkform der unio hypostatica als kritisches Instrument gegen eine allgemeine Anthropologie ins Feld geführt werden kann. Das formalisierte Wissen dieser dogmatischen Denkfigur äußert sich daher als Kritik generalisierender Wissensformen und drängt auf eine Erkenntnisrichtung, die zum Einen ganz wesentlich auf dem narrativen Wissen der biblischen Wundererzählung aufbaut und die zum Anderen die Grundlage für eine realistische Anthropologie legt, deren Ausgangspunkt der wirkliche Mensch ist. Beide Wissenstypen – narratives und formalisiertes Wissen – formen die Konstruktionsbedingungen von Modellen also sowohl auf einer inhaltlichen Ebene 3
Vgl. Ritschl und Jones, Story als Rohmaterial der Theologie.
Konstruktionen
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als auch dahingehend, dass sie den Gewissheits- und Erkenntnismodus prägen. Zentral ist dabei, dass beide Wissenstypen immer gemeinsam auftreten, wenngleich sie in unterschiedlichen Modellen durchaus verschieden balanciert werden. Erkenntnisparadigma Ein weiterer Parameter, der die Konstruktion erlösungstheologischer Modelle entscheidend mitbestimmt, ist das epistemologische Paradigma, welches das Modell prägt. Klassischerweise werden solche Paradigmen und ihre Erkenntnismechanismen in Deduktion, Induktion und Abduktion bzw. in Top-Down- und Bottom-Up-Ansätze eingeteilt. Dass sich insbesondere Barths Theologie häufig den Vorwurf eingeholt hat, stärker dem Typus des Top-DownAnsatzes zu entsprechen,4 lässt sich nur zu einem gewissen Teil in den analysierten Modellen wiedererkennen. Lediglich Modelle I und III sind über weite Strecken deutlich von dieser Begründungsrichtung geprägt. Dagegen konnte anhand von Modell IV gezeigt werden, dass sich anschließend an Barths Entfaltung des königlichen Amtes und den Fragmenten zur Versöhnungsethik eine Eschatologie von unten entfalten lässt, die mithilfe einer Dezentrierung des erkenntnistheoretischen Paradigmas jede Form der Deduktion fraglich macht. Entscheidend war hieran zu sehen, dass eine einmal etablierte Erkenntnisrichtung innerhalb eines Modells weitgehend beibehalten wird. Lediglich Modell V, das seinen theologischen Wahrheitsbegriff über den Prozess geschichtlicher Bewahrheitung gewinnt und damit einer monolinearen Offenbarung von oben entschieden widerspricht, bietet eine sinnvolle Option, Top-Down- und Bottom-Up-Ansätze miteinander zu verknüpfen. Diese Verknüpfung erfordert jedoch dann – das haben die drei Ebenen, auf denen dieses Modell gelagert ist, gezeigt – einen nicht zu unterschätzenden architektonischen Aufwand. Zu gewinnen ist daraus jedoch ein Erlösungsverständnis, welches einerseits eine notwendige Kontextsensibilität aufweist und gleichzeitig das kritische und selbstkritische Potential klassischer Offenbarungstheologie nicht verliert. Mit dem Erkenntnisparadigma korreliert auch der epistemische Ausgangspunkt eines Modells. Dabei ist strukturell zwischen drei Alternativen zu unterscheiden: Erlösungstheologische Modelle haben ihren Ausgangspunkt entweder bei Universalität, Partikularität oder Singularität. In Verbindung mit dem Erkenntnisparadigma eines Modells ist dieser Ausgangspunkt häufig richtungsweisend für das weitere Modellieren. Während Modell I bei der Universalität Gottes ansetzt und von dort aus auf die partikulare Evidenz und Kontraevidenz der göttlichen Vorsehung geblickt wird, dreht Modell IV diese Fokussierung um, indem dort die Partikularität konkreter Mitmenschlichkeit zum Ausgangspunkt für eine Eschatologie unter dem Symbol des kommenden Gottesreiches gemacht wird. Paradigmatisch für die Singularität als epistemischem Ausgangspunkt steht Modell III, welches die erlösende Dramatik in der Singularität der Passion Jesu 4
Härle, Sein und Gnade und besonders polemisch Wagner, »Theologische Gleichschaltung«.
