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German Pages [444] Year 2007
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz
Band 118
Vandenhoeck & Ruprecht
Stefan Holtmann
Karl Barth als Theologe der Neuzeit Studien zur kritischen Deutung seiner Theologie
Vandenhoeck & Ruprecht
Meinen Eltern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56346-5
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co., Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort ..................................................................................................
9
Einleitung 1. Karl Barth als Theologe der Neuzeit – Facetten eines umstrittenen Themas ...........................................
11
2. Zum Aufbau der Untersuchung ..................................................
18
Teil 1: Christentumstheoretische Aufhebung der Theologie Karl Barths (Trutz Rendtorff) 1. Einführung ..................................................................................
21
2. Dialektische Theologie und die Aporien der Sozialtheologie ....
22
Exkurs: Die Krise des Pfarramtes .....................................................
34
3. Die Kirche als Funktion der Theologie ...................................... 3.1 Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff (1961) .. 3.2 Kirche und Theologie (1966) ........................................ 3.3 Offenbarungstheologie als Geschichtstheologie ...........
37 38 43 67
4. Die theologische Neubewertung der neuzeitlichen Freiheit ....... 4.1 Neuzeitliche Freiheit im Spiegel von Geschichte und Gesellschaft (1960) ............................. 4.2 Das Wesen neuzeitlicher Theologie .............................
73 75 81
5. Die Theologie Barths im Kontext der Theorie des Christentums 5.1 Das Programm .............................................................. 89 5.2 Christentum als Deutungskategorie von Geschichte und Gesellschaft ......................................... 91 5.3 Die Theologie Barths in christentumstheoretischer Perspektive .......................... 95 5.4 Ertrag ............................................................................ 113 6. Gott im Rendtorffschen Sinne .................................................... 115 7. Barths Theologie als Vorstufe der Theorie des Christentums .... 123 7.1 Der ethische Sinn der Dogmatik (1975) ....................... 124 7.2 Die Kirche als dogmatische Form der Freiheit (1978) ........................................................ 133
6
Inhalt
Zwischenüberlegung: Die Bedeutung der Kirche in der Theologie Barths ..................................................... 140 7.3 Der Freiheitsbegriff als Ortsbestimmung neuzeitlicher Theologie (1986) ..................................... 144 8. Forderungen an die Barthforschung: Karl Barth und die Neuzeit (1986) ............................................. 150 9. Ertrag: Karl Barth unterwegs zur Theorie des Christentums ...... 155 Exkurs: Die kritische Barthdeutung Friedrich Gogartens 1. Theologie als Anthropologie ...................................................... 159 2. Die Kritik der Christlichen Dogmatik ........................................ 162 3. Die Entzweiung: Gericht oder Skepsis ....................................... 165 4. Ertrag .......................................................................................... 170 Teil 2: Absolutheitstheoretische Kritik der Theologie Karl Barths (Falk Wagner) 1. Einführung .................................................................................. 173 2. Die Absolutheitstheorie Wolfgang Cramers ............................... 174 3. Theorie des Absoluten und die Kritik der Theologie 3.1 Die Unhintergehbarkeit der Subjektivität ..................... 3.2 Die begriffene Theologiegeschichte ............................. 3.3 Das Scheitern Schleiermachers ..................................... 3.4 Die Aufhebung vorangegangener Theoriebildung ........ Exkurs: Die absolutheitstheoretische Rekonstruktion der Luhmannschen Systemtheorie ...................... 3.5 Theologische Gleichschaltung – Deutung und Kritik der Theologie Karl Barths .......................................... Exkurs: Eine absolutheitstheoretische Rekonstruktion der Christologie ........................................................ 3.6 Die Kontinuität späterer Barthkritik ............................. 3.7 Wolf Krötkes Kritik der Barthdeutung Wagners ..........
182 187 190 192 206 208 222 229 232
4. Differenzen zu Trutz Rendtorff .................................................. 233 5. Die empirisch-historische Wende und ihre Konsequenzen 5.1 Die Wende .................................................................... 5.2 Karl Barths neuevangelische Wendetheologie .............. 5.3 Erträge der späten Auseinandersetzung mit Barth ........ 5.4 Parallelen positioneller Barthkritik ...............................
236 242 250 252
6. Ertrag: Die Barthdeutung Falk Wagners .................................... 254
Inhalt
7
7. Gottes und des Menschen Freiheit – die systematische Pointe Wagnerschen Denkens ....................... 255 Teil 3: Historisierung der Theologie Karl Barths (Friedrich Wilhelm Graf) 1. Einführung .................................................................................. 259 2. Die Freiheit der Entsprechung zu Gott – Deutung und Kritik der Anthropologie Karl Barths ................... 259 3. Theologie als implizite Elitetheorie – Grafs Neuansatz ............. 267 4. Die Historisierung Barthscher Theologie 4.1 Das Programm der Historisierung ................................ 4.2 Die antihistoristische Revolution nach Ernst Troeltsch 4.3 Die Theologie Barths im Kontext der antihistoristischen Revolution ...................................... 4.4 Historisierung als Kritik ...............................................
276 277 281 286
5. Die politische Wirkung der Theologie Barths ............................ 289 6. Karl Barth und die Politik während der Weimarer Republik 6.1 Frühe Belege zum Demokratieverständnis ................... 6.2 Die Auseinandersetzung mit dem Liberalismus ........... 6.3 Barths politische Haltung in der Weimarer Republik ....................................................... 6.4 Eine Problemanzeige ....................................................
302 305 313 321
7. Barths politisches Urteil nach 1945 ............................................ 323 8. Ertrag: Barthdeutung als Historisierung ..................................... 326 Teil 4: Karl Barths dialektische Theologie (Dietrich Korsch) 1. Einführung .................................................................................. 331 2. Die Kritik der neuzeittheoretischen Barthdeutungen ................. 332 3. Der alternative Rekonstruktionsversuch – die Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums ................... 336 4. Die Selbstbezeugung Jesu Christi – das Faktum als Voraussetzung der Rationalität ............................................. 341 5. Karl Barth und die liberale Theologie ........................................ 344 6. Dialektische Theologie im Kontext der Postmoderne ................ 348 7. Bedingungen der Deutung und Rezeption dialektischer Theologie nach Karl Barth .................................... 353 8. Ertrag .......................................................................................... 355
8
Inhalt
Teil 5: Karl Barths praktische Theologie (Georg Pfleiderer) 1. Einführung .................................................................................. 357 2. Zum Ansatz der Deutung ............................................................ 357 3. Der Kontext der Theologie Barths .............................................. 364 4. Die Entwicklung der Theologie Barths ...................................... 371 5. Kultursynthetische Aufgaben der Dogmatik – das konstruktive Potential Barthscher Theologie ....................... 403 6. Ertrag .......................................................................................... 405 Teil 6: Schluss 1. Ergebnisse der Untersuchung ..................................................... 409 2. Konsequenzen: Die Aufgabe fundamentaltheologischer Reflexion als Prolegomenon der Barthdeutung .......................... 414 3. Ausblick: Kriterien einer angemessenen Deutung der Theologie Karl Barths ................................................................. 424 Literatur .................................................................................................. 429 Personenregister ..................................................................................... 443
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2006 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie durchgesehen und geringfügig überarbeitet. Denen, die den Entstehungsprozess mit ihrem Rat und ihrer Unterstützung begleitet haben, gilt mein herzlicher Dank – allen voran Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Beintker, der diese Arbeit angeregt und betreut hat. Er stand mir stets im kritischen Gespräch zur Seite und gewährte mir die Freiheit zur Entfaltung meiner Überlegungen. Frau Prof. Dr. Friederike Nüssel danke ich ebenfalls für ihre Unterstützung und die Übernahme des Zweitgutachtens. Einen besonderen Dank schulde ich den Freunden, die sich die Zeit nahmen, meine Überlegungen mit mir zu diskutieren: Stephanie Bermges, Dr. Dirk Klute, PD Dr. Michael Korthaus, PD Dr. Martin Laube, Sebastian Schneider, Markus Schröder, Dr. Jens Wolff und Dr. Peter Zocher haben durch ihre Anregungen und ihre Geduld wesentlich zum Entstehen der Arbeit beigetragen. Für die Erlaubnis zur Einsichtnahme in bislang unveröffentlichte Quellen danke ich dem Stiftungsrat der Karl Barth-Stiftung, namentlich Herrn Dekan Dieter Zellweger. Während eines Forschungsaufenthaltes im Karl Barth-Archiv Basel haben mir dessen Leiter Herr Dr. Hans-Anton Drewes, sowie der ehemalige Leiter Herr Dr. Dr. h.c. Hinrich Stoevesandt und seine Frau Elisabeth Stoevesandt mit Rat und Tat zur Seite gestanden – dafür danke ich ihnen sehr herzlich. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat das Entstehen der Untersuchung durch die Gewährung eines Graduiertenstipendiums ermöglicht. Für die Unterstützung danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung sowie meinem Vertrauensdozenten Herrn Prof. Dr. Johannes Hahn. Die Veröffentlichung wurde durch namhafte Druckkostenzuschüsse der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung sowie der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands unterstützt. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und insbesondere Frau Tina Bruns und Herrn Christoph Spill danke ich für die gute verlegerische Betreuung, Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar und Herrn Prof. Dr. Gunther Wenz für die Aufnahme in die »Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie«.
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Vorwort
Schließlich bin ich meiner Familie zu großem Dank verpflichtet. Mein Bruder Dr. Thomas Holtmann hat mich mit seinem kritischen Rat begleitet. Seit dem Beginn des Studiums hat mir meine Frau Dorothea Frauböse den Rücken gestärkt und mich unterstützt. Meine Eltern Marianne und Wilhelm Holtmann haben mir die Freiheit zum eigenständigen Studium gewährt – ohne ihren Rückhalt hätte ich meinen Weg nicht gehen können. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.
Mettingen, im Sommer 2006
Stefan Holtmann
Einleitung
1. Karl Barth als Theologe der Neuzeit – Facetten eines umstrittenen Themas Dass Karl Barth Theologe in der Neuzeit war, ist eine triviale Einsicht, die unumstritten sein dürfte. Denn die äußeren Daten seines Lebens fallen schließlich in jene Zeitspanne, die – wie auch immer ihre Kennzeichen im Detail bestimmt werden – mit dem Begriff der »Neuzeit« umschrieben wird. Barths Theologie ist darüber hinaus mit den Themen und Problemen, die diese Epoche bewegen, auf vielfältige Weise verschränkt. So impliziert theologisches Denken nach Karl Barth konstitutiv ein Wort zur »geistigen Lage der Zeit«. Seine Äußerungen zur politischen Zeitgeschichte und seine umfangreiche Korrespondenz mit Zeitgenossen illustrieren diesen Grundzug seines Werks beispielhaft und eindrücklich. Aber auch Barths Theologie selbst weist unverkennbar genuin »neuzeitliche« Züge auf, denn ihr stehen keine anderen gedanklichen und sprachlichen Mittel als die ihrer Zeit zur Verfügung. So ist Barths Sprachstil, wie häufig bemerkt wurde, zeitweilig »expressionistisch« geprägt. Die Theologie Barths ist auch darin »neuzeitlich«, dass sie in kritischer Auseinandersetzung mit Vertretern und Entwürfen vorangegangener und zeitgleicher Gestalten genuin neuzeitlicher Theologie und Philosophie entfaltet wird. Bevor und während Barth seinen ersten dogmatischen Entwurf mit dem Unterricht in der christlichen Religion in Göttingen liest, setzt er sich mit Schleiermacher, der bis heute unumstrittenen »Vaterfigur« neuzeitlicher Theologie, kritisch auseinander.1 Er gibt zu einem bestimmten Zeitpunkt Ludwig Feuerbach gegen die Theologie recht,2 er hält Franz Overbeck für ungemein lesenswert,3 er schätzt Im1 BARTH, Die Theologie Schleiermachers (1923/1924). Barth stellt Schleiermacher hier als Beispiel für das gesamte 19. und 20. Jahrhundert dar: »[…] je höher man Schleiermachers Leistung an sich einschätzt, je besser man auch einsieht, mit welcher geschichtlichen Notwendigkeit sie kommen mußte und wie gut – wie nur zu gut – sie zu dem ganzen Geist des 19. und 20. christlichen Jahrhunderts paßte – desto besser weiß man auch, wie leicht es ist, hier mit Worten Nein! zu sagen, wie schwer dagegen mit der Tat, nämlich mit der positiven Gegenleistung. Schleiermacher hat seine Sache zweifellos gut gemacht.« (ebd., 462f). 2 BARTH, Ludwig Feuerbach. S. hier etwa ebd., 239: »Solange […] die Rede ›Vom Gott im Menschen‹ nicht in der Wurzel abgeschnitten ist, haben wir keinen Anlaß, Feuerbach zu kritisieren, sind wir mit ihm ›getreue Kinder seines Jahrhunderts‹.« 3 BARTH, Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie.
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Einleitung
manuel Kants »grenzbewusste« Vernunft4 und hat nach eigenem Bekunden während seiner Studienzeit dessen drei »Kritiken« intensiv studiert. Sein theologisches Denken nimmt seinen Ausgang in der späten Kaiserzeit in der Spannung zwischen der »positiven Theologie«, repräsentiert durch seinen Vater Fritz Barth, und der »liberalen Theologie« seiner selbstgewählten akademischen Lehrer Adolf von Harnack und Wilhelm Herrmann. Barth zählte zu den Hörern des Marburger Philosophen Hermann Cohen. Er beschäftigte sich folglich mit Theologie und Philosophie »auf der Höhe der Zeit«.5 Dass die Frage nach Karl Barths Ort innerhalb der Neuzeit und zugespitzt nach der spezifischen Neuzeitlichkeit seines Denkens vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen ebenso anspruchsvoll wie viel versprechend im Blick auf eine angemessene Deutung seines Werks ist, dürfte unmittelbar einleuchten. Bis in die jüngste Geschichte der Barthdeutung hinein ist es jedoch genau dieses Thema der Neuzeitlichkeit Barthscher Theologie, an dem die unterschiedlichen Ansätze in größte Uneinigkeit geraten. Dieses Problem soll zunächst durch einige Beobachtungen zur jüngeren Forschung beleuchtet werden. Karl Barth als Theologe der Neuzeit Den tiefsten Einschnitt in der Forschungsgeschichte und zugleich den Ausgangspunkt einer größeren Präsenz der Frage nach der Neuzeitlichkeit Barthscher Theologie markiert der Tod Karl Barths im Jahre 1968. Bis dahin war Barth selbst der Gesprächspartner seiner Deutungen, er benannte unterschiedliche Einflüsse und Ereignisse, die seinen Denkweg in besonderer Weise beeinflusst hatten.6 Einer umfassenden Selbstverortung im Sinne einer »Selbstkontextualisierung« und »Selbsthistorisierung« seines Denkens im Horizont der Neuzeit hingegen schien Barth zurückhaltend bzw. skeptisch gegenüber zu sein.7 Bald nach Barths Tod kam es jedoch zu mehreren Neuansätzen, die überaus umstritten waren und die Barthforschung für längere Zeit in Züge eines »Stellungskriegs« annehmende Auseinandersetzungen um eine angemessene Deutung führten. Im Jahre 1969, ein Jahr nach Barths Tod und 50 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Römerbrief4
Vgl. dazu BEINTKER, Grenzbewußtsein. Zur Wendung s. LINK, Theologie auf der Höhe der Zeit. 6 Vgl. hier die in der Karl Barth-Gesamtausgabe dokumentierten »Gespräche« der Jahre von 1959 bis 1968. 7 Vgl. dazu Barth an Koepp, 11.7.1930 (Original im KBA), hier im Blick auf den ersten, den geistesgeschichtlichen Kontext skizzierenden, Teil von Koepps Studie Die gegenwärtige Geisteslage und die »dialektische« Theologie: »Sie werden sich nicht wundern, von mir zu hören, dass ich solche geistesgeschichtlichen Ueberblicke, wie den im ersten Teil Ihrer Schrift von Ihnen gebotenen, nicht eben liebe und theologisch irgendwie für unmöglich halte. Das hindert übrigens nicht, dass ich auch diese Seiten mit Interesse gelesen habe, nur eben mit der Frage, was das mit Theologie zu tun haben möchte.« 5
Karl Barth als Theologe der Neuzeit
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kommentars, stellte ein Exponent jener Neuansätze, der Münchner Systematische Theologe Trutz Rendtorff fest: »Die Frage nach der angemessenen Barthdeutung fängt erst jetzt an, von wirklicher Dringlichkeit zu werden.«8 Trutz Rendtorff gehört gemeinsam mit Falk Wagner auf der einen und Friedrich-Wilhelm Marquardt auf der anderen Seite zu jenen Theologen, die diese erste »heiße Phase« der Barthdeutung in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eröffneten. Das Spektrum dieser Polyphonie der Deutungsangebote zur Theologie Barths lässt sich durch Friedrich-Wilhelm Marquardts Studie Theologie und Sozialismus auf der einen und durch den von Trutz Rendtorff herausgegebenen Band Die Realisierung der Freiheit auf der anderen Seite abstecken. Der von Rendtorff initiierte Deutungsansatz trägt seine besondere Pointe darin, dass Barths Theologie als Fortführung der Theoriebildungen des Neuprotestantismus bzw. der »liberalen Theologie« verstanden wird. Die »Neuzeitlichkeit« Barthscher Theologie bedeutet hier ihre konsequente Einbettung in die Theorielandschaft der Geisteswissenschaften in der Zeit um den Ersten Weltkrieg und damit den Widerspruch gegen das verbreitete und an Barths Selbstdarstellung orientierte Bild, seine Theologie und die dialektische Theologie insgesamt impliziere einen fundamentalen Widerspruch gegen die »liberale Theologie« und habe die ursprüngliche »Sache« der Theologie neu entdeckt.9 Theorievergleichend verfährt auch Falk Wagner anknüpfend an Trutz Rendtorff. Die Betonung der spezifischen Neuzeitlichkeit Barthscher Theologie wird von Wagner mit dem Hinweis auf Strukturparallelen der Theoriekonzeptionen von Nationalsozialismus und Stalinismus bzw. Leninismus verknüpft. Barthdeutung und -kritik hängen so eng miteinander zusammen. In den 80er und beginnenden 90er Jahren wurde gegenüber jener ersten Phase nach und nach eine Versachlichung und exegetische Schärfung der Barthdeutung erreicht. In diese Phase fallen die Studien von Herbert Anzinger,10 Michael Beintker,11 Cornelis van der Kooi12 und Ingrid Spieckermann,13 darüber hinaus treten Autoren des angelsächsischen Bereichs in den Reigen 8
RENDTORFF, Theorie des Christentums, 162. Entgegen der früheren liberal-theologischen Kritik an Barths Theologie wird Barth damit als Subjekt wissenschaftlicher Theologie verstanden. Vgl. HARNACK, Nachwort zu meinem offenen Brief an Herrn Professor Karl Barth (in: Briefwechsel Barth-Harnack, 85): »Paulus und Luther sind mir allerdings in erster Linie nicht Subjekte, sondern Objekte der wissenschaftlichen Theologie, und ebenso Herr Kollege Barth und alle diejenigen, welche wie Prediger ihr Christentum als Propheten und Zeugen zum Ausdruck bringen, mögen sie dies nun in biblischen Kommentaren oder in Dogmatiken usw. tun.« 10 ANZINGER, Glaube und kommunikative Praxis. 11 BEINTKER, Die Dialektik in der »dialektischen Theologie« Karl Barths. 12 VAN DER KOOI, Anfängliche Theologie. 13 SPIECKERMANN, Gotteserkenntnis. 9
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Einleitung
der »Barthinterpreten« ein – nicht zuletzt im Jahre 1989 Bruce L. McCormack mit seiner Dissertation Karl Barth’s Critically Realistic Dialectical Theology. Diese Arbeiten sind jeweils bestimmten Abschnitten der Genese und Entwicklung Barthscher Theologie gewidmet, sie rekurrieren auf bis dahin unerschlossene Quellen – insbesondere den Unterricht in der christlichen Religion14 –, sie diskutieren minutiös den Einfluss anderer Theoriekonzepte und Gedankengänge auf Barths Theologie, etwa den Einfluss Kants, Kierkegaards oder Heinrich Barths und damit verbunden des Marburger Neukantianismus. Nicht zuletzt in der stärkeren Berücksichtigung der frühen Studien und Skizzen Barths seit dem Jahr 1909 ist ein bedeutsamer Fortschritt zu sehen, sofern sich der Paradigmenwechsel von »liberaler« zu »dialektischer« Theologie nicht länger als Übergang zwischen zwei theologischen Epochen und deren Vertretern darstellen lässt, sondern in der Entwicklung Karl Barths selbst – wie der anderen »dialektischen Theologen« – verfolgt werden kann und muss. Für die Frage nach der Neuzeitlichkeit Barthscher Theologie scheint sich damit ein gänzlich neuer Horizont eröffnet zu haben. Die Beschäftigung mit dem »frühen« Barth führt offenbar auf die Spuren einer gewissen Kontinuität zwischen »liberaler« und »dialektischer« Theologie und somit zu einem Verständnis von Theologie im Horizont der Neuzeit, welches es fraglich erscheinen lässt, inwiefern von einem »Bruch« am Beginn des 20. Jahrhunderts gesprochen werden kann. Demgegenüber traten die früheren Vertreter kritischer Deutungen Karl Barths als eines neuzeitlichen Theologen in den Hintergrund: hatten sie sich in ihrer »emanzipatorischen Frühphase« während der 70er Jahre kritisch mit Barth im Medium der Deutung auseinandergesetzt und diesen sodann als Vorläufer und Wegbereiter des eigenen am Neuprotestantismus orientierten Neuaufbruchs reklamiert, so widmeten sie sich in den 80er Jahren zumeist eigenen konstruktiven theologischen Versuchen. In diese Zeit fällt die Ausarbeitung von Trutz Rendtorffs Programm »ethischer Theologie«,15 sowie Falk Wagners umfängliche Monographie Was ist Religion?16 Friedrich Wilhelm Grafs Untersuchungen zur »antihistoristischen Revolution« und zur politischen Haltung und Wirkung Barths in der Weimarer Republik dürften während dieser Zeit den einzigen entscheidenden materialreichen neuen Impuls aus den Reihen der Barthinterpreten darstellen, die in dem Band Die Realisierung der Freiheit miteinander verbunden waren.17 14
BARTH, Unterricht in der christlichen Religion, Bd. I–III. RENDTORFF, Ethik I–II. Obgleich Rendtorff an den grundlegenden Anfragen an die weiterhin »etablierte« Barthforschung festhält. Dies wird in seinem im Jahre 1986 – im Kontext des 100. Geburtstages Barths – veröffentlichten Aufsatz Karl Barth und die Neuzeit deutlich. 16 WAGNER, Was ist Religion. 17 GRAF, Die antihistoristische Revolution; vgl. zudem Grafs im Jahre 1986 eröffnete Auseinandersetzung um die politische Haltung Barths während der Weimarer Republik (s.u. Teil 3). 15
Karl Barth als Theologe der Neuzeit
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In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ergibt sich dann jedoch wiederum ein neues Bild: Michael Murrmann-Kahl,18 Jörg Dierken,19 Folkart Wittekind20 und Georg Pfleiderer21 legten ihrerseits Studien vor, in denen Barths Theologie umfangreichen kritischen Rekonstruktionen unterzogen wurde. Vor dem Hintergrund der exegetischen Schärfung des theologiegeschichtlichen Vorgehens, der verbesserten Quellenlage sowie der grundsätzlich nachlassenden Politisierung der theologischen Landschaft würde es nahe liegen, in dieser Phase der Barthdeutung eine neue und den früheren Phasen gegenüber erheblich größere Einigkeit hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes zu erwarten. Bei genauerem Hinsehen indes zeigt sich, dass der einstmals explizite Streit der Barthdeutungen um die Frage nach dem Ort Karl Barths in der Neuzeit keinesfalls zum Stillstand gekommen ist, sondern vielmehr implizit – deswegen freilich gelegentlich nur schwer zu fassen – im Medium der Rekonstruktion fortgeführt wird. Dies soll im Folgenden anhand der Untersuchung von Georg Pfleiderer exemplarisch gezeigt werden.22 Pfleiderer stellt seinen Deutungsansatz explizit in die Tradition der früheren Untersuchungen von Rendtorff, Wagner und Graf, in der materialreichen Entfaltung seiner Studie knüpft er an den durch die vorangegangenen Arbeiten insbesondere Anzingers, Spieckermanns und McCormacks erreichten Diskussionsstand an. Der implizite Streit darum, inwiefern Barths Theologie sich den vorangegangenen Theoriegestalten neuzeitlicher Theologie einfügt, begegnet insbesondere in jenen Passagen von Pfleiderers Untersuchung Karl Barths praktische Theologie, in denen er Bezug auf die älteren Arbeiten Spieckermanns und McCormacks nimmt. Es sind Passagen, in denen es um die grundlegende Beurteilung der Entwicklung geht, die Barths Denken im Umfeld des Ersten Weltkriegs durchlief. Stellt etwa Ingrid Spieckermann fest: Barths Bruch mit der liberalen Theologie ist wesentlich ein Bruch mit der diesen Varianten sekundär-uneigentlicher Gotteserkenntnis zugrundeliegenden Prämisse der Identität von rationaler und sachlicher Unmöglichkeit der Gotteserkenntnis – und mit ihr zugleich, jeden Rückweg dorthin a limine ausschließend, des metaphysischen 18
MURRMANN-KAHL, Mysterium Trinitatis. DIERKEN, Glaube und Lehre. 20 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung. 21 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie. 22 Für diese Beschränkung sprechen neben pragmatischen Gründen, sofern eine umfassende Darstellung aller neueren Beiträge auf den Bahnen des angestrebten Verfahrens nicht zu realisieren ist, vor allem sachliche Gründe. Pfleiderer stellt sich dezidiert in die Traditionslinie der Untersuchungen Grafs, Wagners und Rendtorffs und legt einen maßgeblichen Beitrag zum Gesamtbild der Theologie Barths vor. Demgegenüber sind die anderen Studien entweder auf bestimmte sachliche Schwerpunkte im Vergleich zu anderen Entwürfen fokussiert (Dierken; Murrmann-Kahl) oder zeitlich zu beschränkt (Wittekind). 19
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Einleitung
Modells der Identität von rationaler und sachlicher Möglichkeit der Gotteserkenntnis, als dessen abkünftige neuzeitliche, subjektiv-reduktive Kehrseite sich die liberale Theologie nicht erst in ihrer sekundären Einzeichnung praktisch-begrenzter rationaler Objektivität in die subjektive Religiosität (Ritschl-Kaftan), sondern bereits in ihrer genuinen Auflösung der Objektivität der Gotteserkenntnis in die Subjektivität des religiösen Gefühls und Erlebnisses (Schleiermacher/Herrmann) erweist. Mit der neuen, entgegen ihrer hier wie dort problematischen Vermengung von rationaler und theologischer Objektivität dezidiert theologischen Frage nach der sachlichen – im kritischen Unterschied zur rationalen – Möglichkeit der Gotteserkenntnis ist alles andere als ein repristinatorischer Akt bezeichnet. Vielmehr markiert sie den Beginn einer grundlegenden theologischen Lösung aus der geistesgeschichtlich überkommenen und liberales wie metaphysisches Denken gleichermaßen kennzeichnenden natürlich-theologischen Umklammerung der theologischen Erkenntnislehre und Methodik aus dem Kern des theologischen Sachthemas heraus. »Gotteserkenntnis« ist das Signum einer ganz neuen, sachgeleiteten Grundlagenbesinnung der Theologie. 23
So kommentiert Pfleiderer dies: »Mit dem Hinweis auf die tatsächliche oder intendierte ›Theologizität‹ der Barthschen Theologie« werde »eine normative Deutungsperspektive ins Spiel gebracht«, ein »höherstufiges Deutungsschema, das aber als solches methodologisch nicht reflektiert wird; es tritt faktisch selbst wiederum als religiöse Deutung in Erscheinung«.24 Ebenso wird gegen Bruce McCormacks Deutung eingewendet: Die von McCormack im Gefolge Spieckermanns unternommene, der Absicht nach immanent erkenntnistheoretische Rekonstruktion der Barthschen Theologie basiert bei ihm ihrerseits auf einer religiösen Beschreibung von deren Grundintention, die als solche aber nicht noch einmal reflektiert wird.25
Und pointiert heißt es im Blick auf Spieckermann, McCormack und Anzinger, die übereinstimmend die Wendung der Theologie Barths, die sich in der Auseinandersetzung mit der liberalen Theologie während des Ersten Weltkriegs vollzogen hat, als Diskontinuität beschreiben: Daß diese Deutungen ein optisch zutreffendes Bild von Barths theologischer Entwicklung im Verlauf des Ersten Weltkriegs zeichnen, ist genauso wenig zu bestreiten, wie die Tatsache, daß sich eine solche Beschreibung mit Barths Selbstwahrnehmung deckt. Doch diese Deutungen sind analytisch unzureichend. Da sie selbst […] in einer wirkungsgeschichtlichen Abhängigkeit von Barths Theologiebegriff stehen, kommt ihnen die Bestimmtheit der theologischen Konstruktion, die hier vorliegt, nicht ausreichend zu Gesicht.26 23
SPIECKERMANN, Gotteserkenntnis, 17. Ebd. Anm. 30 stellt Spieckermann noch präziser fest, dass »es sich in der Frage der Gotteserkenntnis um keinen philosophiegeschichtlichen Rückschritt, sondern um einen kritisch-theologischen Schritt über die Philosophiegeschichte hinaus handelt«. 24 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 161. 25 Ebd., 172; hier wird Gabriele Obst in die Kritik eingeschlossen (ebd. Anm. 136). 26 Ebd., 263f.
Karl Barth als Theologe der Neuzeit
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Jene problematischen Interpretationsvoraussetzungen in Gestalt eines von Barth wirkungsgeschichtlich abhängigen Theologieverständnisses verursachen in Pfleiderers Perspektive eine folgenreiche Verzerrung des Bildes Barthscher Theologie. So führe das »verbreitete Interesse am Nachweis eines diskontinuierlichen Entwicklungsverlaufs der Barthschen Theologie«27 dazu, dass deren sukzessive Entwicklung in der Kontinuität seines liberal-theologischen Denkens unterbelichtet bleibe. Unterbestimmt bleibe zudem etwa der von Lohmann und Spieckermann herausgestellte neukantianische Theoriehintergrund Barths, insofern er mit der vorausgesetzten »Theologizität« nicht abgeglichen würde. Zwar bestreitet Spieckermann in dem oben angeführten Zitat keineswegs, dass Barths Theologie in den Kontext der Neuzeit gehört, jedoch wird die – von Pfleiderer bestrittene – Auffassung vertreten, dass mit der theozentrischen Wende Barths sachlich Neues festzustellen sei, dessen Grund in einer spezifisch theologisch zu erfassenden Sache liege. Barths vertritt insofern Neues in der Neuzeit. Pfleiderers Hinweis auf das vorausgesetzte Theologieverständnis führt auf die Spur der Brisanz, die in der – in dieser Hinsicht umstrittenen – Frage nach der Neuzeitlichkeit Barthscher Theologie liegt. Schon die Schärfe der früheren Auseinandersetzungen lässt sich nicht hinreichend als Ringen um eine angemessene Barthdeutung um des theologiegeschichtlichen Interesses willen verstehen. Die Auseinandersetzung wird hintergründig um das Theologieverständnis unter neuzeitlichen Bedingungen geführt, um das Theologieverständnis, welches den Rekonstruktionen selbst zugrunde liegt und darum die Deutung dessen, was Barth in seinem umfangreichen Werk vorlegte, leitet und perspektivisch zuspitzt. Schon diese wenigen Hinweise lassen erkennen, dass Friederike Nüssel jüngst durchaus zutreffend feststellte: Das Grundproblem der Theologiegeschichtsschreibung besteht […] darin, dass in den meisten theologiegeschichtlichen Darstellungen der konfessionelle Standpunkt und das jeweilige positionelle bzw. normative Interesse entweder implizit oder sogar explizit vertreten werden.28
Insofern es nun schon erkenntnistheoretisch unmittelbar einleuchtet, dass die Einnahme einer bestimmten Perspektive jeglicher Deutung unumgänglich ist, wird die Theologiegeschichtsschreibung kaum zu einem neutralen Feld erklärt werden können, auf dem sich eine Einigkeit erzielen lässt, die in der konstruktiven Entfaltung theologischen Denkens als System unerreichbar scheint. Es wird aber zu erwarten sein, dass die unterschiedlichen Barthdeutungen explizit über ihre Perspektivität Rechenschaft ablegen, darüber also, 27 28
Ebd., 240. NÜSSEL, Theologiegeschichte, 220.
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Einleitung
wie Theologie in der Neuzeit zu verstehen sei. Sowohl die theologiegeschichtliche Bedingtheit des eigenen Standortes als auch der jeweils vorausgesetzte Theologie- bzw. Theoriebegriff bedürfen der Aufklärung. Sollten die Beobachtungen zur impliziten Auseinandersetzung um das Theologieverständnis zutreffen, so dürfte eine Untersuchung der vorausgesetzten Theologiekonzepte und der jeweils als spezifisch »neuzeitlich« ermittelten Probleme und Themen der Theologie von einiger Bedeutung für die gegenwärtige Barthdeutung sein. Eine solche Untersuchung kann aus diesem Grund allerdings nur sehr vermittelt einen Beitrag zum Verständnis der Theologie Barths selbst darstellen, ihr primäres Ziel dürfte ein Dienst an der Barthdeutung sein.29
2. Zum Aufbau der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung soll dem Zweck dienen, die Perspektivität neuerer Barthdeutungen anhand ausgewählter Beispiele herauszuarbeiten und ihre erkenntnisleitenden Interessen und die Grenzen ihrer Perspektivität kritisch zu beleuchten. Sie soll damit die theologiegeschichtliche Herkunft gegenwärtig vertretener Barthdeutungen erhellen und jene Grenzen markieren, an denen unterschiedliche Perspektiven in Widerspruch zueinander geraten. Auf dieser Grundlage, dies ist die Hoffnung, die sich mit der Untersuchung verbindet, könnte es möglich werden, in einen um Verständigung im Horizont des Untersuchungsgegenstandes, der Theologie Barths, bemühten Diskurs einzutreten, in welchem die Beteiligten sich der Grenzen ihres eigenen Ansatzes bewusst blieben. Von Interesse sind hier insbesondere die Barthdeutungen Trutz Rendtorffs, Falk Wagners und Friedrich Wilhelm Grafs, die die Frage nach dem Ort Karl Barths in der Neuzeit in besonderer Weise aufwarfen und pointiert zu beantworten suchten. Der theologiegeschichtliche Kontext, in dem sich diese Frage aufdrängte, soll abgesteckt werden, Deutungsverfahren und -schwerpunkte sollen sodann nachgezeichnet und deren Reichweite ermessen werden. Die Ergebnisse dieser Abschnitte werden sodann exemplarisch mit zwei neueren Deutungsversuchen von Dietrich Korsch, der einen durchaus kritisch jedoch zugleich konstruktiv an jene ersten Versuche anknüpfenden Ansatz vertritt, und dem bereits erwähnten von Georg Pfleiderer ins Gespräch gebracht. Es ist hier zu fragen, inwiefern die früheren Deutungsansätze aufgenommen werden, inwiefern das dort leitende Theologiever29 Insofern wird diese Untersuchung keinen direkten Forschungsbeitrag zum Thema »Karl Barth und die Neuzeit« erbringen, sondern zur Klärung der Implikationen jener Frage nach »Karl Barth und der Neuzeit« beizutragen versuchen.
Zum Aufbau der Untersuchung
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ständnis in der Adaption modifiziert wird und sich schließlich auf die Ausgestaltung der Barthdeutung auswirkt. Zum Aufbau der Untersuchung Diese Untersuchung selbst trägt freilich ebenfalls perspektivischen Charakter. Es ist darum vorab offen zu legen, dass dem Verfasser die grundsätzliche Verhältnisbestimmung von fides und intellectus, die Barth vorschlug, nicht gänzlich unplausibel scheint. Dass dem theologischen Reflexionsvollzug ein Erschließungsgeschehen vorangeht, welches sich in der Begegnung mit dem biblischen Kerygma begründet und vermittelt durch »Predigt« – die hier allerdings im weitest möglichen Sinne verstanden sein soll – einstellen kann, das in seinem Sich-Einstellen aber letztlich unverfügbar ist, kann sich der Verfasser selbst als »wahr« aneignen und dies damit auch als von Barth selbst als vorausgesetzt erfahrenes »Prae« seines theologischen Denkens gelten lassen. Um vor diesem Hintergrund jene Barthdeutungen, denen ein anderes Verständnis der Theologie als evident erscheint, nicht von vornherein zu missverstehen, soll im Folgenden ein Weg beschritten werden, auf welchem die Barthdeutungen möglichst präzise werkgeschichtlich und unter Berücksichtigung ihrer theologischen und außertheologischen Gesprächspartner und Bezugspunkte eingeordnet werden und eine möglichst klare Bestimmung dessen, was Theologie für die jeweiligen Interpreten sei, unter Berücksichtigung ihrer Selbstzeugnisse gesucht wird. Dabei soll vorausgesetzt sein, dass es »Theologie« neuzeitlich nur in pluralen Gestalten gibt, dass sich jedoch auf rationalem Wege eine diskursoffene Rekonstruktion der jeweils leitenden Prämissen, des jeweiligen Verständnisses dessen, was Theologie sei, erzielen lässt. Karl Barth hat im Jahre 1924 Emil Brunner in kritischer Auseinandersetzung mit dessen »Schleiermacherbuch« Hinweise gegeben, die für eine perspektivische theologiegeschichtliche Darstellung weiterhin bedenkenswert erscheinen: Wie, wenn Brunner – er wird es mir nicht als Schulmeisterei auslegen, wenn ich ihm post festum diese Vorschläge unterbreite –, statt mit der großen »Auseinandersetzungs«-Kelle anzurichten, uns einfach ein liebevoll minutiöses Bild seines Mannes gezeichnet hätte, mit den Augen eines Wissenden natürlich (so gut, wie das Schleiermacherbild Diltheys etwa mit den Augen eines Wissenden – nur daß dieser etwas anderes zu wissen meinte – gezeichnet ist!) – aber nicht mit den Augen eines alles wissen Wollenden, und darum, mit Ausnahme einiger nicht zu unterdrückender Randglossen und Zwischenrufe vielleicht, unter resolutem Verzicht auf alles Perorieren, alles Widerlegenwollen, auf den ganzen Kampfapparat und nicht zuletzt auf das allzu öffentliche Schautragen der überwundenen Mächte und Gewalten (Kol. 2,15), das uns ja doch nicht zukommen kann?30
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BARTH, Brunners Schleiermacherbuch, 412f.
Teil 1: Christentumstheoretische Aufhebung der Theologie Karl Barths (Trutz Rendtorff)
1. Einführung Unter den herangezogenen Autoren ist es unstrittig Trutz Rendtorff, dem in einer zeitlichen Abfolge der erste Rang zuzuweisen ist.1 Seinen für Wagner und auch Graf grundlegenden Interpretationszugang veröffentlichte Rendtorff programmatisch im Jahre 1972 unter dem Titel Radikale Autonomie Gottes. Dieser Aufsatz markiert neben der etwa zeitgleich erschienenen Studie Friedrich-Wilhelm Marquardts Theologie und Sozialismus2 den zweiten wirkmächtigen Neuaufbruch innerhalb der Barthdeutung in den Jahren nach Barths Tod. Rendtorffs Interpretation leitet dazu an, die in der dialektischen Theologie gefallenen Grundentscheidungen für das Wort Gottes und gegen die Religion, für Bibel und Reformatoren und gegen den Neuprotestantismus, grundlegend zur Debatte zu stellen und die Frage aufzuwerfen, ob diese Grundentscheidungen bis dahin vor dem Hintergrund der rechten Voraussetzungen interpretiert wurden. Die zur Verhandlung stehende Frage lässt sich dahingehend zuspitzen, ob das Geschichtsbild der »Wiederentdeckung des Themas der Theologie« zutreffend ist, oder ob nicht die Krise des Neuprotestantismus den eigentlichen und hinreichenden Anlass zur radikalen Kritik »der Theologie des 19. Jahrhunderts« und zugleich zur konstruktiven Anknüpfung an deren Problembestände im sprachlichen Rekurs auf vorneuzeitliche Traditionsbestände lieferte. Zum Verständnis der im Jahre 1972 im Horizont des Programms einer Theorie des Christentums vorgelegten Überlegungen zur Deutung der Theologie Barths ist zunächst deren Vorgeschichte im Rendtorffschen Denken nachzuzeichnen. Rendtorff setzt sich hier mit sozialtheologischen Problemstellungen auseinander, zu denen die entscheidenden Beiträge bis dahin vor allem von einer durch den Kirchenkampf geprägten und zumindest
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Vgl. PANNENBERG, Subjektivität Gottes, 96. Zur Rekonstruktion der Christentumstheorie Rendtorffs in ihren theologie- und philosophiegeschichtlichen Bezügen vgl. vor allem die (zeitgleich zu dieser Studie entstandene) detaillierte Untersuchung von LAUBE, Theologie und neuzeitliches Christentum. 2 MARQUARDT, Theologie und Sozialismus. Vgl. dazu SCHMITHALS, Gutachten und Stellungnahmen zu der Habilitationsschrift von Dr. Friedrich-Wilhelm Marquardt.
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
teilweise von Barth beeinflussten Theologengeneration vorgelegt worden waren.
2. Dialektische Theologie und die Aporien der Sozialtheologie Die Anfänge der kritischen Auseinandersetzung mit dem im deutschen Nachkriegsprotestantismus dominierenden Paradigma der »Wort-GottesTheologie« finden sich in Rendtorffs Studien zur sozialtheologischen Problemlage der 50er und 60er Jahre. Die Dissertation Die soziale Struktur der Gemeinde bildet einen ersten Beitrag, der in der Folgezeit durch zahlreiche kleinere Arbeiten fortgeführt und vertieft wird. Die leitende Problemstellung in der damals zeitgenössischen Sozialtheologie, in deren Horizont der eigenständige Rang der Rendtorffschen Untersuchungen deutlich erkennbar wird, tritt in dem Thema »Kirche und Welt« hervor. In den unmittelbaren Kontext der Rendtorffschen Untersuchungen gehört die maßgebliche, einerseits den bisherigen Denkvoraussetzungen verpflichtete, die Problemlage jedoch auf eine neue Ebene hebende Studie HeinzDietrich Wendlands,3 die im Jahre 1956 unter dem Titel Die Kirche in der modernen Gesellschaft veröffentlicht wurde. Im Rahmen des Programms einer »Theologie der Gesellschaft« unternimmt Wendland den Versuch, »auf der ganzen Front die Zuwendung zu den sozialen und ethischen Problemen der modernen Gesellschaft, der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation«4 zu vollziehen, und dies insbesondere im Gespräch mit der Soziologie.5 Ein Grundzug dieses Ansatzes besteht darin, dass das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft vor dem Hintergrund exegetisch-dogmatischer Erwägungen zum Verhältnis von Kirche und Welt bestimmt wird und damit auf der Grundlage einer von Beginn an feststehenden Außenbeziehung der Kirche zur Gesellschaft. Für Wendland hat dieses Gegenüber von Kirche und Gesellschaft seinen Grund in der eschatologischen Botschaft der Kirche, mit der sie sich den »Mächten und Gewalten«, die die Welt beherrschten, als gegenübergestellt erfährt.6 Angesichts der scheinbaren Entfremdung 3 Wendland betreute Rendtorffs Dissertation am Münsteraner Institut für Christliche Gesellschaftswissenschaften – vgl. dazu WENDLAND, Wege und Umwege, 197. 4 Ebd., 195. 5 Ebd. Wendland bezieht sich insbesondere auf Hans Freyer. 6 Zur Unterscheidung von Kirche und Welt und der Verheißung ihrer eschatologischen Aufhebung siehe etwa W ENDLAND, Die Wirkung der christlichen Eschatologie, 149: »Der Mittelpunkt der eschatologischen, neuen Welt ist die neue Gemeinde. Es gibt weder Gemeinde ohne Welt noch Welt ohne Gemeinde. Darum wird das vollendete Reich Gottes die neue Einheit von Kirche und Gesellschaft sein; diese beiden werden dann miteinander vereinigt und ausgesöhnt sein. Sie werden sich nicht mehr wie zwei getrennte Größen gegenüberstehen. Auf dem Boden der irdischen Geschichte, in dieser menschlichen Welt sind Gesellschaft und Kirche von Ungerechtigkeit
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weiter Teile der Gesellschaft von der Kirche, der »Emigration der Gesellschaft aus der Kirche«,7 stehen in der Fluchtlinie der Wendlandschen Untersuchung neue Perspektiven für das kirchliche Handeln im Gegenüber zur Gesellschaft. Die grundlegende Bedeutung exegetischer Einsichten für die Theologie der Gesellschaft erhellt insbesondere vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Werdegangs Wendlands, der erst im Wintersemester 1955/56 einen systematisch-theologischen Lehrstuhl erhielt und zuvor als Neutestamentler in Kiel gelehrt hatte.8 Aporien der Sozialtheologie Das Problem der Entfremdung der Gesellschaft von der Kirche stellt sich konkret angesichts der nur geringen Teilnahme von Kirchenmitgliedern an und Sünde durchwirkt, im Reiche Gottes aber von allem Übel, allem Bösen, insbesondere von allem Streit und aller Uneinigkeit befreit. Kirche und Gesellschaft leben dann vereint im Schauen der Herrlichkeit Gottes, im wahren Gottesdienst der Knechte vor seinem Thron. Hier wird die Trennung von Sonntag und Alltag, die Gegenüberstellung von Gottesdienst einerseits und von ›weltlicher‹, menschlicher Arbeit zur Erhaltung des menschlichen Lebens und der menschlichen Gemeinschaft aufgehoben. Zwischen Gottesdienst und Weltdienst gibt es dann keine Spaltung und keine Konkurrenz mehr.« Die hier benannten Aspekte des eschatologischen Vorbehalts kirchlicher Hinwendung zur Welt sowie die Verbundenheit beider unter der »Sünde« werden von Rendtorff in seiner Rezeption der Problemstellung »Kirche und Welt/Gesellschaft« kaum berücksichtigt. Zum Ort des Theologen gegenüber der Gesellschaft aufgrund der »eschatologisch begründete[n] Freiheit von der Welt« s. WENDLAND, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, 20f (Zitat: 21). 7 Zum Begriff der »Emigration« vgl. WENDLAND, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, 217. 8 Aus der Fortführung des exegetischen Schwerpunktes erwächst die 1970 erschienene Ethik des Neuen Testaments. Zur exegetischen Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt s. WENDLAND, Kirche und Welt im Neuen Testament, insbes. 27: »Dieses [neutestamentliche] WeltVerständnis und -Verhältnis können wir zusammenfassend als eine ebenso kritische wie positive, der Welt von Christus her in der Liebe dienend zugewendete Ethik charakterisieren, welche das Wissen um die eschatologische Grundsituation der Welt nicht preisgibt und daher in geschichtlich wirksamer und fruchtbarer, kritischer Distanz von der Welt verbleibt.«; sowie: D ERS., Über die Einheit von Kirche und Gesellschaft, 64: »Die Formel, die vom ›Gegenüber‹ von Kirche und Gesellschaft spricht, ist eine Kontraktion einer ganzen Reihe von biblisch-theologischen und dogmatischen Aussagen, welche die Distanz der Kirche von der ›Welt‹ und ihre Selbstunterscheidung von der Gesellschaft ausdrücken. Beides ist mit der Existenz der Kirche als Kirche gesetzt, so gewiß die Kirche Christusgemeinschaft, ›Leib Christi‹ oder die Gemeinschaft der durch das Evangelium zum Glauben Berufenen und damit aus der Welt Ausgesonderten ist.« Vgl. auch DERS., Die Kirche in der modernen Gesellschaft, 39–41, sowie insbesondere ebd., 71: »Die Kirche kann […] auch als soziales Gebilde nur theologisch begriffen werden, unter der Leitung des vom Heiligen Geist erfüllten Glaubens. Sie ist, johanneisch geredet, in der Welt, aber nicht aus der Welt, nicht von unten, sondern von oben, aus dem Lichte, dem Geiste, der Wahrheit, nicht aus der Finsternis und der Lüge. Sie ist die geschichtliche Anwesenheit des Reiches Christi oder des Reiches der Gnade in der Welt. Es ist ihre Paradoxie, zugleich geschichtlich und eschatologisch, geistlich und äußerlich, göttlich und menschlich, sozial und doch alle geschichtlichen sozialen Gefüge sprengend und überschreitend in der Welt zu sein, durchaus von Handlungen der Menschen geordnet, aufgebaut, verwaltet und wiederum von den menschlichen Sozial- und Rechtsakten aus vollständig unbegreiflich […]. Deswegen bleibt die Kirche immer das geschichtliche Gegenüber zur Gesellschaft in allen ihren möglichen Formen; die Gemeinde kann in dieser Weltund Menschengeschichte nie Gesellschaft und die Gesellschaft niemals vollständig Gemeinde werden. Gemeinde und Gesellschaft sind eins erst in der zukünftigen, erlösten Menschheit des Reiches Gottes.«
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dem kerngemeindlichen Leben der Parochien. Wendland sieht den entscheidenden Schlüssel zur Bewältigung dieser Situation in der Hinwendung zur biblisch bezeugten christlichen Botschaft, in deren Dienst die Kirche in eine Expansionsbewegung versetzt werden müsse.9 Im Dienste dieser Expansion steht die Aufnahme sozialwissenschaftlicher Einsichten. Es entsteht der Eindruck, dass unter den in der modernen Gesellschaft »funktionalisierten Menschen«10 die neue Weckung von »Christlichkeit« erfordert ist, die gleichbedeutend mit kerngemeindlicher »Kirchlichkeit« ist. Der imperativisch formulierte Auftrag zum »Dienst der Kirche an der Gesellschaft« auf der Grundlage eines Verständnisses der Gesellschaft, welches diese theologisch als Welt zu einem Außerhalb der Kirche qualifiziert, in das diese sich missionarisch hineinzubegeben vermag, scheint zudem vorauszusetzen, dass die empirische, kerngemeindliche Kirche der »sichere« Ort sei, von dem aus die Begegnung mit der ausgewanderten Gesellschaft initiiert werden könne.11 Die Bedeutung des Wendlandschen Ansatzes gewinnt klare Konturen im Vergleich zu früheren Überlegungen zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft bei Otto Weber, welche dieser in dem Band Versammelte Gemeinde veröffentlichte. Weber legt folgende theologische Bestimmung zu Grunde: »Kirche vollzieht sich, indem die Gemeinde sich versammelt.«12 Die Kirche wird hier als die konkrete Versammlung der Kerngemeinde verstanden, welche in der Tradition der urchristlichen Gemeinde konstituiert und der Welt gegenüber abgegrenzt und ausgesondert sei, indem diese Sammlung und Sonderung »kraft des ihr gegebenen Wortes geschieht, im Glauben, in der Taufe, im heiligen Mahl, in der Versammlung«.13 Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses der Kirche ergebe sich aber das Problem, »daß wir heute Tausende und Abertausende von Mitgliedern ›haben‹, die sich durch-
9 WENDLAND, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, 209: »Die Aufgabe ist […] die, die faktisch aus dem Mitleben mit der Kirche herausgefallenen Massen überhaupt erst wieder mit der Botschaft und dem Dienst der Kirche zu erreichen, sie mit der Botschaft neu zu konfrontieren oder sie ins Gegenüber, in die Begegnung mit der Kirche zu bringen, was die Voraussetzung für die Möglichkeit der Entscheidung, also für das Ja des Glaubens oder das Nein des Unglaubens bildet.« 10 Vgl. WENDLAND, Das System der funktionalen Gesellschaft und die Theologie, hier 124f: »Das System der funktionalen Gesellschaft funktionalisiert den Menschen; das heißt er ist in diesem System nur als Funktion und ›Funktionär‹ unterzubringen und zu brauchen, nicht aber als ganzer Mensch, als Vollperson […], wobei die Funktionen des arbeitenden Menschen gleichsam haarfein aufgespalten sind, also nicht mehr ein Gefüge sinnvoll ineinandergreifender Handgriffe und Tätigkeiten mannigfaltiger Art darstellen.« 11 WENDLAND, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, 219, sieht zwar die Notwendigkeit, die alten Parochialstrukturen aufzubrechen, jedoch zeigt sich gerade in seinen Überlegungen zur »Para-Gemeinde« (ebd., 220–235), dass diese auf die Parochien bezogen bleiben und wesentliche Elemente des kerngemeindlichen Lebens aufweisen sollen. 12 WEBER, Versammelte Gemeinde, 163. 13 Ebd., 167.
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aus nicht versammeln und auch gar nicht versammeln wollen«.14 Die Kirche könne darauf nur mit der Bereitschaft reagieren, »klein zu werden, wenn sie nur um diesen Preis Kirche sein kann«.15 Die von Weber gefolgerten praktischen Konsequenzen weichen somit deutlich von der durch Wendland geforderten Öffnung der Kirche der Gesellschaft gegenüber ab. Neben dem mit dem Konzept der Kirche als versammelter Gemeinde unvereinbaren Partizipationsverhalten der Mitglieder beruht dieser Rückzug auf die kerngemeindliche Versammlung auf Webers Misstrauen dem Begriff der »Volkskirche« gegenüber. Die Erfahrungen des Kirchenkampfes lassen für ihn jegliche Verbindung von Volk und Kirche problematisch und letztlich geradezu als Gefährdung der Kirche erscheinen.16 Es könne nur von einer »öffentlichen Verantwortlichkeit der Kirche«17 gesprochen werden, die dann aber das Gegenüber von »versammelter Gemeinde« und Gesellschaft voraussetzt. Entgegen dem Weberschen Ansatz fordert Wendland eine größere Offenheit dem Phänomen des »Christlichen« gegenüber.18 Obgleich der Weg zurück zur »christlichen Welt« ungangbar sei, wird die Theologie des 20. Jahrhunderts, die zwar die Krisis der »christlichen Welt« gezeigt, dabei aber zugleich »alle Synthesen von Kirche und Welt zerrissen«19 habe, kritisiert. Das »Sein in Christus« ziehe zwangsläufig die »ungeheure Breite und Fülle des Historisch-Christlichen«20 als Phänomen nach sich – als Folge des Angriffs des »Christlichen« auf die »Welt«. Diese Phänomene ihrerseits wiesen eine gebrochene Gestalt auf und unterlägen der Gefahr der Verweltlichung. Von ihnen könne die Kirche daher nicht leben, aber es könne, getragen von der Christusgemeinschaft, »die Kontinuität der HeilsGeschichte in den geschichtlichen Gestalten des Christlichen, die Kontinuität einer pneumatischen traditio in der Kirchengeschichte«21 aufscheinen. Im Anschluss an Paul Tillich stellt Wendland damit die bleibende Ausrichtung der Kirche auf die Welt im Dienste der stets zu erneuernden historischgeschichtlichen Gestalten des »Christlichen« heraus: »[…] ob die Kirche das Christliche für diese Zeit und aus der Gegenwart schaffen kann, das wird ein Zeichen ihrer Vollmacht sein«.22 Die bloße Abgrenzung gegenüber dieser zu gestaltenden geschichtlichen Wirklichkeit führe zu einem »›kirchlichen Naturschutzpark‹, ohne Kontakt mit der wirklichen, gegenwärtigen 14
Ebd., 171. Ebd. 16 Ebd., 173f. 17 Ebd., 175. 18 Vgl. hierzu WENDLAND, Über die Problematik des Begriffes christlich (1953). Zur Skepsis dem Begriff »christlich« gegenüber s. etwa DIEM, Kirche oder Christentum (1947). 19 Ebd., 184. 20 Ebd., 186. 21 Ebd., 189. 22 Ebd., 190. 15
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Welt«.23 Wird so die Notwendigkeit einer Öffnung der Kirche gegenüber der Welt betont, so bleibt es doch die Kirche, die das »Christliche« außerhalb ihrer selbst und getragen von ihrer Christusbeziehung, derer sich Wendland wiederum durchgängig exegetisch vergewissert, allererst zu erschließen und zu schaffen hat. Die Welt scheint zum Objekt kirchlichen Handelns zu werden. Das von Wendland erreichte Problembewusstsein24 hinsichtlich der Notwendigkeit einer im Verhältnis zu Weber erheblich größeren Öffnung den Problemen der Gesellschaft gegenüber setzt Rendtorff in seiner Dissertation voraus: Die permanente Krise in dem Verhältnis von Kirche und Gesellschaft, die durch die Entwicklung der autonomen modernen Gesellschaft in ganz neuer Weise verschärft worden ist, scheint an einem Punkt angekommen zu sein, wo der Protest der Kirche gegen den Abfall der Gesellschaft von den traditionellen Bindungen an das Leben der Kirche und den darin konkretisierten Sinndeutungen des Daseins sich zu wandeln beginnt in die Erkenntnis, daß nur eine entschiedene Zuwendung der Kirche zu der radikal umgeformten Wirklichkeit dieser vielschichtigen Massengesellschaft sie davor bewahren kann, in einer unfruchtbaren Isolierung ihrer Verkündigung und ihrer Lebensform festzufrieren.25
Bereits in methodischer Hinsicht jedoch stellt seine Arbeit einen Ausbruch aus dem primär in theologischen Bestimmungen erschlossenen Problemhorizont dar. Programmatisch treten an die Stelle exegetisch-dogmatischer Überlegungen nunmehr (kirchen-)soziologische Studien zum Zustand der Kirchengemeinden. Es gelte nämlich, die »permanente Krise in dem Verhältnis von Kirche und Gesellschaft, die durch die Entwicklung der autonomen 23
Ebd. Zur Präsenz des Themas innerhalb der theologischen Debatten ist aber auch auf IWAND, Kirche und Gesellschaft (1952) hinzuweisen, der die Abwesenheit des Themas »Kirche und Gesellschaft« maßgeblich dem Neuprotestantismus anlastet. Iwand unterscheidet zwei Koexistenzweisen von Kirche und Gesellschaft, die abzulehnen sind: das Verständnis der Kirche als »societas perfecta«, »als gesellschaftliche Größe mitten in der Gesellschaft als deren wahres Bild und wesenhafte Offenbarung« auf der einen, und die durch den Rückzug der Kirche aus dem öffentlichen Dasein auf ein »geistliches Reich« gekennzeichnete »neuprotestantische« Variante auf der anderen Seite (ebd., 270). Demgegenüber sei die Kirche strikt von ihrem Verkündigungsauftrag im Gegenüber und doch in konstitutiver Bezogenheit auf die Gesellschaft in ihrem Eigenleben her zu verstehen: »Die Existenz der Kirche in der Welt – seit Pfingsten – ist der Einbruch und die Störung dieses Eigenlebens der Gesellschaft, ist der machtvolle Angriff Gottes auf ihren gesicherten und verbarrikadierten Lebensbezirk, in dem der Mensch nach seinen Gesetzen das Dasein innerhalb dieser Welt zu gestalten sucht« (ebd., 271). Als solche, sich von ihrem Verkündigungsauftrag her verstehende, ist auch sie »societas, aber sie ist nicht von Hause aus societas. Sie darf keinen Augenblick vergessen, daß ihr Gott nach seiner besonderen Vorsehung das Mysterium von der Erlösung der Welt in Jesus Christus anvertraut hat, ein von Ewigkeit her verborgenes, selbst den Engeln im Himmel verhülltes Geheimnis (1Petr 1,12), das nun in ihr – in der Kirche – aller Welt kundgemacht ist.« (ebd., 277). 25 RENDTORFF, Soziale Struktur, 9. 24
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modernen Gesellschaft in ganz neuer Weise verschärft worden ist«,26 differenzierter wahrzunehmen, als dies in der dominierenden »reinliche[n] und allzu einfache[n] Gegenüberstellung als die Konfrontation verschiedener Wirklichkeitsbereiche«27 geschehe. In der Dissertation wird nunmehr der Nachweis geführt, dass die Unterscheidung von Kirche und Gesellschaft als zweier isolierter Wirklichkeitsbereiche unzutreffend sei. In der Untersuchung der Kirchengemeinde zeige sich, dass diese keine »soziale Insel« oder ein »autonomes religiöses und soziales Gebilde« sei, »sondern sowohl nach ihrer gesellschaftlichen Struktur wie auch hinsichtlich ihres religiösen Selbstbewußtseins« könne sie »nur im funktionalen Zusammenhang mit der Gesellschaft erfaßt werden«.28 Die Kirche ist damit nicht äußerlich, sondern in sich selbst von der Krise im Verhältnis zur modernen Gesellschaft betroffen.29 Damit aber erweist sich die theologisch begründete Unterscheidung von Kirche und Gesellschaft als untauglich, sie wird vielmehr auf ihre funktionale Verwendung hin transparent gemacht. Als Schematisierung diene sie der Legitimation des Versuchs, eine Volkskirchlichkeit, deren Kennzeichen das Auseinanderfallen von Kirchenmitgliedschaft und Partizipation am kerngemeindlichen Leben sei, von einem »spezifisch kirchlichen Innenleben« zu 26
Ebd., 10. Zur kritischen Frontstellung gegen die Verwendung soziologischer Einsichten in der zeitgenössischen Sozialtheologie vgl. RENDTORFF, Das Pfarramt, 83: »Es gibt ein Interesse an der soziologischen Erhellung religiöser Wirklichkeit in der Gegenwart, das kein eigentlich soziologisches ist, sondern sich aus der Erfahrung einer prinzipiellen Differenz zwischen der gegebenen Welt und dem Glaubensinhalt herleitet und zu deren Vermittlung drängt.« Das Hauptproblem sei dabei die Frage, »ob die gesellschaftliche Wirklichkeit darin noch als die begegnet, die sie ist, oder ob sie hier nicht immer schon so stark unter einer bestimmten Interpretation erscheint, daß damit einer angemessenen Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Wirklichkeit im Ansatz der Weg verlegt ist« (ebd., 89). 27 RENDTORFF, Soziale Struktur, 10. Rendtorff löst aber mit genau diesem Ansatz ein Desiderat seines Lehrers Wendland ein, der feststellte, es sei »eine theologisch fundierte und ausgerichtete Soziologie der Kirche und der einzelnen Kirchengemeinde ein dringendes Erfordernis«. Wendland moniert: »Es ist leider typisch für die evangelisch-theologische Literatur über den Kirchenbegriff und das Kirchenrecht, daß die Kirche als soziale Realität unbeleuchtet und unerforscht bleibt. Die Folge sind höchst unsichere und abstrakte Vorstellungen über das Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft; vor allem fehlt die Einsicht in das Mißverhältnis, das zwischen der faktischen Sozialstruktur der heutigen christlichen Gemeinde und ihrem Verkündigungsauftrag dann besteht, wenn die erstere nicht erkannt wird oder, was noch schlimmer ist, in ihrer Bedeutung für den Verkündigungsauftrag der Kirche gar nicht begriffen ist.« (WENDLAND, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, 32). Freilich steht für Wendland die soziologische Analyse damit im Dienste der Theologie. 28 RENDTORFF, Das Pfarramt, 79. Der »binnenkirchliche« Zusammenhang Kirche-Gesellschaft wird auch in historischer Perspektive erwiesen: »Das evangelische Kirchenwesen ruht in seiner sozialen Ausformung durchgängig auf dem Grunde der mittelalterlich-katholischen Kirchspiele, so daß die alten Kirchengemeinden heute noch fast überall dieselben Grenzen wie vor fünfhundert Jahren haben.« (DERS., Soziale Struktur, 34, vgl. ebd., 36ff zur Unterscheidung von theologischen und soziologischen Urteilen etwa im Blick auf den Gemeinschaftsverlust gegenüber früherer Zeit. Vgl. auch ebd., 45ff die »weltliche Verwebung« des Gottesdienstes im Leben der Kirchengemeinde). 29 RENDTORFF, Soziale Struktur, 25.
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trennen, welches »als Raum rechten kirchlichen Handelns anerkannt ist und die ›Gemeinde‹ von den unliebsamen Weisen volkskirchlicher Frömmigkeit absetzen kann«.30 Die empirisch-soziologische Erhebung gemeindlicher Realität geht aus diesem Grund implizit einher mit der »Kritik an den die verschiedenen Lebensformen tragenden und begleitenden theologisierenden Sozialvorstellungen, durch die einzelne Sozialformen der Kirche den Rang der ›wahren‹ Gestalt der Kirche bekommen«,31 die folglich funktional verwendet werden. Kirche sei demgegenüber in allen Erscheinungsformen »Welt«.32 Diese Studien sind für Rendtorffs theologischen Denkweg grundlegend, insofern hier zugleich ein neuer theologiegeschichtlicher Horizont der Sozialtheologie erschlossen wird. Die skizzierten Problemzusammenhänge waren noch in den Arbeiten Ernst Troeltschs präsent und traten erst durch die auf ihn folgende Entwicklung der Theologiegeschichte zu Gunsten rein dogmatischer Bestimmungen in den Hintergrund.33 Die »dialektische Theologie« muss demnach zur direkten Vorgeschichte der sozialethischen Wirklichkeitsfremdheit der Gegenwart gerechnet werden:34 30 Ebd., 10. Es lässt sich vermuten, dass sich dieser Vorwurf direkt gegen die Kombination Barthscher Gedankengänge und pietistischer Elemente bei Otto Weber richtet. Vgl. VON BÜLOW, Eine hörenswerte und auf Gehör rechnende Stimme: »Weber hatte zwar Zeit seines Lebens Kontakt mit freikirchlichen Kreisen, aber er selbst war überzeugtes Glied der (Landes-)Kirche. Als Institution wollte er sie gestalten – und das zum Teil durchaus in pietistisch-erwecklicher Hinsicht – aber eben von innen.« (ebd., 23). S. auch Webers Besprechung von Barths Christlicher Dogmatik: »In den Gemeinden und Gemeinschaften, weithin gerade in den von ihm ›angegriffenen‹ Kreisen des Pietismus, auch außerhalb der Landeskirche, sind die von Karl Barth aufgeworfenen Fragen lebendig.« (WEBER, Zu Karl Barths Dogmatik, 337). 31 RENDTORFF, Soziale Struktur, 22. 32 Dies begründet auch den Widerspruch gegenüber der theologischen Bestimmung des gottesdienstlichen Geschehens bei Weber: »Der Gottesdienst gehört […] in der Kirchengemeinde als deren wichtigste institutionelle Lebensform in die Kontinuität des ortsgemeindlichen Lebens hinein, dessen Prägung als einer Gestalt der Kirche in der Welt sich in einer bestimmten Tradition des Kirchgangs, der Teilnahme am Gottesdienst darstellt. Diese vorgängige Verflechtung von Gottesdienst und Ortsgemeinde ist zunächst ganz allgemein zu behaupten gegenüber einer vorschnellen Interpretation des Gottesdienstes von einem ›aktualen‹ Gemeindebegriff her, der aus dem konstitutiven Charakter der Predigt als des Wortes Gottes das Verhältnis von Gottesdienst und Gemeinde so bestimmt, daß erst in der gottesdienstlichen Versammlung die Gemeinde wird, wobei es von der Gemeinde heißt, ›sie ist, indem sie sich versammelt‹. Diese theologische Aussage […] ist also kirchensoziologisch nicht tragfähig […]. Denn der soziale Zusammenhang der Gemeinde wird im Gottesdienst gerade nicht mitgesetzt oder hervorgebracht, sondern ist in der Kirchengemeinde immer schon vorgegeben.« (ebd., 46). 33 Vgl. dazu WOLF, Barmen 31f, der feststellt, dass die Frage der Verhältnisbestimmung von Soziologie und dogmatischer Bestimmung mit Blick auf die Kirche innerhalb der Theologiegeschichte seit 1918 kaum beachtet wurde, mit Ausnahme der allerdings wenig rezipierten Untersuchung Bonhoeffers Sanctorum Communio (1930). 34 Vgl. hierzu WENDLAND, Über die Einheit von Kirche und Gesellschaft, 64, der in diesem – der Rendtorffschen Dissertation gegenüber freilich späteren – Text im Blick auf das Gegenüber von Kirche und Welt bzw. Gesellschaft auf BARTH, KD IV/3, 873f verweist.
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Für die Beurteilung solcher gemeindlicher Inseln in der Volkskirche ist die theologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte von einiger Wichtigkeit, in der von der Kirche auch nur in theologischen Zusammenhängen gesprochen wird, so daß jede Aussage über die Kirche, die sich mit der »äußeren« Erscheinung und deren Verzerrungen befaßt, von vornherein verfehlt ist. Es geht hier nicht um eine Auseinandersetzung über den theologischen Kirchenbegriff. Doch muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß die bewußte Beschränkung auf eine theologisch sachgemäße Rede von der Kirche die Ausbildung der Tendenz unterstützt hat, das volkskirchliche Erbe und seine teils befremdliche Eigenentwicklung sowie die darin gegebene Beziehung von Kirche und Gesellschaft als eine Sache der »nur äußerlichen weltlichen« Existenz der Kirche abzutun, das Innenleben eines eigentlichen »kirchlichen Kreises« aber vorwiegend vom theologisch gesättigten Verständnis der Kirche aus zu interpretieren.35
Das Verhältnis zwischen der soziologischen Analyse der äußeren Gestalt der Kirche, d.h. dem in der Dissertation beschrittenen Verfahren, und der theologischen Bestimmung von Kirche bleibt an diesem Punkt noch offen. Implizit klingt jedoch an, dass die soziologische Perspektive im Blick auf die theologische Bestimmung tief greifende Veränderungen heraufführen muss.36 Mit der Dissertation beginnt daher ein Weg, welcher mit der Aufnahme soziologisch-historischer Forschung zu einer grundlegenden methodischen Neuorientierung führt und damit verbunden auch zu einer neuen Ausrichtung der Theologie auf das Phänomen der distanzierten »Volkskirchlichkeit«, welches später unter dem Begriff »Christentum« genauer erfasst wird. Der Theologie wird die distanzierte Volkskirchlichkeit als legitimes Erbe der Kirche aufgegeben, ein Erbe, das »eine relativ selbständige und vom Fluß der theologischen und kirchlichen Wandlungen und Neuanfänge weitgehend unberührte Eigenentwicklung genommen hat«.37 Programmatisch werden an diesem Punkt die Problembestimmungen des Neuprotestantismus, insbesondere in der Fassung, die ihnen durch Ernst Troeltsch verliehen wurde, von neuem aufgenommen.38 Die Leistungsfähigkeit dogmatischer Lehre hingegen wird zunächst vorsichtig beschränkt: 35
RENDTORFF, Soziale Struktur, 10f. Diese Herausforderung soziologischer Forschung hat Jürgen Moltmann – wenngleich aus anderer Perspektive und ohne explizite Bezugnahme auf Rendtorff – herausgestellt: »Die soziale Situation, die die Gesellschaft heute der christlichen Kirche einräumt, spricht sich am deutlichsten in der Religionssoziologie oder der Soziologie der Kirchengemeinde aus. Denn immer ist die Soziologie ein Spiegel der Gesellschaft, in der und von der sie betrieben wird, auch und gerade dann, wenn sie sich wertfrei und positivistisch gibt. Immer wirft die Religionssoziologie ein bezeichnendes Licht nicht nur auf die Kirche oder die religiösen Gruppen, die ihre Gegenstände sind, sondern auch auf die Gesellschaft, in der die Kirche lebt und in der die soziologische Erhebung stattfindet.« (MOLTMANN, Die Rose im Kreuz der Gegenwart, 212, vgl. auch ebd., 222). 37 RENDTORFF, Soziale Struktur, 9. 38 Ebd., 15–17 wird deutlich, inwiefern dies Anknüpfung und zugleich Überschreitung der Erfassung dieses Problems bei Troeltsch bedeutet. Ansätze dieses Projekts finden sich ebd., 61ff. 36
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Eine dogmatische Lehre von der Kirche kann die konkreten sozialen Formen des kirchlichen Daseins nicht aus sich heraus setzen wollen und also aus der theologischen Aussage ein empirisches Sozialprinzip gewinnen. Entsprechend kann eine kirchensoziologische Untersuchung, die sich mit der sozialen Wirklichkeit der Kirche befaßt, ihren Ergebnissen nicht den Rang normativer Sätze über die Kirche und ihre Konkretion in der Gesellschaft zulegen wollen. 39
Bereits bald darauf folgt jedoch die explizite Auseinandersetzung mit der Dominanz dogmatischer Bestimmungen der Kirche als Grundlage gegenwärtiger Sozialtheologie. In Auseinandersetzung mit der Frage nach »gesellschaftsbildenden Aufgaben und Möglichkeiten der Kirchengemeinde«40 schärft Rendtorff wiederum ausgehend von der Entmythologisierung theologisch begründeter Urteile über gegenwärtige Sozialformen41 hinsichtlich des Problems »Kirche und Gesellschaft« ein: »[…] das Problem ist, wie sich hier Welt (als Ortsgemeinde oder in der Bildung neuer Formen) zu Welt (Gesellschaft) verhalte«.42 Dem Ausgang von einer scheinbar klaren Bestimmung von Kirche, der gegenüber die Gestaltungsfragen kirchlicher Praxis flexibel zu handhaben seien,43 wird nun die Frage entgegengesetzt: Aber stimmt das eigentlich? Stimmt vor allem die Voraussetzung, daß die Kirche sich so nach Wesen und Gestalt scheiden kann, so daß ihr ihr weltliches Dasein (als das Beunruhigende) vom Standpunkt ihres Wesens (als Auftrag) her je verfügbar sein kann?44
Rendtorff führt an dieser Stelle eine Differenzierung zwischen der gegenwärtigen – etwa durch Wendland geprägten – Bestimmung der Kirche und 39 Ebd., 145. Vgl. ebd., 22: »Darum müssen die Möglichkeiten einer Kirchensoziologie klar begrenzt werden, die niemals an die Stelle einer Theologie der Kirche treten können, deren Erkenntnisse aber doch in unumgänglicher Weise die Bedingungen aufzeigen, unter denen sich die Formulierung des Auftrages der Kirche in der Welt zu vollziehen hat. Daß wir erst ganz am Anfang einer wirklich fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen Theologie und Soziologie stehen, dürfte kaum verborgen sein.« 40 Der Text geht auf einen Vortrag zurück, der im Jahr 1959 im Rahmen einer Arbeitstagung der Gesellschaft für evangelische Theologie in Bad Boll gehalten wurde. 41 Vgl. RENDTORFF, Gesellschaftsbildende Aufgaben und Möglichkeiten, 509: »Die Gegenwart der Kirche in der Gesellschaft, bestimmt durch die traditionelle Struktur der Ortsgemeinde, wird als Verfall, als Schwund und Verlust am Gestern eines integren und darin vorbildlichen Zustandes ausgelegt. In diesem Deutungsschema verbirgt sich aber schon immer sehr viel mehr als eine bloße historisch-soziologische Feststellung. Darin meldet sich ein bestimmtes, wenn auch keineswegs immer ausdrückliches theologisches Urteil. Denn der soziologischen Analyse liegt eine positive Absicht zugrunde: die Schaffung einer anderen, neuen, umgebauten und darin besseren, weil der Gesellschaft gemäßen, Kirche.« 42 Ebd. 43 Ebd., 510: »Das Wort, Auftrag und Sein der Kirche, das, was sie konstituiert, steht gleichsam als die prinzipielle Möglichkeit der handelnden Kirche im Hintergrund, als die Position, von der her die bedrängende soziale Wirklichkeit gerade auch der Kirche als Anruf zu neuer Verwirklichung verstanden werden muß.« 44 Ebd.
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ihrer Fassung in der dialektischen Theologie, insbesondere bei Barth und Gogarten, ein. Zwar seien beide theologischen Ansätze in einer entscheidenden Voraussetzung, der Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt als Diastase, miteinander verbunden. Unterschiede zeigten sich jedoch hinsichtlich der scharfen Alternative, die in der dialektischen Theologie zwischen einer »von der Kultur her verstandenen Kirche« und der »Kirche Jesu Christi« gesehen würde.45 Theologische Bestimmung und empirische Gestalt der Kirche gerieten in einen prinzipiellen Gegensatz, insofern die menschliche, weltliche Gestalt der Kirche konsequent am Wort Gottes scheitere.46 Gegenüber der zur Gestaltung übergehenden Sozialtheologie werde von Gogarten und Barth eine »radikale Gegenposition bezogen«, allerdings vor dem Hintergrund der identischen Problembestimmung von »Kirche und Welt«.47 Innerhalb der dialektischen Theologie werde so eine Aporie deutlich, denn die Unterscheidung von der Welt werde zur Konstitutionsbedingung von Kirche, d.h. »[d]ie ›Welt‹ bekommt ein schlechthin entscheidendes Gewicht für den Glauben als sein sachnotwendiger Gegenpol. Zu einer Überwindung der Diastase, gar zu einer kirchlichen Durchdringung und Gestaltung von Welt kann es und darf es nicht kommen.«48 Das Problem der weltlich existierenden Kirche, »die nicht nur im reinen Daß von Verkündigung und Hören […] lebt«,49 sei damit gerade keiner theologischen Lösung zugeführt, sondern nur »theologisch überspielt«.50 Problematisch werde dies, wenn der aktuose und nicht auf Verwirklichung zielende Kirchenbegriff der dialektischen Theologie gegen die sichtbare Kirche ins Feld geführt und auf diese Weise zum »Gegenstand der Kirchenpolitik«51 gemacht werde. Eine Kirche, die nach Maßgabe solcher theologischer Bestimmung ihr Sein gestalten wolle, lebe in der Dauersituation der Unterscheidung von der »Welt« – und damit ihrer sichtbaren Gestalt – zur Gewährleistung ihrer Konstitution. Das Thema »Kirche und Welt« – dem »Kirche als Welt« Rendtorffs gegenüber – als theologische Grundfrage lässt die dialektische Theologie und die gegenwärtige Sozialtheologie als in einem Denken verhaftet erkennen, welches das, was Kirche ist, in einer vorgängigen Bestimmung jenseits deren geschichtlicher Existenz festsetzt. Bleibt allerdings die dialektische Theologie bei dem unversöhnlichen Gegensatz von Kirche und Welt stehen, 45
Ebd., repräsentativ für die gesamte dialektische Theologie wird hier Friedrich Gogarten zi-
tiert. 46
Ebd., 511. Ebd. 48 Ebd., 512. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 47
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so versucht die gegenwärtige Sozialtheologie jene dogmatische Begrenzung wiederum in der problematischen kirchenpolitischen Verwendung eines theologischen Kirchenbegriffs zu entgrenzen, d.h. »Welt als Kirche« zu gestalten. Dieser Versuch unterliegt für Rendtorff einer offenkundigen Aporie, die nur durch die konsequente Aufgabe jener falschen Denkvoraussetzungen behoben werden könne. Die Vorordnung des dogmatischen Kirchenbegriffs ist nur verständlich als Versuch, Verfügungsgewalt über ihre Gestalt zu gewinnen: Jede innere oder äußere Diastase von Kirche und Welt im Kirchenbegriff ist an ihrer Wurzel schon der Versuch, über die Kirche, die sie ist, hinauszukommen, um, gleichsam »vom Himmel herunter«, die Kirche in die Verfügung christlichen Handelns zwingen zu können.52
Dies impliziert einen theologischen Kritikpunkt, denn die theologische Bestimmung der Kirche sei aus theologischen Gründen ihrer geschichtlichen Wirklichkeit nachzuordnen. Die Kirche finde sich unverfügbar als geschichtliche vor und vergewissere sich ihrer selbst im Glauben,53 der die Geschichte, in der sich die Kirche selbst erfahre, als Geschichte des Heils erschließe.54 Ob sie sich selbst in ihrer Geschichtlichkeit und Unverfügbarkeit ernst nimmt, wird auf diese Weise zu ihrem Kriterium.55 Der menschliche Wille, Verfügungsgewalt über die Kirche zu gewinnen, werde auf diesem Wege in die Schranken gewiesen. Ebensowenig wie der weltlichen Gestalt der Kirche gegenüber könne er ein Gegenüber zur Gesellschaft einnehmen und bestimmenden Einfluss auf diese ausüben, denn »[w]eder die tragenden Institutionen noch die Geschichte überhaupt, in der sie erfahren werden, können jemals von Grund auf Objekt menschlichen Handelns sein«.56 Wo dies nicht hingenommen werde, sei dem Menschen unausweichlich »totale Verantwortlichkeit« aufgebürdet, und die dem Christen eigentlich gemäße Haltung, »[a]bzuwarten, was die Geschichte bringt, den Lauf der Welt Gott anheimzustellen«, werde als »frevelhafter Quietismus« abgelehnt.57 Aus dieser Verhältnisbestimmung von Geschichte und Glaube ergibt sich nun aber die angemessene theologische Bestimmung der Kirche:
52
Ebd., 517. Vgl. zu dieser Kritik auch ebd., 516.518f.526. Ebd., 516. 54 Ebd., 517f. 55 »In einer Zeit, in der die Labilität einstmals tragender Bindungen ins Bewußtsein tritt, muß sich ja vielmehr bewähren, ob die Kirche sich im Zusammenhang der Geschichte (in der sie ja im Zusammenhang des Heils steht!) glaubt oder ob sie aus der Diastase von Kirche und Welt meint, Kirche organisieren und bauen zu müssen.« (ebd., 520). 56 Ebd., 524. 57 Ebd., 525. 53
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Die ganze Welt im Zusammenhang der letzten Dinge zu verstehen, das ist Sache der Kirche. Und nicht, um die Welt als Welt zu verändern, zu bessern oder zu bilden, sondern allein um die Glieder am Leibe Christi zu stärken und aufzuerbauen[,] ist […] sie berufen. Wer meinte, daß die Welt des Bauens, Planens und Gestaltens dann gottverlassen sei, verwechselt die Kirche mit Gott und glaubt, Gott könne nur mittels der Christen in der Welt anwesend sein.58
Die diesen Überlegungen zugrunde liegende Ausgangsfrage nach »gesellschaftsbildenden Aufgaben und Möglichkeiten der Kirche« kann in der Konsequenz nur entschieden verneint werden. Vor jener Übernahme einer grenzenlosen Verantwortung59 sei der Mensch zu bewahren. Die biblischdogmatische Begründung der u.a. von Wendland vertretenen Unterscheidung von Kirche und Welt nimmt Rendtorff freilich nicht in den Blick.60 Im Gefälle der Rendtorffschen Deutung wäre sie funktional dem letztlich kirchenpolitisch motivierten Dominanzinteresse nachgeordnet. Obgleich die dialektische Theologie mit der Beschränkung auf die dogmatische Bestimmung des Kirchenbegriffs erheblich zur Aporetik der Sozialtheologie beigetragen hat, wird sie hier von dieser Wirkungsgeschichte abgehoben. Deren Inanspruchnahme soll als Missverständnis erwiesen werden. Der Grund der radikalen Trennung zwischen theologischem Begriff und der daran stets zum Scheitern verurteilten weltlichen Gestalt der Kirche in der dialektischen Theologie bedarf jedoch genauerer Klärung, denn schließlich kann eine prinzipielle Auflösung der Beziehung von Kir58 Ebd., 528. Von daher wird auch eine neue Aufgabenstellung der Sozialethik begründet: Die Verantwortung, ethische Verpflichtung obliege jedem Menschen und sei nicht durch eine »autoritative oder souveräne Sozialethik oder denn: durch eine absolute Entscheidung« (ebd., 527) zu umgehen. »Die Aufgabe der theologischen Soziallehre liegt deshalb vorrangig im Bereich der Auslegung des weltlichen Daseins, der Geschichte des Christen und der Kirche, nicht so sehr in der vergeblichen Frage nach ›Normen‹.« (Ebd. Anm. 46). 59 Ebd., 525. 60 Vgl. dazu insbesondere Wendlands Reaktion, der im Blick auf »die Frage nach der sachimmanenten politischen Dimension des ›Christentums‹ als solchen, das als ethisch-sozialethisches Christentum über die Mauern der ›verfaßten‹ Kirche, deren Bekenntnisse und kirchlich eingebundene Frömmigkeit, weit hinausdringt und a priori die Möglichkeit der politischen und zugleich gesellschaftspädagogischen Wirkung besitzt«, lapidar (mit Verweis auf Rendtorff) feststellt: »Jüngere Autoren gehen heute diesem neu aufgedeckten Phänomen mit der Begeisterung der ersten Entdecker nach.« (WENDLAND, Die Krisis der Volkskirche, 47). Wendland benennt die Traditionslinie dieser »neuen« Entdeckung zu Hegel und Rothe, um sodann jedoch an dem bleibenden Recht des »Gegenübers« von Kirche und Welt bzw. Gesellschaft festzuhalten: »Freilich, alle unsere theologischen und sozialethischen Probleme können nicht samt und sonders von dieser neuen Entdeckung her definiert und bewältigt werden. Das jetzt als altmodisch erscheinende ›Gegenüber‹ von Kirche und Welt, Kirche und Gesellschaft ist so gegenstandslos nicht, daß man es einfach als abgetan beiseite schieben könnte. Schließlich entstammt es dem Neuen Testament und ist besonders von Paulus und Johannes eindringlich formuliert worden. Solange es noch einen Christusglauben gibt, der Gottes Offenbarung und sich selber ernst nimmt, wird ja auch die modernste christliche Sozialethik und Theologie des Politischen etwas mit dem Neuen Testament zu tun haben.« (ebd., 48).
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che und Welt kaum mit einem hintergründigen Dominanzinteresse plausibel gedeutet werden – dieser Vorwurf trifft nur die Folgegestalten »dialektischer Theologie«.
Exkurs: Die Krise des Pfarramtes Eine kritische Konkretion, die geeignet ist, den eminenten Praxisbezug der Rendtorffschen Überlegungen zu verdeutlichen, findet sich in der Studie Das Pfarramt – gesellschaftliche Situation und kirchliche Interpretation, in der die Spannung zwischen »gesellschaftlicher Situation« und »kirchlicher Interpretation« des Pfarramtes im Blick auf dessen historische Entwicklung und gegenwärtige Problematik dargestellt wird.61 Wie die Parochie so sei auch das Pfarramt in seiner »gesellschaftlichen Verflechtung«62 zu bestimmen: Eine historische Betrachtung des Pfarramts und der Rolle und Wirksamkeit des Pfarrerstandes erschließt ohne weiteres die eine rein kirchliche Funktion sprengende Bedeutung und Wirksamkeit des Pfarrers, durch die das soziale und geistige Leben im weiteren gesellschaftlichen Umkreis der Gemeinde mitgestaltet worden ist.63
Diese Mehrfunktionalität des Pfarramtes schließt zunächst Folgen ein, die sich unmittelbar aus »formell verfaßten Handlungen«64 wie der kirchlichen Erziehung ergeben, aber auch die zahlreichen »schwer objektivierbaren« Einflüsse auf das gesellschaftliche Leben (Beamtenstand, Landwirtschaft etc.). Die Bedeutung des Pfarramtes in seiner Mehrfunktionalität sei aus diesem Grunde nicht in einem rein kirchlich-religiösen Auftrag begründet, sondern in der Gesamtheit seiner Funktionen.65 Zum Schwinden dieser Mehrfunktionalität sei es in einem längeren Prozess gekommen, der mit dem theologischen Neuaufbruch der dialektischen Theologie erstmals klar ins Bewusstsein trat, damit aber nicht im Zusammenhang von Analysen der gesellschaftlichen Veränderungen, sondern im Kontext theologischer Reflexion. Dabei repräsentierten die »Wortführer« 61 RENDTORFF, Das Pfarramt. Eingebettet ist diese Studie in den Gesamtzusammenhang der frühen Arbeiten: »Die Analyse der Struktur und Funktion des Pfarramtes gehört in den Umkreis der Bemühungen, ein zutreffendes Bild von der soziologischen Wirklichkeit der Kirche in unserer Gesellschaft zu gewinnen.« (ebd., 79). 62 Vgl. ebd., 80. 63 Ebd. 64 Ebd., 81. 65 Diese Entwicklung charakterisiert das 19. Jahrhundert: »Im neunzehnten Jahrhundert sind dem Pfarramt mit dem Entstehen und Aufblühen des weltlichen und kirchlichen Vereinslebens zu den durch die kirchliche Sitte und das Bildungswesen bedingten Funktionen eine Reihe informeller oder halbformeller Aufgaben neu hinzugetreten, die allerdings bereits vorwiegend auf den Bereich bäuerlicher und bürgerlicher (und kleinbürgerlicher) Gesellschaftsschichten begrenzt waren.« (ebd., 85f).