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Christi lokalisiert und von dorther ein Stellvertretungsgeschehen nachzeichnet, das das Gericht Jesu Christi mit der Verheißung des universalen Heils verbindet. Auf die Konstruktion erlösungstheologischer Modelle hat also auch das Erkenntnisparadigma sowie der daran geknüpfte epistemische Ausgangspunkt entscheidenden Einfluss. Dies ist insbesondere anhand der Theologie Barths nachvollziehbar, sofern diese erkenntnistheoretische und materialdogmatische Fragen eng miteinander verbindet. Im Vergleich der Modelle zeigt sich, dass die gewählte Erkenntnisrichtung eines Modells mit den materialen Erkenntnissen im Prozess des Modellierens in Wechselwirkung steht. Der zusammenfassende und komparative Rückblick auf die Konstruktionsbedingungen der in dieser Studie herausgearbeiteten erlösungstheologischen Modelle hat gezeigt, dass einige benennbare Faktoren theologische Modellbildung nachweisbar prägen: Dogmatischer Kontext, semantische Dependenzen, narratives und formalisiertes Wissen – sowie deren Balance – und schließlich die Erkenntnisparadigmen bilden die unhintergehbaren Voraussetzungen für die Entwicklung erlösungstheologischer Modelle. Damit ist auch gesagt, dass diese Parameter in der weiteren Modellierung und deren Optimierung nicht beliebig austauschbar sind. Wo in den konstruktiven Teilen der einzelnen Kapitel vereinzelt Modifikationen vorgenommen wurden, so sind diese immer entweder im Zusammenhang der impliziten Logik des Modells oder aber anhand von validierenden Kriterien zu begründen gewesen, die sich aus den verschiedenen Verwebungen eines Modells ergeben haben (vgl. Kap. 0.3.6). Darüber hinaus ist gezeigt worden, dass alle Modelle – ob im Zusammenhang der Kirchlichen Dogmatik oder auch deren Interpretation in der vorliegenden Arbeit – auf das Ziel hin konstruiert sind, theologische Denk- und Explikationsmöglichkeiten für die Erlösung von dem Bösen zu entwickeln. Aufgrund ihrer jeweils verschieden gelagerten Stärken ist es nicht sinnvoll, eine generelle Hierarchisierung in Bezug auf die Erschließungskraft der verschiedenen Modelle vorzunehmen. Vielmehr muss die Fragmentarizität der Modelle auch aus einer Binnenperspektive (und das heißt nicht nur aufgrund ihrer Pragmatik in ihrer religiösen und theologischen Verwendung) verstanden werden. Modelle bleiben nur dann Modelle, wenn ihr Modellsein thematisiert wird. Dies geschieht vor allem an ihren Bruchstellen und Grenzen. Im Folgenden soll daher ein zusammenfassender Vergleich die verschiedenen Dekonstruktionsmöglichkeiten aufzeigen, wie die Leistungsgrenzen spezifischer Modellierungen gestaltet sind und wie diese plastisch gemacht werden.
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6.2 Dekonstruktionen Modelle sind keine theories of everything. Sie erfüllen bestimmte Zwecke bzw. lassen sich über diese hinaus von den Konstruktionsbedingungen geleitet weitermodellieren. Obwohl Modelle mitunter in der Lage sind, Universalität und Universalitätsansprüche zu thematisieren, sind sie selbst hochgradig partikular. Die in den zurückliegenden Kapiteln dieser Studie rekonstruierten Modelle sind so angelegt, dass sie ein spezifisches, d.h. durch bestimmte Konstruktionsbedingungen partikular bedingtes Verständnis von der christlichen Erlösungshoffnung versprachlichen, kommunizierbar und kritisierbar machen. Wenn wissenschaftliche oder anderweitig diskursive Praxis den Blick für die Partikularität von Modellen verliert, entfalten Modelle eine problematisch suggestive Wirkung, die ihre eigene Kontingenz verschleiert. Modellierungsprozesse in der Eschatologie sind über diese hermeneutische Fragmentarizität hinaus an eine weitere, nämlich inhaltliche Tatsache gebunden: Modelle müssen in der Lage sein, das, was die klassische Eschatologie als eschatologischen Vorbehalt bezeichnet, zu thematisieren. Theologisch gesprochen thematisieren sie Erlösung unter den Bedingungen einer noch nicht erlösten Wirklichkeit. Modelle sind also von dem, was sie als Modell abzubilden vermögen, zu unterscheiden. Diese Differenz kann mitunter ontologisch oder wahrheitstheoretisch bestimmt werden. Für eine solche Bestimmung wäre jedoch selbst wiederum eine theory of everything notwendig, welche Erlösungswirklichkeit und Erlösungsmodelle in ein Metamodell integrieren kann. Ein solches Metamodell ist jedoch selbst voraussetzungsreich und überzeugt auch nicht im Hinblick auf gegenwärtige wissenschaftstheoretische Standards. Darum wurde im Rahmen dieser Studie auch an keiner Stelle auf eine übergeordnete Definition von Erlösung zurückgegriffen.5 Neben einem Aufweis der Partikularität von Modellen durch deren Begrenzung von außen6 bieten Modelle ebenfalls von innen Dekonstruktionspotenziale, mit denen sie ihr Modellsein implizit thematisieren. Dies geschieht durch ihnen inhärente Selbstbegrenzungsmechanismen, die im Folgenden beschrieben werden sollen: Solche Mechanismen sind in den Dekonstruktionspotenzialen von Modellen begründet, die auf einer phänomenologischen Ebene gelagert 5
6
Auch der eingangs formulierte »Anfangsverdacht« einer Erlösung als Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen soll keinen übergeordneten Rahmen für ein christliches Erlösungsverständnis darstellen, sondern bildet vielmehr eine Problemspezifikation, die im Laufe der verschiedenen Kapitel völlig unterschiedlich modelliert wurde, wobei sowohl Agonalität, Dramatik und Theozentristik dieser Formulierung verschiedentlich implizit wie explizit infrage gestellt wurden. In der Pragmatik von Modellkonstellationen in Form eines Textwerks, wie es Karl Barths Kirchliche Dogmatik darstellt, findet dies häufig durch einen Wechsel der Modelle im Argumentationsfluss statt. Die so zu beachtenden Interaktionen von Modellen soll in einem letzten Abschnitt eigens thematisiert werden.
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sind. Alle in dieser Arbeit beschriebenen Modelle weisen solche Mechanismen in Bezug auf sich selbst auf, indem sie die Grenze ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit markieren, ihre kontextuellen Dependenzen plastisch machen oder einen Abbruch der angestoßenen Denkbewegung forcieren. Drei Formen solcher Selbstdekonstruktion sind signifikant. Bruchstellen Die Struktur von Modellen kann Bruchstellen enthalten, die die Gesamtarchitektonik eines Modells nur bis zu einem gewissen Grad belastbar machen, über den hinaus die Struktur desselben zu zerbrechen droht. Obwohl Modelle eine größtmögliche systematische Kohärenz anstreben, können sie dennoch Spannungen enthalten, die eben solche Bruchstellen generieren. Häufig (aber nicht zwangsläufig) geschieht dies in Form von Dualisierungen, die gerade in Barths Modellen Spuren dialektischer Denkformen sind. In Modell I besteht eine dieser Bruchstellen in der Unterscheidung von Ontik und Noetik. Barth entwirft den Gedanken der Allmacht Gottes anhand einer stabilen Ontologie der Universalität Gottes, die auch im Gegenüber zur Schöpfung keine Zurückdrängung erfährt, sondern sich darin vielmehr dialektisch aktualisiert (vgl. 1.1.2). Den Höhepunkt dieser Universalität bilden Grenzformulierungen über das Nichtige, das selbst in negativer Weise auf Gott zurückzuführen sei. Die Stabilität dieser Ontologie wird jedoch durch die Epistemologie dieses Modells konsequent dekonstruiert, sofern der Glaube an die allmächtige Vorsehung gerade angesichts der Theodizee im Modus kontraevidenten Vertrauens zum Tragen kommt. Die Entkoppelung der Wirklichkeit von Gottes Allmacht und deren epistemischer Evidenz bildet daher eine Bruchstelle, die dieses Modell von Anfang an fragil strukturiert. Denn wo das kontraevidente Vertrauen in die universelle Allmacht nicht mehr über die erdrückende Evidenz der Wirklichkeit des Bösen hinweg reicht, zerbricht das Vertrauen in die Hoffnung für die (auch eigene) Geschichte. Diese Bruchlinie verläuft dogmatisch gesprochen entlang der Unterscheidung von fides qua und fides quae creditur. Doch nicht nur eine Unterscheidung von Ontologie und Epistemologie kann einen Mechanismus der Selbstdekonstruktion eines Modells bilden. Auch die materialdogmatischen Denkformen eines Modells können zu einer Dualisierung führen, die eine solche Bruchstelle provoziert. In Modell II lassen sich gleich zwei davon diesem Typus zuordnen. Die eine wird durch die konsequente Unterscheidung von Schöpfung und Neuschöpfung hervorgebracht, indem in diesem Modell von einer relativen Begrenzung der Wirkungsmacht des Bösen in Gottes Schöpferwerk und einer ausstehenden, endgültigen Überwindung des Bösen in Gottes Erlösungswerk gesprochen wird. Diese typologische Unterteilung von Gottes Wirkweise führt jedoch dazu, dass die Erlösungshoffnung in der konkreten Deutung nur im Modus der Verheißung bzw. als Utopie der Neuschöpfung zur Sprache kommt. Sie
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entspricht damit zwar der Schöpfungssage als ihrem Pendant, verschiebt damit jedoch die Erlösungshoffnung auf ein unbestimmtes Noch nicht. Diese Unterscheidung ruft jedoch spätestens dort einen Bruch hervor, wo ein Blick für die Kontinuitäten zwischen Schöpfung und Erlösung unumgänlich wird. Dies kann konkret dann der Fall sein, wenn es darum geht, konkrete Rettungserfahrungen und -erwartungen theologisch zu reflektieren. Auch die trinitätstheologische Dogmenentwicklung hat eine Differenzierung von Gottes opera ad extra konsequent kritisch beurteilt und damit nicht zuletzt einer heilsgeschichtlichen Dualisierung entgegengewirkt. Die zweite Bruchstelle dieses Modells ist eng verbunden mit der ersten und muss in der Dualisierung von Chaos und Ordnung lokalisiert werden, wobei der pejorative Chaosbegriff und damit Barths eindeutige Favorisierung der Ordnung bei genauerer Betrachtung fraglich erscheinen muss; nicht nur weil Chaos und Ordnung weder ontologisch noch epistemologisch zweifelsfrei zu unterscheiden sind (vgl. 2.3), sondern auch, weil Ordnungen selbst – ohne hinreichende Dynamisierungen – zum Inbegriff des Bösen werden können, ist bereits der Metaphorik dieses Modells eine Fragilität eingeschrieben. Bruchstellen wie die skizzierten müssen nicht sofort hervortreten. Sie fordern aber in der Arbeit mit einem solchen Modell eine Resistenz vor dem Drang nach vollständiger Kohärenz ein. Damit beschränken sie zugleich die Explikationsleistung eines Modells durch eine unhintergehbare innere