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Karl Barth und Friedrich Gogarten, trotz der »Besonderheiten ihrer speziellen theologischen Entwicklung […], zugleich einen ganz allgemeinen Umschwung des theologischen und kirchlichen Selbstbewußtseins […], der bis auf den heutigen Tag zu einer grundsätzlich einmütigen Beurteilung und Auffassung der sozialen Wirklichkeit der Kirche führte«.66 Wurde die Mehrfunktionalität des Pfarramtes zuvor bereits durch gesellschaftliche Veränderungen eingeschränkt, so sei sie nun »auch einer prinzipiell negativ bestimmten theologischen Beurteilung« verfallen: Im Zusammenhang einer Theologie, die größtes Gewicht auf ihre Unabhängigkeit von anderen Wissenschaften legt und die Souveränität ihres Gegenstandes auch methodisch radikal zur Geltung zu bringen trachtet, mußte auch die Beurteilung der Phänomene kirchlichen Daseins, die nicht in direktem Zusammenhang mit dem christlichen Sendungsauftrag begründet waren, kritisch ausfallen.67
Diese theologische Bestimmung erlangte aber zugleich soziologische Wirksamkeit,68 da die »Kirche« durch die Bestimmung des pfarramtlichen Auftrags ihr Verhältnis zur Gesellschaft geprägt habe. Die Problematik, in die diese kirchenpolitische Umbestimmung des Pfarramtes führte, wird von Rendtorff scharf herausgestellt: Die Krise des Pfarramtes Die tiefe, immer gegebene Verflechtung kirchlichen Lebens und Verhaltens mit der Geschichte der Gesellschaft wird durch die Reflexion aus ihren faktischen Zusammenhängen gelöst und in manipulative Handlungsvorstellungen überführt, die Einsicht in die soziologische Dimension kirchlichen Daseins gewinnt appellatorischen Charakter, sie erscheint transponiert in bewußte, auf Aktion drängende Interpretation soziologischer Gegebenheiten, die ihren Impuls aus dem der allgemeinen gesellschaftlichen Mentalität verpflichteten kirchlichen Selbstbewußtsein bezieht, aber doch in höchst selbständiger Weise auftritt.69
Die »theologische Reduktion des Amtsbegriffs« durch das »gegenwärtige theologisch-kirchliche Selbstbewußtsein«70 fungiere damit als theologischer Verstärker gesellschaftlicher Marginalisierungstendenzen im Blick auf die Funktionen des Pfarramtes:71 Der Pfarrer soll wirklich Pastor, Theologe, Verkünder des Wortes Gottes sein und nicht alles mögliche und nützliche andere. […] Die traditionelle Struktur des Pfarramtes wird so mit ihrer gesellschaftlichen Krise zugleich in eine theologische Krise überführt.72 66
Ebd., 82. Ebd. 68 Vgl. ebd., 82f. 69 Ebd., 84. 70 Ebd., 87. 71 Vgl. ebd., 86. 72 Ebd., 88. 67
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In dem Moment aber, in dem auf der Grundlage dieses theologischkirchlichen Selbstbewusstseins eine erneute Ausweitung der Reichweite des Pfarramtes gesucht werde, d.h. eines Pfarramtes in allein kirchlicher Bestimmung ohne Beachtung dessen noch vorhandener realer gesellschaftlicher Verflechtung, gerate diese theologische Bestimmung für die Pfarrerinnen und Pfarrer zu einer fatalen Überforderung. Im Gegenüber zu einer theologisch entwerteten »Welt«, die als »Material christlichen Glaubensvollzuges« diene und »an sich selbst theologisch nichts gelten kann«,73 müssten die Pfarrer das Ansehen des Amtes auf der Grundlage seiner Monofunktion durch ihre persönliche Leistung – damit freilich im Widerspruch gegen dessen theologisches Verständnis in der dialektischen Theologie – erst schaffen.74 Die daraus resultierende Gefahr liege in der Überforderung und dem Scheitern der Amtsträger.75 Die Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie wird von Rendtorff auch hier unter dem Eindruck ihrer Folgen für die Wahrnehmung der geschichtlichen Wirklichkeit von Kirche innerhalb der Gesellschaft aufgenommen. »Die gegenwärtige Kirchengeschichte« – so kann Rendtorff dennoch anknüpfend an Karl Barth feststellen – »ist die Vollendung des ›Ausbruchs der Kirche in die Welt‹«.76 Mit diesem Zitat aus KD IV/377 wird die Entwicklung benannt, in der die theologisch-kirchliche begründete Ausweitung des Amtsverständnisses mit seiner geschichtlichen Struktur streite.78 Diese Position ist insofern durchaus »modern«, als das hier begründete kirchlich-theologische Selbstbewusstsein gerade »ganz wesentlich von den Erfahrungen bestimmt […] [ist], die die Kirche als gesellschaftliche Wirklichkeit an sich selbst macht«.79 Problematisch werde diese Entwicklung dort, wo durch theologische »Überhöhung«80 die bessere Einsicht in die 73
Ebd., 89. »Diese schwächere institutionelle Sicherung des sozialen Status des Pfarrers bedeutet eine ungewöhnliche zusätzliche Belastung seines Berufs; sie eröffnet in viel größerem Maße, als dies früher gegeben war, die Möglichkeit des persönlichen Scheiterns einzelner Amtsträger bei völlig korrekter Amtsführung.« (ebd., 90). Vgl. ebd., 94: »Er lebt im Bewußtsein eines dauernden Ungenügens gegenüber dem von ihm geforderten ›Mehr‹. Er kann sein Amt in dieser Weise gar nicht ausfüllen, weil das Amt zunächst nur die Form, die reine Möglichkeit ist, für deren Inhalt und Verwirklichung er durch seinen unermüdlichen Einsatz und Erfindungsreichtum überhaupt erst aufzukommen hat.« 75 Findet die Ausweitung allerdings in der Realität Resonanz, so liegt der Grund dafür vor allem in der systematisch ausgeblendeten geschichtlichen Realität selbst: »Die Gesellschaft ist offenbar gar nicht so ›unkirchlich‹, wie dies zunächst erscheinen mag. […] Nur weil sie [sc. die Kirche] in der Gesellschaft auf ein solches breit verankertes Feld von Anerkennung stößt, lassen sich auch die vielfachen neuen Anstrengungen wenigstens teilweise verwirklichen.« (ebd., 94). 76 Ebd., 99. 77 BARTH, KD IV/3.1, 18ff. 78 RENDTORFF, Das Pfarramt 100. 79 Ebd. 80 Vgl. ebd., 101. 74
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Wirklichkeit verstellt werde.81 Das Beispiel der rein theologischen Bestimmung des Pfarrberufes zeigt daher auch, wie die einstige »Pfarrertheologie« zu aporetischen Konsequenzen führt, die das Verhältnis zwischen Kirche und Welt insgesamt kennzeichnen.
3. Die Kirche als Funktion der Theologie Rendtorffs Untersuchungen zur Herausforderung der zeitgenössischen Sozialtheologie münden in die Frage nach dem Verhältnis zwischen theologischer Theoriebildung und der geschichtlichen Realität der Kirche und der dem kerngemeindlichen Leben gegenüber distanzierten Volkskirchlichkeit. Die gegenwärtig an die Kirche adressierte und scheinbar konstitutiv auf diese bezogene Theologie habe einen theologischen Begriff von Kirche zur Voraussetzung, der zu Beginn seiner theologiegeschichtlichen Entwicklung in der dialektischen Theologie gerade nicht auf Verwirklichung in geschichtlicher Realität zielte. Was ist sodann aber die ursprüngliche Bedeutung der Konzentration auf diesen Kirchenbegriff, der zum Abbruch des soziologischen Problembewusstseins nach Ernst Troeltsch führte? Dieser Fragestellung geht Rendtorff nach, indem er ein Bild der systematischen Zusammenhänge erarbeitet, die zur Retheologisierung des Kirchenverständnisses zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten und damit den Wandel vom »neuprotestantischen Kirchenbegriff« hin zum Kirchenverständnis der frühen dialektischen Theologie auslösten. Es sind insbesondere zwei Studien, in denen die systematische Ausarbeitung der theologiegeschichtlichen Implikationen jener sozialtheologischen Debatte ab dem Jahr 1961 Konturen gewinnt. Zunächst handelt es sich um den dem programmatischen Band Offenbarung als Geschichte beigesteuerten Aufsatz Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff (1961), sodann um die 1961 eingereichte und 1966 in veränderter Fassung veröffentlichte Habilitationsschrift Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie. Zur Charakteristik dieser theologiegeschichtlichen Untersuchungen gehört insbesondere, dass ihre sozialethische Relevanz keineswegs in den Hintergrund tritt, sondern beständig als ihre Fluchtlinie herausgestellt wird.82 So endet die Habilitationsschrift mit dem Ergebnis: »Der theologische Begriff der Kirche und die geschichtlich sich ergebene Verselbständigung der Kirche in der Gegenwart dürfen 81
Eine konstruktive theologische Wendung erhält diese Kritik durch die Aufgabe, »die Einheit unserer menschlichen Wirklichkeit nicht vorschnell« (ebd., 101) preiszugeben, die die über die soziologische Aufgabe hinausgehende theologische Vorgehensweise zu bestimmen hat. 82 Vgl. etwa RENDTORFF, Offenbarungsproblem, 118.
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nicht identifiziert werden.«83 – Und in deutlich schärferer Wendung: es könne die »kirchliche Gegenwart nur um den Preis der Ideologisierung mit der theologischen Begrifflichkeit der dialektischen Theologie gleichgeschaltet werden«.84 Mit der Kritik der dialektischen Theologie, vor allem aber der auf sie rekurrierenden Gegenwartstheologie verbunden werden zugleich die konstruktiven Potentiale des Neuprotestantismus verdeutlicht, dessen Problembewusstsein in der theologischen Arbeit wieder erreicht werden muss, dessen Ergebnisse sodann allerdings zu überschreiten sind.
3.1 Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff (1961) Rendtorffs Aufsatz ist dem von Wolfhart Pannenberg herausgegebenen Band Offenbarung als Geschichte beigesteuert, der programmatisch den in der Nachkriegszeit dominierenden unterschiedlichen Richtungen der WortGottes-Theologie gegenüber einen Richtungswechsel einleitete. Das zentrale Thema, an dem hier einerseits die begrenzte Reichweite der »dialektischen Theologie« aufgewiesen und die Leistungsfähigkeit des jeweils eigenen Ansatzes bewährt werden soll, ist das der Geschichte.85 Es benennt jedoch, dies wird in der Auseinanderentwicklung der unterschiedlichen Protagonisten in der Folgezeit deutlich, eher eine gemeinsame Abgrenzung als ein gemeinsames konstruktives Programm. Rendtorff setzt sich während dieser Zeit insbesondere mit Friedrich Gogarten auseinander, der im Jahre 1953 in der Studie Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit den Versuch vorgetragen hatte, dem neuzeitlichen Geschichtsverständnis ein im christlichen Glauben erschlossenes Geschichtsverständnis entgegenzusetzen.86 Entsprechend bildet Gogartens Versuch, die neuzeitlichen Probleme – insbesondere durch den Historismus ans Licht gebracht – vom Standpunkt des christlichen Glaubens einer Lösung zuzuführen, die Einstiegsmöglichkeit zu einer Deutung der gesamten dialektischen Theologie als eines solchen Lösungsversuchs. Grundlegend für Rendtorffs Beitrag ist eine historische Einsicht, die er im Anschluss an Otto Weber formuliert: Die Renaissance des Kirchenbegriffs gehe mit dem Verschwinden des Begriffs des Christentums einher.87 83
RENDTORFF, Kirche und Theologie, 215. Ebd., 214. 85 Dieses Thema wurde bereits von Gerhard Ebeling in der programmatischen Neuorientierung der Zeitschrift für Theologie und Kirche (EBELING, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode, bes. 1–10) kritisch ins Gespräch mit der dialektischen Theologie eingebracht. 86 GOGARTEN, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, bes. 103–121. Zur Auseinandersetzung Rendtorffs mit Gogartens Säkularisierungsthese s.u. Teil 1, Kapitel 4. 87 RENDTORFF, Offenbarungsproblem, 116. Entsprechend s. WEBER, Versammelte Gemeinde, 8: »Wer auch nur die Bücherlisten aus den letzten beiden Jahrzehnten zur Hand nimmt, der findet, 84
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Diente der Begriff »Christentum« der produktiven Erschließung eines dem Kirchenbegriff gegenüber weiteren geschichtlichen Bezugsraumes als Voraussetzung der Theologie, so stelle der Kirchenbegriff der Gegenwart einen Begriff der Abgrenzung der vermeintlich kirchlichen Besonderheit der Welt gegenüber dar.88 Dies geschehe durch eine theologische Festsetzung, die durch die geschichtliche Wirklichkeit nicht mehr infrage zu stellen sei.89 Der früheren kirchensoziologischen Kritik wird nunmehr ein dogmatischer Kritikpunkt hinzugefügt. Es unterlaufe in dieser Verwendung des Kirchenbegriffs die »theologische Preisgabe eines einheitlichen Wirklichkeitsverständnisses«.90 Die Einheit der Wirklichkeit könne nur noch »in der Gestalt des ethischen Appells als Aufgabe ihrer Hervorbringung in den Blick kommen«,91 d.h. in der Gestalt – des für die Praxis kirchlichen Handelns aufgrund der permanenten Überforderung ruinösen – Appells zur Ausbreitung der Kirche auf das Gebiet der Gesellschaft. Die Aufgabe sei demgegenüber das Begreifen des Bestehenden unter der Voraussetzung eines einheitlichen Wirklichkeitsverständnisses.Kirche als Funktion der Theologie Den Schlüssel zum Verständnis jener Rolle der theologischen Bestimmung des Kirchenbegriffs im 20. Jahrhundert sieht Rendtorff in einer genuin neuzeitlichen Problemkonstellation, die sich in der Frage nach dem im Horizont des neuzeitlichen historischen Bewusstseins zum Problem gewordenen Zusammenhang von Ekklesiologie und Christologie äußere.92 Bis zur Neuzeit sei dieser Zusammenhang unstrittig gewesen. Mit der Rückführbarkeit auf Christus als Grund sei die Legitimität der Kirche fraglos gewesen, und sowohl für die Alte Kirche als auch für die Reformation gelte, »daß offenbar die Frage nach dem Zusammenhang der jeweils gegenwärtigen Kirche mit dem Christusgeschehen, anders ausgedrückt die praesentia Christi selbst in Christi corpore, quod est ecclesia, prinzipiell nicht zum Problem wird«.93 Die Frage nach deren Zusammenhang werde erst »durch das neuzeitliche geschichtliche Denken« aufgeworfen, insofern »für dieses […] die Abgeschlossenheit der Gottesoffenbarung im historischen Sinn von entscheidender Bedeutung werden«94 musste. Könne die praesentia Christi
wie da der abstrakte Begriff des ›Christentums‹ immer mehr verschwindet und der konkrete Begriff der Kirche immer nachdrücklicher in den Vordergrund tritt.« 88 RENDTORFF, Offenbarungsproblem, 116f. 89 Ebd., 118: »Die Bewährung der Behauptung der Andersartigkeit der Kirche bildet jedenfalls kein selbständiges Problem, da sie selbst in ihrem Recht durch die Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht mehr in Frage gestellt werden kann.« 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Ebd., 118f. 93 Ebd., 120. 94 Ebd.
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nun nicht länger vorneuzeitlich supranatural gedacht werden,95 so sei diese Beziehung geschichtlich vermittelt zu verstehen. Einen maßgeblichen Versuch habe in der Folgezeit Schleiermacher vorgelegt, der die christliche Gemeinde bzw. deren »Gesamtleben« als den Zusammenhang zwischen dem Gottesbewusstsein Jesu und dem religiösen Menschen der Gegenwart verstanden habe.96 Mit der »Krise des Historismus« jedoch werde diese Frage nach dem Zusammenhang der nachchristlichen Geschichte insbesondere bei Ernst Troeltsch nochmals verschärft. Geschichtlicher Positivismus und Subjektivismus hätten die Frage nach dem Zusammenhang der Kirche in der geschichtlichen Perspektive und im Hinblick auf deren gegenwärtige Gestalt radikal aufgeworfen, ohne dass Troeltsch und seine Zeitgenossen zu einem überzeugenden Versuch der Überwindung jener Krise zu gelangen vermochten. In der zugespitzten Situation des Neuprotestantismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts stelle sich daher die Alternative, ob die Frage nach der Kirche weiterhin als Frage nach dem geschichtlichen Zusammenhang mit der Christusoffenbarung thematisiert werde, oder ob »im Anknüpfen an die vorbereitete Differenz diese in eine neue Gestalt einer radikalisierten Aporie«97 überführt werde. Vor dem Hintergrund dieser im Neuprotestantismus erkennbaren Problemmatrix zeige sich, dass die dialektische Theologie, ihre Hauptvertreter Barth, Bultmann und Gogarten umfassend, entschieden den zweiten Weg zur Überwindung der Krise eingeschlagen habe: Die positive Einsicht in den notwendigen Zusammenhang der Ekklesiologie mit der Christologie gelingt in der dialektischen Theologie zunächst durch eine aufs höchste gesteigerte Aktualisierung des Christusgeschehens, wobei der welt- und kirchengeschichtliche Zusammenhang durch die Behauptung der prinzipiellen Andersartigkeit der Offenbarung von aller Welt im ersten Ansatz zu theologischer Bedeutungslosigkeit herabsinkt.98
95 Vgl. hier entsprechend GOGARTEN, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 111: »Solange die Vergeschichtlichung der menschlichen Existenz, die sich als Folge dieses Ereignisses [sc. des Todes und der Auferstehung Jesu] vollzieht, noch nicht sichtbar und darum das Problem der Geschichte in dem heutigen umfassenden Sinn noch nicht akut geworden war, konnte man meinen, das Besondere des Offenbarungsgeschehens, das es von allem anderen Geschehen in der Welt unterscheidet, mit den Mitteln eines nicht geschichtlichen, sondern metaphysischen Denkens fassen zu können, das man von der griechischen Philosophie übernahm. Die Geschichtlichkeit dieses Geschehens glaubte man genügend gesichert, wenn man daran festhielt, daß es zu einer bestimmten Zeit geschehen sei. Seit aber mit dem Aufkommen des geschichtlichen Denkens alle Metaphysik mehr und mehr fragwürdig wurde und das Problem der Geschichte immer unabweisbarer an die Stelle des metaphysischen Problems eines Seins trat, das immer und unveränderlich dasselbe ist, waren der Theologie diese überkommenen Denkmittel genommen.« 96 Vgl. RENDTORFF, Offenbarungsproblem, 121. 97 Ebd., 122. 98 Ebd.
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»Offenbarung« und »Kirche« würden unter gänzlichem Ausschluss der geschichtlichen Wirklichkeit und der vorgängigen Beziehung beider bestimmt. Dieser Rekurs auf Offenbarung sei aber überhaupt erst vor dem Hintergrund des neuzeitlichen, durch das historische Bewusstsein eröffneten Problemhorizonts verständlich, insofern er funktional geeignet sei, den geschichtlichen Zusammenhang gleichgültig erscheinen zu lassen. An dessen Stelle trete nunmehr die strukturelle Entsprechung von Christusgeschehen und Kirche,99 wobei diese Beziehung selbst unanschaulich bleibe. Dem als gegenwärtig gedachten Offenbarungsgeschehen korrespondiere die Kirche als »Reflex«, sie bleibe als eschatologisches Geschehen »in der Schwebe zwischen Geschichte und Geschichtlichkeit«.100 Gemessen an der Ausgangslage des Problems im Neuprotestantismus aber zeige sich, dass dieser Versuch unzureichend bleiben müsse: »Die Einheit der Kirche mit Christus kann aber kaum einleuchten, wenn sie mit dem Verlust eines theologischen Zuganges zur faktischen Kirche der Geschichte erkauft wird.«101 Bleibe die Gestalt der Kirche im Blick auf ihre Offenbarungsrelation wesenlos, so gewinne sie eine scharfe Kontur erst im Gegenüber zur Welt als »politischer oder ethischer Kirchenbegriff«,102 d.h. in der Abgrenzung ihrem jeweiligen geschichtlichen Kontext gegenüber.103 Jedoch lasse sich ein Mangel hinsichtlich einer »verläßlichen Orientierung ihres Handelns in der Welt«104 konstatieren, der sich in einer »gewisse[n] Willkürlichkeit ihres Welt- und Selbstverständnisses«105 äußere. Die »dogmatische These«, die aus dieser Interpretation der dialektischen Theologie und deren Schwäche vor dem Hintergrund des Geschichtsproblems folgt, lautet daher, dass es diesen theologischen Entwürfen an einem Zugang zur Abgeschlossenheit des Christusgeschehens fehle.106 Obgleich die »Historizität« der Christusoffenbarung anerkannt werde, sei »das damit unlöslich verbundene Moment ihrer Vergangenheit durch moderne, d.h. ›geschichtliche‹ Formen eines supranaturalen Verständnisses der unmittel-
99 »Der Kirchenbegriff, wie er in der Konsequenz des geschichtlichen Denkens zur Erörterung gestellt worden ist, gibt für das Offenbarungsproblem in der Hinsicht auf die Qualifikation der nachchristlichen Geschichte durch die Offenbarung keine eigene Dimension mehr ab. Er wird vielmehr nur als ›Reflex‹ der in sich selbst gegenwärtig aktualen Offenbarung expliziert.« (ebd., 123). 100 Ebd., 125. 101 Ebd. 102 Ebd., 124. 103 »So formal und allgemein der Kirchenbegriff in den theologischen Aussagen ist, die über die Entsprechung zu christologischen Sätzen hinausgehen, so eindrucksvoll konsolidiert er sich an der Weltproblematik.« (ebd.). 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd., 126.
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baren Gegenwart umgangen«.107 Das Dilemma des Historismus und damit die entscheidende neuzeitliche Herausforderung der Theologie werde auf diesem Wege nur überspielt und keiner angemessenen Lösung zugeführt. Dieses Problem, in der gegenwärtigen Sozialtheologie in verzerrter Weise begegnend, kann daher für Rendtorff nur an seinem Ausgangspunkt, dem Übergang zwischen Neuprotestantismus und dialektischer Theologie, von neuem aufgegriffen werden. Perspektiven zu seiner Lösung werden in diesem Zusammenhang allererst angedeutet: Es ist […] geboten, sich dem Zusammenhang der Kirche mit dem Offenbarungsgeschehen in einer kritischen Erwägung der Gesamtheit ihrer Geschichte zu nähern. […] Der Kirchenbegriff muß den faktischen Zusammenhang der nachchristlichen Geschichte mit dem Christusgeschehen im Ansatz theologisch als die Relation der Kirche zur Christus begreifen.108
Damit aber sind die Versuche des Neuprotestantismus der dialektischen Theologie und ihren Folgegestalten gegenüber ins Recht gesetzt. Anzuerkennen sei, daß die Geschichte der Kirche als solche der gesuchte Zusammenhang mit der damals geschehenen Offenbarung Gottes ist, die Theologie also kein besonderes, darüberliegendes Verhältnis zu konstruieren hat, sondern auch den systematischen Zugang zum Kirchenbegriff gewinnt, indem sie sich die Kirche als Geschichte in ihrem Zusammenhang, als Ganzheit, im vollen Bewußtsein ihrer Unabgeschlossenheit und darum Vorläufigkeit vor Augen führt, wobei die Einsicht unumgänglich ist, daß die Gesamtheit dieser Geschichte ohne das Christusgeschehen überhaupt nicht verständlich ist.109
Universalgeschichte, geschichtlich erschlossen im Bezug auf das Christusgeschehen, sei der zu beschreitende Weg. Die konstruktive Aufgabe, die sich hiermit für Rendtorff in der Folgezeit stellt, ist eine präzisere Bestimmung der Kirche in ihrer durch das Offenbarungsereignis qualifizierten Geschichte, ohne dass auf diesem Wege eine besondere Geschichte des Glaubens neben der faktischen Geschichte der Kirche postuliert wird. Der Zusammenhang von Ekklesiologie und Christologie sei »als begriffliche Explikation eines Geschichtszusammenhanges aufzufassen«,110 der im Horizont von Zukunftsoffenheit stehe und ausgehend von dem in Jesus erschlossenen Ende der Geschichte seine Einheit gewinne. »In dieser Geschichte der Einheit der Kirche vollzieht sich konkret und gar nicht supranatural ihre eschatologische Existenz, wie sie vom Christusge107
Ebd., 127. Im Blick auf Gogarten (vgl. GOGARTEN, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 111f) impliziert dies das Urteil, Gogarten habe die von ihm zutreffend diagnostizierte Wirkung des modernen geschichtlichen Denkens auf die traditionelle Metaphysik letztendlich doch unterlaufen. 108 RENDTORFF, Offenbarungsproblem, 127. 109 Ebd. 110 Ebd., 129.
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schehen her einsichtig wird.«111 Die universalgeschichtliche Perspektive im Horizont der Proleptik der Geschichte Jesu Christi solle die faktischen Brüche der Geschichte tragen und ein dem in Jesus Christus erschlossenen Ende entsprechendes Bild ihrer Einheit entwickeln.112 Diese ersten kritischen Bemühungen zeigen eine enge Verbundenheit mit der Kritik an der dialektischen Theologie, die durchgehend die innerhalb des Bandes Offenbarung als Geschichte versammelten Autoren verbindet. Jedoch, dies wird sich im Folgenden zeigen, ist insbesondere die Gemeinsamkeit Rendtorffs mit Pannenberg weitgehend auf die kritische Pointe gegen die »Geschichtslosigkeit« der dialektischen Theologie beschränkt. Zu Beginn der 60er Jahre lassen sich zwar bestimmte gemeinsame theologische Begründungsfiguren nachweisen (etwa der Rekurs auf ›Universalgeschichte‹), die jedoch bei Rendtorff bald wieder in den Hintergrund treten. Der Pannenbergsche Ansatz erreicht für Rendtorff als »dogmatischer« nicht das Troeltsche Problemniveau, da die kritische Emanzipation von der biblischen und kirchlichen Überlieferung hier gerade nicht konsequent umgesetzt wird.113
3.2 Kirche und Theologie (1966) 3.2.1 Der Ansatz der Studie Die zunächst thetische theologiegeschichtliche Einordnung der dialektischtheologischen Rede von der Kirche wird in Rendtorffs Habilitationsschrift Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie114 weiter entfaltet. Der skizzierte Problemzusammenhang von Kirche und Geschichte wird hier zugespitzt im Blick auf das 111
Ebd. Dies gelte insbesondere im Blick auf die »tiefgreifenden Wandlungen der Neuzeit«, die die theologische Arbeit aufforderten, »bei aller Berücksichtigung der hier stattfindenden Friktionen, die Offenheit für die kontingente Neuartigkeit des Geschehens gegenüber einer Festlegung auf ein Bild von der Einheit der Kirche zu bewähren und zu fragen, in welcher Weise die neuen Dimensionen der Einheit der Welt, die sich mit der Umwälzung des Verhältnisses der Kirchen zueinander und zum politischen Gemeinwesen ergeben, auch in neuer Weise die Einheit der Geschichte begreifen lassen in ihrem Zusammenhang mit dem eschatologischen Charakter der Offenbarung« (ebd., 130). So stellt Rendtorff abschließend fest: »An der Realität dieser Kirche aber, die als der geschichtliche Zusammenhang mit der Offenbarung des Heils in Jesus Christus aufgefaßt wird, hat der Glaube als Hoffnung und Erwartung der Zukunft Gottes seine konkrete Existenz und in diesem Sinne kann ihm die vorhandene Kirche die Kirche Jesu Christi sein.« (ebd., 131). Obgleich Barth in KD § 72.1 Bezug auf die »weltgeschichtlichen Vorgänge« nehme, bleibe dies »doch merkwürdig unverbindlich gegenüber historischen Zusammenhängen« (ebd., 130 Anm. 29). 113 S.u. Abschnitt 4. 114 Die als Habilitationsschrift unter dem Titel Kirche und Offenbarung eingereichte Fassung umfasste nur Abschnitte zu Hegel, Schleiermacher und Barth. 112
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Verhältnis »der Theologie zur geschichtlichen Welt des Christentums« und die Frage nach der »Bindung der Theologie an ihren besonderen Ursprung«.115 Dies impliziert eine erhebliche Schwerpunktverlagerung, da nun die funktionale Bedeutung des Kirchenbegriffs für die Theologie selbst reflektiert wird. Aus dem theologischen Sachproblem der Verhältnisbestimmung zwischen der Kirche und ihrem Ursprung in der Offenbarung wird somit ein theologiereflexives Problem. Die Darstellung wird in vier Detailstudien zu Semler, Hegel und Schleiermacher als Vertretern des Neuprotestantismus und zuletzt zu der »dialektischen Theologie« entfaltet. Es wird somit ein weiter Horizont der neuzeitlichen Theologiegeschichte eröffnet, vor dem Entstehung und Charakteristik des Kirchenbegriffs der dialektischen Theologie, die auch hier wiederum Barth, Bultmann und Gogarten umfasst, zur Darstellung kommen. Semler als Exponent der Neologie und die dialektische Theologie stellen für Rendtorff zwei Pole eines Spannungsverhältnisses dar, welches eine prinzipielle Problemlage neuzeitlicher Theologie erkennen lässt: Die Aufklärungstheologie, die die Allgemeinheit der christlichen Religion deren kirchlicher Fassung abzugewinnen suchte, und die dialektische Theologie, die die Besonderheit des Offenbarungsglaubens der allgemeinen Geschichte des Christentums zu entreißen suchte, um sie allein der Kirche zuzuweisen, stellen die möglichen Alternativen eines Streites dar, der die innere Bewegung der Theologie ausmacht. Die Vermittlung dieser Alternativen in der geschichtlichen Welt des Christentums bestimmt die Theoriebildungen im Deutschen Idealismus.116
Jene »innere Bewegung« aber verfolge in der »Auseinandersetzung um die Kirchlichkeit der Theologie« auf der eigentlichen Ebene die Frage, »wie sich die Theologie über ihre Christlichkeit, d.h. ihren Ort im Zusammenhang des Christentums Rechenschaft abzulegen sucht«.117 Diese Funktion des Kirchenbegriffs werde bereits darin deutlich, dass seine Renaissance in der Theologie des 20. Jahrhunderts weniger in der Ausarbeitung ekklesiologischer Topoi Ausdruck finde, als vielmehr in der Entfaltung »eines umfassenden universalen Verständnisses von Kirche, das eine Grundorientierung der theologischen Arbeit überhaupt wie auch des christlichen Handelns zu thematisieren sucht«.118 Ein weiteres Indiz sei, dass »es offenbar keinen direkten Zusammenhang zwischen der theologischen Arbeit der Gegenwart und den Komplexen, in denen eine allgemeine Bedeutung des 115
RENDTORFF, Kirche und Theologie, 9. Ebd. 117 Ebd. Vgl. dazu auch ebd., 13: »Der Kirchenbegriff erscheint […] als eine Abbreviatur in der immer notwendigen Selbstverständigung der Theologie über ihren Standort und ihre Aufgabe, die es zu entschlüsseln gilt.« 118 Ebd., 12. 116
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Kirchenbegriffs verankert ist«,119 gebe. Diejenigen kirchengeschichtlichen Entwicklungen, die der Kirche eine erhöhte Bedeutung zukommen ließen, stünden eigentümlich unvermittelt neben der Renaissance des Kirchenbegriffs innerhalb der Theologie.120 Eine Entsprechung zwischen den kirchenund zeitgeschichtlichen Entwicklungen auf der einen und der theologischen Entwicklung auf der anderen Seite sei dennoch erkennbar, nämlich in dem Prozess, in dem die Kirche und die Theologie zu einem neuen emanzipativen Selbstbewusstsein gelangten. Es handle sich um eine Emanzipation der Kirche, »die alle diejenigen Bindungen zu überwinden oder sich anzueignen sucht, die diese Selbständigkeit bisher zu verstellen schienen«,121 und die ihre Kontur insbesondere im Gegenüber zur »Welt«122 gewinne. Auf Seiten der Theologie begegne »[g]enau jener emanzipative Zug, dem es um unverwechselbare und entschiedene Selbständigkeit zu tun ist, […] in dem Programm einer ›Theologie als kirchliche Wissenschaft‹«.123 Dieses Programm bringe mit der »Kirchlichkeit« zunächst die kritische Absetzung vom Neuprotestantismus zum Ausdruck, sodann auch die »unverwechselbare Besonderheit der Theologie im Kosmos der Wissenschaften«.124 Diesem Interesse der Theologie an sich selbst diene auch Karl Barths Bestimmung der Theologie als »Funktion der Kirche«. Einer nahe liegenden Deutung dieser Neubestimmung der Theologie im Rekurs auf den Kirchenbegriff sei damit allerdings zu widersprechen: Nicht dagegen bezeichnet die »Kirchlichkeit der Theologie« ursprünglich eine Bindung der Theologie an eine in Bekenntnis und Amt verfaßte Kirche und ebensowenig impliziert die Formel schon ein besonderes Interesse an der Ekklesiologie oder gar derjenigen Wirklichkeit, die dem Kirchenbegriff eine allgemeine zeitgeschichtliche Aktualität verlieh. Diese Aspekte treten allenfalls später hinzu.125
Es sei also zum Verständnis der Barthschen Formel eine Differenzierung zwischen der theologischen Funktion, »die der Kirchenbegriff im inneren Begründungszusammenhang der dialektischen Theologie ausübt«,126 und dem Interesse an der Kirche als Phänomen zu unterscheiden.
119
Ebd., 15. Vgl. zu den kirchengeschichtlichen Entwicklungen insbesondere ebd., 14. 121 Ebd., 16. 122 »Als dieser Prozeß der Emanzipation schließt die Neubesinnung auf die Kirche auch immer ein – ausdrückliches oder unausdrückliches – Urteil über die Welt mit ein, der diese Freisetzung abgerungen wird. Der genaueren Sicht des Gegenübers von ›Welt‹, das sich dabei bildet, ist allerdings ein weiter Spielraum gelassen.« (ebd.). 123 Ebd., 16f. 124 Ebd., 17. 125 Ebd. 126 Ebd. 120
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Zu widersprechen sei damit aber auch der theologiegeschichtlichen Einordnung der dialektischen Theologie und der gegenwärtigen »kirchlichen Theologie« in die Wirkungslinie »kirchlicher Theologie« des 19. Jahrhunderts, die insbesondere von Ernst Wolf und Otto Weber vertreten werde: Es leuchtet ein, daß von der dialektischen Theologie her der Linie zu Vilmar gegenüber der zu Schleiermacher der Vorzug gegeben wird; die Akzente, die der konfessionellen Theologie als einer »kirchlichen« ihr Pathos verleihen, legen dies nahe: das epochale Bewußtsein, die kritische Scheidelinie zur Masse der »nichtkirchlichen« Theologie und Christenheit. Hinzu kommt, daß dieses Kirchenbewußtsein sich nur polemisch auf das bezieht, was E. Hirsch den »neuprotestantischen Kirchenbegriff« nennt. Das theologiegeschichtliche Urteil, das die dialektische Theologie über den Neuprotestantismus gefällt hat, findet sich hier vorgebildet. 127
Die »pietistisch-konfessionelle Theologie«128 aber, die sich ihrerseits »ganz wesentlich von Schleiermacher beeinflußt«129 zeige, bilde aufgrund ihrer konstitutiven Ausrichtung auf »Kirche« im Sinne einer verfassten (kerngemeindlich bestimmten) Kirche gerade nicht den Verstehenshorizont für den Kirchenbegriff der dialektischen Theologie und dessen funktionale Bedeutung für die Theologie.130 Die Rendtorffsche Studie zeichnet die dialektische Theologie daher in das Panorama neuprotestantischer Theologiegeschichte ein. Unverkennbar ist, dass die Anlage der Arbeit Inspirationen von Emanuel Hirschs Geschichte der protestantischen Theologie empfangen hat. Zunächst gilt dies hinsichtlich der Zusammenstellung von Semler, Hegel und Schleiermacher als Vertretern eines neuprotestantischen Kirchenbegriffs,131 sodann aber in besonderer Hinsicht auf die Rolle, die Semler innerhalb der neuzeitlichen Theologiegeschichte zugewiesen wird.132 Im Anschluss an Hirsch wird der bei Semler entfaltete Zusammenhang zwischen historischer Kritik und der daraus folgenden Problematik für das Verständnis der Kirche hervorgehoben:
127
Ebd., 21. Ebd., 20. 129 Ebd., 21. Darin stimmt Rendtorff mit Barth überein (vgl. BARTH, Brunners Schleiermacherbuch, 422). 130 Zum weiteren Widerspruch gegen die Einordnung Barths in die Linie »kirchlicher Theologie« des 19. Jahrhunderts s.u. den Abschnitt zur Theorie des Christentums. 131 Vgl. dazu RENDTORFF, Kirche und Theologie, 23. 132 Vgl. etwa ebd., 30 Anm. 15. S. HIRSCH, Geschichte Bd. IV, 49: »Dem geschichtlichen Urteil heute wird es unzweifelhaft sein, daß Semler die geschichtliche Wende von der altprotestantischen zur neuprotestantischen Theologie heraufgeführt hat. Schleiermachers Arbeit ist nur auf dem von Semler und seinen Anhängern und Gefolgsleuten umgebrochenen und bereiteten geschichtlichen Boden möglich gewesen.« Vgl. dazu auch die Stellung Semlers in: HIRSCH, Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit. 128
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Sobald man in der Bibel das Wesentliche und das Zeitbedingte unterscheidet, also das die Gewissen regierende göttliche Wort nicht mehr mit ewiger Gültigkeit in Lehrartikeln festlegen kann als ein von aller menschlichen Auffassung unberührtes, stellt der Übergang von der altevangelischen zur aufgeklärten Gestalt des Kirchenbegriffs eine folgerichtige Entwicklung dar, die einen Bruch oder Sprung nicht aufweist.133
Im Folgenden wird der Fokus auf die Gegenüberstellung der beiden durch Semler auf der einen und die dialektische Theologie auf der anderen Seite markierten Pole gelegt, da dieses Spannungsverhältnis die Pointe und Charakteristik der Barthinterpretation hinreichend beleuchtet. 3.2.2 Johann Salomo Semler und die neuzeitliche Herausforderung der Theologie Insofern innerhalb der Studie der Nachweis geführt wird, dass die von Semler erarbeiteten Problemstellungen auch über das scheinbare Ende des Neuprotestantismus hinaus die Gedankenbewegung der Theologie prägen, liegt im Blickfeld der Überlegungen eine grundsätzliche Aufwertung der Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts, insbesondere der Neologie, die Rendtorffs Auffassung nach bis dahin allenfalls verkürzt wahrgenommen und kaum gewürdigt worden sei.134 Für das theologiereflexiv begründete Interesse an der Kirche ist Semler von entscheidender Bedeutung. Dieser habe nämlich ausgehend von der »Erfahrung, daß das Kirchliche zum Partikularen geworden ist«,135 »die kritische Reflexion über die Theologie an den Punkt« geführt, »an dem die Frage entsteht, an welche außerhalb der Theologie und ihr vorausliegende Wirklichkeit die Theologie gebunden ist«.136 Das Charakteristikum seines Denkens sei die Bemühung »um eine solche Definition der Theologie, die das freigibt, aus sich entläßt und so für sich zu erkennen ermöglicht, um dessentwillen auch alle theologische Erkenntnis geschieht«.137 Das, was Semler freizugeben suche, sei die »christliche Welt«, eine »größere[] Einheit der christlichen Religion und des lebendigen Christentums«,138 die von der überkommenen und allein auf die Kirche bezogenen Theologie nicht begriffen werde. Dass die »kirchliche Theologie« der christlichen Welt gegenüber verschlossen bleibe, ist ihr Semlers Urteil gemäß selbst anzulasten. Schon ihre Bestimmung als »kirchlich« sei 133
HIRSCH, Geschichte Bd. V, 150. Vgl. RENDTORFF, Kirche und Theologie, 25. RENDTORFF, Kirche und Theologie, 32: »Die Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts wird allerdings meist nicht gerade für geeignet angesehen, fruchtbare theologische Einsichten zu vermitteln.« Inwiefern Rendtorffs Semler-Deutung zutreffend ist, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Zu kritischen Hinweisen s. LAUBE, Die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion bei Johann Salomo Semler. 135 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 60. 136 Ebd., 27. 137 Ebd., 28. 138 Ebd. 134
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daher eminent kritisch, insofern ihre Reichweite damit strikt auf die verfasste Kirche begrenzt werde. Diese kritische Pointe der bisherigen Theologie gegenüber gewinne insbesondere in den historisch-kritischen Arbeiten Semlers Gestalt, die als Emanzipation der Kirche und ihrer Lehrüberlieferung gegenüber den entscheidenden Umbruch hin zur neuzeitlichen Theologiegeschichte bedeuteten. Jedoch bleibe diese neue Gestalt von Theologie nicht in der Kritik verhaftet, sodass nur die Differenz zu den Überlieferungszusammenhängen ausgearbeitet würde. Vielmehr sei die historische Kritik bei Semler von Beginn an auf eine konstruktive Aufgabe hin angelegt.139 Es gehe nämlich in der Kritik darum, »den ganzen Überlieferungs- und Lebenszusammenhang neu [zu] gewinnen und [zu] aktualisieren […], den die ältere nichtkritische Theologie mit der Kirche als vorgegeben übernimmt«.140 Die emanzipative historisch-kritische Hinwendung zur Überlieferung141 sei als Funktion jenes freien Christentums zu verstehen, welches sich in der kirchlichen Theologie nicht mehr aufgehoben wisse, diese Emanzipation somit der Kirche und ihrer Überlieferung gegenüber historisch-kritisch gewinne und doch zugleich den – gegenüber anderen Positionen innerhalb der Aufklärungszeit bedeutsamen142 – Versuch unternehme, die Tradition als mit der »kirchlichen Theologie« geteilte konstruktiv neu zu erschließen. Entsprechend zeichnet Rendtorff die kritische Pointe und deren konstruktive Wendung anhand der Semlerschen Differenzierungen von Religion und Theologie, sowie von öffentlicher und privater Religion bzw. Theologie nach. Im Verhältnis von Religion und Theologie bringe Semler eine Spannung zum Ausdruck, insofern der Begriff der Religion dasjenige be139 Die historisch-kritische Theologie »muß letzten Endes den ganzen Überlieferungs- und Lebenszusammenhang neu gewinnen und aktualisieren wollen, den die ältere und nichtkritische Theologie mit der Kirche als vorgegeben übernimmt. Die im Medium des historischen Bewußtseins sich vollziehende Verwandlung hat deshalb im Keime schon notwendigerweise konstruktive Züge.« (ebd., 30). Vgl. ebd., 43: »Die in ihrem äußeren Ablauf und Zusammenhang zuvor historisch-kritisch destruierte Geschichte des Christentums und seiner Kirchen wird nun rekonstruiert durch den inneren Gang einer ›moralischen Geschichte‹, der es vorbehalten bleibt, den wirklichen Zusammenhang mit der Offenbarung Gottes, wie sie Jesus verkündet hat, zu wahren.« Ebd.: »[…] der christliche Glaube wird fortan nicht mehr durch den Bestand seiner Lehre, sondern durch seine ihm eigene Geschichte definiert«. 140 Ebd., 30. 141 »Mit Semler tritt, wenn auch erst zögernd, die protestantische Theologie in das Zeitalter der systematischen Entwürfe und Neuansätze, zögernd noch, weil Semler selbst sich der natürlichen Theologie und Gotteserkenntnis zuneigt; aber unaufhaltsam, wenn erst einmal die theologische Bedeutung historischer Einsicht erkannt ist.« (ebd., 30 mit Bezug auf Hirsch). 142 Vgl. ebd., 31: »Semler hat die Freiheit der neuen Theologie aus der schlechten Alternative zur bisherigen dogmatischen Tradition herausgenommen, einer Alternative, die sich im Zeitalter der Aufklärung immer wieder aufgedrängt hat. Er hat sie stattdessen in einem sinnvollen, weil geschichtlichen Verhältnis zu derjenigen Tradition bestimmt, auf die sie sich gemeinsam mit der kirchlichen Theologie gründen kann.«
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schreibe, »was an der christlichen Wahrheit und Lehre allgemein ist, allen gehört«.143 Demgegenüber werde die »kirchliche Theologie« »als Angelegenheit nur der kirchlichen Lehrer bestimmt, weil sie diese Allgemeinheit gerade nicht mehr zu gewährleisten vermag, sondern sie verstellt«.144 Das Bemühen, das Recht dieser größeren Allgemeinheit der als bloß partikular erkannten Theologie gegenüber zu vertreten, bestimme das Semlersche Denken145 zunächst. Sodann bemühe er sich jedoch, eine »Theologie des freien Protestantismus« zu entwickeln, die nicht in der Alternative zur »kirchlichen Theologie« verhaftet bleiben solle. Entsprechend werde auch das Verhältnis zwischen Privatreligion bzw. Privattheologie und öffentlicher (kirchlicher) Religion bzw. Theologie vordergründig als konkurrierend verstanden. Der Begriff der »Privattheologie« bezeichnet »eine vernünftige, die denkende Einsicht des Menschen betreffende Aneignung der christlichen Wahrheit«.146 Diese je individuelle Aneignung sei Sache des »gebildeten Christen«147 und Grundlage von dessen »moralischer« Geschichte. Die Pointe dieses Begriffs der »moralischen Geschichte« liege darin, dass er die Einbeziehung des »einzelnen Menschen in den Wirkungsbereich der christlichen Wahrheit«148 bedeute. Zugleich bilde er damit die Grundlage der Rekonstruktion der zuvor »historischkritisch destruierte[n] Geschichte des Christentums und seiner Kirchen«.149 Die öffentliche bzw. kirchliche Theologie sei dieser freien Einsicht gegenüber durch ein Herrschaftsinteresse gekennzeichnet: Die kirchliche Theologie und das kirchliche System in Lehre und Leben, deren Anerkennung um des Heils willen gefordert wird, ist doch selbst nicht um der wahren Religion willen ausgebildet worden, sondern allein zum Zweck der Einheit der Kirchen, der Großkirche oder kirchlichen Gesellschaften.150
Die Herrschaft durch verbindlich erklärte Lehre bleibe damit äußerlich und gefährde die moralische Religion. Den Weg aus einer von ihm abgelehnten schroffen Alternative zwischen jeweils mit totalem Anspruch auftretender 143
Ebd., 34. Ebd. 145 Vgl. ebd., 36. 146 Ebd., 37. 147 Ebd., 39 Anm. 49a. 148 Ebd., 42. »Semler rekurriert immer dort auf den Ausdruck moralisch, wo es ihm um die Lebendigkeit der christlichen Religion und des Glaubens zu tun ist, wo gegenüber der erstarrten Orthodoxie, gegenüber dem dogmatischen Anspruch der kirchlichen Autorität, die den Christen auf das einmal festgelegte System ihrer Lehre verpflichten will, die immer neue Aktualität des Erkennens und Glaubens ausgesagt werden soll.« (ebd., 42f). 149 Ebd., 43. Diese werde »neu rekonstruiert durch den inneren Gang einer ›moralischen Geschichte‹, der es vorbehalten bleibt, den wirklichen Zusammenhang mit der Offenbarung Gottes, wie sie Jesus verkündet hat, zu wahren.« 150 Ebd., 45. 144
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kirchlicher Lehre und dem »radikalen Freiheitswillen der Aufklärung«151 beschreite Semler nun durch deren Rückführung »auf ihre historische Herkunft […], indem er sie als Momente eines geschichtlichen Prozesses bestimmt, in den die eigene Zeit eingeschlossen ist«.152 Dies sei der entscheidende Beitrag Semlers im Blick auf seine Nachfolger, dass er »die Einheit der christlichen Religion nicht als Einheit der Lehre, sondern als die Einheit ihrer Geschichte«153 zu begreifen versucht habe. Die Kirchenlehre könne sich selbst daher nur im Horizont der Kirchengeschichte recht verstehen. Semler entfalte diesen Zusammenhang in der Akkomodationstheorie, die die Kirchen als »Spätphasen verschiedener individueller und lokaler Aneignungsvorgänge der christlichen Religion«154 verstehen lasse. Die Kirche werde durch diese geschichtliche Einsicht in ihren Ursprung zu der Erkenntnis geführt, dass sie selbst die Folge einst aktueller Wahrnehmung der christlichen Religion darstellt. Sie könne damit aber koexistenzfähig mit der freien gegenwärtigen Aneignung der Privattheologie werden. »Dem Grundgedanken der Akkommodation entspricht bei ihm [sc. Semler] die Freiheit des Christen in der Annahme der christlichen Religion.« – Die Akkommodation bedeute, dass die jeweils zeitgebundenen Lehrgestalten gerade als besondere auf die »›Allgemeinheit‹ der Religion«155 bezogen blieben. Aus der »Anerkennung der tatsächlichen konkreten Wirklichkeit«156 folge somit zugleich die Kritik der radikalen aufklärerischen Kirchenkritik, insofern das Vorhandensein »unfähiger Christen« den begrenzten Dienst öffentlicher Theologie erfordere. Die gegenwärtige Funktion der Kirche beziehe sich daher nicht auf alle Christen, sondern auf die »äußerlichen Christen«, die gegenüber den »moralisch Aufmerksamen«, den Trägern der Privattheologie, der äußerlichen Ordnung bedürfen und auf die Lehre der Kirche angewiesen seien, ohne dass nun ihnen dadurch das Christsein abgesprochen würde.157 Dies sei das Ergebnis der auf die Gegenwart angewendeten Akkommodationstheorie. Mit diesem Programm einer »Theorie der christlichen Welt, wie er sie vorfindet«,158 gehe es Semler »um die Rechtfertigung eines konkreten Denkens, das die tatsächlichen Unterschiede der christlichen Welt nicht gegen151
Ebd., 48. Ebd. 153 Ebd., 48f. 154 Ebd., 51. 155 Ebd., 52. 156 Ebd., 55. 157 »Die Kirche leistet mit ihrer Lehre für die ›unfähigen Christen‹ genau dasselbe, was bei den ›tätigen Christen‹ die eigene Einsicht vermag.« (ebd., 54). 158 Ebd., 55. 152
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einander ausspielt, sondern in einem sie umfassenden Zusammenhang versteht«.159 Gleichwohl stehe in diesem Zusammenhang die Vorrangstellung der Privatreligion als »allgemeinerer Fassung« zu,160 die – die relative Funktion der »öffentlichen Theologie« erschließend – der Erfahrung des Bruchs Rechnung trage, »daß das Kirchliche zum Partikularen geworden ist«.161 Dass er den Ausbruch der Gebildeten aus den kirchlichen Schranken als theologisch relevant erkannt und gerade angesichts dessen an der »Allgemeinheit und Universalität der christlichen Religion«162 festgehalten habe, lasse Semler als den »bessere[n] Erben der Orthodoxie« erscheinen »als diese als ›kirchliche‹ Theologie selbst«.163 Semlers Denken als theologiegeschichtlicher Orientierungspunkt eröffnet daher, dies wird vor dem Hintergrund des sozialtheologischen Problemhorizonts der Rendtorffschen Studie deutlich, erhebliche Potentiale. Die geschichtliche Wirklichkeit wird als theologisch relevant anerkannt und jenseits von Verkirchlichungstendenzen und Abfallsszenarien als bleibend christlich geprägt und einer neuen Gestalt von Allgemeinheit folgend erschlossen. Die Linie jenes sich in der Aufklärungsepoche von der allein kirchlichen Gestalt des Christentums in freier Einsicht emanzipierenden Christentums wird für diejenigen Christen, die sich gegenwärtig außerhalb des kerngemeindlichen Lebens wissen, zum christentumsgeschichtlichen Identifikationsangebot.164 Obgleich Semlers Begründung des Kirchenbegriffs noch unzureichend bleibe,165 zeichnet ihn für Rendtorff doch das Bemühen aus, an der konstruktiven Beziehung des freien Christentums zum kirchlich verfassten Christentum und dessen Überlieferungen festzuhalten. Hegel und Schleiermacher sind Erben dieses Semlerschen Neuaufbruchs. Eine detaillierte Aufarbeitung der Rendtorffschen Deutung dieser Fortführungen neuzeitlicher Theologiegeschichte ist in diesem Zusammenhang nicht erforderlich, da die Spannung zwischen dem durch Semler eingeschlagenen Weg und dem der »dialektischen Theologie« hinreichend für die Ermittlung der Stoßrichtung von Rendtorffs Deutung der Barthschen Theologie im Kontext der dialektischen Theologie ist. Hegel wie Schleiermacher ringen auf je ihre Weise um eine konstruktive »theologisch-philosophische[] Aufarbeitung der zuvor destruierten christlich-kirchlichen Überlieferung«,166 in welcher der 159
Ebd., 58. Vgl. ebd., 59: »Das Interesse, das hier gegenüber der ›öffentlichen‹ Religion als ein privates firmiert, ist doch in Wahrheit das Interesse an einer neuen Öffentlichkeit der christlichen Religion.« 161 Ebd., 60. 162 Ebd. 163 Ebd. 164 Vgl. dazu insbesondere später RENDTORFF, Christentum außerhalb der Kirche. 165 Vgl. RENDTORFF, Kirche und Theologie, 61. 166 Ebd., 64. 160
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Kirchenbegriff – so Rendtorffs These – die Funktion erfüllt, »die geschichtliche und sachliche Kontinuität des christlichen Glaubens und Denkens, ihre gemeinsame Welt begreifen zu lassen«.167 3.2.3 Die Funktion des Kirchenbegriffs in der dialektischen Theologie Der Begriff »dialektische Theologie« umfasst für Rendtorff Barth, Bultmann und Gogarten vor dem Hintergrund der »Grundgemeinsamkeiten« ihrer Theologie, die »zumindest für die Zeit bis zu Anfang der dreißiger Jahre«168 erkennbar seien. Bereits aus dem Duktus der bisherigen Untersuchung – und vor dem Hintergrund der vorangegangenen Studien – zeichnet sich eine eminent kritische Deutung dieser scheinbar grundlegenden Umorientierung innerhalb der protestantischen Theologie ab. Entwickelten Hegel und Schleiermacher im Anschluss an die Impulse Semlers »Theorien des Christentums«, die durch den »Geist der Anerkennung der christlichen Gegenwart«169 miteinander verbunden seien, so sei »durchaus zu erwägen, ob dieser Grundzug nicht auch schon die Überlegenheit dieses Denkens über solche Kritik enthält, die sich an der prinzipiellen Differenz zur Gegenwart auslegt«.170 Die Wahrung der prinzipiellen Differenz zur Gegenwart bilde aber den Grundzug, der die dialektische Theologie von ihren Anfängen an gleichsam als Cantus firmus leite. Augenscheinlich zeichnet sich damit ein scharfer Gegensatz zwischen den Polen »Semler« und der »dialektischen Theologie« ab. Das erkenntnisleitende Ziel der Rendtorffschen Untersuchung besteht indes in dem »Nachweis, wie in der dialektischen Theologie diejenigen Gegensätze, an denen sie sich ihrer Differenz zur bisherigen protestantischen Theologie bewußt geworden ist, in ihrer eigenen theologischen Entfaltung strukturell zur Geltung gekommen sind«.171 Darin ist aber zugleich die systematische Relevanz der theologiegeschichtlichen Ausarbeitung, nicht zuletzt vor dem sozialtheologischen Hintergrund, erkennbar: Auch im Widerspruch der dialektischen Theologie blieben die Kernprobleme des Neuprotestantismus präsent. Die zu Beginn vollzogenen Abgrenzungen gegen den Neuprotestantismus würden stets von Neuem aktualisiert und erhielten eine »konstruktive Bedeutung gerade auch in der immanenten Entfaltung dieser 167
Ebd. Ebd., 169. Freilich werde »es später notwendig wird, statt der allgemeinen Charakterisierung die differenten Positionen und Entwürfe der einzelnen Theologen gegeneinander abzuwägen« (ebd., 169). Rendtorffs Studie hat in dieser Zusammenschau der drei Theologen als »die dialektische Theologie« im Blick auf die Bestimmung der »Kirchlichkeit der Theologie« freilich Anhalt an der von ihm vorausgesetzten Studie von WOLF, Barmen, insbesondere 25–32. 169 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 167. 170 Ebd. 171 Ebd., 170. 168
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Theologie«.172 Der Anspruch der dialektischen Theologen, ihr Ansatz sei »Ausdruck eines völlig anderen Themas der Theologie überhaupt«,173 scheint damit hinfällig. Die Konstanz neuprotestantischer Fragestellungen in der Gestalt von Abgrenzungen sei als Hinweis darauf zu verstehen, »daß die Situation des Christentums und so auch der Theologie in ihr nicht schon dadurch eine andere wird, daß man sich des in ihr angelegten Horizontes theologischen Denkens entschlägt«.174 Der damit verfolgte Interpretationszugang impliziert eine Pointe jenen Deutungen gegenüber, die die Genese der dialektischen Theologie aus dem Rekurs auf Bibel und Reformation herzuleiten suchen. In dem Bewusstsein, mit diesem Verfahren eine Außenperspektive einzunehmen, werde eine »sehr viel begrenztere«175 Perspektive gewählt, nämlich im Blick auf die Frage, »mit welchen Konsequenzen die dort [sc. in der Theologie von Semler bis Troeltsch] verhandelte Frage von Theologie und Kirche im Umkreis einer solchen Verständigung über das Christentum hier aufgenommen und bearbeitet worden ist«.176 Die damit verbundene Distanzierung dem Anspruch gegenüber, der aus der immanenten Bewegung dialektischer Theologie erwächst, kennzeichnet auch den Umgang mit deren Urteil über den Neuprotestantismus. Die Feststellung Jürgen Moltmanns, dass »die dialektische Theologie ›effektiv eine Kraft des Gerichts über eine tote Vergangenheit‹ war«,177 sei ein »Urteil, das […] an den Anfängen der dialektischen Theologie« beobachtbar aber kaum gegenwärtig zu wiederholen sei. Die Distanzierung dem unmittelbaren Anspruch der dialektischen Theologie gegenüber kennzeichnet Rendtorffs Darstellung. Ausgehend von der Einsicht in die in der Entwicklung der dialektischen Theologie präsente Auseinandersetzung mit der Theologie des 19. Jahrhunderts sucht Rendtorff einen Weg jenseits der scheinbaren Alternative zwischen einer historisierenden Interpretation allein vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Konstellationen gegen Ende des Ersten Weltkriegs und einer unhistorischen Interpretation aus der Innenperspektive dialektischer Theologie, die nur zur Erkenntnis der »Überwindung« der Theologie des 19. Jahrhunderts durch die theologia vera führen könne. Diesen Versuch 172
Ebd. Ebd., 169. 174 Ebd., 171. Kontinuitätsstiftend ist die Untersuchung daher in der »Definition langfristiger Fragestellungen der Theologie […], die sich gerade im Wandel, sei er noch so radikal, durchhalten« (ebd., 172). 175 Vgl. ebd., 172. Diese scheinbare Zurückhaltung darf über die kritische Pointe nicht hinwegtäuschen. So folge die theologiegeschichtliche Untersuchung »ihren eigenen Gesichtspunkten vor allem darin, daß es ihr weniger um den Nachvollzug der immanenten, aus dem Pathos ihres Anspruches folgenden theologischen Qualifikation der dialektischen Theologie zu tun ist«. 176 Ebd., 172. 177 Ebd. 173
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unternimmt Rendtorff in vier Abschnitten: 1) »Die Opposition gegen das Bestehende«, 2) »Die Reduktion des Christentums auf Theologie«, 3) »Theologie außerhalb der Wissenschaft« und 4) »Kirche und Offenbarung«. 1. »Die Opposition gegen das Bestehende« Dass die dialektische Theologie nur eingebettet in geschichtliche Zusammenhänge zu verstehen ist, steht für Rendtorff außer Frage: »Denn niemand wird ja unterstellen wollen, daß die dialektische Theologie nicht aus dieser Welt sei.«178 Die geschichtliche Dimension schließt somit zum Einen das Verständnis der dialektischen Theologie als Fortführung neuprotestantischer Problembestände ein, zum Anderen sei sie aber »nicht denkbar ohne den innigen Zusammenhang […] mit wesentlichen Kräften des allgemeinen Bewußtseinswandels der Zeit«.179 In dieser Einschätzung rekurriert Rendtorff auf Studien von Krockow, Löwith und Scholder. Scholders Urteil im Blick auf die Theologie Gogartens zeigt exemplarisch die Charakteristik des auch von Rendtorff verfolgten Deutungszugangs: »Es weist manches darauf hin, daß für den Gogarten der zwanziger Jahre die Krise das erste und Gottes Wort das zweite war.«180 Jedoch stelle sich das Verhältnis zwischen der dialektischen Theologie und der allgemeinen Krisenstimmung nicht als bloß einseitige Abhängigkeit dar, vielmehr gehöre die dialektische Theologie zu den Bestimmungsfaktoren dieser Situation der krisenhaft zugespitzten Moderne nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die eigenständige Verarbeitung der allgemeinen Krisenerfahrung in der Theologie habe ihre Lösung von den »zeitgeschichtlichen antiliberalen Strömungen«181 und damit zugleich das dauerhafte Überleben jener Krisenstruktur innerhalb der Theologie, nachdem sie im außertheologischen Kontext zurückgetreten war, ermöglicht. Die Theologie stehe daher in keinem bloß äußerlichen Zusammenhang mit der Kultur der Weimarer Zeit, sondern sei in diesem Sinne Welt, dass sie in eigenständiger Durchführung das geistige Leben ihrer Zeit repräsentiere. Diese Verhaftung im Zeitgeist findet, wie am Beispiel Gogartens gezeigt wird, in der Kritik des Humanismus und der geistigen Tradition des 19. Jahrhunderts sowie deren zeitgenössischen Erscheinungen Ausdruck. In theologischer Fassung werde eine grundsätzliche Kritik jener Entwicklung vorgetragen, die die Theologie unter den Einfluss von Aufklärung und Idealismus gebracht habe. Mit der Kritik der »Kultur« sei aber zugleich eine »theologische Emanzipation der Gotteserkenntnis«182 verbunden: 178
Ebd. Ebd., 170. Vgl. ebd. Anm. 3 und ebd., 173 Anm. 9 die Bezugnahme auf einschlägige Studien. 180 SCHOLDER, Neuere deutsche Geschichte, 84. 181 Vgl. RENDTORFF, Kirche und Theologie, 174. 182 Ebd., 176. Rendtorff rekurriert insbesondere auf die Aufsätze in: GOGARTEN, Die religiöse Entscheidung; DERS., Von Glauben und Offenbarung; DERS., Illusionen. 179
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Die Emanzipation von der Kultur und ihrem System setzt die Frage nach Gott frei, die Ursprünglichkeit der Gottesfrage hat ihren Ort jenseits der menschlichen Welt und ist ihrem Inhalte gemäß bestimmt als der theologische Kern der Krise über die Kultur.183
Diesem Zusammenhang von Krisenansage und Gotteserkenntnis bei Gogarten strukturparallel verlaufe die Argumentation in Karl Barths Tambacher Vortrag, in dem jene Emanzipation der Gottesfrage in dem Themenwechsel von »Der Christ in der Gesellschaft« zu »Christus in der Gesellschaft« erscheine. Wiederum kennzeichneten »Ursprünglichkeit« und »Unmittelbarkeit« eine Wende, die in den »Emanzipationsbewegungen, die zeitgeschichtlich als Jugendbewegung, Kritik des Bürgertums, Expressionistische Kunst usw. auftreten«, ebenfalls präsent sei. Im Blick auf diese grundsätzliche Krise sei die Theologie Barths »Hermeneutik des Faktischen, Verstehen dessen, was ohnehin geschieht«.184 Die Krise werde hier auf Dauer gestellt, da menschliches Mitwirken und ›Handelnwollen‹ in ihr kategorisch ausgeschlossen würden.185 Die fundamentale Opposition gegen die Grundlagen der Gesellschaft dominiere deutlich gegenüber der in der frühen Theologie nur schwach anklingenden Aufforderung zur sachlichen Mitwirkung in dem Bereich der Kultur. Die theologische Fassung der allgemeinen Kulturkritik speise sich »nicht aus Problemstellungen […], die den Konflikten des Bestehenden immanent« seien, sondern habe ihren Grund in dem Ausschluss der »Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit der Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis« durch die Bindung an Kultur und Gesellschaft.186 Es handle sich darum nicht um eine »theologisch stilisierte Verlängerung Nachkriegsgeistes«,187 vielmehr liege das Proprium der theologisch begründeten Kulturkritik in der Einsicht, dass sich die Welt gerade in ihrem Scheitern wider ihr Wissen als Welt Gottes erweise.188 Sie sei darum Deutung der sich vollziehenden geschichtlichen Ereignisse. Die Pointe dieses Deutungsversuchs liegt zunächst darin, dass die dialektische Theologie wie die Christentumstheorie Semlers auf eine bestimmte geschichtliche Situation und deren Herausforderungen bezogen ist und sich ihrerseits der Aufgabe stellt, das faktische Geschehen als theologisch relevant zu erfassen. Insofern diese Krise, die von der dialektischen Theologie 183
RENDTORFF, Kirche und Theologie, 176. Ebd., 177. 185 Ebd., 178. 186 Ebd., 179. 187 Ebd. 188 »Vielmehr liegt die Eigenwilligkeit der theologisch fortgebildeten Kulturkritik in einer anderen Richtung: Sie wird aus einer Übereinstimmung mit der kritisch verworfenen und oppositionell in Frage gestellten Welt sichtbar, die darin beruht, daß sie untergründig und wider ihr besseres Wissen Gottes Welt ist, gerade dort, wo sie scheitert.« (ebd.). 184
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vorausgesetzt und mitgestaltet wird, eben jene Krise ist, der sich auch die neuprotestantische Theoriebildung ausgesetzt sah, ist ein gemeinsamer Problemhorizont ermittelt. 2. »Die Reduktion des Christentums auf Theologie« Da in der theologisch radikalisierten Kulturkritik der Bezugsrahmen der geschichtlichen Wirklichkeit grundsätzlich verlassen wird, stellen sich unweigerlich weit reichende Konsequenzen im Blick auf das Theologieverständnis ein, dem nunmehr »das Christentum nicht mehr der geschichtliche Bezugsrahmen sein kann, innerhalb dessen die Beziehungen zu den anderen Gestalten der Wirklichkeitserkenntnis und der Erfahrung vermittelt werden können«.189 Keine geschichtliche Wirklichkeit könne an die Stelle der Kultur treten. Als Konsequenz daraus gehe die Kritik strukturell in die Entfaltung der göttlichen Wirklichkeit ein, wobei erst die Beanspruchung der göttlichen Wirklichkeit »der [Kultur-]Kritik ihre theologische Radikalität«190 verleihe. In ein theologiegeschichtliches Urteil gewendet bedeutet diese Einsicht in den systematischen Charakter der dialektischen Theologie, dass die vorangegangenen Theologiegestalten – als Exponenten der Kultur – dauerhaft radikaler Kritik unterworfen und gerade damit konstitutiv im Sinne eines negativen Außenbezugs für die dialektische Theologie seien. Die materiale Gestalt der Theologie Barths ist darum kaum als Entfaltung eines positiven Gehaltes verständlich. Vielmehr sei »der Gottesbegriff, der als das Scheitern des aufgeklärt-idealistischen, kulturell-religiösen Systems manifest wird, in seinem Inhalt nicht ohne Bezug auf die verworfenen Positionen denkbar«,191 er bedürfe des Gegenübers aller geschichtlichen Wirklichkeit. Damit freilich ist eine These mit weit reichenden Konsequenzen für das Verständnis der dialektischen Theologie aufgestellt. Deren Orientierung an Gott ist wesentlich auf einen starken Gegenbegriff, die dialektische Theologie damit konstitutiv auf das Gegenüber des Neuprotestantismus – wenngleich kritisch – bezogen. Aus der prinzipiellen Kritik der Wirklichkeit folgt aber auch die Frage, ob es der dialektischen Theologie überhaupt möglich sei, »die zuvor destruierte Welt aus den Gründen, die diese Destruktion nötig machten, gleichsam theologisch zu rekonstruieren«.192 Dieser Aufgabe, »an die Stelle des untergehenden Systems von Kultur und Religion andere, der Gotteswirklichkeit adäquatere Wirklichkeitsbereiche«193 zu setzen, sei auch sie schließlich nicht enthoben. Ansätze zu dieser gegenläufig zur menschlichen 189
Ebd., 180. Ebd. 191 Ebd. 192 Ebd. (Hervorhebung von mir, S.H.). 193 Ebd., 181. 190
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Wirklichkeit in »Jenseitigkeit und Andersartigkeit«194 verlaufenden Rekonstruktion finden sich für Rendtorff in Gogartens Studien zu »Volkstum« und »Autorität«195 sowie Barths Äußerungen zur Analogie im Tambacher Vortrag.196 Diese frühen, wie auch die späteren Versuche der unterschiedlichen dialektischen Theologen zeigten jedoch, dass es nicht gelänge, Entfaltungsmöglichkeiten in anderen Wirklichkeitsbereichen aufzuzeigen, ohne sich zugleich in Widersprüche zu verstricken. Die radikale theologische Opposition lasse »keine eigenen Kriterien zu, mit deren Hilfe der eindeutigen Opposition gegen das Bestehende eine ebenso eindeutige Anerkennung anderer Wirklichkeit folgen könnte«.197 Der einzig adäquate Entfaltungsraum sei damit derjenige, an dem der Vollzug der Unterscheidung und Kritik der Kultur selbst seinen Ort hat: Nicht die Wirklichkeit von Kultur, Gesellschaft, Religion überhaupt, sondern die Theologie, die sie wahrnimmt und in ihnen lebt und denkt, ist deshalb als der angemessene, begrenzbare und der Diskussion zugängliche Bereich zu definieren, in dem die dialektische Theologie sich ernsthaft bewähren kann.198
Jenseits dieser Grenzen trügen die Intentionen der Theologie lediglich »proklamatorischen Charakter«, die »›Weltseite‹ der Theologie und des Christentums« werde nur undifferenziert im Modus der Abgrenzung thematisch, die »unumgängliche Problemfülle des neuzeitlichen Denkens« werde »strikt theologisch mit einem Hang zur Exklusivität«199 verhandelt. 3. »Theologie außerhalb der Wissenschaft« Die Bestimmung dieses jenseitigen Ortes des theologischen Denkens bedarf nun aber weiterer Präzisierung. Dem Duktus der bisherigen Abgrenzungen folgend nämlich könne der Ort, von dem aus die Theologiekritik vorgetragen wird, nur außerhalb des existierenden theologischen Wissenschaftssystems liegen, welches als Exponent der untergehenden Kultur verstanden werde.200 Die in der gegenwärtigen Theologie nur mittelbar thematisch werdende Frage nach Gott sei der Grund solcher Kritik: »Die Aufnahme eines substantiellen Begriffs der Theologie als Gotteslehre ist es, der gegen den formalwissenschaftlichen gestellt wird, an dem die Disziplinen des akademischen Betriebes ihre Rechtfertigung finden und der ihren Zusammenhang definiert.«201 Aus diesem Grund stünden die frühen Werke, insbesondere der 194
Ebd. Vgl. etwa GOGARTEN, Wider die Ächtung der Autorität; DERS., Politische Ethik. 196 BARTH, Der Christ in der Gesellschaft, 22ff. 197 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 181. 198 Ebd., 182. 199 Ebd. 200 Vgl. ebd., 183f. 201 Ebd., 184. 195
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Barthsche Römerbriefkommentar, außerhalb der theologischen Wissenschaft. Sie entsprächen damit der theologisch festgelegten Standpunktlosigkeit des rechte theologische Wissenschaft treibenden Menschen.202 Die geschichtliche Wirklichkeit deckt sich an diesem Punkt mit dem Anspruch, von »außerhalb« zu sprechen. Jedoch impliziert dies wiederum eine kritische Pointe gegen die Selbstdeutung der dialektischen Theologen: Es sei »nicht die Praxis, die sich gegen eine ihr fremde Theorie wendet und sich dabei auf die Erfahrung und das Vorhandene beruft. Die Konzeption einer Theologie von außerhalb der Wissenschaft gilt in einem sachlichen, mit der Wissenschaftlichkeit der Theologie voll und ganz konkurrierenden Sinne.«203 Nichts weniger als der gesamte Weg der Theologie seit der Aufklärung, welche sich von der Orthodoxie durch die Einsicht emanzipiert hatte, dass in der Rede von Gott immer zugleich vom Menschen zu sprechen sei, werde hier in Frage gestellt. Semlers Versuch, »die Möglichkeit der Theologie für den Menschen«204 herauszustellen, trete die Auffassung entgegen, »daß ›Gottes Wort Unmögliches in jedem Sinne vom Menschen fordert‹«.205 Konkret zeige sich diese Auseinandersetzung mit der »liberalen Theologie« am Problem der Geschichte, »das die dialektische Theologie von der liberalen übernimmt und im Horizonte ihres Theologiebegriffs aufzulösen sucht«.206 Positiv knüpfe sie hier an die Krise des Historismus, insbesondere im Werk Ernst Troeltschs, an. Allen voran Gogarten207 mache »[a]us der Aporie der historischen Forschung […] die theologische Tugend, die in der Anerkennung der Ungegenständlichkeit Gottes gerade für den Glauben besteht«.208 Eine parallele Argumentationsstruktur, die in den späten Vertretern des Neuprotestantismus und ihren negativen Ergebnissen zugleich
202
Vgl. ebd., 185. Ebd., 183f. 204 Ebd., 185. 205 Ebd. (zitiert wird BULTMANN, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, 15): »Jede Form menschlichen Gemeinschaftslebens, die schlimmste wie die idealste, steht in gleicher Weise unter dem göttlichen Gericht. Und es bedeutet, sich diesem Gericht entziehen, es nicht in seinem ganzen Ernst erfassen, wenn man meint, in sozialer Arbeit, durch Alkoholabstinenz […] einen irgendwie gottgefälligeren Zustand der Welt zu verwirklichen. Die Frage also z.B., ob der Christ Pazifist sein müsse, ist abzuweisen; sie hat der Mensch in seiner geschichtlichen Situation zu beantworten. Ist der Pazifismus ein Ideal menschlichen Gemeinschaftslebens, so würde er, selbst wenn seine Verwirklichung in der unendlichen Zukunft läge, in der die Realisierung aller Ideen liegt, eine menschliche Möglichkeit sein, während Gottes Wort Unmögliches in jedem Sinne vom Menschen fordert.« 206 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 186. 207 Hier im Blick auf GOGARTEN, Wider die romantische Theologie. S. RENDTORFF, Kirche und Theologie, 143: »[…] die Erkenntnis Troeltschs hätte die Theologie wieder in entscheidender Weise vor ihr Problem, die Offenbarung, stellen und sie damit von ihrer Halbheit befreien können«. 208 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 186f. 203
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Zeugen des eigenen Neuansatzes erblickte, zeige sich auch in Barths Auseinandersetzung mit Adolf von Harnack.209 Dieser grundsätzliche Widerspruch treffe freilich die gesamte vorangegangene Theologiegeschichte, die gesamte »Epoche der Christentumsgeschichte«,210 in der der historischen Forschung als Funktion des sich emanzipierenden Subjekts und legitime Folge christlicher Freiheit ein solcher Platz zugewiesen wurde: Diejenige historische Differenz also, die am Beginn der historisch-kritischen Theologie, wie man ihn bei Semler studieren kann, ein Moment der Freiheit zur eigenen Religion darstellte, wird in dem Augenblick wesenlos, wo eine Theologie auftritt, die die Erkenntnis Gottes als einen Inhalt begreift, der alle menschlichen Aneignungsbemühungen ohnehin sprengt. Ihr erscheint dann die historisch denkende Theologie nur noch als Ausdruck einer sich Gott verweigernden religiösen Selbstbetätigung.211
Der Vorwurf der Rückkehr zur vorkritischen Theologie, als »negative Analogie zu der kritischen Theologie seit der Aufklärung«,212 trifft freilich nicht nur Barth sondern zugleich Bultmann. »So scheidet« – resümiert Rendtorff – »die geschichtliche Welt des Christentums jedenfalls von Anfang an als Ort der Theologie, der ihrer würdig wäre, aus«.213 Und dennoch sei es auch für die dialektische Theologie erforderlich, »über den Ort der Theologie, der sie als menschlicher Unternehmen bestimmbar werden läßt, Auskunft zu geben«.214 4. »Kirche und Offenbarung« An dieser Stelle nun wird der Kirchenbegriff innerhalb der dialektischen Theologie zum Thema: »Der Kirchenbegriff hat es mit der Frage zu tun, wie die Offenbarung in den Zusammenhang menschlicher Wirklichkeit eintreten kann, ohne die ihr zukommende Andersartigkeit preiszugeben.«215 Diese Aufgabe, den Eintritt der Offenbarung »in den Zusammenhang menschlicher Wirklichkeit« zu konstruieren, sei unumgänglich, insofern ein Stehenbleiben bei der kritischen Abgrenzung ›nach außen‹ auf Dauer nicht alleiniger Inhalt theologischer Arbeit sein könne, zudem dürfe das Verhältnis zum Menschen 209
Ebd., 187. Rendtorff kann dies zugespitzt mit Blick auf die Kirchliche Dogmatik als Barths »Abscheu gegen das historische Denken« bezeichnen (ebd., 189 Anm. 63). 210 Ebd., 188. 211 Ebd., 189. 212 Ebd., 190. »Die Sachhaltigkeit exegetischer Arbeit macht jede historische Distanz unmöglich, fordert vielmehr, die ›Autorität‹ des auszulegenden Textes unmittelbar zu Worte kommen zu lassen. […] Für den Theologiebegriff bedeutet das das Zusammenfallen von exegetischer und systematischer Theologie, also die Wiederherstellung des vorkritischen, ›ursprünglichen‹ Zusammenhangs, der nur Gegenwart theologischer Sachverhalte kennt.« (ebd.). 213 Ebd. 214 Ebd. 215 Ebd., 191.
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– insofern Menschen Theologie treiben – nicht unbegriffen bleiben. Es handle sich um eine »prekäre Frage«, weil die Offenbarungstheologie hier unter der Herausforderung stehe, »die strenge Exklusivität des theologischen Themas dort [zu] wahren […], wo sie am gefährdetsten ist: in der Beziehung zum Menschen«.216 Der Kirchenbegriff wird daher ausschließlich in dieser grundlegenden Bedeutung für die Theologie thematisiert, hingegen bleiben die eigentlichen ekklesiologischen Studien in Rendtorffs Untersuchung unberücksichtigt.217 Anhand von Gogartens Schrift Die religiöse Entscheidung218 zeichnet Rendtorff die Bedeutung der Funktionsbestimmung »Die Kirche ist der Ort der Offenbarung«219 nach. Aus der Entgegensetzung von Gott und Mensch entstehe hier die Aufgabe, die Beziehung bzw. den »Übergang« zwischen Gott und Mensch »exklusiv von Gott her zu beantworten«.220 Dies sei aber nur möglich vor dem Hintergrund, dass es Gottes Tat sei, die ihre »Folgen«, d.h. ihre Beziehung zur Wirklichkeit des Menschen, trage. Die Andersartigkeit von Gott und Mensch müsse gerade in der Offenbarung gewahrt bleiben: Genau das zu definieren und weiter zu entfalten, ist aber die Aufgabe des Kirchenbegriffs. Dieser hat der dialektischen Theologie die Leistung zu erbringen, die Konsequenzen der Offenbarungstat als die der Offenbarung selbst allein eigenen zu formulieren. Der Kirchenbegriff ist die Definition der Offenbarung nach ihren Konsequenzen. Diese Konsequenzen können in keiner Weise als Bestandteil menschlich-geschichtlicher Welt angesehen werden.221
Der Begriff der Kirche werde daher allein durch das zugrunde liegende göttliche Geschehen qualifiziert, der Ort dieser »Kirche« sei »genau da, wo zwei Welten aufeinanderstoßen«.222 Der Kirchenbegriff stehe daher funktional im Dienste der »Hermeneutik der Offenbarung«.223 Eine spezifische inhaltliche Bestimmtheit jedoch erlange der Kirchenbegriff bei Gogarten nur durch seine Abgrenzungen der »Welt« gegenüber.224 Insbesondere bei Barth werde deutlich, dass der Kirchenbegriff eine »Schutzfunktion«225 erfülle, indem er die Andersartigkeit Gottes auch in 216
Ebd. Vgl. ebd., 191 Anm. 67. 218 GOGARTEN, Die religiöse Entscheidung, bes. 75–97 (»Die Kirche«). 219 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 191. 220 Ebd., 192. 221 Ebd. (Hervorhebung von mir, S.H.). 222 Zitiert ebd., 193. 223 Ebd., 193. Vgl. ebd.: »Die Kirche gibt die nochmalige Definition der Andersartigkeit Gottes im Offenbarungsgeschehen und hält sie im Vollzuge der Offenbarung in der Welt fest.« 224 »Die Abgrenzungen sind es […], die dem Begriff der Kirche überhaupt eine bestimmte Kontur geben, die je nach den Bezügen, in denen gedacht wird, durchaus wechseln kann, ohne doch in ihrer formalen Struktur sich zu verändern.« (ebd., 194). 225 Vgl. ebd., 193. 217
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dessen Beziehung zu Mensch und Welt wahren solle. Unter dem Titel »Kirche statt Geschichte«226 wird daher die Funktion des Kirchenbegriffs innerhalb der Theologie Barths anhand der ersten veröffentlichten Dogmatik Die christliche Dogmatik im Entwurf ermittelt. Gleichsam als Schlüsselbestimmung wird Barths Feststellung angeführt, »das Problem ›Offenbarung und Geschichte‹ müsse künftig als das von ›Offenbarung und Kirche‹ behandelt werden«.227 Der Kirchenbegriff innerhalb des offenbarungstheologischen Programms werde von Barth auf die durch die trinitätstheologische Fassung der Offenbarungslehre ›gesicherte‹ »Urgeschichte«, die ›mehr als geschichtliche Urgeschichte‹,228 zurückgeführt. Diene die Trinitätslehre funktional der Sicherung des »Gott ist Gott«,229 so sei sie auf dem Wege der innerdogmatischen Entfaltung als »Offenbarung« mit den Einwänden konfrontiert, die auch am Beginn der dialektischen Theologie als deren Abgrenzung von der Theologie des Neuprotestantismus standen: Auf der Ebene der innerdogmatischen Offenbarungstheorie wiederholt sich darum die bereits einmal unternommene Auseinandersetzung, nun aber als Problem der eigenen Systematik. Der Abschied von der Theologie der vergangenen Epoche ist nicht so, daß deren Positionen bereits erledigt seien. Sie melden sich vielmehr erneut in den eigenen systematischen Schritten.230
Der »Schritt zur Offenbarung« sei daher zugleich ein »Schritt in die Geschichte«, d.h. in den zuvor theologisch radikal entwerteten Raum, innerhalb dessen nun die »Sicherung durch die Trinitätslehre« »erneuter Sicherungen bei jedem weiteren Schritt«231 bedürfe. Mit dem Übertritt der Offenbarung aus der trinitarischen Aseität werde somit das Problem »Offenbarung und Geschichte« unausweichlich ein Thema Barthscher Theologie – insofern die Offenbarung selbst unter der Bedingung stehe, einen der Geschichte enthobenen Raum zu öffnen: »Daß die Offenbarung überhaupt in irgendeiner Weise zur Geschichte kommt, erscheint dabei als ein Sachzwang, der dem Ansatz der dialektischen Theologie, ihrer eigenen Bewegung zunächst strikt zuwider ist.«232 Mit der »Urgeschichte« werde ein zweiter, theologischer Geschichtsbegriff eingesetzt, 226
Ebd., 194–201. Ebd., 194; zit. BARTH, Die christliche Dogmatik, 240. 228 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 195. 229 Vgl. ebd., 196 mit Verweis auf BARTH, Die christliche Dogmatik, 215: »Gott ist Gott. Der grundlegenden Sicherung dieser so gar nicht selbstverständlichen Gleichung, auf die sich die ganze Theologie aufbaut, gilt die Trinitätslehre.« 230 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 196. Vgl. ebd., 198: »Der Begriff der Geschichte ist also identisch mit dem Urteil, das die dialektische Theologie über die neuere Theologie- und Christentumsgeschichte gefällt hat und das hier als konstitutives Moment der eigenen Systematik erscheint.« 231 Ebd., 196. 232 Ebd., 197. 227
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ein Begriff, der die zuvor destruierte Geschichte nach Maßgabe der theologischen Kriterien rekonstruiert:233 »Er ist damit diejenige Konstruktion eines Begriffs, der die Notwendigkeit, von Geschichte zu reden, mit der Vermeidung der Aporie verbindet, die darin liegt, dies tun zu müssen.«234 Das Problem des Verhältnisses der Offenbarung zu ihren »geschichtlichen Wirkungen, die außerhalb der dialektischen Theologie mit den Begriffen der christlichen Religion und des Christentums verhandelt zu werden pflegten«,235 werde von Barth dadurch zu lösen versucht, dass die Offenbarung zu diesen, also »zum Komplex ihrer Überlieferung, ihrer Nachwirkungen und alles dessen, was diese implizieren, in keinem geschichtlichen, sondern in einem unmittelbaren Verhältnis steht, in einem Verhältnis, das als wirkliches von der Offenbarung des Wortes je geschaffen wird«.236 Die Aktualität der Offenbarung hebe damit die Urgeschichte aus dem alles relativierenden Geschichtszusammenhang des Historismus heraus, diese ›Geschichte‹ sei nur insofern von Belang, als sie »auf die Urgeschichte hin geschieht, und insofern eben als Zeugnis, Reflex, Echo, selber auch mehr als Geschichte«237 sein kann. Damit aber ist die Begründung für die These gegeben, das Problem »Offenbarung und Geschichte« sei als theologisches hinkünftig als das Problem »Offenbarung und Kirche« zu verhandeln.238
Mit dieser Bestimmung des Kirchenbegriffs werde die zu Beginn der Christlichen Dogmatik scheinbar eingeleitete Bewegung von »unten nach oben«, durch ihren Anfang mit der kirchlichen Verkündigung, durch eine Bewegung von »oben nach unten« legitimiert: »Der offenbarungstheologische Begriff der Kirche hebt diesen Anfang in sich auf.«239 Die Theologie selbst ist damit aber in die Wirkungslinie der Offenbarung gesetzt: Die Formel der Kirchlichen Dogmatik, die Theologie sei »eine Funktion der Kirche«, setzt schon in der Christlichen Dogmatik die andere voraus, die Kirche sei ihrer Wirklichkeit und ihrem Begriffe nach streng und allein von der Offenbarung her und habe in diesem abgrenzenden Sinne in ihrer unvergleichlichen Geschichte ihren bleibenden Grund.240
Indem die Theologie also die Öffnung zur binnentheologisch rekonstruierten Geschichte vollzieht, wird zugleich ihre eigene, dem Geschichtszusam233
Ebd., 197f. Ebd., 198. 235 Ebd., 199. 236 Ebd. 237 BARTH, Die christliche Dogmatik, 239 (zit. bei RENDTORFF, Kirche und Theologie, 199). 238 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 199 (s. BARTH, Die christliche Dogmatik, 240). 239 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 199. 240 Ebd., 200. 234
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menhang enthobene, da in je aktueller Offenbarung durch das Predigtgeschehen konstituierte, Möglichkeit und Wirklichkeit begründet. Vorausgesetzt sei damit im Gegensatz zu den Entwürfen von Semler, Hegel und Schleiermacher gerade nicht die geschichtliche Wirklichkeit des Christentums bzw. der Kirche, sondern ein Offenbarungsbegriff von Kirche:241 »Die Andersartigkeit Gottes wird damit zur Andersartigkeit der Theologie als kirchlicher.«242 Es könne zu der dogmatisch ermöglichten Ansicht kommen, die Theologie sei im Gefolge der Kirche ›nicht aus dieser Welt‹. Die Wahrung jenes Widerspruchs der Kirche und der auf sie bezogenen Theologie der Welt gegenüber erhält damit eine kriteriologische Funktion für die Theologie: […] der theologische Impetus des Anfangs formiert sich als das strukturell ausgearbeitete Bemühen, jede mögliche Gemeinsamkeit mit der neueren Theologie- und Christentumsgeschichte zu verhindern. Der Widerspruch gegen die »Welt« ist das formale Kriterium, an dem die Rechtschaffenheit der Theologie sich zu bewähren hat.243
Die »Welt« bezeichne hier den Gegensatz, »an dem sich Vorstellung und Begriff des Glaubens und des Christlichen auszulegen haben«. Entsprechend sei der Kirchenbegriff der dialektischen Theologie weder einer geschichtlichen Realität funktional zugeordnet, noch stelle er die Auslegung eines positiven theologischen Gehaltes dar. Die Formel »Die Theologie ist eine Funktion der Kirche« ist demnach umzuwandeln: »Die Kirche ist eine Funktion der Theologie«, bzw. »Die Rede von der Kirche erfüllt eine Funktion innerhalb der Theologie«. 3.2.4 Die strukturelle Entsprechung zur Theologie und Philosophie der Aufklärung Den im methodischen Verfahren implizierten Widerspruch dem Selbstverständnis der dialektischen Theologen gegenüber durchaus eingestehend, sieht Rendtorff den Vorzug seiner Studie darin, die dialektische Theologie in den Zusammenhang neuzeitlicher Christentumsgeschichte integriert und damit die Einheit dieser Geschichte vor dem Hintergrund der sie bestimmenden Auseinandersetzungen gewahrt zu haben. Innerhalb des beschrittenen Zusammenhangs von Semler zur dialektischen Theologie trete vor allem die »strukturelle Parallele«244 zwischen Aufklä241
»Es ist die Funktion des Kirchenbegriffs für das Offenbarungsverständnis, auf die es allein ankommt. Die Kirche selbst braucht dabei nicht thematisch zu werden und kann deshalb wieder hinter dem Thema zurücktreten, in dessen Dienst ihr Begriff seine Funktion erfüllt.« (ebd). 242 Ebd., 200f. 243 Ebd., 201. 244 Ebd., 207.