Spannung, die dort zum Bruch des Modells führt, wo diese nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Metamorphosen Während Bruchstellen dazu führen, dass die Anwendung eines Modells aus Gründen der nicht mehr zu tragenden Inkonsistenzen oder mangels praktischer Evidenz im Ganzen zu kollabieren droht, gibt es einen zweiten Dekonstruktionsmechanismus, der auf eine Binnentransformation eines Modells hinweist: Denn Modelle sind keine fixierten Denkgebilde, sondern können eine Art Metamorphose vollziehen, indem grundlegende Denkformen dynamisch transformiert oder auch ganze semantische Felder umkodiert werden, ohne dass das Resultat ein gänzlich anderes Modell darstellt. Das entscheidende Kriterium für diese Form der Modelldekonstruktion ist, dass der Ausgangspunkt dieser Transformation nicht außerhalb, sondern innerhalb der Logik des Modells angelegt ist. Die Metamorphose eines Modells ist daher keine Umbildung aufgrund äußerer Gründe, sondern vollzieht einen Prozess, der im Modell selbst angelegt ist und daher auch nach modellinhärenten Regeln vonstatten geht. Eine solche Metamorphose konnte in Modell III nachgewiesen werden, welches die Erlösung von dem Bösen als Gerichtsgeschehen beschreibt. Wie in der entsprechenden Rekonstruktion dieses Modells gezeigt, bildet das semantische Feld der Juridik den Ausgangspunkt des Modells. Der Rechtsprozess der Passion vollzieht darin eine Auseinandersetzung mit dem sich ins Unrecht setzenden,
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bundbrüchigen, sündigen Menschen. Jedoch hat die Analyse des vierfachen Stellvertretungsgeschehens gezeigt, dass das singuläre Ereignis von Jesu Christi Kreuz und Auferstehung als exklusive Stellvertretung zu deuten ist und das damit nicht nur eine Überwindung der Schuld gemäß reformatorischer Rechtfertigungslehre bedeutet, sondern dass in Kreuz und Auferstehung der Bund ein für alle Mal erfüllt und somit die Kategorie des Rechts im Ganzen überwunden ist. Dabei ist das Ziel dieser Metamorphose der von Barth nur vereinzelt angedeutete, aber in jedem Fall konsequente Wechsel in der Sprachform, das GottMensch-Verhältnis nicht mehr durch Rechtsbegriffe zu bestimmen, sondern als ein Freundschaftsverhältnis zu verstehen. Die im singulären Gerichtsgeschehen begründete Metamorphose dieses Modells dekonstruiert also die juridische Logik des Modells und überführt die Logik des Gott-Mensch-Verhältnisses in eine Freundschafts-Semantik.7 Dabei ist gezeigt worden, dass der föderaltheologische Ausgangspunkt und die aus dieser Metamorphose hervorgehende veränderte Gestalt des Modells durch den Gedanken der Anerkennung miteinander verbunden bleiben, wenngleich auch dieser von der Transformation dieses Modells nicht unbetroffen bleibt und so Verstehensgrundlagen für das eschatologische Symbols des Neuen Bundes bietet. Modell-Metamorphosen sind zusammenfassend als Mechanismen zu beschreiben, die aus den materialen und strukturellen Voraussetzungen eines Modells hervorgehen und in der Modellierung zu so großen Rekonfigurationen führen, dass grundlegende Ausgangsbedingungen dekonstruiert und in neue Denkformen überführt werden. Diese Transformation geschieht nicht willkürlich, sondern ist ein dynamischer Effekt der inneren Rationalität eines Modells, weshalb dieser Prozess prinzipiell subversiv ist. Präkursive Kritik Während Metamorphosen Transformationsprozesse eines Modells beschreiben, deren Folgen die Voraussetzungen eines Modells dekonstruieren, gibt es einen dritten Mechanismus, dessen Wirkung eine entgegengesetzte ist: Bestimmte Denkformen können zu Voraussetzungen von Modelleffekten werden, die ebenjene antizipieren und damit präkursiv einer Kritik unterziehen. Während also die Metamorphose als Transformation bestimmter Voraussetzungen eine rekursive Dekonstruktion vollzieht, antizipiert dieser dritte Mechanismus umgekehrt die Folgen einer Modellrationalität und stellt deren Effekte infrage. Dies ist in Modell IV zu beobachten, wo die unio hypostatica als kritische Denkform der konkreten Mitmenschlichkeit Jesu Christi gegenüber drohenden 7
Da Barth selbst diese Metamorphose mit dem Gerichtsverständnis von KD IV/1 zwar vorbereitet, aber in der Soteriologie nicht vollständig durchgeführt hat (zu den Folgeproblemen vgl. 3.3), war dieses Modell stärker als alle anderen Modelle von dem konstruktiven Impuls getragen, Barth gegen Barth zu lesen. Wie gezeigt, folgte aber diese Transformation konsequent den inneren Notwendigkeiten von Barths christologischen Entscheidungen in seinen Ausführungen zum priesterlichen Amt.
Dekonstruktionen
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Abstraktionen einer allgemeinen Humanität zur Geltung kommt. Die Voraussetzung, dass Barths theologische Anthropologie Jesus Christus als den wahren Menschen bezeichnet, antizipiert also bereits den davon ausgehenden Effekt, dass angesichts dessen konkreter Mitmenschlichkeit ein Ideal von Humanität hervorgebracht wird, das im Sinne eines ethischen Leitbildes fungiert. Solche Ideale können orientierende und humanisierende Effekte haben, sie könne jedoch auch – darauf weist Barths Rede von den herrenlosen Gewalten der Ideologie hin – folgenschwere und lebensabträgliche Dynamiken entwickeln. Damit korrespondiert, dass Barth auch einer utopischen Rede vom Reich Gottes eine Absage erteilt, sofern diese selbst zur Abstraktion und damit zur religiösen, sozialen und nicht zuletzt politischen Ideologie neigt. Stattdessen stellt die dogmatisch grundlegende Denkform der unio hypostatica eine Voraussetzung dar, welche die ihr folgenden Effekte vorausgehend einer konsequenten Kritik unterzieht. Dasselbe Phänomen konnte in Modell V nachgewiesen werden, dessen Wahrheitspathos nicht nur im Kontext postmoderner Debattenlagen irritiert, sondern in eine ähnliche Problemkonstellation führt, welche dort die christozentrische Konzentration von Barths Zeugnistheorie zu dekonstruieren vermag. Die christologischen Voraussetzungen dieses Modells, welche sowohl in der Leitdifferenz von Licht und Finsternis (5.2), aber auch in der Kriteriologie der Lichterlehre (5.3) entfaltet werden, antizipieren ihren Effekt einer Absolutheit des Christentums, indem sie diesen als christliche Lüge demaskieren. Eben diese Dekonstruktion durch die Betonung Jesu Christi als dem wahrhaften Zeugen ist umso notwendiger, als dass in diesem Modell die menschliche Partizipation an diesem Zeugnis selbst von vorgehobener Bedeutung ist. Den aus dieser Konstellation drohenden »ekklesiastischen Optimismus« unterzieht dieses Modell von seinen christologischen Voraussetzungen her einer präkursiven Kritik. Besonders dieser dritte Mechanismus zeigt, dass hinreichend komplex konstruierte erlösungstheologische Modelle nicht nur ein Instrumentarium zur Folgenabschätzung bereitstellen können, sondern dass ihnen Mechanismen inhärent sind, die problematischen Tendenzen dieser Effekte einer wirkungsvollen Kritik zu unterziehen. Mit den drei vorgestellten Möglichkeiten der Dekonstruktion erlösungstheologischer Modelle sind Mechanismen beschrieben worden, die das Modellsein in seiner Vorläufigkeit thematisieren und damit der Partikularität theologischer Wahrheitssuche Rechnung tragen. Darüber hinaus sind damit auch Möglichkeiten aufgezeigt worden, wie Modelle ihren mitunter schadhaften Konsequenzen dialektisch, subversiv oder präkursiv entgegenwirken können. Die Herausforderung der Eschatologie, dass sie von den letzten Dingen zu sprechen hat, kann unter Gesichtspunkten der wissenschaftlich-theologischen Verantwortung so angegangen werden, dass die entworfenen Denkkonstrukte und Sprachformen
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in Gestalt erlösungstheologischer Modelle ihre eigene Notwendigkeit und Möglichkeit der Selbstkritik aufzeigen. Damit können sie partikular, situativ und kontextuell Artikulationsmöglichkeiten und Orientierungsleistungen der christlichen Hoffnung auf die Erlösung von dem Bösen zur Geltung bringen, ohne dass sie ihren Modellcharakter und damit ihre explorativ-hypothetische Geltungskraft überhöhen.
6.3 Interaktionen Die Untersuchungen dieser Arbeit sind von der Ausgangsbeobachtung geprägt gewesen, dass die Religions- und Theologiegeschichte eine Vielfalt an eschatologischen Symbolen und erlösungstheologischen Modellen hervorgebracht hat, um die für den christlichen Glauben zentrale Hoffnung auf die Erlösung von dem Bösen in unterschiedlichen Kontexten, Lebenslagen, sozialen und nicht zuletzt politischen Herausforderungen zu artikulieren. Dies ist nicht allein in der Mannigfaltigkeit religiöser Subjekte und Traditionen begründet, sondern auch in der genuin pluralen Struktur christlicher Erlösungshoffnungen. Exemplarisch wurde diese innere Pluralität anhand der späteren Theologie Karl Barths rekonstruiert, um damit zu zeigen, dass bereits das Werk eines Theologen von einer solchen Komplexität geprägt ist, die jeden Versuch unterläuft, die Hoffnung auf die Erlösung von dem Bösen auf eine spezifische theologische Sprachform zu reduzieren. Vielmehr wurde mit einem modelltheoretisch basierten Ansatz gezeigt, dass sich Barths Kirchliche Dogmatik als eine Modellkonstellation verstehen lässt, in der sich signifikante Spuren von nicht weniger als fünf erlösungstheologischen Modellen identifizieren lassen. Der Aufbau dieser Arbeit und der Ansatz, jedes dieser Modelle von seinen eigenen Voraussetzungen her zu verstehen, haben einen deutlichen Fokus auf die autonome Erschließungskraft der Modelle gelegt und damit mit jedem Kapitel die Suchbewegung nach adäquaten Beschreibungsmitteln von Neuem begonnen. Dies soll nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Modelle nicht nur von distinkten Voraussetzungen geprägt konstruiert werden, um dann wiederum eigene Potentiale der Dekonstruktion zu bergen, sondern dass sie darüber hinaus miteinander interagieren. Modelle entstehen nicht nur ideengeschichtlich, sondern auch werkhistorisch im Kontext von Modellkonstellationen, die wiederum aus der Interaktion von Modellen emergieren. Die Frage, ob dabei das Modell oder die Modellkonstellation am Anfang steht, ist nicht generell zu entscheiden. Dieses Interagieren ist auf textpragmatischer und auf systematischer Ebene nachzuvollziehen. Die Textpragmatik ist deswegen von Interesse, weil das theologische Modellieren auf dem Feld der Erlösungstheologie nicht allein in Form von Typologien geschieht, sondern sich in der Entwicklung von Argumentationsgebilden, die
Interaktionen