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rungstheologie und dialektischer Theologie hervor. In negativer Entsprechung zur Verabschiedung der Orthodoxie – in der Gestalt »kirchlicher Theologie« – durch die Aufklärungstheologie vollziehe die dialektische Theologie die Verabschiedung des »modernen Weltbewußtseins«. Die Semlersche Befreiung von der »kirchlichen Theologie« als Auftakt des Zeitalters der neueren protestantischen Theologie werde so jenseits der Vermittlungsentwürfe Schleiermachers und Hegels nochmals systematisch gegenläufig aufgenommen. Radikal werde der von Semler in Anspruch genommenen Freiheit und Vernunft, die sich auf das Begreifen des vorhandenen Christentums und seiner Geschichte richte, »in gegenläufiger Emanzipation eine Theologie der Freiheit und Souveränität Gottes«245 entgegengesetzt: Was dort [sc. in der Aufklärung] im Namen des Menschen als des denkenden Christen vorgetragen und der kirchlichen Lehre abgerungen wurde, wird hier [sc. in der dialektischen Theologie] im Namen Gottes und zugleich der geschichtlichen Stunde behauptet und darum als »Untergang« alles Menschlichen überhaupt diesem radikal entgegengesetzt.246
Dem Widerspruch der dialektischen Theologie liege dabei wie dem Semlerschen Denken der Anspruch zugrunde, »etwas ganz anderes und zugleich das Ursprüngliche«247 an die Stelle des Überholten, bei Semler der »kirchlichen Theologie« und der »Kirche«, in der dialektischen Theologie der »Kultur« und des Neuprotestantismus, zu setzen.248 Dem ausdifferenzierten Theologiebegriff, dessen Grundlagen die vielgestaltigen geschichtlichen Aneignungen und Realisierungen des Christlichen waren, trete als negative Entsprechung der »Alleinvertretungsanspruch« einer 245
Ebd., 208. Ebd., 177. Vgl. ebd., 176: »Die Kultur als das vom Menschen erstellte System aber nimmt nun in den Anfängen der dialektischen Theologie die Stelle ein, die in der kritischen Aufklärung das kirchliche Lehr- und Lebenssystem innehatte. Die Kritik des Systems, die dort das kirchlichdogmatische, hier das religiös-kulturelle System meint, entzündet sich an dem, was als bloß menschliches Werk erkannt wird.« 247 Ebd., 176. 248 Der Sinn der »theologisch fortgebildeten Kulturkritik« werde »aus einer Übereinstimmung mit der kritisch verworfenen und oppositionell in Frage gestellten Welt sichtbar, die darin beruht, daß sie untergründig und wider ihr besseres Wissen Gottes Welt ist, gerade dort, wo sie scheitert. Die Radikalisierung der Krise in dem Gegensatz zu Gott und Welt hat ja den tieferen Sinn, ein Grundverhältnis zur Sprache zu bringen, das für die Wirklichkeit überhaupt gilt. Damit wird also offenbar, was auch der ›Urgrund‹ der vergehenden Epoche ist und erst mit deren Vergehen als das gemeinsame Thema hervortreten kann. Dem Verständnis mag es dienen, die Analogie zu dem zu bemühen, was in Semlers Kritik des kirchlichen Lehrsystems bemerkt wurde. Diese zog ihr Recht ja gerade aus der tiefer gemeinten Übereinstimmung mit dem kirchlichen Lehr- und Lebenssystem, indem sie das, worum es aller kirchlichen Lehrbildung zu tun war, neu zur Geltung zu bringen suchte. Dies Argument aber ist es, da[s] der Kritik in theologiegeschichtlicher Sicht ihre Doppelbödigkeit verleiht, indem der Gegenstand der Kritik gerade darauf angesprochen wird, hier würden seine eigenen wahren Intentionen nur eben ursprünglicher aufgenommen und erfüllt.« (ebd., 179). 246
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Theologie gegenüber, die offenbarungstheologisch »direkt ›von oben nach unten‹ zu prozedieren sucht«.249 Entsprechend werde auch der geschichtliche Ort der Theologie in der dialektischen Theologie bestimmt. Die Kirche »im offenbarungstheologischen, exklusiven und aktualen Sinne«,250 letztlich ein Begriff im Widerspruch zur Wirklichkeit, trete an die Stelle dessen, was Semler als Christentum, als gegenwärtigen geschichtlichen Entfaltungs- und Wirkungsraum der christlichen Religion, aus der partikularen Verengung einer »›nur‹ kirchlichen Theologie« entlassen hatte. Anstatt die Funktion der Kirche innerhalb eines größeren Zusammenhanges der christlichen Religion und ihrer Welt zu bestimmen, bezeichnet die dialektische Theologie mit dem Begriff der Kirche nunmehr die unbedingte Grenze, deren Überschreitung nicht länger Gewinn, sondern Verlust ihrer Christlichkeit bedeutet. […] Jenseits dieses Kirchenbegriffs tut sich diejenige geschichtliche Welt auf, in die einzutreten Thema und Ziel der neuprotestantischen Theologie war.251
Der Rückschritt zu den Auseinandersetzungen der Aufklärung führe mit der »Aufwertung der dort relativierten ›kirchlichen‹ Theologie zu Lasten der im Gefolge ausgearbeiteten umfassenderen Theorien des Christentums«252 gleichsam hinter diese zurück. Damit jedoch, dies zeigte sich am Problem von Offenbarung und Geschichte, ist die dialektische Theologie den Problemen des ›Neuprotestantismus‹ nicht enthoben, sondern diese sind durch die fortwährende Abgrenzung in die Konstruktion der Theologie eingegangen. Die Nähe zur Aufklärungstheologie besteht somit für Rendtorff darin, dass hier der gesamte Horizont theologischer Arbeit, wie er etwa von Schleiermacher und Hegel vorausgesetzt werde und seit Ritschl und Troeltsch in die Krise geraten sei, aufgelöst würde: »Die dialektische Theologie stellt die Ausarbeitung des Christentums im Weltzusammenhang überhaupt und prinzipiell in Frage.«253 Sie verbünde sich mit denen, die den Untergang jener Bemühungen feststellen,254 bzw. mit den Positionen der »radikalen Aufklärung« in der Aneignung jener »Alternative […], die ein sich ausschließendes Verhältnis von christlicher Theologie einerseits und Vernunft und Erfahrung andererseits unterstellt«.255 Obgleich es auf diesem Weg zur Wiedergewinnung dessen komme, was durch die Aufklärungstheologie verabschiedet wurde, d.h. »theologische und kirchliche Positivität« und »der autoritative Begriff der Theologie«, sei ein Missverständnis dieses genuin neuzeitlichen Phänomens abzuwehren: 249
Ebd., 208. Ebd. 251 Ebd., 209. 252 Ebd. 253 Ebd., 210. 254 Ebd., 210 Anm. 134 mit Verweis auf Barths Anknüpfung an Feuerbach. 255 Ebd., 211f. 250
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Es handelt sich hier weder um einen Fortgang der Theologie unter besseren theologischen Bedingungen noch um ein in sich unproblematisches Anknüpfen an die gediegenen Traditionen der vorneuzeitlichen Theologie.256
Zum Verständnis der dialektischen Theologie müsse dieser Angriff in seiner der philosophischen Aufklärung entsprechenden Radikalität ernstgenommen und nicht etwa »in das Gefolge der konservativen oder restaurativen Theologie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die schon immer vermittlungs- und systemfeindlich gewesen ist«,257 eingeordnet werden. Das methodische Vorgehen dieses Vergleichs erweist sich für Rendtorff der bloßen Rezeption der Prämissen der dialektischen Theologie gegenüber als überlegen, denn »Theologie der Theologie- und Christentumsgeschichte ist […] der angemessene Weg ihrer wissenschaftlichen Bewältigung«.258 3.2.5 Sozialtheologische Relevanz und Perspektiven Abschließend stellt Rendtorff die sozialtheologische Relevanz der Untersuchung heraus. Der Kirchenbegriff der dialektischen Theologie entspringe »den spezifischen theoretischen Notwendigkeiten der Theologie selbst« und diene der »Freisetzung der Theologie von den Bedingungen der geschichtlichen Wirklichkeit des Christentums«.259 Damit sei jedoch die vorausgesetzte »Kirche« nicht die Kirche in ihrer geschichtlichen Gestalt.260 Mit dem Verhältnis der dialektischen Theologie zur bestehenden, geschichtlichen Kirche stellt sich die Frage, wie sich der theologische Kirchenbegriff als Emanzipation von der geschichtlichen Bedingtheit zu der »Emanzipation der Kirche aus der politischen und gesellschaftlichen Welt ihrer Zeit, die als ›Emigration der Kirche aus der Gesellschaft‹ charakterisiert werden kann«,261 verhält. Beides sei, so Rendtorff, nicht gleichzusetzen, da es sich bei der soziologisch-historisch festzustellenden Emigrationsbewegung um eine sich aus anderen als offenbarungstheologischen Gründen speisende und in einem größeren geschichtlichen Zusammenhang sich vollziehende Entwicklung handle.262 Sie könne »nur um den Preis ihrer Ideologisierung mit der theologischen Begrifflichkeit der dialektischen Theologie gleichgeschaltet werden«.263 Der Ursprung der theologischen Emigration liegt für Rendtorff in einem Misstrauen gegenüber den »umfassenden Christentumstheorien« des Idealismus und ist mit der Gefahr ver256
Ebd., 212. Ebd., 211. 258 Ebd., 212. 259 Ebd., 213. 260 Ebd., 214. 261 Ebd. Vgl. MATTHES. Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft. 262 Vgl. dazu RENDTORFF, Gesellschaft ohne Religion. 263 RENDTORFF, Kirche und Theologie, 214. 257
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knüpft, dass hier die Allgemeinheit des Christentums verloren wird. Der einzig adäquate Weg einer Theologie im Dienste der Kirche bestehe in dem theologischen Begreifen der »nichtkirchlichen Wirklichkeit«. Eine Auseinandersetzung auf den Bahnen der dialektischen Theologie hingegen würde die Probleme durch den normativen Begriff der Kirche, der dort etabliert wurde, lediglich verdoppeln. Die Untersuchung mündet daher in die Feststellung: »Der theologische Begriff der Kirche und die geschichtlich sich ergebende Verselbständigung der Kirche in der Gegenwart dürfen nicht identifiziert werden.«264 Die Aufgabe der Zukunft bestehe – in der Folge des durch Semler begonnenen Weges – in neuer Vermittlung im Dienste der Kirche, »die darum geboten ist, weil sich das Christliche nicht im Kirchlichen erschöpft«.265 Es klingen hier bereits konstruktive theologische Argumentationsgänge an, die im folgenden Kapitel näher zu beleuchten sind: Daß die damit gestellte Aufgabe aber eine Revision des theologischen Verhältnisses zu Geschichte und Gegenwart des Christentums impliziert, ist zumindest aus den Aporien zu lernen, die sich ergeben, wo der Praxis zu lösen überlassen bleibt, was die theologische Theorie zu tun sich weigert, obwohl es doch ihre Sache wäre. 266
Es wäre eine »fatale Alternative«, aus dem im 18. Jahrhundert begonnenen Weg auszuscheren. Die angestrengten Überlegungen dienten so »der Befreiung der Theologie zu den Fragestellungen ihrer Zeit«. Theologie erfülle sich »nicht in Theorien des Widerspruchs gegen die Wirklichkeit […]. Die Wege der Theologie, um die Gegenwart im größeren Zusammenhang der Christentumsgeschichte, die in ihrer Herkunft und in ihrer Zukunft nicht ohne Gott ist, zu begreifen, können vielfältig sein und sind es auch.«267 Im Lichte der festgestellten Aporetik dialektischer Theologie vor dem Hintergrund der neuprotestantischen Problemstellungen mündet die Untersuchung daher in ein entschiedenes Plädoyer, um der Gegenwart willen die Fortführung vermittlungstheologischer Traditionen zu suchen und sich um die Erkenntnis des Wertes der geschichtlichen Welt des Christentums zu bemühen.
3.3 Offenbarungstheologie als Geschichtstheologie Rendtorffs Interpretation der dialektischen Theologie und der Theologie Karl Barths im besonderen setzt voraus, dass auf dem von Semler gewiesenen Weg der neuzeitlichen Theologiegeschichte eine Umkehr nicht möglich 264
Ebd., 215. Ebd., 216. 266 Ebd. 267 Ebd., 216f. 265
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ist. Gerade diese Einsicht aber wird auf bestimmte Weise durch die dialektische Theologie bestätigt. In Rendtorffs Deutung fügt sie sich in die allgemeine Krisenstimmung der Zeit ein268 und ist – im Gegensatz zu ihrer verkirchlichten Wirkungsgeschichte – durchgängig kritisch auf jegliche Erscheinungsform geschichtlicher Wirklichkeit bezogen und damit auch auf die Kirche. Der offenbarungstheologische Kirchenbegriff lasse sich gerade als »Anti-Begriff« zum Geschichtsbegriff verstehen und erfülle eine theologische Funktion, denn durch ihn werde der Theologie jener Voraussetzungsraum geschaffen, der seinerseits wiederum abgeleitet werde aus der Subjektivität Gottes, und dessen die Theologie bedürfe, um sich selbst dem Geschichtsproblem enthoben zu wissen. In diesem Sinne funktional wird sodann aber auch der Gottesbegriff in der dialektischen Theologie verwendet, »der als das Scheitern des aufgeklärt-idealistischen, kulturell-religiösen Systems manifest« werde und »in seinem Inhalt nicht ohne Bezug auf die verworfenen Positionen denkbar«269 sei. Wird diese »eigentliche« Funktion von Gottes- und Kirchenbegriff in der dialektischen Theologie herausgestellt, so scheint ihre – wenn auch vordergründig negative – Verhaftung in den neuprotestantischen Problembeständen evident. Diese Deutung impliziert den Ansatz zur Überwindung der theologischen Positionalität dialektischer Theologie in sich: als Geschichtstheologie ist sie theologisch radikalisierte Deutung der Krise des Historismus und Verarbeitung der Auflösung der seit Semler als Voraussetzung der Theologie erkannten geschichtlichen Wirklichkeit von Christentum und Kirche. Die dialektische Theologie läßt sich als die radikale Reflexion derjenigen Emanzipation begreifen, die im übrigen in der kirchenpolitischen, sozialen, liturgischen, ökumenischen Gestaltung kirchlichen Lebens positive Gestalt annahm. Die dialektische Theologie stellt dabei den Kirchenbegriff an den Ort, der durch die kritische Destruktion des historischen Bewußtseins in der Theologie freigeworden ist. Die außerordentliche Bedeutung des Kirchenbegriffs im Verhältnis zur Theologie erweist sich als eine neue Gestalt des theologischen Problems der Geschichte.270
Sofern diese Problembestände in der Entfaltung dialektischer Theologie zwar dauerhaft präsent bleiben, für Rendtorff jedoch keiner befriedigenden Lösung zugeführt werden, scheint es für ihn unumgänglich, einen erneuten Rekurs auf die Vermittlungsversuche des Idealismus zu suchen. 268
Der Struktur nach entspricht Rendtorffs Deutung der dialektischen Theologie damit der Semlerschen Akkomodationstheorie. Vgl. auch den Hinweis, die Spaltung der dialektischen Theologie würden sich vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Problemlage erhellen lassen (ebd., 212f). 269 Ebd., 180. Auch wenn Rendtorff feststellt, die von ihm gewählte Perspektive auf die Theologie Barths erschöpfe »selbstverständlich nicht deren inhaltliche Fülle, sondern bezieht sich auf die bestimmten Bedingungen ihres eigenen Denkens« (ebd., 201), wird doch gerade hier deutlich, dass die Bedingungen für Rendtorff maßgeblich den Inhalt des Barthschen Denkens prägen. 270 Ebd., 18.
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Die entscheidende Pointe dieser ersten umfangreichen Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie liegt somit gänzlich in der Fluchtlinie der früheren Arbeiten. Der Kirchenbegriff Barths, Bultmanns und Gogartens ist keineswegs die Entfaltung eines theologischen Gehalts, sondern er stellt ein Mittel zur Verarbeitung des neuzeitlichen Geschichtsproblems dar.271 Die dialektische Theologie als genuin neuzeitliche Erscheinungsform hat die Auseinandersetzung mit dem Problem der Geschichte in der theologischen Systembildung nie vor sich sondern immer schon hinter sich. Die eigentümliche und in der Perspektive alternativer Deutungsansätze fremd anmutende Konsequenz, dass theologiegeschichtliche Linien zu den von Barth rezipierten Außenseitern der neuzeitlichen Theologiegeschichte272 sowie der vorneuzeitlichen Theologie der Reformation und der biblischen Überlieferung ausgeblendet, hingegen das Verhältnis zur Aufklärungstheologie und die Strukturparallelen zu Denkmustern der radikalen philosophischen Aufklärung hervorgehoben werden, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die theologiegeschichtliche Einordnung der dialektischen Theologie in die Geschichte des Neuprotestantismus und die Bestreitung des etwa von Weber und Wolf vertretenen Zusammenhangs mit der kirchlichen Theologie (Vilmar) zielt nicht zuletzt darauf, gegenwärtiger Sozialtheologie den Rekurs auf die dialektische Theologie zu verwehren. Gestaltung kirchlicher Wirklichkeit ist damit der eigentlichen dialektischen Theologie fremd. Barths eigener Rekurs auf Vilmar273 wäre demnach ebenfalls als nachgeordneter, das »eigentliche Anliegen« verdeckender theologiegeschichtlicher Rekurs zu verstehen. Rendtorff knüpft in dieser Studie an frühere Deutungen und Kritiken Barthscher Theologie aus den Reihen der »liberalen Theologen« an. Insbesondere gilt dies vor dem Hintergrund, dass die Einordnung der dialektischen Theologie in ideengeschichtliche Linien theologischen Denkens ausbleibt. Etwa Adolf Jülichers Rezension des Barthschen Römerbriefkommentars (1919) lässt ein ähnliches Verfahren erkennen: Für Paulus gewinnen wird er [sc. Barth] durch sein Werk nur Seelen, die er vorher für sich gewonnen hat. […] Der Barthsche Paulinismus ist ein Merkzeichen auf dem 271 Den damit implizierten Widerspruch erkennt Rendtorff freilich: »Die vier Gesichtspunkte [s.o. 3.2.3], unter denen die Anfänge der dialektischen Theologie zusammenfassend erörtert wurden, folgen nicht direkt den eigenen systematischen Intentionen dieser Theologie, jedenfalls wenn man sie, ihrem Selbstverständnis nach, als eine ›Theologie des Wortes Gottes‹ auffaßt. Sie sind aber dazu geeignet, den systematischen Ansatz theologiegeschichtlich zu qualifizieren. […] Durch eine solche indirekte Aufnahme des Ansatzes der dialektischen Theologie kann sie auch in ihrer systematischen Tragweite in den Zusammenhang dieser Geschichte wieder eingeholt werden.« (ebd., 207). 272 Im Blick auf die Kirchenkritik der frühen Theologie Barths wäre der Einfluss Blumhardts zu diskutieren, vgl. dazu RAGAZ, Der Kampf um das Reich Gottes, 228–234. 273 S. dazu BARTH, Kirche und Theologie, 678.680.
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Weg der Kirchengeschichte, der Wert dieser Erörterungen durchaus kirchengeschichtlich […]. Viel, möglicherweise sehr viel wird man einst aus diesem Buch für das Verständnis unsrer Zeit gewinnen, für das Verständnis des »geschichtlichen« Paulus kaum irgend etwas Neues.274
Jülicher deutet Barths Römerbriefkommentar eher als Kommentar zur Lage der Zeit, denn als Kommentar zum neutestamentlichen Brief des Paulus. Als solcher kündigt sich in ihm ein Epochenwechsel an: »Wir haben zweifellos mit einer unhistorisch gestimmten Periode in der Kulturgeschichte zu rechnen […]«.275 In der Schärfe, in welcher die radikale Opposition der dialektischen Theologie gegen die geschichtliche Wirklichkeit herausgestellt wird, lassen sich darüber hinaus Berührungen mit Ernst Troeltschs Auseinandersetzung mit Friedrich Gogarten unter dem Titel Ein Apfel vom Baume Kierkegaards feststellen. Troeltsch sieht bei Gogarten276 eine Repristinierung des Denkens Kierkegaards, welches ein »Christentum der Absolutheit oder des EntwederOder«277 zum Gegenstand habe. Darin aber stehe Gogarten in einem weiten gegenwärtigen Zusammenhang, insofern seine Position zwar »rein religiös begründet«, jedoch »mit sehr subtilen und gegenwärtig sehr modernen Philosophemen über das Relative und Absolute, über Intuition und Verstandeserkenntnis, über Zeit und Augenblick verbunden, auch in einer sehr philosophischen Sprache ausgedrückt«278 sei. Die aus diesem Denkansatz resultierenden Konsequenzen schätzt Troeltsch nunmehr im Horizont der historischen Analogien ein: »Nur kleine, dann auch konsequent chiliastische Sekten konnten das Entweder-Oder Jesu erneuern und dann meist verschärfen; nur mystische Versenkung konnte es durch einen psychologischen gleich radikalen Dualismus ersetzen.«279 An Kierkegaard freilich zeige sich die Konsequenz dieses Denkens, welchem »nur mehr Polemik und nichts Positives, in der Richtung auf sich selbst nur die aus der ›absolu274
JÜLICHER, Ein moderner Paulusausleger, 97. Ebd., 98. 276 Troeltsch bezieht sich auf Gogartens Eisenacher Vortrag: GOGARTEN, Die Krisis unserer Kultur, sowie die Reaktion darauf: FUCHS, Vom unbedingten Ernst unsrer Frömmigkeit. 277 TROELTSCH, Ein Apfel vom Baume Kierkegaards, 135. »Weil Gott angeblich einfach radikal der Welt gegenübersteht, in grundlos überlogischer Freiheit in sie eingreifen kann und die von ihm grundsätzlich abgefallene Welt wesentlich in ihres Nichts durchbohrendes Gefühl zurückwerfen will, so handelt es sich für dieses Christentum ausschließlich darum, sich in dem überzeitlichen Augenblick des persönlichen Gegenüber von Gott und Mensch von dem Absoluten schlechthin richten und verurteilen zu lassen, und zwar das so gründlich, daß man über sich selbst dabei gar nicht hinausgeht und auf jede Mitteilung und Übertragung dieses Seelenzustandes auf Andere verzichtet.« 278 Ebd., 135f. 279 Ebd., 136. 275
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ten Situation‹ Gott gegenüber entspringende Selbstverurteilung«280 bleibe. Gogarten, so scheint es Troeltsch, verabschiede die gewachsene Tradition des vermittelnden Christentums auf der Grundlage Kierkegaard ähnelnder psychologischer Voraussetzungen,281 die im Kontext der allgemeinen Krisenstimmung verständlich doch nicht zu teilen sein. Resignierend wird festgestellt, die durch »Antihistorismus«, »Irrationalismus« und »Intuitionismus«282 geprägte »Jugend«, bzw. die »modernen Romantiker«283 verweigerten sich ›logischen und historischen Gründen‹.284 In jedem Fall will Troeltsch die praktischen Konsequenzen des Gogartenschen Ansatzes einschärfen: Mit seiner Theologie des absoluten Moments gibt es keinen Pfarrer, keine Gemeindeverwaltung, keine Mission und keine Predigt der Erziehung und Seelenleitung. Will man dieses letztere, so muß man an die »Vermittelung« notwendig heran […]. 285
Rendtorff nimmt solche früheren Deutungen auf und bettet sie in das von ihm gezeichnete Bild der Theologiegeschichte seit Semler ein. Die These seiner Untersuchungen zur dialektischen Theologie und insbesondere deren Deutung als Hermeneutik der Krise widerspricht nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser früheren Deutungen dem Urteil, welches Jürgen Moltmann im Jahre 1962 der Textsammlung Die Anfänge der dialektischen Theologie – in der auch die Texte Jülichers und Troeltschs neu abgedruckt wurden – voranstellte: Es ist sicher sehr interessant, diese »Theologien der Krise« historisch im Zusammenhang der allgemeinen Kulturkrise, Staatskrise und Christentumskrise nach dem ersten Weltkrieg zu lesen und zu deuten, doch ist es kaum sehr ergiebig. Nicht die Krisenstimmung und der Radikalismus, den sie der »dialektischen Theologie« mitgeteilt hat, sind wichtig, wohl aber das, was in jenen kritischen Jahren an theologischer Erkenntnis gewonnen wurde. Die »dialektische Theologie« stammt nicht aus der Krisenstimmung jener turbulenten Jahre. Sie war vielmehr selber effektiv eine Kraft des Gerichtes über eine tote Vergangenheit und der Eröffnung einer neuen Zukunft.286
Der Widerspruch Rendtorffs deutet die dialektische Theologie nicht als Reflex der allgemeinen Krisenstimmung, sondern als eine Strömung, die innerhalb dieser allgemeinen Krise einen bestimmenden Faktor darstellt. In ihrer Entfaltung aber erweist sich für ihn die Vergangenheit keineswegs als »tot«, sondern als überaus lebendig. 280
Ebd., 137. Ebd., 137f. 282 Ebd., 138. 283 Ebd., 139. 284 Ebd., 138. 285 Ebd., 139f. 286 MOLTMANN, Vorwort, IXf. 281
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Obgleich ein expliziter Rekurs fehlt, lässt Rendtorffs Interpretationsverfahren ebenfalls eine deutliche Nähe zum Werk Ernst Troeltschs, hier insbesondere im Blick auf die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, erkennen. Troeltsch stellt dort fest, die dogmatischen Bestimmungen der Kirche seien deren soziologischer Gestalt nachgeordnet und funktional auf diese bezogen: Sie [sc. die Dogmengeschichte] ist weder eine immanente Entwickelung der christlichen Gottesidee, noch ein Amalgam antiker Mysterienmythologie und spekulativer Philosophie, noch eine Anhäufung kirchlicher Lehrbestimmungen, noch ein unmittelbarer Ausdruck der jeweiligen christlichen Lebensstimmung. Die religiöse Lehre ist der Ausdruck der zunächst im Kultus sich sammelnden und ausströmenden religiösen Lebendigkeit und die Ausbildung des Gedankens, soweit Gedanken überhaupt zu diesem Zwecke nötig waren. Alles Philosophische und rein Dogmatische ist sekundär. […] Daß einzelne Denker in die Tiefen dringen und theologisch und religionsphilosophisch sich in die christliche Gotteserkenntnis hineinbohren, ist dabei nur selbstverständlich; aber solange sie an irgendwelche Gemeinschaft gebunden bleiben, kehrt auch bei ihnen diese Bedingtheit durch den soziologischen Charakter des ihnen vorschwebenden Gemeinschaftsgedankens wieder.287
Die entscheidende und in einer kritischen Auseinandersetzung mit Rendtorffs Studie zu diskutierende Voraussetzung ist, dass das Problem der Geschichte und dessen Zuspitzung im Neuprotestantismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen angemessenen Interpretationsschlüssel im Blick auf die Theologie Barths darstellt. Es wäre zu fragen, inwiefern nicht nur die Verwendung des Kirchenbegriffs, sondern auch die Trinitätslehre lediglich auf dem Anspruch eines »positiven« Ausgangspunkts theologischen Denkens beruhten, »eigentlich« jedoch eine Folgeerscheinung der Auseinandersetzung mit dem Problem der Geschichte darstellten. Dass Barths eigene Bestimmung von Kirchen- und Gottesbegriff dem widerspricht, ist Rendtorff freilich bewusst. Die Rendtorffsche Deutung impliziert jedoch die grundlegende Entscheidung, dass die Unterscheidung der Kirche nach »événement« und »Institution«, die im dogmatischen Diskurs vorgenommen wird, unter neuzeitlichen Bedingungen obsolet geworden ist. Die »dialektische Theologie« wird von Rendtorff auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner gedeutet, im Blick auf die kritische Pointe gegen das Geschichtsverständnis des Neuprotestantismus, hinsichtlich dessen sich Barth, Bultmann und Gogarten einig scheinen. Inwiefern dieser kritischen Abgrenzung konstruktive Begründungszusammenhänge vorausliegen und inwiefern diese 287 TROELTSCH, Soziallehren, 969 (Hervorhebung von mir, S.H.). Troeltsch beansprucht mit diesem Verfahren, »die Dogmengeschichte sehr viel klarer und einfacher [zu verstehen], als das bisher der Fall war« (ebd.). Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Rendtorffs Untersuchung Kirche und Theologie mit der christlichen Aufklärung, d.h. an dem Punkt beginnt, an dem die Troeltschen Soziallehren enden (vgl. RENDTORFF, Theorie des Christentums, 138 Anm. 35).
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bereits in der Frühzeit Unterschiede zwischen den einzelnen Vertretern »dialektischer Theologie« erkennen lassen, nimmt Rendtorff aus dieser Perspektive nicht in den Blick. An diesem Zwischenergebnis der theologiegeschichtlichen Rekonstruktion deutet sich freilich bereits Präzisierungsbedarf an: Die Verhältnisbestimmung von Neuprotestantismus bzw. Neologie und dialektischer Theologie ist skizzenhaft und durch den Gegensatz bestimmt, vor allem aber bleibt die immer wieder angedeutete Nahtstelle zwischen beiden unterbelichtet. Diese Nahtstelle wird durch die Krisendiagnostik Ernst Troeltschs auf der einen und die Krisentheologie Karl Barths auf der anderen Seite exemplarisch abgebildet. Die Krise, an deren Überwindung der Neuprotestantismus scheiterte und auf die der radikale Überwindungsversuch der dialektischen Theologie bezogen ist, bedarf daher konstruktiver theologischer Besinnung. Diesen Zusammenhang näher zu entfalten, ist eine Aufgabe, der sich Rendtorff in der Folgezeit zuwendet. Dies jedoch – und daraus erhellt die folgende Gliederung der Studie – mit dem Anspruch, die Aporetik, in welche Troeltsch geraten war, konstruktiv zu überbieten und auf diesem Wege eine neue Perspektive der theologiegeschichtlichen Verhältnisbestimmung Troeltsch – Barth zu gewinnen, die beide als Wegmarken des gedanklichen Fortschritts der neuzeitlichen Theologiegeschichte erkennen lässt. Damit, dies dürfte der entscheidende zu erreichende Gedankenfortschritt sein, wird die bisherige Positionalität aufgehoben und in Kontinuität – nicht nur der Problembestände, sondern auch der Bewältigungsversuche – überführt.
4. Die theologische Neubewertung der neuzeitlichen Freiheit Die von Rendtorff herausgestellte sozialtheologische Aporetik erfordert eine grundlegende konstruktive Neubesinnung auf Wesen und Ort der Theologie innerhalb der Neuzeit, insbesondere im Blick auf die Herausforderung durch die sich emanzipierende Gesellschaft und die durch den Historismus hervorgerufene Krise. Diese Klärung nimmt Rendtorff unter dem Leitbegriff der Freiheit vor. Der Begriff der Freiheit ist in der Theologie Trutz Rendtorffs der Punkt, an dem der tiefe Zusammenhang des Christentums mit der neuzeitlichen Welt sichtbar wird. Dieser Zusammenhang bewährt sich gerade angesichts des scheinbaren Bruchs, den die neuzeitliche Welt oder präziser: die neuzeitliche Gesellschaft zwischen sich und der christlichen Überlieferung sieht. Er kann sich deshalb bewähren, weil die Vorstellung vom Bruch lediglich verdeckt, dass christliches Freiheitsbewusstsein in wesentlichen Punkten die Entstehung des neuzeitlichen Denkens mit befördert hat. Recht verstandene Theologie findet sich selbst daher
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mit ihrem Thema in der neuzeitlichen Welt wieder, sie hat keinen Grund, ein konstruiertes vorgängiges Gegenüber zwischen Kirche und Welt, zwischen Theologie und den neuzeitlich verfassten Wissenschaften anzunehmen, sie bringt vielmehr in der einen Wirklichkeit die entscheidende Dimension der Freiheit, individuell erfahren als Voraussetzung des Lebensvollzuges, zur Geltung. Im Dienste dieser unverfügbaren Freiheit in der neuzeitlichen Welt als wesentlich christlicher Welt steht die Kirche als Institution der Freiheit – sie hält das Bewusstsein für den unverfügbaren Ursprung des Geschenks der Freiheit wach und steht im Dienste jenes Freiheitsbewusstseins, welches in gesellschaftlich-religiöser Ökumene die Gesellschaft zur Einheit verbindet. Dass Rendtorff in unbefangener Weise der Freiheit der neuzeitlichen Welt gegenübertritt, ist vielleicht auch vor dem Hintergrund eines biographischen Erlebnisses zu sehen, das er mehrfach als prägend für seine theologische Existenz schildert: Das Kapitel Religionsgeschichte der Bundesrepublik fängt für mich selbst im Grunde im Jahre 1945, genauer: im Juni 1945 an. Wir lebten damals auf einem FlüchtlingsTreckwagen, der im Areal eines Gefangenenlagers hängengeblieben war, das die Amerikaner für deutsche Soldaten eingerichtet hatten und dann an die Engländer übergeben hatten. Das war in der Nähe des mecklenburgischen Städtchens Dassow. Am Sonntagmorgen machten wir Geschwister, Jungen und Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren, uns auf den Weg, um im nahegelegenen Dassow einen Gottesdienst zu besuchen. Ein junger englischer Soldat hielt uns mit vorgehaltenem Gewehr am Rande des Lagerareals auf, weil wir keinerlei Papiere vorweisen konnten. Es ging ziemlich aufgeregt hin und her. Schließlich riefen wir in gebrochenem Englisch, daß wir zum Gottesdienst, »to churchservice« gehen wollten. Als der Soldat darauf verblüfft zögerte und sein Gewehr einen Moment sinken ließ, schoben wir ihn einfach beiseite und gingen weiter. Daß diese Mitteilung, einen Gottesdienst besuchen zu wollen, wie ein Zauberwort eine Schranke öffnete, statt sie zu schließen, war für mich damals das erste und spontane Erlebnis von Freiheit, die elementar Religionsfreiheit ist. Genauso hatte ich mir das vorgestellt: das Ende der Bedrückung, die Realität der Befreiung.288 Theologische Neubewertung neuzeitlicher Freiheit
Wie diese eine Freiheit, die Neuzeit und Christentum aufs engste miteinander verbindet, systematisch zur Geltung gebracht und begründet wird, soll im Folgenden nachgezeichnet werden.
288
RENDTORFF, 30 Jahre Bundesrepublik, 154f. S. auch DERS., Selbstdarstellung, 59f.
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4.1 Neuzeitliche Freiheit im Spiegel von Geschichte und Gesellschaft (1960) Der Aufsatz Geschichte und Gesellschaft ist einer der ersten veröffentlichten Texte, in dem sich Rendtorff auf dem Weg zu einem neuen Ansatz einer »Theologie der Gesellschaft« befindet. Er bildet darum den Ausgangspunkt der Rekonstruktion der Verhältnisbestimmung von neuzeitlicher und christlicher Freiheit. Rendtorffs Überlegungen basieren auf den vorangegangenen Untersuchungen zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft289 und deren Ergebnis, dass das Scheitern der bisherigen sozialtheologischen Bemühungen um das Verständnis dieses Verhältnisses wesentlich in der »Neigung« begründet war, »unter dem theologischen Postulat eines prinzipiellen Abbruchs der noch bei Troeltsch versuchten geschichtlichen Synthese […] deren theologischen Ort aus einem vorgängigen strengen Gegenüber zur Gesellschaft und ihren geschichtlichen Bedingungen zu suchen«.290 Zur Überwindung der bisherigen Lösungsversuche sei das Begreifen des »emanzipativen, autonomen Charakters« der modernen Gesellschaft erforderlich, welcher das theologische Fehlurteil, es gebe jene Diastase von Kirche und Gesellschaft, seinerseits zu bestätigen scheint, insofern sich die Gesellschaft selbst nur im Gegensatz zu ihrer geschichtlichen Herkunft und damit der christlichen Überlieferung verstehen lässt bzw. lassen will. Eine Überwindung dieser scheinbar endgültigen Entzweiung durch die »abstrakte Geschichtslosigkeit« (Schelsky) ist für Rendtorff allein dadurch möglich, dass »die emanzipative Autonomie der Gesellschaft auf ihren geschichtlichen Ursprung hin durchbrochen wird«, und indem sie so »einem sie umfassenden Begriff und einem sie überholenden Denken freigelegt« werde, »so daß der Schein der Autonomie, die Behauptung der positiven Faktizität der Gesellschaft und ihrer Strukturen zu seiner geschichtlichen Grenze und Eigenart enthüllt wird«.291 Notwendig ist also geschichtliche Einsicht in den Wurzelgrund der modernen Gesellschaft, um gerade hier ein theologisch bedeutsames Prinzip der Kontinuität zwischen ihrer geschichtlichen Herkunft und ihrer Geschichtslosigkeit aufzuweisen. An dieser Aufgabe sei Ernst Troeltsch gescheitert, insofern in den Soziallehren die moderne Gesellschaft »als eine prinzipielle Vorgegebenheit« und die »Kontinuität der christlichen Kirche 289
Auch hier wird festgehalten, dass die bisherigen Versuche der Soziallehre an der Aporie scheiterten, »daß die Wirklichkeit der Gesellschaft nicht in einem direkten Rückgriff auf die Kontinuität der Soziallehre, wie sie sich vor allem von der Reformation herleitete, oder auf einen konstanten ethischen Gehalt des biblischen Zeugnisses erschlossen werden kann« (RENDTORFF, Geschichte und Gesellschaft, 155). 290 RENDTORFF, Geschichte und Gesellschaft, 157f. 291 Ebd., 158. Das Selbstverständnis der modernen Gesellschaft wird von Rendtorff im Anschluss an Schelsky (ebd., 159) entwickelt.
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und Theologie«292 auseinander treten würden. Troeltsch sei nicht in der Lage, »eben diese Geschichte, zu der sowohl die Auflösung der überkommenen Soziallehren wie gleichermaßen die Entstehung der neuzeitlichen Lebenswelt hinzugehören, einheitlich theologisch zu begreifen«.293 Dieser Aufgabe folgend setzt sich Rendtorff mit zwei zeitgenössischen Konzeptionen der Neuzeit und deren theologischer bzw. philosophischer Bewältigung auseinander. Den wichtigsten Bezugspunkt seiner Argumentation bildet die Hegel-Interpretation Joachim Ritters, der zeitgleich zu Rendtorffs Assistentenzeit Ordinarius an der Philosophischen Fakultät der Universität Münster war.294 Ritters Hegel-Interpretation ist vor allem im Lichte der Studie Hegel und die französische Revolution für Rendtorff von Bedeutung. Ritter arbeitet hier heraus, dass die moderne bürgerliche Gesellschaft, welche sich als Folge der französischen Revolution konstituiert habe, bereits von Hegel in ihrem augenscheinlich problematischen, durch revolutionäre Emanzipation und Geschichtslosigkeit geprägten Charakter wahrgenommen worden sei: […] ihre Setzung [sc. der modernen Gesellschaft] schließt für sie selbst den Gegensatz gegen alle geschichtlich vorgegebenen Ordnungen und die alte geschichtliche Welt ein; ihre politische Verwirklichung soll das Ende der bisherigen Geschichte herbeiführen; wegen dieser Diskontinuität zur Geschichte nennt Hegel die Freiheit der Revolution eine »negative«, eine »abstrakte« Freiheit; ihre Negativität macht sie zur »Furie des Verschwindens«.295
292
Ebd., 157. Ebd. 294 Vgl. dazu RENDTORFF, Sozialethik auf Standortsuche, 41–43; DERS., Selbstdarstellung, 66. Verweise auf Ritter finden sich u.a. in DERS., Geschichte und Gesellschaft, 161–169. Zu Ritter vgl. MARQUARD, Positivierte Entzweiung, bes. 448–451. 295 RITTER, Hegel und die französische Revolution, 225. Der Gedanke wird fortgeführt: »[…] sie treibt sie in die Selbstzerstörung hinein und ruft zugleich als ihre Antithese die Mächte der Wiederherstellung herbei, die gegen das mit der Revolution heraufkommende Ende der abendländischen Geschichte die alte Welt zurückrufen und ihre Erneuerung betreiben, um die Revolution rückgängig zu machen und so die geschichtliche Substanz des Menschen zu retten. Die politische Konstituierung der Freiheit durch die Revolution steht so unter dem Gesetz der Entzweiung; diese ist die Grundverfassung der Zeit.« Zur Bedeutsamkeit dieser Debatten innerhalb der Rendtorff (und zuvor bereits Wendland) beschäftigenden Fragen s. DERS., Subjektivität und industrielle Gesellschaft, 370f: »Alles, wodurch Hegel […] die mit der Gesellschaft gesetzte ›Entzweiung‹ kennzeichnet, ihre emanzipative Konstitution, die Versachlichung und Geschichtslosigkeit des durch die Gesellschaft gegebenen menschlichen Daseins in der Trennung von seinen geschichtlichen Lebensordnungen und Institutionen sind die Gegebenheiten, die man auch heute vor Augen hat, wenn von der ›Säkularisation‹ der modernen Welt, von der Entpersönlichung und Vermassung des Lebens, von seiner Bodenlosigkeit die Rede ist; wir sind so sehr auf die negative Wertung dessen, was Hegel Entzweiung nennt, fixiert, daß es selbst in der einfachen Wiedergabe seiner Theorie fast unmöglich ist, den Klang des Negativen zu vermeiden und die Vorstellung fernzuhalten, es sei die Entzweiung mit dem Verfall und Ende des substantiellen Lebens identisch.« 293
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Diese zunächst negative Tendenz wird im Anschluss an Hegel nun gerade dadurch überwunden, dass die Freiheit der Revolution als radikale Emanzipation mit der Freiheit der Subjektivität, die sich in der Reformation realisiert habe, in Beziehung gesetzt wird. Diese »zweite welthistorische Gestalt der Freiheit« ist es, die – wie Hegel »zuerst und im Grunde noch bis heute allein«296 verstanden habe – »in allen für sie wesentlichen religiösen, sittlichen, ästhetischen, persönlichen Zusammenhängen allererst mit der modernen Gesellschaft für alle Menschen als Menschen Wirklichkeit erhält«.297 In der Geschichtslosigkeit der modernen Gesellschaft werden »geschichtliche und religiöse Besonderheiten der Individuen« aus ihr herausgesetzt, sodass gerade damit ihre Universalität als Ermöglichung subjektiver Freiheit gewährleistet wird. Damit ist die Freiheit der Revolution aber an die Freiheit der Subjektivität gebunden, denn sie kann keinesfalls die Subjektivität und geschichtliche Herkunft individuellen Lebens verdrängen oder vernichten. Die christliche Freiheit, die mit der Reformation in die Weltgeschichte tritt, ist damit in der modernen Gesellschaft aufs Beste aufgehoben: Nicht die christliche Freiheit der Subjektivität wird im Rechtsbegriff der bürgerlichen Freiheit zum Verschwinden gebracht, sondern es wird gesagt, daß erst dann, wenn man die bürgerliche Freiheit auf die christliche Freiheit der Subjektivität bezieht, zum Begriff komme, was in der Freiheit aller zur Substanz der Gesellschaft und ihres Rechts und Staates geworden ist.298
Dass die protestantische Theologie bislang der negativen Deutung Hegels folgte, stellt für Ritter ein »Element des Tragischen« dar. So hält er am Schluss seines Aufsatzes Subjektivität und industrielle Gesellschaft fest: Wir sind blind dafür geblieben, daß in der geschichtlichen Wirklichkeit, wo sich die Entzweiung erhalten hat, gegen alle Theorie und alles Bewußtsein die Freiheit der Subjektivität und die Gesellschaft zusammengeblieben sind. Es scheint daher an der Zeit zu sein, daß wir damit aufhören, uns in das Innere zurückzuziehen, das »Abendland« gegen die moderne Welt zu setzen oder immer noch als Romantiker eine wahre und eigentliche Existenz zu erdenken und zu erdichten, sondern zur Vernunft kom-
296
RITTER, Subjektivität und industrielle Gesellschaft, 374. Ebd. 298 Ebd., 368 (im Original hervorgehoben). Grundlegend für Ritters Deutung ist an diesem Punkt neben Rechts- und Geschichtsphilosophie Hegels Rede zur dritten Säkularfeier der Augsburgischen Konfession aus dem Jahre 1830, vgl. RITTER, Hegel, 90f: »In diesem Bekenntnis geht Hegel von der Freiheit des Glaubens als Freiheit des Menschen aus, ›das Verhältnis, das er zu Gott und Gott zu ihm hat‹, unabhängig von allen äußeren Bedingungen und Voraussetzungen als das seine zu haben und zu behaupten. Das ist einmal die historische Deutung der Reformation; aber Hegel nimmt mit ihr auch die Gründe auf, die ihn philosophisch dazu gebracht haben, die Reformation als geschichtliche und geistige Voraussetzung von Freiheit zu begreifen und sie so in Beziehung zu der Freiheit zu setzen, die mit der politischen Revolution in Frankreich und in der Erklärung der Menschenrechte zum universalen Prinzip des Rechtes und des Staates erhoben worden ist.« 297
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men, um so den Geist da zu vernehmen, wo er nicht in bloßen Vorstellungen, sondern in der Wirklichkeit und als diese vorhanden und gegenwärtig ist. 299
Es ist der geschichtliche Charakter der Beziehung zwischen der modernen Gesellschaft und ihrer (christlichen) Herkunft, den Rendtorff aufnimmt und für das theologische Denken fruchtbar macht.300 Dies geschieht in Auseinandersetzung mit der so genannten Säkularisierungsthese Friedrich Gogartens, »der bisher am tiefsten in die geschichtliche Fragestellung der Neuzeit theologisch eingedrungen«301 sei. Gogarten sieht die radikale Entweltlichung des Menschen im Glaubensgeschehen, die Aufnahme in die »Sohnschaft«, als Grundlage dafür, die rein rationale Beziehung des Menschen zur Welt als »Säkularisierung« zu rechtfertigen.302 Es ist dem christlichen Glauben wesentlich, dass der Mensch alle eigenen Versuche aufgibt, die Welt als abgeschlossenes System mit von ihm selbst entworfenen Konzepten des Sinns oder der Ganzheit zu erfassen. Er steht als Geschöpf dem Schöpfer gegenüber und öffnet sich radikal dafür, dass Mensch und Welt von ihm her ihre Ganzheit, ihren Sinn empfangen. Glaube und Säkularisierung sind daher notwendig aufeinander bezogen, nur im Glauben begründet kann Säkularisierung davor geschützt sein, selbst zur Ideologie, zum Säkularismus zu werden.303 Durch den Glauben wird die Vernunft, als angemessene Steuerung des Handelns in der Welt, freigesetzt. Augenscheinlich konzipiert Gogarten das im christlichen Glauben erschlossene Weltverhältnis in auffallender Parallelität zum Ritterschen He299 RITTER, Subjektivität und industrielle Gesellschaft, 376. Vgl. dazu DERS., Hegel, 94f. HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 536f: »Es ist nur für eine Thorheit neuerer Zeit zu achten, ein System verdorbener Sittlichkeit, deren Staatsverfassung und Gesetzgebung ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben, zu meynen, mit der alten Religion und ihren Heiligkeiten könne eine ihr entgegengesetzte Staatsverfassung Ruhe und Harmonie in sich haben, und durch äußere Kammern und die ihnen gegebene Gewalt, den Finanzetat zu bestimmen u. dgl. den Gesetzen Stabilität verschafft werden. Es ist für nicht mehr als für eine Nothilfe anzusehen, die Rechte und Gesetze von der Religion trennen zu wollen, bei vorhandener Ohnmacht in die Tiefen des religiösen Geistes hinabzusteigen, und ihn selbst zu seiner Wahrheit zu erheben.« 300 Zur Bedeutung für die Kritik der mit Normierungsanspruch auftretenden Sozialtheologie s. Ritters Deutung des Verhältnisses von Theorie und geschichtlicher Wirklichkeit bei Hegel, RITTER, Subjektivität und industrielle Gesellschaft, 359: »Der Philosoph wird der ›Sohn seiner Zeit‹ genannt; statt über die eigene Zeit hinauszugehen und eine Welt, wie sie sein soll, in Gedanken zu entwerfen und ein Seiendes zu suchen, das, wer weiß wo, – nur nicht in der Wirklichkeit selbst seinen Ort hat, fällt es ihm zu, im Gegenwärtigen ›die Substanz, die ihm immanent‹, und das ›Ewige, das in ihm gegenwärtig‹ ist, zu begreifen und so die der eigenen Zeit und Wirklichkeit einwohnende Vernunft und Wahrheit aus ihrem Grunde zum Begriff und zum Gedanken an den Tag des Wissens zu hervorzubringen.« 301 RENDTORFF, Geschichte und Gesellschaft, 163. 302 S. GOGARTEN, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 90f.103. 303 Ebd., 134.
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gel: »›Die Welt und alles, was in ihr ist, ist nun etwas, so können wir sagen, Natürliches. Sie ist nur Welt, säkulare Welt.‹«304 Beide, so scheint es, rechtfertigen den spezifisch säkularen Charakter der modernen Gesellschaft als positive Korrelation zum Wesen des christlichen Glaubens bzw. Freiheitsverständnisses. Jedoch kann Rendtorff der Gogartenschen Begründung, insbesondere seiner Rekonstruktion des Glaubensgeschehens, welche grundlegend für die Säkularisierungsthese ist, nicht folgen. Die Problematik dieser Position sieht er darin, dass die »Kontinuität der Geschichte, wie sie in der Säkularisierung als Folge christlichen Glaubens gegeben erscheint, nicht im Zusammenhang dieser Geschichte selbst, sondern auf der totalen Verantwortung des Menschen, wie er Gott und der Welt in seiner Geschichtlichkeit gegenübersteht«,305 begründet wird.306 Rendtorff markiert hier – wie auch in der Folgezeit – deutlich seine Ablehnung gegenüber der personalistischen Rekonstruktion des Glaubensgeschehens bei Gogarten. Dies führe aufgrund seiner hohen Formalität und der Bemühung, den Glauben als puren vom Menschen stets neu zu verantwortenden Akt zu verstehen, zu einem ungeschichtlichen und zugleich unwirklichen Glaubensbegriff. Die problematische Begründung der Legitimität der Säkularisierung lässt sich für Rendtorff dadurch überwinden, dass die aus dem Glauben folgende Emanzipation der Gesellschaft auf ihren eigentlichen geschichtlichen Grund zurückgeführt wird. Dieser Grund sei nur »in einer rückwärtigen Verknüpfung mit der Geschichte des Glaubens, und das heißt letztlich, mit der ge304 Zit. GOGARTEN, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 102. »Die Parallelität dieser Aussage zu der Begrifflichkeit, mit der Hegel das Naturprinzip der Gesellschaft als ihr geschichtliches Wesen erfaßt, ist nicht zufällig. Denn gerade in der auf keinerlei Weise historisch-herkömmlichen (religiös oder weltanschaulich) legitimierten, rein rationalen Haltung zur Welt sieht er das Charakteristikum des neuzeitlichen Menschen und der Wirkung christlichen Glaubens. Die Säkularisierung als Folge dieses Glaubens drückt ferner die in der Diskontinuität dieses Prozesses zur weltlichen Herkunft sich durchhaltende theologisch bedeutsame Kontinuität aus.« (RENDTORFF, Geschichte und Gesellschaft, 163f). 305 Ebd., 164. Vgl. dazu auch RENDTORFF, Säkularisierung als theologisches Problem, 337: »Der Personalismus […] stellt den Menschen in eine rastlose Entscheidung, die an nichts als an ihrer eigenen formalen Struktur einen Anhalt gewinnen kann.« – »Der reine Personalismus, der auf den Gegensatz von Person und Welt, Glaube und Vernunft emphatisch pocht, erweist sich […] als eine Abstraktion, die schon von der schlichten Erfahrung widerlegt wird.« (ebd., 338). Diesem möglichen Einwand widerspricht Gogarten freilich – vgl. GOGARTEN, Der Mensch zwischen Gott und Welt, 177f. 306 In der Logik Gogartenscher Theologie dürfte dies als Fehlurteil erscheinen. Die »Kontinuität der Geschichte« steht nicht in der Verantwortung des Menschen, sondern in der des eschatologischen Handelns Gottes innerhalb der menschlichen Geschichte, insofern das Kerygma allererst Säkularität im christlichen Sinne ermöglicht. Rendtorff bezieht sich darauf, dass Gogarten die theologische Anthropologie wesentlich als Destruktion menschlicher Sinn- und Ganzheitskonzeptionen (bzw. des Idealismus) konzipiert. Es scheine daher so, als wäre in der permanenten Selbstunterscheidung von der »Welt« als Dauervollzug eine »Methode« zu sehen.
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schichtlichen Offenbarung in Jesus Christus«307 zu finden. In diesem Rückblick erweise sich gegen Gogarten, dass die Geschichtswirksamkeit des christlichen Glaubens gerade nicht in der Verantwortung des Menschen stehe: »Sofern der Glaube sich als Glaube sündiger Menschen bis ins Letzte von Gott gewirkt, aus seinem Handeln entsprungen weiß, kann er auch die geschichtliche Wirksamkeit dieses Glaubens nur als ein Handeln Gottes in der Geschichte verstehen.«308 Der Glaube müsse »sein anthropozentrisches Mißverständnis überwinden in der befreienden Gewißheit seiner unabdingbaren Gründung im Handeln Gottes«.309 Die Säkularisierung wird also nicht durch eine immer aktuelle Selbstunterscheidung des Christen legitimiert, sondern durch die Geschichtsmächtigkeit des handelnden Gottes, welche dem Glauben des Sünders immer schon voraus liegt. Hier zeigt sich der Unterschied zu Gogarten in voller Deutlichkeit: Gogarten ist allein darauf bedacht, zu zeigen, dass der christliche Glaube auch unter den Bedingungen der »modernen Gesellschaft« existieren kann. Für Gogarten ist diese nicht per se säkularisiert, sondern sie wird dies allein im Bezug auf den Glauben. Verliert sie diesen Bezug, so verfällt sie unweigerlich dem negativ beurteilten Säkularismus als Ideologie.310 Säkularisierung als allgemeines Phänomen der Geschichte bedarf daher der besonderen Geschichtlichkeit, die Gottes eschatologische Zuwendung dem Menschen erschließt. Rendtorff hingegen geht es um das geschichtliche Phänomen der Säkularisierung und seine Realisierung in den Strukturen der neuzeitlichen Welt: der Glaube hat geschichtliche Folgen, und diese zeigen sich wesentlich in der modernen, geschichtslosen Gesellschaft. Hat nun »auch die Wirksamkeit christlichen Glaubens in der Umbildung der Wirklichkeit letztlich ihre Kontinuität im Handeln Gottes, wie es in der Erniedrigung und Verhüllung der Geschichte Jesu offenbar ist«, so lasse sich »die Aussage nicht umgehen, daß auch das Zustandekommen der modernen Welt und der Gesellschaft, sofern dabei mit einer geschichtlichen Wirksamkeit des Christentums zu rechnen ist, in der Kontinuität des kontingenten Handeln Gottes begriffen werden«311 müsse. Der Rekurs auf die Geschichte Jesu eröffne »eine universale, weltgeschichtliche Unbefangenheit«, welche die Offenheit für »das Handeln Gottes, der Neues wirkt«, einschließt. Zur Vergewisserung über die Legitimität der säkularisierten modernen Gesellschaft bedarf es daher nicht der im Glauben erschlossenen besonde307
RENDTORFF, Geschichte und Gesellschaft, 164. Ebd. 309 Ebd., 164f. 310 S. GOGARTEN, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 143. 311 RENDTORFF, Geschichte und Gesellschaft, 165. Es ist nicht überraschend, dass Rendtorff an dieser Stelle dankbar auf die Übereinstimmung mit Wolfhart Pannenberg verweist. 308
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ren Geschichtlichkeit, sondern der geschichtlichen Einsicht in die Kontinuität der Geschichte im Handeln Gottes durch den Glauben der Christen. Dass Rendtorff damit deutlich zur Lösung Hegels (in der Interpretation Ritters) tendiert, ist darin begründet, dass dieser es versteht, den Menschen geschichtlich in den Zusammenhang einer Wirkungsgeschichte christlicher Freiheit einzubetten, Gogarten hingegen eine stets in personaler Begegnung und Entscheidung aufrecht zu erhaltende Säkularisierung konzipiert – damit aber der Denkweise verpflichtet ist, die eine Diastase von Gesellschaft und christlicher Tradition zur Voraussetzung hat. Findet diese ihren Ausdruck in einem zweifachen Geschichtsbegriff, der Unterscheidung von Geschichte des Glaubens und Geschichte im Sinne des neuzeitlichen Geschichtsverständnisses,312 so mündet Rendtorffs Ansatz in die Konzeption einer einheitlichen Geschichte. Gogarten gegenüber kann Rendtorff im Anschluss an Ritter ein geschichtlich begründetes Vertrauen in die Strukturen der modernen Gesellschaft zur Geltung bringen, ohne den Menschen durch eine immer neue Entscheidungssituation radikal zu fordern. Dass aber eine einlinige Entwicklung der neuzeitlichen Gesellschaft aus der Geschichtswirksamkeit des Glaubens angenommen wird, und dass diese in der »Erniedrigung und Erhöhung Jesu Christi« ihren Ursprung habe, lässt sich kaum mit dem bei schon Ritter verkürzt wiedergegebenen Begründungszusammenhang Hegels vermitteln. Hegel konzipiert eine Weltgeschichte der Freiheit, in der christliches Freiheitsverständnis der Reformation und Freiheitsverständnis der Revolution zusammenfließen – ob es einen vom Christentum unterschiedenen Ursprung emanzipatorischer Freiheit gibt, bleibt bei Rendtorff an diesem Punkt offen.
4.2 Das Wesen neuzeitlicher Theologie Die entscheidende Zuspitzung der Verhältnisbestimmung von Christentum und moderner Gesellschaft bzw. allgemein der »Neuzeit« deutet sich in Rendtorffs Antrittsvorlesung Säkularisierung als theologisches Problem aus dem Jahre 1961 an.313 Die Säkularisierung wird konstruktiv mit dem Verweis auf die Reformation bestimmt, die ihrerseits »eine in ihren Konsequenzen weitreichende Säkularisierung des kirchlich-regulierten christlichen Verhaltens [darstellte], indem sie dieses ganze System zu traditiones humanae erklärte und ihm damit jene Eindeutigkeit entzog, die ihm aus 312
S. GOGARTEN, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 121–133 (Kap. 8: »Zweierlei Geschichtsbegriffe). 313 Der Titel entspricht dem Untertitel von Gogartens Studie Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit.
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seiner Koppelung mit der Heilsgewißheit zukam«.314 Aus »überlegenen theologischen Gründen«315 hätten die Reformatoren diesen Schritt nicht gescheut. Entscheidend ist Rendtorffs Feststellung, dass die Theologie selbst keinen Standpunkt außerhalb der Problematik neuzeitlichen Denkens habe. Diese theologiereflexive Wendung korrespondiert dem in der Habilitationsschrift vorgelegten theologiegeschichtlichen Zugang.316 Die vorangegangenen Überlegungen werden damit deutlich überboten, denn nunmehr wird konsequent auch die Tätigkeit des Theologen selbst auf ihre neuzeitlichen Implikationen hin transparent gemacht. Die Theologie selbst findet sich immer schon in einer Gestalt vor, in der ihre Denkstrukturen und ihr Gegenstand neuzeitlichen Konditionen unterliegen.317 Ganz im Gefolge der Ritterschen Hegeldeutung müsse die Theologie auch in dieser selbstreflexiven Anwendung innerhalb der durch die Säkularisierung gekennzeichneten Neuzeit diejenigen Antriebe anerkennen, »die aus dem christlichen Glauben in diese Epoche eingegangen sind«.318 Die entscheidende Neuerung des neuzeitlichen Denkens sieht Rendtorff wiederum in der historischen Kritik.319 Deren Anwendung innerhalb der Theologie als Kritik der dogmatischen Überlieferung der Kirche erweist sich für Rendtorff insofern als legitim, als sie die Freiheit zur eigenen Gegenwart ermöglichte und den Gegensatz, in den die Dogmatik zu dem »außerhalb der Bahnen theologischen Denkens vorangetriebene[n] Wirklichkeitsverständnis« geraten war, welches »offenbar der Wirklichkeit in seiner Weise gerecht wurde«,320 überwinden ließ. Es ist aber darüber hinaus ein theologischer Grund, welcher zur Überschreitung der Grenzen der Dogmatik führte: 314
RENDTORFF, Säkularisierung als theologisches Problem, 321. Ebd. Hier zeigt sich eine explizite Übereinstimmung zwischen Rendtorff und Gogarten, vgl. GOGARTEN, Der Mensch zwischen Gott und Welt, 208. 316 Vgl. dazu insbesondere RENDTORFF, Säkularisierung als theologisches Problem, 339: »Die theologische Auseinandersetzung mit der Säkularisierung hat hier die Funktion, die Theologie instandzusetzen, ihrer eigenen geschichtlichen Voraussetzungen in neuer Gestalt mächtig zu werden.« Vgl. dazu GOGARTEN, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 107. Gogarten schärft hier ein, dass das Christentum selbst den Bedingungen der Säkularisierung unterliege. Es bleibe »nur die Frage, ob es der christliche Glaube ist, durch den der Säkularisierung ihre Grenze gezogen wird«. 317 RENDTORFF, Säkularisierung als theologisches Problem, 318: »Als fruchtbar erweist sich das Problem der Säkularisierung jedoch nur, wenn sie als gemeinsame Voraussetzung auch von der Theologie anerkannt wird. Eine Perspektive, bei der die Rollen von Anfang an schon so verteilt sind, daß die Welt der neuzeitlichen Säkularisierung und die Theologie sich prinzipiell gegenüberstehen und nur aus ihrer Differenz ein Brückenschlag je und dann versucht würde, eine solche Perspektive würde dem Problem von Anfang an nicht gerecht.« 318 Ebd., 319. 319 »Das Problem der Säkularisierung begegnet innerhalb der Theologie in der Weise als Auseinandersetzung mit der dogmatischen Tradition, als ein Prozeß der kritischen Ablösung der altkirchlichen und insbesondere der altprotestantischen Dogmatik.« (ebd., 324). 320 Ebd., 325. 315
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Der universale Anspruch des christlichen Gottesbegriffs ist nicht identisch mit seinem dogmatischen Begriff, sondern stellt allererst die Theologie vor die Aufgabe, die Einheit der Wirklichkeit in vollem Sinne zu begreifen. Sollte dieser Anspruch nicht preisgegeben werden, dann mußte er sich auch in der Aufnahme des neuen Weltverständnisses erweisen lassen, dessen begründete Einsichten die Theologie nicht leugnen kann.321
Die kritische Auflösung der dogmatischen Grenzen stellt darum recht verstanden die eigentliche konstruktive Fortführung theologischen Denkens dar:322 In der Überprüfung und Korrektur der überlieferten Dogmatik vollzieht sich die Wahrung des christlichen Erbes, sofern die Theologie dabei an der Einheit der Wirklichkeit theologisch festzuhalten gesucht hat, um sie im Zusammenhang des veränderten Weltverständnisses neu zu explizieren.323
Dass die »Säkularisierung der Tradition in Gestalt ihrer Historisierung«324 in der Tat theologisch legitim bleibt, beruht wesentlich auf der Voraussetzung, dass »der Inhalt dieser Tradition selbst sich einer Wandlung und Veränderung fähig zeigt, die Offenbarung also geschichtlichen Charakter hat«.325 Dies zu erweisen, ist darum ein wesentliches Kriterium für das geschichtliche Denken innerhalb der Theologie. Die Begründung für diese dem Glauben wesentliche Bezogenheit auf die Geschichte indes entfaltet Rendtorff dogmatisch: Indem die Auferstehung als das mit dem Bestande der menschlichen Welt nicht voll verrechenbare, die Wirklichkeit der Welt und des Menschen auf ihre endgültige Bestimmung hin zusammenfassende Ereignis begriffen wird, muß der Mensch, und d.h. zugleich die Welt des Menschen aus der geschichtlichen Offenheit verstanden werden, die als Grundzug aller Wirklichkeit in diesem Handeln Gottes offenbar geworden ist.326
Dies impliziert wiederum eine kritische Pointe gegen Gogartens personalistisches Glaubensverständnis als Voraussetzung der Säkularisierungsthese: Wenn in der Auferstehung zugleich unsere, der Menschen Zukunft beschlossen liegt, dann kann das deshalb nicht heißen, sie betreffe unsere Wirklichkeit erst in irgendei-
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Ebd. »Das Festhalten an der Einheit der Wirklichkeit angesichts der auseinanderstrebenden wissenschaftlichen und theologischen Aspekte ist die wahre Legitimation der kritischen Theologie seit der Aufklärung. Ja wir können noch weitergehen und sagen, daß die Grundintention der Kritik an der dogmatischen Tradition zugleich dasjenige Moment ist, das sie mit dieser Tradition theologisch verbindet, besser und stärker verbindet als dort, wo die Gestalt dieser Tradition unkritisch fortgeführt worden ist.« (ebd., 325f). 323 Ebd., 326. 324 Ebd., 327. Vgl. dazu GOGARTEN, Der Mensch zwischen Gott und Welt, 219. 325 RENDTORFF, Säkularisierung als theologisches Problem, 327. 326 Ebd., 336. 322
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nem fernen, zukünftigen Zeitpunkt. Noch weniger allerdings, sie versetze den Christen jetzt schon in einen aller Welt entnommenen oder überlegenen Glaubenszustand.327
Jener von Gogarten vorgetragene Versuch, aus dem Glaubensverständnis der urchristlichen Tradition die neuzeitliche Säkularisierung allererst zu begründen, scheitert damit: Erst unter der Voraussetzung, daß es sich hier um eine andere, gegenüber weiten Strecken des Christentums veränderte Gesamterfahrung und Lebenswelt handelt, ist […] ein Urteil über den darin wirksamen und bedeutungsvollen sachlichen Zusammenhang möglich und nötig.328
Die Deutung der historischen Methode als des binnentheologischen Ausdrucks der Säkularisierung ist nun für das Verständnis der Theologie von höchster Relevanz. Stellt diese gerade nicht eine eminente Gefährdung dar, sondern den theologisch angemessenen Versuch, dem geschichtlichen Handeln Gottes auch in der Neuzeit nachzuspüren, so ist in der Tat – wie Troeltsch formulierte – das dogmatische Zeitalter des Christentums an sein Ende gelangt.329 Dies jedoch nicht aufgrund eines äußeren der Theologie fremden Wissenschaftsparadigmas, sondern mit innerer Notwendigkeit. Das Troeltsche Problemniveau scheint innerhalb der Theologie in vollem Umfang wieder erreicht und zugleich theologisch begründet. Theologie lässt sich unter den Bedingungen des neuzeitlichen Denkens nur konsequent als historische Wissenschaft konzipieren. Theologie muss im Zuge dieser Neukonstitution einen deutlichen Schwerpunkt auf die Wahrnehmung des gegenwärtigen Christentums setzen, insofern theologiereflexiv werden, da sie selbst als christliche neuzeitlich geprägt ist. Hingegen müssen Kräfte, die auf einzelne Ursprungsepochen konzentriert waren, von diesen abgezogen werden. Rendtorff anerkennt die Leistung der »rationalen« bzw. »natürlichen« Theologie«,330 die allein sichern könne, dass die Einheit des Wirklichkeitsverständnisses gewahrt bleibe. Schließlich könne eine einseitig an den Ursprungsinstitutionen orientierte Theologie unter strikter Ablehnung 327 Ebd. Gegen Gogarten wendet Rendtorff (ebd., 334f) kritisch ein: »Er [sc. Gogarten] vermag nicht mehr deutlich zu machen, warum der Mensch in seinem Handeln und Denken unlöslich an Einsicht, Inhalte, tragenden Sinn und historischen Zusammenhang verwiesen ist, so wie auch der personale Theologe ihnen noch in der Destruktion zutiefst verhaftet bleibt. […] Auch der christliche Glaube ist nicht ohne Inhalt, sofern der Glaube nicht sich selbst glaubt, sondern in der Folge eines bestimmten Handelns Gottes steht. Vom Glauben kann daher nur geredet werden, wenn der Zusammenhang, der ihm historisch und sachlich vorausgeht und zugrunde liegt, als einer erkannt ist, der diesen Glauben sinnvoll sein läßt.« 328 Ebd., 337. 329 Troeltsch hatte konstatiert, dass die historische Methode auf die Theologie und ihre Überlieferungsbestände einmal angewendet wie ein Sauerteig wirke, der alles in Relativität und Kausalität auflöse, Normativität und Gegenwartsgeltung einzelner Zeiten und Schriften damit konsequent ausschlösse – s. TROELTSCH, Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie. 330 RENDTORFF, Das Problem der Institution, 147.
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der natürlichen Theologie gegenwärtiger Welterfahrung nicht gerecht werden. Es sei nicht mehr möglich, das Verständnis dessen, was Christentum auszeichnet, normativ aus der Vergangenheit zu gewinnen, um es alsdann als Forderung gegenwärtiger Praxis zu formulieren. Die Konsequenzen der auf diesem Wege geforderten Neukonstitution der Theologie sind weitreichend. Sie bringen das Ende der Bemühung um hermeneutische Zugänge mit sich, welche die unmittelbare Gegenwartsbedeutung biblischer Texte trotz der Anwendung des historisch-kritischen Methodenparadigmas gewährleisten sollen. Entscheidend für die Ermittlung »des Christlichen« ist nunmehr nicht mehr das neutestamentliche Kerygma (Gogarten), sondern die unmittelbare Gegenwart des Christentums. Inkonsistent bleibt indes der Rekurs auf das »Handeln Gottes« sowie dessen Konkretion in der Auferstehung Jesu. Führt dieser Zugriff des Glaubens auf »Geschichte«, die auf das »Handeln Gottes« rückführbar sei, nicht zwangsläufig zum Unterlaufen des durch die Historisierung gekennzeichneten Niveaus? Problematisch ist darüber hinaus, dass Rendtorff die enge Verknüpfung neuzeitlicher und christlicher Freiheit in enger Anlehnung an die Hegelsche »Geistes-«Geschichte (gemäß der Ritterschen Interpretation) aufnimmt. Die neuzeitliche Problematisierung dieser idealistischen Geschichtskonzeption etwa in Diltheys und Troeltschs differenzierten historischen Darstellungen, die die Wurzeln der »Emanzipationsfreiheit« eher im Umfeld des Humanismus und der »linken« Außenseiter der Reformation suchten als in dem Freiheitsverständnis der Reformatoren,331 wird von Rendtorff ausgeblendet. Dass die historische Methode auf Troeltschem Niveau eine Emanzipation den dogmatischen und biblischen Überlieferungen gegenüber beansprucht und erringt, ist nicht zu bestreiten. Die Frage allerdings, ob sich diese Freiheit als konstruktive Fortsetzung eines Verständnisses reformatorischer Freiheit identifizieren lässt, ist auf historischem Wege kaum positiv zu beantworten. Gerade unter dem Paradigma des Historismus wurde dieser Zusammenhang fraglich. Es wäre daher auch dem Gedanken Raum zu geben, dass zumindest im Blick auf das methodische Vorgehen die Emanzipationsfreiheit die reformatorisch bestimmte christliche Freiheit überlagert hat – bzw. dass sie im Widerspruch zum reformatorischen Verständnis einem humanistischen Freiheitsverständnis gegenüber größere Nähe aufweist. Dies freilich führte zu jener grundlegenden ideologiekritischen Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des Historismus, die unter anderem von Karl Barth aufgenommen wurde.
331 Vgl. dazu knapp nur KOHLS, Das Bild der Reformation; GOGARTEN, Der Mensch zwischen Gott und Welt, 203.
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Insofern nun die historischen Begründungsversuche allein Rendtorffs These nicht zu tragen vermögen, stellt sich die Frage, auf welche Evidenz hinsichtlich der engen Verknüpfung von neuzeitlichem und christlichem Freiheitsverständnis zu verweisen ist. Bereits bei Hegel sind es nicht Rechts- und Geschichtsphilosophie selbst, die die Begründungslast der Konzeption der Weltgeschichte als Geschichte der Freiheit tragen. Zumindest Hegels eigener Darstellung nach ist sowohl in der Rechtsphilosophie als auch in der Geschichtsphilosophie die Wissenschaft der Logik vorausgesetzt, in der die eigentliche Begründung des Prinzips der Freiheit, welches dann in gesellschaftlicher Gegenwart und Geschichte als wirksam dargestellt wird, grundgelegt sei.332 Der Sache nach sind Rechts- und Geschichtsphilosophie demnach der subjektivitäts- bzw. absolutheitstheoretischen Reflexion nachgeordnet. Eine entsprechende spekulative Begründung, wie sie insbesondere von Falk Wagner333 als »Theorie des Absoluten« gesucht wurde, legte Rendtorff indes nicht vor. Seine Studien der Folgezeit lassen sich als Versuch verstehen, ausgehend von dem Faktum der Erfahrung gegebener und immer schon in Anspruch genommener Freiheit am Orte des Individuums dieser Freiheit in der Theologiegeschichte und der Theorie des gegenwärtigen Christentums zu folgen. Einer expliziten Entfaltung dieser Freiheitserfahrung im Rahmen subjektivitätstheoretischer Reflexion scheint das in der Folgezeit ausgearbeitete Programm der »Theorie des Christentums« nicht zu bedürfen. Wesentlich ist vielmehr, dass diese Freiheit sich selbst als christliche expliziert, indem sie den entscheidenden Aspekt des menschlichen Selbstverhältnisses, die Erfahrung des Gegebenseins von Freiheit, in einem bestimmten Gottesverständnis auslegt und in einer bestimmten Perspektive auf die Geschichte – nämlich die christliche in ihrer paulinisch-lutherischen Wirkungslinie und deren neuzeitlich-aufklärerische Fortführung – sowie in einer bestimmten Beziehung zur Gesellschaft, in der sie christliche Freiheit wesentlich verwirklicht sieht, als allgemein gewordenen identifiziert. Die Freiheitserfahrung erschließt das der Theologie nur scheinbar fremde neuzeitliche Wahrheitsbewusstsein und beseitigt etwaiges Misstrauen in die »neuzeitliche Freiheit« an der Wurzel. Dass die Theologie sich diesem Verständnis von Freiheit gemäß neu zu konstituieren hat, ist darin begründet, dass die neuzeitliche Freiheit, der sie sich andernfalls kritisch gegenüber abzugrenzen hätte, in ihren eigenen Vollzug konstitutiv eingegangen ist.
332 Zu dieser Bedeutung der »Logik« für das Gesamtwerk Hegels s. WAGNER, Die Aufhebung der religiösen Vorstellung, 207 – im Blick auf die »Natur des spekulativen Wissens« verweist Hegel in der Philosophie des Rechts auf die in der Wissenschaft der Logik entfalteten notwendigen Voraussetzungen (H EGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 12f). 333 S.u. Teil 2.
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Die Charakteristik des Freiheitsbegriffs wird in Rendtorffs Überlegungen zum Verhältnis von »Emanzipation« und »christlicher Freiheit« aus dem Jahre 1982 deutlich. Der Beitrag, den das christliche Verständnis der Freiheit der neuzeitlichen Freiheit gegenüber leiste, sei in der theologischen Struktur des Freiheitsbegriffs zu sehen, welche in der »Grundthese, daß Emanzipation als Akt des Menschen Folge der Freiheit sei, also die Realisierung, Konkretisierung einer zuvor gegebenen und gewährten Freiheit«,334 zum Ausdruck komme. Die dem Gebrauch der Freiheit vorausliegende Grunderfahrung des Gegebenseins von Freiheit bildet den Erfahrungshorizont, der in einer Verhältnisbestimmung von Emanzipation und christlicher Freiheit vorauszusetzen ist. Daneben tritt der Hinweis auf die religionsgeschichtliche Verbindung zwischen christlichem und neuzeitlichem Freiheitsverständnis: Die geschichtsphilosophische Ausweitung des Emanzipationsbegriffes als Ablösung aus allen Abhängigkeiten ist selbst nicht zu begreifen ohne ihren sachlichen und strukturellen Zusammenhang mit dem Verständnis von Religion, d.h. in erster Instanz: des Christentums in der Neuzeit. Denn Freiheit als emanzipativer Begriff bildete sich zuerst aus im Verhältnis zu Religion und Christentum.335
Das Spezifikum des theologischen Beitrags zum Verständnis der Freiheit sieht Rendtorff in der Einsicht, die Rede von der Freiheit stehe »unter der Bedingung, theologisches Wirklichkeitsverständnis im Medium des Selbstverständnisses des Menschen zu explizieren«,336 d.h. aber, dass sowohl die »Sünde« als auch die Begründung der Freiheit allein sinnvoll als Selbstbeziehung zu verhandeln sind. Sünde als »die im Selbstseinwollen der Freiheit des Menschen begründete Unmöglichkeit, Gott anzuerkennen«,337 ist die nicht vollzogene Anerkennung der durch keine Emanzipation einzuholenden immer schon vorausliegenden gegebenen Freiheit. Entsprechend wird im »Wissen um die Rechtfertigung […] dem Menschen eine Selbstbeziehung erschlossen, die seine Identität für die Übernahme des Unterschiedes von Gott und Mensch in den Selbstvollzug öffnet«:338 »Indem der Mensch sich als Sünder von Gott bejaht und angenommen wissen kann, weiß er sich in seiner Freiheit passiv konstituiert«,339 d.h. er realisiert eine neue Form der Selbstbeziehung, innerhalb derer allein die durch die Rechtfertigung eingetretene Veränderung sprachlich erfasst werden kann. 334
RENDTORFF, Emanzipation und christliche Freiheit, 165. Ebd., 158. 336 Ebd., 166: »Dazu gibt es keine ernsthafte Alternative, wohl aber zureichende Gründe aus der Sache der Theologie selbst.« 337 Ebd., 168. 338 Ebd., 171. 339 Ebd. 335
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Damit wird das in der Reformation als Geschehen verstandene rechtfertigende Handeln Gottes (extra nos) zu einer Verschiebung in der Struktur der Selbsterfassung menschlicher Freiheit transformiert, das Phänomen der Sünde als Gott entgegen gerichtetes Streben des Menschen, als seine Existenzweise, wird als Selbstwiderspruch verstanden, der durch bessere Einsicht zu beheben ist. Der Punkt, an dem dieser systematische Widerspruch gegen die Reformatoren (und in diesem Lichte auch gegen Barth) pointiert deutlich wird, ist in der folgenden – scheinbaren – Selbstverständlichkeit gegeben: Allerdings wäre diese Befreiung [des Menschen in der Rechtfertigung] nicht als Freiheit gedacht, wenn sie dem Menschen in dem Sinne »von außen« widerführe, daß sie nicht nur ohne sein Zutun ihm widerfährt, sondern wenn sie auch ohne seine Beteiligung als vollzogen gedacht werden sollte, also als (formale), nur juridische Freisprechung von Schuld und Sünde. (Hier ist der kritischen Rückfrage von Kant in seiner Religionsschrift durchaus Raum zu geben.)340
Was nunmehr Kant in seiner Religionsschrift als dem aufgeklärten Denken um der Wahrung der menschlichen Freiheit willen als undenkbar bezeichnet, wird man mit einigem Recht als einen der entscheidenden Grundzüge der paulinisch-reformatorischen Tradition ansehen können, der aber aufklärerisch-idealistischem Denken notwendig fremd bleiben musste. Zwar wird die Rechtfertigung auch in einer veränderten Selbstbeziehung »wirksam«, dies aber endgültig in dem Menschen als neukonstituiertem Subjekt und »jetzt« in der fundamentalen Gebrochenheit des simul iustus et peccator, in der tiefen Angefochtenheit christlicher Existenz durch den Zweifel. Gerade gegen solche auf existenzieller Ebene begründete Freiheitserfahrung, wird aber darüber hinaus zu fragen sein, ob die klassisch theologisch relevanten Phänomene von Rendtorff überhaupt noch berührt werden. Dass die Freiheit durch gesellschaftliche Konstellationen gefährdet werden kann, ist immerhin nur ein Punkt. Es wird aber auch zu fragen sein, wie sich eine solche Begründungsfigur zu existentiellen Infragestellungen der Freiheit, wie sie Tod und Krankheit darstellen, verhält. Ist die neuzeitliche Emanzipation wirklich die schärfste Herausforderung an theologisches Denken bezüglich der Freiheit, oder sind nicht nichtender Tod und radikaler Missbrauch der Freiheit zumindest ebenbürtige Herausforderungen? Rendtorffs Verständnis von »Freiheit« würde sich auf diese Probleme bezogen eigentümlich zahnlos darstellen. Die neukonstituierte Theologie scheint an dieser Stelle für Rendtorff nichts zu sagen zu haben – eine eigentümliche Sprachlosigkeit, insofern sie sich doch im Zusammenhang der Überlieferungsgeschichte des Christentums, insbesondere bei Luther und Paulus, wähnt. 340
Ebd., 171f.
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Auch die Kierkegaardsche Anfrage, ob sich Freiheit in Fortschritten der Weltgeschichte oder nicht vielmehr nur in existentiell erfahrenem Widerspruch stets neu realisiert, wäre hier zu diskutieren.341 Unstrittig ist trotz dieser Kritik jedoch, dass Rendtorffs Lösungsansatz einen hohen Wert hat – kaum ein anderer hat vor und auch nach ihm derart präzise erfasst, dass die Theologie sehr viel tiefer neuzeitliches Denken in sich aufgenommen hat – bzw. sich als darin aufgenommen wahrnehmen muss –, um nicht doch in ein »Gegenüber« zu geraten. Kaum ein anderer hat sich daran gewagt, einen Zusammenhang zwischen Methodenparadigmen und dem Gegenstand des Christentums herzustellen, weil kaum jemand es sich so deutlich und explizit einzugestehen vermag, dass ein Methodenparadigma nicht ohne Folgen für den Gegenstand, auf den es gerichtet wird, bleibt. Kaum jemand wird daher aber auch so ernsthaft in Probleme geraten, christliche Freiheit und ihre Geschichte angemessen zu erfassen.
5. Die Theologie Barths im Kontext der Theorie des Christentums 5.1 Das Programm Den systematischen Ertrag der vorangegangenen Studien bündelt Rendtorff in seiner 1972 veröffentlichten Aufsatzsammlung Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung.342 Wie bereits in den früheren Studien sind auch hier wiederum sozialtheolo341 Vgl. dazu HIRSCH, Fichtes, Schleiermachers und Hegels Verhältnis zur Reformation, 166f: »Man kann die Wahrheit, die er [sc. Kierkegaard in Auseinandersetzung mit Fichte, Schleiermacher und Hegel] meint auch so ausdrücken: Fichte, Schleiermacher und Hegel lassen das Werden der Erkenntnis, daß Gott Liebe ist, durch den Gang des Weltgeistes in der Geschichte besorgen und beginnen ihre eigene Erkenntnis Gottes gleich in dem letzten höchsten Gedanken Gottes als der ewigen Liebe. Die Offenbarung Gottes als werdende ist allgemein, objektiv, und nur ihr Ergebnis wird persönlich angeeignet. Wenn es nun auch noch so tief angeeignet wird, […] die entscheidende Voraussetzung, daß Gott Liebe ist, bleibt dennoch lediglich auf Verantwortung des Allgemeinen übernommen und ist nicht in eigner Geschichte an den Menschen gekommen. Das ganz ernst persönliche Christentum hingegen empfängt Gottes ganze Offenbarung, in ihrem Werden vom Zorne her bis zur Überwindung des Zorns in der Liebe, immer aufs neue in einer eignen Geschichte. […] Die letzte und höchste Erkenntnis der christlichen Religion, daß Gott Liebe ist, kommt wahrhaft nur an den, der das Werden der christlichen Religion aus der Not und der Angst des heidnischen Bewußtseins im eignen Herzen trägt und lebt.« 342 In folgenden legen wir die in diesem Band versammelten Studien sowie weitere zeitnah entstandene Arbeiten Rendtorffs zugrunde. Dieses Verfahren erweist sich als legitim, da Rendtorff mit der Theorie des Christentums ein kohärentes System des Denkens entwickelt hat, welches durchgängig den Hintergrund seiner Analysen darstellt. Der Band wird daher im Folgenden als geschlossene Untersuchung behandelt.
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gische und theologiegeschichtliche Erörterungen eng miteinander verbunden. Beide dienen dem Erweis der Erschließungskraft jener von Rendtorff gewählten Perspektive, aus der Gesellschaft und Geschichte im Horizont der Realisierung christlicher Freiheit begriffen werden. Die Theologie Karl Barths bleibt ein kontinuierlicher Gegenstand und stellt nunmehr den exemplarischen Bewährungsfall der Reichweite der Theorie des Christentums dar. Dieser als angemessener Form neuzeitlicher systematischer Theologie obliegt die Einlösung folgender Forderung: Sie muß sich eines Begründungszusammenhanges der Theologie versichern, der schon als solcher die Befreiung von Alternativen darstellt und damit der Theologie die nötige Weite gibt, deren sie angesichts ihrer wissenschaftlichen und praktischen Situation bedarf.343
Die Theologie Barths stellt hier die größte Herausforderung dar, zunächst aufgrund ihres Selbstverständnisses als Alternative zur vorangegangenen Theologiegeschichte, die sodann im Blick auf die von Rendtorff intendierte Anknüpfung an jene scheinbar abgebrochene Tradition des Neuprotestantismus eine erneute starre Alternative zum eigenen System zu verursachen scheint. Wenn nunmehr die kritische Abgrenzung konstitutiv in die WortGottes-Theologie eingegangen sei, so müsse es »ein wesentliches Kriterium […] sich emanzipierenden theologischen Denkens« sein, »daß es seinerseits nicht in einem konstitutiven Sinne auf Alternativen aus ist«.344 Um dieser Alternative auch Barth gegenüber zu entgehen, der ja diejenigen Bezugsgrößen Geschichte und Gesellschaft, die für Rendtorff das Thema der Theorie des Christentums bilden, augenscheinlich aus der konstruktiven Entfaltung der Theologie verbannt hatte, ist sie als produktive Fortführung der neuprotestantischen Denkbewegung zu begreifen. Die Integration der Barthschen Theologie wird zum Bewährungsfeld der kritischen und nicht positionellen Verfasstheit der Rendtorffschen Theorie des Christentums.345 Die Theorie beansprucht somit den Status einer Metatheorie, welche die Bildung kohärenter systematisch-theologischer Systeme zu begreifen ermöglicht. Ehe nun die vor allem innerhalb der beiden Studien Radikale Autonomie Gottes. Zum Verständnis der Theologie Karl Barths und ihrer Folgen sowie Theologie als Kritik und Konstruktion. Die exemplarische Bedeutung der Frage der Theologie nach sich selbst eingeleitete Neuorientierung der Barthdeutung vor dem Hintergrund des Rendtorffschen Ansatzes dargestellt wird, soll vorab an zwei Beispielen der Horizont der Theorie des Christentums anhand ihrer Kernprobleme Geschichte und Gesellschaft knapp abgesteckt werden. Barth im Kontext der Theorie des Christentums 343
RENDTORFF, Theorie des Christentums, 19. Ebd., 18. 345 Zu dieser Unterscheidung vgl. insbesondere RÖSSLER, Positionelle und kritische Theologie. 344
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5.2 Christentum als Deutungskategorie von Geschichte und Gesellschaft Bereits im vorangegangenen Abschnitt wurde der Weg nachgezeichnet, der Rendtorff insbesondere in der Aneignung wesentlicher Aspekte der Hegelinterpretation Joachim Ritters und in Auseinandersetzung mit Friedrich Gogarten sowie der Sozialtheologie der Nachkriegszeit zu einer Neubestimmung christlicher und neuzeitlicher Freiheit führte. Die Theorie des Christentums markiert den Zielpunkt dieser Neuorientierung. Schon die einleitenden Bemerkungen heben den Status der Theorie des Christentums als einer der Realität des »Christentums« funktional nachgeordneten Selbsterfassung hervor: […] Realitäten von der Dimension des Christentums verdanken ihren Bestand nicht den Meinungen, die sich an ihnen bilden, sondern geben umgekehrt den Bezugsrahmen ab, auf den hin sich das Bewußtsein der Zeit seinen Standort zu geben sucht. […] »Über« das Christentum reden kann man nur, wenn man darin die Bewegung seiner eigenen, auf Konsequenz dringenden Entäußerung zu begreifen sucht.346
Die der Theorie vorgängige Festlegung dessen, was das Christentum sei, auf historisch abgrenzbare Vorstellungen oder eine definierte Sozialgestalt ist damit als Missverständnis ausgeschlossen. Rendtorff intendiert mit der »Verwendung des Wortes ›Christentum‹ […] die Identifizierung von produktiven Veränderungen der neuzeitlichen Welt, die im Maße hoher Übereinstimmung als deren eigentümlicher Gewinn angesehen werden, insbesondere alle Dimensionen, in denen sich das Freiheitsbewußtsein ausspricht oder wissenschaftlich, politisch, gesellschaftlich manifestiert«.347 Der Begriff »Christentum« wäre somit als Bezeichnung einer Sozialgestalt missverstanden, vielmehr stellt er eine Deutungskategorie dar. Dieses Vorhaben, aufzuzeigen, »in wie hohem, theologisch explizierten Maße sich alle wesentlichen Momente des neuzeitlichen Bewußtseins [von Freiheit] vorgängig als Selbsterfassung des christlichen Bewußtseins [von Freiheit] identifizieren lassen«,348 unternimmt Rendtorff sowohl im Blick auf die Entstehung und Verfassung der neuzeitlichen Gesellschaft, als auch auf die exemplarische Frage der Theologie nach sich selbst. Im Rahmen dieser Frage tritt Rendtorffs Verständnis der – der Theologie nur scheinbar äußerlich begegnenden – neuzeitlichen Emanzipation besonders deutlich hervor. 346
RENDTORFF, Theorie des Christentums, 7. Ebd., 10. Vgl. ebd., 9f: »Die hier zusammengefaßten Studien wollen erklären, inwiefern sich eine relevante Theorie der Neuzeit aufbaut aus Elementen christlicher Überlieferung, die sich in der neuzeitlichen Welt entfaltet haben: nämlich so, daß sich die Grundstrukturen der neuzeitlichen Freiheitsthematik in der kritischen Selbstbestimmung und Selbstauslegung des Christentums seit der Reformation in originärer Weise ausgearbeitet haben.« (ebd., 11). 348 Ebd., 11f. 347
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Das erste Beispiel, an dem sich das Profil der Theorie des Christentums zeigt, ist Rendtorffs Verständnis der historischen Bibelwissenschaften: »Wenn irgendwo, dann sind die kritische neuzeitliche Emanzipation und ihr Freiheitsbewußtsein für das christliche Denken hier fest verankert […]«.349 Die historische Methode bleibt der Theologie nicht äußerlich, sie impliziert vielmehr die Frage, »wie denn eine Theologie anfangen müsse und könne«,350 und »zielt unvermeidlich auf ein geschichtliches Verständnis von Theologie überhaupt, d.h. auf einen Begriff der Theologie unter den Bedingungen des neuzeitlichen Christentums«.351 Es ist aber wichtig, gerade diesen Terminus »Bedingungen des neuzeitlichen Christentums« im Rendtorffschen Sinne zu fassen, denn diese Bedingungen sind nichts Fremdes, dem das neuzeitliche Christentum unterliegt, sondern die Bedingungen der Theologie, die das neuzeitliche Christentum wesentlich aus sich heraussetzt. Die historische Bibelforschung ihrerseits ist damit in jenen Zusammenhang eingeholt, »in dem sie sich historisch und sachlich stellt, den des gegenwärtigen Christentums«.352 Wird nun die historische Bibelwissenschaft abgelehnt, so ist damit zugleich der Zugang zum neuzeitlichen Christentum verschlossen,353 d.h. jener Gegenwart, die sich mittels der historischen Forschung von der Last der Tradition des dogmatischen Zeitalters der Theologie befreit und gerade darin den Überschritt in das kritische Zeitalter vollzieht. Wo die historische Bibelforschung ihrerseits wieder mit der Forderung überlastet wird, die Frage »Was ist christlich?« zu beantworten,354 d.h. »daß der Zusammenhang von historischer und systematischer theologischer Einsicht für vorgegenwärtige Zusammenhänge reserviert bleibt, während für die Gegenwart des Christentums und seinen Erfahrungsspielraum die Theologie sich in normativen Sätzen ausspricht«,355 wird ein Rückfall in das dogmatische Zeitalter vollzogen: 349
Ebd., 42. Ebd. 351 Ebd., 43. 352 Ebd., 44. Vgl. dazu insbesondere ebd., 49: »Es ist aber wesentlich für den Begriff, den man sich von diesem Prozeß [der schwindenden Verbindlichkeit der Tradition für die Beantwortung der Frage »Was ist christlich?«; S.H.] zu machen veranlaßt ist, daß das kritische Verhältnis zur Tradition, weit davon entfernt, eine Setzung freier Willkür zu sein, selbst zu einem integrierenden Moment in eben dieser Überlieferung wird. Nicht mehr allein die großen gelungenen theologischen, dogmatischen wie religiösen Antworten bestimmen die Theologie. Mit gleicher Kraft sind es nun die großen, in die Fundamente hinabreichenden Fragen und Aporien, die als produktive Elemente in die Tradition protestantischer Theologie eingehen.« (Hervorhebung von mir, S.H.) 353 S. ebd., 42. 354 Darin liegt ein impliziter Vorwurf insbesondere gegen Bultmann. Vgl. ebd., 59: »Für die Phase, in der sich die Theologie gegenwärtig befindet, kann man die dominierende Tendenz beobachten, die Aufgabe der Schriftforschung mit der der Theologie überhaupt in eins zu setzen. Diese Tendenz ließe sich als nachkritisch bezeichnen, sofern darin die vollzogene und etablierte historisch-kritische Forschung mit unkritischer oder tendentiell dogmatischer Theologie sich verbündet.« 355 Ebd., 56. 350
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Die Erwartung, den großen theologischen Anspruch der Tradition in der christlichen Gegenwart unmittelbar bestätigt, oder, was mehr die Regel zu sein scheint, nicht eingelöst zu finden, leidet an einem Überschuß an theologischer Sollensforderung, die ihr eine abstrakte Normativität aufdrängt, bei der sie ihres Lebens, der Gegenwart, nicht froh werden kann.356
Die scheinbar zwischen die Theologie und ihren Gegenstand sich stellende »neuzeitliche Situation« wird damit allererst als angemessener Zugang zum Verständnis des Christentums entdeckt. Die systematische Relevanz der historischen Bibelwissenschaft, bzw. der Anwendung der historischen Methode innerhalb der Theologie liegt daher in ihrem Verfahren selbst und nicht in ihren materialen Ergebnissen. Eben darum gilt es nunmehr, die in der historisch-kritischen Forschung allgemein gewordene Emanzipation zu ergreifen, d.h. die freie, kritische Hinwendung zum gegenwärtigen Christentum im Rahmen der Theorie des Christentums357 zu vollziehen. Es zeichnet sich hier in klarer Kontur Rendtorffs Strategie der Bewältigung der maßgeblich von Ernst Troeltsch diagnostizierten »Krise des Historismus« ab. Mit den gedanklichen Mitteln der Hegelschen Geschichtsphilosophie wird sie als legitimer Ausdruck christlicher Emanzipation verstanden, deren Verfahren selbst in seiner paralysierenden Wirkung auf die christliche Überlieferung und deren Geltungsanspruch theologisch relevant ist. Der im Rekurs auf die Frage der historischen Bibelforschung nur exemplarisch eröffnete Horizont des neuzeitlichen Christentums, die Geschichte der Realisierung christlicher Freiheit als Voraussetzung und Gegenstand der Theorie des Christentums, wird von Rendtorff in den Studien weiter ausgefüllt. In Aufnahme der früheren Studien ist die Verhältnisbestimmung von Christentum und Kirche ein bedeutsames Thema. Der Kirche und Theologie wird die Forderung aufgetragen, »die Dimension des kirchlich nicht definierten Christentums in ihr eigenes Wirklichkeitsverständnis aufzunehmen«.358 Das nichtkirchliche Christentum vollzieht jene Emanzipation – nicht zuletzt 356 Ebd., 57. Als Beispiel führt Rendtorff den exegetisch-dogmatischen Zugang zum Problem der Säkularisierung an. 357 S. ebd., 59: »In der Theorie des Christentums eine der historischen gleichrangige Fragestellung zu erblicken, das macht die Aktualität der Theologie aus und verbindet sie erneut mit den Themen der neuern protestantischen Theologie.« 358 RENDTORFF, Christentum außerhalb der Kirche, 149. Vgl. DERS., Kirche und Gesellschaft im Kontext des neuzeitlichen Christentums. Hier benennt Rendtorff den Dienst, den die Theologie der »neuartige[n] christliche[n] Frömmigkeit, die sich in der gesellschaftlichen Dimension der Wirklichkeit bildet« (ebd., 80), zu erbringen vermag: »Die Theologie als Theorie des christlichen Glaubens hat […] die Tendenzen zu befördern, in denen eine neue Gestalt von Frömmigkeit innerhalb und außerhalb der Kirche zur Klarheit über sich selbst drängt. So können die Erfahrungen, die der christliche Glaube in der Gegenwart investiert hat, fruchtbar gemacht werden für die Verständigung über ihre langfristigen Möglichkeiten und Grenzen. Die Theologie ist darauf nicht unvorbereitet, wenn sie ihr historisches Wissen über die neuere Christentumsgeschichte fürs Aktuelle ausschöpft.« (ebd.).
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im Gefolge Semlers durch historische Kritik und »freie Lehrart«359 –, die gerade als angemessen »christliche« die kirchliche Verengung und Fixierung auf einen scheinbar zeitlos gültigen Lehrbestand überwindet.360 Als zweites Beispiel dient hier jedoch ein weiteres Themenfeld, welches den zeitgeschichtlichen Kontext der Studien deutlich erkennen lässt, nämlich Rendtorffs Auseinandersetzung mit der Politischen Theologie. In der Fluchtlinie seiner früheren Untersuchungen fordert er auch hier zunächst die Ausarbeitung eines angemessenen Theorieniveaus jenseits der vorgängigen dogmatischen Bestimmung einer Diastase von Kirche und Welt:361 Von politischer Theologie kann erst dort gesprochen werden, wo in den Prozeß der Theologie überhaupt das Bewußtsein eingreift, die gegenwärtige Wahrnehmung der christlichen Überlieferung impliziere immer auch und im selben Atemzug eine Wahrnehmung der eigenen Zeit und Gesellschaft, und wo dieser Zusammenhang in den Mittelpunkt theologischer Arbeit rückt mit dem Ziel und der Absicht, in den Institutionen, Rechtsprozessen, leitenden Zielsetzungen der Gesellschaft die Folgen der Libertas Christiana zu entdecken oder produktiv werden zu lassen. […] Der Rang und die Freiheit einer politischen Theologie entscheidet sich darum an dem Niveau ihrer Theorie.362
Die Möglichkeit politischer Theologie unterliegt daher dem Kriterium, die Probleme der Gegenwart »theoretisch und praktisch« als »Folgen schon erworbener Freiheit«363 wahrzunehmen, d.h. sie im Rahmen einer Freiheitsgeschichte, deren Entwicklung das Christentum maßgeblich gestaltet und erfährt, einer Lösung zuzuführen. Eine Verneinung jener Welt der Folgen christlicher Freiheit führe zum Lösungsversuch der Revolution, deren Standort »jenseits des geschichtlichen Vermittlungszusammenhangs« zu suchen wäre, »in dem eine allgemeine und von verschiedenen Seiten aus 359 Vgl. dazu den Verweis auf die Aufklärungstheologie bei RENDTORFF, Christentum außerhalb der Kirche, 140f, mit deutlichen Anklängen an den Semler-Abschnitt der Habilitationsschrift. 360 RENDTORFF, Kirche und Gesellschaft im Kontext des neuzeitlichen Christentums, 81: »In der Unterscheidung zwischen Christsein und Kirche liegt ein Moment christlicher Freiheit, die die Fronten von Kirche und Welt, denen das dogmatische Bewußtsein zuneigt, hinter sich hat. Das muß man sich ausdrücklich vor Augen führen, wenn die Bewegung des christlichen Glaubens in unserer Zeit angemessen beschrieben werden soll. Die Tendenz, alles, was über das Christsein gesagt werden kann, immer sofort auf die Kirche zu beziehen und allein an den damit gegebenen Maßstäben zu messen, gehört einem solchen normativen Bewußtsein an, das autoritär festlegen möchte, was sein soll, ohne erkennen zu können, was ist und sich vollzieht.« Die »radikale Kirchenkritik« stellt für Rendtorff ein »Epiphänomen des dogmatischen Kirchenbewußtseins« dar (ebd.). 361 Vgl. RENDTORFF, Theorie des Christentums, 68: »So wäre eine politische Theologie wenig überzeugend, die mit den Mitteln des dogmatischen Zeitalters des Christentums in ungebrochener Reflexionsnaivität zwischen der Instanz einer Offenbarung und Anweisungen für eine politische Praxis hin und her ginge, für Kirche und Theologie die Voraussetzung einer prinzipiellen Weltüberlegenheit machte, die nun nur eben in politischer Hinsicht ausgearbeitet und sichtbar gemacht werden sollte. In der älteren Form von der ›exemplarischen Existenz der Gemeinde‹ [Verweis auf BARTH, Christengemeinde und Bürgergemeinde, 49] ist solcher Anspruch offenbar enthalten.« 362 RENDTORFF, Theorie des Christentums, 68f (Hervorhebung von mir, S.H.). 363 Ebd., 78.
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zugängliche Verständigung und Übereinkunft über den christlichen Glauben und das Christentum allein denkbar ist«.364 Die Theologie, die solches versuchte, fiele vor das kritische Zeitalter in eine linksprotestantische »Orthodoxie« zurück.365 Dabei kann es zwischen der Zuschreibung eines »radikal kritischen Mandates« und einem »vermittlungsfeindlichen Begriff der Theologie« zu Wechselwirkungen kommen, d.h. beide können einander begründen bzw. konservieren.366 Demgegenüber hebt Rendtorff hervor, dass eine an Hegel orientierte Verhältnisbestimmung von Christentum und Staat keinesfalls in ein unkritisches Gegenüber verfallen würde: Andererseits kann das Christentum wegen der in ihm selbst ausgearbeiteten Freiheit des Wahrheitsbewußtseins, das in der individuellen Konsolidierung des Selbstbewußtseins seine primäre Gestalt hat, auf das Interesse an der Allgemeinheit der politischen Wirklichkeit nicht verzichten.367
Durchgängig wird in der Theorie des Christentums der Anspruch vorgetragen, damit in der Nachfolge der Aufklärungstheologie das reformatorische Verständnis von Freiheit fortzuführen.368
5.3 Die Theologie Barths in christentumstheoretischer Perspektive 5.3.1 Funktion und Herausforderung der Barthdeutung Die Theologie Karl Barths ist für Rendtorff wie bereits in der Habilitationsschrift Kirche und Theologie derjenige Entwurf, in dem »jede vorgängige geschichtliche Beziehung zwischen dem christlichen Glauben und der Welt« destruiert wird.369 Die Wirkungsgeschichte dieser Grundentscheidung innerhalb der deutschen Sozialtheologie der Nachkriegszeit bis hin zur
364 Ebd., 79. Im Blick auf die innerhalb des Staates bzw. der Gesellschaft verwirklichte Freiheit stehen die bekannten Hegelschen Begründungsfiguren im Hintergrund (vgl. ebd., 105–108): »Die von Hegel formulierte Kritik der Religion, die sich auf die im Staat zu verwirklichende konkrete Allgemeinheit der Freiheit beruft, kann darum aus den gleichen Gründen zur Kritik der Religion am Staate führen. Allerdings, die Gründe dieser Kritik – und das muß heute genau gesehen werden –, können nicht aus einem exklusiven Offenbarungswissen der Theologie hergeleitet werden. Die Gründe für diese Kritik liegen vielmehr in der neuzeitlichen Welt des Christentums und der ihm korrespondierenden politischen Wirklichkeit selbst beschlossen. Diese Kritik gehört zu den Folgen schon erreichter Freiheit.« (ebd., 107). Rendtorff schließt damit das Missverständnis aus, der Gesellschaft bzw. dem Staat gleichsam unfähig zur Kritik gegenüberzustehen, der allzu leicht von der ›Politischen Theologie‹ entgegnet werden kann. 365 »Die Fremdheit und Ungewißheit im Verhältnis zur geschichtlich schon entfalteten Welt des Christentums ist in der Neuzeit das Kennzeichen der Orthodoxie geworden.« (ebd., 79). 366 Ebd., 75. 367 Ebd., 107. 368 Ebd., 61–64.78. 369 Ebd., 100.
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»Politischen Theologie«370 verursacht im Blick auf die Aporien, in die die Kirche im (selbstgewählten) Gegenüber zur Gesellschaft geriet, scharfe Kritik, die jedoch nicht zu einer positionellen Verhaftung der Theorie des Christentums führen darf. Rendtorff obliegt daher die Aufgabe eines neuzeittheoretischen Begreifens der Theologie Barths, d.h. deren Darstellung als Entwicklungsschritt des christlichen Freiheitsbewusstseins in der Neuzeit, die zugleich die Kritik ihrer – das neuzeitliche Theorieniveau unterlaufenden – Folgen im deutschen Nachkriegsprotestantismus ermöglicht. 5.3.2 Theologie als Kritik und Konstruktion In dem letzten und ebenso anspruchsvollen wie unzugänglichen Beitrag innerhalb der Theorie des Christentums mit dem Titel Theologie als Kritik und Konstruktion371 entwirft Rendtorff ein Bild des theologiegeschichtlichen Zusammenhangs zwischen den späten geschichtsphilosophischen Schriften Ernst Troeltschs und den frühen dialektisch-theologischen Schriften Karl Barths, welches innerhalb der Theorie des Christentums den Anspruch erfüllen soll, jenseits positioneller Verfasstheit die neuzeitliche Christentumsgeschichte als Einheit zu begreifen. In der Studie wird jene Nahtstelle zwischen Neuprotestantismus und dialektischer Theologie untersucht, die in den früheren Veröffentlichungen, insbesondere in der Habilitationsschrift, noch weitgehend unbestimmt blieb. Der die vorangegangenen Studien entscheidend überbietende Gedankenfortschritt besteht – dem christentumstheoretischen Programm entsprechend – darin, dass Rendtorff den theologischen Neuansatz der dialektischen Theologie als Fortschritt deutet. Im Hintergrund der beiden im Jahre 1922 erschienenen Werke, Ernst Troeltschs Der Historismus und seine Probleme sowie Karl Barths zweitem Römerbriefkommentar, sei ein gemeinsamer Problemhorizont sichtbar. In der Bearbeitung der gemeinsamen Problemstellung durch Troeltsch und Barth erreiche die theologische Gedankenentwicklung einen entscheidenden Fortschritt. Der Untertitel der Studie Die exemplarische Bedeutung der Frage der Theologie nach sich selbst führt in das Zentrum des Rendtorffschen Rekonstruktionsversuchs, insofern die »Frage der Theologie nach sich selbst« als exemplarisch »für das Problem der Konstitution von Freiheit, als dem zentralen Thema des Christentums, das zugleich im Zentrum mit der inneren Verfassung der neuzeitlichen Welt zu tun hat«,372 370 Vgl. dazu RENDTORFF, Das Problem der Institution, 151: »Die Theologie von Barth führt von ihrer Position aus zur Revolution, das heißt sie muß eine andere Welt als die des geschichtlichen Christentums fordern, um die Reinheit ihrer institutionellen Position durchfechten zu können.« 371 RENDTORFF, Theorie des Christentums, 182–200. 372 Diese Verständnishilfe gibt Rendtorff in seiner Selbstdarstellung aus dem Jahr 1998 (RENDTORFF, Selbstdarstellung, 70).
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verstanden wird. Indem also die Theologie sich selbst beobachtet, d.h. die ihr zugrunde liegende Tätigkeit, erfährt sie sich selbst als exemplarisch für die Verfasstheit der neuzeitlichen Welt, entdeckt sie in ihrem Verfahren das Thema der Freiheit, welches sie mit ihrer Umwelt teilt. Das Thema der Freiheit, als Bindeglied zwischen den augenscheinlich disparaten Entwürfen, ist für Rendtorff so die Grundlage zur Ausarbeitung eines »Zusammenhang[s] der Theoriebildung, der über die empirische, historische Konstellation seines Hervortretens hinausweist und eine Konfiguration der prinzipiellen Problemlage unseres Jahrhunderts formulieren läßt«.373 Diese prinzipielle Problemlage komme in dem Zusammenhang von Kritik und Konstruktion auf den Begriff – Kritik und Konstruktion werden als »Ausdruck der menschlichen Grundtätigkeit, der Tätigkeit des Bewußtseins« verstanden. In Kritik und Konstruktion erlangt somit die Betätigung der Freiheit des Subjekts Ausdruck. Die Wissenschaft stelle das von dieser Tätigkeit hervorgebrachte »Selbstbewußtsein der Tätigkeit« dar. Die »Konfiguration der prinzipiellen Problemlage unseres Jahrhunderts« skizziert Rendtorff zunächst im Blick auf Ernst Troeltsch. Dieser setze sich in seiner späten Geschichtsphilosophie mit dem Problem auseinander, wie vom individuellen menschlichen Subjekt der Kritik und Konstruktion ausgehend die Wende aus der scheinbar endlos relativierenden Spirale des Historismus – als innerer Ursache der Gegenwartskrise – heraus gefunden werden könne. Der Ansatz zur Lösung bestehe für ihn darin, dass in der Kritik der Geschichte diese als »Tätigkeit des menschlichen Bewußtseins«374 erschlossen würde, damit aber zugleich als Gegenstand für diese Tätigkeit.375 Unter der »Idee des Aufbaus«,376 also der Konstruktion, werde dies von Troeltsch als je individuell zu leistende Kultursynthese beschrieben. Zu Recht bringt Rendtorff die individuell-subjektive Prägung dieser Überwindung bei Troeltsch in Anschlag.377
373
RENDTORFF, Theorie des Christentums, 183. Ebd. 375 Dies ist die »Reduktion des ausufernden Historismus auf das konkrete Subjekt der Geschichte« und damit »die Bedingung dafür, daß auch eine solche Konstruktion als Theorie dieser Geschichte gelingen kann« (ebd., 186). 376 TROELTSCH, Historismus, 772. 377 Vgl. dazu v.a. ebd., 771: Wie es zu jener »neuen Zusammenfassung, Anpassung und Umbildung der großen historischen Gehalte« im Rahmen der Kultursynthese komme, beantwortet Troeltsch unter starker Betonung der subjektiven Dimension: »Wie man das machen soll und kann, dafür gibt es dann freilich keine Anweisung. Das ist schöpferische Tat und Wagnis der an eine Zukunft Glaubenden, derer, die von keiner Gegenwart sich einlullen oder zerbrechen lassen, sondern in jeder Gegenwart zum mindesten die Aufgabe einer solchen Kombination nach dem Maß ihrer Kräfte und Möglichkeiten glauben und behaupten. […] Das kann nicht das Werk eines Einzelnen sein. Es ist naturgemäß das Werk vieler, zunächst in der Stille, in der eigenen Persönlichkeit und dann im weiteren Kreise.« 374
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Die mit der Konstruktion einer Kultursynthese verbundene Reduktion der »materiellen Universalität der Geschichtsphilosophie« sei jedoch nicht dazu geeignet, die durch den Historismus hervorgetretenen Probleme abschließend zu lösen: »Denn das bestimmte Subjekt des Europäismus [als konkrete Gestalt der zu schaffenden Kultursynthese] mußte sich immer noch als durch jene geschichtlichen Prozesse aufgebaut und zusammengesetzt wissen, deren Inhalt es in Wagnis und Tat konstruktiv und zukunftsbestimmend zur Geltung zu bringen sich entschließen sollte.«378 Die geschichtliche und kulturelle Relativität des individuellen Subjekts ist das entscheidende Problem, an welchem Troeltsch erneute Kritik provoziert.379 In diesen Problemzusammenhang, der in der Frage nach dem Subjekt von Kritik und Konstruktion und seiner Bedingtheit und Relativität hervortritt, wird nunmehr Karl Barths theologischer Ansatz des Römerbriefkommentars eingezeichnet. Auf den Kern der von Troeltsch unbewältigten Problemlage zielend, nehme Barth eine Neubestimmung des Subjekts von Kritik und Konstruktion vor und arbeite auf diesem Wege die Kritik der Troeltschen Geschichtsphilosophie aus. Die »Überwindung der Geschichte« werde hier in der »radikalen«380 auf das Subjekt »Gott« zurückgeführten Kritik vollzogen. In Barths Römerbriefkommentar »konnte man die konsequente Radikalisierung einer Überwindung der Geschichte lesen: ›Das Gericht Gottes ist das Ende der Geschichte.‹«381 Für Barth fielen damit aber in »Gott« Kritik und Konstruktion zusammen: »Über die Abstraktion vom empirischen Subjekt der Geschichte wird die Vorstellung von Geschichte überhaupt theologisch identifiziert, so nämlich, daß sie auf die Tätigkeit überhaupt, und das heißt auf Gott hin, durchschaut wird.«382 Das Subjekt, das allein zu einer dem Relativismus enthobenen Kritik fähig sei, leiste zugleich die entsprechende Konstruktion.
378
RENDTORFF, Theorie des Christentums, 186. Vgl. hierzu die spätere Studie RENDTORFF, Karl Barth und die Neuzeit, 132f: »Sowohl für Ernst Troeltsch wie für Max Weber gilt, daß sie die Krise der Moderne genau an dem Punkt sahen, an dem Barth sie auf seine Weise wahrgenommen hatte, nämlich am Ort des menschlichen individuellen Subjekts als Träger und Garant der inneren, ethischen Festigkeit einer Gesellschaft, deren Genealogie aus dem historischen Christentum zwar rekonstruiert werden konnte; aber die wirksame Geltung dieser Herkunft erschien ihnen unter den Bedingungen der Modernisierungsprozesse der Gesellschaft nicht mehr in Gestalt der moralischen und religiösen Persönlichkeit verbürgt zu sein. Die Krise der Moderne zeigt sich als ›Untergang des Individuums‹. Krise der Neuzeit oder Krise der Moderne ist insofern sehr viel mehr als eine Theologie der Krise. Und ihre Wahrnehmung und konstruktive Verarbeitung ist darum auch in mehr als in einer theologischen Hinsicht denkbar und vollziehbar.« 380 RENDTORFF, Theorie des Christentums, 183. 381 Ebd. 382 Ebd. 379
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Die Differenz und Gemeinsamkeit zwischen beiden Entwürfen aufnehmend spricht Rendtorff von »gleichzeitige[r] Ungleichzeitigkeit«.383 Die Feststellung einer Gleichzeitigkeit impliziert eine kritische Pointe gegen die statische Periodisierung beider Werke als »historischer Abfolge«, »deren Bewußtsein, etwa im Sinne eines Epochenschemas, das Verständnis der Probleme, die gegenwärtig den Streit der Theologie mit sich selbst begründen, eher hemmt als aufklärt«.384 Es gibt keine Krise, von der sich eine wahre Theologie abheben ließe, vielmehr besteht zwischen beiden eine tiefere Kontinuität im »Streit um die Möglichkeit von Konstruktion« und deren »Subjekt«.385 Recht verstanden stellt die Krise als Voraussetzung, wie bereits in der frühen Deutung im Blick auf den Geschichtsbegriff, einen beide Entwürfe durchweg bestimmenden Grundzug dar. Hiermit ist für Rendtorff derjenige Boden jenseits der jeweils einseitigen Forderung nach Anschluss an die eine und Ausschluss der anderen Position erreicht, welcher es ermöglicht, die der Theologie aufgegebenen Probleme weiter zu bearbeiten, sofern nunmehr die »Tätigkeit der Theologie, die sich in jenem Streit vollzieht«, auf den »systematischen Zusammenhang von Kritik und Konstruktion«386 hin transparent geworden ist. Diese zunächst abstrakt anmutende Verhältnisbestimmung bedarf freilich der Präzisierung. Entscheidend für die Deutung ist, dass Barth scharf erkannt habe, dass Troeltschs Denken dem Problem ausgesetzt sei, das »konstruktive Selbstbewußtsein« seinerseits als in den geschichtlichen Prozess eingebunden wahrnehmen zu müssen. Barth radikalisierte dann sowohl Kritik als auch Konstruktion, indem »Christus« als neues Subjekt an die Stelle des Troeltschen Subjektes trete.387 Damit werde zugleich eine Überführung in »theologische Inhaltlichkeit«388 vollzogen. D.h. die problematische geschichtliche Bedingtheit der Bewusstseinstätigkeit im Troeltschen System wird dadurch überwunden, dass an die Stelle des individuellen Bewusstseins im Medium theologischer Inhalte das Bewusstsein überhaupt gesetzt wird, welches einen absoluten Standpunkt einzunehmen vermag, der jeglicher Bedingtheit und damit der Kritik entzogen ist. 383
Ebd. Ebd. 385 Ebd., 184. 386 Ebd. 387 S. ebd., 186f: »Es ist ›nicht bloß ein Individuum, eine Persönlichkeit, ein einzelner beleuchtet durch das, was in des einen Jesus Leiden und Sterben angeschaut und gewertet werden möchte, sondern das Individuum, die Persönlichkeit, der einzelne ist es, was hier entdeckt ist‹ [zit. BARTH, Römerbrief 1922, 160]. Diese Entdeckung des neuen Subjektes ist zugleich als Entdeckung Aufklärung über einen Begriff des Subjektes, in dem Kritik, radikale Kritik, und Konstruktion zusammengeschlossen sind, praktisches Bedürfnis und allgemeine Geltung des Subjektes in eins fallen.« 388 RENDTORFF, Theorie des Christentums, 186. 384
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Dies ist für Rendtorff ein entscheidender Entwicklungsschritt der neuzeitlichen Theologiegeschichte. Die erste These der Studie lautet daher: Die Theologie im 20. Jahrhundert hat das Problem der Autonomie als das der Konstitution des Selbstbewußtseins aus einem Problem der Welt, der Umwelt, unter dem sie litt und gegenüber dem sie sich behaupten sollte, zu ihrem eigenen zentralen Problem gemacht und in reiner Konsequenz in sich selbst durchgebildet.389
Diese innertheologische radikale Rekonstruktion der Autonomie verursacht indes Folgeprobleme, nämlich, dies ist die zweite These, den »Streit der Theologie mit sich selbst als der Streit um die Folgeprobleme solcher radikalen Autonomie«, »darum, ob sich solche radikal theologische Theorie des Subjektes auch im konkreten Begriff einer gegebenen Welt auszuweisen vermag«.390 Rendtorff beansprucht an dieser Stelle, die Auseinandersetzungen zwischen Barth- und Bultmann-Schule auf ihren systematischen Kern hin transparent werden zu lassen. Die Begründung dieser Thesen führt Rendtorff in zwei Argumentationsgängen, deren erster die radikale Kritik und deren zweiter die Frage der Konstruktion behandelt. Zur ersten These:391 Die Theologie des 19. Jahrhunderts sei durch die historische Kritik und damit die Auflösung der »religiösen und dogmatischen Gegenstände«392 bis hin zu Harnack und Troeltsch geprägt gewesen: »Bis zu Ernst Troeltsch nahm die Theologie ihre Legitimation und die Nötigung zur Kritik aus der Übereinstimmung mit Wissenschaft, in deren methodologischem Kontext jedenfalls das Subjekt der Kritik objektiv ausweisbar zu sein schien.«393 Erst in dem Moment, in dem sich die Einsicht durchgesetzt habe, dass auch das Subjekt der Kritik Teil des Geschichtsprozesses ist,394 sei es zur Ausarbeitung der Kritik der Kritik gekommen. Die neue Kritik begreife »die wissenschaftliche Autonomie in der Theologie als Ausdruck für die Welt der neuzeitlichen Subjektivität«,395 d.h. sie wendet eben jene Kritik, die die Theologie den Überlieferungen gegenüber zur Anwendung brachte, gegen diese selbst.396 Damit aber falle die in der dialektischen Theologie ausgearbeitete Kritik gerade nicht in die von Troeltsch als überwunden erachtete »dogmatische 389
Ebd., 187. Ebd., 188. 391 Ebd., 188–192. 392 Ebd., 188. 393 Ebd., 189. 394 Vgl. ebd., 186; sowie ebd., 189: »Die Einsicht in das solche Wissenschaft allererst konstituierende Interesse der neuzeitlichen Subjektivität, ihre Autonomie über die gegenständliche Überlieferung zur Geltung zu bringen, führte dazu, die Kritik der Kritik auszuarbeiten.« 395 Ebd., 189. 396 Rendtorff verweist an dieser Stelle auf die Kritik der Theologie als »Theorie der bürgerlichen Religion« (ebd.). 390
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Theologie« zurück – als »Potenzierung der Kritik«397 führe sie vielmehr die konstruktive Bemühung der Theologie des 19. Jahrhunderts fort. Jene Theologen verstanden nämlich ihre »wissenschaftliche Theorie durchaus als eine Funktion der aktuellen Wirklichkeit von Religion«,398 darin getragen von einem breiten Konsens hinsichtlich »des Verständnisses von Religion und Christentum« und erst im Blick auf theoretische Konsequenzen etwa in der Troeltschen Absolutheitsschrift in Schwierigkeiten geratend. Die dialektische Theologie setze an den aporetischen Zuspitzungen dieser Wissenschaftstradition und dem Zerbrechen des »breiten Konsenses« ein,399 jedoch verstehe auch sie sich darin als »Funktion der aktuellen Wirklichkeit von Religion«, die nun die Kritik der wissenschaftlichen Theologie und jeglicher Objektivation hervorruft: »Karl Barths Kritik der Religion als Kritik der Möglichkeiten des religiösen Menschen hat genau diesen Sinn, das Selbstbewußtsein von Religion gegen deren eigene Objektivationen einzusetzen.«400 Die Kritik der dialektischen Theologie bringt somit das Problem zu Bewusstsein, dass die Theologie des 19. Jahrhunderts »von dem Interesse jenes neuzeitlichen Bewußtseins in der Gestalt der Theologie geleitet« werde, »das sich damit als Subjekt der historischen und dogmatischen Gegenstände etablierte«:401 »Sie relativiert diese Autonomie auf die Welt und Kultur, der sie angehört.«402 Solange dieses neuzeitliche Bewusstsein, das »Subjekt solcher [sodann zu leistender] Konstruktion« »das aktuelle Subjekt, die Religion«,403 außer sich habe, könne die Wissenschaft die Konstruktion nicht leisten. Damit aber ist bereits der Übergang zum zweiten Argumentationsgang der »Konstruktion« angebahnt: Die »konstruktive Struktur« der neueren Theologie werde in dem Versuch deutlich, sie »als Theoretisierung des reinen Selbstbewußtseins zu entschlüsseln und als theologische Theorie von Autonomie zu bestimmen«.404 Sie erbringe in 397
Ebd., 190. Ebd., 189. 399 Vgl. ebd., 190f: »Solche Radikalisierung ist kein reines Schreibtischkalkül. In ihr offenbart sich, was an der Zeit ist. Ihre theologische Brisanz rührt daher, daß diese Kritik der Kritik zusammenfällt mit einer tiefgreifenden Auflösung geschichtlich aufgebauter, politischer und gesellschaftlicher, kirchlicher und religiöser Identifikationen des neuzeitlichen Selbstbewußtseins, mit einer Auflösung also, die als Ergebnis des Ersten Weltkrieges allgemein ins Bewußtsein getreten ist.« 400 Ebd., 190. Vgl. dazu ebd.: »Die Freisetzung der Theologie von den objektiven Verschränkungen, wie sie die Tradition anbietet, wird auf diesem Wege noch einmal überboten durch die Freisetzung der Theologie von ihrer eigenen wissenschaftlichen Identifikation.« Wiederum wird dies auf die theologiegeschichtlichen Konsequenzen hin zugespitzt: »Diese Potenzierung der Kritik, und nicht ein Gegensatz von historischer und dogmatischer Theologie ist der eigentliche Ansatzpunkt für die Radikalisierung der theologischen Diskussion.« (ebd.). 401 Ebd., 188. 402 Ebd., 191. 403 Ebd., 192. 404 Ebd. 398
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dieser Perspektive jene Leistung, zu welcher der Wissenschaftsbegriff des 19. Jahrhunderts noch nicht imstande gewesen sei. Weiterhin bleibt aber das bereits in der Habilitationsschrift diskutierte Problem bestehen, »in welcher geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit diese Kritik selber festgemacht ist«.405 Hier erfülle der Barthsche Kirchenbegriff seine Funktion für die Theologie. Es zeigt sich an dieser Stelle, wie die frühere Barthdeutung in der neuen »aufgehoben« wird. Zur zweiten These:406 Die Darstellung der »Konstruktion als Theoretisierung des theologischen Selbstbewußtseins«407 unterscheidet zwei Grundtendenzen innerhalb der neueren Theologie. Deren erste zielt darauf, das »Selbstbewußtsein von Theologie zu objektivieren«.408 Zur »Begründung aus der Sache der Theologie« nicht nur »im Sinne der historischen Genese« verweise diese an Voraussetzungen, »sei es an die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, sei es an die Bibel als das die Theologie normierende Dokument ihres Ursprungs«.409 »Die Sache der Theologie, die im historischen Sinne mit ihrem Ursprung identisch ist, systematisch als die einzig legitime Bedingung von Theologie auszuarbeiten, ist das Merkmal dieser ersten Grundtendenz.«410 Entscheidend ist jedoch für Rendtorff die Einsicht, dass die Überordnung der »Sache der Theologie« sich der konstruktiven Leistung des Selbstbewusstseins verdanke: Die Unterordnung unter die Sache muß bewußt vollzogen werden, sie ist eine Leistung, deren konstruktiver Charakter als Leistung des Selbstbewußtseins zugleich und nicht ohne Absicht durch die objektivierende Explikation der Theologie wieder zugedeckt wird.411
Die jeweilige »Sache der Theologie« sei damit funktional auf die reine Erfassung des Selbstbewusstseins bezogen und diene als dessen Auslegung.412 Die zweite Tendenz bestehe darin, »das Selbstbewußtsein von Theologie als solche Kritik zu funktionalisieren, die die historische Kritik zugleich fortführt und überbietet«.413 Sie äußere sich in der ausdifferenzierten kritischen Diskussion innerhalb der Sekundärliteratur als »exegetische, histori405
Ebd., 191. Ebd., 192–196. 407 Ebd., 192f. 408 Ebd., 193. 409 Ebd. 410 Ebd. 411 Ebd., 194. 412 S. ebd., 193: »Die Theologie wird sich als Theologie an ihrem Gegenstande bewußt, so lautet die Auskunft. Daß es sich dabei um einen Akt des Selbstbewußtseins von Theologie handelt, tritt darin hervor, daß dieser ihr Gegenstand nur in einem unendlichen Prozeß der Selbstunterscheidung der Theologie, etwa von Philosophie oder Wissenschaft, bestimmt werden kann.« 413 Ebd., 194. 406
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sche, praktische«. Darin sei die Theologie bemüht, die »historischen und religiösen Objektivationen […] auf das produktive und konstruktive Selbstbewußtsein hin durchsichtig zu machen«.414 Auch hier könne keinesfalls von dem Rückfall auf dogmatische Argumentationsstrukturen gesprochen werden, sondern wiederum könne das »Selbstbewußtsein […] nur radikal in seiner Funktion als Voraussetzung der Kritik und der Konstruktion gedacht werden«.415 Der gegenwärtige Streit innerhalb der Theologie zwischen beiden Tendenzen lasse sich entsprechend »als Prozeß der Ausarbeitung der reinen Autonomie« verstehen.416 Unschwer ist erkennbar, dass Rendtorff auf diesem Wege die konstruktive Wendung innerhalb der dialektischen Theologie, welche zur Entzweiung dieser in der Kritik geeinten Positionen in die unterschiedlichen Lager der Barth- und Bultmann-Schule führte, als Auseinandersetzung um die Freiheit zu begreifen versucht. Die Theorie des Christentums löst hier exemplarisch den Anspruch ein, die Realisierung neuzeitlicher Freiheit in den – die Gegenwart zu Beginn der 70er Jahre noch prägenden – theologischen Auseinandersetzungen zwischen Barthund Bultmann-Schule aufzuweisen. Die Theologie des 20. Jahrhunderts erweist sich als zeitgemäßer Versuch, »die neuzeitliche Autonomie radikal für die Theologie zu reklamieren und als die reine Selbsterfassung des Selbstbewußtseins auszuarbeiten«. Sie entspreche »einer Verfassung der Welt des Christentums, in der die geschichtlichen Identifikationen der neuzeitlichen Autonomie in der westlichen bürgerlichen Welt durchgehend einer tiefgreifenden Krise unterworfen sind«.417 Aus dieser theologiegeschichtlichen Herkunft erwachse indes gegenwärtiger Theologie die Aufgabe, »die Autonomie in der Weise ihres Gegebenseins zu bewahren unter Bedingungen, die ihre historische Identität problematisiert haben«.418
414 Ebd., 195. »Die Kritik ›von etwas‹ ist darum die Theoretisierung dieser konstruktiven Tätigkeit.« (ebd.). 415 Ebd. »Sie führt dazu, mit einem Gegebensein dieses Selbstbewußtseins zu rechnen, das als es selbst durch keine wie immer geartete Anstrengung des kritischen Bewußtseins aufgezeigt werden kann, sondern nur vorausgesetzt werden kann.« (ebd., 195f). 416 Vgl. die »Rekonstruktion« dieser Auseinandersetzung ebd., 197: »Die ›Sache der Theologie‹ kann nur adäquat erfaßt werden im Medium des Selbstbewußtseins, das in der Wahrnehmung dieser Sache konstituiert wird. Hier hat die Theoretisierung des Selbstbewußtseins in dogmatischer Weise gleichsam ihren blinden Fleck. Und es ist nicht zufällig, daß die Theologie in ihrer anderen Tendenz sich auf diesen blinden Fleck gleichsam konzentriert hat und ihn als Radikalisierung des hermeneutischen Reflexionsprozesses thematisiert hat, aber mit dem Glaubensbegriff zum selben Ergebnis gekommen ist. Der Streit der Theologie mit sich selbst ist insofern als Prozeß der Ausarbeitung der reinen Autonomie anzusehen und es bestätigt sich, daß alle Theologien das gleiche intendieren, und deswegen im Streite liegen.« 417 Ebd., 196. 418 Ebd., 197.
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Nun befinde sich gegenwärtige Theoriebildung aber in der Situation, »daß sich mit der neuen theoretischen Anstrengung der Theologie ein theologiegeschichtliches Bild verbunden hat, demzufolge eine Apologetik der historisch gewordenen Gestalt dieser Theologie gegen die Reklamation des aktuellen Selbstbewußtseins der Theologie ausgespielt wird«.419 Dieses theologiegeschichtliche Fehlbild sei zu korrigieren, im ausdrücklichen Widerspruch gegen eine »Schülergeneration«, die aus dem theologischen Selbstbewusstsein von Autonomie »entsprechende Folgen in Gang zu setzen« bemüht sei. Demgegenüber habe die Theologie das Konstitutionsproblem von Freiheit als zentral festzuhalten420 und im Übrigen Ansätze dazu zu liefern, den bisherigen Reflexionsstand zu überwinden, nachdem das Selbstbewusstsein von Freiheit ausschließlich in seiner Fremdheit zum nichttheologischen Bewusstsein ausgearbeitet worden sei.421 Auf der heutigen »neuen Stufe des historischen Bewußtseins« gehe es darum, Freiheit in ihrer eigenen Qualität unverfügbaren Ursprungs zu fassen, die »die zugleich kritische wie konstruktive Distanz zur gegebenen Welt begründet und ermöglicht«.422 Diese Wahrnehmung der Freiheit solle unter dem Leitbegriff des »Aufbaus« – der Konstruktion – so entfaltet werden, dass es möglich sei, das »Gegebensein der Freiheit mit dem Aufgegebensein der Verfassung der Welt des Menschen so zu verbinden, daß dabei die unmittelbar eigene, vertraute Welt zur anvertrauten Welt wird, damit die Freiheit allgemein werden kann«, was allerdings eine neue Individualisierung von Freiheit – und damit die Hinwendung zur Troeltschen konkreten Subjekt – einschließt. Dann könne deutlich werden, was Rendtorff selbst als Voraussetzung der Theorie des Christentums entscheidend geklärt zu haben glaubt: Gerade an dem Punkt, an dem die neuere Theologie ihr eigentliches Proprium sieht, ist nicht die Fremdheit der Beziehung zwischen Theologie und Nichttheologie verankert, sondern die tiefste Gemeinsamkeit, im problematischen Bewußtsein der Freiheit. Das Gegebensein von Freiheit zu begreifen, kann deshalb nur heißen, Freiheit theologisch so zu identifizieren, daß sie als Voraussetzung unserer Welt herausfordernd bewußt wird.423
419
Ebd., 197f. S. ebd., 197. 421 »In die Bearbeitung der Fremdheit dieser Beziehung ist viel Scharfsinn eingegangen und doch hat sich dies Problem als merkwürdig steril und abstrakt erwiesen. Es ist auch gar nicht das wirkliche Thema der Theologie: es gehört allenfalls in das Vorwort theologischer Arbeit, macht aber nicht seinen Kern aus. Kein theologischer Topos, sei es die Gotteslehre, sei es die Christologie, sei es die Eschatologie oder die Lehre von der Kirche, ganz zu schweigen vom weiten Feld der Ethik und der historischen Urteilsbildung, läßt sich mit diesem Interesse an der Fremdheit der Beziehung sinnvoll begreifen.« (ebd., 198f). 422 Ebd., 199. 423 Ebd., 200. 420
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Der Kern der Rendtorffschen Rekonstruktion des theologie- oder besser theoriegeschichtlichen Zusammenhangs liegt in der Beobachtung, dass die Subjektivitätsproblematik durch Barth fortgeführt werde.424 Scheint sich die Theologie bis hin zu Troeltsch einem Paradigma zu unterwerfen, welches als auf der Theologie fremden, insofern auf geschichtlich gewordenen Gründen beruhend, verstanden werde, so nehme Barth das Thema der Subjektivität im Zentrum der Theologie auf und konstruiere es als reines Selbstbewusstsein und in diesem Sinne dem Troeltschen konkreten Selbstbewusstsein gegenüber als allgemeines. Barths Versuch, Gott als reales Gegenüber des Menschen zu denken, kommt damit freilich kaum in den Blick. Die Theologie arbeitet in Gestalt des Gottesbegriffs die Subjektivität als reine, der Bedingtheit enthobene Struktur und Grundlage aller Wirklichkeit aus. Erforderlich sei nun die neue Vermittlung der am Ort des allgemeinen Subjekts konstruierten Freiheit mit dem konkreten Subjekt, d.h. der Grund, den die Theologie als ihrer selbst vorausliegend erkannt hat, müsse wiederum als Grund des auch außer ihrer selbst Liegenden gelten gelassen werden. Dass die Struktur der Subjektivität im Medium des Gottesbegriffs – und damit in einer bestimmten Funktionalität – ausgearbeitet wird, dependiert letztlich von der Voraussetzung der Konstruiert-werdens: Die Unterordnung […] ist eine Leistung, deren konstruktiver Charakter als Leistung des Selbstbewußtseins zugleich und nicht ohne Absicht durch die objektivierende Explikation der Theologie wieder zugedeckt wird.425 424
Auf diesem Vergleich basiert die von Rendtorff betreute Dissertation Wilfried Grolls Ernst Troeltsch und Karl Barth – Kontinuität im Widerspruch. Auch hier wird der Widerspruch Barths gegen Troeltsch strikt innerhalb der durch Troeltsch vorgegebenen Problemmatrix beleuchtet. Groll arbeitet anhand der wenigen verifizierbaren Bezugnahmen Barths auf Troeltsch heraus, wie Barth die Aporien in Troeltschs Werk systematisch zur Position ausbaue: »Daß sich das Wahrheitsbewußtsein in seiner geschichtlichen Ausarbeitung selbst nicht mehr in dieser Geschichte und in den Resultaten seiner Tätigkeit mit sich selbst identifizieren kann, wird damit zu einem Grundgedanken der Theologie Barths, die ihr Thema darin findet, die Freiheit des Wahrheitsbewußtseins gegenüber allen positiven Gestaltungen seiner selbst in sich auszuarbeiten.« (GROLL, Ernst Troeltsch und Karl Barth, 28). Die Pointe der Barthschen Theologie sieht auch Groll in einer neuen Bestimmung der Subjektivität. Vgl. ebd., 18. In der Kommentierung von Röm 13 (1919) versuche Barth unter der Formel »Christus in uns« das allgemeine Subjekt und das einzelne Subjekt zusammenzuschließen (ebd., 120). Einzelne Subjekte sind nicht die, »die durch ihr Handeln den Aufbau der neuen Welt realisieren. Vielmehr ist die Position, die den Ort radikaler Kritik und umfassender Konstruktion bezeichnet, eben die Position des allgemeinen Subjekts, exklusiv durch den Christus besetzt, so daß Barth die Formel ›Christus in uns‹ auslegen kann als ›ein kritisches Nein und ein schöpferisches Ja gegenüber allen Inhalten unseres Bewußtseins‹.« (ebd., 121). So steht am Schluss der Untersuchung die Einsicht, »daß das sich wissende christliche Selbstbewußtsein bei Barth eine neue Stufe seiner eigenen Erfassung erreicht. Indem es seine Gegebenheit nicht mehr unmittelbar an sich selbst identifiziert, sondern seine Gegebenheit an und für sich erfaßt, braucht es sich seiner Gegebenheit als Wahrheit nicht erst im Gedanken des Jenseits zu vergewissern, sondern ist sich gewiß, sie an und für sich zu haben.« (ebd., 134). 425 RENDTORFF, Theorie des Christentums, 194.
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Der »blinde Fleck«, welcher der Rendtorffschen Deutung die Rekonstruktion der Theologie Barths als Auseinandersetzung mit dem Problem der Subjektivität auf einer gemeinsam mit Ernst Troeltsch geteilten Ebene ermöglicht, besteht in der Einsicht, dass die Theorie der »Subjektivität Gottes« von Gnaden des konstruierenden Subjekts der Theologie ist. Die Konsequenzen dieser abstrakt bleibenden Verhältnisbestimmung für die Interpretation der Theologie Karl Barths deutet Rendtorff in seinem wohl wirkmächtigsten Beitrag zur neueren Geschichte der Barthdeutung an, dem Aufsatz Radikale Autonomie Gottes. 5.3.3 Radikale Autonomie Gottes Gegenüber den bisherigen Barthinterpretationen muss Rendtorffs Neuansatz als grundsätzliche Infragestellung auftreten.426 Dieses Selbstbewusstsein im Blick auf seine »gleichsam gegen den Strich ihres Selbstverständnisses gebürstete neuzeitspezifische Interpretation der Theologie Karl Barths«427 lassen bereits die einleitenden Bemerkungen des programmatischen Aufsatzes Radikale Autonomie Gottes. Zum Verständnis der Theologie Karl Barths und ihrer Folgen428 erkennen: »Die Frage nach der angemessenen Barthdeutung fängt erst jetzt [sc. im Jahre 1969] an, von wirklicher Dringlichkeit zu werden.«429 Innerhalb der bisherigen Interpretationsgeschichte differenziert Rendtorff zwischen mit relativem Recht auftretenden Zugängen zeitgeschichtlicher, geistesgeschichtlicher, werkimmanenter und kirchengeschichtlicher Barthinterpretationen,430 und der »allgemeinste[n] Deutung, die nach dem Schema verfährt, in der Theologie Karl Barths die Wiedergewinnung des ursprünglichen und selbständigen Auftrages der christlichen Theologie 426 Ebd., 162: »Wie kann überhaupt eine Deutung des Römerbriefes und damit der Anfänge der Theologie Karl Barths sinnvoll vollzogen werden? Diese Frage, veranlaßt durch den Jubiläumsanlaß und dringlich geworden nach dem Tode dieses großen Theologen bedarf selbst schon einer genauen Prüfung, weil jede Auseinandersetzung mit der Theologie Karl Barths eine Auskunft über eine ganze theologische Epoche verlangt, ja mehr noch die Stellung der Theologie in der Neuzeit überhaupt berührt und berühren muß.« Zur Entstehung des Textes Radikale Autonomie Gottes vgl. GRAF, Ein liberaler Theologe. Trutz Rendtorff wird siebzig (NZZ, 24.1.2001): »1971 schickte Trutz Rendtorff dem Zürcher Systematiker Gerhard Ebeling eine kritische Analyse der Theologie Karl Barths. Gegen den Common Sense der Zunft las Rendtorff Barths autoritäre Offenbarungstheologie nicht als Fundamentalkritik moderner Freiheit, sondern als Programm ›radikaler Autonomie Gottes‹. Im Medium kirchlicher Dogmatik habe Barth das Grundproblem neuzeitlichen Denkens, die Selbstbegründung freier Subjektivität, bearbeitet. Dem Wort-Gottes-Hermeneuten Ebeling erschien dies als Verrat an der ›Sache der Theologie‹. Er lehnte es ab, Rendtorffs Essay in der renommierten ›Zeitschrift für Theologie und Kirche‹ zu drucken. Sein Argwohn galt weniger einzelnen Zügen der neuen Barth-Deutung als vielmehr Rendtorffs positiver Sicht von Aufklärung und liberalem Kulturprotestantismus.« 427 RENDTORFF, Selbstdarstellung, 67. 428 RENDTORFF, Theorie des Christentums, 161–181. 429 Ebd., 162. 430 Ebd., 162f.
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zu sehen, das Ende einer mehrhundertjährigen Verfallsgeschichte des Christentums als einer Geschichte der Abhängigkeit, der Unmündigkeit«.431 Diese letztere verstelle die Möglichkeit eines angemessenen Verständnisses der Theologie Barths. Denn obgleich Barth im Römerbrief das Selbstbewusstsein erkennen lasse, der Theologie erneut zu ihrem »Thema« verholfen zu haben, sei die Genese seiner Theologie im Kontext jener Theologie anzusiedeln, die sich der Aufgabe ihrer Neubestimmung im Lichte der neuzeitlichen Herausforderungen gestellt habe. Auch im Rekurs auf Bibel und Reformation bleibe es der Theologe aus der Schülergeneration Wilhelm Herrmanns und Ernst Troeltschs, der seine Wendung zur dialektischen Theologie vor dem Hintergrund der von jenen ermessenen Problemkonstellation vollzieht.432 Seine Theologie ist für Rendtorff daher jenseits aller Semantik des Bruchs in der Kontinuität der neuzeitlichen Theologiegeschichte, d.h. als Theologie im Gefolge der Aufklärung und erst dadurch vermittelt der Bibel und Reformation zu interpretieren. Der bereits im vorigen Abschnitt skizzierte Wechsel von der – bei Troeltsch problematisch gewordenen – Subjektivität des Menschen zur Subjektivität, d.h. Freiheit und Autonomie »Gottes« sei darum als »Gegenprozeß zur Aufklärung im historischen Sinne«433 zu begreifen, d.h. eben auf diese konstitutiv bezogen und deren Problematik einer neuen wenngleich radikalen Lösung zuführend. Die Aufklärung werde nochmals überschritten, insofern Barth »Autonomie« jenseits der Bedingtheit (der etwa das Troeltsche Subjekt des »Aufbaus« unterlag) »rein« bzw. »radikal« erfasse: »Die Aufklärung muß entweder radikal durchgeführt werden, die Autonomie sich rein durchsetzen, oder sie findet gar nicht statt.«434 Hier werde nun für die Theologie ein bedeutsamer – wenn auch nicht adäquat durchgeführter – Erneuerungsschritt in der Realisierungsgeschichte der Freiheit erreicht: »Damit rückt Karl Barth, wohl zum erstenmal in der neueren Theologiegeschichte, die Theologie ganz unter die Bedingungen von Autonomie, aber so, daß die Position der Autonomie gänzlich von der Theologie reklamiert wird, von ihr her neu besetzt wird.«435 Barth verstehe die Autonomie nicht mehr als der Theologie fremde, zu der sie sich allererst (apologetisch oder anknüpfend) in Beziehung setze, sondern verlege »den Anspruch der Theologie ins Zentrum der Autonomieforderung selbst«.436 Kommt Rendtorff nunmehr mit Barth darin überein, dass sich die Theologie des Themas der Autonomie in ihrem Zentrum anzunehmen habe – 431
Ebd., 163. Ebd., 164. 433 Ebd. (Hervorhebung von mir, S.H.). 434 Ebd., 165. 435 Ebd., 165f. 436 Ebd., 166. 432
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eine Einsicht, die seit Barth unhintergehbar sei –, so erwiesen sich die Folgerungen, die in Barths früher Theologie aus jener radikal gefassten Autonomie Gottes gezogen würden, als problematisch, bzw. ihrerseits durch die Theorie des Christentums und deren Einsicht in die Verwirklichung christlicher Freiheit in der Neuzeit als überholt. Die Autonomie Gottes könne für Barth nämlich nur in einem grundsätzlichen Gegensatz zur »Welt« und »Geschichte« auf der einen und zum menschlichen Erkenntnissubjekt auf der anderen Seite stehen. Dies sei der Grundzug der frühen Theologie Barths, den Rendtorff anhand weniger Belege aus Barths Römerbriefkommentar (in 2. Auflage) und dem Tambacher Vortrag hervorhebt. So werde die menschliche Erkenntnisfähigkeit als Voraussetzung der Erkenntnis Gottes grundsätzlich negiert: »Abgesehen von der sich selbst setzenden Erkenntnis Gottes kann keiner anderen, abgeleiteten Erkenntnis irgendwelche Relevanz zuerkannt werden.«437 Dass die Erkenntnis der Wirklichkeit, »die nicht aus der in sich selbst gegründeten Vernunft hervorgegangen ist«,438 nur »Scheincharakter« besitze, sei ein »Grundmotiv der radikalen Aufklärungskritik«,439 mit der Barths Theologie strukturell verwandt sei. Die Theologie unter dem Vorzeichen der »radikalen Autonomie Gottes« gerät damit in »Opposition gegen das Bestehende überhaupt«,440 d.h. die Tätigkeit des radikal autonomen Subjekts vollzieht sich zunächst als universale Kritik der Wirklichkeit. Gegenstände der Kritik sind mit der Kirchengeschichte und der Ethik insbesondere die Bereiche, in denen die geschichtliche Wirklichkeit und das Subjekt »Mensch« der radikalen Autonomie Gottes konkurrierend entgegentreten. Die Kirche, als letzte zu schleifende Bastion des Menschen, werde von Barth in einem prinzipiellen Gegensatz zum Evangelium gesehen.441 Wiederum spiegle sich hier die Aufnahme der neuzeitlichen (aufklärerischen) Subjektivität wider: 437 Ebd. »Barth nimmt die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, die sich dabei auftun, bewußt in Kauf. An diesem Punkt ist er frei von aller Naivität. Kommt er doch aus einer theologischen Schulung, in der eben diese erkenntnistheoretischen Fragen in konsequenter Differenziertheit zum täglichen Brot gehörten. Er sucht im Gegenteil aus ihnen die Folgerung zu ziehen, daß sie eben Ausdruck der Unmöglichkeit sind, in einer vermittelten Weise von Gott zu reden. Das traditionskritische Prinzip der Aufklärung, nicht auf die Autorität anderer hin etwas als wahr zu akzeptieren, findet dabei mit umgekehrten Vorzeichen seine radikale Anwendung.« (ebd.). 438 Ebd., 167. 439 Ebd. 440 Ebd., 168, zitiert wird BARTH, Der Christ in der Gesellschaft, 64. Vgl. auch RENDTORFF, ebd., 167: »Die Entlarvung des Scheincharakters menschlicher, gar religiöser Welt- und Geschichtserkenntnis ist so die erste Aufgabe einer Theologie, die sich auf die Position der radikalen Autonomie Gottes stellt.« 441 Vgl. BARTH, Der Römerbrief (1922), 316: »Ja, zweifellos. Dem Evangelium steht die Kirche gegenüber als die Verkörperung der letzten menschlichen Möglichkeit diesseits der unmöglichen Möglichkeit Gottes. Hier klafft der Abgrund wie nirgends sonst. Hier kommt die Krankheit des Menschen an Gott zum Ausdruck.«
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Das Problem des historischen Kirchenglaubens, von der Aufklärung vergleichsweise milde behandelt, entsteht hier in neuer und radikaler Schärfe. Wird sie dort zum Vorhof des reinen Religionsglaubens deklariert, wo der Übergang von dem einen zum anderen den eigentlichen Fortschritt darstellt, muß Barths Kirchenkritik doch im Lichte jener früheren Kritik gesehen werden, die in der historischen Gestalt der Religion als Kirche den entscheidenden Hinderungsgrund für die Befreiung des Menschen, für den Durchbruch zu wahrer Humanität erblickte.442
Barth stelle damit die Vermittlung von Subjektivität und Institution, von Individuum und Kirche letztlich als unmöglich dar und gerate an diesem Punkt erneut in die Nähe der radikalen Aufklärungskritik. Ebenso werde das Handeln des Menschen, die Ethik, prinzipiell entwertet, um die Autonomie Gottes dieser Konkurrenz und damit der Relativierung zu entziehen: »Der völlige Sieg der Autonomie ist erst erreicht, wo das Handeln des Menschen stillgelegt ist.«443 D.h. das dem Menschen der radikalen Autonomie Gottes gegenüber adäquate Handeln ist Nichthandeln. Auf der Grundlage dieser Kritik werde von Barth die Frage nach der zweiten Grundtätigkeit des Selbstbewusstseins, der Konstruktion, aufgeworfen, denn: Jede Befreiung von der Herrschaft der Heteronomie, die sich am Gegensatz zu ihr aufbaut, bleibt selbst im Gegensatz noch abhängig von dem, was sie negiert. Die gelungene Autonomie ist erst diejenige, die sich von sich aus als Prinzip des Aufbaus einer neuen Welt und Wirklichkeit durchzusetzen vermag.444
In der Tat werde der kritische Zug der Barthschen Theologie nun von einem auf Konstruktion zielenden begleitet, der freilich nicht auf das Erschließen des Bestehenden, sondern auf die Schaffung von Neuem gerichtet sei.445 Diese »neue Wirklichkeit«, die in der Fluchtlinie Barthschen Denkens liege, werde als »Kirchlichkeit« entworfen. Die Kirche werde aber – ganz dem Ergebnis der Habilitationsschrift entsprechend – als eine solche verstanden, die sich »nur im Gegensatz und im Unterschied zur neuzeitlichen Welt des Christentums auszulegen in der Lage ist«.446 Es handelt sich um jenen theologischen Kirchenbegriff, der funktional den von der Theologie beanspruchten Entfaltungsraum sichern soll. Auf der Grundlage dieses bereits in den früheren Studien erreichten Problemniveaus stellt sich innerhalb der Theorie des Christentums indes die Frage, wie sich Barths eigentliches Anliegen – die Kirche als Entfaltungs442
RENDTORFF, Theorie des Christentums, 169. Ebd., 170. 444 Ebd., 168. 445 »[…] liegen die Dinge so, wie Karl Barth das im Römerbrief ausgesprochen hat, dann kann kein Ausgleich im Bestehenden als Antwort auf die theologische Herausforderung gelten. Vielmehr drängt dann die Theologie von sich aus auf eine neue Situation.« (ebd., 171). 446 Ebd., 172. 443
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raum radikaler Autonomie Gottes zu entwerfen – und seine faktische Wirkungsgeschichte innerhalb der Sozialtheologie des deutschen Nachkriegsprotestantismus zueinander verhalten. Rendtorff gelangt hier zu der These, die Verkirchlichung der Theologie Barths beruhe auf einem Missverständnis. Ermöglicht sei dies durch den Kirchenkampf worden, der nach 1933 kurzzeitig »der Kampfsituation des Römerbriefes von 1919 den realen erfahrbaren Kontext geliefert«447 habe. Damit werde aber der Gegensatz zwischen Gott und Welt zugleich auf Dauer gestellt, die zweite – im Gefälle der Kirchlichen Dogmatik liegende – Wirkungsgeschichte der Barthschen Fassung »radikaler Autonomie« sei unberücksichtigt geblieben. Entscheidend sind an diesem Punkt die Fortschritte seines Denkens, die sich in der Kirchlichen Dogmatik als einer aufklärerischen Dogmatik abzeichneten: Als Rekapitulation […] [der] Dogmen- und Theologiegeschichte ist sie zugleich deren durchgehende Revision. Karl Barth unterzieht sie einer scharfsinnigen christologischen Kritik. Es ist, in unserem Zusammenhang ausgedrückt, kritische Dogmenund Theologiegeschichtsschreibung im Dienste christologischer Aufklärung.448
Rendtorff rekurriert hier auf die Beobachtung, dass Barth die dogmatischen Bestände kritisch rezipiert, d.h. so reorganisiert, dass sie die Subjektivität Gottes wahren. An diesem Punkt zeigt sich folglich wiederum das neuzeitliche Niveau der Theologie Barths, da er den Dogmenbestand durch kritische Aneignung zu gewinnen sucht. Barth weiß um das konstruierende Subjekt des Dogmatikers, welches in der Konstruktion der Dogmatik beteiligt ist, er ist von der vorkritischen Theologie darin unterschieden, dass er keine supranaturalen »gegenständlichen« Lehrstücke annimmt. So gewinnt an diesem Punkt auch Rendtorffs Abgrenzung ihre schärfste Pointierung. Barths Theologie müsse »vor solchen Verehrern in Schutz genommen werden, die in ihr eine Repristination vorneuzeitlicher Theologie erblicken und damit den Gegensatz von Kirche und Welt, von Theologie und neuzeitlichem Denken in ihr exemplarisch entfaltet sehen«.449 Vielmehr erhelle das Ganze der Dogmatik Barths – und so auch seine Rede von der Kirche – erst dann, wenn diese als Entwurf des 20. Jahrhunderts, genauer als »christologische Theorie der Geschichte des christlichen Denkens«450 verstanden werde. Drei Beispiele, an denen sich die christologische Aufklärung innerhalb der Kirchlichen Dogmatik erweisen lasse, führt Rendtorff ins Feld. Zunächst zeige sich Barth in seiner Fassung der Prädestinationslehre (KD II/2) bemüht, durch den Ausschluss der Möglichkeit einer doppelten Prädestina447
Ebd., 173. Ebd., 173f. 449 Ebd., 174. 450 Ebd. 448
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tion die Autonomie Gottes gegen die Möglichkeit des Bösen abzugrenzen: »Jede andere Lösung würde das Problem aufwerfen, daß der Mensch als der verworfene neben Gott noch mit einer anderen Instanz, eben mit dem Bösen zu tun hätte.«451 Die Behauptung Gottes trete sodann auch in Barths Lehre vom Bösen als Nichtigem hervor. Mit dem Nichtigen werde der »letzte denkbare Gegensatz« gegen Gott aufgehoben, d.h. wiederum die Durchsetzung der Autonomie Gottes keinen Hindernissen ausgesetzt. Schließlich werde die »Kirche als Religion« und damit als »letzte Bastion des Menschen gegen Gott«,452 die bereits im Römerbrief fundamentaler Negation unterlag, in ihrem Sein als »Funktion des christologischen Prinzips der Autonomie« aufgehoben. Sie existiere nur aktuos, d.h. ohne im Bestehenden jemals ein eigenständiges Gewicht zu erhalten. Aber – und hier liegt die eigentliche Stoßrichtung gegen die kirchliche Fehlinterpretation Barths – auch diese Funktion der Kirche werde aufgehoben durch die Feststellung, dass »Gottes Handeln gar nicht auf die Kirche angewiesen«453 sei: Jesus Christus kann sehr wohl seine eigenen, direkten Wege zum Menschen gehen. Er ist auf die Kirche nicht angewiesen. Wohl aber ist die Kirche auf die Welt angewiesen, weil sie nur in Beziehung auf die Welt eine Existenzberechtigung hat. Folglich kann die Kirche sich selbst nur in der Unendlichkeit einer permanenten Aufgabe an der Welt erfassen, d.h., daß die Ekklesiologie sich in einem ungeheuren irrationalen Überschuß an Praxisforderung artikulieren muß, der von keiner konkreten kirchlichen Praxis abgetragen werden kann. […] Das christologische Prinzip bedeutet also potentiell die Liquidation, die Auflösung der Kirche.454
In der Konsequenz der Kirchlichen Dogmatik liege damit eine Fortführung der neologischen Unterscheidung von »Kirchlichkeit und Christlichkeit«, insofern Barth konsequent das Christentum von seiner allein kirchlichen Gestalt löse.455 Die scheinbare kirchliche Wirkungsgeschichte der Theologie Barths büßt so freilich das Recht ihrer Berufung ein. »Barth leistet damit die dogmatische Legitimation für den Eintritt der neuzeitlichen Autonomie ins Zentrum von Kirche und Theologie selbst.«456 In diesem Sinne – so Rendtorff – sei »die dogmatische Theoriebildung Karl Barths als eine neue Stufe des historischen Bewußtseins in der Theologie« zu begreifen. Jedoch wird diese »neue Stufe des historischen Bewußtseins« 451
Ebd., 176. Ebd., 177. 453 Ebd., 178. 454 Ebd. 455 »Er tut dies radikal, weil dogmatisch und ohne historische Kategorialität. Und er tut es sicher mit vielen Wenns und Abers. Ader er tut es. Insofern bestätigt sich gerade von hierher, daß die Theologie Karl Barths die Rekapitulation des Prozesses der Aufklärung im innerdogmatischen Zusammenhang darstellt.« (ebd., 179). 456 Ebd., 179. 452
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noch nicht von Barth erreicht, sondern erst dann, wenn sein faktisches Verfahren begriffen wird. Barths Verarbeitung der dogmatischen Tradition nach der Maßgabe an sich selbst erfasster Autonomie im Zentrum der Theologie sei »selbst Ausdruck des gegenwärtigen Standes der Christentumsgeschichte unter den Bedingungen der Neuzeit«457 – erst wo dies ›begriffen‹ wird, ist jene neue Stufe des historischen Bewusstseins erreicht und deren konstruktive Verarbeitung möglich. Die »neue Stufe des historischen Bewußtseins« setzt dabei die Einsicht in die konstruierende Tätigkeit des Selbstbewusstseins in der Reinterpretation dogmatischer Gehalte voraus. Obgleich Barth dieses Selbstbewusstsein gleichsam verdichtet als »Gott« und nicht in geschichtlicher Individuation denke, bilde seine Theologie der Struktur nach die Gestalt der Theologie, die in der Lage sei, das Thema der Autonomie in ihr Zentrum aufzunehmen und nicht in ein vorgängiges Gegenüber zur neuzeitlichen Welt des Christentums zu geraten. Für Rendtorff verliert dieser Interpretationszugang seine Triftigkeit nicht durch den Hinweis auf die scheinbar biblische Begründung der Theologie Karl Barths. Barth habe sich schließlich nicht den Paradigmen der gängigen Schriftauslegung angeschlossen: Demgegenüber erscheint die Berufung auf die Bibel, die der theologischen Autonomiethese eine heteronome Verpflichtung der Theologie entgegenstellen möchte, als jene Reproduktion von Aporien des historisch-theologischen Bewußtseins, die Barth selbst in seiner Theologie überwunden zu haben beanspruchte. 458
D.h. hier würde das in die Distanz gerückte und allererst durch Autonomie in Kritik und Konstruktion neu zu gewinnende Erbe der biblisch-dogmatischen Gehalte am von Barth erlangten Theorieniveau vorbei mit normativen Konsequenzen kurzgeschlossen, was aufgrund der Reflexivität von Barths Theologie nicht denkbar erscheint. Bleibe indes die rein dogmatische Fassung der neuzeitlichen Autonomie bei Barth ein unzureichender Schritt, so sei seine Theologie dahingehend zu überschreiten, dass sie als »eine Funktion der geschichtlichen Welt des Christentums«459 konzipiert werden müsse, welche die nur in geschichtlicher Individualität aus dem Erbe von Reformation und Aufklärung genetisch hervorgegangene Freiheit und Autonomie in ihrem Zentrum zur Geltung bringt. In der Fluchtlinie der Kirchlichen Dogmatik steht daher die Theorie des Christentums als Theorie der Selbsterfassung jenes Freiheitsbewusstseins in geschichtlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit, das Barth nur rein an sich selbst eben jener Wirklichkeit entzogen zu denken 457
Ebd., 180. Ebd. Vgl. ebd., 42.59. 459 Ebd., 181. 458
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vermochte.460 Dazu freilich muss die dogmatische Gestalt Barthscher Theologie überwunden werden: »Diese Rückvermittlung der Dogmatik Karl Barths an die gegenwärtige Welt des Christentums ist weder von ihm selbst geleistet noch kann sie vom unmittelbaren Standpunkt seiner Dogmatik aus erfolgen.«461
5.4 Ertrag Der entscheidende Entwicklungsschritt der Rendtorffschen Barthdeutung, der in der Theorie des Christentums erreicht wird, besteht in dem skizzenhaft vorgetragenen Versuch, eine konstruktive Fortführung der Bewältigung der neuprotestantischen Problembestände durch die Theologie Barths nachzuzeichnen. Wurde in der Habilitationsschrift die negative Verhaftung in den vom Neuprotestantismus ererbten Problemen hervorgehoben, so wird die Theologie Barths nunmehr (und mit ihr die gesamte dialektische Theologie) als Fortschritt in deren Bewältigung beurteilt, der freilich durch die Theorie des Christentums nochmals überboten wird. So stellt den eigentlichen Fortschritt des historischen Bewusstseins erst die im Rahmen der Theorie des Christentums begriffene dialektische Theologie dar.462 Die entscheidende Weichenstellung auf dem Wege zu dieser neuen Deutung bildet Rendtorffs Entdeckung der konstruktiven Aufnahme des – genuin neuzeitlichen – Problems der Subjektivität in der Konstruktion des Gottesbegriffs. Sofern dieser Prozess als Tätigkeit von menschlicher Subjektivität beobachtbar ist, erweist es sich für Rendtorff als durchaus legitim und notwendig, jene Konstruktion von Subjektivität am Ort des Gottesbegriffs – und damit jenseits der Bedingtheit menschlicher Subjektivität – auf seine Funktion für die menschliche Subjektivität, d.h. Freiheit, zu befragen. Entschieden wird auf diesem Wege erneut dem theologiegeschichtlichen Bild widersprochen, dass Barths Theologie – sei es positiv oder negativ beurteilt 460 »Die Theologie, die um ihre eigene radikale Funktion weiß, die sie ausübt, weil sie im Namen Gottes formuliert wird, muß durch eben dieses Wissen ihre immanente Radikalität begrenzen. Denn nur in den geschichtlichen Gestalten von Religion, Kirche, Christentum wie überhaupt menschlicher Lebensführung kann die Freiheit, um die es im Begriff der Autonomie zu tun ist, frei bleiben, d.h. dem Zwang entgehen, an ihre eigene Verwirklichung als Theologie binden zu müssen, was doch als empirische Wahrnehmung von Freiheit über alle Verwirklichung hinaus gegeben ist.« (ebd.). 461 Ebd., 180. 462 Vgl. zum Charakter der Barthdeutung vgl. auch RENDTORFF, Selbstdarstellung, 67, wo festgestellt wird, die Auseinandersetzung mit Barth und Gogarten habe das Ziel verfolgt, »deren Positionen nicht einfach kritisch zu destruieren, wie dies die dialektische Theologie mit der ›liberalen‹ Theologie exerziert hatte, sondern sie auf dem Wege der Integration in eine neue Deutung der Theologie der Neuzeit kritisch ›aufzuheben‹«.
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
– hinter die Einsichten der Aufklärung zurückführe. Die Kirchliche Dogmatik wird als kritische Dogmatik gedeutet, die die Klärung des Problems der Subjektivität – damit neuzeitlichem Niveau entsprechend – der Entfaltung klassisch dogmatisch-materialer Stoffe vorordnet und diese als Auslegung von Subjektivität funktional einsetzt und neu interpretiert. Die sozialtheologisch relevante Pointe der Theorie des Christentums in der Fluchtlinie des Ausgangspunktes Rendtorffschen Denkens ist darin zu sehen, dass Barths Destruktion der Kirche als eigenständiger geschichtlicher Wirklichkeit, als »zu schleifender Bastion«, als Fortschritt der Christentumsgeschichte ›gewürdigt‹ wird. Die radikale Autonomie – hinter der Autonomie Gottes verborgen – als Emanzipation der Theologie von dem neuzeitlichen Wahrheitsbewusstsein, d.h. die Reklamation von Autonomie allein für die Theologie, leiste in positiver Hinsicht die Überschreitung der allein kirchlichen Gestalt des Christentums.463 Insofern wird die Kirchliche Dogmatik nunmehr in ihrem konstruktiven Anliegen zur Vorstufe der Theorie des Christentums. Im Horizont der Theorie des Christentums zeichnen sich auch die tiefgreifenden Wandlungen für das Verständnis der Theologie deutlich ab. Vor allem die strikte Begrenzung des »Dogmatischen« zugunsten der Sozialethik ist an diesem Punkt hervorzuheben: Das Dogmatische […] bezeichnet immer eine Grenze möglichen Einverständnisses, hat gerade keinen allgemeinen, sondern einen Marginalwert und löst die Suche nach anderen, weitergreifenden Verständigungsmöglichkeiten aus. So wie historisch der dogmatische Charakter der Kirche und ihrer Lehre zugunsten allgemeineren christlichen Einverständnisses im Bereich des Ethischen auf einen Marginalwert zusammengezogen ist, gilt das doch auch für alle Systemansprüche, die für sich einen gleichsam dogmatischen Charakter in Anspruch nehmen.464
Die Befreiung vom Dogmatischen zugunsten der ethischen Fragen eröffnet daher auch in der Ökumene Perspektiven. Obgleich die dogmatischen Differenzen nicht aufzuheben seien, sei festzustellen: Was hinsichtlich der kirchlichen Tradition immer wieder als unüberwindbare Differenz erscheinen muß, verliert im Kontext der Gegenwart seine drückende Last, weil 463
RENDTORFF, Christentum außerhalb der Kirche, 148. RENDTORFF, Kirche und Gesellschaft im Kontext des neuzeitlichen Christentums, 87. Vgl. ebd., 88: »Wenn in der gegenwärtigen Epoche des neuzeitlichen Christentums die allgemeine Verbindlichkeit der christlichen Überlieferung ihre Kraft gerade aus der ethischen Dimension zieht, dann bedeutet das sicher auch, daß dem dogmatischen Denken eine andere, begrenzte Stelle zukommt als in vorkritischer Zeit, während die Möglichkeiten zum Tun des Guten in den Gestalten des Lebens ins Zentrum theologischer Reflexion vordringen.« In diesem Sinne gliedert sich die von Rendtorff in der Folgezeit vorgelegte »Ethik« an die Studien zur Theorie des Christentums an. In dieser Untersuchung bedarf sie im Blick auf die Deutung der Theologie Barths keiner eingehenden Behandlung. 464
Barth im Kontext der Theorie des Christentums
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daneben neue Gemeinsamkeiten getreten sind, die nur darum Gemeinsamkeiten der Kirchen werden können, weil es solche der Christenheit sind.465
Um daher die Besonderheit des Rendtorffschen vom »Dogmatischen« sich emanzipierenden Denkens im Vergleich zum Barthschen Denken deutlich zu machen, und nochmals die Voraussetzungen seiner Barthdeutung zu erhellen, wird in einem Zwischenschritt die Frage nach der Funktion des Gottesbegriffs bei Rendtorff verfolgt.