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auf der empirischen Textebene ein dichtes Geflecht von Modellen ergeben, abspielt. Am konkreten Beispiel der Modellkonstellation der Kirchlichen Dogmatik sind einige Interaktionsmuster von Modellen zu beobachten, die sich auf der Textebene vor allem anhand von Modellwechseln festmachen lassen. Solche Modellwechsel ereignen sich häufig mit der Verschiebung der Frageperspektive, mit welcher ein theologisches Problem oder dessen Folgeprobleme ins Auge gefasst werden. Mehrfach wurde dabei auf das Beispiel in §50.4 in KD III/3 verwiesen: Barths innovative Rede vom Bösen basiert wie in der gesamten Vorsehungslehre auch in diesem Abschnitt über weite Strecken auf einer monistischen Denkform, die in die formallogischen Paradoxien der Nicht-Nichtexistenz des Nichtigen mündet. In dieser eigentümlichen Schwebe belässt es dieser Paragraph jedoch nicht. Vielmehr entfaltet Barth die erlösungstheologische Vorstellung von Gottes Auseinandersetzung mit dieser Größe im Rückblick und in der Vorausschau mithilfe zweier weiterer Modelle. Indem Barth das Nichtige als die Wirklichkeit beschreibt, die am Kreuz bereits überwunden ist und daher »keinen Bestand hat« (KD III/3, 421), wechselt er von einer monistischen hin zu einer kreuzestheologischen Modelllogik, die erst vollumfänglich in KD IV/1 ausgearbeitet, aber bereits hier angedeutet wird. Wenige Seiten später (KD III/3, 424f.) ist wiederum davon die Rede, dass Gott dem Nichtigen eine Scheinexistenz zugesteht und diese erst in der »allgemeinen Offenbarung seiner Erledigung im Siege Jesu Christi« (KD III/3, 425) beendet sein wird – ein klarer Hinweis auf das, was in KD IV/3 als eine eigenständige Entfaltung einer offenbarungstheologischen Eschatologie auftritt. Ohne diese zu beobachtenden Spannungen notwendigerweise zu synthetisieren, können sie als auf unterschiedlichen Modellen basierte Perspektivierungen des theologischen Problems des Bösen gelten. Solche eher auf kleinformatiger Ebene zu beobachtenden Interaktionen ermöglichen damit wenn nicht eine klare Problemlösung, so zumindest eine hinreichend komplexe Problembeschreibung für theologische Dilemmata, wie sie paradigmatisch im Kontext der Theodizee entstehen. Ohne ein partikular gewonnenes Verständnis für einen bestimmten Sachverhalt notwendigerweise aufgeben zu müssen, können durch alternative Modellierungen Folgeprobleme in den Blick genommen werden, wobei daraus resultierende Divergenzen der unterschiedlichen Ausgestaltung christlicher Erlösungshoffnungen durchaus parallel fortgeführt werden und so zu bleibenden systemimmanenten Spannungen führen. Im Extremfall können diese Spannungen auch zu echten Retraktationen führen. Modelltheoretisch gesprochen sind solche expliziten Selbstkorrekturen konsequent problemorientierte Entscheidungen für ein Modell gegenüber einem anderen. Die Interaktion von Modellen muss daher nicht auf die Erweiterung des theologischen Wissens und dessen Explikationsmöglichkeiten beschränkt sein, sondern kann auch zu einer kritischen
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Auseinandersetzung führen, die zumindest Teilergebnisse, aber womöglich auch ganze Bereiche eines Modells infrage stellen. Über die unmittelbare Textebene hinaus interagieren Modelle daher auch auf einer systematischen Ebene, was vor allem dann zutage tritt, wenn sie problemorientiert miteinander verglichen und im Gespräch konstruktiver Überlegungen eingebracht werden. Modellinteraktionen auf systematischer Ebene können dann mitunter auf die Textgestalt zurückwirken, wenn hinreichende Konstruktionsbedingungen gegeben sind. Die ausführliche Einleitung von Modell V hat gezeigt, dass das Aufkommen eines solchen systematischen Folgeproblems aus Modell I (dort als Problem der Epistemologie; vgl. 5.1) noch nicht notwendigerweise ein eigenständiges Modell hervorbringen muss, sondern dass dies erst im Umfeld spezifischer Voraussetzungen – nämlich in KD IV/3 als »das dritte Problem der Versöhnungslehre« bezeichnet – geschehen kann. Erst die systematische Architektur von Barths Versöhnungslehre stellt ein solches Umfeld dar, welches die Erkenntnisfrage als dezidiert erlösungstheologisches Problem hervortreten lässt. Wenngleich Modell V (wie in 5.1.2 gezeigt) nicht einfach nur als die epistemologische Kehrseite von Modell I zu verstehen ist, so interagiert es mit diesem dennoch auf einer systematischen Ebene. Als dessen Komplement verstanden und von eigenen Konstruktionsbedingungen getragen, kann Modell V daher einen eigenen erlösungstheologischen Lösungsansatz für die epistemologischen Fragen von Modell I präsentieren. Dass daher in KD IV/3 explizit Probleme aus KD III/3 aufgegriffen werden und dies sich im dortigen Textbestand niederschlägt, ist als eine solche Rückwirkung auf den Text zu verstehen, der aus einer systematischen Interaktion hervorgeht. Darüber hinaus generiert dieses Modell jedoch wiederum Erkenntnisse und weitere Problemspezifizierungen, die weder von Modell I noch von anderen in dieser Studie beschriebenen Modellen adäquat erkannt oder gar bearbeitet werden können. Zuletzt ist die sachbezogene Interaktion von Modellen auch ohne einen direkten Textbezug auf einer ausschließlich systematischen Ebene zu beobachten, wenn Modelle auf sachspezifische Probleme hin angesprochen, analysiert und verglichen werden. Die unterschiedliche trinitarische Akzentuierung der Akteursfrage, die differierende Explikationsleistung von eschatologischen Symbolen, aber auch die sich unterscheidenden Beschreibungslogiken des Bösen, das in manchen Modellen klar als malum naturale und in anderen wiederum als malum morale in Erscheinung tritt, weisen darauf hin, dass Modelle in komplexen Konstellationen zu systematischen Spannungen führen. Diese entstehen dort, wo problemspezifische Überlappungen mit divergierenden theologischen Ergebnissen zusammenkommen. Wie in der modelltheoretischen Einleitung beschrieben, sind diese Spannungen als (Zwischen-)Ergebnisse theologischen Modellierens nicht von vornherein antizipierbar. Sie treten jedoch durch eine detaillierte und kritische Beschäftigung mit ebenjenen Modellen zutage.