6. Gott im Rendtorffschen Sinne Stellt die Gottesfrage das Integral Barthscher Theologie dar, so wird sich die Differenz zwischen Rendtorffs systematischen Interessen in der Theorie des Christentums und denen Barths besonders deutlich an diesem Punkt aufzeigen lassen. Der Weg zur klassischen »dogmatischen« Rede von Gott ist Rendtorff a priori versperrt. Gleichwohl lassen sich in Rendtorffs Essay Gott – ein Wort unserer Sprache? Ansätze dazu erkennen, wie die Rede von »Gott« als Gegenstand der Theologie bzw. der Christentumstheorie angeeignet werden kann. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die Frage, welchen Wirklichkeitsbezug das Wort habe: »Was erfahren wir über die Wirklichkeit, wenn wir das Wort Gott verwenden?«466 Außerhalb des geprägten und normierten Sprachzusammenhangs von Theologie und Kirche scheine bezüglich dieser Frage Unsicherheit zu herrschen. Erschwert werde die Situation zudem durch die Rede vom »Tode Gottes« innerhalb der theologischen Wissenschaft, deren Grund historisch in der Reduktion der Theologie auf das biblische Offenbarungswort, »das im Gegensatz zu aller sonstigen Wirklichkeitserkenntnis aufgefaßt werden sollte«,467 zu sehen sei. Insbesondere durch den damit verbundenen Verzicht auf die Explikation der allgemeinen Bedeutung des Wortes in der dialektischen Theologie sei das Wort Gott zum Problem geworden. Da Theologie »immer auch Ausdruck ihrer Zeit«468 sei, versucht Rendtorff gegenüber solcher Verengung »die Fraglichkeit des Wortes Gott aus dem Erfahrungszusammenhang […], in dem sie sich in der allgemeinen Sprachwirklichkeit zeigt«,469 zu erheben. Das in der Theorie des Christentums entfaltete Programm, die Theologie als Theorie der Wirklichkeit des 465
Ebd., 83. RENDTORFF, Gott – ein Wort, 7. 467 Ebd., 8. 468 Ebd., 9. 469 Ebd., 10. 466
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
»Christentums« nachzuordnen, steht hier erkennbar im Hintergrund. Bereits die Alltagserfahrung zeige nunmehr, dass der Zweifel dem Wort »Gott« gegenüber mit »der ersten Stufe eigener, selbständiger Reflexion«470 im menschlichen Entwicklungsprozess auftrete. Der Zweifel sei so gerade nicht als Folge einer bestimmten Wissenschaftskultur zu verstehen, sondern lasse sich bereits auf dieser elementaren Ebene erfassen. Es gebe keinen »Schuldigen« für den Zweifel, vielmehr sei in dessen Allgemeinheit der »allgemeine[] Stand des religiösen Bewußtseins zu finden«.471 Die im Zweifel sich äußernde Emanzipation werde zudem weitgehend durch die christliche Erziehung selbst in Gang gesetzt. Sie sei darüber hinaus geradezu »notwendiger Bestandteil des menschlichen Bildungsprozesses« und »in ihrem positiven Sinn«472 zu befördern. Der Weg soll also in der Tradition Schleiermachers zu einer gebildeten Kritik und daraus sich entwickelnd zu einer selbständigen Aneignung der Sprachtradition führen: »Was mit der religiösen Sprache gesagt wird, muß auch immer als durch das Bewußtsein des Menschen selbst gebildet gewußt werden können. Insofern reklamiert der Zweifel mit vollem Recht den individuellen Anteil am Wort Gott.«473 Solche »positive, konstruktive Würdigung des Zweifels an ›Gott‹« aufnehmend könne religiöse Sprache über das Weltwissen hinaus eine Orientierung ermöglichen, »in der sich eine letzte Unabhängigkeit des Menschen überhaupt gegenüber der Welt wie auch im Verhältnis zu sich selbst artikulieren kann«.474 Diese »letzte Unabhängigkeit«, die in dem gerade im Zweifel seiner Verwendung gegenüber angeeigneten Wort »Gott« Ausdruck finde, beziehe sich wesentlich auf die strukturierten und von Autorität getragenen Verwendungsweisen selbst, in denen es in »Schule, Kirche und Elternhaus«475 den Heranwachsenden begegne: »Das Wort Gott steht, auch wenn das zunächst nur als Anspruch erfahren wird, für eine allgemeine Wirklichkeit, die die geprägten Formen, in denen es zunächst begegnet, übersteigt.«476 Dem Wesen des Phänomens entspreche es daher, dass der Zweifel nicht durch eine Zwangsstruktur überwunden werden könne. Der Versuch, solches durch Zwang zu erreichen, gehöre demgegenüber zu den Kennzeichen einer Ideologie. Gott im Rendtorffschen Sinne Dieser Einsicht sei bereits der Grundsatz der christlichen Aufklärung gefolgt: »Man muß Gott mehr gehorchen als der Kirche.«477 Er begründe eine 470
Ebd. Ebd., 11. 472 Ebd. 473 Ebd., 12. 474 Ebd. 475 Ebd., 13. 476 Ebd. 477 Ebd., 14. 471
Gott im Rendtorffschen Sinne
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Freiheit gegenüber autoritären Verwendungen des Wortes Gott und relativiere die geprägte Verwendung in Gottesdienst, Kirche und Theologie. Die »Schwierigkeit von Gott zu reden«478 sei daher eingebettet in die »veränderte[] Autoritätsstruktur der neuzeitlichen Welt«,479 die dem Wesen des im Worte Gott Ausgesagten entspreche und somit keinen »Abfall« darstelle: »Sie ist Folge einer tieferen Einsicht in die Eigenart des Wortes Gott.«480 Die Verwendung des Wortes Gott unterliege damit den Bedingungen eines unhintergehbaren Pluralismus: »Keine einzelne theologische, philosophische oder kirchliche Position kann das Wort Gott für sich allein reklamieren.«481 Theologie repräsentiere immer »in spezifischer, theologischbegrifflicher Abbreviatur das Ensemble der Weltprobleme«,482 wie auch die im Worte »Ich« verdichtete subjektive Bestimmtheit stets die Verwendung des Wortes Gott als ein bestimmtes Gottesbewusstsein483 präge. Nach dem »Ende des dogmatischen Zeitalters« gelte, dass das Wort Gott »ein Wort unserer Sprache nur [sei], wenn und weil darin unsere eigene Lebenswirklichkeit zum Ausdruck kommt, oder anders gesagt, wenn darin unsere eigene Beteiligung an der Wirklichkeit, für die das Wort Gott steht, sprachlich vermittelt werden kann«.484 Das Bewusstsein um die stets nur partikulare Verwendung und die damit »allgemein gewordene Zurückhaltung und Scheu gegenüber der Verwendung des Wortes Gott« stellten nunmehr einen »wichtige[n] Fortschritt in der Geschichte des Christentums« dar, denn nur »dort, wo es um die alle Menschen verbindende und umfassende Wirklichkeit des Lebens geht, wie sie in den Grundsätzen von Recht und Moralität und zumal eben in der Religion zum Ausdruck kommt, hat das Wort Gott seinen Ort«.485 Die Gründe für seine Verwendung liegen nicht auf argumentativer Ebene, sondern haben Glauben zur Voraussetzung, verstanden als »konstruktiver Akt des Menschen unter den Bedingungen seiner Endlichkeit«.486 Glaube sei das Vertrauen auf andere »und darin vermittelt als Vertrauen auf eine Wirklichkeit, die der einzelne empirische Mensch nicht erst aufbauen muß«. »Ich glaube an Gott« heißt sinnvollerweise, ich werde mir einer Erweiterung der Lebenswirklichkeit bewußt, die über die empirisch-sinnliche Objekthaftigkeit der 478
Ebd., 15. Ebd. 480 Ebd. 481 Ebd. Vgl. ebd., 17: »Gott ist keine Position des Menschen. […] Das Wort Gott widersetzt sich der Möglichkeit, eine bestimmte einzelne Position im Zusammenleben der Menschen zu unterstützen gegenüber anderen.« 482 Ebd., 15. 483 Ebd., 16. 484 Ebd. 485 Ebd., 18. 486 Ebd. 479
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
Wirklichkeit hinaus ist, eine Erweiterung, von der her Licht fällt auf die Proportionen der sinnlich wahrnehmbaren Welt.487
Hinweise für diese Verwendung fänden sich in der Alltagssprache. Der Ausruf »Gott sei Dank!« stelle das Wort in den Zusammenhang mit der Erfahrung des Ganzen des Lebens oder der Wirklichkeit488 und habe seinen Ort insbesondere im Kontext von Grenz- und Krisenerfahrungen, »auf die man nicht direkt und selbstverständlich mit Handeln reagieren kann«.489 Daneben finde das Wort im biographischen Rückblick auf das Lebensganze Verwendung, es könne »hier zum Ausdruck bringen, daß dieses Ganze des Lebens eine eigene Dimension der Wirklichkeit, eine selbständige Hinsicht gegenüber der Praxis des Alltages ist«.490 Konkretion gewinne dieser Rückblick insbesondere meditativ im Gebet: »Philosophisch gesprochen ist die Sprache des Gebets Vermittlung des individuellen Selbstbewußtseins zum allgemeinen Selbstbewußtsein im Medium konkretisierbarer Erfahrungen.« Die Frage »Gibt es Gott?« sei daher theologisch angemessen allein in der Formulierung »Gibt es eine Dimension der Wirklichkeit, deren Wahrnehmung die Verwendung des Wortes Gott als sinnvoll erscheinen läßt?« zu stellen.491 Gegen Tendenzen der Theologie des 20. Jahrhunderts stellt Rendtorff auf dieser Grundlage fest, dass die Frage nach Gott »deswegen nicht eine Frage nach einer schlechthin jenseitigen Transzendenz« darstelle, vielmehr sei sie von der Erfahrung des Wirklichkeitsganzen her nahegelegt. Ihr eigne geradezu anthropologische Notwendigkeit: Das Wort Gott ist darum nicht nur eine Vorstellung, eine Funktion der Sprache, sondern ein lebensnotwendiger Begriff, in dem sich alles das versammelt, worauf sich das lebensmäßig notwendige Reflexionsbedürfnis richtet. […] Das Wort Gott spielt eine aktive, weiterführende und neue Horizonte eröffnende Rolle für die menschliche Lebenswirklichkeit.492
Das Wort Gott verleihe damit einem Konstrukt Ausdruck, jedoch handle es sich nicht um ein willkürliches und beliebiges Konstrukt, denn »es ist geradezu notwendig, den konstruktiven Charakter des Wortes Gott zu erfassen, eben weil es lebensnotwendig für den Menschen ist, jene umfassende Dimension von Wirklichkeit überhaupt aufzubauen, zu definieren, die über das Vorhandene hinausreicht«.493 Insofern handelt es sich um ein Konstrukt höchster Ordnung, welches gerade keinem radikalen Konstruktivismus, als 487
Ebd., 19. Ebd., 20f. 489 Ebd., 21. 490 Ebd., 22. 491 Ebd., 24. 492 Ebd., 26. 493 Ebd. 488
Gott im Rendtorffschen Sinne
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habe jeder ›seinen‹ Gott, das Wort rede, sondern »die empirischen Menschen« bildeten »nur gemeinsam ›den Menschen‹ […], dessen Korrelat der Gottesgedanke ist«.494 Aus dieser Einsicht ergeben sich für Rendtorff drei »produktive Möglichkeiten, das Wort Gott zu verwenden«, die zugleich auf die trinitarische Entfaltung des Gottesgedankens in der dogmatischen Tradition bezogen werden: 1. »Gott ist das zusammenfassende Wort für das Ganze des menschlichen Lebens.«495 Die Individualität des Menschen erschließe sich erst in dem Horizont dieser »Wirklichkeit Gottes«496 und werde so als unbedingt schützenswert qualifiziert. Die Sprachtradition verwendete für diesen Aspekt der Rede von Gott den Begriff Gottes als »Schöpfer«. Ohne auf einen bestimmten empirischen Ort für diese Rede von Gott festgelegt zu sein, wirft der Mensch die Frage nach sich selbst, nach der Individualität auf: Deshalb ist es wohl zutreffend zu sagen, im Reden von Gott ist die Frage des Menschen nach sich selbst radikal und konzentriert zusammengefaßt, aber so, daß es um die Begründung des menschlichen Selbstbewußtseins geht. Religion ist […] die Tätigkeit des um seine Begründung bemühten Selbstbewußtseins. […] Das Wort Gott fungiert gleichsam als dieser Schutz, weil es der Individualität einen Ort eigener Wirklichkeit zuweist.497
Der Vorstellung von Gott als Grund des individuellen Selbstbewusstseins korrespondiere zugleich eine umfassende Theorie der Wirklichkeit als Schöpfung. Die Vorstellung der creatio continua verstehe Gott nicht nur als Prinzip der Verursachung, sondern als »Subjekt der Welt im ganzen«.498 Sie bringe die Subjekthaftigkeit aller Wirklichkeit zum Ausdruck, d.h. die Einsicht, dass der Aufbau von Wirklichkeit stets durch Tätigkeit vermittelt ist: Das Subjekt aber von Tätigkeit überhaupt, aus der sich die Wirklichkeit von Welt aufbaut, kann nicht mehr als einzelnes Phänomen innerhalb der Wirklichkeit, wie wir sie wahrnehmen, isoliert werden. Wenn das menschliche Selbstbewußtsein dieses Subjekt überhaupt, im Unterschied zu sich selbst, Gott nennt, dann wird eben dies zum Ausdruck gebracht, daß jedenfalls der Mensch dieses Subjekt aller Tätigkeit nicht ist, weder als einzelner noch als Gattung.499
Die Summe allen Weltvertrauens ist daher das Vertrauen auf Gott. 494
Ebd., 27. Ebd., 28. 496 Ebd., 28f: »Der große christliche Gedanke der Individualität des Menschen hängt davon ab, daß das Ganze des Lebens nicht wieder als menschliches Leben überhaupt definiert ist, als Gattung, sondern in der Wirklichkeit Gottes begriffen ist.« 497 Ebd., 30. 498 Ebd., 31. 499 Ebd. 495
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
2. »Gott« sei zudem »der zusammenfassende Begriff und Ausdruck für das, was wir empfangen«: »Niemandem stehen alle Bedingungen zu Gebote, um ein völlig freies, autonomes und selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Erfahrung der Abhängigkeit wächst zusammen mit dem Bewußtsein der Freiheit des Menschen.«500 Diese Abhängigkeit stelle sich als ambivalent dar, insofern sie zwar einerseits Vertrauen begründen aber andererseits auch als Last und Qual empfunden werden könne. »Gott« sei in dieser Spannung »der zusammenfassende Begriff für die Zukunft eines neuen Lebens, dessen Erwartungen sich aus den Möglichkeiten schon empfangenen Lebens speisen«.501 Man könnte auch nicht von Gott sprechen, müsste dann aber den unendlichen Konflikt nichtrealisierter Möglichkeiten und dessen Last selbst tragen. »Gott« reflektiere hier ein Vertrauen, »ohne das schon in einem anthropologischen Sinne kein Mensch würde leben können« – und welches in den Dank münden kann.502 In die Sprachtradition des Christentums sei dieser Aspekt des Wortes Gott in der Vorstellung von »Jesus Christus« eingebracht worden. 3. »Gott« sei »der zusammenfassende Ausdruck für die Einheit der Wirklichkeit in der Vielfalt der Erfahrungen, die wir machen«.503 Die Vielfalt individuellen geschichtlichen Lebens könne – positiv als Reichtum gedeutet – in der Suche nach Einheit und Normen im Pluralismus zur »Last« werden, d.h. auch hier wird eine Ambivalenz erkennbar. Versuche, diese Einheit zu erfassen, ohne dabei das Wort Gott zu verwenden, seien möglich, jedoch aufklärungsbedürftig, denn keine menschliche Position könne sich der durch das Wort Gott bezeichneten Bedingung entziehen: Das Wort Gott begreift die Einheit in der Vielheit, aber so, daß die eigene Teilnahme des Menschen zugleich gefordert und herausgefordert ist. Es legt die Vielfalt des Lebens nicht stille. Darum ist der Begriff Gott in dieser Dimension eine wesentliche Grundlage für die Aufklärung der Lebenszusammenhänge.504
In der christlichen Sprachtradition werde diese Einsicht, die Einheit des Lebens habe einen Ort, »der nicht eine Position von Menschen ist«, mit der Vorstellung von Gott als »Geist« interpretiert. Gerade an diesem Punkt werde aber deutlich, warum das Wort Gott im allgemeinen Sprachzusammenhang aufgesucht wurde und nicht im spezifisch kirchlichen: »Denn wo allein die Kirche Sachwalterin des Wortes 500
Ebd., 32. Ebd. 502 Ebd., 33. Für Rendtorff hat an dieser Stelle auch die Rede von Schuld und von dem Bösen seinen Ort, als Folge der Endlichkeitserfahrung. Vgl. ebd.: »Die Endlichkeit des Menschen, als die Begrenztheit seiner praktischen Fähigkeiten oder der Dauer seines Lebens, wird überhaupt nur bewußt, ist nur Moment unserer Erfahrung, weil sie den Menschen nicht abschließend definiert.« 503 Ebd., 34. 504 Ebd., 35. 501
Gott im Rendtorffschen Sinne
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Gottes wäre, müßte die Welt leicht als gottlos und als geistlos erscheinen. Die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Sprachtradition wäre dann wichtiger als der Mut, sich auf die Vielfalt des Lebens einzulassen.«505 Gegenüber der kirchlichen Reserve wäre unter dem Aspekt des Geistes damit »eine neue aktive Verwendung des Wortes Gott sinnvoll« und geradezu theologisch geboten. »Das Wort Gott ist schließlich der zusammenfassende Begriff für die Menschheit überhaupt.«506 Damit bezeichnet der Begriff Gott zugleich eine »ethische Aufgabe«, die in den Menschheitsproblemen liegt. Diese übersteige bisherige Normen und könne im Horizont der Wirklichkeit »Gott« unter dem Vorzeichen der unbedingten Forderung angegangen werden, dass alle Menschen Gottes Kinder sind.507 Die Entfaltung konstruktiver Potentiale des Wortes Gott bewegt sich bei Rendtorff damit auf der Grundlage einer elementaren Theorie des religiösen Bewusstseins. Diese führt zu Grundelementen des traditionellen christlichen Sprachgebrauchs zurück, die jedoch keine legitimatorische Instanz mehr darstellen könnten: »Ohnehin kann uns an der Tradition nur das als wahr überzeugen, was aus anderen als historischen Gründen überzeugt.«508 Das religiöse Bewusstsein diene der Vergewisserung des menschlichen Selbstbewusstseins innerhalb der spannungsgeladenen Wirklichkeit: Das religiöse Bewußtsein hat eine elementare Funktion in der konkreten Entfaltung und im Aufbau des menschlichen Selbstbewußtseins. Es bildet sich an der Erfahrung der Abhängigkeit von Welt, in der sich das individuelle Bewußtsein vorfindet. Es hat zu seinem Inhalt die Tätigkeit des allgemeinen Selbstbewußtseins, die im Gottesgedanken symbolisiert ist. Das religiöse Bewußtsein impliziert eine radikale Theorie der Wirklichkeit, sofern es die Möglichkeit betätigt, Freiheit fürs bedingte und abhängige, individuelle Bewußtsein zu entfalten. Sprache aber ist Organon der Freiheit. 509
Ist nun der Gottesgedanke »Bestand des religiösen Bewußtseins und muß deshalb auch aus seiner Tätigkeit entwickelt werden«, so ergebe sich gleichsam von selbst, »daß und warum es nicht möglich ist, den Gottesgedanken völlig unabhängig von der spezifisch religiösen Tätigkeit des Bewußtseins überhaupt festzustellen, anzutreffen und also sinnvoll zu erörtern«.510 Die besondere Funktion des religiösen Bewusstseins als Entfaltung des Selbstbewusstseins besteht darin, dass hier am individuellen Ort »Abhän505
Ebd. Ebd., 36. 507 Ebd. 508 Ebd., 37. 509 Ebd., 38. 510 Ebd. 506
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
gigkeit und Bedingtheit überhaupt, generell, und das heißt doch auch radikal thematisiert« werden. Das religiöse Bewusstsein sei »die allgemeine Weise des Umganges mit Abhängigkeit überhaupt«:511 »Die Aufgabe des religiösen Bewußtseins ist es, die Vermittlung von allgemeinem und individuellem Selbstbewußtsein im Dienste und für das individuelle Bewußtsein zu leisten.«512 Solche Überlegungen zum Gottesbegriff sind daher »nachgängige Reflexion auf die Tätigkeit des religiösen Bewußtseins«,513 Besinnung im Anschluss an die religiöse Sprache als Bestandteil der Umgangssprache als Ausdruck des Umgangs mit der Wirklichkeit. Hier zeige sich der mit dem Wort »Gott« unlöslich verbundene Versuch »den alltäglichen Umgang mit der Lebenswirklichkeit auf das dieser Wirklichkeit Wesentliche zu bringen«.514 Deutlich wird somit, wie Rendtorff unter der Voraussetzung der Theorie des Christentums ein vorsichtiges und nicht normierendes Interesse an der Erhebung dessen verfolgt, was das neuzeitliche Selbstbewusstsein als Auslegung seiner gegebenen Freiheit sich anzueignen vermag. Die biblischen Quellen spielen darum in dieser Entfaltung keine Rolle – von Bedeutung wären sie nur in dem Falle, dass sich das Selbstbewusstsein im Medium ihrer Gehalte auszulegen vermag und sich diese durch Kritik und Konstruktion aneignet. Im Gottesbegriff verdichtet sich das religiöse Selbstbewusstsein als »schlechthinniges Freiheitsgefühl«.515 In der Perspektive Barths würde Rendtorffs Versuch der Kritik unterliegen, die gegen Schleiermacher vorgebracht wurde, dass nämlich das göttliche Subjekt vom menschlichen abhängig gedacht würde. Gemeinsam mit der Feuerbachschen Religionskritik wäre einzuwenden, es handle sich dann aber nicht mehr um Gott, sondern allein um eine Gottesprojektion. Insofern Rendtorff – hier mit der neuzeitlichen, an der Subjektivität orientierten Philosophie verbunden – voraussetzt, dass der Gottesgedanke allein im Bezug auf das Selbstbewusstsein zugänglich und sinnvoll ist, ist ihm der Barthsche Rekurs auf »Offenbarung« jedoch a priori verwehrt. Seine konstruktive Aneignung des Gottesbegriffs gründet letztlich auf der starken anthropologischen Voraussetzung, dass dem Menschen – vor dem Hintergrund der Erfahrung des Gegebenseins von Freiheit – der Bezug zu Gott notwendig eignet. Barth als Vorstufe der Theorie des Christentums
511
Ebd., 40. Ebd. 513 Ebd., 41. 514 Ebd. 515 Der Ausdruck ist hier entlehnt von MOLTMANN, Die Revolution der Freiheit, 190. 512
Barth als Vorstufe der Theorie des Christentums
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7. Barths Theologie als Vorstufe der Theorie des Christentums Bereits in der Theorie des Christentums deutete sich an, dass Barths Theologie im Duktus der Kirchlichen Dogmatik eine ihren Anfängen gegenüber markante Akzentverschiebung erkennen lässt. Zentral dafür ist Rendtorffs Unterscheidung von drei Phasen der dialektischen Theologie.516 In einer ersten Phase trete diese als »Theologie der Negation der Geschichte«, als »Theologie der Opposition«517 auf. Während sich diese Opposition wesentlich gegen die liberale Theologie und die »Geschichtsgebundenheit des Christentums«518 richte, repräsentiere sie selbst eine neue Gestalt kirchlicher Theologie. Zur Durchsetzung sei diese Theologie jedoch erst in der zweiten Phase, der Situation des Kirchenkampfes, gekommen, die die konsequente Abgrenzung der Kirche nach »außen« erforderte, wobei das Selbstverständnis unpolitisch gewesen sei und allein auf die Bewahrung der Besonderheit der Kirche gezielt habe. »Erst in der dritten Phase der dialektischen Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg finden sich Anzeichen dafür, daß die kirchlichen Grenzen der Theologie von innen her gesprengt werden.«519 Der freie Gott könne nicht an die Grenzen der Kirche gebunden sein, d.h. dieser Raum wird notwendig überschritten, insbesondere in den späten Bänden der Kirchlichen Dogmatik. In den Studien, die sich im Anschluss an die Theorie des Christentums mit der Theologie Barths befassen, wendet sich Rendtorff aus diesem Grund intensiver der Kirchlichen Dogmatik zu. Dem christentumstheoretischen Programm entsprechend wird sie als theologiegeschichtlicher Erneuerungsschritt gewürdigt, in dessen Fluchtlinie die Hinwendung zur Theorie des Christentums als folgerichtiger Schritt aufscheint. Insofern wird die Kirchliche Dogmatik zur Vorstufe des Rendtorffschen Ansatzes. Gleichwohl werden auch weiterhin die kritischen Anfragen an die Leistungsfähigkeit Barthschen Denkens aufgeworfen, die letztlich dessen Überschreitung notwendig erscheinen lassen.
516
RENDTORFF, Christentum zwischen Revolution und Restauration, 114–116. Ebd., 114. 518 Ebd., 115. 519 Ebd. An dieser Stelle bestätigt Rendtorff – aus christentumstheoretischer Perspektive – den Einwand Wolfgang Hubers gegen seine Barthdeutung: »Die Dialektische Theologie […], von der gesagt wird, sie habe die Diastase zwischen neuzeitlicher Welt und christlichem Glauben proklamiert, sie habe durch die Projektion der in der Neuzeit zum Thema gewordenen menschlichen Autonomie in eine ›radikale Autonomie Gottes‹ eine Verkirchlichung der Theologie (und zugleich damit deren ›Entweltlichung‹) bewirkt – eben diese Dialektische Theologie setzte einen Reflexionsprozeß in Gang, in dem die Frage nach der Bewährung des christlichen Glaubens auch in gesellschaftlichen Prozessen und damit auch die Frage nach der politischen Verantwortung der Kirche besonderen Nachdruck erhielt.« (HUBER, Folgen christlicher Freiheit, 36). 517
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
Es sind vor allem drei Themenbereiche anhand derer der Weg Barths zur Theorie des Christentums nachgezeichnet wird. Das Problem der Ethik wird anhand der umstrittenen Tauflehre diskutiert. Hier trete deutlich hervor, dass das menschliche Subjekt in der Barthschen Ethik zu seinem Recht komme, und dass seine Dogmatik von Beginn eine ethische Pointe habe. Den Horizont bildet wiederum ein sublimer Dialog zwischen Barth und Troeltsch. Sodann wird im Blick auf das Problem der Kirche die Bestimmung der »Theologie als Funktion der Kirche« einer kritischen Prüfung unterzogen. Nochmals wird Barths Theologie hier ihrem kirchlichen Missverständnis gegenüber verfremdet und als genuin neuzeitliche Auseinandersetzung um das Problem der Freiheit gedeutet. Schließlich wendet sich Rendtorff dem Problem der Freiheit zu. Er bemüht sich um den Nachweis, dass Barths Theologie ein neuzeitliches Freiheitskonzept vertrete, welches in der Fluchtlinie des offenbarungstheologischen Ansatzes gerade zur Freiheit des Menschen führen müsse. Es rücken folglich Themen ins Zentrum, zu denen Barth Rendtorffs früherer Deutung nach zumindest in der frühen Phase seiner Theologie keinen konstruktiven Zugang hatte. Der im Rahmen der Theorie des Christentums entwickelte Interpretationsansatz wird hier durchgehend fortgeführt,520 die Grundentscheidungen Barths werden als Fortschritte innerhalb der Christentumsgeschichte ›begriffen‹, d.h. als Schritte auf dem Weg zu einem Verständnis von Freiheit, welches der Theorie des Christentums entgegen führt. Diese ist aber in dieser Rekonstruktion schon vorausgesetzt und ermöglicht allererst die Aufhebung der Barthschen Position. Der blinde Fleck des Barthschen Denkens, von dem eine solche Deutung bereits in dem Aufsatz Theologie als Kritik und Konstruktion ausging, besteht darin, dass Barth das Thema der »Subjektivität« in seiner neuzeitlichen Fassung aufnimmt. Für Rendtorff gibt es keine »Sache« der Theologie, die die Rede von Gott als Subjekt erfordert, und genau deshalb sind die neuprotestantischen Problembestände der entscheidende Horizont zur Deutung der Theologie Barths.
7.1 Der ethische Sinn der Dogmatik (1975) Die frühere Skepsis der Ethik gegenüber scheint Barth in den späten Bänden der Kirchlichen Dogmatik abgelegt zu haben, wenn Rendtorff das Zitat vorbringen kann, es gehe »darum, ›daß der Mensch selbst auf Grund einer allein im Ermessen Gottes liegenden Möglichkeit freies Subjekt dieses Geschehens (scil. Das Ereignis des christlichen Lebens) wird‹«.521 520 521
Vgl. RENDTORFF, Theorie des Christentums, 173–181. RENDTORFF, Der ethische Sinn der Dogmatik, 120. Mit Rekurs auf BARTH, KD IV/4.
Barth als Vorstufe der Theorie des Christentums
125
In welchem Sinne spricht Barth an dieser Stelle aber von einem »freien Subjekt«? Ist nun in der Durchführung der Kirchlichen Dogmatik endgültig ans Licht gekommen, daß und wie Barth auf seinem eigenen, dem dogmatischen Wege dorthin gelangt ist, wo er einst polemisch-kritisch seinen Ausgangspunkt genommen hat? Ist die dogmatische Ermöglichung der Ethik letzten Endes dann eben doch die Weise, wie die Überführung der Dogmatik in Ethik legitimerweise ins Werk gesetzt wird, nachdem die Dogmatik aus ihrem illegitimen Abseits herausgetreten ist?522
Um diese Frage, ob innerhalb der Kirchlichen Dogmatik eine grundlegende Revision stattfinde, zu beantworten, greift Rendtorff zunächst die Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik im Lichte der Fassung, die ihr im Neuprotestantismus verliehen wurde, auf und nimmt damit die Ausgangssituation der Barthschen Theologie in den Blick. Es sei nämlich festzustellen: »Die Bestimmung des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik wurde von Barth in einer Fassung aufgenommen, die ihr Ernst Troeltsch zuvor und ausgestattet mit dem Gewicht einer Ortsbestimmung der Theologie überhaupt gegeben hatte.«523 Wie bereits in der Theorie des Christentums bildet Troeltschs Werk paradigmatisch den neuprotestantischen Reflexionsstand ab, und wiederum soll sich in dem Erweis einer Kontinuität zwischen Troeltsch und Barth das Erschließungspotential christentumstheoretischer bzw. -geschichtlicher Reflexion zeigen.524 Troeltsch habe eine präzise Diagnose derjenigen »Krise der Ethik« geliefert, die insbesondere mit dem Denken Friedrich Nietzsches verbunden sei.525 Diese betreffe die Problematik der Geltung überindividueller Werte. Jedoch verlasse Troeltsch grundsätzlich die Bahnen derjenigen Lösungsversuche, die die Entschärfung der Krise durch die Klärung des Subjektivitätsproblems suchten. Er wende sich demgegenüber vollkommen der »objektiven Ethik« zu und skizziere die Aufgabe einer »Vereinheitlichung religiöser und innerweltlicher Zwecksetzungen«,526 d.h. der Schaffung einer Synthese. Allein auf diesem Wege sei die kompromisshafte Gewinnung überindividueller Werte zu erreichen. Rendtorff rekurriert hier auf Troeltschs Abhandlung Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik (1902), in der dieser zunächst historisch die Problematik einer Verhältnis522
RENDTORFF, Der ethische Sinn der Dogmatik, 120. Ebd. 524 Dass Troeltsch ein Vertreter der Position ist, die Barth zu überwinden trachtet, ist für Rendtorff vor allem darin begründet, dass dieser die Ablösung der Dogmatik als Grundwissenschaft durch die Ethik in voller Klarheit formuliert habe (vgl. ebd., 121). 525 Vgl. TROELTSCH, Grundprobleme der Ethik, 552: Nietzsche habe »die radikale Konsequenz der Beseitigung der religiös-idealistischen Grundlage gezeigt«, und dies bedeute für die »positivistische Ethik des religionslosen Altruismus […] in immer höherem Grade eine auflösende Krisis«. 526 RENDTORFF, Der ethische Sinn der Dogmatik, 122. 523
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bestimmung von Dogmatik und Ethik entfaltet.527 Die Situation der Gegenwart sei wie folgt gekennzeichnet: Das Wesen dieser Problemstellung aber ist, daß die Ethik die übergeordnete und prinzipiellste Wissenschaft ist, in deren Rahmen die Religionswissenschaft sich einfügt. Nicht von einer wie immer gearteten Metaphysik aus, die selbständig durch ihre Begriffe das Wesen der Welt enthüllte, nähert man sich heute dem Religionsproblem. Vielmehr von dem allgemeinen ethischen Problem der letzten Werte und Ziele menschlichen Lebens und Handelns kommt man zu den darin eingeschlossenen religiös-metaphyischen Gedanken und bestimmt dann wieder von ihrer Entwickelung aus die genauere ethische Wertung. 528
Die Ethik als »Werttheorie«529 müsse nun die pluralen »Zwecke«, innerhalb derer der »objektive religiöse Zweck des Christentums« mit »innerweltlichen Zwecken«530 zusammentreffe, »zu möglichster Einheit«531 bringen. Der Weg hierzu sei nur über eine neue Theoriegestalt zu suchen,532 denn »[d]as Problem liegt in dem inhaltlichen Charakter der objektiven Zwecke, ist ein Problem der objektiven Sittlichkeit und von der subjektiven aus überhaupt nicht zu lösen«.533 Die klassischen Varianten der philosophischen Aufklärung und des Luthertums sind angesichts dieser spezifisch modernen Herausforderung überholt: »Der Gedanke der Autonomie hilft nichts zu seiner Lösung, und auch die patriarchalische Kategorie des Berufes bringt uns keinen Schritt vorwärts.«534 Das »Vielspältige«535 des Sittlichen bedürfe einer »Vereinheitlichung« »von der religiös-sittlichen Idee aus«,536 wobei Troeltsch den Kompromisscharakter der zu erreichenden Synthese537 hervorhebt. 527
TROELTSCH, Grundprobleme der Ethik, 552–570. Ebd., 553. 529 Ebd. 530 Ebd., 653. 531 Ebd., 654. 532 Vgl. ebd., 656: Es sei anzuerkennen, »daß die moderne Welt mit ihrer Bewegung zwischen dem alles in sich aufzehrenden religiösen Zweck und den innerweltlichen freien sittlichen Kulturzwecken, die sich als Humanität, Staatsgesinnung und wirtschaftlich-technische Arbeit darstellen, einen neuen Typus des sittlichen Lebens bedeutet, der so noch nicht da war, und der mit seinen besonderen Verhältnissen und Spannungen eine besondere Theorie verlangt«. 533 Ebd., 654. 534 Ebd. 535 Ebd., 657. 536 Ebd., 658. 537 Ebd., 663: »Wie die ältere christliche Ethik ein Kompromiß, eine Synthese war, so muß es auch heute jede Ordnung unserer sittlichen Begriffe und Schätzungen unter dem beherrschenden Gesichtspunkt des höchsten Wertes der gotteinigen Persönlichkeit und der in Gott vorhandenen Bruderliebe sein. […] Das alte Problem steht wieder vor uns, und wir müssen aus dem lebendigen Fluß des Lebens heraus wieder von neuem die Synthese schaffen, so gut es möglich ist.« Zum Charakter jener Synthese stellt Troeltsch fest (ebd., 664): »Eine solche Synthese wird sich nicht in Form einer ihre Linien abstrakt festsetzenden Doktrin, sondern in der praktischen Verteilung des Ueberwiegens bald des einen, bald des andern Zweckes je nach den individuellen und natürlichen 528
Barth als Vorstufe der Theorie des Christentums
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Barths Kritik der vorangegangenen Bestimmungen der Ethik im Neuprotestantismus, diese hätten das menschliche an die Stelle des göttlichen Subjekts gesetzt, trifft für Rendtorff damit gerade nicht Troeltsch,538 da er die Subjektivitätsproblematik nicht weiter verfolge. Ebenso müsse Barths Einschätzung widersprochen werden, dass die Krise der Ethik erst durch die dialektische Theologie zutage gebracht worden sei.539 Barths Theologie, die mit der Vorordnung der Dogmatik vor die Ethik zugleich die Subjektivität Gottes dem Menschen grundsätzlich vorordne, erhalte allerdings in der Troeltschen Perspektive eine spezifische Kontur:540 Der Einsatz der Barthschen Kritik an der Vorrangstellung der Ethik läßt sich nun knapp und präzise dahin zusammenfassen, daß Barth die Objektivität der Ethik, entgegen den Vorschlägen von Troeltsch, entschlossen an die Klärung des Subjektes aller Wirklichkeit bindet, so nämlich, daß »die unaufhebbare Subjektivität Gottes« selbst methodisch und inhaltlich zur Grundlage und Voraussetzung der Theologie überhaupt und in allen ihren Bezügen gemacht wird.541
Dogmatik und Ethik stehen dann aber in einem festen inneren Zusammenhang, weil die Dogmatik hintergründig konstitutiv auf die »Krise der Ethik« bezogen ist. Die Dogmatik habe im Gewande der Vorordnung […] vor die Ethik […] in ihrer inneren Konstitution selbst einen ethischen Sinn. Denn die Dogmatik reklamiert nunmehr für sich die Wahrnehmung und Lösung derjenigen Grundprobleme, die die prominente Bedeutung der Ethik ausmachen, aber auch deren Aporie hervorrufen.542
Barths Vorwurf der »Vertauschung der Subjekte«543 in einer selbständigen theologischen oder philosophischen Ethik ziele darauf, dass hier die »Realisierung von Selbstbestimmung auf einer Ebene angesetzt« werde, »die nicht prinzipiell genug ist oder, wo sie dies zu sein versucht, zuerst und vor allem die Ebene des göttlichen Seins und Handelns ist«.544 Barth greife damit dieses überkommene Problem des Neuprotestantismus – aus dem Troeltsch
Anlagen bekunden, die durch keine ethische Bearbeitung zu vollständiger Gleichheit bestimmt werden können.« 538 RENDTORFF, Der ethische Sinn der Dogmatik, 122f: »[…] die prinzipielle Bedeutung der Ethik liegt für Troeltsch gerade nicht in einer solchen oder anderen Steigerung des Menschen und seiner Selbständigkeit gegenüber allen Vorgegebenheiten. […] Autonomie des Subjektes scheint für Troeltsch eher einen aporetischen Charakter zu haben als den der selbstherrlichen Sicherheit.« 539 Vgl. ebd., 122 mit Verweis auf BARTH, Das Problem der Ethik in der Gegenwart, 30. 540 Obgleich Rendtorff die Beziehung an dieser Stelle nicht explizit herstellt, ist damit wiederum die Aufnahme der Problemstellungen des Neuprotestantismus an ihrer Wurzel – als Inversion der Aufklärung – benannt. 541 RENDTORFF, Der ethische Sinn der Dogmatik, 123. 542 Ebd. 543 Ebd. 544 Ebd., 124.
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ausgeschert war – auf, mit dem Anspruch es in höherer Prinzipialität zu behandeln. Im Entfaltungsraum der Dogmatik sei die dafür notwendige Ebene gegeben, »weil hier die Wirklichkeit des Subjekts vor seiner im Handeln zu realisierenden Möglichkeit zum Thema wird«.545 Der Ausgangspunkt der Kirchlichen Dogmatik zieht in dieser Bestimmung folgerichtig ihre konstitutive Ausrichtung auf die Ethik und das menschliche freie Subjekt nach sich.546 Die Gotteslehre ziele auf die »Entfaltung einer Selbstbestimmung Gottes als seiner Existenz für den Menschen«.547 Dies sei der »ethische Sinn der Dogmatik, genauer: der Gotteslehre«,548 deren Entfaltung dazu diene, die mit der »expliziten Ethik« auftretenden Probleme auf der »Ebene der Subjektproblematik« zu überwinden. Dieser Erweis muss dann aber notwendig erbracht werden: Das dogmatische Konstruktionsproblem, aus dem Rücktausch des autonomen Subjektes Mensch in die Gotteslehre entstanden, trägt […] so lange die Gegensätzlichkeit in sich, als es nicht gelingt, die Selbstbestimmung oder Selbständigkeit des Menschen, seine Freiheit »als solche« aus der formalen Konkurrenz mit dem göttlichen Subjekt in die inhaltliche Entsprechung zu überführen. 549
Barth unternehme jenen Versuch in dem Aufbau eines »Handlungszusammenhangs«, der sich in dem Zusammenhang des Handelns Gottes und des Handelns des Menschen in den »inhaltlichen Entfaltungsschritten« der Kirchlichen Dogmatik widerspiegle. Jener »Handlungszusammenhang« bilde eine »Kontinuität […], die geeignet ist, die formale, abstrakte Konkurrenz von göttlichem und menschlichem Subjekt zu umgreifen und zu relativieren«,550 und die menschliche Subjektivität in die »Handlungswirklichkeit der göttlichen Liebe, Gnade, Versöhnung«551 zu führen. Die Gotteslehre ist insofern funktional auf das Dilemma der Ethik bezogen: Barth unternehme den Versuch, »die ›subjektive Ethik‹ dadurch als ›objektive Ethik‹ zu entwerfen, daß über die Bestreitung des menschlichen Subjektes als kompetentem Grund einer wirklichkeitsmächtigen Ethik Gott in die ›Rolle‹ des Subjektes eingesetzt wird«.552 Mit dieser Durchführung 545 Ebd. Vgl. ebd.: Barth reduziere die »Unterschiede und materialen Differenzen, die zu enzyklopädischen Distinktionen der Disziplinen veranlaßt haben, auf die eine Schlüsselfrage, wie nämlich das Subjekt des Handelns vor aller bestimmten Subjekthaftigkeit des handelnden und existierenden Menschen als des empirischen Menschen rein erfaßt werden kann«. 546 »In der Metapher des Rollentausches von Mensch und Gott liegt es denn wohl auch beschlossen, daß der Rücktausch der Rolle Gottes den Eintausch der Rollenmerkmale einschließt, die den Menschen eben als in sich selbständiges Wesen charakterisieren und bestreiten lassen.« (ebd.). 547 Ebd., 125. 548 Ebd. 549 Ebd., 126. 550 Ebd. 551 Ebd., 127. 552 Ebd.
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der Subjektivitätsproblematik im Zentrum der Gotteslehre werde »der Selbstbestimmung, Freiheit, eine objektive, allgemeingültige Fassung gegeben«.553 Das Thema der Subjektivität wird jenseits der am Ort des besonderen Subjekts unhintergehbaren Relativität und Bedingtheit554 thematisiert, ohne dass dabei der formale Gegensatz die »inhaltliche Beziehung«555 zu dem bedingt existierenden Subjekt unmöglich werden lasse. Damit dieser Anspruch eingelöst werden kann, bedürfe es jedoch der Anerkennung durch das bedingt existierende Subjekt. Es bleibe nämlich »diese Freiheit […] trotz ihrer theologischen Inhaltlichkeit so lange reine Sollenslehre, als die tatsächliche Lebenswirklichkeit des menschlichen Subjektes das nicht vollzieht, was hier gedacht wird«.556 Dies könne »nur so geschehen, daß sich der Mensch als Subjekt in seinem Handeln selbst in der Weise der objektiven Gültigkeit seiner Freiheit bestimmt. Das ist es, was das Werk des Menschen ist, das als ein eigenes Werk in voller Selbständigkeit die theologische Ermöglichung der Freiheit in seiner eigenen Wirklichkeit festmacht, objektiviert.«557 Genau dies ist die Herausforderung des inneren ethischen Sinnes der Kirchlichen Dogmatik, die ihre Entwicklung in der Lehre von der Taufe als Werk des Menschen, als »Objektivierung des Subjekts« kulminieren lässt. Die Tauflehre stellt folglich die Pointe des ethischen Sinnes der Dogmatik und keineswegs »eine eigentümliche Sonderlehre am Rande«558 dar. Die Taufe als Werk des Menschen559 ist erforderlich, weil hier die – am Anfang der Dogmatik aufgebaute und dann stetig präsente – Spannung zwischen der Subjektivität Gottes und der damit scheinbar konkurrierenden Eigentätigkeit des Menschen einer Lösung zugeführt werden soll: […] hier [sc. in der Tauflehre] wird ja die Ausgangslage, die in ihre göttliche (dogmatische) Objektivierung überführte freie Subjektivität für die christliche Lebensführung wieder eingeholt. Nicht verschiedene Ebenen des göttlichen Handelns werden in dem Verhältnis von Geisttaufe und Wassertaufe abgebildet und in Entsprechung gedacht. Es geht alleine um die Beziehung von göttlichem (allgemeinem) und menschlichem (besonderem) Subjekt.560 553
Ebd., 128. »Indem diese [sc. die Gotteslehre] die Subjektproblematik in sich aufnimmt, wird die formale Differenz überwunden und in eine inhaltliche Beziehung überführt. Damit wird die Differenz zwischen dem allgemeinen Anspruch der Autonomie und ihren historisch bedingten Welten und Folgen so freigesetzt, daß sich die Freiheit auch gegenüber ihren Welten und Bedingtheiten frei wissen kann.« (ebd.). 555 Vgl. ebd. 556 Ebd. 557 Ebd. 558 Ebd. 559 Vgl. die Anknüpfung an Jüngel (ebd., 129) im Blick auf Geist- und Wassertaufe bei Barth. 560 Ebd., 130. 554
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Diese Distinktion zwischen allgemeinem und besonderem Subjekt führt auf die Spur der Pointe der Rendtorffschen Deutung der Kirchlichen Dogmatik im Lichte der Tauflehre. Es handelt sich um einen Tausch der Rollen, d.h. die Gotteslehre gewinnt ihre Kontur in der Profilierung gegen ein selbständiges menschliches Subjekt.561 Die Kirchliche Dogmatik verdanke sich dem Problem der menschlichen Subjektivität gerade dort, wo von Gott – scheinbar im Jenseits des Menschen – gesprochen werde, insofern diese Entfaltung »Gottes« als allgemeiner Subjektivität im Dienste der menschlichen, besonderen, Subjektivität steht. Recht verstanden stellt die Tauflehre somit keine Wende in Barths Denken dar, sondern eine konsequente Folge: Der Gewinn einer Objektivierung des Subjektes aller Wirklichkeit muß darin eingebracht werden, daß diese Objektivierung sich als die Selbsttätigkeit des Menschen an sich selbst vollzieht, als seine eigene Tat, in der er sich zum Faktum wird. Das ist die radikale Konsequenz aus der Struktur der Barthschen Dogmatik selbst. Indem der Mensch als Christ sich in der empirischen Besonderheit seiner Lebensführung zum Thema macht, wird seine individuelle empirische Subjektheit mit ihren empirisch unabsehbaren besonderen Möglichkeiten auf die alle Subjektheit konstituierende Freiheit hin festgelegt und damit zu einer bestimmten gemacht.562
Damit wird die Tätigkeit (Handeln) des Menschen in ein Entsprechungsverhältnis zur Tätigkeit (Handeln) Gottes gebracht, welches sich »in« dem Menschen als Entsprechung zwischen »dem Menschen als Subjekt überhaupt« – dem »freien« Subjekt – und »dem empirischen Menschen im Vollzuge und in der Realität seiner Lebensgeschichte«563 abbildet – der eigentliche Fokus liegt daher auf dem Selbstverhältnis, welches sich im Rekurs auf Gott, das »allgemeine Subjekt«, auslegt. Folglich handelt es sich hier nicht um ein Unterdrückungsverhältnis, sondern im Gegenteil und aufs Ganze gesehen, [wird] gerade die begründete, weil nunmehr auch allgemein und objektiv zu fordernde Anerkennung des freien Subjektes ermöglicht. Diese muß dann aber durch die zur Tat werdende Realisierung dieses christlichen Subjektes ratifiziert werden, in der es sich zu dem macht, was es ist.564
Jedoch bleibe diese Konstruktion der Freiheit im Kontext eines Handlungszusammenhangs von allgemeinem und besonderem Subjekt defizitär. Die 561
Ebd., 129f. Der »ethische Sinn« »und damit die Dogmatik als Theo-Logie überhaupt, hat […] an dem entscheidenden Konstruktionsort, der Subjektproblematik, seine schärfsten Konturen von dem Subjekt des Menschen her empfangen, auf dem Wege der kritischen Destruktion seiner Selbstbestimmung. […] Die Kirchliche Dogmatik lebt […] überhaupt von einer hintergründigen Metaphorik eines Redens vom göttlichen Handeln, die bis in die Verästelungen der Einzelausführungen hinein jene zuerst im Rollentausch ausgesprochene Bezüglichkeit des göttlichen und des menschlichen Subjektes präsent hält.« 562 Ebd., 131f. 563 Ebd., 131. 564 Ebd., 132.
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binnendogmatische Konstruktion der Freiheit werde zunächst im Medium einer Gruppensemantik entworfen und erreiche damit nicht den erforderlichen Grad der Allgemeinheit. Die Dogmatik begründe vielmehr eine »religiöse Ethik«, was sich in ihrer sprachlichen Gestalt, in ihrem »predigtartigadhortative[m] Diskursstil«, deutlich widerspiegle. Hinzu trete sodann das Problem, dass die von Troeltsch in den Vordergrund gestellte Frage nach der »objektiven Ethik« bei Barth keine angemessene Behandlung erfahre. Wo es zur materialen Ausarbeitung objektiver Sittlichkeit komme, wiesen Barths Folgerungen »ein hohes Maß an Willkür«565 auf und würden gerade nicht theologisch begründet.566 Und dennoch gibt es einen bleibenden Ertrag der Theologie Barths in dieser Debatte, die letztlich im Medium der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik die Lösungspotentiale der Fokussierung auf subjektive oder objektive Ethik zum Thema hat. Diesen sieht Rendtorff bei Barth gegenüber Troeltsch in der Vorordnung der Subjektivitätsthematik, denn durch alle wissenschaftlich bestimmbare Objektivität von ethisch relevanten materialen Verhältnissen und Zwecken hindurch meldet sich immer wieder und dringlicher die Frage nach dem Subjekt solcher Realität; das ist es, was der Beschreibung und Analyse von Sachverhalten einen Sollenscharakter zu verleihen vermag. In dieser Richtung gibt es eine Tendenz zu immer wieder prinzipiellerer Frage, der sich auch eine material gedachte Ethik nicht entziehen kann.567
Dies in Erinnerung gerufen zu haben, sei der Wert »der dogmatischen Reduktion der Ethik auf die Frage der Beziehung Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott«.568 Obgleich sie letztlich aufgrund ihrer Schwäche hinsichtlich der objektiven Sittlichkeit nicht den Versuch Troeltschs überboten habe, weist sie die ethische Reflexion auf die Subjektivität hin – an dieser Stelle ist für Rendtorff die ungelöste Problemlage erneut aufzunehmen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Barths Unterordnung der Ethik unter die Dogmatik aus der »These von der radikalen Autonomie Gottes« entspringt, insofern diese ihrerseits als Lösungsversuch der von Troeltsch diagnostizierten Krise des ethischen Subjektes als Garant der Geltung und Beständigkeit von Normen zu verstehen ist. Damit nun auf der Grundlage der Subjektivitätsproblematik objektive Gültigkeit begründet werden kann, darf dem menschlichen Subjekt keine ethische Kompetenz zugeschrieben werden, die ihm selbständig neben Gott eignet. An diesem Punkt ist die 565
Ebd., 133. Folgerungen Barthscher Theologie im Blick auf die objektive Sittlichkeit »können nur in einer Anspruchshaltung vorgetragen werden, der die originäre theologische Ableitung fehlt, die vielmehr aus anderen Zusammenhängen des Wissens übernommen« werden (ebd.). 567 Ebd., 134. 568 Ebd. 566
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Abgrenzung dem selbständigen menschlichen Subjekt gegenüber der Kirchlichen Dogmatik dauerhaft inhärent. Dennoch bildet die Existenz des freien Menschen deren Ziel, und die Tauflehre ist nur dann angemessen zu verstehen, wenn sie als Lösung dieses Problems begriffen wird. Die Freiheit des Menschen erwächst aus theo-logischer Notwendigkeit. Rendtorffs eigenwillige Rekonstruktion der Barthschen Tauflehre lässt sich durchaus vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen verstehen, die die Barthsche Tauflehre im kirchlichen Kontext auslöste.569 Die Deutung dieser Passagen – insbesondere im Lichte ihrer praktischen Folgerungen – im Blick auf ihre exegetische Begründung, aber auch auf ihre Stellung im Gesamtkonzept der Kirchlichen Dogmatik wurde hier diskutiert.570 Rendtorff weist in diesem Kontext, wie Jüngel vor dem Hintergrund einer abweichenden Barthdeutung, darauf hin, dass die Tauflehre in der Konsequenz der vorangegangenen Gedankenbewegung der Kirchlichen Dogmatik steht.571 Im Blick auf die umstrittene Pointe der Ablehnung der Säuglingstaufe stellt Jüngel fest: Man soll sich auch darüber im klaren sein, daß man Barths Kirchliche Dogmatik in ihren vorangehenden Teilen nicht wohl mitvollziehen kann, wenn man sich um diese polemische Konsequenz drückt. Die Tauflehre ist auch in dieser negativen Spitze kein Appendix der Kirchlichen Dogmatik, sondern in gewisser Weise die Probe aufs Exempel.572
Auch Jüngel hebt hervor, dass der Mensch als Subjekt bereits in den Prolegomena der Kirchlichen Dogmatik in der Fluchtlinie der Gedankenbewegung stehe.573 Jedoch unterscheidet sich Jüngels Bestimmung des Grundes der Barthschen Tauflehre deutlich von dessen christentumstheoretischer Erfassung bei Rendtorff: »Es ist wahr: Barth geht es auch jetzt weder um eine ›Theologie vom Menschen her‹ noch um eine ›Theologie auf den Menschen hin‹. Es geht ihm um eine Theologie, der es um Gott selbst geht: aber um Gott selbst für den Menschen.«574 Die sachliche Notwendigkeit der Revision der Tauflehre ergibt sich in Jüngels Deutung aus Barths Versuch eines – exegetisch vermittelten – besseren Verstehens der neutestamentlichen Christusbotschaft. Dass eine solche immanente Geschichte der Reali569
S. die in dem Band Zu Karl Barths Lehre von der Taufe (1971) dokumentierte Diskussion. Zur exegetischen Auseinandersetzung s. etwa DINKLER, Die Taufaussagen des Neuen Testaments, 144–152 (»Kritik an der biblischen Begründung von Karl Barths Tauflehre«). 571 Vgl. JÜNGEL, Karl Barths Lehre von der Taufe. 572 Ebd., 286f. 573 So etwa ebd., 276 mit Verweis auf BARTH, KD I/1, 96f: »Ohne dem Menschlichen seine Freiheit, seine irdische Substanz, seine Menschlichkeit zu nehmen, ohne das menschliche Subjekt auszulöschen oder sein Handeln zu einem mechanischen Geschehen zu machen, ist dann Gott das Subjekt, von dem das menschliche Handeln seinen neuen, wahren Namen bekommen muß.« 574 JÜNGEL, Karl Barths Lehre von der Taufe, 288. 570
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sierung der Freiheit innerhalb des Barthschen Denkens dem entspricht, was im Horizont der Theorie des Christentums die Wirklichkeit insgesamt kennzeichnet, bildet die Pointe Rendtorffs, die auf den Begriff zu bringen sucht, wie die Probleme, die Troeltsch bewegten, von Barth konstruktiv aufgenommen wurden.
7.2 Die Kirche als dogmatische Form der Freiheit (1978) Der Kirchenbegriff der dialektischen Theologie bildete für Rendtorff ein entscheidendes Thema im Lichte der sozialtheologischen Problemlage der Nachkriegszeit. Diente der Kirchenbegriff in der Perspektive insbesondere seiner Habilitationsschrift der Konstruktion eines der geschichtlichen Wirklichkeit enthobenen Raumes, so ist auch an diesem Punkt nach dem konstruktiven Fortgang der Realisierung neuzeitlicher Freiheit in der Entfaltung des Themas der Kirche bis hinein in die Formel der Kirchlichen Dogmatik »Theologie ist eine Funktion der Kirche« zu fragen. Rendtorff folgt dem Ansatz seiner bisherigen Studien: »Der theologische Begriff der Kirche hat durch Karl Barth eine wichtige Funktion erhalten, um den Ort der christlichen Theologie in der Wirklichkeit der Welt zu bestimmen.«575 Hier zeigt sich bereits verdichtet die Barths Selbstverständnis entgegenlaufende Pointe seiner Deutung der Formel »Theologie als Funktion der Kirche«.576 Die Betonung liegt darauf, dass Barth die – theologisch als Ereignis der Verkündigung bestimmte – Kirche der Theologie voraussetzt, d.h. in Gestalt der Proklamation den Raum sprachlich in Szene setzt, dessen seine Theologie bedarf, nachdem sie sich der geschichtlichen Wirklichkeit von Kirche und Christentum entschlagen hat. »Inwiefern es bei der Bestimmung der Theologie als kirchlicher Wissenschaft gleichwohl um einen theologischen Begriff der Freiheit geht« und wie somit die Kontinuität der neuzeitlichen Christentumsgeschichte unter Einschluss der Theologie Barths gewahrt werden kann – dies wird von Rendtorff in historischer, systematischer Perspektive und »in Hinsicht auf die Wirklichkeit Gottes« entfaltet. Zunächst zeige sich in historischer Hinsicht im Vergleich zu den von Kant und Semler vorgenommenen Unterscheidungen zwischen »reinem Religionsglauben« und »Kirchenglauben« (Kant) bzw. zwischen »Privattheologie« und »öffentlicher Theologie« (Semler), dass Barths Neubestimmung der »Kirchlichkeit der Theologie« keineswegs die »Restauration
575 576
RENDTORFF, Die Kirche als dogmatische Form der Freiheit, 183. Vgl. BARTH, KD I/1, 1.
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einer vorkritischen Theologie«577 bedeute. Sowohl Kant als auch Semler relativierten auf verschiedene Weise die Geltung der kirchlichen Theologie als Gegenbegriff zu der von ihnen repräsentierten freien bzw. kritischen Theologie: Kant setze den reinen Religionsglauben als Ausleger des Kirchenglaubens ein. Zugleich jedoch komme dem historischen Kirchenglauben eine »Vehikelfunktion« von relativem Wert zu. Dies stelle eine prinzipielle neuzeitliche Problemkonstellation dar: In dieser Beziehung zwischen reinem Religionsglauben und Kirchenglauben gewinnt die Frage nach der Wahrheit der Religion ihr spezifisch neuzeitliches Profil. Denn in diesem gegenseitigen Fundierungsverhältnis liegen die Probleme beschlossen, die die neuere Geschichte der Theologie zutiefst bewegen.578
Die Erneuerung der Kirchlichkeit der Theologie durch Barth stehe nunmehr selbst unter der Bedingung dieser Problemkonstellation, da sie die Kirche nicht aufgrund einer »Definition ihrer äußeren historischen Voraussetzungen«579 zum Thema erhebe, sondern aufgrund der in der »Urgeschichte« ihrer Existenz vorgeordneten unbedingten Geltung durch die Rückführung auf das Subjekt der Wahrheit, d.h. »Gott«. Barths Theologie sei daher ein Versuch, zur Begründung der Wahrheit der Kirche das diese ihrerseits begründende Subjekt der Wahrheit zu konstruieren. Dies stelle eine Strukturparallele zur Kantschen Fassung des Problems dar: das Thema der Subjektivität – in unterschiedlicher Bestimmung – sei der Wahrheit der Kirche vorgeordnet. Semler hingegen bringe mit der Privatreligion und der korrespondierenden Privattheologie den freien Zugang zur Wahrheit des Glaubens zum Ausdruck, mit denen die öffentliche Religion und Theologie gleichsam koexistierten, da der subjektive Zugang nie als allgemein gesetzt werden könne.580 Im Vergleich dazu treten bei Barth an die Stelle der Bedingungen, denen die Wahrheit unterliegt, die Bedingungen, die die Wahrheit selbst, d.h. das »Wort Gottes«, setzt. Auch hier werde wiederum die Figur der Unterscheidung der »eigenen, selbständigen Theologie« (die Privattheologie) und der Kirchentheologie aufgegriffen, indem die Subjektivität Gottes als Bedingung der kirchlichen Verkündigung und Theologie vorausgesetzt werde: Insofern enthält die Barthsche Theologie nicht nur die Umkehrung der Semlerschen Formel, indem die »subjektivische Fassung« der individuellen Menschen zugunsten der öffentlichen dogmatischen Form der Theologie eingezogen wird; sie enthält auch
577
RENDTORFF, Die Kirche als dogmatische Form der Freiheit, 184. Ebd. 579 Ebd., 185. 580 »In Semlers Argumentation verliert die freie Theologie, die im Interesse des individuellen Subjekts aufgebaut wird, dann ihr Recht, wenn sie sich selbst als allgemeine Theologie zu setzen sucht, also aufhört, subjektiv zu sein.« (ebd., 185). 578
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deren Radikalisierung, wenn Gott selbst als das Subjekt der Theologie, der Predigt, der Verkündigung und der Wahrheitserkenntnis gedacht wird.581
Die Unterscheidung von »wissenschaftlicher« und »kirchlicher« Theologie bei Bernoulli werde in Barths Theologie eingezogen.582 Wissenschaftliche Theologie müsse immer schon von der Wahrheit herkommen, d.h. im Dienst kirchlicher Theologie stehen, in deren Zentrum das Subjekt radikaler Freiheit bei Barth konstruiert werde. Der historische Gedankengang endet mit dem Ergebnis, die Formel der »Theologie als Funktion der Kirche« bedeute »den Anspruch der besonderen Freiheit, die Befreiung von der Fremdherrschaft«,583 d.h. indem die begründende Subjektivität in das Zentrum der Theologie und Kirche versetzt sei, werde die »geltende Wahrheit […] die Norm für die zu erkennende Wahrheit«.584 Gleichwohl sei auf diesem Wege die Subjektivitätsthematik – als Ausgangspunkt auch der aufklärerischen Bestimmung des Kirchenbegriffs – in die Theologie selbst übergegangen. In einem zweiten, systematischen Gedankengang konturiert Rendtorff die Barthsche Formel gegenüber der scheinbar gleichlautenden Bestimmung Schleiermachers. Für Schleiermacher gelte: Nicht die Aktivität des freien wissenschaftlichen, reflektierenden und rekonstruierenden Subjektes ist die erste Instanz der Theologie, sondern die Tätigkeit des religiösen und frommen Bewußtseins selbst, wie es sich in einer Kirchengemeinschaft öffentlich darstellt.585
Auf den aktuell in Geltung stehenden Lehrbestand einer Kirchengemeinschaft ausgerichtet, sei die »Geschichtlichkeit der Theologie […] eine Funktion der Geschichtlichkeit der Kirche«.586 Demgegenüber zeige sich, dass Barths Theologie nicht auf die Vermittlungsgestalten, die empirische Kirche, bezogen ist, sondern auf den »Kontext, in dem die Kirche selbst steht: Gottes Handeln«.587 Damit werde die geschichtliche Existenz der Kirche funktional auf die Selbstbestimmung und -bekundung Gottes zurückgeführt, freilich in wachsender Klarheit von der Christlichen Dogmatik hin zur Kirchlichen Dogmatik:588 581
Ebd., 186. Zur Differenzierung s. ebd.: »Wissenschaftliche Theologie ist die wissenschaftliche Gestaltung des Verhältnisses zur Religion in ihren verschiedenen Ausdrucksformen. Kirchliche Theologie ist dagegen unmittelbare Darstellung dieses Verhältnisses selbst.« 583 Ebd., 187 mit Bezug auf BARTH, KD I/2, 136. 584 RENDTORFF, Die Kirche als dogmatische Form der Freiheit, 187. 585 Ebd. 586 Ebd. 587 Ebd., 188. 588 Rendtorff veranschaulicht diesen Weg im Blick auf das Zurücktreten des ›existentiellen‹ Ausgangspunktes, der in der Christlichen Dogmatik noch die Korrespondenz des Menschen Gott gegenüber zum Ausdruck bringt (ebd., 188f). »Nachdem so in den Entwicklungsschritten der 582
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
Ist schon die Begründung der Theologie in der spezifisch kirchlichen Form ein Akt der Selbstunterscheidung von innerweltlichen Abhängigkeiten, so wird diese Unterscheidung in der Bestimmung der Kirchlichkeit der Theologie selbst weiter vorangetrieben. Freiheit Gottes ist zuerst und vor allem die besondere, sich selbst bestimmende Freiheit Gottes, die auch autonom bleibt, wo sie sich kundtut, wo sie ihre Erkenntnis mit den Menschen teilt.589
Die Autonomie in der Vermittlung zum Menschen (und insgesamt zur geschichtlichen Wirklichkeit) – so formuliert Rendtorff in Aufnahme des Diskussionsstandes im Band Die Realisierung der Freiheit – werde durch die Christologie gewahrt: »Das Sein der Kirche ist Jesus Christus.«590 Der aktuale Begriff der Kirche als Ereignis, der aus der Autonomie und Selbstbestimmung Gottes folge, impliziere die Abgrenzung gegen das neuprotestantische wie gegen das römisch-katholische Kirchenverständnis. Keine Vermittlung mit dem »Selbstverständnis des Menschen« und dem »allgemeine[n] Wahrheitsbewußtsein« auf der einen und keine Kontinuität einer empirischgeschichtlichen Kirche auf der anderen Seite – dies sind die beiden Stoßrichtungen, die in der Formel »das Sein der Kirche ist Jesus Christus« impliziert sind.591 Hier wird daher die bereits innerhalb der Habilitationsschrift anhand der Gegenüberstellung von Schleiermacher im Gefolge Semlers und Barth bzw. der dialektischen Theologie entwickelte These vom Barthschen Ausbruch aus der neuprotestantischen Linie christentumstheoretischer Bemühungen wiederholt. An der Stelle, wo Schleiermacher die Kontinuität der Kirche zu ihrem Ursprung in der geschichtlichen Entwicklung der Kirchengemeinschaft sehe,592 versuche Barth »die innere Begründung der geltenden Wahrheit gegen deren vorfindliche Wirklichkeit stark zu machen«:593 »Kirchlichkeit der Theologie ist dann nicht eine Theologie im Dienste der Kirche, sondern eine Theologie, die die Kirche in den Dienst der Gotteslehre Christlichen Dogmatik der Theologe und die empirische Kirche eingezogen werden zugunsten der Selbstverkündigung Gottes und zugunsten der Selbstbestimmung Gottes, ist der Neuansatz der Kirchlichen Dogmatik konsequent daraus hervorgegangen.« (ebd., 189). 589 Ebd., 189. 590 BARTH, KD I/1, 9f. Vgl. RENDTORFF, Die Kirche als dogmatische Form der Freiheit, 189. Zum Verhältnis zu Bonhoeffers »Jesus Christus als Gemeinde existierend« s. ebd., 190f. 591 Die negative Bestimmtheit der Selbstbestimmung der Gottes durch diesen unauflöslichen Unterscheidungszwang betont Rendtorff auch hier. »Damit aber gewinnt auch die Abgrenzung der besonderen kirchlichen Form der Theologie eine eminent theologische Bedeutung. An der Abgrenzung der Kirche wird die Autonomie und Selbständigkeit Gottes festgemacht.« (ebd., 191). 592 »Schleiermacher war der Auffassung, daß die Kirche gerade als empirische Kirche auch die Realität und Kontinuität des Lebens Jesu sei. […] Schleiermacher lehrte, daß der Beginn des christlichen Glaubens selbst gleichsam ›supranatural‹ sei, dann aber natürlicherweise weitergehe, eben in dem realen Fortgang des Glaubens, in der Folge der Generationen der lebendigen Kirche.« (ebd.). 593 Ebd.
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stellt.«594 An die Stelle der Theorie des Christentums und der im Christentum realisierten (allgemeinen-individuellen) christlichen Freiheit trete nunmehr eine »Theorie der besonderen Freiheit Gottes gegenüber der Welt«.595 Die Christologie bilde die »Vermittlungsinstanz«, durch die »eine radikale theologische Deutung aller Wirklichkeit« ermöglicht werde: »Realisierung der Freiheit bedeutet darum in der Theologie Karl Barths, alle Wirklichkeit durchzuführen auf die sich selbst bestimmende Wirklichkeit Gottes.«596 Diese Funktionsbestimmung der Kirche, deren Schärfe durch den Vergleich zur neuprotestantischen Vorgeschichte deutlich wird, wirft nunmehr aber die innerhalb der Theorie des Christentums entscheidende Frage auf, wie die Theologie Barths dennoch als Theologie der empirischen Kirche von Bedeutung werden konnte. Der Weg, der zur kirchenpolitischen Wirksamkeit der Theologie Barths führte, gründe in dem Zusammentreffen seiner theo-logischen Konstruktion von Freiheit und einer bestimmten geschichtlichen Konstellation, des Kirchenkampfes. Obgleich Barth möglichen politischen Konsequenzen seiner Dogmatik gegenüber zurückhaltend gewesen sei, liege die »besondere Freiheit der Kirche« als »Platzhalter und Repräsentant der Freiheit Gottes«, als »Ort der Freiheit Gottes in der Welt und für die Welt«,597 in der Konsequenz seines Denkens. Dass die Kirche aufgrund dieser Bestimmung die Freiheit als eigene, ihrem in der Autonomie Gottes begründeten Wesen entsprechende, verstehen konnte, unterscheide Barths Kirchenverständnis von dem der deutschen Kirchenglieder und Kirchenleitenden, welche der im Jahre 1918 erlangten Freiheit der Kirchen befremdet gegenüberstanden.598 Diese hätten die Freiheit wesentlich als fremde wahrgenommen, da die Aufhebung der Verbindung zwischen Staat und Kirche von ihnen als Verlust empfunden worden sei. Die Freiheit als eigene verständlich gemacht zu haben, dies sei die »primäre und historische Leistung und Bedeutung«599 der Theologie Barths. Insofern sie sich aber nicht auf die geschichtliche Gestalt der Kirche richte,600 sondern auf
594
Ebd., 192. Ebd. 596 Ebd. 597 Ebd., 193. 598 »Das kirchliche Bewußtsein hat die Trennung von Kirche und Staat als eine Zurückweisung der Kirche aus der allgemeinen Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft empfunden. Es hat sie als einen Schritt zur Privatisierung der Kirche empfunden, der ihren Allgemeinheitsanspruch, wie sie ihn aufgrund ihrer Mission vertritt, im Kern zu treffen vermöchte. Die äußere Freiheit ist darum weithin als eine fremde Freiheit angesehen worden.« (ebd.). 599 Ebd., 194. 600 Vor diesem Hintergrund sei auch die Auseinandersetzung Barths mit Otto Dibelius verständlich, dessen Vision einer künftigen Beziehung zwischen Staat und Kirche von Barth scharf kritisiert wurde. Diese Vision leide an dem Mangel, nicht zeigen zu können, »inwieweit diese Selbständigkeit der Kirche auch die Darstellung und Realisierung der allgemeinen Freiheitswirk595
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die Kirche als »Sollen desjenigen Seins, dessen Subjekt sie nicht selbst ist, sondern Gott«,601 handle es sich folglich um einen ethischen Kirchenbegriff. Der Weg dieses Kirchenverständnisses mündet im Kontext der Zeitgeschichte in die Bekennende Kirche und damit in eine politische Bewegung, die der theologischen Bestimmung entspricht. Dass deren Opposition sich auf die Wahrung der Reinheit der Lehre beschränkt und »sich selbst jeder politischen Identifikation«602 enthalten habe, zeuge davon, dass es hier nicht – bzw. nicht primär – um die gesellschaftliche Situation gegangen sei. Es wurde also nicht um die – in der an Hegel orientierten christentumstheoretischen Erfassung von Freiheit ermöglichte – Wahrung der in der Gesellschaft je individuell zu realisierenden Freiheit (des Menschen) gerungen, sondern um die in Gestalt der Unterscheidungstätigkeit der Kirche darzustellende Freiheit Gottes, die den weltlichen Verwirklichungsformen von Freiheit prinzipiell übergeordnet sein müsse. Der Kirchenkampf in neuzeittheoretischer Perspektive stellt sich daher für Rendtorff als spezifische Form der Auseinandersetzung um die Realisierung der Freiheit dar. Versuchte das nationalsozialistische Regime der »besondere[n] Freiheit [!] eines parteilichen Willens« »das Allgemeine des Staates«603 zu unterwerfen und alle konkurrierenden Verwirklichungsformen der Freiheit auszuschalten, so stelle sich die Opposition der Bekennenden Kirche als Versuch der Behauptung der individuellen kirchlichen Freiheit gegen diesen Allgemeinheitsanspruch dar. Nationalsozialismus und Bekennende Kirche gerieten so in ein Konkurrenzverhältnis: »Diese Behauptung der besonderen, selbständigen Form der Freiheit ist genau die Form, die der politischen Realisierung von Freiheit im Nationalsozialismus entspricht und widerspricht.«604 Insofern könne diese Auseinandersetzung aber als Bewusstseinsfortschritt in der theoretischen Erfassung der Freiheit verstanden werden: Man kann die Auseinandersetzung zwischen Kirche und NS-Regime so verstehen, daß sich hier die Voraussetzungen dafür abbilden, daß Freiheit überhaupt nur pluralistisch, d.h. als je besondere individuelle Freiheit, wahrgenommen werden kann und daß die Theorie der Freiheit und ihre politisch-geschichtliche Institutionalisierung dem entsprechen muß.605
lichkeit Gottes ist« (ebd., 194). D.h. sie erfasse nicht Autonomie an sich, sondern »partikulare, eben religiöse oder kirchliche Freiheit« (ebd.). 601 Ebd. 602 Ebd., 195. Ebd.: »Die Formel ›Kirche muß Kirche bleiben‹ ist das Programm einer bewußt und konsequent unpolitischen Haltung.« Vgl. dazu auch RENDTORFF, Christentum zwischen Revolution und Restauration, 114ff. 603 RENDTORFF, Die Kirche als dogmatische Form der Freiheit, 196. 604 Ebd. 605 Ebd.
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Recht verstanden führte die Erfahrung des Kirchenkampfes daher zu einer notwendigen Individualisierung und Pluralisierung der Freiheit in ihren Verwirklichungsformen. Dem freilich folgte die Bekennende Kirche in weiten Teilen nicht, insofern sie sich bemüht zeigte, »ihre eigene, selbständige und besondere Freiheit zur allgemeinen Wirklichkeit zu machen«606 – und d.h. faktisch den Versuch des Nationalsozialismus mit anderen Mitteln fortführte, freilich in dem Interesse nie mehr »›nur‹ Kirche« bleiben zu wollen, d.h. ihrer politischen Verantwortung gerecht zu werden. Die häufig kritisierten Defizite der kirchlichen Opposition gegen den nationalsozialistischen Staat erweisen sich damit als Folge der eigentlichen genuin theologischen Beweggründe der Bekennenden Kirche. Man würde darin fehlgehen, dieser Analyse des Barthschen Kirchenbegriffs den Rang einer theologiehistorischen Untersuchung zuzuerkennen. Rendtorffs Thesen bleiben skizzenhaft und zeigen kein Bemühen, Barths Position innerhalb der Bekennenden Kirche – deren theologische und politische Zielrichtungen deutliche Differenzen aufzeigen – genauer zu bestimmen. Gerade Barth intendierte eine stärkere politische Konfrontation der Bekennenden Kirche, der Verzicht darauf ist weitgehend in der mangelnden Bereitschaft seitens der deutschen Theologen und in der Furcht, diese letzte exemplarische Institution der Freiheit dem Staat auszuliefern, begründet. Rendtorff zeigt das Bemühen, die Christentumstheorie als legitime Aufnahme der Konsequenzen des Kirchenkampfes zu erweisen, die gegenwärtige Sozialtheologie – mit dem Pathos des Kirchenkampfes auftretend – aber von diesem Erbe als dessen Missverständnis zu lösen, ebenso freilich aus der Traditionslinie der Theologie Barths. Deren Verbindung mit einem »Klerikalismus« führte in der Nachkriegszeit zu den bekannten Aporien. Rendtorffs konstruktiver Vorschlag zur Verarbeitung jener Aporetik richtet sich auf die Bestimmung der Kirche als Dienst an bzw. Repräsentanz der aller durch Handeln realisierbaren Freiheit immer schon vorausliegenden gegebenen Freiheit: »Die Religion als Kirche ist nicht selbst die Wirklichkeit des Politischen, sondern Beziehungspunkt für die Gestaltung der Freiheit, Maß und Grenze der Vernunft des Politischen.«607 D.h. die Kirche dient der Wahrung jener dem Individuum vorausliegenden Freiheit (wesentlich Religionsfreiheit), die bei Barth in reiner Form als Autonomie Gottes erfasst worden sei. Es gehe nicht um die Verwirklichung ihrer eigenen Freiheit, sondern um die, die am Ort des Individuums immer schon gegeben sei. Die Kirche diene nicht der Unterscheidung ihrer selbst vom Politischen, sondern sie verleihe einer »Selbstunterscheidung des Menschen« Ausdruck,608 d.h. der 606
Ebd. Ebd., 198. 608 Ebd., 197f. 607
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Kirchenbegriff erfüllt seine Funktion als Ausdruck eines Selbstverhältnisses des Menschen.
Zwischenüberlegung: Die Bedeutung der Kirche in der Theologie Barths Obgleich eine kritische Auseinandersetzung mit der Barthinterpretation Rendtorffs an anderer Stelle zu beginnen hat, nämlich dem vorausgesetzten und an Hegel inspirierten Verständnis von christlicher bzw. neuzeitlicher Freiheit sowie dessen systematischen Konsequenzen in der Theorie des Christentums, ist eine Zwischenüberlegung zu Rendtorffs Bestimmung der Bedeutung der Kirche im Denken Barths erforderlich. Es konnte gezeigt werden, dass die rein funktionale Verwendung des Kirchenbegriffs zur Bezeichnung des allererst zu schaffenden Entfaltungsraums der Theologie – die sich in der geschichtlichen Wirklichkeit nicht mehr ausweisen kann – sowie die fortwährende Hervorhebung der Barthschen Kritik an der bestehenden Kirche ihre Pointe darin haben, Barth als »Theoretiker des Christentums« seiner Wirkungsgeschichte im »verkirchlichten Barthianismus« gegenüber zu entfremden und dessen Rekurs auf Barth und insbesondere die Barmer Theologische Erklärung als Missverständnis auszuweisen. Mit der Bekenntnissynode von Barmen ergab sich vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte eine Konstellation, innerhalb derer eine der geschichtlichen Wirklichkeit prinzipiell gegenüberstehende Kirche Plausibilität beanspruchen konnte und die die folgenreiche Geschichte des Missverständnisses Barthscher Theologie in Gang setzte. Die Entscheidung der Barmer Synode ist daher zunächst im Lichte ihrer Wirkungsgeschichte zu beurteilen. Der eigentliche theologische Impetus des Barthschen Kirchenbegriffs sei verdeckt und in einer dessen Niveau nicht erreichenden Sozialtheologie auf Dauer gestellt worden. Im Horizont einer geschichtlichen Wirklichkeit, die nicht durch Verkirchlichung sondern christentumstheoretisches Begreifen zum adäquaten Gegenstand der Theologie wird, sind die Aporien für Rendtorff offensichtlich. Daneben schwingt aber zugleich eine vorsichtige historische Kritik mit. Der Widerstand der Kirche auf der Grundlage der Barmer Theologischen Erklärung war letztlich nicht an politischen Zielen ausgerichtet, sondern blieb – der späteren Selbstkritik zahlreicher Teilnehmer des Kirchenkampfes folgend – auf den Kampf um die Eigenständigkeit der Kirche beschränkt. Die Kirche, die sich im Gefolge der Hegelschen Philosophie609 als Teil der neuzeitlichen geschichtlichen Lebenswelt hätte wahrnehmen und gerade damit kritisch im Dienste der Freiheit an der Gesellschaft bzw. dem Staat mitwirken können, 609
Vgl. dazu RENDTORFF, Theorie des Christentums, 105–108.
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scheint daher auch rückblickend auf den Kirchenkampf die überlegene Alternative zu sein. Insofern Barth die Theologie als »Funktion der Kirche« bestimmt, d.h. dass in der Kirche der Grund der Theologie liegt, ist die Frage nach der Bedeutung der Kirche innerhalb seines Denkens aber auch für die zentrale Frage nach dem Verständnis der neuzeitlichen Freiheit von entscheidender Bedeutung. Denn sollte in der Tat die spezifische Umkehrung gelten, dass die Kirche eine Funktion der Theologie ist, so wäre der theologische Denkakt an den Beginn getreten, die Tätigkeit des Selbstbewusstseins der Kirche vorgeordnet. Die von Rendtorff herausgestellte Entwicklung des Kirchenbegriffs in der Theologie Barths hat einigen Anhalt an Barths Selbstwahrnehmung. In einer rückblickenden Einschätzung seiner theologischen Bestimmung der Kirche im Rahmen des Vortrags Die Menschlichkeit Gottes stellt Barth fest: Es gehört auch zu den Überspitzungen, derer wir uns um 1920 schuldig machten, daß wir die theologische Relevanz der Kirche nur in ihrem Charakter als negatives Gegenbild zu dem von uns damals so glücklich wiederentdeckten Reiche Gottes zu sehen vermochten, die Gestalt ihrer Lehre, ihres Gottesdienstes, ihrer rechtlichen Ordnung als »menschlich, allzu menschlich« nur eben »nicht so wichtig« nehmen wollten, allen ihnen zugewandten Ernst oder gar Eifer für überflüssig oder gar schädlich erklärten und bei dem allem der Theorie und Praxis eines geistlichen Freischärlertums und einer esoterischen Gnosis mindestens nahekamen.610
Zwei Gedanken scheinen ihm jedoch auch rückblickend für das Verständnis der Kirche unhintergehbar: Zunächst müsse angesichts des immer wieder auftretenden Klerikalismus die biblische Rede von »dem beim Hause Gottes anhebenden Gericht«611 gewahrt werden, sodann dürfe die »ebenfalls biblisch gesicherte Reihenfolge événement – institution«612 nicht umgekehrt werden. Vom Ereignis her sei aber, entgegen mancher früheren Äußerung, Kirchenkritik »nur dann sinnvoll und fruchtbar […], wenn es aus der Einsicht in […] die Heilsnotwendigkeit der Existenz und Funktion der Kirche stammt und in der Absicht des Dienstes an ihrer Sammlung, Auferbauung und Sendung« steht.613 Funktional wird die Kirche daher auch bei Barth verstanden, nämlich funktional dem Ereignis des Wortes Gottes, d.h. dem Versöhnungswerk Jesu Christi folgend und bleibend untergeordnet. Dass freilich dieses Zuordnungsverhältnis der Kirche angemessen ist – und nicht etwa funktional aus dem Interesse der Theologie herzuleiten ist –, hat für Barth seinen Grund in der Gewissheit des Christen hinsichtlich der die 610
BARTH, Die Menschlichkeit Gottes, 364. Ebd. 612 Ebd. 613 Ebd. 611
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Kirche gründenden Subjektivität Gottes: credo unam, sanctam, catholicam et apostolicam ecclesiam.614 Die Kirche, die in ihrer sichtbaren Gestalt nicht aufgeht, ist Gegenstand des Glaubens. Obgleich das »beim Hause Gottes anhebende Gericht« Barths frühe Ausführungen zur Kirche prägt, sind diese doch dadurch gekennzeichnet, dass das Wesen der Kirche diese theologische Kritik, dieses Wächteramt an den Wächtern, im Dienste ihrer Botschaft erfordert. Die Kirche in ihrer geschichtlich-soziologischen Gestalt stellt sich dieser Kritik als »Sünderkirche« dar.615 Dieses Urteil könne man jedoch nur in tiefer Solidarität zugleich als Gericht über den Menschen als solchen anerkennen,616 es sei nötig, daß man die Kirchenfrage nicht als Zuschauer sieht, sondern mit voller persönlicher Verantwortung sie auf sich selber genommen hat, daß man ganz bestimmt weiß: das alles, was da ins Gericht kommt […] – das alles ist nicht nur der Pfarrer oder ein Anderer, der es augenfällig so treibt, […] das ist der Mensch überhaupt, der in der Menschenkirche nur seinen merkwürdigen Ausbruch sich leistet, der Mensch in seinem verkehrten, prahlerischen, prometheischen Verhältnis zu Gott, das bin ich.617
Gleichwohl hält Barth bereits im Jahr 1923 daran fest, dass »die Sünderkirche (die Kirche, die als freier Verein betrachtet ein Chor von Verführern und Verführten ist), – daß eben diese Kirche die wahre christliche Kirche ist«,618 da sie durch die Taufe, durch Gottes Handeln, konstituiert werde. Als solche sei sie freilich in der Gegenwart die »verlorene« und »erst wieder zu entdeckende Kirche«.619 Barth hebt noch im selben Jahr Paul Tillich gegenüber hervor, »auch die Kirche, ich meine die ›eine heilige allgemeine Kirche‹, aber in abgestuftem Grade auch die Partikularkirche, der wir angehören, ist die Voraussetzung der Theologie«.620 Inwiefern sie dies ist, wird in der Folgezeit durch ihren Predigtauftrag bestimmt. Beispielhaft dafür ist Barths Vortrag Menschenwort und Gotteswort in der christlichen Predigt: 614
Vgl. ebd., 366. BARTH, Die Kirche und die Offenbarung, 340. 616 Vgl. Barths unveröffentlichten Vortrag Die Kirche und die Offenbarung aus dem Jahr 1923, in dem festgestellt wird: »[…] mit dieser Kirche sind wir alle, wie wir auch leben mögen, solidarisch; denn wir haben sie so gewollt und geglaubt, wir sind diese Kirche und werden sie in bestimmtem Sinn immer wieder sein –, diese Kirche kommt ins Gericht, wenn die Frage nach der religiösen Gemeinsamkeit und die Frage nach dem religiösen Besitz wirklich akut wird. Und aus diesem Gericht kommt sie nicht wieder heraus und soll es auch nicht.« (BARTH, Die Kirche und die Offenbarung, 334). 617 Ebd., 335. 618 Ebd., 340. 619 Ebd., 346. 620 BARTH, Von der Paradoxie, 375. Die »unauflösliche Korrelation des theologischen Wahrheitsbegriffs mit den Begriffen Kirche, Kanon, heiliger Geist« (ebd.) wird gerade als Proprium der »dialektischen Theologie« herausgestellt. Die Unabgeschlossenheit der bisherigen Position gesteht Barth freilich ein: »Wieviel ich selber noch zu lernen habe nicht nur in dieser, aber auch in dieser Hinsicht, das ist mir nicht zweifelhaft.« 615
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Gott spricht: spricht sein ewiges Wort in Jesus Christus, spricht sein Wort für alle Zeiten im Zeugnis der Propheten und Apostel, spricht sein Wort für den Augenblick, und hier soll die Kirche mit ihrem Predigtamt dienend dabeisein. Das ist die Voraussetzung, von der wir herkommen […].621
Der Sache nach ist hier die spätere Lehre von den drei Gestalten des Wortes Gottes vorgezeichnet. Die Dogmatik ist demnach dieser Kirche selbst funktional nachgeordnet: »Sie ist die Arbeit der Selbstbesinnung der Kirche auf das, was sie, um wirklich diese, die christliche Kirche zu sein, in ihrer Verkündigung vertreten soll.«622 Sie erfüllt ein »Wächteramt« in der Kirche, sofern sie diese an ihren Auftrag erinnert. Diese in Barths Denken konstante theologische Bestimmung der Kirche zielt nicht an deren geschichtlicher Wirklichkeit vorbei, sie ringt innerhalb der Kirche um deren Selbstverständnis. Gerade darin aber erfüllt sie einen Auftrag, den die Kirche selbst ihr verliehen hat. Dass nun eine solche theologische Bestimmung der Kirche vom Predigtgeschehen ausgehend dem reformatorischen Kirchenverständnis entspricht, nimmt Rendtorff freilich nicht in den Blick. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass Rendtorff die Unterscheidung der Kirche nach Wesen und Erscheinung prinzipiell für unzugänglich hält, eine normative Bestimmung ihres Auftrags in der Hinwendung zur biblischen Überlieferung bzw. zum Bekenntnis und reformatorischen Erbe vor dem Hintergrund der neuzeitlichen, historisch-kritischen Emanzipation systematisch ausschließt. Insofern setzt die Interpretation des Barthschen Kirchenbegriffs voraus, dass das »Wesen der Kirche« seinerseits eine Chiffre für ein eigentliches Interesse ist, keinesfalls aber eine sachlich notwendige Auslegung dessen, was die Kirche im Lichte des Christusgeschehens ist. Insofern ist Rudolf Weths Urteil beizupflichten: »Eine eigentliche Ekklesiologie ist naturgemäß von der Christentumstheorie nicht zu erwarten.«623
621
BARTH, Menschenwort und Gotteswort, 441. BARTH, Das Schriftprinzip, 503. »Das ist, eine lebendige, ihres Wesens und ihrer Verantwortung bewußte Kirche vorausgesetzt, eine wissenschaftliche, d.h. eine sachgemäß zu verrichtende geistige Arbeit, entsprechend, wenn auch an entscheidender Stelle unvergleichbar, der Arbeit, die die Juristen in bezug auf Staat und Recht zu leisten haben.« (ebd.). 623 WETH, Theologische Ekklesiologie nach 1945, 204. Weth stellt weiterhin fest: »Rendtorffs Christentumstheorie ist unter allen ekklesiologischen Theorien nach 1945 wohl diejenige, die sich von Barmen und seiner Definition der Kirche als ›Gemeinde von Brüdern‹ am weitesten entfernt – nicht etwa schon allein darum, weil sie für die Volkskirche optiert, sondern weil sie diese – ihrer bereits statthabenden Auflösung Rechnung tragend – in eine Art Gesellschaftskirche überführen möchte.« (ebd., 206). 622
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7.3 Der Freiheitsbegriff als Ortsbestimmung neuzeitlicher Theologie (1986) Das Thema der Freiheit, so wird die Entstehungssituation der Theologie Barths in dem 1986 erschienenen Aufsatz Der Freiheitsbegriff als Ortsbestimmung neuzeitlicher Theologie von Rendtorff pointiert in Erinnerung gerufen, erfordere genau dann eine konsequente theologische Neubesinnung, wenn die Übereinstimmung von aufklärerischem Freiheitsverständnis und einem aus christlich-reformatorischer Perspektive entwickelten Freiheitsverständnis fraglich werde – in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts sei dieser Bruch wiederum mit dem Namen Ernst Troeltsch verbunden. Für den Versuch, Freiheit im Zentrum der Theologie von Neuem zu rekonstruieren, stelle die Theologie Barths einen beispielhaften Theorieentwurf dar. Die These der folgenden theologiegeschichtlichen Rekonstruktion lautet, dass mit Barths Urteil über die Theologiegeschichte der Neuzeit sein Verhältnis zur Neuzeit und deren Denkweise keinesfalls hinreichend bestimmt ist.624 Vielmehr erweise sich, dass »die Kirchliche Dogmatik Karl Barths eine implizite und teilweise auch explizite theologische Theorie realer Freiheit in der besonderen Denkform der Dogmatik entwickelt, die auf Kompatibilität mit dem Anspruch des neuzeitlichen Freiheitsverständnisses abzielt«.625 Der erste Aspekt dieser Neuzeitlichkeit der Theologie Barths sei in der theologischen Ratifizierung der neuzeitlichen Religionskritik zu sehen. Deren Argument, der Grund der Religion liege in der menschlichen Subjektivität, werde von Barth auf der Grundlage der exklusiven Selbstoffenbarung Gottes in allen Konsequenzen positiv aufgenommen.626 Im Vollzug der Kirchlichen Dogmatik werde sodann mit Hilfe der »Kategorie der Entsprechung« ein »theoretische[r] Bewegungs- und Entfaltungsraum geschaffen […], der ihren eigenen Grundannahmen ›entspricht‹«.627 Als Hinweis darauf wird Barths Verständnis der Dogmatik als »Vollzug« gewertet, »in dem sich das erkennende und glaubende (theologische, christliche, menschliche) Subjekt selbst dieser Subjektivität Gottes unterstellt«.628 So realisiere sich 624
Vgl. RENDTORFF, Der Freiheitsbegriff als Ortsbestimmung neuzeitlicher Theologie, 148: »Die Theologie Karl Barths hat sich ganz entschieden in diesen Kontext eingebracht, für den Freiheit Programm und Autorität ist und war. Sie hat Freiheit als die unbedingte Souveränität Gottes, als reine Selbstbestimmung Gottes, zur Mitte ihrer dogmatischen Lehre gemacht. Weniger deutlich ist, in welchem Sinne Barths antithetisch zur neueren protestantischen Theologie konzipierte Dogmatik sich zu den theoretischen Prämissen neuzeitlichen Denkens überhaupt verhält.« 625 Ebd. 626 Rendtorff rekurriert hier (ebd., 148f) auf Barths Feuerbach-Rezeption. 627 Ebd., 149f. 628 Ebd., 150. »Indem der ›Mensch‹, der einstige alte ›Störenfried‹, in diese Lehre integriert wird, genauer: sich am Vollzug dieser Integration durch die theologische Denkbewegung beteiligt, soll er sich in diesem Vollzug aufgehoben wissen in die Wirklichkeit der Freiheit, die unaufhebbar
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die »Inhaltlichkeit christlicher Theologie […] über ihre subjektive Besonderheit, ihren Vollzug«.629 Damit einher gehe die strikte Ablehnung jeder Objektivierung dieses Vollzugs, d.h. dessen religionsphilosophische bzw. religionstheoretische Begründung im Horizont eines vorausgesetzten »Allgemeinen«. Damit ist aber eine Gegenposition der neuzeitlichen Religionskritik gegenüber bezogen: zielt letztere auf »den Nachweis der – bloßen! – Subjekthaftigkeit der Religion«,630 so setzt die Theologie Barths dagegen den faktischen Vollzug der Dogmatik als sich konstituierender Freiheit,631 in dem die Beziehung zu dem in Selbstvollzug gedachten Subjekt »Gott in Christus«632 zum Ausdruck komme: »[…] das Allgemeine von theologischer Wirklichkeitserkenntnis – Gottes Selbstbestimmung und Freiheit – ist nur durch und über seinen besonderen, spezifischen menschlichen Vollzug bestimmbar«.633 Die Konsequenz, in der dieser Versuch durchgeführt werde, zeige sich in der sprachlichen Gestalt der Kirchlichen Dogmatik, insofern diese im Stile »religiöser Rede«634 dem Vollzugscharakter entspreche und so als »Entfaltung und Auslegung« jener Beziehung zu verstehen sei, »in der die Freiheit [sc. des Tätigkeitsvollzugs in seiner Besonderheit] um sich selbst weiß als eine gegebene«.635 Recht verstanden erreiche die Kirchliche Dogmatik dann aber »eine neue Stufe im historisch-systematischen Bewußtsein«.636 Finde die Religion ihren Grund in sich selbst, so stelle die Neuzeit in ihrer aufklärerischen Fassung für sie keine Gefährdung mehr dar.637 Vielmehr habe die Kritik als Selbstkritik ihren Ort innerhalb von Religion und Theologie gefunden.638 Damit sei die Religion nunmehr dem Streit um die Dominanz anderer Wirklichkeitswahrnehmungen enthoben. Gegen eine missverstesubjekthafte Wirklichkeit ist. Der subjektiv bestimmte und bewußt gemachte Vollzug der theologischen Rede ist insofern selbst Teil der Darstellung dessen, was er darstellt.« (ebd., 151). 629 Ebd., 151. 630 Ebd. 631 Der ›anfängliche Charakter‹ der Kirchlichen Dogmatik erklärt sich gerade vor diesem Hintergrund als dem Vollzug der Dogmatik entsprechend (ebd., 151f): »Dieser, in sich theologisch höchst reflektierte Vollzug bringt sich so gegenüber der Zumutung einer zuvor ausgewiesenen theoretischen oder praktischen Allgemeinheit in seiner Faktizität zur Geltung: das ist eine Weise der Realisierung der Freiheit, nämlich als sich konstituierende Unabhängigkeit.« (ebd., 152). 632 Ebd., 151. 633 Ebd. 634 Vgl. ebd., 152. 635 Ebd. 636 Ebd., 153. 637 »›Religion nach der Aufklärung‹ kann sich […] nicht durch ihren polemischen Bezug auf die Neuzeit, auf die allgemeine Autonomietendenz der Epoche, als Gegenbewegung oder Bewahrungsinstanz legitimieren. Sie ist nicht wirklich bedroht.« (ebd.). 638 Dies während zugleich die Religionskritik als Wahrnehmung von außen zurückgetreten ist: »[…] faktisch ist die Religionskritik kein primäres Thema der Selbstauslegung der Epoche mehr« (ebd.).