Interaktionen
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Das Arbeiten mit Modellen hat sich damit als ein hilfreiches Instrument wissenschaftlich-theologischer Arbeit am Erlösungsbegriff erwiesen. Modellbasierte Theologie ist jedoch nicht auf diesen akademischen Anwendungsbereich beschränkt. Vielmehr haben sich die Erkenntnisse und Zwischenergebnisse wissenschaftlichen Modellierens in der theologischen und religiösen Praxis zu bewähren. Solche Bewährungsfelder wurden mit unterschiedlicher Nähe zu konkreten Handlungsfeldern für alle Modelle in eigenen kulturhermeneutischen, ethischen, sozial- oder kirchentheoretischen Exkursen aufgezeigt. Eine eigene Frage von nicht zu unterschätzender Bedeutung wäre darüber hinaus, inwiefern Modelle nicht nur mit dem Material der Sprache konstruiert werden, um sich dann in bestimmten Handlungsfeldern zu bewähren, sondern wie umgekehrt auch Handlungsmuster in Kirche, Diakonie, Politik, Kultur, Zivilgesellschaft oder auch in der Entwicklung von Technologien erster Hand zur Konstruktion von Modellen beitragen können.8 Damit kann erreicht werden, dass gesellschaftlich signifikante Erlösungshoffnungen – ob im säkularen oder religiösen Kontext – Eingang in die theologische Arbeit auf dem Feld der Eschatologie finden und theologisch adressierbar werden. Ein solch bidirektional informiertes Modellieren erlaubt, die Mannigfaltigkeit der Reden von Erlösung über den akademisch-theologischen Diskurs hinaus nicht nur als ein Gewirr vieler Einzelstimmen verkennen zu müssen, sondern diese mit kritischem Blick als Phänomene eines vielstimmigen Concertos der Hoffnungserzählungen zu würdigen.
8
Vgl. Friedrich, Reichel und Renkert, »Citizen Theology: Eine Exploration zwischen Digitalisierung und theologischer Epistemologie«; Friedrich, Reichel und Renkert, »Citizen Science, the Body of Christ, and Testimonial Epistemology«.
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Sachregister Aberkennung, 194, 210 Allmacht, 59, 67, 76, 102 Allwirksamkeit, 59, 69, 80 Anerkennung, 168, 176–180, 200– 205 Anklage, 91 Anthropologie, 34–36, 127, 168, 234, 239, 252, 263, 287 Antizipation, 14, 225, 282 Apokalypse, 311 Atheismus, 221 Auferstehung, 30, 193, 306–311 Auferweckung, 151, 254 Aufmerksamkeit, 245 Bedrohung, 117 Begriff, 44, 237 Behinderung, 145, 245, 286–288 Bekenntnis, 25, 83, 333 Berufung, 336 Bibel, 49 Böses, 45, 69, 77, 113, 129, 169, 209, 301, 314, 338 Bund, 36, 54, 71, 98, 106, 168, 195, 208, 215 Chaos, 105–108, 121–123, 128–130 Determinismus, 71, 131 Deutungsmacht, 211 Diakonie, 249, 260, 285 Dialektische Theologie, 29, 31, 57 Drama, 303 Dramatik, 297
Dualismus, 58, 122, 132 Endlichkeit, 62–67, 73, 149, 251, 262 Entmythologisierung, 242, 282 Epistemologie, 14, 21, 48, 82, 87, 231, 235, 287, 302 Erwählung, 34, 53, 79, 167 Eschaton, 243 Essentialismus, 234 Ethik, 35, 42, 49, 154, 251 Evidenz, 83 Ewiges Leben, 226 Ewigkeit, 61, 149 Exegese, 27, 101, 108, 135 Exklusivismus, 325 Exodus, 100 Exzess, 253 Fatalismus, 92 Fetischismus, 265 Finsternis, 110, 312, 345 Föderaltheologie, 175 Freiheit, 63, 75, 89 Freundschaft, 188 Frieden, 142, 357 Gebet, 13, 217, 224, 281 Gefahr, 115, 120, 137, 338 Gerechtigkeit, 190, 203, 283 Gericht, 32–35, 168, 176, 184, 355 Geschichte, 28, 54, 73, 98, 307, 318, 337, 349–354 Geschichtsdeutung, 99