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hende Barthinterpretation sei zudem festzuhalten, dass die »empirische gestaltete Religion« als »Ort für die Wahrnehmung und Gestaltung der Freiheit«639 gerade nicht aufgehoben werden solle, sondern legitimer Ausdruck jener Freiheit sei. Die Religion als Ausdruck von Freiheit biete der Religionskritik die Stirn: Theorie realer Freiheit […], das bedeutet insofern auch die Auslegung der Unfähigkeit der Religionskritik, die bestimmte Religion faktisch, empirisch aufzuheben, so sehr sie es auch historisch vermocht haben mag, sie aus allgemeinen Theorien der Wirklichkeitserklärung zu verdrängen.640
In diesem Zusammenhang freilich gewinnt Barths Rückführung der Freiheit auf Gott einen unübersehbar funktionalen Charakter im Blick auf die Selbstauslegung des religiösen Bewusstseins: Die »unaufhebbare Subjektivität Gottes« hat in dieser Hinsicht dann den zumindest kritischen, wenn nicht gar polemischen Sinn, stellvertretend, in theologischer Entsprechung öffentliches Zeugnis abzulegen von der Unaufhebbarkeit ebenfalls öffentlich anzuerkennender und zu verantwortender individueller Freiheit als Grenze jeder Verfügung des Menschen über seine eigene Wirklichkeit.641
In dieser Auslegung bewegt sich der Gottesbegriff Barths auf der Ebene der von Rendtorff skizzierten Möglichkeiten seiner produktiven Verwendungen. Als zweiter Aspekt stelle sich aber hinsichtlich der Theologie Barths die Frage nach »der Geltung ihrer Grundannahmen ›extra muros‹«,642 d.h. der Relevanz der Theologie. Traditionell werde der Bestand des allgemein Gültigen ohne die notwendige Voraussetzung von Offenbarungswissen als »Gesetz« ausgelegt.643 Mit seiner Neuordnung der klassischen Formel in »Evangelium und Gesetz« habe Barth diese Möglichkeit bestritten und »zu denken gefordert, daß es keine andere Quelle der Wirklichkeitserkenntnis gebe als die des Evangeliums«.644 Der Eindruck, dass dies augenscheinlich »die Folge eines logischen Zwanges […], der von einem exklusiven Offenbarungsprinzip ausgeht«,645 sei, treffe Barth jedoch nicht. Er verleihe vielmehr der spezifisch modernen Einsicht Ausdruck, dass »Wirklichkeit immer schon subjekthaft vermittelte und konstituierte Wirklichkeit sei«, also auch jede Autorität, die als Gesetz auftrete, dieser Bedingung unterliege.646 Seine Theologie trage daher an dieser Stelle »einen implizit ideologiekritischen Charakter, in 639
Ebd. Ebd., 154. 641 Ebd. 642 Ebd. 643 Ebd., 155. 644 Ebd. 645 Ebd. 646 Ebd., 156. 640
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dem die Annahme eines gleichsam subjektneutralen Gesetzes hinterfragt wird«.647 Fraglich werde sodann aber, wie das Subjekt der Offenbarung seinerseits davor gewahrt bleibe, als ein bestimmtes historisches Subjekt identifiziert zu werden: »Wie kann Freiheit, die in Gott selbst gründet, so Autorität sein, daß sie auch in ihrer theologischen Vermitteltheit dem Menschen noch selbständig gegenübertritt?«648 Barths Reaktion auf den möglichen Vorwurf, die Dogmatik könne zum Schrittmacher des Totalitarismus werden, liege in der »Lichterlehre« der Kirchlichen Dogmatik vor. Neben die besondere Offenbarung trete hier die in der »Selbstüberbietung Jesu Christi« begründete allgemeine Offenbarung, d.h. jene sich nicht in empirisch-historischen Identifikationen erschöpfende »Subjekthaftigkeit der Offenbarungswirklichkeit«.649 Hier reagiere Barth auf das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis in seiner subjektphilosophischen Fassung, indem die »dogmatische Ausarbeitung einer theologischen Relativität aller Wirklichkeit« dahin führe, »die letztgültige Subjekthaftigkeit aller Wirklichkeit noch einmal im Unterschied zu der eigenen historischen christlichen Subjektivität zu denken«.650 Barths neuzeitliche Theologie zeichne aus, dass sie keine Alternative zum Weltwissen bereitstellen wolle.651 Als dritter Aspekt wird das christentumstheoretische Potential der Kirchlichen Dogmatik anhand der Leitfrage bestimmt, »in welcher Richtung Karl Barth in der Kirchlichen Dogmatik sein nach außen gerichtetes kritischpolemisches Urteil über die Neuzeit nach innen, in seinem eigenen theologischen Argumentationsgang, verändert und neu gefaßt hat«.652 So beginne Barth in seiner Lehre vom Munus propheticum das Nachdenken über den konstruktiven Zusammenhang zwischen der Geschichte der Offenbarung und der Neuzeit. Es gehe darum, »daß und wie der theologische Begriff der Christentumsgeschichte im Zusammenhang der Dogmatik als Auslegung des Begriffs der Freiheit entwickelt wird«653 – gegenüber früheren Urteilen schreite Barth hier zur »Qualifikation der Christentumsgeschichte als der ›christlichen Ära‹, der Zeit ›post Christum‹ als Zeit der christlichen Freiheit«654 fort: »Barths These ist es, daß die Zeit post Christum nicht nur möglicherweise, sondern in jedem Falle die Zeit der Freiheit sei.«655 Die »Lüge« 647
Ebd. Ebd. 649 Ebd., 158. 650 Ebd., 159. 651 Ebd., 161: »Daß hier, auf der Ebene des Weltwissens, keine Wissenskonkurrenz besteht, das ist zugleich der Stand der Debatte ›nach der Aufklärung‹ und in ihrem historischen Kontext.« 652 Ebd., 162. Mit Bezug auf BARTH, KD IV/3, 18ff. 653 RENDTORFF, Der Freiheitsbegriff als Ortsbestimmung neuzeitlicher Theologie, 162. 654 Ebd., 163. 655 Ebd. »Die ›christliche Ära‹ gilt Barth als die ausdrückliche und unausweichliche Zeit des Christentums, des christlichen Zeugnisses und Lebens, in der einen Qualifikation: ›Es geht um die 648
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– als dritter Aspekt der menschlichen Sünde post Christum656 – des Menschen bestehe darin, »sich eben diesem historischen Anspruch der Freiheit« zu versagen, liege doch »Freiheit als Selbstbestimmung des Menschen […] im ureigensten Interesse Gottes selbst«.657 »Lüge« – so bestimmt Rendtorff – »ist Verweigerung gegenüber der Freiheit, wie sie im empirischen Kontext der christlichen Geschichte präsent ist, an dem Ort also, wo das Wissen um diese Freiheit und ihre Wirklichkeit ›unmittelbar‹ gegenwärtig ist.«658 Spätestens dann, wenn die Konsequenzen für die Theologie aus diesem Verständnis der Freiheit gezogen werden, ist die Linie überschritten, von der an mit ›Barth‹ gegen Barth argumentiert wird: Die Theologie als Lehre von der Offenbarung muß sich also als Theorie der christlichen Ära begreifen, die selbst ihren Ort in der Zeit der Freiheit hat und darum in Form und Inhalt nicht über oder jenseits dieser Geschichte steht.659
An diesem Punkt klingen die sozialtheologischen Interessen deutlich an: Wer erst eine andere Zeitgeschichte haben möchte, die der Realisierung christlicher Freiheit würdig sei, befindet sich bereits im Umkreis dieser Lüge der Verweigerung. […] Es könnte ja sein, daß die Theologie gerade dort, wo sie sich besonders zur Kritik der neuzeitlichen Christentumsgeschichte berufen fühlt, nichts anderes ist als Antikritik der Aufklärung, deren Spiegelbild, und also gerade noch nicht zu der Freiheit der christlichen Ära befreit ist.660
Da die Theologie sich des Themas der Freiheit gerade in der Neuzeit anzunehmen hat, obliegt ihr eine besondere Verantwortung. Indem sie die besondere Freiheit in der Subjektivität Gottes auslegt, steht sie im Dienste der Freiheit als Wirklichkeit – darin könne ihr Barths Kirchliche Dogmatik den Weg weisen, den sie freilich auf ihre eigenständige Weise zu gehen hat: Die Kirchliche Dogmatik Barths denkt von der Realität der Freiheit Gottes her, die sich in der Offenbarung Jesu Christi dem Menschen mitteilt. Ihre theoretische Gestalt aber ist bestimmt von Offenheit und Unabgeschlossenheit der Realisierung der Freiheit am Ort des Menschen und seiner Lebenswirklichkeit. Die hier obwaltende Differenz hat den neuzeitlichen Prozeß der Aufklärung in Gang gesetzt. Dieser Differenz waren die Anfänge der Barthschen Theologie verpflichtet, in Umkehrung der Dialektik: Der Gottesbegriff sollte diese Differenz radikaler und konsequenter bestimmen, Freiheit‹ [zit. KD IV/3,1, 514] – aber nicht als Sollen, als Postulat, sondern Freiheit als Bedingung, zu der es post Christum keine Alternative gibt. Die Selbstanwendung dieser historischen wie theologischen Konstituiertheit der christlichen Zeit auf das Leben in dieser Zeit ist es, was das christliche Zeitbewußtsein theologisch zu bestimmen hat.« (ebd.). 656 Vgl. Barths Bestimmung der Sünde als »Hochmut« (KD IV/1), »Trägheit« (KD IV/2) und »Lüge« (KD IV/3). 657 RENDTORFF, Der Freiheitsbegriff als Ortsbestimmung neuzeitlicher Theologie, 163. 658 Ebd., 164. Bezug auf KD IV/3.1, 519. 659 RENDTORFF, Der Freiheitsbegriff als Ortsbestimmung neuzeitlicher Theologie, 164. 660 Ebd., 164f.
Barth als Vorstufe der Theorie des Christentums
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als es das Selbstbewußtsein des Menschen zu tun vermochte. Die Kirchliche Dogmatik bietet die Offenbarungswirklichkeit an gleichsam als religiöses Apriori [!] für jede Theorie der Freiheit, d.h., sie entzieht die Wirklichkeit der Freiheit dem historischen Relativismus ihrer Realisierungsgeschichte.661
Im Anklang an Jürgen Habermas halte Barth auf dogmatische Weise die Differenz zwischen »Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit« in der Moderne offen. Die Richtung der Kirchlichen Dogmatik tritt für Rendtorff damit deutlich hervor: Die Kirchliche Dogmatik Karl Barths vollzieht als Begründungszusammenhang christlichen Freiheitsbewußtseins eine Bewegung von dogmatischer Abgrenzung zu theologischer Entgrenzung des Freiheitsbewußtseins. Die Richtung dieser Entgrenzung zielt auf die Menschlichkeit des Menschen hin, in der die Selbstoffenbarung Gottes ihre Entsprechung findet.662
Dieser Text, in einer Festschrift für Jürgen Moltmann erschienen, wird durchaus als ein augenzwinkernder Widerspruch dem Geehrten gegenüber zu verstehen sein. Dieser deutet die Geschichte als eine fortzuschreibende »Revolutionsgeschichte der Freiheit«,663 in der es letztlich im Anschluss an Karl Marx um Gestaltung der Wirklichkeit im Horizont der eschatologischen Erwartung geht: Wahres Zukunftsbewußtsein der Freiheit ist lebendig im »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen« ist [zit. Marx], und in der Gewißheit, daß bei solchem Umwerfen die erhoffte Freiheit uns nachsichtig entgegenkommt und wir Erlösung von den unfreien Verhältnissen finden, unter denen wir hier Freiheit zu realisieren versuchen. Freiheit liegt in der Aufhebung von Armut und Mühsal. Freiheit liegt in der Aufhebung von Erniedrigung und Beleidigung. Freiheit liegt in der Überwindung des Todes und der Todesangst.664
Dieser Forderung nach Verwirklichung von Freiheit gegenüber lenkt Rendtorff stärker den Blick auf die bereits verwirklichte Freiheit665 in der Neu661
Ebd., 165f. Ebd., 166. Als Ziel der KD zitiert Rendtorff (ebd., 149) KD I/2, 400: »Wir sagten an früherer Stelle: eben in seiner Selbstbestimmung, ohne die er nicht der Mensch wäre, wird der Mensch – und darin besteht die Schneidung seines Lebenskreises durch den in sich geschlossenen Kreis der Offenbarung – Gegenstand der göttlichen Vorherbestimmung. Die Gnade der Offenbarung ist nicht bedingt durch seine Humanität, aber eben seine Humanität ist es, die durch die Gnade der Offenbarung bedingt wird. Gottes Freiheit konkurriert nicht mit der menschlichen Freiheit; aber wie sollte sie die Freiheit der dem Menschen zugewandten göttlichen Barmherzigkeit sein, wenn sie die menschliche Freiheit unterdrückte und auslöschte? Daß Gott seine Freiheit betätigt und bewährt gerade an dem freien Menschen, das ist die Gnade der Offenbarung.« 663 MOLTMANN, Die Revolution der Freiheit, 207. 664 Ebd., 211. 665 Allerdings wird deutlich, dass im Bezug auf das Verständnis der Freiheit von Rendtorff und Moltmann durchaus eigene Schwerpunkte gesetzt werden. Rendtorff richtet sich stärker auf die 662
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
zeit, nimmt also der Struktur nach eine an Barths Zuordnung von Evangelium und Gesetz inspirierte Verhältnisbestimmung von Sein und Sollen der Freiheit vor.
8. Forderungen an die Barthforschung – Karl Barth und die Neuzeit (1986) Eine pointierte Zusammenfassung derjenigen Problemstellungen, die die auf dem bisherigen Stand kaum zum Abschluss gekommene Barthdeutung künftig aufzunehmen habe, bietet Rendtorffs im Jahre 1986 erschienener Aufsatz Karl Barth und die Neuzeit. Neben den grundlegenden Voraussetzungen seines Interpretationsansatzes wird an dieser Stelle auch nochmals die kritische Pointe der bisherigen Barthdeutung gegenüber deutlich. Bereits der Titel Karl Barth und die Neuzeit verweist auf die grundlegende Problemkonstellation neuzeitlicher Theologie, da vorauszusetzen sei, dass jeder theologische Entwurf des 20. Jahrhunderts wesentlich durch seine Haltung zur Neuzeit bestimmt sei:666 »Die Kontroverse über die Haltung der Theologie zur Neuzeit reflektiert sich in allen wesentlichen methodischen und inhaltlichen Fragen, welche die Theologie bewegen.«667 Innerhalb der neuzeitlichen Theologiegeschichte komme Karl Barth unter denen, die der Neuzeit eine Absage erteilten, eine Sonderstellung zu. Er habe sich »als der konsequenteste, vielleicht als der einzig konsequente Theologe dieser ›Absage an die Neuzeit‹ allgemein eingeprägt«.668 Der konsequenten Kritik jeder – augenscheinlich nur äußeren – Verbindung der Theologie mit der Neuzeit korrespondiere bei Barth der Aufbau »eine[r] theologische[n] ›Gegenkontinuität‹ zur Neuzeit […], der innere Konsequenz schwerlich bestritten werden«669 könne. Forderungen an die Barthforschung Dass sich Barth gerade in dieser Absage als neuzeitlicher Theologe erweise, findet Rendtorff in der neueren Barthdeutung bestätigt. Er rekurriert zustimmend auf die Ergebnisse neuerer Studien von Dietrich Korsch und Hartmut Ruddies, die die Verwurzelung Barths in der Theologie Wilhelm Herrmanns aufgezeigt hätten, sodann von Kurt Nowak und Friedrich Wilhelm Graf, die – in der Fortführung der Rendtorffschen Barthdeutung – mit der Subjektivität verwirklichte, Moltmann stärker auf die den gesellschaftlich-ökonomischen Bedingtheiten allererst abzuringende Freiheit. 666 RENDTORFF, Karl Barth und die Neuzeit, 298f. Hier treten über die protestantische Theologie hinaus neben dem Katholizismus auch die Befreiungstheologie und die jüdische Theologie und Religionsphilosophie in ihrer Herausforderung durch die Neuzeit in den Blick. 667 Ebd., 299. 668 Ebd. 669 Ebd.
Forderungen an die Barthforschung
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nachgewiesen hätten, dass die dialektische Theologie als »Theologie der Krise« in eben der Krise wurzle, die bereits von Ernst Troeltsch und Max Weber diagnostiziert worden sei: […] nämlich am Orte des menschlichen individuellen Subjekts als Träger und Garant der inneren, ethischen Festigkeit einer Gesellschaft, deren Genealogie aus dem historischen Christentum zwar rekonstruiert werden konnte; aber die wirksame Geltung dieser Herkunft erschien ihnen unter den Bedingungen der Modernisierungsprozesse der Gesellschaft nicht mehr in Gestalt der moralischen und religiösen Persönlichkeit verbürgt zu sein.670
Durch diese theologiegeschichtlichen Detailuntersuchungen falle der Blick auf eine »Problemlage […], die in der Theologie Karl Barths dann einen beredten und vollmächtigen Ausleger gefunden«671 habe. Die Beziehung zwischen Barth und seiner Lehrergeneration innerhalb der neuzeitlichen Christentumsgeschichte sei daher als »Kontinuität in der Diskontinuität« bzw. »Kontinuität im Widerspruch«672 zu bestimmen. Der Widerspruch Barths ist damit durch die krisenhafte Zuspitzung der Neuzeit prädisponiert. Er richte sich als genuin neuzeitlicher Widerspruch gegen jeden Versuch, diese Krise auf der Grundlage menschlicher Subjektivität zu lösen. Als solcher durchziehe er das Barthsche Œuvre in der fortwährenden Kritik der »natürlichen Theologie«. In ihr sehe Barth den eigentlichen Ursprung der gegenwärtigen Krise, deren Ursprünge bis hin zu Luther, der Orthodoxie und dem Pietismus zurück reichten. Ist Barths Theologie in diesem Sinne und auch hier in Übereinstimmung mit Rendtorffs früheren Studien konstitutiv auf das neuzeitliche Problem der Subjektivität bezogen, so muss dies weitreichende Folgen für die Deutung haben. Vor dem Hintergrund der rein theologischen Auseinandersetzung um die Neuzeit erschließt sich für Rendtorff allererst eine angemessene Deutung der Barmer Theologischen Erklärung. In KD II/1 lege Barth eine geschichtstheologische Deutung dieses Ereignisses und damit in gewisser Hinsicht eine ›unhistorische‹ Sichtweise vor. »Barmen« stelle für Barth wesentlich stärker ein theologisches als ein politisches Ereignis dar, und die eigentlichen politischen Vorgänge würden geradezu ›gezielt heruntergespielt‹.673 In der Konsequenz sind dann aber für die Deutung der Barmer Erklärung deren kirchengeschichtliche Bedeutung vor dem Hintergrund der politischen Situation und die Bedeutung, die Barth diesem Ereignis in (geschichts-)theologischer Perspektive zumaß, deutlich voneinander zu unterscheiden. D.h., mit der Würdigung der Barmer Theologischen Erklärung in 670
Ebd., 303. Ebd. 672 Vgl. ebd., 308f. 673 Vgl. ebd., 306. 671
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
ihrer politischen Signalwirkung ist so nicht zwangsläufig eine Übernahme Barthscher Theologie verbunden – insofern Barth ja gerade der politischen Wirkung nur eine nachgeordnete Bedeutung beigemessen habe. Der kirchliche Widerstand gegen den totalitären Staat bilde nicht den Kern seines Anliegens: »[…] im Kern der Barthschen Offenbarungslehre hat die Bekämpfung der natürlichen Theologie die Funktion einer dezidierten theologischen Deutung der Neuzeit, auf die seine Dogmatik immer, wenn auch weithin unausdrücklich, bezogen geblieben ist«.674 Aufgrund solcher Einsicht ist es dann aber erforderlich, die Arbeit an den auf diesem Wege nur verdrängten keineswegs aber gelösten neuzeitlichen Problembeständen wieder aufzunehmen. Die Barmer Theologische Erklärung ist Teil der Auseinandersetzung um die Neuzeit und darin ein prominenter Lösungsversuch. Nun erweise sich freilich Barths Sicht der Neuzeit an verschiedenen Punkten als deren Verzeichnung. Seine Kritik der Erkenntnisaktivität des neuzeitlichen Subjekts und der Alternativentwurf eines Zusammenfalls von Methode und Sache, von Barth in der Wendung »Gott wird nur durch Gott erkannt« zum Ausdruck gebracht, setzten »keine zureichende Bestimmung ›der Neuzeit‹ in erkenntnistheoretischer Hinsicht«675 voraus. Dies gelte etwa für die »Dimension der nichtkausalen, sondern vergleichenden Methoden historischer Erkenntnis«.676 Zudem habe »die Einsicht in die Relativität von Erkenntniswegen […] schon lange das Ideal einer in sich schlüssigen Relation von Erkenntnisweg und Erkenntnisgegenstand verlassen«.677 Dass aber auf der Grundlage des Barthschen Ansatzes »eine methodisch offene Kommunikation in Sachen Theologie«678 unmöglich werde, insofern die Einheit von Erkenntnis und Gegenstand nur innerhalb eines dogmatischen Zirkels ihren Ort habe, jegliche Außenbeziehung hingegen »theologisch verboten« würde, sei auch für die methodisch offene Rekonstruktion der Kirchlichen Dogmatik ein bislang ungelöstes Problem. Ein scheinbar neuer Aspekt der Auseinandersetzung mit der Neuzeit trete aber in dem dritten Band der »Lehre von der Versöhnung« (KD IV/3, 18ff) hervor, wenn Barth im Zusammenhang der Lehre vom prophetischen Amt Christi zur Auswertung der Geschichte der Neuzeit vorzudringen scheine. Die Rede vom »Ausbruch der christlichen Gemeinde in die Welt hinein« (KD IV/3, 20) bedeute, dass sich Barth »auf das historische Terrain der neuzeitlichen Kirchen- und Sozialgeschichte« begebe, »auf dem, um nur diese zu nennen, die großen Untersuchungen zur Genealogie der Moderne
674
Ebd., 307. Ebd., 308. 676 Ebd. 677 Ebd. 678 Ebd. 675
Forderungen an die Barthforschung
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von Max Weber und Ernst Troeltsch ausgearbeitet worden sind«.679 Jedoch werde der skandierte »Ausbruch« von Barth nicht im Gespräch mit den historischen Analysen profiliert, wozu er aufgrund seiner theologischen Prämissen, die auch in der Versöhnungslehre durchweg im Duktus der vorherigen Bände lägen, nicht in der Lage sei. Die »Lichter in der Welt« blieben konturlos, da sie nicht, aufgrund eines theologischen Verbotes, historisch identifiziert werden dürften und ein offener Diskurs mit dem »Außerhalb« der Theologie nicht zustande kommen dürfe. Nochmals tritt an dieser Stelle die offene Perspektive insbesondere im Blick auf das Problem »Kirche und ›Welt‹«, den Ausgangspunkt der Rendtorffschen Barthdeutung, innerhalb der Barthschen Theologie hervor: Warum die protestantische Theologie im Einflußbereich Barths hier bisher noch merkwürdig sprachlos ist und jedenfalls einen theologischen, auf der theoretischen Ebene erschlossenen Weg zur geschichtlichen Wirklichkeit der Neuzeit noch nicht wiederzugewinnen fähig scheint, dafür gibt es viele gewichtige Gründe. Ein wesentlicher Grund läßt sich bei Barth selbst ausmachen. Seine historisch-theologischen Reflexionen auf die Neuzeitgeschichte der Kirche spielen ja in der weiteren dogmatischen Durchführung der Lehre vom prophetischen Amt Christi durchaus keine Rolle und sollen es wohl auch nicht.680
Gerade dort, wo diese sich das Thema der Neuzeit konstruktiv anzueignen scheine, zeigten sich ihre Grenzen und ihr Zwang, im innerdogmatischen Selbstgespräch zu verharren und im Blick auf die Neuzeit mit einem letztlich – von der eindeutigen Kritik ihrer geistigen Grundlagen abgesehen – unberechenbaren, dezisionistischen Verhältnis zu allen historischen Präferenzen und Identifikatoren zu operieren.681 Im Blick auf eine mögliche künftige Barthrezeption greift Rendtorff abschließend ein Thema auf, welches die Beschäftigung mit der Theologie Barths scheinbar in neuer Weise fruchtbar erscheinen lässt. Unter dem Leitbegriff »Postmoderne« komme es augenscheinlich zu einer Verdichtung von Erfahrungen, die eine Troeltsch und Barth gegenüber differente Zeiterfahrung widerspiegelten. Der damit verbundene Widerspruch etwa bei Derrida, Lyotard oder Rorty ziele die Bestreitung der »Herrschaft des konsensorientierten, universalen Vernunftbegriffs«682 und damit verbunden auf die Stärkung von Individualität. Die Ausblendung einer umfassenden Metaebene sei Kennzeichen dieser Postmoderne. Individualität lege sich jeweils in »narratives«, besonderen »erzählbaren Geschichten« aus, und so könnte die Theologie Karl Barths eben als eine solche besondere »Geschichte« verstanden 679
Ebd., 310. Ebd., 310f. 681 Ebd., 312 mit Verweis auf H. Berkhoff. 682 Ebd., 313. 680
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
werden. »Sollte man sagen, daß die Theologie Karl Barths dort zu ihrer, nun nicht neuzeitlichen, sondern eben postmodernen Form findet, wo ihr theoretischer Anspruch singulärer Totalität sich als ›narrative Theologie‹ darstellt?«683 – so fragt Rendtorff und verweist auf die in solcher Richtung verfahrenden Studien aus dem angelsächsischen Bereich, aber auch auf Arbeiten Jüngels, Smends und Ritschls. Der Preis, der für solche intern kohärente Erzählung zu zahlen sei, liege freilich in ihren engen Grenzen: »Die Identität einer kirchlichen Theologie mit narrativer ›praktischer Absolutheit‹ in ihrem internen Sprachgeschehen muß sich im Verhältnis zu jeder gedachten theoretischen Allgemeinheit ihres Anspruchs als faktische Minderheit wissen.«684 Ist eine solche »Tribalisierung« von Kirche und Theologie eine Lösung? »Mehr als eine Frage kann das gegenwärtig nicht sein. Aber sie wird in der weiteren Diskussion unseres Themas noch eine Rolle spielen.«685 Barth in der Postmoderne – ein scheinbarer Lösungsansatz? Es wird erlaubt sein, ein wenig mit Rendtorff in diese offene Frage ›hineinzudenken‹. Die Übernahme des postmodernen Paradigmas bedeutete für Barth, aber auch für Rendtorff selbst, das Eingestehen eines auf metatheoretischer Ebene nicht mehr umgreifbaren Pluralismus, der – hier ist die Frage noch zuzuspitzen – nicht nur ein innen und außen von Kirche und Welt betrifft, sondern innerchristlich bzw. sogar innerkirchlich zum Tragen käme. Die grundsätzliche Tribalisierung würde damit aber auch die »Theorie des Christentums« selbst betreffen. Deren »idealistischer Grundzug« besteht darin, dass die Vielgestaltigkeit des Christlichen sich als Verwirklichung christlicher Freiheit begreifen lässt, und dass sich auf dieser Grundlage ein kritisches Kriterium für die Gestalt der Gesellschaft ergibt. Sollte die Beschreibung der Postmoderne zutreffen, so könnte von der Höhe Rendtorffschen Denkens solche Entwicklung nur als Verlust der umfassenden Perspektive »Christentum« zu verstehen sein.686 Rendtorff markiert hier Probleme und Anfragen hinsichtlich der Neuzeitlichkeit der Theologie Barths, die auch jenseits der von ihm selbst vorgelegten christentumstheoretischen Barthdeutung Geltung beanspruchen sollen. Die bleibende kritische Pointe, dass Barth, obgleich sublim in die Probleme der Neuzeit verstrickt, diese keineswegs abschließend gelöst habe, lässt auch hier wiederum die großen Theoretiker der Neuzeit, Troeltsch und Weber, in den Blick treten. Ertrag 683
Ebd., 313f. Ebd., 314. 685 Ebd. 686 Es läge dann aber in der Konsequenz Rendtorffschen Denkens, festzustellen, dass die Theologie Barths bzw. seiner Epigonen für die Entstehung dieser Situation durch die »Tribalisierung« gegenüber der geschichtlichen Welt des Christentums und seiner Wissenschaftskultur mitverantwortlich sei und so die historische Situation ihren theologischen Prämissen angepasst hätte. 684
Ertrag
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9. Ertrag: Karl Barth unterwegs zur Theorie des Christentums Die Suche nach dem Ausgangspunkt der von Rendtorff vorgelegten neuen Deutung der Theologie Karl Barths führte in die deutsche Theologiegeschichte der 50er Jahre zurück. Mit dem Aufbrechen der Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Gesellschaft und der soziologischen Frage nach der Erscheinung der Kirche bzw. der Parochie treten Problembestände hervor, die sich für Rendtorff auf der Grundlage der vorangegangenen durch den Kirchenkampf geprägten theologischen Bestimmungen nicht mehr bewältigen lassen. Hingegen scheint der Neuprotestantismus bis dahin unabgegoltene Potentiale bereitzustellen, die entgegen dem Widerspruch der dialektischen Theologie neuer Vitalisierung bedürfen. Jedoch verbindet Rendtorff die Anknüpfung an den Neuprotestantismus nicht mit einer strikten Absage an die »dialektische Theologie«. Er bemüht sich vielmehr, die »eigentliche« Theologie Barths und Gogartens ihrer Wirkungsgeschichte im Nachkriegsprotestantismus gegenüber als Zeugin für die Evidenz neuprotestantischer Problembestände ins Feld zu führen. Die Bruchmetaphorik, von der dialektischen Theologie in der Verhältnisbestimmung der Theologie des Neuprotestantismus gegenüber verwendet, soll im Rahmen des angestrebten Paradigmenwechsels vermieden werden. In zunehmender Klarheit arbeitet Rendtorff heraus, inwiefern die dialektische Theologie, fokussiert insbesondere auf das Barthsche Œuvre, nicht nur im Blick auf geteilte Problemstellungen (so in der Habilitationsschrift Kirche und Theologie), sondern auch auf die konstruktiven Lösungsansätze (so in der Theorie des Christentums) als Fortführung des Neuprotestantismus zu verstehen sei. Die Theorie des Christentums stellt den Kulminationspunkt dieses Weges dar. Entscheidend inspiriert durch Joachim Ritters Hegelinterpretation bemüht sich Rendtorff, auch die Theologiegeschichte als Geschichte der Realisierung christlicher Freiheit zu erschließen. Sie löst bemerkenswert konsequent das Diktum der Hegelschen Rechtsphilosophie ein: Hic Rhodus, hic saltus. Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie [und so auch die Theologie – sofern sie sich dessen bewußt ist: als Christentumstheorie!] ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. Geht seine Theorie in der Tat drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden soll.687
687
HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 26.
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Christentumstheoretische Aufhebung (T. Rendtorff)
Er vermag dies weitgehend ohne Berücksichtigung von Selbstverständnis und -darstellung Barths selbst, insofern die Geschichte sich als Realisierung der Freiheit allererst dem begreifenden Beobachter erschließt. Im Hegelschen Sprachgebrauch wäre mit der »List der Vernunft« zu rechnen. Insofern ist die eigentliche Bedeutung der Rendtorffschen Untersuchungen nicht vor dem Hintergrund zu diskutieren, »ob Barth selbst es so gemeint haben könnte«.688 Entscheidend ist vielmehr, ob das vorausgesetzte Verständnis von Freiheit und damit Rendtorffs Konstruktionsprinzip der Theologiegeschichte Geltung zu beanspruchen vermag. Rendtorffs Studien weisen von Beginn an eine deutliche Affinität zu den Arbeiten Ernst Troeltschs auf, die letztlich in der Theorie des Christentums auf eine vollständige Re-Etablierung der von ihm gesetzten Maßstäbe der Theologie zielt. Dies schließt insbesondere die Konsequenzen der historischen Methode innerhalb der Theologie ein, die nichts weniger als die Neukonstitution der theologischen Wissenschaft erfordert.689 Wesentlich konsequenter freilich als Troeltsch es vermochte, wird von Rendtorff dieser methodische Fortschritt zugleich als Ausdruck der Geschichte christlicher Freiheit verstanden, d.h. die historische Methode wird als die dem ›Wesen‹ des Christentums entsprechende Zugangsweise zu dessen Überlieferungen verstanden.690 Dass dieser Schritt im Rekurs auf eine idealistische Deutung der Reformation, und insbesondere in Anknüpfung an Ritters Interpretation der Hegelschen Rechts- und Geschichtsphilosophie unternommen wird, bewegt sich freilich ganz auf der Linie der Troeltschen Einschätzung künftiger Überwindung des relativistischen Dilemmas der Krise des Historismus: […] es ist das Wesen meiner Anschauung, dass sie den historischen Relativismus, der nur bei atheistischer oder religiös-skeptischer Stellung die Folge der historischen Methode ist, rundweg bestreitet und die Aufhebung dieses Relativismus durch die Auffassung der Geschichte als einer Entfaltung der göttlichen Vernunft verlangt. Hier liegen die unveräusserlichen Verdienste der Hegel’schen Lehre, die nur von seiner Metaphysik des Absoluten, seiner Dialektik der Gegensätze und seiner spezifisch logischen Fassung der Religion befreit werden müssen.691 688
S. LINK, Theologie auf der Höhe der Zeit, 242: »Auf der Ebene der Interpretation läßt sich die Kontroverse nicht lösen. Es nützt nichts, nachzurechnen, daß Barth es doch ganz anders gemeint hat, als Rendtorff ihm unterstellt, daß die wirklichen Konfliktpunkte mit dem Wahrheitsbewußtsein der Neuzeit vielleicht an einer ganz anderen Stelle liegen als dort, wo die ›Theorie des Christentums‹ sie namhaft zu machen versucht. Rendtorff nimmt Barth auf dem Hintergrund einer Problemstellung wahr, die dieser als ein ernsthaftes theologisches Problem […] kaum anerkannt hätte.« 689 Vgl. TROELTSCH, Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie. 690 Freilich bleibt zu fragen, ob Rendtorff die Selbsthistorisierung des Subjekts, die die Krise des Historismus heraufgeführt habe, nicht in der religionsgeschichtlichen Herleitung der neuzeitlichen Freiheit aus dem christlichen Freiheitsverständnis der Reformation unterlaufen hat. 691 TROELTSCH, Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie, 20. Vielleicht wird man mit einigem Recht in dieser Troeltschen Einschätzung der Leistungsfähigkeit und
Ertrag
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Die Frage, ob und welchem Verständnis eines hintergründigen Idealismus die Revitalisierung des Neuprotestantismus folgt, markiert zugleich den Übergang zum folgenden Kapitel dieser Untersuchung, insofern sich gerade an dieser Frage die spezifische Perspektive der Barthdeutung Falk Wagners von der Rendtorffschen unterscheidet. Durchgängig jedoch ließ sich bisher erkennen, dass Rendtorffs Deutung der dialektischen Theologie als Auseinandersetzung mit dem von Ernst Troeltsch maßgeblich herausgestellten Problemniveau neuzeitlicher Theologie entscheidende Konturen in der Auseinandersetzung mit Friedrich Gogarten gewinnt. Gogarten befindet sich in der Tat seit den Anfängen in einer expliziten Auseinandersetzung mit Troeltsch und beansprucht, das Problem der Geschichte einer dem Neuprotestantismus überlegenen Lösung zuzuführen.692 Zentrale Herausforderungen der Neuzeit, etwa das Problem der Säkularisierung, werden von Gogarten dezidiert aufgegriffen. In der Barthdeutung Rendtorffs soll der Nachweis geführt werden, dass Barths Theologie implizit ebenfalls in diese neuzeitlichen Probleme verstrickt ist. Nur am Rande finden sich bei Rendtorff jedoch Hinweise auf Gogartens Barthdeutung und -kritik, die – wie bisher knappe Hinweise bei Dietrich Korsch (s.u. Teil 4) und Hermann Fischer693 andeuteten – Berührungen mit Rendtorffs Studien aufweist. In dem folgenden Abschnitt sollen daher Grundzüge der einschlägigen Untersuchungen Gogartens nachgezeichnet und vergleichend hinzugezogen werden.
Mängel der Hegelschen Philosophie die Distanz Rendtorffs gegenüber der Hegelschen Logik und Absolutheitstheorie zu sehen haben, bzw. zumindest dessen Problematik angesichts der historischen Methode. Vgl. dazu die ganz anders gelagerten Interessen Falk Wagners (s.u.). 692 Vgl. dazu GOGARTEN, Historismus, sowie: D ERS., Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, bes. 103–133 zur expliziten Auseinandersetzung mit Troeltsch. 693 FISCHER, Protestantische Theologie, 93.
Exkurs: Die kritische Barthdeutung Friedrich Gogartens
Die folgenden Überlegungen zur Barthdeutung und -kritik Friedrich Gogartens führen knapp 40 Jahre hinter Rendtorffs programmatischen Neuansatz zurück. Gogartens kritische Barthdeutung soll als Vergleichspunkt dienen, um das Profil der Rendtorffschen Deutung präziser zu bestimmen. Dies legt sich insofern nahe, als Rendtorff selbst darauf verweist1, dass in der Auseinandersetzung zwischen Gogarten und Barth Ansätze zu einer Deutung der gesamten »dialektischen Theologie« im Horizont der neuzeitlichen Herausforderungen theologischen Denkens erkennbar würden.
1. Theologie als Anthropologie Gogarten folgt weitgehend einem an Luther orientierten Theologieverständnis, demzufolge »der eigentliche Gegenstand der Theologie der Mensch [sei], der der Sünde schuldig und verloren ist, und der Gott, der den sündigen Menschen rechtfertigt und heilt«.2 Diese Beziehung von Mensch und Gott als »peccator und deus iustificans«3 und insbesondere deren ereignishaften Charakter versucht Gogarten als Voraussetzung der Theologie zur Geltung zu bringen. So sind aus dieser Vorordnung des soteriologischen Geschehens für Gogarten erkenntnistheoretische Konsequenzen zu ziehen. Der Mensch eignet sich jedes Erkenntnisobjekt dadurch an, dass er dieses in seinen schon bestehenden Gesamtzusammenhang der Erkenntnisvermögen einordnet: »Man bemächtigt sich geistig, mit der Vernunft, eines Gegenstandes so, daß man ihn in seinen verschiedenen Bedeutungen hinordnet auf die verschiedenen Fassungsvermögen des menschlichen Geistes.«4 Im Horizont der soteriologischen Gottesbeziehung bedeutet dies aber, dass das menschliche Erkenntnissubjekt als Sünder seinem Gegenstand, dem verkündigten Wort des 1
RENDTORFF, Selbstdarstellung, 63f: »Rückblickend gilt für mich […], daß die Lektüre von Gogarten und Bultmann und deren Auseinandersetzung mit Barth entscheidende Anregungen enthielt, an den Ausgangspunkt der dialektischen Theologie zurückzugehen und die gegenwärtige theologische Kontroverse als Folge eines ungelösten Problems der modernen Theologie zu identifizieren.« Zu dieser Auseinandersetzung s. auch HOLTMANN, Dialektische Theologie. 2 GOGARTEN, Die Problemlage der theologischen Wissenschaft, 295. 3 THYSSEN, Begegnung und Verantwortung, 148. 4 GOGARTEN, Wahrheitsanspruch, 119.
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Die kritische Barthdeutung F. Gogartens
rechtfertigenden Gottes, gegenübertritt, wobei sich seine Vernunftvermögen als Unvermögen erweisen und sein Bemächtigungsversuch scheitert. Das menschliche Selbstverständnis und seine Weltanschauung, die den ordnenden Gesamtzusammenhang seiner Erkenntnis bestimmen, zerbrechen in dieser Begegnung, die als Streit im Gewissen erfahren wird.5 Der Ort dieser Begegnung ist das Predigtgeschehen, und so unterscheidet sich die Situation des Theologen nicht von der eines jeden Christen. Theologische Sätze können nie aus einer Beobachterposition heraus entwickelt werden, sondern stehen unter der Bedingung existentieller Betroffenheit. Der Theologe trägt dem dadurch Rechnung, dass er sich – im Dienste der Kirche – reflexiv diesem Begegnungsgeschehen zuwendet, indem er das biblisch bezeugte christliche Selbstverständnis, als Voraussetzung der Predigt, und das vom Sünder in dem Erkenntnisprozess herangetragene Selbst- und Weltverständnis zur Darstellung bringt. Dies geschieht im Blick auf das biblische Selbstverständnis durch philologisch-kritische Forschung, im Blick auf das Selbstverständnis des Sünders durch geistesgeschichtliche Forschung. Ein theologisches Proprium erhält dieser Vollzug dadurch, dass beide Arbeitsschritte in einer Zirkelbewegung miteinander verschränkt werden.6 Der Theologe wiederholt damit auf einer reflektierten, begrifflich geklärten Ebene das Geschehen, welches sich in der Predigt ereignet. Das Selbstverständnis des Sünders hat dabei erkenntnistheoretische Bedeutung: Es handelt sich hier […] nicht so sehr um ein gewolltes explizites Verständnis, das man sich vom Menschen theoretisch gebildet hat, als vielmehr um das implizite existenzielle Selbstverständnis des Menschen, das sich in dieser bestimmten Begrifflichkeit ungewollt ausdrückt, mit der der Mensch seinem jeweiligen Gegenstand begreifend gegenübersteht. Dieses implizite Selbstverständnis des Menschen, das sich in der in der Theologie verwandten Begrifflichkeit ungewollt und oft genug im Ge-
5
Vgl. ebd., 125. Ebd., 122: »Wenn die Theologie also fragt, ob das wahr ist, was man philologisch-historisch als den Inhalt der biblischen Schriften herausgestellt hat, so tut sie das nicht so, daß sie diesen Inhalt und Sätze, die von ihm sprechen, nach einer Wahrheit befragt, die sie, an und für sich betrachtet, aussprechen. […] Sondern die Theologie befragt diese Sätze nach der Wahrheit, die sie gerade gegen die […] immanente Welterfahrung, gegen die eigene Wahrheit des Menschen und nicht ihr entsprechend haben. Das theologische Denken vollzieht also eine Bewegung, die sich unaufhörlich hin- und herbewegt zwischen dem, was philologisch-historisch als der Inhalt der biblischen Schriften herausgestellt ist, und dem Selbstverständnis des heutigen Menschen, in dem er sich versteht in der von ihm behaupteten Wahrheit seiner selbst. Theologie ist also weder dasjenige, was man die objektive Erforschung, Herausstellung des Inhaltes der biblischen Schriften nennen könnte. Theologie ist aber auch nicht die geistesgeschichtliche Erforschung des Selbstverständnisses des heutigen Menschen, wobei man dann unter Umständen feststellen könnte, daß der heutige abendländische Mensch sich wesentlich unter den Einflüssen des Christentums und seiner Geschichte so versteht, wie er es tut (Troeltsch). […] Theologie entsteht […] erst dort, wo das Denken mit diesen beiden Gegenständen zugleich zu tun hat.« 6
Theologie als Anthropologie
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gensatz zu dem gewollten und explizit vorgetragenen Verständnis des Menschen ausdrückt, ist von der anthropologischen Arbeit ans Licht zu bringen.7
Das Selbstverständnis ist verdichtet in den sprachlichen Mitteln enthalten. Die Begriffe, die die Erkenntnis leiten, implizieren ein bestimmtes Verständnis von Mensch und Welt, und damit zugleich ein bestimmtes Gottesverständnis. In ihnen konzentriert sich erkenntnistheoretisch das Wesen des Sünders. Sollte der Theologe folglich den methodischen Weg jener Zirkelbewegung verlassen und meinen, ohne Begriffsklärung die theologische Aufgabe angehen zu können, so würde er lediglich sein eigenes, herangetragenes Selbstverständnis zur Darstellung bringen. In diesem Sinne versteht Gogarten Theologie als Anthropologie. Sie besteht wesentlich im reflexiven Nachvollzug des Predigtgeschehens, der fortwährenden Klärung des Selbstverständnisses und der Darstellung von dessen Streit mit dem biblisch-christlichen Selbstverständnis.8 Sie kann der Zirkelbewegung nicht entkommen, d.h. ihr Gegenstand bleibt jener fortwährende Widerstreit im Gewissen. Dabei zeige sich, »daß es beileibe nicht die Aufgabe der Theologie sein kann, in diesem Streite den Sieg zu erringen, sondern die Aufgabe der Theologie ist es, deutlich zu machen, wo gekämpft wird, und zwischen welchen Partnern der Kampf geht und worum er geht«.9 Theologie als Anthropologie Gogartens Theologie ist eminent kritisch auf die als »Kulturidealismus« bezeichnete geistige Haltung bezogen, die im 19. Jahrhundert die Theologie dominiert habe. »Kulturidealismus« ist jener Versuch, die Gottesbeziehung und ethischen Bindungen in der Selbstgewissheit des menschlichen Erkenntnissubjekts zu begründen – »Illusionen« ist der folgerichtige Titel für Gogartens »Auseinandersetzung mit dem Kulturidealismus«, insofern Wahrheit allein dem im soteriologischen Geschehen begründeten Selbst- und Weltverständnis zukommt. Jedoch impliziert dies eine zweite kritische Pointe: Gewiß ist die Theologie das logos theou, das Wort von Gott oder sagen wir richtiger die logia theou, die Rede über Gott. Aber auch ihr abstraktestes Reden über Gott meint nicht Gott allein, nicht Gott an und für sich, sondern meint immer den Menschen schon mit.10 7
GOGARTEN, Das Problem einer theologischen Anthropologie, 506f. GOGARTEN, Wahrheitsanspruch, 124: »Christliche Verkündigung muß also geschehen sein, damit es die Wissenschaft von ihr geben kann, und zwar nicht nur so, wie es etwa den Buddhismus gegeben haben muß, damit es eine Wissenschaft von ihm geben kann. Denn Theologie ist ja nicht christliche Religionsgeschichte, sondern die Wissenschaft von der gegenwärtigen christlichen Verkündigung. Es muß also für den Forscher selbst diese Verkündigung unmittelbar gegenwärtig geschehen, so daß sie ihm gesagt und von ihm gehört wird. Der Theologe muß sozusagen drin bleiben, in diesem Hören oder richtiger in dem Hörenwollen, in der Bereitschaft zum Hören.« 9 Ebd., 123. 10 GOGARTEN, Das Problem einer theologischen Anthropologie, 494. 8
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Die kritische Barthdeutung F. Gogartens
Wer also die untrennbare Beziehung von Gott und Mensch zu entwirren, von Gott ohne immer zugleich vom Menschen zu reden können glaubt, teilt das Problem des christlich-humanistischen Subjektivismus auf tieferer Ebene gegen seinen Willen. Indem es sich unhintergehbar um menschliche Rede handelt, setzt er ein implizites Selbstverständnis im Gewande der Rede von Gott voraus. Dass Gogarten auf der Grundlage seiner Bestimmung der theologischen Aufgabe über eine theologische Anthropologie nicht hinauskommen kann, ergibt sich aus dem bisherigen und lässt sich anhand seines Werks nachvollziehen.
2. Die Kritik der Christlichen Dogmatik Eine erste ausführliche kritische Auseinandersetzung Gogartens mit Barth liegt in seiner Besprechung der Christlichen Dogmatik im Entwurf vor. Die Ursprünge der konfliktträchtigen Beziehung beider Theologen reichen freilich zumindest auf Barths Seite bis in die Anfangszeit der »dialektischen Theologie« zurück.11 Dennoch ist der Ton der Besprechung unverkennbar irenisch gestimmt, denn Gogarten zeigt sich bemüht, trotz seiner Kritikpunkte die grundsätzliche Übereinstimmung mit Barth zu betonen, dies zumal gegenüber den kritischen Beobachtern, die wie Hans Michael Müller »die Führer der dialektischen Theologie heute untereinander viel uneiniger […] als die politischen Generale in China«12 wähnten. 11
Die Entstehung der Rezension lässt sich anhand des Briefwechsels zwischen Gogarten und Bultmann, als Herausgegeber der Theologischen Rundschau, nachvollziehen. Bereits am 10. Juni 1928 schickte Bultmann an Gogarten »kritische Bemerkungen« zu Karl Barth, verbunden mit dem Hinweis: »[…] für Sie die Erinnerung und dringende Bitte, für das erste Heft der Rundschau Ihren Artikel über Barth zu schreiben. Da vom ersten Heft so viel abhängt, dürfen Sie uns nicht im Stich lassen!« (Bultmann-Gogarten Briefwechsel, 121). Am 21. Juli antwortete Gogarten: »Dann würde ich also einen Aufsatz über Barths Dogmatik für die erste Nummer schreiben, wozu mir M. Müllers unverschämter Aufsatz nun auch die nötige Lust gemacht hat […]« (ebd., 130). Auf eine weitere Erinnerung Bultmanns vom 12. August 1928 (ebd., 137) reagiert Gogarten am 13. September 1928 mit der Nachricht, »daß mein Aufsatz über Barth fertig ist« (ebd., 139). Am 30. September dann schreibt Bultmann nach Eingang des abgeschlossenen Textes: »Ihre Barth-Besprechung habe ich mit großer Freude und lebhafter Zustimmung gelesen; sie trägt hoffentlich nicht nur zur Zerstörung von Legendenbildung, sondern auch zur Förderung der Diskussion bei!« (ebd., 140). Nochmals – nach einer vermutlich mit dem Bultmannschen Schreiben zeitlich überschnittenen Anfrage vom 3. Oktober 1928 (ebd., 141f), ob der Text eingegangen sei – antwortet Bultmann: »Daß ich Ihre BarthBesprechung vortrefflich finde, schrieb ich wohl schon.« (ebd., 144) Bultmann fügte die Bitte um die Gliederung des Textes in Absätze und Einfügung von Überschriften um der besseren Lesbarkeit willen hinzu – eine Bitte, der Gogarten offenbar nicht nachkam. 12 Von Gogarten zitiert in: GOGARTEN, Karl Barths Dogmatik, 80 Anm. Vergleicht man dazu den oben erwähnten Hinweis Gogartens, dass Müllers Rezension ihm »die nötige Lust« (BultmannGogarten Briefwechsel, 130) zur Abfassung der Rezension bereitet habe, verstärkt sich der Eindruck,
Die Kritik der Christlichen Dogmatik
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Gogartens zentraler Kritikpunkt liegt gänzlich in der Fluchtlinie seines bereits skizzierten theologischen Ansatzes und bezieht sich auf das »Fehlen einer eigentlichen Anthropologie«13 in Barths Dogmatik. Barth zeige an diesem Punkt keine Solidarität mit denen, die sich dieser Aufgabe im Rahmen der Prolegomena der Dogmatik stellten, d.h. insbesondere Bultmann und Gogarten selbst, um auf diese Weise erst die Möglichkeit der Rede vom Gegenstand der Dogmatik zu begründen. Vielmehr beginne Barth seine Prolegomena mit einem »Sprung« in die Sache, bemüht jenseits des von ihm abgelehnten Themas der Prolegomena »Gott und Mensch« mit Gottes Wort als Gegenstand bzw. als Inhalt der Dogmatik zu beginnen, welcher von seiner Form, der kirchlichen Verkündigung, zu unterscheiden sei. Bereits an dieser Stelle sieht sich Gogarten jedoch zum Widerspruch herausgefordert: Barth mache es so, »wie man es nach seiner Meinung zu allen Zeiten in der Theologie gemacht hat: er nimmt die Begriffe [hier: Form und Inhalt], wo er sie findet. Aber ob man sie sich nicht vorher wenigstens sehr genau ansehen sollte, damit man auch weiß, was man dann sagt, wenn man diese Begriffe benutzt?«14 Dieser Widerspruch basiert auf dem Argument, dass das »Wort im Akt seines von Gott Gesprochenwerdens« als von Barth zutreffend bestimmtes theologisches Thema15 nur in der Konfrontation mit dem in Begriffen herangetragenen Selbstverständnis Gegenstand der Theologie sein kann. Das bedeutet, dass der Versuch über Gottes Wort, jenseits aktueller Begegnung zwischen »Gott und Mensch«, in Begriffen zu reden, die recht verstanden dem Wort Gottes widerstreiten, scheitern muss: Würde Barth der Frage der Wissenschaftlichkeit der Theologie und damit der Frage von Theologie und Philosophie die Aufmerksamkeit geschenkt haben, die ihr gebührt, dann würde er gemerkt haben, wie jeder Wissenschaftsbegriff und jeder von irgendeinem Wissenschaftsbegriff seinerseits wiederum bestimmte Begriff schon eine ganz bestimmte Anthropologie enthält. Mit der Anthropologie aber auch eine ganz bestimmte Gotteslehre.16
Es scheint damit gleichsam unmöglich, dass Barth seinen Gegenstand wirklich zu erfassen vermag.17 Die Kritik der Christlichen Dogmatik Die Konsequenzen im Blick auf Barths Verständnis von Gott und Mensch erweisen sich für Gogarten folglich als gravierend. Indem Barth dem vorgängigen »Gott und Mensch« in einer Reihe von Gedankengängen auszuweichen versuche, so etwa in der Unterscheidung von »phänomenolodie Rezension verfolge das Interesse einer Rechtfertigung des Barthschen Grundanliegens gerade in der Kritik seines unzureichenden methodischen Vorgehens. 13 GOGARTEN, Karl Barths Dogmatik, 66. 14 Ebd., 63. 15 Vgl. zur Zustimmung Gogartens etwa ebd., 60. 16 Ebd., 67. 17 Ebd.
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gischer« und »existentieller« Betrachtung und der Rede von einer »Urgeschichte«,18 rede er von Gott und Mensch in jeweils wechselseitiger Isolation. Diesem Barthschen Bemühen, zur Geltung zu bringen, daß Gott in seiner souveränen Freiheit (Gott an sich) dem »Gott und Mensch« (Gott für uns) vorgeordnet ist, muss Gogarten im Blick auf die Verfahrensweise Barths widersprechen: »In dem Augenblick, wo man von dem ›Gott für uns‹ abstrahiert, hört der ›Gott an sich‹ auf, Gott zu sein.«19 Und dieses »Gott für uns« erfordert die Rede vom Sünder in Konfrontation mit dem Evangelium – jenseits dessen ist die Ebene Barthscher Dogmatik nicht erreichbar. Für Barths Rede vom Menschen bedeutet dies, dass keine Konkretion dessen erreicht wird, worin des Menschen »Widerspruch« besteht.20 Und hinsichtlich der Rede von Gott in der Beziehung zu diesem Menschen, so scheine es, bleibe es bei der Aufhebung dieses abstrakten Widerspruchs. Gogarten spitzt dies auf die Frage zu: »Entwickelt Barth, indem er so von Gott redet […], etwas anderes als die dialektische Idee eines Widerspruches, der begründet und aufgehoben ist in seiner absoluten Einheit?«21 Eine »seltsame Gottesspekulation«22 durchziehe das gesamte Buch. Die Kritik, die in dieser Besprechung anklingt, lautet daher, dass das »Fehlen des religionsphilosophischen Unterbaus«23 im Sinne einer Anthropologie nur vordergründig bleibt, und Barth implizit sehr wohl eine bestimmte philosophische Struktur durch die von ihm verwendeten Begriffe in die Dogmatik hineintrage. Damit gerate seine Dogmatik in die Gefahr, der Aktualität des Wortes Gottes und dessen Widerspruch gegen den Menschen nur unzureichend Rechnung zu tragen.24 Dennoch lasse sich das eigentliche Thema der Barthschen Dogmatik, das Gogarten teilt, erkennen, sodass Barths Anliegen gegen sein faktisches Verfahren zu stellen ist. Denn das Wort im Akt seines von Gott Gesprochenwerdens, das ist das theologische Thema, so wie Barth es erfaßt und wie es sich in seiner Dogmatik auch gegen manche der von ihm gebrauchten Begriffe immer wieder durchsetzt, die ihn allerdings, wenn er sie ernst nähme, von diesem Thema abbringen müßten, und die, wenn sie das nicht tun, doch bewirken, daß entscheidende Fragen in einer mißlichen Unklarheit bleiben.25 18
»Ist Offenbarung Geschichte und sind wir Menschen, ob wirs hören oder nicht, von dieser Offenbarung angesprochen, dann gibt es doch nicht, dann kann es gar nicht so etwas wie Uebergeschichte geben. Auch von Urgeschichte redete man besser nicht. Denn um der Offenbarung willen, um ihr nicht auszuweichen, gerade wo man sich mit besonderer Einsicht um sie zu bemühen meint, darf man nicht mehr über die Geschichte hinausdenken wollen.« (ebd., 75). 19 Ebd., 78. 20 Ebd., 68f. 21 Ebd., 69. 22 Ebd., 78. 23 Ebd., 61. 24 Vgl. ebd., 64. 25 Ebd.
Gericht oder Skepsis
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3. Die Entzweiung: Gericht oder Skepsis Die Entzweiung Gogartens und Barths hat eine längere Vorgeschichte,26 doch ist die krisenhafte Zuspitzung, die in Gogartens im Jahre 1937 erschienener Schrift Gericht oder Skepsis ihren Ausdruck findet, nicht ohne den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Kirchenkampfes verständlich. In die Vorgeschichte jener kritischen Rezension des Barthschen Weges vom Römerbrief bis zum ersten Halbband der Kirchlichen Dogmatik gehört aber auch die deutliche Replik Barths gegen Gogartens Kritik in KD I/1, in seinem Abschied von Zwischen den Zeiten, sowie nicht zuletzt in seinen Ausführungen zum Verhältnis von »Dogmatik und Philosophie« in der Schrift Credo.27 Gericht oder Skepsis Obgleich Barth die Schrift unter dem Vorzeichen der problematischen politischen Spitzen zur Kenntnis nahm,28 wäre es doch im Nachhinein voreilig, die Kritik nicht auch als ernsthafte Anfrage an die Theologie Barths zu lesen, die sie implizit darstellte, zumal sie als solche auch rezipiert wurde.29 Darauf soll im Folgenden das Hauptaugenmerk gerichtet werden. 26 GOGARTEN, Gericht oder Skepsis, 7: Rückblickend auf die Anfänge von Zwischen den Zeiten stellt Gogarten fest: »Wir, insbesondere Barth und ich, sind dabei von Anfang an verschiedene Wege gegangen. Barth beschäftigten, je länger um so ausschließlicher, spezielle theologische Fragen. Er ließ sich seine Fragen stellen und suchte Antwort auf sie zu geben, indem er sich mit Theologiegeschichte und Dogmatik beschäftigte. Mich nahm dagegen die Auseinandersetzung mit der Moderne in Anspruch. Mit dem an Luther geschärften Blick für das Eigentümliche des christlichen Glaubens habe ich nach den letzten Voraussetzungen des modernen Denkens gefragt und nach seinem Recht, sich offen oder heimlich zum Meister des christlichen Glaubens zu machen.« 27 BARTH, Credo, 158–160. Barth führt dort aus, man habe aus dem »Problem der theologischen Sprache von jeher darin einen Ausweg gesucht, daß man Theologie und Philosophie als zwei Partner sich gegenüber stellte. Dieses Drama wurde in mannigfachster Weise aufgeführt. Man sagte dann wohl: die zu verwendenden philosophischen Begriffe müßten erst als solche ›geklärt‹ werden! und setzte damit die Voraussetzung, daß es zwei Offenbarungsquellen gebe: Vernunft und Geschichte auf der einen, die Heilige Schrift auf der anderen Seite. Ist diese Konzeption von dem Verhältnis von Theologie und Philosophie grundsätzlich irrig, dann bleibt nur folgender Sachverhalt: Als Theologe habe ich meine Sprache, wie immer sie auch sei, und trete mir ihr einem Gegenstand entgegen, der mir im Zeugnis der Heiligen Schrift begegnet. Indem ich mir dieses Zeugnis aneigne, bin ich nicht frei von aller Philosophie, aber auch nicht gebunden an eine bestimmte Philosophie. Es ist mir alles erlaubt, es soll mich aber nichts gefangen nehmen. Der Vorgang der theologischen Erkenntnisbildung wird der sein, daß ich mein Denken und meine Sprache schlechterdings bestimmen lasse durch meinen Gegenstand. Es ist nicht das Wort den menschlichen Voraussetzungen, sondern es sind die menschlichen Voraussetzungen dem Wort unterworfen. Natürlich sind diese menschlichen Voraussetzungen nicht auszulöschen, aber es ist ein Unterschied, ob ich die sarx meiner intelligentia sich vorher systematisch verfestigen lasse oder ob ich die causa divina bestimmen lasse über die intelligentia.« (ebd., 158f). 28 Dies wird vor allem durch Barths Randbemerkungen in seinem Handexemplar deutlich; vgl. aber auch Barths rückblickende Äußerungen in: BARTH, Gespräche, 1964–1968, 485f. 29 Vgl. dazu insbesondere die Rezensionen von Günther Jacob und Helmut Thielicke. Siehe aber auch Bultmanns Reaktion vom 18. April 1937: »Für die Übersendung Ihres Buches ›Gericht oder Skepsis‹ habe ich Ihnen nur deshalb noch nicht gedankt, weil ich es erst heute zu Ende lesen
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Gogarten sieht sich damit konfrontiert, dass Barth in seiner Replik auf die Besprechung der Christlichen Dogmatik mit dem noch konsequenteren Ausschluss der anthropologischen Arbeit aus der Dogmatik reagiert: »Ich könnte alles gegen mich Gesagte dahin zusammenfassen, daß ich heute bedaure, vor fünf Jahren zu einer ›eigentlichen Anthropologie‹ wenigstens auf dem Wege gewesen zu sein«.30 Das Unternehmen einer Anthropologie führe, wie Barth auch am Beispiel Gogartens zu erweisen sucht, zwangsläufig zu einer »natürlichen Theologie« und folglich in das Dilemma des Neuprotestantismus. Damit aber kann Gogarten nicht mehr von einem nur begrifflichen und damit bloß das Verfahren der Theologie betreffenden Irrtum Barths ausgehen, der noch ein gemeinsames Grundverständnis des Gegenstands der Theologie voraussetzte. Er ist nun gezwungen, einen neuen Schlüssel zur Interpretation der Barthschen Ablehnung des in der Anthropologie behandelten Themas »Gott und Mensch« und der Rede von einem »Gott an sich« zu finden, der dies als dessen eigentliches Interesse erkennen lässt.31 Die »seltsame Gottesspekulation« in Gestalt eines Mythos von der »dialektische[n] Idee eines Widerspruches, der begründet und aufgehoben ist in seiner absoluten Einheit«, so behauptet Gogarten, stelle den Kern der Barthschen Theologie und dessen eigentliches Anliegen dar. Dieser Kern müsse von der »biblisch-theologischen Verkleidung, die Barth virtuos anzulegen versteht«,32 abgelöst werden. Dass nämlich Barths Gottesbegriff aus dem biblischen Zeugnis gewonnen sei, wird von Gogarten bestritten. Barth konnte. Nun aber ein herzlicher Dank! Ich hoffe Zeit zu finden, ausführlicher zu schreiben […] – Sie werden kaum daran zweifeln, daß ich mit Ihnen durchweg einverstanden bin. Einwendungen wesentlicher Art habe ich nur gegen Ihre Christologie, und Bedenken – wohl nur formale – gegen den Ansatz S. 14–21, an dem vermutlich Barths Erwiderung anpacken wird. Hier könnten Sie m.E. besser gesichert sein.« (Bultmann-Gogarten Briefwechsel, 211) Im Folgenden ist sodann bemerkenswert, dass Bultmann diese Zustimmung zum theologischen Urteil Barth gegenüber mit dem kritischen Hinweis verbindet: »Verschweigen darf ich freilich nicht, daß mir Ihre kirchenpolitische Haltung durch Ihr Buch nicht verständlicher wird […]« (ebd.), d.h. dass auch Bultmann die politischen Töne wahrgenommen hat, diese aber vom systematischen Kern unterscheiden zu können glaubte. Insofern im Folgenden der Fokus auf genuin systematisch-theologischen Aspekten und Kritikpunkten liegt, werden – ohne ein abschließendes Urteil über Gogartens Versuch und den Zusammenhang von politischer und theologischer Stellungnahme abgeben zu wollen – die genuin theologischen Schwerpunkte vom politischen Urteil gelöst behandelt. 30 BARTH, KD I/1, 130f. 31 Obgleich JACOB, Gericht oder Skepsis, 9, zu Recht darauf verweist, dass Gogarten zuweilen erkennen lässt (vgl. etwa GOGARTEN, Gericht oder Skepsis, 50.56.65.143), dass Barth noch ein anderes Ziel verfolge und gegen seinen Willen in abstrakte Spekulation gedrängt werde, überwiegt doch dasjenige Urteil, welches Barth das bewusste Verfolgen jener Spekulation unterstellt. Es deutet sich an dieser Stelle jedoch an, dass Gogarten um die Probleme einer durchgehenden philosophischen Interpretation der Theologie Barths weiß. 32 GOGARTEN, Gericht oder Skepsis, 123. Diese Kritik durchzieht die gesamte Streitschrift, vgl. auch ebd., 65–68.82.90.106f.120–122.
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folge nicht dem biblischen Zeugnis, welches die Frage »Wer ist Gott?« nur im Ausgang von dem Tun Gottes beantworte, und d.h. Gott vom »Gott für uns« aus bestimmt, sondern setze mit einem oberhalb der Offenbarung angesetzten »freien Gott« bzw. »Gott an sich« ein. Sodann fragt sich aber, welchen Sinn diese philosophische Gedankenfigur Barths hat, sofern sie nicht den Anspruch erheben kann, eine Auslegung des biblischen Zeugnisses darzustellen, was Gogarten freilich für seinen theologischen Ansatz reklamiert. Die Lösung stellt sich wie folgt dar: Gott sei im Denken Barths ein solcher, von dem er ohne die biblische Offenbarung weiß, von dem er weiß aus dem »Gegensatz« zur Offenbarung, das heißt, es ist der Gott, von dem, in der Barthschen Sprache, nichts anderes als »Herrschaft« und »Freiheit« ausgesagt werden kann. Von diesem »Gott« aus versteht Barth nun die in der Bibel bezeugte Offenbarung.33
Dass der Barthsche Gott aus dem »›Gegensatz‹ zur Offenbarung« entfaltet sei, bedeute nichts anderes, als dass Barth die Problemstellungen des Neuprotestantismus nicht überwunden habe. Seine Theologie stelle eine radikale Reaktion auf das den Neuprotestantismus bewegende Problem des Relativismus ethischer Bestimmungen und geschichtlicher Orientierung, d.h. der »Welthaftigkeit der Offenbarung« als deren entscheidender Infragestellung dar. Barth beschäftige sich mit eben diesem Problem, das der liberalen Theologie im Gefolge der modernen Philosophie und vor allem der modernen Geschichtswissenschaft der Offenbarung gegenüber entstand. Und was Barth unternimmt, ist im Grunde nichts anderes als der Versuch, dieses Problem, das die liberale Theologie nicht lösen konnte, mit Hilfe einer ungeheuren Radikalisierung zu lösen. Er macht aus der Not eine Tugend, indem er den Relativismus, den die moderne Geschichtswissenschaft und eine historisierte Theologie nicht überwinden konnten, und der ihnen verbot den Gedanken der Offenbarung ernst zu nehmen, radikalisiert. Damit scheint Barth den Gedanken der Offenbarung zu retten. In Wahrheit löst er ihn auf in die spekulative Idee einer Identität des Relativen und Absoluten.34
Dieser Versuch einer Lösung des Problems der »Welthaftigkeit der Offenbarung« tendiere dazu, Gott dem Menschen und der Welt gegenüber zu »isolieren«, wodurch es unmöglich werde, überhaupt eine Beziehung zwischen dem »ewigen« bloß erdachten »Gott« und dem Menschen, dessen 33
Ebd., 89f (Hervorhebung von mir, S.H.). Die Kritik wendet sich wesentlich gegen Barths Christologie, die für Gogarten zum Doketismus tendiert: »[…] die Gestalt, die das Wort Gottes annimmt, indem es in die Welt eingeht, ist nicht nur leere Hülle oder Verhüllung, die an und für sich jeden göttlichen Gehaltes bar ist, sondern sie ist selbst göttlicher Gehalt. Das ist es nun, was Barth schlechterdings nicht verstehen kann oder will und was er allerdings auch nicht verstehen darf, ohne gezwungen zu sein, seine Theologie von Grund auf umzuändern.« (ebd., 96), vgl. insbesondere ebd., 108.120. 34 Ebd., 57.
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Sünde als »Vergänglichkeit« unterbestimmt bleibe, zu denken. Daraus erklärt sich, warum die Barthsche Theologie zur Skepsis im Blick auf die innerweltlichen Verhältnisse führe, die eigentlich unter dem Vorzeichen des in dem personalen Verhältnis zwischen Jesus Christus und dem Menschen über diesen ergehenden Gerichts stehen sollten. Offenbarung sei für Barth Offenbarung der Vergänglichkeit und der gänzlichen Andersheit von Welt und Mensch Gott gegenüber.35 Das Problem der Ethik werde damit folgenreich entwertet, denn das »Handeln, das diesem Ethos entspricht, kann darum keinen andern Sinn haben als den der Demonstration: die Relativität alles menschlichen Tuns und aller menschlichen Ordnungen soll hier demonstriert werden«.36 Das »Tun« als Demonstration der prinzipiellen Relativität könne »nur den Sinn des Nicht-Tuns«37 haben. Das Problematische an Gogartens Kritik ist nunmehr vor allem, dass diese implizit einher geht mit einer kritischen auf die politischen Folgen zielenden Argumentation. So stellt er mit Blick auf die Bekennende Kirche fest, hier meine man, nicht ohne den starken Einfluß von Barths Theologie, die Kirche nur um den Preis, ihrem Auftrag und Wesen treu erhalten zu können, daß man sie in ihrem innersten Leben vom geschichtlichen Leben des Volkes abschließt. Jede Bezogenheit der kirchlichen Verkündigung auf den geschichtlichen Augenblick wird darum kurzerhand auf Grund des Theologumenons abgetan, daß »aus diesem ›geschichtlichen Augenblick‹ eine zweite Offenbarungsquelle und ein zweiter Offenbarungsgegenstand gemacht und als eigenmächtig geformtes und gegossenes Gottesbild in der Kirche aufgerichtet« wird.38
Barths Umgang mit dem Problem der »Welthaftigkeit der Offenbarung«, so scheint es daher, führt dazu, dass die Kirche keine Gestaltungsmöglichkeit im Blick auf die geschichtliche Wirklichkeit von Volk und Staat hat.39 35 »Barth entwickelt seine Lehre von der Schöpfung gemäß dem Problem von der Welthaftigkeit der Offenbarung, das sein Denken beherrscht, aus dem Gegensatz der Wirklichkeit Gottes und der von ihr unterschiedenen Wirklichkeit der Kreatur.« (ebd., 132). Gogarten unterscheidet hier zwischen der mit dem ›Gericht‹ verbundenen ethischen Betrachtung der Welt und der mit der ›Skepsis‹ verbundenen ästhetischen. Nur die erstere führe in den vollen Ernst der menschlichen Beziehungen und Bindungen und erwachse aus der Begegnung mit dem Wort Gottes, letztere hingegen – so muss man Gogarten nun verstehen – stellt eine beliebige ›Weltanschauung‹ dar. 36 Ebd., 40. Vgl. auch ebd., 39: »Es ist klar, daß das Ethische, wenn es von dieser Ursprungsund Identitätsspekulation aus verstanden wird, in eine letzte Vergleichgültigung führen muß.« 37 Ebd., 41. 38 Ebd., 9, zitiert wird: Karl Barth und Gerhard Kittel. Ein theologischer Briefwechsel, 1934, 7. 39 Gogartens Schlussworte sehen daher nur eine Möglichkeit, der Barthschen Theologie zu begegnen: »Unsere deutsche Theologie steht heute fast ganz unter dem Bann dieser Theorie. Es wird Zeit, daß sie sie durchschaut und frei wird zu der Verantwortung, die sie unserer deutschen Gegenwart gegenüber hat.« (GOGARTEN, Gericht oder Skepsis, 157) Zur Kritik siehe nur JACOB, Gericht oder Skepsis, 4–7, der die faktische Signalwirkung des Barthschen Theologietreibens »als ob nichts geschehen wäre« der totalen Weltanschauung des NS-Staates gegenüber betont.
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Ein Gesichtspunkt von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Folgegeschichte der Interpretation der dialektischen Theologie ist darin zu sehen, dass Gogarten explizit die gemeinsame Nähe zur allgemeinen Krisenstimmung nach Ende des Ersten Weltkriegs betont. Das »radikale Denken«, in dem das »theologische Thema« aufgenommen wurde, so Gogarten, brachte uns in gefährliche Nähe zu der allgemeinen Krise, die durch Kriegs- und Nachkriegszeit das menschliche Leben bis in den Grund erschütterte, und zu der Stimmung der Ausweglosigkeit und des Am-Ende-Seins, die damals über viele Menschen gekommen war. Es ist kein Zweifel, daß diese allgemeine Krise nicht ohne Einfluß auf den Radikalismus unseres Denkens gewesen ist. 40
Recht verstanden, so fährt er fort, sei freilich die Krisensituation das einzig verbindende Moment der dialektischen Theologie gewesen: Aber darin, wie wir sie [sc. die Krise] verstanden, liegt der tiefe Gegensatz, der von allem Anfang an in dem war, was uns miteinander verband, und der ganz folgerichtig in dem Augenblick offen zutage treten mußte, als es galt, angesichts des Versuches, diese Krise zu überwinden, sich zu entscheiden.41
Diese »Selbsthistorisierung« eröffnet einen Deutungsansatz, der bis in die gegenwärtige Barthdeutung hinein fortwirkt.42 Dass Gogarten Barths Theologie insgesamt einer umfassenden Schematisierung unterwirft, ist unschwer ersichtlich.43 Gerade darin, dass er die Barthsche Theologie vom Römerbriefkommentar an bis in das Jahr 1937 hinein auf einer gleichbleibenden philosophischen Grundfigur beruhen sieht, und zugleich als bleibende radikale Position dem Problem der Geschichte gegenüber, lässt sich die Bedeutung seines Versuchs für die folgende Barthinterpretation erkennen.44 40
GOGARTEN, Gericht oder Skepsis, 13. Ebd. 42 S.u. Teil 3. 43 Vgl. etwa zur These, Barth ordne das ›Gott an sich‹ dem ›Gott für uns‹ – also seiner Offenbarung in Jesus Christus – konsequent vor, BARTH, Credo, 39: Es müsse »die im zweiten Artikel [des Credo] bezeugte Tatsache: daß Gott Mensch geworden ist, schlechterdings bestimmend sein für die Auslegung des ersten und dritten. Wie es keine besondere und direkte Offenbarung des Vaters und des Schöpfers als solchen gibt, so auch keine besondere und direkte Geistesoffenbarung. Sondern die Offenbarung des Sohnes ist als solche zugleich die Offenbarung des Vaters und des Geistes.« Dass freilich die Offenbarung in Jesus Christus recht verstanden die Freiheit und Majestät Gottes des Schöpfers seinem Geschöpf gegenüber und zugleich dessen Zuwendung zu seinem Geschöpf in Liebe offenbart, und darum der Aspekt der »unverdienten« Zuwendung in dem Gedanken des freien Entschlusses Gottes auszulegen ist, ist die Konsequenz dieses Gedankens. 44 Die Problematik des Versuchs, jene sprachlich nur im Römerbriefkommentar zu verifizierende philosophische Dialektik von Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit auch in die spätere Theologie Barths als deren Gerüst einzutragen, zeigt JACOB, Gericht oder Skepsis, 11. Gogarten muß folgerichtig in der Barthschen Rede von einer begrifflichen »Kruste« (BARTH, Credo, 159, 41
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Die kritische Barthdeutung F. Gogartens
Eine umfassende Rekonstruktion der frühen Rezeptionsgeschichte und Kritik der dialektischen Theologie könnte zeigen, dass Gogarten frühere Kritik aufnimmt und (sich selbst davon ausnehmend) gegen Barth vorbringt45. Man vergleiche etwa Paul Althaus’ gegen Geschichtsbezug und Ethik gerichtete Kritik: Die neue Losung von der völligen Transzendenz des göttlichen Lebens gegenüber der Geschichte macht sich ebensowohl in der Dogmatik, als Auflösung des geschichtlichen Offenbarungsgedankens, wie in der Ethik, als Aufhebung jeder konkreten theologischen Erkenntnis vom Willen Gottes und vom Berufe des Christen, also als Verzicht auf eine inhaltliche Ethik und vollends Sozialethik geltend.46
Eine noch deutlichere Affinität zeigt sich jedoch im Blick auf diejenige Kritik, die Ernst Troeltsch im Jahre 1921 gegen Gogarten vorgebracht hatte. Dieser nennt als Kennzeichen von Gogartens – freilich im Bewusstsein seiner als Teil einer Strömung – an Kierkegaard inspirierter Theologie »[d]ie Begegnung mit dem Absoluten, sein radikaler Gegensatz gegen die Welt, die Selbstverurteilung des Menschen in dieser absoluten Situation und die Geringschätzung aller Vermittelung zwischen Gott und Welt«.47 Diese Position sei »mit sehr subtilen und gegenwärtig sehr modernen Philosophemen über das Relative und Absolute, über Intuition und Verstandeserkenntnis, über Zeit und Augenblick verbunden, auch in einer sehr philosophischen Sprache ausgedrückt«.48 Dieses genuin philosophische Gerüst des Gogartenschen Denkens sei »[d]urch Berufungen auf Jesus und Luther […] vielfach verdeckt«.49
4. Ertrag Im Vergleich der Rendtorffschen Barthdeutung mit der früheren Kritik Gogartens erweisen sich nicht unerhebliche Berührungen im Blick auf die Bestimmung der philosophischen Grundstruktur Barthscher Theologie, aber auch auf deren Genese vor dem Hintergrund der Problemstellungen des Neuprotestantismus. Beide Deutungen rekurrieren auf Barths Verständnis des »freien« Gottes, der gegenüber der Wirklichkeit von Mensch und Geaufgenommen bei GOGARTEN, Gericht oder Skepsis, 122) eine Täuschung über die eigentlichen Interessen hinweg sehen. 45 Der Grund dafür, dass Gogarten sich von der Kritik ausnehmen zu können meint, ist darin zu sehen, dass er beansprucht, das Geschichtsproblem seinerseits aufgenommen und einer – dem biblischen Zeugnis gemäßen – Lösung zugeführt zu haben. 46 ALTHAUS, Theologie und Geschichte, 741. 47 TROELTSCH, Ein Apfel vom Baume Kierkegaards, 135. 48 Ebd., 136. 49 Ebd.
Ertrag
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schichte isoliert werde, um die spezifische Theoriegestalt entgegen dessen Selbstverständnis zu bestimmen. Übereinstimmend stellen Gogarten und Rendtorff fest, dass Barths Gottesbegriff Konturen im konstitutiven Gegensatz zur Geschichte gewinnt, dass darüber hinaus die Ethik von Barth grundsätzlich entwertet werde. Nur vor dem Hintergrund des vom Neuprotestantismus ererbten Problems der Geschichte, der »Welthaftigkeit der Offenbarung«, lasse sich Barths Entschluss zu einer solchen philosophischen Spekulation nachvollziehen. Den »blinden Fleck« der Theologie Barths, an dem beide Deutungen ihren Ausgang nehmen, ist die Subjektivitätsproblematik. Hier wird freilich ein entscheidender Unterschied zwischen Gogarten und Rendtorff deutlich, denn für Gogarten ist die Verhaftung des »Subjekts Karl Barth« in ungeklärten philosophischen Prämissen der zentrale Kritikpunkt, hingegen kann Rendtorff gerade auf dieser Grundlage eine konstruktive Verarbeitung des Problems der Subjektivität im Medium des Gottesbegriffs entdecken. Ertrag An diesem Punkt wird deutlich, dass die gemeinsamen kritischen Aspekte in einem jeweils eigenständigen Kontext vorgetragen werden, und dass für Rendtorff Gogartens Barthkritik gleichsam auf diesen selbst zurückfällt, insofern Barth als Repräsentant der gesamten »dialektischen Theologie« behandelt wird. Immerhin aber, so scheint es, kann Rendtorff die These seiner Habilitationsschrift, dass die Kernprobleme des Neuprotestantismus auch in der dialektischen Theologie strukturell fortwirken, darauf beziehen, dass sich deren Hauptvertreter gegenseitig zum Vorwurf machen, das theologische Denken des 19. Jahrhunderts nicht hinter sich gelassen zu haben. Freilich gründet dieser Vorwurf in dem Anspruch, selbst diese Überwindung durch die Anknüpfung an Bibel und Reformation geleistet zu haben – demgegenüber gibt Rendtorff beiden Seiten in ihrem negativen Urteil recht. Die Annahme einer philosophischen Grundstruktur der Theologie Barths, d.h. einer Konstruktionsebene, die von der »Verkleidung« biblischdogmatischer Gehalte unabhängig ist und den entscheidenden Gegenstand der Interpretation darstellt, wird von Gogarten im Blick auf Barths Denken behauptet,50 von Rendtorff hingegen a priori als neuzeitlicher Horizont – im Sinne des »blinden Flecks«51 – vorausgesetzt. Ist die darin implizierte Kritik für Gogarten ruinös, weil durch die faktische Konstruktion der Theologie
50 Insbesondere GOGARTEN, Gericht oder Skepsis, 155f: »Ich habe […] gezeigt, daß Barth die biblische Offenbarung vertauscht mit einer als ›Herrschaft‹ und ›Freiheit‹ gedachten Gottesidee und daß seine Behauptung, er begreife die in der Bibel bezeugte Offenbarung nicht mittels einer allgemeinen Kategorie, sondern aus ihr selbst, in Wahrheit besagt, daß er aus dieser Idee der ›Herrschaft‹ die ›biblische‹ Offenbarung deduziert, wie das nur je in einer der vielen Arten philosophischer ›Theologie‹ geschehen ist.« 51 S. RENDTORFF, Theorie des Christentums, 197.
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Die kritische Barthdeutung F. Gogartens
zugleich der Anspruch Barths konterkariert würde52 und er auf das Niveau »philosophischer« bzw. »natürlicher« Theologie zurückfiele,53 so kann Rendtorff vor dem Hintergrund der Theorie des Christentums in der philosophischen Grundstruktur den neuzeitlichen Fortschritt der Theologie entdecken. Diese geschichtsphilosophische Einbettung bildet das Proprium seiner Barthdeutung.
52 Mit Blick auf die Auseinandersetzung zwischen Gogarten und Barth hat dies insbesondere Helmut Thielicke betont: »Hier ist tatsächlich so etwas wie die Existenzfrage an die B[arth]sche Theologie gestellt. Diese Existenzfrage ist deshalb so erschütternd und so ›tragisch‹ […], weil sie den Vorwurf in sich schließt: B[arth], dessen beherrschende theologische Intention, dessen gewaltig monotones ›Ceterum censeo …‹ doch war, daß alle menschliche Ideologie, alles heimlich Säkulare, alles aufklärerisch Selbstmächtige, alles ›19. Jahrhundert‹ radikal aus Theologie und Kirche zu bannen sei, Karl B[arth], der sein Wehe über die Mördergrube der Kirche rief, dieser K. B. habe bei all seinem Ringen doch heimlich selbst wieder in Dienst und Knechtschaft jener Macht gestanden, der er so leidenschaftlich den Kampf ansagte: Die Welt – in Gestalt jenes verborgenen Leitbildes einer philosophischen Dialektik – habe bei seiner Kampfansage wider die Welt heimlich die Feder geführt. Hat die analogia entis hier wirklich ein ungeheures Umfassungsmanöver vollzogen und ihren Todfeind im Rücken gepackt?« (THIELICKE, Rez. Gogarten, 420). 53 GOGARTEN, Gericht oder Skepsis, 156.
Teil 2: Absolutheitstheoretische Kritik der Theologie Karl Barths (Falk Wagner)
1. Einführung Falk Wagner hat von allen in dieser Arbeit untersuchten Barthdeutungen die wohl umstrittenste vorgelegt. Im Blick auf ihre Spitzenthesen wurde sie von Eberhard Jüngel als »Sünde wider den guten Geschmack«1 bezeichnet. Probleme bereitet Wagners Barthdeutung insbesondere durch ihre Rückführung der materialen Entfaltung seiner Theologie auf die Ebene von »Konstruktionsprinzipien«, d.h. auf ein höchst abstraktes und formales Theorieniveau, auf dem die Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Theorien, etwa politischen und theologischen, möglich sei. Wagners Bild der Theologie Barths ist durchgehend kritisch und überschreitet in seiner polemischen Überzeichnung zuweilen die Grenzen der Sachlichkeit. Doch selbst in dem Fall, dass sich Wagners Barthdeutung als Missverständnis erweisen sollte, bleibt es von Interesse, die Verstehensvoraussetzungen zu erhellen, die ein solches Missverständnis hervorrufen. Die Absolutheitstheorie W. Cramers Die folgende Deutung soll daher zunächst diese Verstehensvoraussetzungen herausstellen, um sodann die theologiegeschichtliche Einordnung der Theologie Barths und ihre Beurteilung bis in die bekannte Spitzenthese von der Parallelität zwischen dieser und der Theoriebildung von Stalinismus und Nationalsozialismus hinein zu verfolgen. Unstrittig ist, dass Wagners Auseinandersetzung mit der Theologie Barths werkgeschichtlich hinter seinen Studien zum Idealismus zurücktritt, in denen seine Auffassung der intellektuellen Unhintergehbarkeit der Philosophie des Idealismus, insbesondere Georg Friedrich Hegels deutlich wird. Ulrich Barth stellt zu Recht fest: »Hegels ›Logik‹ avancierte für Wagner […] zum exklusiven Rationalitätsmaßstab heutiger Theologie«.2 In Anknüpfung an diese Tradition richtet Wagner seine Aufmerksamkeit bis zu der »empirisch-historischen Wende« Ende der 80er Jahre auf die Entwicklung einer »Theorie des Absoluten«, welche der neuzeitlichen Religionskritik und deren Projektionsvorwurf gewachsen und so den Gottesbegriff gerade angesichts des neuzeitlichen 1
So JÜNGEL, Barth-Studien, 13. U. BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, 171. Vgl. zur Würdigung der Studien zum Idealismus auch FISCHER, Protestantische Theologie, 255. 2
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Absolutheitstheoretische Kritik (F. Wagner)
Selbstbewusstseins rational zu vertreten in der Lage sein soll. Nichts weniger als eine überlegene Position gegenüber einer Gefühlstheologie im Gefolge Schleiermachers und der antithetisch auf diese bezogenen WortGottes-Theologie in der Gestalt ihres Hauptexponenten Karl Barth ist daher das konstruktive Anliegen der Wagnerschen Bemühungen. Dieser hohe Anspruch seines Denkens darf gerade vor dem Hintergrund der polemischen Zuspitzungen seines theologischen Urteils nicht übersehen werden.
2. Die Absolutheitstheorie Wolfgang Cramers Im Hintergrund der Barthdeutung Trutz Rendtorffs steht, wie gezeigt werden konnte, ein idealistisch beeinflusstes Theoriekonzept, welches insbesondere durch die Interpretation von Hegels Rechtsphilosophie durch Joachim Ritter inspiriert wurde. Im Blick auf Falk Wagners Studien zur Barthschen Theologie lässt sich eine analoge Entdeckung machen, insofern die Barthdeutung hier in engem Zusammenhang mit dem Programm einer »Theorie des Absoluten« steht. Entscheidende Impulse empfängt Wagner diesbezüglich von dem Frankfurter Philosophen Wolfgang Cramer,3 d.h. wie Rendtorff entwickelt Wagner ein theologisches Programm im Rahmen intensiver Auseinandersetzung mit außertheologischen Gesprächspartnern.4 Obgleich die philosophischen Studien Wagners weitaus größere Kreise der Philosophiegeschichte umspannen,5 kommt der Philosophie Cramers als Voraussetzung seines Denkens eine besondere Bedeutung zu, denn Wagner begegnete hier, wie sich zeigen wird, wesentlichen gedanklichen Voraussetzungen, die zum Verständnis seiner Barthdeutung und -kritik unerlässlich sind.6 3 Neben WAGNER, Selbstdarstellung, 281–283; dazu v.a. die Wolfgang Cramer gewidmeten Studien: WAGNER, Theo-logie, sowie DERS., Vernunft ist die Bedingung der Offenbarung. 4 In diesem Kontext werden Plausibilitäten geteilt, die in der zeitgenössischen Theologie offenbar (noch) nicht auf eine entsprechende Resonanz stießen. 5 Vgl. dazu bereits die Dissertation, WAGNER, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes. 6 Eine Verhältnisbestimmung zwischen Cramer- und Hegel- bzw. allgemein der Idealismusrezeption kann an diesem Punkte ausbleiben. Insgesamt aber ist der Einfluss Cramers noch nicht hinreichend für die Deutung des Wagnerschen Werks fruchtbar gemacht worden. Dieser Einfluss dürfte größere Bedeutung haben, als dies die knappen Bemerkungen bei U. BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, 170f, vermuten lassen. Barth führt das Programm einer Theorie des Absoluten direkt auf Wagners Hegel-Rezeption zurück und fügt hinzu, Wagner sei für die Durchführung dieser Theorie des Absoluten als Kategorienlehre im Rahmen spekulativer Logik »deshalb besonders empfänglich [gewesen], weil ihm ähnliche Intentionen bereits von seinem […] Frankfurter Lehrer Wolfgang Cramer her vertraut waren, dessen Bemühungen um einen Anschluß an die großen Traditionen der neuzeitlichen Systembildung schon früh seine Faszination erregten«. Hegel habe dieses Programm »nur noch umfassender und methodisch reflektierter durchgeführt« (ebd., 170). KOCK, Natürliche Theologie, 210–249, blendet Wagners Beziehung zu Cramer hingegen vollkommen aus.