402 Gesetz, 124, 154, 177 Gesundheit, 251 Gewalt, 258 Gewissheit, 98, 138 Grundvertrauen, 95 Heiliger Geist, 71, 189, 296 Heiligung, 236 Heilsgeschichte, 299–305, 349 Heilung, 245, 286 Hermeneutik, 22, 42, 49, 157 Herrenlose Gewalten, 264–272, 292 Himmel, 143 Humanität, 204, 230–236, 274 Hypostatische Union, 231–241, 275 Ideologie, 222, 269, 284 Individualismus, 261, 263 Infralapsarismus, 174 Inkarnation, 169, 183–191, 235 Interpellation, 215–217, 225 Intervention, 175, 191, 280 Israel, 98–102, 126, 147, 173 Jenseits, 149 Jesus Christus, 21, 156, 173, 179, 230, 236, 250, 324, 335 Kampf, 81, 111, 118, 142–145, 172, 208, 245, 251, 277, 280, 309, 315, 321, 336, 351 Kausalzusammenhang, 63 Kenosis, 171, 179, 181, 183, 196 Kirche, 21, 216, 333–337, 342, 347 Kirchenasyl, 161 Klage, 87, 90 Kompromiss, 196 Kondeszendenz, 170 Königliches Amt, 230, 239 Kontingenzerfahrung, 89, 152 Kontraevidenz, 70, 81–84, 99–102 Körperlichkeit, 254
Sachregister
Krankheit, 129, 150, 245, 250, 262, 277 Kreuz, 179, 183, 319 Kunst, 160 Leiblichkeit, 249 Leiden, 56, 71, 81, 85, 139, 145, 185, 224, 236, 245–247, 278, 320 Liberale Theologie, 88 Licht, 109, 294, 306, 322 Liebe, 187, 274 Liturgie, 85 Logos, 232 Lüge, 303, 313, 316 Macht, 47, 99, 223, 243, 264–267 Mensch, 233, 238 Metapher, 294, 306, 362 Mitleid, 245 Mitmenschlichkeit, 233, 246 Modell, 16, 361 Modelltransformation, 226, 369 Moderne, 40 Monismus, 54, 68, 76, 79 Moral, 191, 209, 216, 271 Mysterium, 86, 135 Nachfolge, 254 Nacht, 251 Natürliche Theologie, 328 Negative Dialektik, 68, 268 Negative Theologie, 29, 72, 135 Neuer Bund, 205, 214–224 Neuschöpfung, 36, 77, 127, 140–145 Nichtiges, 58, 77–81, 187, 265 Normalisierung, 276 Offenbarung, 296, 307, 353 Ohnmacht, 172 Ontologie, 17, 57, 67, 77, 114, 136, 185, 234, 300
Sachregister
Ordnung, 108, 113, 121, 128, 157, 167, 188, 215, 240, 259, 264 Panentheismus, 137 Partikularität, 244 Parusie, 34, 98, 199, 306, 339, 357 Personalismus, 203, 259 Pluralismus, 221, 324, 328 Postmoderne, 19, 323 Priesterliches Amt, 168 Prolegomena, 296 Prophetisches Amt, 302, 313, 339 Prozess, 118 Prozesstheologie, 57, 135 Rationalismus, 327 Raum, 247 Realismus, 82 Recht, 125, 168, 207, 267 Rechtfertigung, 182–184, 194 Rechtsbruch, 170, 183 Reich Gottes, 29, 241, 264, 272, 281 Relationalität, 14, 169, 276 Religionskritik, 324 Religiöser Sozialismus, 29 Rettung, 238, 250 Richter, 169 Risiko, 94, 122, 126, 146–148, 159, 218, 241, 280 Schöpfung, 36, 67–69, 78, 105, 325 Schöpfungsordnung, 128, 155 Schriftprinzip, 21, 48 Seelenheil, 253 Seelsorge, 158 Seligpreisungen, 246 Singularität, 181, 184, 204, 237 Sinn, 89 Solidarität, 273, 280 Sorge, 260, 271 Sozialismus, 75
403 Sozialität, 231, 233, 254, 263 Spätmoderne, 21, 27, 323 Spiel, 152 Stellvertretung, 178–193 Subjektivation, 212–217, 225 Substanzontologie, 233 Sünde, 169, 255 Supralapsarismus, 174 Supranaturalismus, 240 Symbol, 14, 15, 23, 26, 35, 112, 143, 152, 219, 268 Systemtheorie, 132 Täter, 183 Taufe, 201, 213–215 Teleologie, 71–74, 349 Theismus, 57–59, 122 Theodizee, 111–116 Theologie, 317, 340 Theologische Erklärung von Barmen, 162, 266 Tod, 150 Tora, 124 Tragik, 36 Transsubstantiation, 86 Trauer, 247 Trinität, 55, 57, 195, 296, 347 Universalismus, 75, 100, 199, 204, 231 Unmenschlichkeit, 257, 266 Verantwortung, 262 Verkennung, 212, 220 Versöhnung, 167, 198, 230 Vertrauen, 73, 88, 94 Vollendung, 71, 73, 76, 101, 190, 349 Vorsehung, 53 Vorsehungsglaube, 82, 89 Vulnerabilität, 142, 154 Wahrheit, 43, 47, 219, 312, 316, 328, 349
404 Welt, 343 Wissenschaftstheorie, 17, 18 Wunder, 240, 250, 286 Zeichen, 243 Zeit, 61, 65, 85, 119, 315 Zeugnis, 254, 304, 311–313, 337, 344, 352 Zukunft, 312 Zwei-Naturen-Lehre, 231
Sachregister