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Einen Einblick in die Bedeutung des Cramerschen Denkens ermöglichen insbesondere zwei spätere Aufsätze aus dem Jahr 1989, in denen Wagner dessen philosophisches Werk würdigt.7 Wolfgang Cramer rehabilitierte in kritischer Wendung gegen die in der Nachkriegszeit dominierende Existenzphilosophie8 das Denken des Idealismus,9 vorrangig jedoch nicht in philosophiegeschichtlichen Darstellungen, sondern in eigenen konstruktiven Versuchen. Von besonderem Interesse für die Theologie sind Wagners Einschätzung nach diejenigen Studien, in denen Cramer seine früheren Ansätze fortführend eine »Theorie des Absoluten« zu entwerfen beginnt.10 In der mit der »Theorie des Absoluten« befassten Philosophie nämlich treffe die Theologie auf ein Gegenüber, welches die gemeinsame Aufgabe recht verstandener Theologie und Philosophie11 erkennen lasse. Die Theologie, so Wagner, stößt »in Cramer auf eine Gestalt von Theo-logie […], die es ihr […] erlaubt, des Themas der Trinität so ansichtig zu werden, wie es ihr aus eigener Kraft kaum zuteil geworden ist«.12 7 WAGNER, Vernunft ist die Bedingung der Offenbarung; DERS., Theo-logie. Ansätze einer Rekonstruktion des Denkens von Wolfgang Cramer bieten zudem ZEIDLER, Kritische Dialektik und Transzendentalontologie, 139–171, sowie die Beiträge in: RADEMACHER u.a., Rationale Metaphysik. Die Philosophie von Wolfgang Cramer. Eine knappe Übersicht über Leben und Werk bietet STOLZENBERG, Wolfgang Cramer. 8 Zur Kritik der Existenzphilosophie und ihrer theologischen Rezeption s. CRAMER, Gottesbeweise und ihre Kritik, 8: »Und in unserem Jahrhundert! Heidegger kommt und siegt – siegte. (Die Zeit frißt ihre Kinder mit wachsendem Appetit.) Die existentiellen Entscheidungen machen das Rennen. Die Schärfe der Existenz gilt … itzt. Die Theologen reißt’s hinein, weil doch nun das Sein gibt. Wo auch – in aller Welt – kann Bessres geben? Und Karl Jaspers! Mit ihm geht die Situation über alle Grenzen. Er setzt aller Philosophie die Krone auf und wird gekrönt. […] Da hat man sich früher an die Drei gehalten: Gott, Welt und Mensch. Die Drei sind zusammengeschrumpft zur Zwei: Welt und Mensch. Karl Löwith sagt es. Sollen wir hoffen oder fürchten, daß es noch zusammenschnurrt zur Eins? Ist’s etwa nicht die Wahrheit? Ist Gott nicht tot und immer schon tot gewesen? War er nicht ein Wahn? Die Theologen selbst sagen’s. So muß es stimmen.« 9 Vgl. HENRICH, Über System und Methode, 237f. Henrich stellt (im Jahre 1958) fest: »Schon der hohe Rang von Form und Konsequenz dieses einzigen grundlegenden systematischen Werkes, das nach 1945 in Deutschland veröffentlicht wurde, erwecken und berechtigen auch die Hoffnung, daß es bald größeren Einfluß auf den Gang philosophischer Untersuchungen nehme.« 10 Beginnend mit CRAMER, Das Absolute und das Kontingente (1959); DERS., Spinozas Philosophie des Absoluten (1966); DERS., Gottesbeweise und ihre Kritik (1967). Vgl. auch DERS., Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus (1961); DERS., Das Absolute (1973). 11 WAGNER, Vernunft ist die Bedingung der Offenbarung, 98–100. Hier wird zugleich die Pointe gegen die dialektische Theologie bzw. ihre Folgegestalten im Protestantismus deutlich, denen eine Vernachlässigung des philosophischen Denkens zum Vorwurf zu machen sei. Zur Kritik des bisherigen weitgehenden Ausbleibens des Dialogs zwischen Theologie und Philosophie – vor dem Hintergrund der Einsicht Pascals – vgl. CRAMER, Gottesbeweise und ihre Kritik, 55: »Den lebendigen Gott gegen den ›Philosophengott‹ zu setzen, ist denen überlassen, die Alleinvertretungsrechte usurpieren. Nichts ist gegen die Unwissenheit zu sagen, die sich um Wissen bemüht. Die Unwissenheit, die sich als Besserwisserei ausgibt, ist zu ignorieren.« 12 WAGNER, Theo-logie, 219f. Die Entfaltung seiner Theorie des Absoluten in der Sprachform der kirchlichen Trinitätslehre hat Cramer selbst freilich, soweit ich sehe, nicht explizit unternom-
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Von Interesse ist somit Cramers Arbeit an einem philosophischen Gottesbegriff,13 die er in Auseinandersetzung mit einer Kritik und Neufassung des kosmologischen und ontologischen Gottesbeweises aufnimmt. Das Thema des Absoluten ist der Philosophie Cramers Wahrnehmung nach unausweichlich aufgetragen: »Solange noch gewußt wird, was Philosophie ist, solange Philosophie noch ist, wird sie die Aufgabe, einen gesicherten Begriff vom Absoluten zu entwickeln, nicht zur Ruhe kommen lassen.«14 Näher bestimmt stellt sich diese Aufgabe wie folgt dar: Sollte ein einigermaßen zureichender Begriff vom Absoluten entwickelt werden können, dann wird diese Entwicklung daran zu messen sein, ob es ihr gelingt, den absoluten Grund als Grund des Kontingenten, des Werdens, noch zu begreifen. Aus dem absoluten Grund noch das Kontingente zu vermitteln, dasjenige Moment des absoluten Grundes noch aus ihm herauszudifferenzieren, aus welchem der absolute Grund aus sich heraustritt, nun außer sich ist, das dürfte die Aufgabe aller Aufgaben sein.15
Das Problem der Theorie des Absoluten ist die rechte Verhältnisbestimmung von Absolutem, welches im Gefolge Hegels als Subjekt16 zu denken sei, und Kontingentem. Wege und Abwege solcher Theorie erkundet Cramer in seiner Studie Gottesbeweise und ihre Kritik aus dem Jahre 1967 in Auseinandersetzung mit den kosmologischen und ontologischen Gottesbeweisen, sowie mit der von Kant vorgetragenen Kritik dieser Beweisgänge. Die Gottesbeweise selbst sind hier nur insofern von Interesse, als sie im Kern philosophische, vernünftige Gedanken enthalten.17 Die Untersuchung men. Es ist Falk Wagner, der in der Trinitätslehre – und damit an Hegel anschließend – die geeignete Entfaltungsform sieht. 13 Zur Verwendung des Begriffs des Absoluten anstelle des Gottesbegriffs s. CRAMER, Gottesbeweise und ihre Kritik, 54. 14 Ebd., 19. Vgl. insgesamt auch CRAMER, Das Absolute. Dass die Frage nach dem Absoluten innerhalb der Philosophie zum Erliegen kam, wird dieser selbst angelastet: »Die Thematik der absoluten Reflexion könnte als eine antiquierte Sache gelten. ›So können wir heute nicht mehr denken.‹ Sie sprechen kühn und stellvertretend. Nun – es bezweifelt niemand, daß sie, die so denken, nicht mehr können. Sollte ausgerechnet in unserer Zeit das philosophische Denken sich zu solcher Höhe erhoben haben, daß es weit hinaus wäre über die Epoche, da in Deutschland die philosophischen Genies einander die Hand reichten? Es ist zu vermuten, daß diejenigen, die nicht mehr können, nicht kennen oder nicht ermessen, was ihnen ein toter Gedanke ist.« (DERS., Spinozas Philosophie des Absoluten, 7). 15 CRAMER, Gottesbeweise und ihre Kritik, 19f. 16 »Das Absolute ist Letztbestimmtheit, und dieser Charakter ist sein Charakter. Es bestimmt sich selbst, Letztbestimmtheit zu sein. Es ist also sich Ausgang seiner Bestimmung oder es ist Selbstbestimmen. Es ist in sich die Differenz von Ausgang oder bestimmender Bestimmtheit und Ausgegangenem oder bestimmter Bestimmtheit. Das Absolute ist nicht Substanz, sondern Subjekt, absolutes Subjekt.« (CRAMER, Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus, 29). 17 Vgl. dazu insbesondere CRAMER, Gottesbeweise und ihre Kritik, 7, sowie ebd., 54f: »Gottesbeweise konnten – wenn unter Gott der sich offenbarende Gott verstanden wird – im abendländischen Denken erst auftreten, als das Bedürfnis sich meldete, die geoffenbarten Wahrheiten etwa
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ihrer Schlüssigkeit erfolgt im Blick auf ein Kriterium, an welchem jeder Versuch einer Theorie des Absoluten zu messen ist: das Verhältnis zwischen dem Kontingenten, dem Bestimmten, und dem Absoluten, dem Bestimmenden, sei so zu entfalten, dass weder die Selbständigkeit des Kontingenten als ausgegangen aus dem Absoluten, noch die Unbedingtheit des Absoluten gefährdet wird. Vor diesem Hintergrund zeigt Cramer die Grenzen der Gottesbeweise in ihrer traditionellen Fassung auf, obgleich an ihrem Recht gegen Kants Kritik festgehalten wird. Zwar führe das kosmologische Beweisverfahren vom Kontingenten ausgehend zutreffend an den Punkt, an dem das Absolute als Grund des Kontingenten zu denken ist. Jedoch sei diese Rückführung des Begründeten auf das grundlose Gründende nicht dazu in der Lage, die Notwendigkeit zu erweisen, dass der Grund Grund des Kontingenten ist: Der kosmologische Beweis »mag beweisen können, daß das unbedingte Dasein die Bedingung des bedingten Daseins ist. Aber er muß das Grundlose äußerlich als Grund qualifizieren. Er kann nicht einsichtig machen, daß das Grundlose Grund sein muß.«18 Der Beweisgang setze das Kontingente immer schon als Bedingung des Absoluten voraus und scheitere damit schließlich an seiner Herausforderung: »Der Grund des Daseins kann nicht durch das Dasein, dessen Grund es ist, selbst bedingt sein.«19 Folglich sei festzustellen, dass der kosmologische Gottesbeweis nur »hypothetische Notwendigkeit«20 erreiche. Aus diesem Scheitern des kosmologischen Beweises folgt für Cramer die Notwendigkeit einer Umkehr des Beweisverfahrens: Der Beweis sollte die Blickrichtung umkehren. Er sieht nur die Reihe der Gründe. Er sollte auf das Prinzip dieser Reihe blicken. Sein Beweisprinzip ist der grundlose Grund. Der grundlose Grund ist, so betrachtet, schon im Ausgang des Beweises. 21
Dies erfordert die Hinwendung zum ontologischen Gottesbeweis. Jedoch wird zuvor ein zweiter zum Scheitern verurteilter Versuch von Cramer ausgeschlossen. Es »kann die Umkehr seiner [sc. des kosmologischen Beweises] Blickrichtung nicht durch einen unmittelbaren ›Sprung‹ in ein thetisch behauptetes Prinzip legitimiert werden, das als abgeschlossen und perfekt vorausgesetzt wird«.22 Hier würde nämlich die Selbständigkeit des der christlichen Religion auch durch die Vernunft zu begreifen oder mindestens zu stützen, soweit dies möglich ist.« (ebd., 54). 18 Ebd., 19. Vgl. WAGNER, Vernunft ist die Bedingung der Offenbarung, 102. 19 CRAMER, Gottesbeweise und ihre Kritik, 50. 20 Ebd. Zur Kritik des kosmologischen Gottesbeweises s. insbesondere ebd., 50–54 – U. Barth betont zu Recht die Parallele zu Kants Kritik des kosmologischen Beweises: BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, 169. 21 CRAMER, Gottesbeweise und ihre Kritik, 53. 22 WAGNER, Vernunft ist die Bedingung der Offenbarung, 103, in Anknüpfung an CRAMER, Spinozas Philosophie des Absoluten, 29.
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Kontingenten preisgegeben, was gleichsam paradigmatisch in dem Denken Spinozas der Fall sei. Die Kritik Spinozas23 arbeitet Cramer im ersten Band der »absoluten Reflexion« unter dem Titel Spinozas Philosophie des Absoluten in einer Analyse der Ethik aus:24 Spinoza nimmt […] keine Beziehung auf das kosmologische Argument. Er beginnt mit dem, worauf dieses Argument erst abzielt. Der Anfang seines Denkens ist das schlechthin Unvermittelte, das Absolute. Dieser »Dogmatismus« ist seine Stärke. Er entzieht sich damit dem schweren Bedenken, das gegen den kosmologischen Gottesbeweis und überhaupt gegen jeden Regressus vorzubringen ist, der sich von einer Voraussetzung aus erst zu dem notwendigen Dasein hindenkt.25
Dieser Weg aus den Aporien des kosmologischen Gottesbeweises heraus sei zwar »konsequent« durchgeführt, aber zugleich »dem Bedenken ausgesetzt, daß er blanke Thesis ist und unlegitimierbar«.26 An diesem Punkt setzt Cramers Widerspruch an: Die absolute Reflexion kann jenen »Sprung« nicht vollziehen, sie bedarf der Reflexion auf ihr Verfahren selbst: Die Sache schlechthin vorzulegen geht nicht an, auf sie erst zu kommen, so scheint es, geht auch nicht an. Es ist dies ein Dilemma, welchem sich die Reflexion in der Philosophie überhaupt stellen muß, welches sie in ihrer Reflexion mit reflektieren muß. Der Rückgang auf Prinzipien z.B. ist der Rückgang zum Prinzip, durch welchen der Ausgang des Rückgehens sich als Prinzipiiertes herausstellt. Er mag wohl ausgewiesen sein, aber über das Verhältnis von Prinzip und Prinzipiatum erhält die Reflexion keine erschöpfende Auskunft.27 23
Zur Spinoza-Kritik Hegels, die wohl im Hintergrund der von Cramer vorgebrachten Kritik steht, vgl. knapp ROHLS, Philosophie und Theologie, 446. 24 Vgl. aber die Hinweise zum Vorgehen der Interpretation, welche die enge Einbindung in das Programm der »absoluten Reflexion« erkennen lassen – CRAMER, Spinozas Philosophie des Absoluten, 20: »Es geht dem Verf. nicht um eine Interpretation des Spinoza, die den eindeutigen Sinn seiner Worte und Spinozas eigene Gedanken getreu aufzufinden und wiederzugeben trachtet. Das wäre ein recht unfruchtbares und verhältnismäßig schnell abzuschließendes Unternehmen. Es geht dem Verf. um Sachfragen und nicht darum, eine Konstruktion, die sie beseitigt, nachzuzeichnen. Diese Sachfragen lassen sich letztlich auch im Gedankengange des Spinoza nicht unterdrücken, sie bringen das Schema doch zu Fall. Der Verf. nimmt Spinoza zum Anlaß für die Förderung von Fragen, für die Spinoza gerade genug Anhaltspunkte liefert, für die entscheidenden Fragen, die in jeder Philosophie des Absoluten auftreten müssen: Ist ein Denken vom ens a se oder vom absoluten ens in se aus möglich?; wie kann ein Denken aus dem Absoluten und Einen noch die Genesis des Vielen und Singulären begreifen? Die Gedanken, die der Verf. im Anschluß an Spinoza vorlegt, möchte der Verf. als eine Weiterentwicklung der in der Sache liegenden Schwierigkeiten verstanden wissen.« 25 Ebd., 26f. Konkret bezieht Cramer dieses Urteil auf die Definition 3 der Ethik (ebd., 16): »Per substantiam intelligo id quod in se est et per se concipitur, hoc est id, cuius conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo fomari debeat.« 26 Ebd., 27. 27 Ebd. Vgl. ebd., 29f: »[…] die Differenz zwischen unserem Begriffe von der Sache und der Sache selbst kann natürlich in der Reflexion nicht verschwinden. Einen vollständigen Begriff vom Absoluten können wir nicht haben (und damit auch keinen vollständigen Begriff von irgendeiner
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Das Kernproblem, welches sich in Spinozas Vorgehen zeigt, sieht Cramer darin, dass diesem die Vermittlung von Absolutem und Kontingentem nicht gelingen kann:28 »Die Mittel des Spinoza können nicht ausreichen, um aus der Substanz einsichtig zu machen, wie das Viele durch sie vermittelt sein kann.«29 Insbesondere der Gedanke der Aseität werde von Spinoza nur unzureichend reflektiert,30 deutlich werde dies in dem Scheitern an der Aufgabe, »aus dem Einen das Viele auch wirklich […] [zu begreifen], eine Forderung, die bis heute niemand eingelöst hat«.31 Die Spinoza-Studie mündet daher in die Feststellung der Spannung, welcher die absolute Reflexion zwischen Spinozismus und kosmologischem Gotttesbeweis ausgesetzt ist: »Die absolute Reflexion muß beides vermeiden: eine Reflexion, die sich ihres Ausgangs als einer Bedingung nicht entledigen kann, den Sprung, die unmittelbare Thesis, die sich nicht ausweist.«32 Falk Wagner bringt die aus dieser Problemlage zu ziehende Konsequenz im Anschluss an Cramers Studien auf folgende Formel: Vielmehr kann der Anfang mit dem Absoluten nur dann gelingen, wenn das bedingte Dasein, bei dem der kosmologische Beweis anhebt, so aus dem Absoluten genetisiert wird, daß es zugleich als ein Sein außer dem Absoluten gedacht werden kann. 33
Beide Beweisgänge sind ineinander zu verschränken, denn der Schwäche der kosmologischen Argumentationsfigur könnte nur durch die Umkehr des Ausgangs aufgeholfen werden, d.h. das kosmologische wäre in das ontologische Gottesbeweisverfahren aufzuheben. Das würde zugleich bedeuten, daß der Ausgang beim religiösen Bewußtsein in den Ausgang vom religiösen Grund aufzuheben wäre.34
Sache, weil jede Sache durch das Absolute bestimmt ist). Aber ebenso gilt, daß aus dem Grunde, weil wir Denken sind, unserem Denken keine absolute Grenze gesetzt sein kann. Eine Reflexion über diese Frage, überhaupt die doch für Spinozas Unternehmen schließlich wichtige Differenz zwischen der Substanz und unserem Begriffe von ihr, ist bei Spinoza nicht zu finden.« 28 Ebd., 38: »Der aller Reflexion bare Sprung in die Sache gestattet Spinoza nicht, die Substanz Moment um Moment systematisch zu entwickeln, der Ungereimtheit, die im Begriffe der Aseität offen zutage liegt, inne zu werden, die Grundlosigkeit als Grund zu begründen und daraus erst zu einem begründeten Begriffe von Aseität zu kommen, der sich dann allerdings als Subjekt ergibt.« 29 Ebd. 30 Vgl. ebd., 23ff. 31 Ebd., 41f. Vgl. Cramers Feststellung (ebd., 19): »Und schließlich: der Spinozismus läuft ohnehin auf absolute Weltvernichtung hinaus.« 32 Ebd., 29. Hinsichtlich der Freiheit von Kontingentem und Absolutem erweist sich Spinozas Denken für Cramer als ruinös (ebd., 53): »Die christliche Metaphysik, welche nicht nur die Freiheit zur Handlung lehrt […][,] muß meinen, daß Deus in seiner reinen Aseität hätte verbleiben können. Das Extrem, Spinoza, meint, daß die Welt mit Deus schlechthin notwendig sei, eine Lehre, die nun allerdings alle Freiheit kassiert. […] Die Lehre des Spinoza macht unsere Freiheit unverständlich und muß sie für eine Chimäre halten.« »Deus« hingegen werde »durch die Spinozistische Definition der Freiheit […] ein verendlichtes Unendliches« (ebd., 68). 33 WAGNER, Theo-logie, 225. 34 WAGNER, Was ist Religion, 154.
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Diese Aufhebung zu vollziehen, ist Sache »absoluter Reflexion«, d.h. spekulativen Denkens. An diesem Punkt aber bleibt eine Leerstelle im Denken Cramers, da er die entscheidenden Bände seines auf fünf Bände angelegten Werkes Die absolute Reflexion nicht mehr vorlegen konnte und sich für die Durchführung dieses Versuchs allenfalls erste Ansätze finden lassen.35 Zum Cramerschen Erbe im Denken Falk Wagners gehört die fundamentale Einsicht, dass »Gott« – recht verstanden – geradezu eine notwendige und die höchste Sache des Denkens ist. Das Absolute ist damit nicht exklusiv Gegenstand von Glaube und Offenbarung. Für Cramer wie für Wagner stellt der absolutheitstheoretisch entwickelte Gottesbegriff darüber hinaus das vorzügliche Mittel bereit, um die aporetische Konstitutionsproblematik von Subjektivität einer Lösung zuzuführen – aporetisch ist diese in dem Sinne, dass das Selbstbewusstsein sich selbst im Denken der Begründung seiner selbst immer schon voraussetzen muss. Insofern nun das individuelle Selbstbewusstsein ›Kontingentes‹ repräsentiert, bietet sich augenscheinlich in absoluter Reflexion die Möglichkeit, dessen Begründung aus dem Absoluten zu entwickeln und so in dem Kontingenten das Sich-Denken des Absoluten aufzuspüren. Die von Cramer anhand der Gottesbeweise entwickelte Kriteriologie wird von Wagner daher in vollem Umfang übernommen: Allein die Konzeption des Absoluten ist geeignet, das Andere und damit Welt und Mensch aus dem Absoluten genetisch zu bestimmen, die das Absolute in seiner immanenten Selbstdifferenzierung zu erfassen vermag; und nur sie verfügt über die denkerischen Mittel, um zusammen mit dem Absoluten auch seine Beziehung zur Welt zu lösen. Konzeptionen jedoch, die entweder Absolutes und Anderes als gleichgültiges Außereinander oder als ursprüngliches Zugleichsein betrachten, sind dazu 35 Andeutungen finden sich in: CRAMER, Gottesbeweise und ihre Kritik, 90–92. Vgl. auch DERS., Das Absolute, 19f: »Der Gedankengang, der vom Endlichen ausging, sieht am Ende ein, daß der andere Weg gegangen werden muß. Mit dem Absoluten ist der Anfang zu machen, d.i., mit dem Sein. Natürlich ist dieser Anfang gegen alle Einwürfe zu sichern. In fortschreitender Differenzierung des Seins wäre nun erst das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem, das Verhältnis von Sein und Zeit, von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Sein und Sich-Sein, bzw. von Sein und Für-Sein ins Denken zu bringen. – Wie? Im Ausgange vom Sein, dem absolut unbestimmten, in sich unterschiedslosen Sein, der nichtigen Leere, sollte dies durchgeführt werden? Nun, von dem reinen Sein Hegels wäre auch nicht die Rede. Ist etwa das leer und nichtig, das die Differenz ausmacht zwischen den Gedanken und den Existenzen, zwischen dem Gedanken von einem a und dem, daß ein a ist? Das Sein ist das Leben, nämlich die Kraft, dem Möglichen Leben zu geben. Das Sein wird sein das an sich haltende Leben, das die Kraft in sich sammelnde Leben und das vom Können zur Tat fortschreitende Leben, das Leben schaffende Leben.« Die geplanten weiteren Bände neben den Untersuchungen zu Spinoza und den Gottesbeweisen sollten die Titel Das transzendentale Subjekt, Die absolute Reflexion in der Philosophie des deutschen Idealismus und schließlich Die absolute Reflexion tragen. Dem ersten Band stellte Cramer im Vorwort folgendes voran: »Das Thema ist von so außerordentlicher Schwierigkeit, daß nicht vorauszusehen ist, ob es zu einem Abschluß gebracht werden kann, der den Verf. befriedigt. Augenblicklich zwar meint er, er könne sein Vorhaben durchführen. Morgen schon mag er daran verzweifeln.« (CRAMER, Spinozas Philosophie des Absoluten, 7).
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nicht in der Lage.36 – Sie rettet mit dem Dualismus gegen den Pantheismus [Spinozismus] die relative Selbständigkeit des Anderen außer dem Absoluten. Aber sie insistiert mit dem Pantheismus gegen den Dualismus darauf, daß das selbständig Andere aus dem Absoluten zu generieren ist. 37
Eine theologische Pointe ist an diesem Punkt bereits ersichtlich, denn grundsätzlich hat sich für Wagner im Anschluss an die Spinoza-Kritik die Rede vom Sein Gottes »an sich« erledigt: »Der Gott der Aseität und direkten Selbstbestimmung geht daran zugrunde, daß er die Voraussetzung seiner Selbstauslegung nicht beherrscht: Die Differenz zwischen aktivem Bestimmen und passivem Bestimmtsein.«38 Der Gottesgedanke ist nicht anders als a priori trinitarisch zu entfalten: Ist die Selbstoffenbarung Gottes allein aufgrund seiner trinitarischen Selbstdifferenzierung denkbar, so ist zwangsläufig die traditionelle Unterscheidung zwischen abstrakter Gottes- und Trinitätslehre, zwischen der Lehre von dem einen Gott (de deo uno) und dem dreieinen Gott (de deo trino) aufzuheben. Denn ist der Begriff von Gott als das Offenbarsein Gottes nur aus dem sich trinitarisch differenzierenden Gott selbst zu gewinnen, so ist die als bloßer Monotheismus vorgetragene Gotteslehre nicht in der Lage, einen haltbaren Begriff Gottes zu entwickeln.39
Bringt Wagner nun als Proprium der Theologie die Gedankenfigur der Trinität, d.h. der Selbstdifferenzierung und -entfaltung Gottes, als angemessene Explikationsmöglichkeit für Cramers Projekt ein, so versucht er auf diesem Wege zur Überwindung des Grabens zwischen Philosophie und Theologie beizutragen.40 Die Cramersche Theorie könne »unschwer als Explikation der Selbstoffenbarung Gottes gelesen werden«.41 Dabei stelle sie eine vernünftigbegriffliche Rekonstruktion dessen dar, was »kirchlich-theologische Trinitätslehren« durch herangetragene Vorstellungsweisen, die »aus der empirisch-faktischen Welt- und Selbsterfahrung des Menschen entlehnt« sind, der vernünftigen Einsicht eher verstellten. Indem der trinitarisch (spekulativ) gedachte Gott auf diese Weise als »einzig vernünftige Theo-logie«42 entfaltet wird, sei zugleich die Grenze von Offenbarungstheologie und »natürlicher Theologie« aufgehoben.43 36
WAGNER, Vernunft ist die Bedingung der Offenbarung, 109f. Ebd., 110. 38 Ebd., 119f. 39 Ebd., 115f. 40 Damit wird das Projekt Cramers über die von ihm gesetzten Grenzen hinaus weitergedacht – vgl. CRAMER, Gottesbeweise und ihre Kritik, 55, am Beispiel des kosmologischen Gottesbeweises: »Der kosmologische Gottesbeweis beweist natürlich nicht die Existenz des biblischen Gottes […]. Es geht um Argumente, um philosophisches Denken, und nicht um Lehren und Gehalte der Religion.« 41 WAGNER, Vernunft ist die Bedingung der Offenbarung, 114. 42 Ebd., 116. 43 Ebd., 118: »Fest steht jedoch, daß der theologisch reflektierte biblische Gottesglaube von der Last eines exklusiven Alleinvertretungsanspruchs durch die Einsicht zu entlasten ist, daß eine 37
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Wenn die Theorie des Absoluten den Gottesgedanken als denknotwendig erweist, stellt sie der Theologie die Mittel bereit, seinen Geltungsanspruch der neuzeitlichen Religionskritik gegenüber zu behaupten, deren Projektionsvorwurf die schlechthin entscheidende neuzeitliche Herausforderung für Wagner darstellt. Ob die Theologie einer solchen Leistung fähig ist, avanciert für ihn zu einem entscheidenden Beurteilungsmaßstab im Blick auf theologische Entwürfe – denn gleichsam durch eine Steigerung des Reflexionsniveaus kann das (protestantische) Christentum unter den neuzeitlichen Bedingungen bestehen und die Theologie gemeinsam mit der Philosophie in die Rolle der letztbegründenden Wissenschaft aufsteigen. Die kriteriologische Funktion der Cramerschen Analyse der Gottesbeweise gewinnt in diesem Zusammenhang entscheidende Bedeutung für Wagners Verständnis der Theologie.
3. Theorie des Absoluten und die Kritik der Theologie 3.1 Die Unhintergehbarkeit der Subjektivität Wagner rezipiert die Cramerschen Gedankengänge im Horizont der für die Theologie grundlegend gewordenen Problematik der Subjektivität. Eingeleitet und herausgefordert durch die Philosophie habe die Theologie seit Pietismus und Neologie und schließlich konsequent seit Schleiermacher die Wendung zur Subjektivität vollzogen. Sie ist damit vor eine unhintergehbare Einsicht gestellt: »Wie man es auch immer nennen will: Ich, Selbstbewußtsein oder Subjektivität – sie sind die grundlegende Bedingung für die Konstitution von Theologie.«44 Gelöst von dem tätigen Selbstbewusstsein kann die Theologie keines Gegenstandes habhaft werden. Die Objektivität des vormodernen Supranaturalismus hat sich so für Wagner mit der neuzeitlichen auf die Subjektivität zentrierten Theologie erledigt. Schleiermacher etwa setze diese Konsequenz der epochalen Wende in der Reinterpretation der dogmatischen Gehalte als Ausdruck des religiös-frommen Bewusstseins in seiner Glaubenslehre um. Im Blick auf die neuzeitliche Theologiegeschichte erhält die Subjektivitätstheorie damit den Rang eines hermeneutischen Prinzips von umfassender Erschließungskraft. Der Gedanke, dass noch dort, wo in anscheinend objektiver Weise etwa von Gott gesprochen wird, »Ich«, d.h. Selbstbewusstsein, als Denker des Gedankens schon »dabei« ist und sich aus diesem seiner Intention entsprechende Philosophie des Absoluten zu seiner vernünftig-argumentativen Explikation beitragen kann.« 44 WAGNER, Erschlichene Freiheit, 344.
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Prozess nicht selbst »herausdenken« kann, scheint derart bezwingend, dass Theologie – neuzeitlich – auf keiner anderen Grundlage konstruiert werden kann. Insofern erweist es sich als unausweichlich, dass jede theologische Theoriebildung, darüber hinaus aber auch die Theoriebildung jeder anderen (Geistes-)Wissenschaft, als der funktionale Ausdruck von Subjektivität zu interpretieren ist. D.h. überall dort, wo es »Theorie« gibt, handelt es sich um die Selbstauslegung von Subjektivität im Medium jeweils bestimmter Gehalte. Absolutheitstheorie und Kritik der Theologie Eine entsprechende Realisierung dieser Einsicht innerhalb der Theologie freilich erfordert einen grundlegenden Wandel in deren Selbstverständnis. Diesen Wandel fordert Falk Wagner im Jahre 1971 im Zusammenhang der durch Trutz Rendtorff und Dietrich Rössler ausgelösten Debatte um Verständnis und Neukonstitution der Theologie als Wissenschaft ein.45 Unter dem Titel Die erschlichene Freiheit. Jüngste Tendenzen in der systematischen Theologie stellt Wagner die Einsicht in den Mittelpunkt, dass die Tätigkeit von Subjektivität grundlegend für die Theologie sei. Die theologische Theoriebildung selbst werde damit zum Gegenstand der Theorie.46 Auf dieser Grundlage werde »die neuzeitliche Geschichte der Theologie zur begriffenen Geschichte«47 und erreiche »das fortgeschrittenste Bewußtsein der gegenwärtigen Theologie selber, insofern nämlich über das Bewußtsein begriffener Geschichte hinaus ein höherer Bewußtseinsstandard gar nicht denkbar ist«.48 Eine solche »Theorie theologischer Theoriebildung«49 wird wesentlich als »kritische Theologie«50 verstanden, welche die pluralen positionellen Gestalten bisheriger Theorieentwürfe, d.h. solche, die im Widerspruch zu konkurrierenden Entwürfen verhaftet sind, zu begreifen imstande ist, ohne ihre Differenz einzuebnen. Sie führt diese auf die konstruktive Tätigkeit von Subjektivität zurück und hat aus diesem Grunde Einsicht in den unüberwindlichen Pluralismus positioneller Theoriebildung.51
45 Vgl. RENDTORFF, Theorie des Christentums; RÖSSLER, Positionelle und kritische Theologie. Von der auf die Kirche bezogenen Theologie sei dieser Wandel freilich nicht zu erwarten – vgl. WAGNER, Zur Konstitution und Kommunizierbarkeit, 147f. 46 WAGNER, Erschlichene Freiheit, 343. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd., 344. 51 Vgl. dazu ebd.: »Indem die Darstellung der Theologie in die Verantwortung des Theologie konstruierenden und konstituierenden Theologen, des jeweils inkarnierten transzendentalen Subjekts, übergeht, wird die Theologie zugleich zum Boden vollzogener Emanzipation von der in der Kirche institutionalisierten christlichen Religion und theologischen Lehre. Darin ist es begründet, daß die Eindeutigkeit der Theologie durch den prinzipiellen theologischen Pluralismus abgelöst wird. Denn jede Position kann durch eine weitere, zumeist antithetisch gewonnene relativiert werden.« (Hervorhebung von mir, S.H.).
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Das Verfahren solcher »Theorie theologischer Theoriebildung« selbst ist allerdings jedem positionellen Widerspruch enthoben. Die vorgebrachte Kritik ließe sich nämlich ihrerseits auf die Konstruktion durch Subjektivität rückführen, d.h. sie wäre von vornherein als auf den in der »Theorie theologischer Theoriebildung« allererst zu Bewusstsein kommenden Prämissen basierend zu begreifen. Sofern diese Einsicht nicht präsent ist, begegnet Wagner der Kritik mit dem Einwand, sie werde »von einer Position aus vorgetragen, die noch nicht das Reflexionsniveau erreicht hat, das zu einer derartigen Kritik berechtigte«.52 Strukturell parallel wird gegen die befreiungstheologischen Entwürfe Moltmanns und Metz’ eingewendet, dass diese eine Befreiung des Menschen konstruierten, ohne des »Konstitutionsproblem[s] von Freiheit« gewahr zu werden: Ohne den Freiheitsvollzug, d.h. ohne das freie Selbst-Setzen der Subjektivität kann der Mensch auch die Freiheit nicht ergreifen, zu der ihn Christus befreit hat (Galater 5,1). Hat der Mensch sich nicht schon a priori als freier Mensch hervorgebracht […], so nutzen ihm aposteriorische Befreiungen und Emanzipationen gar nichts; sie werden dann als äußeres Geschehen wahrgenommen.53
Was somit für die Einsicht in die Konstruktivität des Selbstbewusstseins als Ursprung des theologischen Widerspruchs gilt, kennzeichnet auch die theologische Rede von Freiheit als erst zu verwirklichender. Verwirklichte Freiheit bzw. getätigtes Selbstbewusstsein liegt immer schon voraus, die Theologie nimmt schon in Anspruch, was sie erst zu begründen bzw. zu kritisieren vorgibt. Für das Verständnis theologischer Theoriemodelle, also nicht zuletzt für die Darstellung theologiegeschichtlicher Zusammenhänge, zeitigt diese »Theorie theologischer Theoriebildung« erhebliche Konsequenzen. In der 1975 erschienenen Abhandlung Zur Konstitution und Kommunizierbarkeit theologischer Gehalte entfaltet Wagner die hermeneutische Tragweite der Einsicht, dass Subjektivität als Grund der theologischen Gehalte zu bestimmen sei. Verständnis und Aneignung theologischer Gehalte seien allein durch deren Rückführung auf die Tätigkeit von Selbstbewusstsein möglich: Ein Gehalt, bei dem die Subjektivität nicht dabeisein kann, trägt […] den Makel des Autoritären an sich. Wer den Bestand abstrakt-absoluter, nämlich von der Subjektivität losgelöster, Gehalte behauptet, vertritt, wie es Fichte mit unerbittlicher Schärfe ausgesprochen hat, den Standpunkt des Dogmatismus oder, um mit Hegel zu sprechen, den der Positivität.54
52
So in der Reaktion auf die Kritik Gerhard Sauters, ebd., 345f. Ebd., 347f. 54 WAGNER, Zur Konstitution und Kommunizierbarkeit, 149. 53
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Die subjektivitätstheoretische Einsicht in die konstruktive Leistung des Selbstbewusstseins erfüllt folglich die Funktion der »natürlichen Theologie«: […] gäbe es nicht so etwas wie einen »Anknüpfungspunkt« im Menschen, auf den die Theologie bei der Explikation ihrer Gehalte zurückgreifen kann, so wäre die Rede von Gott als das dem Menschen schlechthin Fremde ohne Bedeutung oder im Falle einer menschlichen Anteilnahme an der Rede von Gott müßte diese als »Verkündigung Gottes und seines Wortes« gleichwohl das Geschäft eines permanenten Gewaltstreichs darstellen.55
Der angemessene Zugang des Selbstbewusstseins zu den Gehalten, in deren Medium die Theorie entfaltet wird, äußert sich in der bereits von Rendtorff her bekannten Tätigkeit von »Kritik und Konstruktion«. Der Kritik führt die Gehalte auf die ihnen vorausliegende Tätigkeit von Selbstbewusstsein zurück und erhellt ihre funktionale Bedeutung. Dem korrespondiert sodann ihre (Re-)Konstruktion durch eigenes Selbstbewusstsein.56 Der eigentliche Inhalt der Rekonstruktion ist aber nichts anderes als die »Selbstdurchleuchtung der tätigen Subjektivität« im Lichte der Spannung, die sich im Blick auf deren vorgegebenen und doch nur im Tätigkeitsvollzug zu ergründenden Grund ergibt. Dabei – so Wagner an anderer Stelle – sei »die Theologie in ausgezeichneter Weise in der Lage, die Selbstdurchleuchtung der tätigen Subjektivität als Grund der Wirklichkeitskonstruktion zu leisten«, d.h. im Medium der Gehalte die Subjektivität über sich aufzuklären.57 Die Theologie biete mit dem trinitarischen Gottesgedanken die Möglichkeit zur Entwicklung der Letztbegründung von Subjektivität innerhalb einer Theorie des Absoluten. An diesem Punkt lässt sich bereits deutlich das Proprium des Wagnerschen Denkens insbesondere gegenüber der Christentumstheorie Rendtorffs erkennen. In der Reichweite der Theologie liegt es nicht allein, die Geschichte theologischer Theoriebildung als »begriffene Geschichte« transparent werden zu lassen, sondern zugleich die vorangegangenen Theoriebildungen im Rahmen einer Theorie des Absoluten »aufzuheben« und schließlich die »absolute Theorie« vorzulegen, damit aber das Rätsel der »Konstitution von Freiheit« doch der – von Rendtorff nicht für möglich gehaltenen – Lösung zuzuführen.58 Wagner verweist dazu auf die
55
Ebd., 153, vgl. 155. »Die Vermittelbarkeit hebt folglich darauf ab, daß sich die Subjektivität den theologischen Gehalten deshalb unterstellen und sich an sie entäußern kann, weil sie sich in ihnen selbst objektiviert und sich so ihrer selbst ansichtig wird.« (ebd., 158). 57 WAGNER, Systemtheorie und Subjektivität, 152. 58 Vgl. dazu RENDTORFF, Theorie des Christentums, 197: »Nicht die ›Lösung der Welträtsel‹ ist die Aufgabe der Theologie, wohl aber die Möglichkeit festzuhalten, daß es sie gibt. Und das Problem der Konstitution von Freiheit ist ja dieses einzige zentrale Problem, von dem her erst alle anderen ihre Beleuchtung und ihren Sinn empfangen.« 56
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absolutheitstheoretisch rekonstruierte Trinitätslehre als Selbsterfassung (und -begründung) des Selbstbewusstseins: In der Gotteslehre expliziert sie das Sich-Gegebensein (Sich-Vorausgesetztsein) des freien und selbsttätigen Selbstbewußtseins als universale Abhängigkeit vom allgemeinen Selbstbewußtsein. In der Christologie konstruiert sie den gelungenen Fall der Selbstmitteilung und Selbstdarstellung von Selbstbewußtsein als Grund jeder Kommunikabilität und Intersubjektivität. Und in der Lehre vom Geist vermittelt sie die Tätigkeit des besonderen Selbstbewußtseins, wie sie sich in den Wissenschaften und in der Alltagswelt artikuliert, mit der Tätigkeit des allgemeinen Selbstbewußtseins.59
Die Theorie des Absoluten verfolgt somit zunächst das Ziel, die Frage nach der Begründung von Subjektivität zu beantworten. Gelingt ihr dies, so erweist sie sich dazu imstande, die pluralen und unvollkommenen Gestalten bisheriger Theoriebildung – selbst nicht positionell verfahrend – als Ausdruck dieser Subjektivität aufzuheben. Dieser Anspruch, mit der Subjektivitätstheorie das fundamentale hermeneutische Prinzip bereitzustellen und vom metatheoretischen bzw. »absoluten« Ort der Theorie des Absoluten ausgehend die Pluralität des Individuellen bzw. Kontingenten zu begreifen, wird von Wagner zunächst im Blick auf unterschiedliche theologische Entwürfe und deren Zusammenhang erprobt. Grundlegend, dies bleibt festzuhalten, ist der Ausgangspunkt Wagnerschen Denkens, dass alle Gestalten von Theoriebildung implizit die Konstruktion selbstbestimmender Subjektivität darstellen.60 Den Status dieses Beweises betreffend ist allerdings folgendes zu beachten: Das Christentum hat insofern die Tätigkeit der Subjektivität zum Gegenstand, als der Mensch – als tätige Subjektivität –, einmal die den gesamten Vorstellungsgehalten zugrunde liegende Tätigkeit seiner selbst erkannt habend, nicht umhin kann, alle Gehalte des Christentums entsprechend dieser Tätigkeit zu dechiffrieren. D.h. selbst die theologische Aussage, Theologie habe es nicht mit der Tätigkeit der Subjektivität zu tun, wäre kein triftiger Widerspruch gegen Wagners These, insofern sie ja als im Interesse tätiger Subjektivität von dieser erdacht zu verstehen wäre. Die Theorie bedarf daher keines Erweises ihrer Ableitbarkeit aus der Gedankenbewegung christlicher Theologie, da sie sich immer schon als absolut gesetzt weiß.
59
WAGNER, Systemtheorie und Subjektivität, 152. Ebd., 151: »Zweifelsohne steht im Zentrum der christlichen Theologie die Tätigkeit der Subjektivität in ihren verschiedenartigen Ausprägungen. Das macht allein schon ein Blick auf die religiöse Vorstellungswelt des Christentums deutlich, die den Reflexionsgegenstand der Theologie darstellt. Ob es sich um Gott, Christus oder den Christen handelt: In allen diesen Vorstellungen wird das Tun der Subjektivität auf jeweils spezifische Weise thematisiert.« 60
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3.2 Die begriffene Theologiegeschichte Für Wagner stellt sich die Aufgabe, im Zusammenhang der Theorie theologischer Theoriebildung die vorangegangenen Theorien als Ausdruck einer impliziten Auseinandersetzung um die Subjektivität kritisch zu durchleuchten und so zu rekonstruieren, daß die Theorie des Absoluten die Aufhebung der unterschiedlichen Positionen ermöglicht, ohne selbst in die positionellen Widersprüche zurückzufallen. Den historischen Ausgangspunkt dieser Rekonstruktion bildet die durch Pietismus und Neologie in der Theologiegeschichte eingeleitete Orientierung an der Subjektivität. Hier werde den neuzeitlichen erkenntnistheoretischen Herausforderungen Rechnung getragen: »Die Theologie vollzieht die Wendung zur Selbstgewißheit der Subjektivität – zunächst in den Gestalten der frommen (Pietismus) und der vernünftig-sittlichen (Aufklärung, Neologie) Subjektivität – mit«.61 Die »positionelle Theologie« in der Folge Kants, Fichtes und Schleiermachers realisiere das tätige Selbstbewusstsein allerdings als jeweils inhaltlich bestimmtes, d.h. »als ›moralisches‹, ›frommes‹, ›erwecktes‹, ›erlöstes‹, ›sittlich-religiöses‹ etc. Selbstbewußtsein«.62 Das Selbstbewusstsein wird damit zwar als Grundtätigkeit des Aufbaus der Theologie und ihrer Gehalte begriffen, dies jedoch insofern nur unzureichend, als die jeweilige inhaltliche, d.h. gehaltvolle, Bestimmung der Subjektivität die Negation andersartiger Bestimmungen nach sich zieht;63 ein Beispiel ist in der Konkurrenz zwischen »moralischem« und »religiösem« Selbstbewusstsein zwischen Kant und Schleiermacher zu sehen. Dem Geltungsanspruch des jeweiligen Entwurfs seien damit aber enge Grenzen gesetzt: Solange aber die Theologie insgesamt positionell verfährt, darf ein Theologe nicht die Absicht verfolgen, die eigene Position als die siegreiche überhaupt zu etablieren und die anderen Positionen zum Verschwinden zu bringen. Denn die Bedingung, eine siegreiche Position zu vertreten, besteht gerade darin, daß neben dieser die anderen Positionen fortbestehen.64
Die Überwindung der positionellen Theologie vollziehe erst diejenige kritische Theorie theologischer Theoriebildung, die die Positionalität auf die Einsicht hin überschreite, »daß die in Positionen sich darstellende Theologie von Gnaden des sie jeweils konstruierenden Subjekts des Theologen ist«.65 Zum Verständnis der positionellen Theologie müsse daher allererst 61
WAGNER, Art. Gott, 800. WAGNER, Systemtheorie und Subjektivität, 151. 63 Ebd., 163. Wagner stellt fest: »diese Unabhängigkeit, das negative Bezogensein auf anderes, macht sozusagen den ›ontologischen‹ Rest der positionellen Theologie aus« (ebd.). 64 WAGNER, Gehlens radikalisierter Handlungsbegriff, 214. 65 Ebd. 62
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das diesen zugrunde liegende »Konstruktionsprinzip« ermittelt werden. In diesem verdichtet sich die jeweilige »inhaltliche Bestimmtheit«, bei Schleiermacher etwa als »frommes Selbstbewußtsein«:66 Das Konstruktionsprinzip jeder Theologie ist die Weise, wie sich das selbsttätige Selbstbewußtsein funktional zur Geltung bringt. Denn es ist die objektivierte Tätigkeit, mit der das Ziel verfolgt wird, die einzelnen theologischen Lehrstücke zur Einheit zu bringen. Es liegt am positionellen Charakter dieser Theorien, daß sich die inhaltliche Bestimmtheit des Konstruktionsprinzips mit jeder Theologie ändert.67
Die Aufhebung dieser Positionalität als notwendiger Entwicklungsschritt könne sodann nur dadurch erreicht werden, »daß nicht mehr die inhaltlich bestimmte Selbsttätigkeit des Selbstbewußtseins, sondern Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung überhaupt und als solche zum Konstruktionsprinzip der Theologie erhoben werden«.68 Hier tritt nun der theoriegeschichtlich entscheidende Fortschritt innerhalb der Theologie des 20. Jahrhunderts hervor, der für Wagner u.a. von Karl Barth verkörpert wird: »Karl Barth hat die unbedingte Selbstbestimmung mit der Selbstbestimmung der absoluten Subjektivität – Gottes – identifiziert.«69 Im Medium des Gottesbegriffs entwickle Barth ein Verständnis von Subjektivität, welches die positionelle Verfasstheit überschreite: Auf Grund des Wissen-Könnens kann der Übergang von der positionellen zur dialektischen Theologie in seiner Notwendigkeit einsichtig gemacht werden. Denn erscheint die selbstbestimmende Tätigkeit in der positionellen Theologie in jeweils inhaltlich bestimmter Weise, woraus der Konkurrenzkampf der Positionen resultiert, so entspricht die Selbstbestimmung erst dann ihrem eigenen Begriff, wenn sie sich selbst zum Inhalt hat. Mit Notwendigkeit [!] erhebt die dialektische Theologie daher die Verwirklichung der an sich selber erfaßten Selbstbestimmung zu ihrem Thema.70
Indem aber – im Dienste der Überschreitung des positionellen Gegensatzes – die unbedingte Subjektivität als absolute gedacht wird, ist sie zugleich als Grund der konkreten Subjektivität, des Kontingenten zu denken. Sie darf selbst nicht in Widerspruch zu den vorangegangenen Gestalten positioneller Theoriebildung geraten. Hier ist der systematische Kern der Wagnerschen Barthdeutung erreicht, der im Folgenden zu entfalten ist. Dieser Übergang von der positionellen zur dialektischen Theologie, dem Wagner in der Folgezeit eine Reihe von Rekonstruktionsversuchen widmet, ist jedoch zugleich eingebettet in den weiteren Zusammenhang der Theo66
Ebd., 214 Anm. 2. Ebd., 214. 68 Ebd. 69 Ebd., 215. 70 Ebd. Zum »Wissen-Können« vgl. auch CRAMER, Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus, 6f, der sachlich denselben Gedanken als »Bedingung des Wissens« (ebd., 7) bezeichnet. 67
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riebildung. Die Erschließungskraft der Rekonstruktion aus absolutheitstheoretischer Perspektive muss sich für Wagner nicht nur im Blick auf die Theologiegeschichte, sondern darüber hinaus auf die gesamte Geschichte der neuzeitlichen Theoriebildung innerhalb der Geisteswissenschaften erweisen. Auch deren Theoriebildung zeige sich durchgängig mit der Selbstverständigung von Subjektivität befasst. Prinzipiell ist damit eine Verbindung von »Theologie und Philosophie, von Theologie und außertheologischen Sozial- und Humanwissenschaften«71 vorauszusetzen. Die »absolute« Theorie setzt sich damit der Notwendigkeit aus, auch in historischer Dimension ihre universale Entwicklungsfähigkeit auf Einzeltheorien hin erweisen zu müssen: Für eine theologische Theorie, die sich nicht mit der bloßen Feststellung des positionellen Charakters der Theologie bescheidet, sondern die versucht, entsprechend dem Grundsatz des Wissen-Könnens die Metatheorie der positionellen theologischen Theorien zu entwerfen, eröffnet sich ein weites, weil über den Fachbereich der Theologie hinausreichendes Arbeitsfeld. Die Metatheorie macht Aussagen, die – prinzipiell gesehen – für jede theologische Position zutreffen müssen. In diesem Sinne muß sie den Anspruch erheben, absolute Theorie zu sein. Dieser Anspruch kann aber nur dann eingelöst werden, wenn sie sich nicht allein auf den theologischen Fachbereich beschränkt. Vielmehr wird die theologische Metatheorie ihrem Anspruch auf Unbedingtheit nur insofern gerecht, als sie ihre Aussagen auch innerhalb des außertheologischen Bereiches der Gesellschaft und der auf die Gesellschaft bezogenen Theoriebildungen überprüft.72
Folglich lässt sich der Anspruch der Metatheorie nur dann aufrecht erhalten, wenn jegliche hier angesprochene Theoriebildung ihre Geltung bestätigt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass auch die Rekonstruktion einzelner theologischer Theorien, etwa der Theologie Barths, nur dann zutrifft, wenn ihr Anspruch als allgemein gültig erwiesen wird: Denn daß die dialektische Theologie die Verwirklichung von Selbstbestimmung auf absolute Weise thematisiert, bleibt nur dann nicht blanke Behauptung, wenn nachgewiesen werden kann, daß auch im außertheologischen Bereich die Verwirklichung der unbedingt gedachten Selbstbestimmung Thema ist.73
Vor diesem Hintergrund, dass die Deutung der Theologie Karl Barths ein Anwendungsbeispiel eines umfassenden Theorieprogramms darstellt, ist im Folgenden zunächst ihr Kontext darzustellen. Vorab ist jedoch Wagners Urteil über die Theologie Schleiermachers zu skizzieren, insofern sich hier die im 19. Jahrhundert erreichte Problemlage hinsichtlich der Subjektivität
71
WAGNER, Gehlens radikalisierter Handlungsbegriff, 215. Ebd., 229. 73 Ebd., 215. 72
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deutlich zeigt, die sodann von der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts als Herausforderung begriffen und schließlich aufgehoben wird.
3.3 Das Scheitern Schleiermachers Die Beschäftigung mit dem Denken Schleiermachers bildet einen roten Faden, welcher das Wagnersche Werk durchzieht. Es handelt sich dabei um eine eminent kritische Auseinandersetzung, was sich bereits in der Feststellung der Positionalität des Ausgangs vom »religiösen« Bewusstsein zeigte. Die Theologie Schleiermachers erweist sich für Wagner aber nicht nur im Blick auf ihre positionelle Verhaftung im Gegenüber zu anderen Theorien als unzureichend, sondern auch hinsichtlich ihres Bemühens, das Absolute als Grund des religiösen Selbstbewusstseins zu denken. An diesem Punkt ist das kritische Potential der Cramerschen Untersuchung der Gottesbeweise von Bedeutung. In dem Versuch Schleiermachers nämlich, vom religiösen Bewusstsein ausgehend zu dessen Grund zu gelangen, spiegle sich genau die Problemlage, an der die Argumentation des kosmologischen Gottesbeweises scheiterte.74 Bei Schleiermacher werde die alles entscheidende Differenz zwischen subjektiver, nämlich aufgrund des frommen Gefühls gebildeter Gottesvorstellung und dem objektiven Gottesgedanken eingezogen, so daß die unter der Leitung des frommen Selbstbewußtseins stehende Gottesvorstellung zum geeigneten Kandidaten der radikalen Religionskritik wird: Der göttliche Grund, aus dem das fromme Selbstbewußtsein das Bewußtsein seiner absoluten Abhängigkeit bezieht, ist nicht der grundlose Grund, sondern bedingt und von Gnaden des Begründeten.75
Die Belege für diesen Generalvorwurf gegen Schleiermacher ließen sich beliebig vermehren. Zugespitzt ist Schleiermacher damit der Schuldige dafür, dass die Theologie die Notwendigkeit des Gottesgedankens der neuzeitlichen Religionskritik gegenüber nicht zu behaupten vermochte: Schleiermacher wird mit seinem den Akten des religiösen Bewußtseins verpflichteten Theologieverständnis zum Begründer einer breiten Tradition evangelischer Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, die zum Einfallstor der Religionskritik wird, weil sie das spezifisch Theologische nicht adäquat und so auch nicht in seiner Begründungsfunktion für die gegebene Religion zu explizieren weiß. Das ist im Zeitalter der ökono-
74
»Vergleicht man die auf dem Boden des religiösen Bewußtseins ausgesagte Erhebung des endlich singulären Subjekts zu dem sein Sich-Gegebensein gründenden absoluten Grund mit der Bewegung des kosmologischen Gottesbeweises, so ist eklatant, daß die Erhebung des religiösen Bewußtseins als besonderer Fall der durch den kosmologischen Beweis ausgesagten Erhebung zu begreifen ist.« (WAGNER, Theo-logie, 228). 75 WAGNER, Theologie im Banne des religiös-frommen Bewußtseins, 942.
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misch fundierten bürgerlichen Gesellschaft ruinös, weil sie den in ihr vorherrschenden Trend zu einem gelebten Atheismus verstärkt.76
Schleiermacher scheitert damit – nach Maßgabe des von Cramer erarbeiteten absolutheitstheoretischen Reflexionsniveaus – an dem Dilemma, in das die Argumentationsfigur des kosmologischen Gottesbeweises führt.77 An diesem Punkte scheint sich nunmehr eine eigentümliche Allianz zwischen Falk Wagner auf der einen und Karl Barth auf der anderen Seite anzubahnen. Beide treffen sich in der Einsicht, dass die vom religiösen Bewusstsein ausgehende Theologie des 19. Jahrhunderts der Religionskritik nicht standzuhalten vermag.78 Darüber hinaus treffen sich beide im Blick auf die Konstitution von Subjektivität im Rekurs auf den ontologischen Gottesbeweis, für Barth ist hier insbesondere an seine Studie zu Anselm von Canterbury Fides quaerens intellectum (1931) zu denken.79 Jedoch 76 Ebd., 943. U. Barth stellt fest, Wagner bediene sich der Religionskritik »als einer Art Flurbereinigung gegen die seiner Meinung nach allzu sorglos verfahrende Bewußtseinstheologie des 19. Jahrhunderts« (BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, 169). 77 Vgl. dazu auch: WAGNER, Was ist Religion, 153: »Das Unglück der vom religiösen Bewußtsein getragenen Religion besteht jedoch darin, daß das religiöse Bewußtsein den intendierten grundlos gründenden Grund in einen gegründeten, weil von ihm dependierenden Grund verkehrt. Das religiöse Bewußtsein, das sein Gegründetsein in einem Grund festmacht, der von Gnaden einer Fremdbegründung ist, gibt sich so als falsches, von Illusion und Selbsttäuschung geschlagenes Bewußtsein zu erkennen. […] Alle Versuche, die zur Überwindung dieser Aporie des religiösen Bewußtseins aufgeboten werden, sind insofern als gescheitert zu betrachten, als sie die Beziehung auf den göttlichen Grund einseitig vom religiösen Bewußtsein ausgehen lassen. […] Solange […] der göttliche Grund für etwas von ihm Differentes vorausgesetzt wird, dessen Faktizität unabhängig von ihm besteht, bleiben die Versuche, den das religiöse Bewußtsein tragenden Grund plausibel zu machen, der Argumentationsweise der kosmologischen Figur des Gottesbeweises verpflichtet.« Vgl. auch DERS., Theologie im Banne des religiös-frommen Bewußtseins, 924f: »Stimmen der kosmologische Gottesbeweis und die auf das religiöse Bewußtsein fundierte Gottesbeziehung darin überein, daß sie den göttlichen Grund zu einem vom endlichen bzw. vom religiösen Bewußtsein abhängenden und so bedingten Grund depravieren, so zeigt sich, daß die kosmologische und die anthropologisch geleiteten Argumentationsweisen zur Entdeckung und Einführung des Gottesgedankens unbeschadet ihrer unterschiedenen Erkenntnisbegriffe, auf denen sie aufbauen, von derselben kategorialen Logizität bestimmt sind. Beide arbeiten mit einer relationalen Bestimmtheitsweise, die, ob als Relation von Grund und Gegründetem, Kraft und Äußerung, Ursache und Wirkung oder wie immer geltend gemacht, der Aporie nicht entgehen kann, daß das als Absolutes, höchstes Wesen, Gott oder wie immer verstandene begründende und bestimmende Relat vom begründeten Relat abhängig bleibt.« Zur frühen, sachlich übereinstimmenden Schleiermacher-Kritik DERS., Schleiermachers Dialektik (1974), 275f. Vgl. zur Kritik der SchleiermacherDeutung Wagners FISCHER, Protestantische Theologie, 258 – Wagner unterbelichte die bei Schleiermacher vorausgesetzte »Unmittelbarkeit des religiösen Gefühls«. Er verfehle damit »Ansatz und Intention der Theologie Schleiermachers« und setze diese »Problemlasten« aus, denen sie nicht entsprechen könne. Vgl. ferner H ERMS, Die Ethik des Wissens, 45 Anm. 273, zur Kritik der Deutung der Dialektik Schleiermachers. 78 Vgl. BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, 168. S. dazu auch die positive Aufnahme der Schleiermacher-Kritik bei K RÖTKE, Gottes Klarheiten, 67. 79 Es gehört allerdings zu den Eigentümlichkeiten, dass sich Wagner an keiner Stelle intensiv mit Barths Anselm-Interpretation beschäftigt.
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zeichnet sich ein Unterschied ab, wenn Wagner die Schleiermacher-Kritik gleichsam »abfedert«: So wenig der ontologische Gottesbeweis einseitig abstrakt gegen den kosmologischen Beweis mobilisiert werden kann, so wenig ist Theo-logie gegen die Intention des religiösen Bewußtseins zu kehren. Vielmehr dient die im Ausgang vom Absoluten selbst aufzubauende Theo-logie einzig und allein dazu, die Intention des religiösen Bewußtseins auch gegen dessen faktisches Ungenügen zum Zuge zu bringen.80
Bereits in dieser Formulierung klingt freilich das Problem an, welches später zum Scheitern der »Theorie des Absoluten« führen wird: Das Absolute ist hier nur funktional als denknotwendig erwiesen, nämlich zur Lösung der Aporie des Selbstbewusstseins – dass es auch aus sich heraus denknotwendig ist, folgt daraus gerade nicht. Zwischen der positionellen und der dialektischen Theologie vollzieht sich damit aber ein grundlegender Perspektivwechsel im Blick auf das Denken des Grundes des Selbstbewusstseins – die Argumentation des kosmologischen Gottesbeweises wird zugunsten des Ausgangs vom Absoluten selbst verlassen.
3.4 Die Aufhebung vorangegangener Theoriebildung 3.4.1 Die Aufhebung theologischer Theoriebildung Wagner stellt sich in einigen Detailstudien der Herausforderung, die Tragfähigkeit seiner subjektivitäts- bzw. absolutheitstheoretischen Hermeneutik theologischer Theoriebildung im Blick auf die neuere Theologiegeschichte zu erweisen, die zumindest der Selbstwahrnehmung nach das Schleiermachersche Theorieparadigma nicht weiter verfolgt hatte.81 Diese sind im Blick auf ihr Verfahren der Rekonstruktion der neuzeitlichen Theologiegeschichte und die vorgebrachten Beurteilungsmaßstäbe als Kontext für das Verständnis der Barthdeutung von Bedeutung. Exemplarisch soll daher zunächst eine Studie Wagners nachgezeichnet werden, innerhalb derer eine Rekonstruktion der die theologische Diskussion der Nachkriegszeit prägenden Debatte um die »neue Frage nach dem historischen Jesus« vorgelegt wird. Solle die positionelle Konkurrenz der verschiedenen Ansätze nicht auf Dauer gestellt werden, so müsse diese 80 WAGNER, Theo-logie, 230. Vgl. ebd., 249: »Die Grundaporie des religiösen Bewußtseins macht es entsprechend zur Aufhebung des kosmologischen Gottesbeweises notwendig, den vom religiösen Bewußtsein dependierenden absoluten Grund in Theo-logie als Theorie des an sich selbst erfaßten Absoluten aufzuheben.« 81 Dazu: WAGNER, Systematisch-theologische Erwägungen zur neuen Frage nach dem historischen Jesus, sowie D ERS., Absolute Positivität – Das Grundthema der Theologie Paul Tillichs, jeweils 1973 erstmals veröffentlicht.
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schulinterne Debatte zwischen Bultmann und seinen Schülern »auf das sie bewegende Prinzip hin«82 durchleuchtet werden. Dieses ist folgerichtig die Subjektivität als deren Konstruktionsprinzip, was Wagner mit dem Hinweis auf das Aufkommen der historischen Frage nach Jesus als »Emanzipation von der dogmatisch fixierten Tradition des Christentums«,83 die folglich »als ein Vehikel zur Selbstvergewisserung der Subjektivität« eingesetzt werde, begründet. Albert Schweitzers Analyse der »Geschichte der LebenJesu-Forschung«84 habe gezeigt, dass diese – eingeschlossen Schweitzers eigene Bemühungen – als »Geschichte von Projektionen der sich unmittelbar objektivierenden Subjektivität«85 zu verstehen sei. D.h., das konstruierende Subjekt legt sich selbst gleichsam im Medium der Rekonstruktion des »historischen Jesus« aus. Bultmanns Widerspruch gegen die Leben-Jesu-Forschung ziele nunmehr auf die »Verdrängung der Subjektivität aus dem Zentrum der Geschichte«,86 d.h. auf das Ende jener »Selbstobjektivation« der Subjektivität in der Geschichte. Diese Ausschaltung der Subjektivität habe eine doppelte Stoßrichtung: einerseits die Preisgabe der »Subjektivität des Historikers zugunsten der Autorität der Geschichte«, andererseits das Zurücktreten der Subjektivität Jesu hinter sein »Werk«.87 Mit dieser doppelten Ausblendung von Subjektivität in der Begegnung mit Geschichte, so Wagner, verbinde Bultmann den »Aufbau eines Begriffs von Subjektivität, der unter Abstraktion unmittelbarer Selbstbestimmung die Subjektivität durch eine ihr vorausgehende transsubjektive Wirklichkeit bestimmt sein läßt«.88 Die damit zu entwickelnde Subjektivität sei die ausschließlich durch Gott bestimmte,89 deren Konstruktion jedoch nur einhergehend mit der »Negation der sich unmittelbar selbst wollenden Subjektivität erfolgen«90 könne. Die Begründung der Freiheit jener von Gott bestimmten Subjektivität stellt daher insofern ein Problem dar, als diese nicht als Vollzug der sich selbst wollenden Subjektivität verstanden werden kann, ohne gleichzeitig die ausschließliche Bestimmung durch Gott aufzuheben. Die Lösung dieses Problems bei Bultmann sieht Wagner in dessen Bestimmung der Freiheitsbegründung in der Relation zwischen Kerygma und Glaube: »Innerhalb der Relation von Kerygma und Glaube wird […] die Freiheit des Menschen durch einen Akt 82
WAGNER, Systematisch-theologische Erwägungen, 289. Ebd., 290. Vgl. zu diesem Zusammenhang zwischen historischer Frage und Subjektivität bzw. Freiheit die früheren Untersuchungen Rendtorffs, insbesondere zu Semler. 84 SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. 85 WAGNER, Systematisch-theologische Erwägungen, 290. 86 Ebd., 292. 87 Ebd. 88 Ebd., 293. 89 Ebd., im Rekurs auf BULTMANN, Zur Frage der Christologie, 89. 90 WAGNER, Systematisch-theologische Erwägungen, 294. 83
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radikaler Emanzipation hervorgebracht.«91 Diese Emanzipation werde im Sinne einer Befreiung »zu sich selbst als zu ihrem im Glauben ergriffenen Anerkanntsein« und im selben Akt als eine Befreiung »von sich selbst als Negation ihrer unmittelbaren Selbstbestimmung« verstanden.92 Um der Wahrung göttlicher Alleintätigkeit willen müsse aber jede Begründung über das Kerygma hinaus prinzipiell negiert werden.93 Es ist eine absolutheitstheoretische Gedankenfigur, die im Hintergrund jener Debatte um den »historischen Jesus« steht, die folglich vor das Problem führt, das Absolute zu denken, ohne dieses in Abhängigkeit vom Bedingten selbst zu bringen. Die Integration der Person Jesu in das Kerygma als Emanzipationsgeschehen und die Illegitimität der Rückfrage sind daher nicht durch »Einsicht in die historische Unmöglichkeit« begründet, sondern »allein von Gnaden der Konstruktion einer Gegenwartstheologie«.94 Dies bedeutet nichts anderes, als die Fortschreibung des Schweitzerschen Unterfangens einer Geschichte der Inanspruchnahme Jesu zur Vergewisserung gegenwärtiger Subjektivität, freilich nunmehr mit dem Ziel der Nichtinanspruchnahme dieser Subjektivität in der Begründung ihrer Freiheit zu sich selbst von sich selbst. Die gesamte Debatte um den historischen Jesus sei daher nur in ihrer Funktionalität95 im Blick auf die Probleme der Subjektivität angemessen zu erfassen, d.h. der Anspruch, die subjektivitätstheoretische Neukonstitution der Theologie innerhalb dieser Debatte zu erweisen, wurde von Wagner paradigmatisch eingelöst. Der von Bultmanns Schülern erhobene Widerspruch gegen die Negation der theologischen Legitimität der Frage nach dem historischen Jesus wird im Blick auf eine Aporie des Bultmannschen Ansatzes gerechtfertigt: »[…] damit die im Kerygma grundgelegte Emanzipation der Subjektivität von sich selbst überhaupt erfolgen kann, ist die Faktizität der sich selber wollenden Subjektivität vorausgesetzt«.96 Bultmann könne folglich nicht schlüssig erweisen, dass der »kerygmatische Christus« nicht doch »den Bedingungen der sich selbst verwirklichen wollenden Subjektivität unterstellt«97 sei. Das Prinzip des »Wissen-Könnens« als unhintergehbare Kondition des selbstbewussten Subjekts setzt daher die Kritik der Bultmann-
91
Ebd., 295. Ebd. 93 Siehe ebd., 296 im Bezug auf die von Bultmann als theologisch illegitim verstandene historische Rückfrage, sofern sie das Ziel einer theologisch relevanten Begründung verfolgt: »Die Illegitimität ist […] als für das im Kerygma grundgelegte absolute Emanzipationsgeschehen illegitim zu dechiffrieren.« 94 Ebd., 297. 95 Vgl. ebd. zum Wortfeld »Funktion/funktional«. 96 Ebd., 300. 97 Ebd. 92
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Schüler, chiffriert als Verdacht einer »mythischen Projektion« des Bultmannschen Christus, ins Recht. Die mit dem Projektionsvorwurf bezeichnete Aporie kann aber, damit ist der Lösungsansatz der Nachfolger Bultmanns erreicht, genau dann vermieden werden, wenn »das bei Bultmann vorausgesetzte Selbst als das Subjekt gesetzt […] [wird], das nicht in Befolgung des Glaubens an das Kerygma diesem nachgeht, sondern das in Bezeugung des allererst den Glauben an das Kerygma gründenden Glaubens dem Glauben an das […] Kerygma und diesem selbst vorausgeht«,98 d.h. »Kerygma und Glaube [sollen] ihrem gemeinsamen Grund [im vorausgehenden Subjekt] entsprechen«.99 Indem nun Jesus als »Quelle und Grund« bzw. »Subjekt und Objekt« des Glaubens verstanden werde, gelinge es, »daß das Freiheit konstituierende Emanzipationsgeschehen in dem sich durch ihre Tat bestimmenden Tun der Subjektivität gründet«100 – dies freilich ohne die Kritik an der »sich unmittelbar verwirklichen wollenden Subjektivität«101 aufzugeben, sondern diese in dem tätigen Selbstbewusstsein selbst begründend, nämlich darin, »daß das Selbstbewußtsein sich nur in Negation seiner Negativität oder Tätigkeit als der Möglichkeit, jeden Gehalt zu mediatisieren, gewinnen kann«.102 Für das theologiegeschichtliche Urteil über jene Debatte ergibt sich, dass sie keinesfalls »die sich im Medium der Subjektivität entfaltende kritische und liberale Theologie des 19. Jahrhunderts« verabschiede, »sondern unter den von ihr selbst geschaffenen erschwerten Bedingungen des 20. Jahrhunderts«103 zuspitze. »Erschwert« sind diese Bedingungen der Theologie, insofern »sie von der Kritik der auf ihre unmittelbare Selbstverwirklichung drängenden Subjektivität ausgeht«.104 Die Frage nach dem historischen Jesus ist also auf ihre eigentliche, implizite Problemkonstellation hin zu 98
Ebd., 302. Ebd. 100 Ebd., 304. 101 Ebd., 303. 102 Ebd. 103 Ebd., 306. 104 »Bei Bultmann geht diese Kritik in den Aufbau einer Freiheit fundierenden Emanzipationstheorie ein, die darin unbedingt ist, daß sie Entäußerung an anderes als Befreiung zu sich selbst und Befreiung von sich selbst in einem Punkt zusammenfallen läßt. Bultmann bringt aber das Moment des Entäußerns und so des Bestimmtseins der Subjektivität auf eine absolutverabsolutierende Weise zur Geltung, so daß er das Moment der vorausgesetzten Selbstbestimmung nicht voll in seine Theorie integrieren kann. Indem durch die neue Frage nach dem historischen Jesus die Entäußerung und das Bestimmtsein durch anderes als Moment der in der Negation ihrer selbst sich verwirklichenden Subjektivität entfaltet wird, kommt es zur konkreten Vereinigung der in der Leben-Jesu-Forschung und in der Bultmannschen Theologie abstrakt-absoluten Momente; diese Vereinigung ist das Selbstbewußtsein Jesu, das in Bestimmung und Negation seiner unmittelbar-allgemeinen Tätigkeit sich mit seiner durch es selbst bestimmten Tätigkeit zusammenschließt.« (ebd., 306f). 99
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übersetzen: Die Theologie zeigt in der Frage nach dem historischen Jesus, »daß die in ihrem Tun freie Subjektivität nicht allein Bedingung, sondern Grund und Quelle aller Weltwirklichkeit ist«.105 Dies jedoch nicht im Sinne »titanischer Freiheit«, da »sie weiß, daß die freie Subjektivität sich nur dann verwirklichen kann, wenn sie in Anerkennung ihres Tuns sich durch es und seine Gegenstände bestimmt weiß, um sich so in Entäußerung an die Welt eine äußere Sphäre der Freiheit zu geben«.106 Die Theologiegeschichte muss daher pneumatologisch verfahren, d.h. Darstellung einer »Geistes«-Geschichte im Hegelschen Sinne werden: »Es wäre zu zeigen, daß durch jedes Denken und Geschehen in der Geschichte, durch jede geschichtlich auftretende Theorie und Praxis faktisch an der Realisierung von Freiheit gearbeitet wird.«107 Als Beitrag zu solch’ an Hegel geschulter pneumatologischer Geschichtsrekonstruktion ist Wagners Verständnis der Debatte um den historischen Jesus zu verstehen. Dass dieses Verständnis der Debatte um die Frage nach dem historischen Jesus zumindest dem Selbstverständnis der Akteure entgegensteht, wird allein dadurch deutlich, dass die eigentliche historische Dimension der Frage nicht in den Blick gelangt. »Historisch« ist in Wagners Darstellung eine Chiffre, die den Wandel in der Funktion jener Frage für das Selbstbewusstsein zum Ausdruck bringt. Nur so kann die gesamte Debatte ohne Berücksichtigung ihrer exegetischen Hintergründe in den Blick kommen. 3.4.2 Die Aufhebung außertheologischer Theoriebildung Zum Erweis der Gültigkeit seiner These jenseits der Theologie veröffentlichte Wagner drei Studien, in denen die Handlungstheorie Arnold Gehlens, die politische Theorie des Nationalsozialismus und schließlich die Systemtheorie Niklas Luhmanns in ihrer Beziehung zu den subjektivitätstheoretischen Grundproblemen der Theologie, insbesondere der Theologie Karl Barths, rekonstruiert werden. Für die nachfolgende Darstellung dieser Versuche sind diese Studien allein in ihrem Verfahren von Interesse, hingegen kann die Frage, inwiefern sie ihrem jeweiligen Untersuchungsgegenstand gerecht werden, offen bleiben. In der Rekonstruktion des Denkens Arnold Gehlens bemüht sich Wagner um den Erweis einer der dialektischen Theologie analogen Radikalisierung, die in der dreistufigen Entwicklung des Handlungsbegriffs hervortrete. Der Handlungsbegriff werde von dem Handeln um der Selbsterhaltung willen zum selbstzwecklichen Handeln108 innerhalb der Institutionen, und schließ105
Ebd., 307. Ebd. 107 Ebd. 108 WAGNER, Gehlens radikalisierter Handlungsbegriff, 223: »In der elementaren Anthropologie beschreibt Gehlen das Handeln so, daß diesem der Zweck als Selbsterhaltung noch äußerlich 106
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lich als weitere Radikalisierung zum »darstellend-rituellen Verhalten«109 zugespitzt. Vor diesem Hintergrund sei die Handlungstheorie Gehlens »in die Reihe der Versuche des 20. Jahrhunderts einzuordnen, die die Verwirklichung von Selbstbestimmung und Freiheit auf radikal-unbedingte Weise zur Geltung bringen. Das nur durch sich selbst [und nicht durch Zwecksetzungen] bestimmte Handeln bringt sich durch sich selbst als Wirklichkeit seiner selbst hervor.«110 Freilich, und hier zeigt sich für Wagner das Problem der Gehlenschen Handlungstheorie, werde das Problem der Subjektivität aus der Handlungstheorie ausgeklammert, denn »[d]ie Entzweiung von kristallisierter Eigengesetzlichkeit der Institutionen und der Reflexionskultur der Subjektivität kann durch Gehlens Theorie des Handelns des Handelns nicht aufgehoben werden«.111 Gehlen löst somit die Theorie des Handelns von der »Bedingung des Wissen-Könnens«, d.h. der unhintergehbaren prinzipiellen Mediatisierungsfähigkeit von Subjektivität als deren Grund. Sein Versuch bleibt folglich theoretisch defizitär: »Die Notwendigkeit der Entzweiung von Kristallisation und Subjektivität […] erscheint dann als Produkt der freien Setzung einer Theorie, die die Freiheit zur Theorie nicht in die Theorie als Freiheit des Sich-Wissens aufnimmt.«112 Die Theorie verfügt nicht über die erforderliche Einsicht in die ihr zugrunde liegende Tätigkeit. Ihre Konsequenzen gegenüber tätiger Subjektivität erscheinen daher problematisch: Diese Theorie muß, da sie das Sich-Wissen schon im Ansatz eskamotiert, das als Subjektivität erscheinende Sich-Wissen als Bedrohung des institutionell verankerten Handelns perhorreszieren. Auf diese Bedrohung reagiert die Theorie mit Aufruf zum Zwang, der als sich nicht wissender zur Gewalt wird: das Individuum soll sich von den Institutionen konsumieren lassen.113
ist. Die Radikalisierung dieses Handlungsbegriffs erfolgt dadurch, daß der Zweck des Handelns im Handeln selbst besteht; das Handeln, das sich selbst zum Zweck hat, realisiert sich durch das Handeln selbst; es ist ein Handeln, dem die Bedingungen seiner Realisierung immanent sind.« 109 Ebd., 224f. Gehlen verweist auf die Appellqualität kontingenter Ereignisse, Blitzschlag etc., welche die mimetische Nachahmung in archaischen Riten evozierten. »Indem die vom Appelldatum ausgehende Verpflichtung sich im Bedürfnis, etwas zu tun, niederschlägt, ahmt die Darstellung des Appelldatums dessen Handeln nach. Das darstellende Handeln hat also das Handeln des Appelldatums zum Inhalt. […] Das Handeln, das sich als Form selbst zum Inhalt hat, kann nur als Handeln des Handelns gefaßt werden; in der nachahmenden Darstellung handelt das Handeln mit sich selbst.« Vgl. ebd., 226: »Mit dem darstellenden Handeln wird das Handeln um des Handelns willen zum Handeln des Handelns radikalisiert. Damit wird das Handeln sich selbst zum Thema; das Handeln wendet das Handeln auf das Handeln selber an. […] Eine durch sich selbst bestimmte Bestimmtheit ist Selbstbestimmung.« 110 Ebd., 227f. 111 Ebd., 228. 112 Ebd., 228f. 113 Ebd., 228.
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Vom Standort absolutheitstheoretischer Überbietung erschließen sich auf diesem Wege die problematischen Züge des Systems des konservativen Soziologen.114 Wagner weist in diesem Zusammenhang lediglich auf das »Daß« gewisser Parallelen in der Radikalisierung des Subjektivitätsproblems in der Theologie Barths hin. Darin trete eine grundsätzliche Tendenz der Theoriebildung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervor. Es wird jedoch erkennbar, dass die Beziehung zwischen den Theorien ohne Berücksichtigung der Gehalte, in deren Medium sie entfaltet sind, ermittelt wird. Ansätze einer kritischen Deutung der vorangegangenen Geschichte der Theoriebildung zeigen sich deutlicher in einer weiteren Untersuchung Wagners. Versteht sich die Theologie – absolutheitstheoretisch – als »Theorie der Wirklichkeit überhaupt«, insofern sie das schlechthin grundlegende Konstruktionsprinzip der Subjektivität zum Gegenstand hat, so kann sich auch ein scheinbar radikaler Ausbruch aus der neuzeitlichen Theoriegeschichte ihrer Rekonstruktion nicht entziehen. Die politische Theorie des Nationalsozialismus am Beispiel von Hitlers Mein Kampf stellt damit einen weiteren und extremen Bewährungsfall der Wagnerschen Theorie dar. Das dem metatheoretischen Status der Theologie angemessene Verhältnis zum Nationalsozialismus kann nicht das einer radikalen (positionellen) Opposition sein, sondern wird nur dann angemessen gestaltet, wenn es zu dessen Begreifen auf höherer Theorieebene führt: Zielt aber die Theologie auf die Theorie ab, durch die die Wirklichkeit überhaupt auf ihren Begriff gebracht werden soll, so muß sie den Nationalsozialismus als eine abkünftige Gestalt ihrer eigenen Theorie bestimmen können.115
Aus dieser Perspektive stellt sich Hitlers politische Theorie als Radikalisierung116 der positionellen Verwirklichung selbstbestimmender Subjektivität dar. Sie gehört in die Tradition des positionellen Theorietypus des 19. Jahrhunderts. Freiheit bzw. Selbstbestimmung sei nämlich in diesen Theorien 114
Vgl. dazu knapp REHBERG, Gehlen, 80. WAGNER, Politische Theorie, 73 (Hervorhebungen von mir, S.H.). 116 »Betrachtet man Hitlers Rassentheorie für sich, so ist sie in die Versuche einzureihen, durch die unter den Bedingungen des Nachidealismus (der nachhegelschen Philosophie) Selbstbestimmung und Selbständigkeit, Souveränität und Freiheit von Individuen, Gruppen, Klassen und Nationen unmittelbar, d.h. auf geschichtlich-individuellem Wege verwirklicht werden sollen. Ohne im jetzigen Zusammenhang den Nachweis im einzelnen führen zu können, gehe ich von der Annahme aus, daß die politische und Geistesgeschichte von ca. 1830 bis zum Ersten Weltkrieg von dem Problem bestimmt ist, wie die im Deutschen Idealismus konzipierte unbedingte Selbstbestimmung (Selbstbewußtsein, Subjektivität, Freiheit, Autonomie etc.) unter den Bedingungen der geschichtlichen Wirklichkeit realisiert werden kann. Nachdem im Denken der eine Gedanke der Freiheit gefaßt worden ist, geht es nunmehr um die Frage, auf welche Weise diese eine Freiheit in der jeweils gegenwärtigen Wirklichkeit zum Eigentum des individuellen Selbstbewußtseins werden kann, das sich sowohl als solches als auch über die Identifikation mit Gruppen realisiert.« (ebd., 80f). 115
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an geschichtliche, besondere Subjekte gebunden, »die ihre Selbständigkeit nur als besondere, nämlich im Gegenüber und Gegensatz gegen andere Subjekte geltend machen können. […] Die Verwirklichung der einen Freiheit bleibt damit insofern partiell, als sie nur unter Abstraktion des jeweiligen Gegenpols gegenwärtige Wirklichkeit sein kann.«117 Hitler hebe nunmehr diese Konstruktionsversuche – radikalisierend – auf eine neue Stufe, indem er seine Theorie gegen das Prinzip des anderen (Internationalismus) selbst richtet – »[…] erst die aufs Ganze gehende Kritik des absoluten Antiprinzips verleiht der Rassentheorie die Gestalt einer unbedingten und radikalen Konstruktion«.118 Das selbstbestimmende Subjekt sei die »Nation als solche«, da diese aber faktisch nicht existierte, werde eine bestimmte Nation zum Kampf eingesetzt, bis sie den Status der »Nation überhaupt« erlangt habe. Gerade darin erreiche die Hitlersche Theorie – am absolutheitstheoretischen Maßstab gemessen – ihre Grenze, was seinen Ausdruck in der paradox anmutenden Feststellung »mangelnder Radikalität« findet: Es mangle »der Theorie Hitlers deshalb an Radikalität, weil ihr nicht ein Subjekt zu eigen ist, das der Absolutsetzung fähig ist; ein partikulares Subjekt wie das der Nation [bzw. Rasse] kann nur verabsolutiert werden, nicht aber an sich selber absolut sein. Wird dieses abstrakt-absolute Subjekt gleichwohl zum Maßstab der praktischen Vollendung der radikal konzipierten Theorie erhoben, so muß die Abstraktion auf die Subjekte zurückschlagen, die an dieser Vollendung teilhaben.«119 D.h. der Versuch endlicher Verwirklichung unbedingter Selbstbestimmung ist der Grund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Dieses Urteil aber werde erst von einer dem positionellen Realisierungsversuch gegenüber höheren Ebene aus möglich. Der dazu erforderliche Ort sei durch die Erfüllung einer doppelten Bedingung gekennzeichnet: Einmal muß er die Metastufe für alle die Theorien sein, die im Laufe des 19. Jahrhunderts Selbstbestimmung im Medium der geschichtlichen Wirklichkeit unmittelbar realisieren wollten. Als Metastufe muß von ihm ein andermal gezeigt werden können, daß ihm ein Subjekt zu eigen ist, das mit der an sich selber, also unbedingt gedachten Selbstbestimmung identisch ist. Denn nur die Theorie ist gegenüber den Versuchen, Selbstbestimmung durch Anziehung besonderer Subjekte unmittelbar zu verwirklichen, radikal genug, die Selbstbestimmung an das Subjekt bindet, mit dessen Konstruktion die Bedingungen der Verwirklichung von Selbstbestimmung schon mitgesetzt sind. Eine Theorie, die diese Bedingungen erfüllt, liegt in unterschiedlicher Gestaltung in der dialektischen Theologie vor.120
117
Ebd., 81. Ebd., 81f. 119 Ebd., 83. 120 Ebd. 118
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Die Differenz zwischen der dialektischen Theologie und der Theorie des Nationalsozialismus bestehe darin, dass diese absolute Subjektivität, jene hingegen verabsolutierte Subjektivität zum Gegenstand habe. Die Konstruktion Barths erlaube es, »unmittelbar-partielle« Selbstbestimmung durch »bestimmte Negation« in die absolute Selbstbestimmung aufzunehmen, d.h. sich das Partikulare gleichsam »unterzuordnen«,121 hingegen sei Hitlers Theorie auf den Aufbau eines absoluten Antiprinzips angewiesen, »um das Rassenprinzip mittels der abstrakten Negation des Antiprinzips absolut setzen zu können«.122 Im Blick auf die beide Theorien verbindende Negation unmittelbar-partieller Selbstbestimmung erfülle aber die »natürliche Theologie« in Barths Theorie genau die Funktion, die in Hitlers Theorie durch das »Judentum« besetzt sei: Gleichwohl ist festzuhalten, daß die Funktion, die in Hitlers Theorie dem Judentum zukommt, in den Theorien der dialektischen Theologie durch die »natürliche Theologie« besetzt wird. Während aber die dialektische Theologie den absoluten Charakter ihrer Theorie dadurch sichert, daß sie die unmittelbar-partielle Selbstbestimmung als ihr Antiprinzip auf dem Wege bestimmter Negation in die absolute Selbstbestimmung aufhebt, muß Hitler überhaupt erst eine absolute Antiposition zu der des Nationalismus aufbauen, um das Rassenprinzip mittels der abstrakten Negation des Antiprinzips absolut setzen zu können. Daher ist das verabsolutierte Subjekt Nation immer noch auf anderes negativ bezogen, so daß die absolut gesetzte Nation die Bedingungen der Verwirklichung ihres realen Absolutseins noch außer sich hat. 123
Hitlers Theorie erreicht damit nicht den Status des vollen Begriffs der Theologie, der hingegen in der dialektischen Theologie entfaltet werde: Die Hitlersche Theorie sei »nicht Metatheorie der Gesamtwirklichkeit, sondern Theorie einer ins Absolute gesteigerten partikularen Wirklichkeit; die damit gegebene[] Theorie-Praxis-Differenz führt im Zuge der Verwirklichung der Theorie notwendig zu permanentem Terror.«124 Aus dem Vergleich mit der politischen Theorie Hitlers ergeben sich Folgen für das Verständnis der Theologie als »Metatheorie der Gesamtwirklichkeit«. Eingedenk dieses metatheoretischen Standpunktes könne Theologie zwar die Darstellung der Konstruktionsprinzipien einer Geschichtsepoche übernehmen, sie dürfe jedoch nicht ihren Status als ahistorischer Metatheorie125 dadurch überschreiten, dass sie praktisch werden will. Politische Theologie ist folglich im Sinne der Wagnerschen Definition ein Wi-
121
Ebd., 90: »Es liefe auf eine Contradictio in adiecto hinaus, hätte sie noch eine andere Wirklichkeit außer sich selbst gegenüber.« 122 Ebd., 89. 123 Ebd. 124 Ebd., 90. 125 Ebd., 91.
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derspruch in sich.126 Jede Überschreitung des metatheoretischen Ortes bedeute zwangsläufig den Übergang zur »historischen Partikularität«127 als Theorie unter Theorien. Die Möglichkeit aber, als partikulare Theorie Theorie der Gesamtwirklichkeit zu sein, sei seit der politischen Theorie Hitlers prinzipiell ins Unrecht gesetzt: »Durch den Nationalsozialismus ist der Versuch ein für allemal desavouiert worden, theologische Theorie zugleich zum realen Ziel geschichtlicher Veränderungen zu machen.«128 Im Horizont dieser Einsicht werde die Leistung der dialektischen Theologie sichtbar, da sie die partikulare »unmittelbare Verwirklichung bestimmter Selbstbestimmung«129 zu Recht der Kritik unterzieht. Lässt man sich daher auf den Gedankengang Wagners ein, so wird die Theologie Barths als kritische Überbietung der politischen Theorie des Nationalsozialismus dargestellt, die jedoch selbst noch im Gegenüber zur »natürlichen Theologie« verhaftet bleibe. Wie sie ihrerseits aufgehoben werden kann, deutet sich schließlich in der dritten Studie an. Als zweiter Theorieentwurf aus der Soziologie wird die Systemtheorie Niklas Luhmanns mit den Mitteln der Absolutheitstheorie rekonstruiert, wobei sich Ansätze einer nochmaligen Aufhebung der dialektischen Theologie erkennen lassen. Luhmanns Systemtheorie tritt der Theologie gegenüber konkurrierend auf, nämlich als eine Theorie, die der Theologie den Anspruch streitig macht, »Theorie der freien Tätigkeit der Subjektivität zu sein«.130 Die Feststellung Luhmanns, die Systemtheorie habe die »De-Humanisierung des Sozialen«131 aufgezeigt, stellt für Wagner nichts Geringeres als den Versuch einer Überbietung der Theologie als »Theorie der freien Subjektivität«132 dar. Die Theologie ist in der Begegnung mit diesem Anspruch vor eine 126 Ebd., 92: »Der Begriff politische Theologie muß immer dann als Contradictio in adiecto beurteilt werden, wenn das Beiwort ›politisch‹ auf mehr zielt als auf eine dem Begriff ›Theologie‹ schon inhärierende konstruktive Darstellung einer Geschichtsepoche; diese konstruktive Darstellung ist aber, an sich selber betrachtet, ebenso ahistorisch wie apolitisch, denn das Konstruktionsprinzip als Standpunktmöglichkeit einer Epoche kann als deren Metastufe nicht selber unmittelbar politisch oder historisch sein.« 127 Ebd., 91. 128 Ebd., 92. 129 Ebd. 130 WAGNER, Systemtheorie und Subjektivität, 152. 131 Ebd., zit. wird LUHMANN, Religiöse Dogmatik und gesellschaftliche Evolution, 37. Der Luhmannschen Feststellung, die religiöse Dogmatik sei »nicht gezwungen« aber zur Entscheidung genötigt, »ob sie eine solche De-Humanisierung des Sozialen mitmachen will oder nicht« (ebd.), fügt Wagner hinzu: »[…] – und das schon deshalb, weil Theologie und Religion selber als soziale Systeme interpretiert werden können. Damit ist die Theologie in der Tat vor eine Entscheidung gestellt, durch die der bisherige Prozeß neuzeitlicher Theologie beendet werden könnte.« (WAGNER, Systemtheorie und Subjektivität, 152). 132 WAGNER, Systemtheorie und Subjektivität, 152.
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Alternative gestellt. Sie könnte entweder zu einer Selbstkorrektur veranlasst werden oder selbst die Aufhebung der Systemtheorie intendieren: Sollte die Systemtheorie Luhmanns Subjektivität tatsächlich so in sich aufheben können, daß sie diese als Derivat der System/Umwelt-Beziehung fassen kann, so wäre die Theologie, wenn sie sich nicht blind machen will, genötigt, ihre gesamte Theoriebildung einer Revision zu unterziehen.133
Wagner wählt hingegen die zweite Möglichkeit, indem er sich bemüht – ganz in der Gedankenlinie des absolutheitstheoretischen Geltungsanspruchs –, den Nachweis zu führen, »daß die Systemtheorie Luhmanns als eine abkünftige Gestalt der Theorie der Subjektivität identifiziert werden kann«, was genau dann der Fall sei, »wenn es möglich ist, die Systemtheorie mit den Mitteln der Subjektivitätstheorie zu begreifen und darzustellen«.134 Die Interpretation der Luhmannschen Systemtheorie »mit den Mitteln der Subjektivitätstheorie« setzt hinsichtlich der Bestimmung von Subjektivität als »Struktur« und »Tätigkeitsvollzug« das durch die dialektische Theologie erreichte Problemniveau voraus: Diese nicht primär an das Subjekt gebundene Interpretation der Subjektivitätsstruktur liegt […] insofern in der Konsequenz gegenwärtiger theologischer Theoriebildung, als diese nicht mehr wie die positionelle Theologie das Tun bestimmter Subjekte, sondern die Tätigkeit von Subjektivität überhaupt zum Zuge bringt.135
Subjektivität bildet wie bereits im Blick auf die theologischen Gehalte den »allgemeine[n] Mediator für jeden Sachverhalt«.136 Diese Einsicht in die »Bedingung des Wissen-Könnens« wird als Ausgangspunkt des Vergleichs mit der theologischen Theoriebildung auch im Blick auf die Systemtheorie vorausgesetzt: Sollen also die zu vergleichenden Standpunkte offen sein für die Möglichkeit, verglichen zu werden, so müssen sie selbst schon unter der Bedingung des Wissen-Könnens stehen. Das besagt, daß sich der bestimmte Standpunkt als solcher auch wissen und identifizieren können muß; er muß sich selbst zum Gegenstand haben können.137
D.h. die Systemtheorie ist dem Zugriff einer subjektivitätstheoretischen Metatheorie, die als »explizierte Beziehung von Theorie und Gegenstand« auftritt, zugänglich – entgegen der Luhmannschen Verneinung dieser Möglichkeit.138 Unter dieser Bedingung kann aus systemtheoretischer Perspekti133
Ebd. Ebd., 153. 135 Ebd. 136 Ebd. 137 Ebd., 155. 138 »Der vorliegende Interpretationsversuch wesentlicher Aspekte der Systemtheorie Luhmanns beruht sonach darauf, den Sachverhalt der Selbstbezüglichkeit, Selbstthematisierung und Selbst134
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ve die Subjektivität als Grundstruktur nicht als »außerhalb« des Systems erfasst werden, sondern nur als diesem zugrunde liegender Tätigkeitsvollzug. Die auf dieser Grundlage vorgelegte Rekonstruktion der Systemtheorie arbeitet deren strukturelle Parallelität zur Absolutheitstheorie heraus. So wird der Begriff der »Welt« unter Einschluss der diese bestimmenden »Komplexität«, die durch Systeme reduziert werde, dahingehend zugespitzt, dass die Welt als »Woraus der Selektion«,139 als »Negationsfähigkeit überhaupt«140 (bzw. »allgemeine Selektions- bzw. Reduktionsfähigkeit«141), als »die Einheit des Bestimmten und Unbestimmten, das heißt die Einheit von System und Umwelt als den nichtselegierten Möglichkeiten«142 bestimmt wird. Damit werde die Strukturparallele zur Theoriebildung des Idealismus und der neueren Theologie deutlich: Innerhalb der Systemtheorie nimmt das Problem der Weltkomplexität sonach die Stelle ein, die in der Transzendentalphilosophie durch das allgemeine Selbstbewußtsein besetzt wird. Indem sie damit das allgemeine und prinzipielle Wissen-Können als Grund und Quelle jeden bestimmten Wissens darstellt, kann in theologischer Hinsicht gesagt werden, daß das Weltproblem das Gottesproblem ablöst oder zumindest an dessen Stelle tritt.143
Die »Welt« ist damit als diejenige Tätigkeit des Absoluten gedacht, die sich in der Reduktion von Komplexität als »Negation der allgemeinen Negationsfähigkeit« vollzieht:144 »Die Reduktion von Komplexität mittels Systembildung zielt also auf die Selbstdarstellung und Selbstexplikation der Welt im anderen, im System.«145 Der Relationsbegriff »Sinn« halte jene Differenz zwischen Reduktion und Komplexität bewusst:146 »Auf diese anwendung präziser zu artikulieren, als es bei Luhmann selbst geschieht. Dazu ist es notwendig, das Verhältnis von System und Welt aus dem Gedanken der Selbstbezüglichkeit bzw. Selbstanwendung zu erklären, und meine Behauptung ist die, daß es Luhmann ebenso machen müßte, wenn er es vermeiden will, einen noch zu gegenständlichen Begriff der Welt zu entwickeln.« (ebd., 157). 139 Ebd., 158. 140 Ebd., 159. 141 Ebd. 142 Ebd., 158. 143 Ebd., 159. 144 Ebd.: »Somit kann die Reduktion von Weltkomplexität durch Systembildung als die Selbstanwendung der Welt auf sich selbst interpretiert werden.« 145 Ebd., 160. 146 Ebd., 161: »Durch den Begriff Sinn wird die Beziehung der Selektion zwischen bestimmtem Erleben und Allgemeinheit oder zwischen dem System und der Welt konstituiert. Da aber das Erleben selbst eine Beziehung darstellt, nämlich die zwischen dem bestimmten Erleben und dem ›Woraus der Selektion‹, der Welt, so ist Sinn sonach als Beziehung der Beziehung und der Bezogenen zu fassen. […] Diese Beziehung, die Sinn konstituiert, kann des näheren als negative Einheit artikuliert werden. Denn Sinn ist die Einheit von System (Erleben) und Welt, aber so, daß
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Weise werden die anderen Möglichkeiten als das ›Woraus der Selektion‹, das heißt als allgemeines Selektionspotential oder als Welt bewahrt.«147 Die Hegelsche Gedankenfigur der »doppelten Negation« erhellt daher den Zusammenhang von »Welt« und »System«: »Wie die Systembildung in Selbstnegation und Selbstanwendung der Welt als allgemeine Reduktionsmöglichkeit erfolgt, so kann zugleich das System als negierte Negationsfähigkeit seinerseits negiert und in seinem Reduktionsvollzug revidiert werden.«148 Die Welt als »absolute Positivität«,149 die im Aufbau von bestimmten Systemen als absolute Negationsfähigkeit negiert werde, entfalte sich ihrerseits aber zugleich als Negation eines jeden bestimmten Systems und entlasse aus sich eine unbegrenzte Zahl anderer möglicher bestimmter Systeme.150 Mit dem Abschluss dieser Überlegungen konstatiert Wagner, dass das »prozessurale Welt-System-Verhältnis […] mit den Mitteln der Subjektivitätstheorie und ihrer Struktur identifiziert werden«151 und damit »als der Versuch betrachtet werden [könne], für die Theorie der Freiheit eine neue Stufe der Realisierung zu gewinnen«.152 Indem Freiheit (Subjektivität) als grundlegender Tätigkeitsvollzug begriffen werde, sei es »der Systemtheorie möglich, Freiheit als Selbstexplikation desselben im anderen zu konzipieren und damit jede positionelle Gestaltung von Freiheit prinzipiell zu überholen«.153 Damit erfüllt die Luhmannsche Systemtheorie – unter der Bedingung des Wissen-Könnens interpretiert – die Bedingungen einer gelungenen Absolutheitstheorie. Ihre Bedeutung für die Theologie zeigt sich für Wagner daher einerseits den positiven Theologien des 19. Jahrhunderts154 gegenüber in der Überwindung der Freiheit als positionell abgegrenzter.155 Andererseits erweise sie sich der dialektischen Theologie gegenüber als überlegen. Der Begriff der »Entwicklung« zeige die Gründe für diese Überdas bestimmte Erleben (System) das bestimmte Nichts der Welt und die Welt das bestimmte Nichts des Erlebens ist. […] Sinn ist identische Selektion aus negierbar gehaltenen negierten anderen Möglichkeiten.« 147 Ebd., 160f. Vgl. ebd., 161f: »Im Zusammenhang des Verhältnisses von Welt und System eignet dem Sinnbegriff die wichtige Ordnungsfunktion, Reduktion und Erhaltung von Komplexität, nämlich Selektion unter Aufrechterhaltung der nichtselegierten Möglichkeiten zu leisten.« 148 Ebd., 162. 149 Ebd. Vgl. dazu WAGNER, Absolute Positivität. 150 »Diese Überholbarkeit rührt eben daher, daß die Welt als absolute Positivität nicht einem vorfindlichen Seinszustand entspricht, sondern nur im Prozeß des doppelten Negierens, der Selbstnegation und der Negation dieser Selbstnegation faßbar ist.« (WAGNER, Systemtheorie und Subjektivität, 162). 151 Ebd. 152 Ebd., 162f. 153 Ebd., 163. 154 Vgl. ebd., 163f. 155 Vgl. ebd., 164.
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legenheit deutlich. Dieser – »für Luhmann zentrale Begriff«156 – »erlaubt es, das Nichtidentische, Fremde und Andere als die Möglichkeit anzusehen, in der dasselbe im anderen zur Darstellung gebracht wird«.157 Luhmann entfalte im Medium der Gehalte von »Welt« und »System« nichts anderes als die Entwicklung des Absoluten auf das Kontingente hin. Das in dieser Konstruktion entwickelte System seinerseits eröffnet jedoch die Möglichkeit, positioneller Verengung durch Entwicklungsfähigkeit, d.h. Differenzbewusstsein hinsichtlich anderer möglicher Bestimmtheit, zu entgehen. Luhmanns Systemtheorie bewegt sich damit nicht im Widerspruch zur dialektischen Theologie: »Vielmehr erfährt die durch die dialektische Theologie erarbeitete Einsicht, daß Selbstbestimmung nur aus und durch Selbstbestimmung abgeleitet und realisiert werden kann, mit der konstruktiven Erfassung des Entwicklungsbegriffs ihre volle Bestätigung.«158 Jedoch sei gegenüber der dialektischen Theologie geltend zu machen, daß sie nicht das gedanklich-konstruktive Instrumentarium ausgearbeitet hat, um das Problem der Gestaltung von Wirklichkeit zufriedenstellend zu lösen. Indem sie nämlich alles GeschichtlichWirkliche allein am Maßstab der unmittelbar genommenen unbedingten Selbstbestimmung des absoluten Subjekts gemessen hat, konnte sie das Recht des der unbedingten Selbstbestimmung nicht unmittelbar Entsprechenden nicht anerkennen; entweder hat sie es zur Selbstbestimmung in ein Entsprechungsverhältnis gebracht oder aber – durch gewiß geschickte Interpretationen – von ihr ausgeschlossen.159
Die Systemtheorie ermögliche damit, »daß Freiheit in jedem möglichen Sachverhalt zur Entfaltung und Geltung gebracht werden kann«.160 Exkurs: Die absolutheitstheoretische Rekonstruktion der Luhmannschen Systemtheorie Eine theologische Aneignung der (absolutheits)theoretischen Struktur des Luhmannschen Denkens vollzieht Wagner im Rahmen einer trinitarischen Entfaltung des Gottesgedankens und versucht auf diesem Wege zu zeigen, 156
Ebd. Vgl. ebd., 165: Der Begriff der Entwicklung ermögliche es, »jede mögliche Bestimmtheit so anzuerkennen, daß sich die allgemeine Freiheit in ihr auf besondere Weise zur Darstellung bringt. Die allgemeine Freiheit erfährt in jeder möglichen Bestimmtheit eine Bereicherung ihrer selbst. Das gelingt aber nur dadurch, daß das Allgemeine von seiner schon gewonnenen Identität abstrahiert und sich in Selbstnegation jeder möglichen Bestimmtheit öffnet.« 158 Ebd., 166. 159 Ebd. Vgl. ebd.: »Die Darstellung und Entfaltung der an sich selbst gedachten Selbstbestimmung in anderen Sachverhalten als in denen der unbedingten Selbstbestimmung selbst konnte die dialektische Theologie auf Grund ihres unmittelbaren Auftretens, das in der abstrakten Kritik an der positionellen Theologie seinen Niederschlag gefunden hat, also nicht leisten. Genau diese Leistung erbringt der Entwicklungsbegriff, insofern er streng als die durch Selbstanwendung und Selbstnegation vermittelte Selbstdarstellung desselben im anderen gedacht wird.« 160 Ebd., 167. 157
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dass die jeweiligen Gehalte substituierbar sind. Luhmann zufolge könne die »Kontingenzformel ›Gott‹« nicht länger im Sinne einer Perfektionsvorstellung verwendet werden, insofern hier die Kontingenz – des immer auch anders sein Könnens des Bestimmten – »entschärft« würde.161 Wagner unternimmt daher im Anschluss an »traditionelle Vorstellungen« den Versuch, »einerseits den Begriff der Entwicklung für den Gottesgedanken als konstitutiv zu erweisen und andererseits den Gottesbegriff als die paradigmatische Ausformung des Entwicklungsbegriffs darzustellen«.162 Ausgehend vom Schöpfungsgedanken, »daß Welt und Menschen Darstellung Gottes sind«,163 sei zwar auszuschließen, dass Gott durch ein »Außerhalb«, das Geschöpfliche, bestimmt werde, jedoch seien zugleich die Menschen als selbständig und frei zu denken, »denn nur in dem seinem Schöpfer frei gegenüberstehenden Menschen kann Gott sich als Gott wissen«:164 »Der Mensch kann freilich nur dadurch selbständig werden, daß Gott selbst sich zu seinem Geschöpf macht und Mensch wird.« Aus dieser in inkarnatorischen Vorstellungen gedachten Negation (der allgemeinen Negationsfähigkeit) der »abstrakt-absoluten Herrschaft Gottes resultiert notwendig das Wissen um die Freiheit des Menschen, denn auf Grund seiner Menschwerdung als der Aufhebung des Wesensunterschiedes von Gott und Mensch erkennt der menschgewordene Gott die Menschen als solche an«.165 Die Menschwerdung Gottes zielt daher auf die Anerkennung des selbständig anderen Menschen und hebt die abstrakt herrschaftliche Ablehnung dieses anderen auf. Die Reaktion der Menschen, der Gottesmord als »absolute Tat«, ist Ausdruck von deren Unkenntnis ob ihrer Freiheit: Dem Begriffe nach frei zu sein, die Freiheit aber nicht ergriffen, vielmehr den Gottesmord begangen zu haben, darin besteht die »absolute Sünde« des Menschen. Indem aber die Menschen im Gottesmord die absolute Sünde begehen, haben sie an sich ihre Freiheit realisiert.166
Indem diese Realisierung der Freiheit von Jesus vergeben werde, erkenne er die Ermöglichung der »absoluten Sünde« als »Realisierung der menschlichen Freiheit« an. Die Anerkennung dieses Geschehens wiederum durch die Menschen bedeutet die »Auferstehung Jesu«, »denn Gott, der sich als Jesus negiert, wird im Gottesmord noch einmal negiert«.167 Wirkliche Frei161
Ebd. im Rekurs auf LUHMANN, Religiöse Dogmatik, 62. WAGNER, Systemtheorie und Subjektivität, 168. 163 Ebd. 164 Ebd. 165 Ebd. Vgl. ebd., 168f: »Indem die Menschen als Menschen anerkannt werden, sind sie frei, denn Gott schenkt in seiner Menschwerdung den Geschöpfen die Freiheit, sie selbst sein zu dürfen.« 166 Ebd., 169. 167 Ebd. 162
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heit erlange der Mensch erst in diesem von Gott ermöglichten Geschehen, gleichsam als absolutem Grund der menschlichen Freiheit, hingegen bedeute der Versuch, »eine Welt allein nach dem selbstgemachten Bilde des Menschen [zu] bauen«,168 eine »›titanische‹, weil abstrakt-absolute Freiheit«, die beim Gottesmord stehenbleibe, »ohne gewahr zu werden, daß der Gottesmord die absolute Sünde ist«: Indem der Mensch den Gottesmord als sein Tun im Umweg über die Vergebung seines Tuns als die Anerkennung des Gottesmordes durch Jesus [i.S. der durch Jesus ermöglichten absoluten Tat] anerkennt, ist er wahrhaft frei und lebt im Bewußtsein Gottes als des »heiligen Geistes«.169
Das »neue Leben« der Menschen ist damit in einem das Leben im »Anderssein« des anderen Menschen als »Leben im Geist«.170 Auf diesem Wege sei der Gottesbegriff entwicklungsfähig gedacht: Auch das offensichtlich Unmögliche, das noch nicht Mögliche oder das Nichtvorhandene steht unter der Bedingung, als Möglichkeit der Selbstentfaltung gesetzt zu werden. Mit dem exemplarisch im Gottesgedanken verankerten Entwicklungsbegriff wird also auf die prinzipielle Ersetzbarkeit von Möglichkeiten abgehoben. […] Dem Gottesgedanken kommt so die Funktion zu, das Bewußtsein der prinzipiellen Veränderbarkeit der Wirklichkeit offen zu halten.171
In dieser konstruktiven Entfaltung lassen sich unschwer die Konturen der spekulativen Entfaltung der Trinitätslehre bei Hegel wiedererkennen, die für Wagner eine adäquate Entfaltung der Theorie des Absoluten darstellt. Es bleibt freilich eine offene Frage, ob es dazu überhaupt des Mediums genuin theologischer Gehalte bedarf, oder ob diese nicht vielmehr dem gedanklichen Kern gegenüber beliebig und ersetzbar sind. Letzteres scheint im Horizont der bisherigen Untersuchungen wahrscheinlicher. Vor diesem Hintergrund einer Theorie des Absoluten im Gewande der Trinitätstheologie, die auf die Freiheit des Menschen zielt, ist die im folgenden Abschnitt behandelte Kritik der Theologie Karl Barths zu verstehen.
168
Ebd., 170. Ebd. 170 »Der Mensch, der seine Freiheit in Anerkennung des anderen Menschen realisiert, verwirklicht den Geist als die logische Struktur des Jetzt-im-Anderssein-bei-sich-selber-sein, die im Christusgeschehen ihren Grund und Ursprung hat.« (ebd., 171). 171 Ebd. 169
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3.5 Theologische Gleichschaltung – Deutung und Kritik der Theologie Karl Barths 3.5.1 Zum Ansatz der Deutung Die vorangegangenen weit ausholenden Überlegungen dienten dazu, den Kontext und die gedanklichen Voraussetzungen der Wagnerschen Barthdeutung zu verdeutlichen. Es zeigte sich, dass Wagners Programm einer Theorie des Absoluten den Anspruch impliziert, jegliche Theoriebildung als ihrer selbst abkünftige Gestalt zu begreifen und aufzuheben, und dass in diesem Verfahren die grundsätzliche Vergleichbarkeit der Konstruktionsebenen jenseits der verwendeten Gehalte vorausgesetzt wird. Insbesondere im Blick auf die Kritik der Theologie Schleiermachers und die konstruktive Hinwendung zum ontologischen Gottesbeweis, ja bereits im Blick auf die Rolle, die dem trinitarischen Gottesgedanken überhaupt innerhalb der Theologie zugewiesen wird, war eine Nähe zum Barthschen Ansatz erkennbar. Dass diese Nähe indes nur vordergründig bleibt, deutet sich bereits an, wenn Wagner feststellt, es diene »die im Ausgang vom Absoluten selbst aufzubauende Theo-logie allein dazu, die Intention des religiösen Bewußtseins auch gegen dessen faktisches Ungenügen zum Zuge zu bringen«.172 Die Aufhebung des religiösen Bewusstseins ist somit das Kriterium einer Theo-logie als Theorie des Absoluten, welches Cramer kritisch gegen Spinoza herausgestellt hatte. Für den zu entwickelnden Gottesgedanken bedeutet dies: Soll also das außer dem Absoluten existierende Anderssein von Welt und Mensch aus Gott begriffen werden, dann ist Gott nicht länger als die unmittelbare Selbstbestimmung einer selbständig-verschlossenen, absoluten Substanz zu denken, die vorstellungshaft als absolute Macht, Herrschaft, Souveränität etc. namhaft gemacht wird. Vielmehr kann die aus Gott begriffene relative Selbständigkeit des außer Gott existierenden Anderen nur dadurch gesichert werden, daß Gott vorab, nämlich vor dem Eintritt des Anderssein für dasselbe offen und aufgeschlossen ist. 173
Diese Anforderung einer Theorie des Absoluten, die in der Rekonstruktion der Systemtheorie Luhmanns als »Entwicklungsfähigkeit« bezeichnet wurde, bildet im Folgenden den Maßstab, an dem Barths Theologie gemessen wird. Es handelt sich daher durchgängig nicht um eine theologiegeschichtliche Rekonstruktion, in der Fragen der Genese und Kontextualität Barthscher Theologie eine eigenständige Bedeutung erhielten, sondern um die Diskussion der Frage, ob der Theologie Barths angesichts der Herausforderung einer Theorie des Absoluten auf Cramerschem Problemniveau ein gerechtfertigter Geltungsanspruch zukomme. Diejenige Theologie, die im 172 173
WAGNER, Theo-logie, 230. Ebd., 254.
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20. Jahrhundert die Frage nach »Gott« (dem Absoluten), zumal im Rekurs auf den Gedanken der Trinität, in den Vordergrund stellte, wird also daraufhin befragt, ob ihr dieses Vorhaben in einer Weise gelungen ist, die der neuzeitlichen Herausforderung insbesondere durch die Religionskritik standzuhalten vermag. Die Frage nach dem Ort der Theologie Barths innerhalb der »begriffenen« Geschichte neuzeitlicher Theoriebildung schließt sich – diesem Interesse nachgeordnet – an. Die entsprechende Rekonstruktion legte Wagner im Jahre 1975 unter dem Titel Theologische Gleichschaltung. Zur Christologie bei Karl Barth vor, die dem Sammelband Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths beigesteuert wurde. Die Konzentration auf die Christologie, die für Wagner ein exemplarisches Verfahren darstellt, erweist sich freilich vor dem skizzierten Hintergrund der Untersuchung als folgerichtig, insofern hier das Verhältnis zwischen Absolutem und Kontingentem explizit von Barth thematisiert wird. Seinen vorangegangenen Untersuchungen zu theologischen und außertheologischen Theorien folgend stellt Wagner zunächst sein methodisches Verfahren vor, welches allein eine angemessene Deutung der Theologie Barths ermögliche. Die Struktur der Kirchlichen Dogmatik und konkret der Christologie sei von den materialen Gehalten zu lösen und auf ihr Konstruktionsprinzip hin transparent zu machen, gemäß der bereits in den früheren Studien erprobten Voraussetzung: Das Konstruktionsprinzip jeder Theologie ist die Weise, wie sich das selbsttätige Selbstbewußtsein funktional zur Geltung bringt. Denn es ist die objektivierte Tätigkeit, mit der das Ziel verfolgt wird, die einzelnen theologischen Lehrstücke zur Einheit zu bringen.174
Dieses eine Konstruktionsprinzip der Kirchlichen Dogmatik wird als die – zuvor für das 20. Jahrhundert als charakteristisch herausgestellte – »Problematik selbstbestimmender Subjektivität und autonomen Selbstbewußtseins« von Wagner bestimmt. Bei Barth werde die Position dieses Subjekts unbedingter Selbstbestimmung durch Gottes Wort, also das Absolute,175 besetzt. Auf dieser Ebene des Konstruktionsprinzips sei mit der größtmöglichen Abstraktion die vollständige Entpositivierung und Entgegenständlichung der Theologie Barths erreicht – die Gehalte sind rein funktional auf dieses Theorieniveau bezogen und für die Interpretation darum jenseits ihrer Funktion unerheblich und durch beliebige andere Gehalte ersetzbar. Dieses methodische Verfahren der Ableitung des gehaltvollen Werks der Kirchlichen Dogmatik aus einem abstrakten Rekonstruktionsprinzip be174 175
Diese Definition in: WAGNER, Gehlens radikalisierter Handlungsbegriff, 214. »Gottes Wort« als Konstruktionsprinzip bringt so das Absolute als Tätigkeit zum Ausdruck.
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gründet Wagner zunächst in Auseinandersetzung mit der vorangegangenen Kritik Friedrich-Wilhelm Marquardts.176 Marquardts Widerspruch gegen Wagners Parallelisierung der Radikalisierungsbewegung der Handlungstheorie Gehlens und der Theologie Barths zielt darauf, dass hier »nicht der typische, sondern nur ein idealtypisch verkürzter Barth«177 dargestellt werde. Er wendet – und gegen Rendtorff – ein: Man identifiziert dann den tautologischen Gott einiger Spitzensätze des zweiten »Römerbriefs« mit dem ewig-reichen Gott des Bundes und der Trinität […]. Man übersieht dann vor allem die Struktur der Freiheit Gottes, die bei Barth von Anfang an nicht eigentlich »Autonomie« oder »Selbstbestimmung« oder »absolute Subjektivität« ist, sondern Gottes Sein ist das des Liebenden in der Freiheit, und seine Freiheit besteht darin, daß er liebt und be-freit.178
Dem abstrakten Prinzip Wagners widerspricht Marquardt vor dem Hintergrund der inhaltlichen Gestalt Barthscher Theologie,179 aber auch hinsichtlich der »dogmatischen Methode«, die Barth der Kirchlichen Dogmatik zugrunde gelegt habe.180 Jedoch wird eine Einsicht von Marquardt, gerade vor dem Hintergrund seiner Untersuchung Theologie und Sozialismus, bestätigt: »Mit Barths Tod ist auch seine Theologie für uns zur geschichtlich vermittelten Tradition geworden, die als solche begriffen werden muß, wenn sie wirksam bleiben soll.«181 Barths Theologie sei daher nicht mehr aus sich selbst heraus verständlich. Sie bedarf der Vermittlung mit dem historischen Kontext. Barths Denkform als »grundsätzliche Ungrundsätzlichkeit« sei in ihrer »historisch-gesellschaftlichen Relativierung«182 zu interpretieren. Das bedeute, den in der Dogmatik verfolgten Kampf, »in den Gott und Mensch gemeinsam gerissen sind«,183 in seiner dialektischen Verschränkung mit der »Welthaltigkeit« der Dogmatik184 zu lesen. 176
MARQUARDT, Zu-Sätze zu Falk Wagners Aufsatz. Ebd., 235. 178 Ebd. 179 Ebd., 234, Marquardt bezeichnet den Ertrag des Vergleichs zwischen Gehlen und Barth als »höchst formale Analogiebildung«: »Aber eben: das bleibt m.E. zu formal, um systematischen, ja auch nur historischen Erkenntniswert zu bekommen, denn es ist noch nicht als notwendige Entwicklung analysiert und als Gesetz der Epoche noch nicht begrifflich vermittelt worden.« Vgl. auch ebd., 235: »Es gibt keinen Theologen, der so vehement auf die inhaltliche Bestimmtheit des Gottesbegriffs versessen gewesen wäre wie Barth, und das heißt sehr wohl: seine Bestimmtheit von jenem ›Außerhalb‹, das er sich in der assumptio carnis angeeignet hat. Gerade da zeigt sich, daß Barth von Gott eben nicht idealistisch-begrifflich, sondern geschichtlich denkt.« 180 Vgl. BARTH, KD I/2, 954–990. 181 MARQUARDT, Zu-Sätze zu Falk Wagners Aufsatz, 231. 182 Vgl. ebd., 233. 183 Ebd., 235. 184 Ebd., 236. »Es kommt ja wirklich nicht von ungefähr, wenn wir […] von Barth in philosophische, politische, gesellschaftliche, übrigens auch ästhetische, also kulturelle Assoziationszusammenhänge insgesamt versetzt werden.« (ebd.). 177
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In seiner Reaktion auf die Kritik Marquardts würdigt Wagner zunächst den durch dessen Arbeit erzielten Fortschritt in der Barthinterpretation. Nicht zuletzt Marquardts »Einordnung der Theologie Barths in die Theoriebildung des 20. Jahrhunderts« habe »[d]ie Barthsche Theologie aus den Fängen epigonaler Konservierung befreit«.185 Damit aber sei er es selbst gewesen, der die »Rekonstruktion der Konstruktion der Theologie Barths« als »Entgegenständlichung und Entpositivierung«186 eröffnet habe. Den Ertrag dieses Verfahrens sieht Wagner in der Möglichkeit, die Reinterpretation187 nachvollziehbar zu gestalten, und »die Konstruktion der Barthschen Theologie durch andere als die von Barth selbst genannten Gehalte vorzunehmen«.188 Implizit vorausgesetzt ist auch hier also die subjektivitätstheoretische Argumentation, dass das Selbstbewusstsein mittels Kritik zur Mediatisierung sämtlicher Gehalte, zugleich aber zu deren Rekonstruktion fähig sei. Diese immer schon grundlegendere Deutungsperspektive begründet ihrerseits die kritische Frage an Marquardts »historische Relativierung« der Theorien von Sozialismus und Theologie, ob diese »nicht zu schnell auf eine inhaltlich-gegenständliche Bestimmtheit festgelegt wird«.189 Die Theologie Barths ziele »als Selbstdarstellung des absoluten Subjekts«190 auf eine Allgemeinheit, die von dem zum Vergleich hinzugezogenen Sozialismus seinerseits dessen Rekonstruktion als »ein[es] bestimmte[n] Anwendungsfall[s] des Allgemeinen«191 erfordere. Gerade um die wirklichen Konvergenzen zwischen Sozialismus und Barthscher Theologie in den Blick zu nehmen, sei daher die Wahl eines höheren Abstraktionsgrades erfordert, der nunmehr nicht zu einem »Formalismus« führe: Vielmehr verhilft diese Art der Abstraktion dazu, verwandte, nämlich funktional äquivalente Strukturen in verschiedensten Bereichen zu identifizieren. […] Eine höhere Abstraktionsleistung konvergiert also mit der Möglichkeit zu größerer Konkretion und bestimmter Inhaltlichkeit.192
Die Möglichkeit, als Rekonstruktionsprinzip der neuzeitlichen Theologieund Geistesgeschichte die »Problematik selbstbestimmender Subjektivität 185
WAGNER, Theologische Gleichschaltung, 10. »Auf diese Weise ist […] ein Anfang gemacht, die Barthsche Theologie der allgemeinen geistigen und politisch-sozialen Entwicklung des 20. Jahrhunderts zu integrieren, in der sie entstanden ist, der sie aber im Zuge von kirchenpolitischen Positivierungen und wissenschaftstheoretischen Abgrenzungsstrategien entnommen werden sollte.« 186 Ebd. 187 Vgl. ebd., 11. 188 Ebd. 189 Ebd. 190 Ebd., 12. 191 Ebd. 192 Ebd., 13.
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und autonomen Selbstbewußtseins« auch der Theologie Barths zugrunde zu legen, wird von Wagner gegen den Einwand Marquardts durch den Hinweis auf Barths Überlegungen zur »dogmatischen Methode« verteidigt. Dass Barth das »Wort Gottes« als selbstbestimmend in das Zentrum der Dogmatik setze, lasse sich gerade als Hinweis auf die damit ermöglichte Einsetzung dieses Konstruktionsprinzips verstehen. Durch den Einzug der »Differenz von Prinzip und Prinzipiatum«193 werde das Wort Gottes davor geschützt, als Prinzipiatum in die Abhängigkeit von einem übergeordneten Prinzip zu geraten. Wagner widerspricht Marquardt somit mit der von ihm vorausgesetzten Selbstverständlichkeit, dass ein sich selbst setzendes »Wort Gottes« als Voraussetzung der Theologie jenseits der Bedingung des Wissen-Könnens dem Denken nicht zugänglich ist. Der Einzug von »Prinzip und Prinzipiatum« könne »nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Dogmatiker Barth diesen Einzug tätigt, um der Selbstdefinition des Wortes Gottes ihre Unbedingtheit und Notwendigkeit zu verleihen«.194 Insofern aber könne »durchaus von der selbstbestimmenden Selbstdefinition des Wortes Gottes als von dem Konstruktionsprinzip der Barthschen Theologie gesprochen werden«.195 Gerade indem Barth versuche, dem Wort Gottes als für sich selbst sprechendem, d.h. seine eigenen Bedingungen setzendem, Raum zu schaffen, zeige sich dessen Funktion als Konstruktionsprinzip.196 3.5.2 Die Durchführung Im Anschluss an diese methodologischen Erwägungen legt Wagner eine knappe Skizze der Christologie die Kirchlichen Dogmatik vor, die ausgehend von der »Exposition des christologischen Problems«197 (KD I/1–2) zu der Versöhnungslehre KD IV/1–3198 voranschreitet. Das Kernproblem der Theorie des Absoluten kehrt hier in theologischer Fassung wieder: Das Hauptproblem nicht nur der Barthschen, sondern der Theologie überhaupt besteht darin, wie die Unterscheidung von Gott und Mensch, von Schöpfer und Geschöpf, von Gott für sich und Gott für anderes so gedacht werden kann, daß Gott angesichts dieser Unterscheidung seiner Gottheit und Absolutheit nicht verlustig geht.199
Die grundlegende Entscheidung über den Charakter der Barthschen Christologie fällt für Wagner bereits am Ausgangspunkt der Kirchlichen Dogmatik, der Trinitätslehre, in der die Christologie im Rahmen der »immanenten 193
Ebd., 14. »Denn wäre die Explikation des Wortes Gottes an ein Prinzip gebunden, so wäre das Wort Gottes als Prinzipiatum von etwas abhängig, das es nicht selbst hervorgebracht hat.« (ebd.). 194 Ebd., 15. 195 Ebd. 196 Ebd., 16. 197 Ebd., 18–22. 198 Ebd., 23–39. 199 Ebd., 17.
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Selbstunterscheidung Gottes«200 grundgelegt wird. Zwischen der innertrinitarischen Selbstunterscheidung Gottes als Vater und Sohn jedoch und derjenigen zwischen Schöpfer und Geschöpf sei nochmals zu differenzieren. In der Lehre von der Gnadenwahl (KD II/2, 101ff) werde deutlich, »daß Gott in Jesus Christus zugleich erwählender Gott und erwählter Mensch ist«.201 Damit werde »der Unterschied von Erwählung und Erwähltsein vermittels der Person Jesu Christi auf Gott selbst zurückgenommen«.202 Auf der absolutheitstheoretischen Sprachebene bedeutet dies, dass das »andere« (Kontingente) des göttlichen Erwählungshandelns (der Entfaltung des Absoluten) nicht das selbständige andere ist, sondern ein anderes »anderes«, welches Gott mit sich selbst identifiziert, nämlich: Jesus Christus als wahrer Gott und Mensch. »Die absolute Subjektivität expliziert sich nicht im anderen und nicht als anderes, sondern in der Identifizierung – Entsprechung – des anderen mit sich selbst.«203 Der Grund dieser vorerst ausbleibenden Entwicklung204 auf das selbständige andere (Kontingente) hin sei, so Wagner, »offensichtlich so zu deuten, daß Barth um der souveränen Selbstbestimmung der absoluten Subjektivität Gottes willen den Unterschied als solchen nur im Modus seiner Zurücknahme einführt«,205 damit Gott also nicht durch sein geschöpfliches Gegenüber bestimmt werde. Dieses Problem begleitet die Kirchliche Dogmatik folglich von Beginn an durch die Vorordnung der innertrinitarischen Differenzierung Gottes vor das dem Kontingenten sich öffnende Versöhnungswerk. Die Barth in den Mund gelegte Frage, die dessen Denken leite, lautet daher: »Wie kann Gott für das andere, den Menschen, sein, ohne damit das Anderssein dieses anderen anerkennen, geschweige denn sich selbst zu diesem anderen machen zu müssen«?206 Die innertrinitarische Öffnung Gottes für das andere, die von Barth »behauptet«207 werde, führe damit aber zu einer Unterbelichtung der »Andersheit des anderen im Unterschied zur innertrinitarischen Andersheit des Sohnes«.208 Dieses innertrinitarische andere wird von Wagner als schwaches anderes vom starken anderen, d.h. »dem anderen als solchem«, welches faktisch außerhalb der innertrinitarischen Differenzierung existiert, unter200
Ebd. Ebd. 202 Ebd. 203 Ebd., 18. 204 S.o. zu WAGNER, Systemtheorie und Subjektivität. 205 WAGNER, Theologische Gleichschaltung, 18. 206 Ebd., 22. 207 Vgl. ebd., 20. 208 Ebd. Zur Begriffsgeschichte des »anderen« vgl. knapp THEUNISSEN, Art. Andere (der), 296f. Wagner verwendet den Begriff in der insbesondere durch Hegel geprägten idealistischen Fassung. Vgl. dazu die später vorgelegte Rekonstruktion von Hegels Phänomenologie des Geistes in: WAGNER, Metamorphosen, 75–119, bes. 106f. 201
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schieden. ›Gott‹ setze an die Stelle des wirklichen Menschen unter der Menschheit Jesu verborgen209 sich selbst als sein ihm adäquates schwaches anderes:210 »Damit findet aber das starke andere als solches im Zuge der Offenbarung Gottes keine eigentliche Anerkennung. Ja, das andere, für das Gott ist, wird nicht einmal erklärt.«211 Es sind insbesondere die Kennzeichen der Sündlosigkeit und des Gehorsams, die das schwache andere in seiner »Entsprechung« vom starken anderen unterscheiden. Das in der Kirchlichen Dogmatik geschilderte Versöhnungsgeschehen gleiche so aber einem »Spiel Gottes mit sich selbst«.212 Das starke andere werde auf diesem Wege mit Gottes Selbstbestimmung als schwaches anderes durch eine »Gleichschaltung«213 in Entsprechung gebracht. Damit sei aber die Frage aufzuwerfen, »ob Gott durch diesen Ausschluß negativ bestimmt wird, wodurch Gott der Unbedingtheit seiner Selbstbestimmung verlustig ginge«.214 Wenn das Kontingente aus- bzw. gleichgeschaltet werden muss, so kann das Absolute nur als absolut behauptet werden. In seiner Deutung der Versöhnungslehre führt Wagner diese Fragestellung fort, inwiefern »Gottes Grenzüberschreitung«215 den Anspruch erfüllt, wirkliche Grenzüberschreitung ohne Begrenzung Gottes zu denken. Der sachlich kehrversartig wiederholte Einwand nimmt das Ergebnis vorweg: »Das andere des anderen, als das Gott sich expliziert, ist nicht etwa im Sinne von Selbstanwendung als Negation der Negation, sondern als Abstraktion und Negation von der Negation, vom anderen zu fassen.«216 Ihre inhaltliche Durchführung erfahre diese Negation von der Negation in der Rede vom Gehorsam Jesu Christi: »[…] der Sohn Gottes abstrahiert vom Widerspruch [des starken anderen] insofern, als er im Medium des Wider-
209
Vgl. WAGNER, Theologische Gleichschaltung, 22. Ebd., 20: »Gottes Anderssein in seinem Sein-für-anderes, in seiner Offenbarung und Inkarnation, bedeutet nicht, daß Gott selbst ein anderes im Sinne des starken anderen wird. Vielmehr hört Gott nicht auf, Gott zu sein, wenn er das starke andere als Hülle seiner Offenbarung 211 wählt.« Ebd., 20f. 212 Ebd., 21. Exemplarisch verweist Wagner auf Barths Deutung der Jungfrauengeburt Jesu (KD I/2, 204ff): »Die Jungfrauengeburt impliziert die Negation der sonstigen Art des Geborenseins des Menschen. Damit wird durch sie die Negation des menschlichen Ungehorsams und der menschlichen Unfähigkeit für Gott zum Ausdruck gebracht. Das heißt aber: Mit der Jungfrauengeburt wird das Anderssein des starken anderen aus dem Anderswerden Gottes ausgeschlossen.« (ebd.). 213 Ebd., 22. 214 Ebd., 21. S. ebd., 22: »Gleichwohl könnte dieser Schein des Andersseins für die absolute Subjektivität Gottes ruinös sein: Indem nämlich das Anderssein vorausgesetzt und zugleich als solches aufgelöst und aus Gottes Selbstdarstellung im anderen ausgeschlossen wird, ist Gott offensichtlich durch diesen Ausschluß negativ bestimmt. Gottes unbedingte Selbstbestimmung wäre dann durch das andere bedingt, das zu ihrer Durchführung von ihr ausgeschlossen werden muß.« 215 KD IV/1, 86. 216 WAGNER, Theologische Gleichschaltung, 23. 210
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spruchs, des Andersseins, Gott im Gehorsam entspricht«.217 Das schwache andere ist das »Gott gehorsame andere«.218 Wagner sieht nunmehr in den drei Teilen der Versöhnungslehre keine Verschiebung innerhalb der Barthschen Verhältnisbestimmung zwischen Gott als dem Absoluten und dem anderen seiner selbst. Im Bezug auf KD IV/1, »Jesus Christus, der Herr als Knecht«, stellt Wagner dies im Rekurs auf den »Gehorsam […] als Vollzug des ab-alio-esse« des erniedrigten Gottessohnes heraus. In dieser Bestimmung der gehorsamen Entsprechung werde das Einlassen Gottes auf den Widerspruch des anderen zum Schein, denn der Sohn Gottes bestätige im Medium des Widerspruchs, der freilich keiner ist, nurmehr im Gehorsam die Herrschaft Gottes: »Dem Widerspruch als solchem, nämlich dem starken anderen kommt daher bloß akzidentielle Bedeutung zu; indem er wie gesetzt, so auch aufgelöst ist, ist er nichts denn Schein.«219 Die faktische Selbständigkeit des starken anderen sei damit wiederum lediglich »wegerklärt« und »gleichgeschaltet« bzw. »ausgeschaltet«, was insbesondere im Bild des am Kreuz selbst gerichteten Richters (KD IV/1, 244) deutlich werde: Indem der Richter im Sinne des Stellvertretungsgedankens selbst der Gerichtete ist, wird jede mögliche Selbständigkeit des Gerichteten zurückgenommen. […] Damit ist das letzte Recht des Andersseins des Menschen – die Sünde – diesem genommen.220
Das Versöhnungswerk Christi bestätige den Triumph der göttlichen Subjektivität ohne Einbezug des Menschen im Sinne des starken anderen. Obgleich das strategische Ziel Barths damit erreicht scheint, sind die Konsequenzen auch für das Absolute »ruinös«,221 da es selbst dem starken anderen gegenüber in der Positionalität verbleibe. Die Selbstbestimmung Gottes bedürfe »zu ihrer Darstellung deshalb des Andersseins, weil sie sich nur unter Abstraktion des Andersseins als Selbstbestimmung erweist«.222 Die Einsicht, dass eine positionelle Durchsetzung gegenüber anderen Positionen, also dem starken anderen, gegenüber nicht möglich ist und nur um den Preis der Gewaltsamkeit durchgeführt werden kann, steht freilich im Hintergrund. Auch die Versöhnung Christi bleibe folgenlos für den Menschen, insofern im Tod Jesu »ein Ja zum abstrakten Charakter göttlicher Selbstbestimmung« liege.223 Das »Gott für uns« werde somit faktisch durch das »Gott ohne uns«224 konterkariert und aufgehoben. 217
Ebd., 27. Ebd. 219 Ebd. 220 Ebd., 29. 221 Ebd. 222 Ebd., 31. 223 Ebd. 224 Vgl. ebd., 25. 218
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Deutlich knapper entfaltet Wagner sodann anhand von KD IV/2, »Jesus Christus, der Knecht als Herr«, dass auch in der Erhöhung des Menschen Jesus die ausschließliche Selbsttätigkeit Gottes gewahrt bleibe. So werde die Lehre von der communicatio idiomatum mit der Zuspitzung reinterpretiert, »daß Gott das aktiv-gebende, der Mensch aber das passiv-empfangende Subjekt ist«.225 Gleiches gelte hinsichtlich der reformierten Lehre von der communicatio gratiarum, die ebenfalls in der Entsprechung von göttlicher Majestät und menschlicher Abhängigkeit und Passivität dem Konstruktionsprinzip der Dogmatik folge. Die Rolle des Menschen Jesus ist damit wiederum durch einen Gehorsam gekennzeichnet, der die Wiederholung jenes Gehorsams ist, »den der Sohn Gottes seinerseits im Zuge seiner Erniedrigung geleistet hat«.226 Erneut sei so aber in dem Vollzug jenes ›ab-alio-esse‹, in der Wiederholung des Gehorsams, die Konsequenz impliziert, »daß er [sc. der Mensch Jesus] sich vom Anderssein des anderen, von seinem mit allen anderen Menschen geteilten Menschsein kraft seines Gehorsams absetzt«.227 Die Feststellung, dass »auch diese Gleichschaltung von Erniedrigung und Erhöhung […] durch Abstraktion und Ausschaltung erkauft«228 sei, bestätigt nur das bisherige Urteil. Auch der letzte Band der Versöhnungslehre KD IV/3, »Jesus Christus, der wahre Zeuge«, kann schließlich in der Konsequenz des Barthschen Konstruktionsprinzips nur noch der Bestätigung des Bisherigen dienen. Das starke andere werde hier unter der Leitfrage zum Thema, wie Barth das »Problem des menschlichen Widerstandes gegen die göttliche Versöhnungstat zu lösen«229 versuche. Die Proklamation Jesu als »Sieger« bzw. »Endsieger« (KD IV/3, 303) werde nur »im Stile der Versicherung und Behauptung«230 vollzogen und richte sich an den Menschen als »anderen des anderen«, d.h. als »Gleichschaltung durch Appell«,231 der Widerständige bleibe hingegen von dieser Botschaft ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund des Problemniveaus neuzeitlicher Absolutheitstheorie kann Wagner nur zur Feststellung des Scheiterns des Barthschen Versuchs gelangen. Im Verlaufe ihrer Explikation unter »Abstraktion vom anderen als solchem« gehe »die göttliche Selbstbestimmung ihrer Unbedingtheit und Souveränität verlustig«, indem es, absolutheitstheoretisch formuliert, ein unbegriffenes anderes außerhalb des mit Absolutheitsan-
225
Ebd., 33. Ebd., 34. 227 Ebd., 35. 228 Ebd. 229 Ebd. 230 Ebd., 36. 231 Ebd., 35. 226
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spruch auftretenden bloß Positionellen gebe.232 Dies betrifft nun auch den Überbietungsanspruch Barths gegenüber der Theologie des 19. Jahrhunderts. Der Widerspruch und konsequente Ausschluss dieser Theorien ermögliche keine Überbietung, die darauf zu zielen habe, »die Selbstbestimmung Gottes im Kritisierten selbst zur Geltung zu bringen«,233 d.h. die im Sinne einer absolutheitstheoretischen Aufhebung jener positionellen Theorien verfahren müsste. Indem die Abgrenzung jenen Theorien gegenüber in Gestalt der Ausschaltung des anderen durch die Selbstbestimmung Gottes konstitutiven Eingang in Barths Theologie finde, falle diese selbst »auf das Niveau der positionellen Verfaßtheit der Theologie zurück«.234 Die Systemtheorie Luhmanns erweist sich daher aufgrund ihrer Entwicklungsfähigkeit Barths Dogmatik als »Theologie der Abgrenzung und des Ausschlusses« gegenüber als überlegen.235 Allerdings werde im Blick auf diese Abgrenzungsleistung ihre Bedeutung im Kirchenkampf erhellt: »Sie ist eine Theologie, deren innere Motorik auf Scheidung hin angelegt ist.«236 Die Konsequenzen dieses Versuchs der Durchsetzung der positionellen Selbstbestimmung Gottes als »unbedingt, allgemein und souverän« nehmen für Wagner – in der Fluchtlinie seines Denkens folgerichtig – »Züge von Gewaltherrschaft« an. Diesen Grundzug der göttlichen Selbstbestimmung innerhalb der Kirchlichen Dogmatik, so Wagner, habe er »durch die Struktur der Gleichschaltung zu beschreiben«237 versucht. Letztlich bleibt die Subjektivität des anderen daher »außerhalb der theologischen Theorie«, bzw. »die Aporie der Selbstkonstitution des endlichen Selbstbewußtseins [werde] übersprungen«, die doch »grundlegender Anstoß für die Konstitution der Christologie als exemplarische Theorie des Selbstbewußtseins«238 sei. Diese Kritik wird in dogmatischer Wendung gegen den »doketischen Zug« der Barthschen Christologie gerichtet. Im abschließenden Abschnitt »Die Barth-Interpretation im Kontext gegenwärtiger Theoriebildung«239 legt Wagner die umstrittensten Thesen seiner Studie vor. Das Gespräch mit Marquardt hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Theologie und nichttheologischer Theoriebildung wird hier wieder aufgenommen. Möglich sei dies, so Wagner, erst auf der Grundlage der 232 Ebd., 37: »Durch den Ausschluß des anderen wird die Konstruktion der gleichgeschalteten unbedingten Selbstbestimmung Gottes zugleich positionell.« 233 Ebd., 38. 234 Ebd. 235 Vgl. dazu ebd., 39: »Abstraktion vom Anderssein des anderen, Gleichschaltung und Rückfall in die Positionalität – diese Strukturbestimmtheiten der Barthschen Theologie weisen sie als entwicklungsunfähig aus.« 236 Ebd. 237 Ebd., 38. 238 Ebd., 38f. 239 Ebd., 39–43.
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entwickelten systematisch-begrifflichen Ebene. Die von Marquardt vorgenommene Herstellung von Verknüpfungen zwischen Theologie und Sozialismus auf der unmittelbar gegenständlichen Ebene hingegen laufe Gefahr, in der Verknüpfung subjektiver Beliebigkeit zu folgen. Nur der gewählte abstrakte Bezugsrahmen ermögliche jene – vorerst als Hypothese zu formulierende – synchrone Einordnung der theologischen und nichttheologischen Theoriebildungen des 20. Jahrhunderts. Auf seine früheren Studien240 verweisend stellt Wagner fest, es »würde sich zeigen lassen, daß die inhaltliche Struktur [sc. der Barthschen Theologie] nicht nur dem Sozialismus, sondern auch dem Faschismus und seiner Theoriebildung verwandt ist«,241 wobei im Blick auf den Sozialismus eine Verwandtschaft auch zu dem »›hard-wareSozialismus‹ eines Lenin, Stalin und Genossen«242 erkennbar sei. Dem Vorwurf einer »Desavouierung auf allzu billige Weise« begegnet Wagner vorausschauend mit dem Hinweis, er verfolge das Bemühen einer genauen Klärung von »Begriff und Theorie der dialektischen Theologie« und insbesondere der Probleme, welche die dialektische Theologie hervorrufe. Dass die dialektische Theologie damit zur Vorstufe jener Absolutheitstheorie gerät, die Wagner zu entwerfen versucht, überrascht kaum.243 3.5.3 Zum Verständnis der Barthdeutung und -kritik Das Begreifen und Aufheben einer gescheiterten Theorie des (letztlich doch nicht) Absoluten ist das programmatische Ziel der Wagnerschen Barthdeutung. Vor dem Hintergrund dieses anspruchsvollen Programms ist sie als eine weitere Anwendung neben den bereits skizzierten Rekonstruktionen verständlich. Auch die umstrittene Zuspitzung des Theorievergleichs lässt sich als – in Wagners Perspektive – mögliche und zugleich notwendige Konsequenz der absolutheitstheoretischen Theologiegeschichtsschreibung verstehen.244 Gemessen an dem in der Auseinandersetzung mit Cramer entwickelten Niveau der Theorie des Absoluten unterliegt Barths Versuch den Problemen, in die der pantheistische Versuch Spinozas führt.245 Der Spinozismus zieht die Selbständigkeit des Kontingenten zugunsten des Absoluten ein und kann auf diesem Wege nicht mit der vorausgesetzten Problemlage, der Selbstbe240
WAGNER, Gehlens radikalisierter Handlungsbegriff; DERS., Politische Theorie. WAGNER, Theologische Gleichschaltung, 41. 242 Ebd., 42. 243 »Aufgabe der Theologie ist es, eine Theorie des Absoluten so mit dem Begriff der Entwicklung als Selbstexplikation im anderen zu verbinden, daß das Allgemeine zwar im und als Partikulares zur Darstellung gebracht, aber nicht selbst in ein Partikulares verkehrt werden kann.« (ebd.). 244 Der NS-Vergleich ist für Wagner weniger denunziatorisch als systembedingt: alles muß sich als der eigenen Subjektivitätstheorie abkünftig erweisen, dabei wird der historische Index weitgehend ausgeblendet. 245 Vgl. dazu insbesondere WAGNER, Was ist Religion, 161. 241
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gründung der Subjektivität vermittelt werden. Auf die Theologie abgebildet gelingt Barth nicht die Aufhebung des Schleiermacherschen Ansatzes. Die Kontextualisierung der Theologie Barths im Verweis auf die Strukturparallelität zur zeitgenössischen Theoriebildung darf nicht als gänzlich unverständliche Polemik beurteilt werden. Gleichwohl zeigt sich hier das Problem, die »begriffene Geschichte« mit den historischen Ereignissen überein zu bringen.246 Wagner selbst erhob gegenüber kritischen Auseinandersetzungen mit seiner Studie die Forderung, dass im Gegenzug eine durch Denken, nicht durch bloßes Versichern erhärtete Alternative anzubieten [sei], die genau jene Sachverhalte erklärt, die ich nicht anders als pantheistische (und, politisch gewendet, totalitäre) Gleichschaltung erklären kann, weil ein Pantheismus jede Eigenständigkeit des gegenüber dem göttlichen Subjekt anderen leugnen muß.247
Es ist dieser Anspruch eines metatheoretischen Theorieniveaus, welcher Wagners Ansatz von früherer Kritik der Theologie Barths unterscheidet. Bereits im Jahr 1937 stellte Walter Nigg im Blick auf die dialektische Theologie fest: »Die ›gemeinsame Struktur zwischen diesen Gedankenkreisen und den fascistischen Staatsideen‹ ist evident und verrät die geistige Heimat der dialektischen Theologie.«248 Die Jugend, welcher seine Hoffnung gilt, würde hingegen »sowohl der geistigen Kasernierung als der theologischen Gleichschaltung einst überdrüssig werden«.249 Die an der menschlichen Freiheit orientierte Kritik Wagners stellt ebenfalls kein Singulum dar, sondern findet ihre Entsprechung auch außerhalb des absolutheitstheoretischen Theoriemodells. Es sei exemplarisch auf eine bemerkenswerte Parallele in der Kritik Dorothee Sölles hingewiesen:250 Derjenige, der meine Stelle besetzt, statt sie mir frei zu halten, der mich verdrängt, statt auf mich zu warten, der total und radikal ohne mich für mich handelt, braucht in der Tat weder meine Einwilligung noch auch nur meinen unausgesprochenen, vielleicht im Zustand meiner Unmündigkeit gar nicht aussprechbaren Wunsch. […] Die Totalität der Stellvertretung, als ihrem Wesen zuwiderlaufend, impliziert die Entmündigung des Menschen.251
246
FISCHER, Protestantische Theologie, 260: Wagners »›Rekonstruktion‹« leide daran, »daß er um eines vermeintlichen tertium comparationis willen einen theologie- und politikgeschichtlichen Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Ideologie (›Gewaltherrschaft‹) herstellt, der durch die geschichtlichen Geschehnisse und Barths Aktivitäten selbst durchbrochen wird.« Demgegenüber wäre es notwendig gewesen, »die dazu querstehenden Sachverhalte plausibel zu deuten« (ebd.). 247 WAGNER, Was ist Religion, 161 Anm. 248 NIGG, Geschichte des religiösen Liberalismus, 399. 249 Ebd., 410. 250 SÖLLE, Stellvertretung, 89–93. 251 Ebd., 90f. Zur Aufnahme im binnendogmatischen Diskurs vgl. PANNENBERG, Systematische Theologie 2, 477f. Gegen KOCK, Natürliche Theologie, 249, der Wagners Barthdeutung als
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Auch Sölles Kritik speist sich aus einem an der Freiheit bzw. Emanzipation einem bestimmten Gottesgedanken gegenüber orientierten Denken, dessen Motivation außerhalb des binnendogmatischen Diskurses liegt. Ein Theoriehintergrund von Wagnerschem Rang steht bei Sölle freilich nicht im Hintergrund. Es steht außer Frage, dass Wagners Interpretation der Christologie Barths insbesondere im Blick auf deren Verständnis als Gleichschaltung dem Selbstverständnis Barths diametral entgegensteht. Nach Maßgabe eines neuzeitlich durch Fichte und Hegel erlangten Reflexionsniveaus wird die breite materiale Entfaltung der Kirchlichen Dogmatik auf die – als tertium comparationis der Interpretation der gesamten neuzeitlichen Theologiegeschichte zuvor festgelegte – abstrakte Theoriefigur des Selbstbewusstseins und seiner Begründung im Allgemeinen bzw. Absoluten hin ausgelegt. Als Begründung für dieses Verfahren dient letztlich allein die Evidenz der faktischen Dependenz jedes Gedankens von der Tätigkeit des Selbstbewusstseins, d.h. dessen umfassender Mediatisierungsfähigkeit. Die Theorie ist damit zugleich hermetisch ihrer Kritik gegenüber immunisiert, denn auch die Kritik ist auf ihre Funktion für das tätige Selbstbewusstsein hin zu befragen, kritisch zu de- und sodann zu rekonstruieren. Jeglicher Versuch, der Wagnerschen Interpretation im Rahmen einer gleichsam besseren Interpretation der Kirchlichen Dogmatik zu begegnen, läuft daher zwangsläufig ins Leere. Nicht die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch auf der materialen Ebene, innerhalb derer die innertrinitarisch begründete Liebe Gottes freies Handeln bestimmt, sondern deren Rekonstruktion als Ausdruck des Selbstbewusstseins ist für das absolutheitstheoretische Urteil maßgeblich. Die Kritik, dass hier die Gestalt Barthscher Theologie, die den zweiten Römerbriefkommentar bestimmt, unzulässigerweise in seine späte Theologie ›hineingelesen‹ werde, verdunkelt demgegenüber geradezu eine von Wagner zu Recht festgestellte Kontinuität innerhalb des Barthschen Denkens. Deutlich wird dies in dem Vortrag Die Menschlichkeit Gottes, in dem Barth die in der Kirchlichen Dogmatik vollzogene Wendung zum Menschen reflektiert. Gegenüber der früheren Wendung der Theologie vom religiösen Menschen zu Gott bestimmt Barth die künftige Aufgabe der Theologie als folgende: »eben auf Grund der Göttlichkeit Gottes, eben von ihr her die Erkenntnis seiner Menschlichkeit«.252 Die Hinwendung zur Menschlichkeit Gottes und damit zum Menschen als weitgehend an Pannenberg orientiert deutet. Demgegenüber stellt Pannenberg selbst fest, dass für die Interpretation Barthscher Theologie vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Autonomie Rendtorffs Aufsatz Radikale Autonomie Gottes grundlegend gewesen sei. Auch im Blick auf das Programm »Kritischer Theorie theologischer Theoriebildung« ist eine größere Nähe Wagners zu Rendtorff als zu Pannenberg erkennbar. 252 BARTH, Die Menschlichkeit Gottes, 348.
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Thema der Dogmatik setzt daher nicht die frühere Positionierung der Theologie gegenüber Gott als Gott außer Kraft, sie stellt auf der Grundlage dieser Einsicht eine Präzisierung dar:253 Wer jene frühere Wendung nicht mitgemacht haben, wem es etwa noch immer nicht eindrücklich geworden sein sollte, daß Gott Gott ist, der würde, was nun als wahres Wort von seiner Menschlichkeit weiter zu sagen ist, sicher auch nicht in Sicht bekommen.254
Sollte also bereits die frühere Wendung auf einer theologischen bzw. absolutheitstheoretischen Fehlentscheidung beruhen, so legt es sich gerade von der Selbstwahrnehmung Barths her nahe, dass auch innerhalb der Kirchlichen Dogmatik die Probleme mittransportiert werden, deren Lösung also a priori nicht zu erwarten ist. Auch die seinen neuzeittheoretischen Interpreten sich nähernde Selbstkritik, der Gott als ›ganz anderer‹ sei ein solcher gewesen, der »mit der Göttlichkeit des Gottes der Philosophen immer schon oder schon wieder größere Ähnlichkeit hatte als mit der des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs«, wird insofern doch aufgehoben, als jenes der biblischen Verkündigung255 nähere Zusammensein von Gott und Mensch die Freiheit und Souveränität Gottes voraussetze: »Eben Gottes recht verstandene Göttlichkeit schließt ein: seine Menschlichkeit.«256 Zugespitzt formuliert hätte sich Wagner der Lektüre der materialen Fülle gänzlich entziehen und jene wenigen Sätze aus Barths Vortrag ins Feld führen können: Die alte reformierte Christologie hat das in ihrer Lehre von der »hypostatischen Union« besonders klar herausgearbeitet: Gott sitzt im Regimente. Daß er redet, gibt, befiehlt, das geht in der Existenz Jesu Christi schlechterdings voran – daß der Mensch hört, empfängt, gehorcht, das kann und darf diesem Ersten nur folgen. Des Menschen Freiheit ist in Jesus Christus ganz eingeschlossen in die Freiheit Gottes.257
Gott als »Partner« des Menschen ist zugleich des Menschen »allmächtiger Erbarmer und Heiland«258 – die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch ist damit in den Zusammenhang eines soteriologischen Realismus
253 Ebd., 350: »War das, was wir damals entdeckt zu haben meinten und vorbrachten, kein letztes, sondern ein retraktationsbedürftiges, so war es doch ein wahres Wort, das als solches stehenbleiben muß, an dem es noch heute kein Vorbeikommen gibt, das vielmehr die Voraussetzung dessen bildet, was heute weiter zu bedenken ist.« 254 Ebd. 255 Zur biblischen Begründung s. ebd., 355f. 256 Ebd., 353. Vgl. ebd., 352: »[…] es geht um Gottes souverän in ihm selbst begründetes und allein durch ihn selbst bestimmtes, begrenztes, geordnetes Zusammensein mit dem Menschen.« 257 Ebd., 354. 258 Ebd., 356. S. ebd., 357: »Der Gott Schleiermachers kann sich nicht erbarmen. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs kann und tut es.«
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gestellt, der den Widerspruch des Menschen gegen Gott, seinen absoluten Unwillen Gott Gott sein zu lassen, ernst (wohl ernster als Wagner) nimmt. Dass dem von Gott in seiner Menschlichkeit zum Partner erhobenen Menschen eine besondere Würde zuzurechnen ist, lässt den Unterschied zwischen Barths Intention und der von Wagner konstatierten »Gleichschaltung« sichtbar werden. Die in der Erkenntnis der Menschlichkeit Gottes eröffnete »Einstellung zu irgendeinem Mitmenschen […] ist identisch mit der praktischen Anerkennung seines Menschenrechtes und seiner Menschenwürde. Verweigerten wir sie ihm, so würden wir eben damit auch unsererseits darauf verzichten, Jesus Christus zum Bruder und Gott zum Vater zu haben.«259 Auf der Grundlage seines Konstruktionsprinzips freilich kann für Wagner diese Beziehung nicht gedacht werden. Eine Auseinandersetzung mit der Barthdeutung Wagners kann allein im Blick auf das von ihm vorausgesetzte Theorieniveau geführt werden. Auf dessen Grundlage kann Wagner ebensowenig das soteriologische Interesse der Theologie Barths, wie den daraus erwachsenen Versuch, die Konstitution der Subjektivität und die erkenntnistheoretischen Probleme, die der Theologe als ›starker anderer‹ hat, dem Geschehen des Wortes Gottes nachzuordnen, zur Geltung bringen. Der biblische Rekurs der Kirchlichen Dogmatik kommt als Begründungszusammenhang des theologischen Denkens nicht in Frage, sondern stellt ein austauschbares Medium der ermittelten Theoriefigur dar. Eine Auseinandersetzung mit der fundamentaltheologischen Grundlegung, die Barth in Fides quaerens intellectum vor dem Hintergrund des neuzeitlichen Denkens (Descartes) vorlegte, wird von Wagner durchgängig nicht aufgenommen. Das theologiegeschichtliche Bild, das Wagner im Blick auf den Übergang von der positionellen zur Theoriebildung des 20. Jahrhunderts zeichnet, lässt zudem eine Frage offen: Wie ist die Rolle Hegels und des theologischen Hegelianismus im Kontext der positionellen Theoriebildungen des 19. Jahrhundert zu bestimmen? Jenseits der synchronen Einordnung der Theologie Barths in die Radikalisierungsbewegung des 20. Jahrhunderts hätte sich hier die Möglichkeit einer Ortsbestimmung der Theologie Barths in dem Zusammenhang einer konstruktiven Linie neuzeitlicher Geistesgeschichte eröffnet. Exkurs: Eine absolutheitstheoretische Rekonstruktion der Christologie Wagners Studie zu Barth erhält in dem Band Die Realisierung der Freiheit eine Sonderstellung, insofern ihr ein am gleichen Ort veröffentlichter konstruktiver Gegenentwurf korrespondiert, welcher den absolutheitstheoretischen Horizont der Deutung und Kritik der Theologie Barths sichtbar wer259
Ebd., 358.
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den lässt. Der Christologie der Kirchlichen Dogmatik, deren Entwicklungsunfähigkeit im Blick auf das »starke andere« Wagner herausstellte, wird hier der Entwurf einer Christologie als Funktion des Selbstbewusstseins entgegengestellt. Wagners These lautet, dass das für die neuzeitliche »Theorie des Selbstbewußtseins«260 zentrale Problem der Zirkelhaftigkeit der Selbstbegründung von Selbstbewusstsein von der Theologie einer Lösung zugeführt werden könne, denn in der Christologie liege eine »Argumentationsfigur« vor, »mittels deren die Aporie der Selbstbegründung von Selbstbewußtsein nicht nur aufgeklärt, sondern auch einer bestimmten Lösung zugeführt werden kann«.261 Zunächst gelte es daher zu zeigen, »daß die Christologie nichts anderes als den verschlüsselten Sachverhalt des Selbstbewußtseins repräsentiert«.262 Sodann sei der Erweis zu erbringen, dass die Christologie als eine »exemplarische Theorie des Selbstbewußtseins« entfaltet werden könne, die einen gelungenen Lösungsversuch für die Problematik der Selbstbegründung von Selbstbewusstsein darstelle. Dass die Tätigkeit des Selbstbewusstseins nicht nur als das Konstruktionsprinzip aller theologischen Gehalte zu bestimmen ist, sondern zugleich ihr eigentliches Thema darstellt, führt Wagner in Anknüpfung an die oben bereits skizzierten Gedankengänge aus. Die Schwäche der protestantischen Theologie seit der Aufklärung bis zum Auftreten der dialektischen Theologie habe darin bestanden, dass sie die Selbstbewusstseinstätigkeit in Abgrenzungen durch wechselnde inhaltliche Bestimmungen entfaltet und damit in die Positionalität geführt habe: Es ist eine »Freiheit des negativen Bezogenseins, des Ausschlusses von anderen Bestimmtheiten«.263 Die dialektische Theologie überbiete im Zusammenhang »der allgemeinen Theoriebildung des 20. Jahrhunderts« diese Positionalität, indem sie zum Ausdruck bringe, »daß Freiheit nur aus Freiheit, nämlich aus der an und aus sich selber gedachten Freiheit gewonnen und abgeleitet werden kann«.264 Damit werde das Ende der Positionalität eingeleitet, jedoch trete die unbedingte, nichtpositionelle Freiheit ihrerseits noch in »unmittelbarer Gestalt« auf, d.h. ihre Verwirklichung könne nur unter der Maßgabe »unmittelbare[r] Entsprechung bzw. Gleichschaltung«265 gedacht werden. In der dialektischen Theologie könne 260 WAGNER, Christologie als exemplarische Theorie, 136: Die Begriffe ›Selbstbewußtsein‹ bzw. ›Subjektivität‹ (durchgehend ohne Differenzierung von Wagner verwendet) können zwar auf singuläre Subjekte bezogen werden, im vorliegenden Zusammenhang bezieht Wagner sie jedoch auf eine dem Selbstbewußtsein eigene Struktur ›der Selbstexplikation im anderen‹, die zugleich das Konstruktionsprinzip der Wirklichkeit sei. 261 Ebd., 135. 262 Ebd., 136. 263 Ebd., 138. Ebd. versteht Wagner dieses Verfahren als »positionell vorgehendes Selbstbewußtsein«. 264 Ebd. 265 Ebd.
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nur anerkannt werden, was unmittelbar »entspricht«, Widerständiges hingegen unterliege dem Zwang zur Gleichschaltung. Inwiefern nun »Selbstbewusstsein« nicht nur Konstruktionsprinzip, sondern zugleich Thema der Theologie ist, demonstriert Wagner an dem Verhältnis von Gotteslehre und Christologie. Ist die »Abhängigkeit von Gott […] die Weise, wie das Selbstbewußtsein seine Grundproblematik zum Ausdruck bringt, nämlich das Problem, daß sich das Selbstbewußtsein zur Konstitution und Erfassung seiner selbst immer schon als sich gegeben voraussetzen muß«,266 so werde in der Christologie die Beziehung zwischen »allgemeinem und singulärem Selbstbewußtsein« thematisiert, deren Einheit durch »Jesus Christus« repräsentiert werde. Indem die Theologie diese Gedankenfigur durchführt und damit die Begründung des Selbstbewusstseins in »Gott« zu denken erlaubt, übertrifft sie die philosophische Theoriebildung, die am Problem der »Selbstkonstitution des Selbstbewußtseins« scheitert.267 Die Theologie erweist sich damit als grundlegende Reflexionsgestalt der Wirklichkeit, indem sie sich mit Selbstbewusstsein als »Aktzentrum des Aufbaus von Wirklichkeit«268 beschäftigt. Der Status dieser Überlegungen als »Metatheorie zu allen christologischen Entwürfen und Vorstellungen«269 ermöglicht zudem das Begreifen und Aufheben jeglicher materialen Ausformulierung einer Christologie. Es folgt sodann die Entfaltung der These, dass die Christologie eine »exemplarische Theorie des Selbstbewußtseins« darstelle. In Aufnahme des Grundkonsenses der neueren Dogmatik, dass der Bezug auf Jesus Christus die Einheit der Theologie konstituiere,270 entfaltet Wagner die Implikationen solcher Einheit. In logischer Deduktion könne sie nur die »an sich selbst gedachte Einheit« sein, »d.h. sie als Subjekt muß an sich selbst Objekt sein«, 266
Ebd., 139. Vgl. ebd., 151: »Während sowohl das endliche als auch das als absolut angesetzte Selbstbewußtsein (Fichte) dadurch der Aporie der Zirkelhaftigkeit von Selbstbewußtsein verfallen, daß zur Selbsterklärung des Selbstbewußtseins dieses schon unerklärt in Anspruch genommen und so vorausgesetzt werden muß, kann das mit Jesus Christus gedachte Selbstbewußtsein ohne diese petitio principii erklärt werden.« In der Tat behauptet Wagner (ebd., 139f) pauschal das Scheitern der Philosophie an dem Problem der Begründungsaporetik, sodass an diesem Punkt offenbar eine Überlegenheit der Theologie vorausgesetzt wird. In welchem Verhältnis dieses Urteil zu Wagners Cramer- und Hegel-Rezeption im Blick auf das Programm einer Theorie des Absoluten steht, bleibt offen. Insofern Wagners Entfaltung der Christologie unverkennbar in Anlehnung an Hegel prozediert (s. FISCHER, Protestantische Theologie, 262) wird davon auszugehen sein, dass mit »der« Philosophie hier insbesondere Fichte gemeint ist. 268 WAGNER, Christologie als exemplarische Theorie, 140. 269 Ebd. Unklar bleibt damit, welche Funktion materiale Ausprägungen dogmatischer Christologie dann noch erfüllen können, sofern sie nicht allein das »Material« für die Aufhebung liefern. 270 Ebd., 141: »Der Name Jesus Christus ist der Bezugspunkt, von dem aus alle Themen der christlichen Theologie behandelt werden und von dem aus alle Themen ihre Einheit finden.« 267
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was nur für das »Selbstbewußtsein« zutreffe: »Jesus Christus bzw. die Christologie stellt nichts anderes als die verschlüsselte Vorstellung des Selbstbewußtseins dar.«271 Die Einheit müsse synthetisch gedacht werden, d.h. als Einheit »Einheit und Nichteinheit«272 umgreifen. In einer »Selbstbestimmung durch Vorstellungen« nehme das Selbstbewusstsein seinen Selbstaufbau vor und vollziehe mit der Selbstdarstellung und Selbstvergegenständlichung in den Gehalten die »Negation seiner allgemeinen Negationsfähigkeit«:273 An dieser Selbstdarstellung im Nicht-Identischen und Fremden hängt die Entwicklungsfähigkeit des Selbstbewußtseins, denn Entwicklung als Bewegungs- und Tätigkeitsweise des Selbstbewußtseins meint seine Selbstexplikation im anderen seiner selbst.274
Das Ziel, welches das Selbstbewusstsein innerhalb der Selbstexplikation verfolgt, verdeutlicht Wagner wie bereits in seiner Münchner Antrittsvorlesung anhand der »historische[n] Jesusfrage als Frage nach der Selbstproduktion des Selbstbewußtseins«.275 Die historische Jesusfrage steht demnach im Dienste der Vergewisserung des Selbstbewusstseins. Die Gemeinde will sich in der historischen Rückfrage vergewissern, dass der Christus des Kerygmas nicht »im Sinne gewöhnlicher Erzeugungen durch anderes [d.h. durch die Gemeinde selbst], sondern durch sich selbst erzeugt ist«.276 Jesus werde daher als »Produzent des Glaubens an ihn selbst als Christus«277 gedacht. Wusste sich Jesus freilich nicht als »selbstproduzierendes Selbstbewußtsein«278 – dies werde im Blick auf die erst nachösterliche Zuschreibung von Hoheitstiteln deutlich –, so sei sein Übergang als Subjekt der Verkündigung zum Objekt der Verkündigung (durch die vollkommene Identifikation mit seiner Botschaft bis in den Tod) die Stiftung einer Einheit, die von der Gemeinde erneut vom Objekt ins Subjekt aufgehoben werde (d.i. die Gedankenfigur der doppelten Negation), indem diese die Einheit von Verkündiger und Verkündigtem anerkenne und vorstellungshaft in der »Auferstehung« zum Ausdruck bringe. Damit jedoch sei zwar die Einsichtigkeit der Produktion der Jesus271
Ebd., 142. Ebd., 141. Vgl. ebd., 142: »Das mit Jesus Christus gemeinte Selbstbewußtsein als ursprüngliches Aktzentrum ist die Tätigkeit, die, weil sie ursprüngliche Einheit von Subjekt und Objekt ist, die Einheit der Theologie als deren Einheitsstiftung garantiert.« 273 Ebd., 143. 274 Ebd. Das Selbstbewußtsein ist zugleich auf die immer neue Selbstexplikation im Medium jeweils unterschiedlicher Gehalte angewiesen. Der »Aufbau neuer Vorstellungen« sei »notwendig, damit die Entwicklungsfähigkeit des Selbstbewußtseins nicht in schon vollzogenen Selbstvergegenständlichungen stillgelegt« werde (ebd., 144). 275 Ebd., 145 (im Original hervorgehoben). 276 Ebd., 147. 277 Ebd. 278 Ebd., 148. 272
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Christus-Einheit durch die Gemeinde herausgestellt, keineswegs jedoch deren Notwendigkeit.279 Es ist daher die Aufhebung jener »Produktion der Gemeinde in den Vollzug der Selbstproduktion des Selbstbewußtseins«280 erfordert. Die Notwendigkeit der Produktion kommt jener vorgestellten Einheit von Verkündiger und Verkündigtem nur zu, insofern »sich das Vorgestellte in jenen Vorstellungen selbst vor-stellt«.281 Nichts anderes als die Aufhebung des Ausgangs vom Bewusstsein (des kosmologischen Beweisverfahrens) in den Ausgang vom Absoluten (das ontologische Beweisverfahren) ist hier intendiert, um den religionskritischen Projektionsvorwurf auf diese Weise zu entkräften: Behielte das religiöse Bewußtsein das letzte Wort, d.h. bliebe es bei der Differenz von religiöser Vorstellung (Symbol) und Vorgestelltem (Symbolisiertem), so wäre es um die Religion, nämlich um das vom religiösen Bewußtsein Vorausgesetzte und Vorgestellte (z.B. Gott) schlecht bestellt. Denn dann wäre das Vorgestellte nur in der Weise der durch das religiöse Bewußtsein produzierten Vorstellung präsent. Das würde bedeuten, daß das Vorgestellte nur durch anderes (ab alio), nämlich durch die Vorstellungsweisen des religiösen Bewußtseins produziert ist, so daß Feuerbachs Religionskritik das letzte Wort in Sachen Religion wäre.282 – Die Religion bedarf daher der Theo-Logie und die [sic!] Vorstellung des Denkens, damit die religiösen Vorstellungen auf die Selbstdarstellung des Vorgestellten – des allgemeinen Selbstbewußtseins – bezogen bleiben.283
Die Selbstvorstellung (Selbstoffenbarung) des allgemeinen Selbstbewusstseins wird theo-logisch im Medium einer trinitarischen Entfaltung des Gottesbegriffs entwickelt. Der spekulative Kerngedanke, Gott – das allgemeine Selbstbewusstsein – negiere »seine allgemeine Negationsfähigkeit« und mache »sich so zur Negation seiner Negationsfähigkeit, zur Bestimmtheit und Besonderheit«,284 mündet in die Vorstellung seiner Entäußerung und Selbstdarstellung als besonderes. Der Grund dieser »Selbstoffenbarung Gottes« sei innerhalb der immanenten Trinität zu entfalten: »Denn soll die Inkarnation als Gottes Selbstentfaltung im anderen diesem nicht äußerlich 279 »Mit der Produktion der Gemeinde wird also behauptet, daß sich in Jesu besonderem Selbstbewußtsein zugleich das allgemeine Selbstbewußtsein – Gott – expliziert. Eben diese Selbstdarstellung des allgemeinen im besonderen Selbstbewußtsein ist entsprechend der Vorstellung der Auferstehung durch die Gemeinde gesetzt. Diese Setzung ist vom Weg Jesu – Verkündigung, Tod und Auferstehung – her einsichtig. Jedoch ist mit dieser Setzung noch nicht die Frage beantwortet, worin die Notwendigkeit der Selbstexplikation des allgemeinen Selbstbewußtseins in Jesus Christus besteht. Von Notwendigkeit kann erst dann gesprochen werden, wenn die Selbstdarstellung des allgemeinen – Gottes – im besonderen Selbstbewußtsein Jesu aus dem allgemeinen Selbstbewußtsein als aus der absoluten Subjektivität entwickelt wird.« (ebd., 152). 280 Ebd. 281 Ebd., 154. 282 Ebd., 153f. 283 Ebd., 154. 284 Ebd., 156.
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sein, so muß die Selbstexplikation als Selbstunterscheidung Gott selbst immanent sein«.285 Zugleich jedoch sei diese immanente Trinität in Richtung der ökonomischen Trinität zu denken, d.h. für das »starke andere« offen.286 Die Problematik des Spinozismus, die für Wagner in der Konzeption der immanenten Trinität bei Barth wiederkehrte, muss an dieser Stelle vermieden werden. Die entsprechenden Ausführungen führen somit dem starken anderen, dem besonderen Selbstbewusstsein, entgegen: Die Christologie ist ein Erklärungszusammenhang, welcher die Funktion erfüllt, die Frage nach der Konstitution der Freiheit nicht in der Aporetik enden zu lassen. Dieser Versuch lässt sich nunmehr auf der Grundlage der Trinitätslehre entfalten, wobei die Entfaltung in drei Schritten einen Widerspruch gegen die jeweiligen Schwerpunkte der drei von Wagner zuvor knapp »untersuchten« Bände der Barthschen Versöhnungslehre impliziert. Zunächst werde die »Selbstentwicklung des Allgemeinen als besonderes Bewußtsein«287 als Selbsterniedrigung Gottes (status exinanitionis) gedacht, die als die »Selbstpreisgabe des Allgemeinen als abstrakt Allgemeines« zu verstehen sei. »Gott hört auf, bloße Wesensallgemeinheit als Substanz und Macht zu sein.«288 Dies impliziert aber zugleich die »Anerkennung […] des anderen als des Besonderen«, d.h. Gott »opfert […] sich selbst und erkennt so das Besondere in Negation seiner selbst an«.289 Das Selbstbewusstsein eignet sich diesen Gedanken in der traditionellen »Vorstellung vom priesterlichen Amt«290 an. Die Versöhnung des Besonderen erfolgt dadurch, dass das Allgemeine »selbst ein anderes« wird und dieses als anderes anerkennt. Sodann folgt die »Selbstentwicklung des Besonderen als allgemeines Selbstbewußtsein«:291 »Das anerkannte Besondere entspricht dadurch seiner Anerkennung, daß es sich als anerkannt anerkennt.«292 Dieser Vollzug wird im traditionellen Terminus des status exaltationis und in der Vorstellung vom königlichen Amt angeeignet – hier wird die Begründung der Freiheit des anderen als des starken anderen deutlich. Allgemeines und besonderes Selbstbewusstsein sind aufeinander verwiesen: »das allgemeine als anerken-
285
Ebd., 157. Vgl. ebd., 158. 287 Ebd., 161–163, vgl. dazu »Jesus Christus, der Herr als Knecht« (WAGNER, Theologische Gleichschaltung, 25–32). 288 Damit sei gegenüber der altlutherischen Orthodoxie die Selbsterniedrigung nicht nur im Blick auf die menschliche Natur, sondern auf Gott selbst zu denken (WAGNER, Christologie als exemplarische Theorie, 162). 289 Ebd., 163. 290 Ebd., 162. 291 WAGNER, Christologie als exemplarische Theorie, 163–165, vgl. dazu »Jesus Christus, der Knecht als Herr« (DERS., Theologische Gleichschaltung, 32–35). 292 WAGNER, Christologie als exemplarische Theorie, 163f. 286
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nendes anerkannt und das besondere als anerkanntes anerkennend«.293 Damit ist jedoch – entgegen dem »Gehorsam« des anderen innerhalb der Kirchlichen Dogmatik – die »Aufhebung des Unterschiedes von Herrschen und Beherrschtwerden« zugunsten eines symmetrischen Verhältnisses der Freiheit zwischen allgemeinem und besonderem Selbstbewusstsein intendiert: Was herrscht, ist die christologische Struktur der Selbstexplikation im anderen, die die der Freiheit ist. […] Diese Freiheit ist aber nicht als Selbstbestimmung und Herrschaft des Allgemeinen aufzufassen, sondern als die Selbstbestimmung, die entsprechend der Selbstdarstellung im anderen sich durch das Bestimmte und Besondere selbst bestimmt weiß. Als solche hat sie den Unterschied von Bestimmen und Bestimmten, von Aktivität und Passivität aufgehoben. Sie ist Darstellung der Freiheit, die sich im jeweils anderen als sich selbst entfaltet.294
Schließlich werde die Vollendung des Systems der Christologie in der »Selbstdarstellung der Einheit des Selbstbewußtseins«295 erreicht. Diese Einheit als »wechselseitiges Einssein von allgemeinem und besonderem Selbstbewußtsein« könne mit den traditionellen Vorstellungen der unio personalis und communio naturarum als Kommunikationsgemeinschaft ausgelegt werden. Die Möglichkeit des Gelingens dieser Selbstexplikation werde hingegen durch die Rede von der communicatio idiomatum (im Anschluss an H.-W. Schütte) zum Ausdruck gebracht: Wird diese communicatio von der Selbstbewußtseinsproblematik aus konzipiert, so wird mit ihr die synthetische, durch gegenseitige Selbstdarstellung vollzogene Selbstvermittlung des besonderen und allgemeinen Selbstbewußtseins mitgeteilt.296
Diese in Jesus Christus vollzogene Selbstvermittlung297 selbst ist es, die sich mitteilt. Genau dies bringe die Vorstellung vom prophetischen Amt Christi zum Ausdruck: »Denn Jesus Christus ist nicht länger der Prophet eines anderen, sondern seiner selbst.«298 Mit der »Kommunikation« Jesu Christi wird die Möglichkeit der Wiederholung299 dieser »Selbstexplikation des Selbstbewußtseins« eröffnet, die sich offensichtlich von der »Gleichschaltung durch Appell« in der Kirchlichen Dogmatik abhebt. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Wagners Entfaltung der Christologie vor dem Hintergrund der Theorie des Absoluten kann hier 293
Ebd., 165. WAGNER, Christologie als exemplarische Theorie, 165. 295 Ebd., 165–167, vgl. dazu »Jesus Christus, der wahre Zeuge« (DERS., Theologische Gleichschaltung, 35f). 296 WAGNER, Christologie als exemplarische Theorie, 166. 297 Vgl. dazu ebd.: »[…] aufgrund der Aporie des endlichen Selbstbewußtseins hängt die exemplarische Bedeutung der Christologie für die Selbstbewußtseinsproblematik davon ab, daß sich das Selbstbewußtsein von sich aus mitteilbar und kommunikabel macht.« 298 Ebd., 167. 299 Vgl. ebd., 165. 294
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ausbleiben. Diese von einem metatheoretischen Status aus vorgehende »Theorie christologischer Theoriebildungen« ist für die Selbstdurchleuchtung des Selbstbewusstseins trotz ihrer abstrakten und formalen Gedankenführung von unmittelbarer Relevanz. Wagner misst ihr geradezu eine poimenische Bedeutung zu, wenn er feststellt, es verhelfe »die Christologie als exemplarische Theorie des Selbstbewußtseins dem Selbstbewußtsein dazu, sein Interesse an sich selbst so als das Interesse an seinem Grund zu artikulieren, daß es, indem es seiner Selbstdurchleuchtung innewird, nicht an seiner Selbsterklärung verzweifeln muß.«300 Dass die Theologie auf diesem Wege der Religionskritik gegenüber bestehen kann, dürfte noch zur Verstärkung dieser Wirkung beitragen. Solange Wagner die absolutheitstheoretische Programmatik weiter verfolgt, bleiben diese Elemente der absolutheitstheoretischen Entfaltung des trinitarischen Gottesbegriffs und der damit theo-logisch, bzw. metatheoretisch aufgehobenen Christologie für sein Denken bestimmend.301 Dieses Unternehmen impliziert freilich einen gewissen Ausschließlichkeitsanspruch: Die Entfaltung einer Christologie kann dieses Niveau, sofern es einmal erreicht wurde, nur um den Preis ihrer intellektuellen Unredlichkeit verlassen, und die unmittelbare Aneignung der Gehalte der Christologie jenseits dieser Konstruktion bleibt dem Selbstbewusstsein versperrt.302
3.6 Die Kontinuität späterer Barthkritik Dass das Programm der Theorie des Absoluten auch in der Folgezeit Wagners Deutung und Kritik der Theologie Barths ihre Kontur verleiht, wird in den knappen Ausführungen zu »Karl Barths Auflösung der Religion« im 300 Ebd., 167. Diese seelsorgerliche Relevanz setzt die metatheoretische Reflexionsleistung materialer Christologie gegenüber gerade voraus: »Weil wir wissen, wie die Christologie konstruiert und gemacht wird, erwerben wir die Fähigkeit, mit ihr umzugehen. Die Aneignung der an sich, d.h. für uns fremden Christologie durch die Rekonstruktion ihrer Konstruktion macht den Vollzug der Freiheit aus. Denn der Rekonstruierende bringt sich in einer fremden Konstruktion so zur Darstellung, daß er sich in diesem Fremden als sich selbst begründet erfaßt.« (ebd.). 301 FISCHER, Protestantische Theologie, 263. 302 FISCHER, Protestantische Theologie, 262, stellt kritisch fest, die christologischen Vorstellungen würden »rational weggeätzt«. Diese Kritik hat ihre Berechtigung trotz Wagners Hinweis auf die immer neue Selbstexplikation des Selbstbewußtseins im Medium der Gehalte – freilich in ihrer »begriffenen« Fassung (vgl. WAGNER, Christologie als exemplarische Theorie, 144) –, insofern er nicht überzeugend begründen kann, warum es dazu der christologischen Vorstellungen der Tradition bedarf. Etwa in der Darstellung der Systemtheorie Luhmanns hatte Wagner schließlich die prinzipielle Ersetzbarkeit der Gehalte vertreten! Würde die Selbstdurchleuchtung des Selbstbewußtseins konstitutiv auf das Medium christologischer Vorstellungen angewiesen sein, so fiele sie in die Positionalität zurück, denn der Anspruch der Metatheorie jeglicher Theoriebildung wäre dann nicht einzulösen.
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Absolutheitstheoretische Kritik (F. Wagner)
Rahmen der Studie Was ist Religion? deutlich. Vor dem Hintergrund der Aporetik einer vom religiösen Bewusstsein ausgehend konzipierten Theologie, dem kosmologischen Argumentationsverfahren,303 wird Barths theologischer Neuansatz als Gegenreaktion verstanden. Barth befreie durch die Kritik der Religion »Gott aus der Dependenz vom menschlichen Subjekt«,304 dies jedoch in einer Form, die alle Bedingungsverhältnisse auflösen solle.305 Die Kernfrage, die sich nunmehr stelle, lautet: »Wie jedoch führt Barth nicht bloß die Aufhebung des menschlichen Subjekts, sondern auch dessen Begründetsein in Gott durch?«306 Wiederum rekurriert Wagner auf die Konstitution des Menschen und damit der Religion im Rahmen der trinitarischen Selbstentfaltung Gottes (KD I/2). Der Religion werde auf der Grundlage ihrer innertrinitarischen Begründung aber freilich keine Eigenständigkeit außerhalb der Offenbarung zugesprochen. Sie werde von Barth unter die Bedingung der Offenbarung gestellt, um nicht ihrerseits Bedingung der Offenbarung zu sein. Dieser Versuch aber scheitere: »Daß allerdings auch die mit Gottes Offenbarung gesetzte Bedingung durch das von ihr Bedingte selbst bedingt ist, wird von Barth nicht gesehen.«307 Der neuprotestantische Religionsbegriff, der »die Offenbarung von der Religion aus konzipiert«, könne von Barth nur als Häresie ausgeschlossen werden: »Offenbarung und Religion werden demzufolge im Sinne eines sich ausschließenden Widerspruchs konzipiert.«308 Wagner erkennt durchaus die Stringenz des Barthschen Denkens an, in dem die Aporetik der Religion nicht zur Bedingung der Offenbarung wird, sondern vielmehr erst durch die Offenbarung begründet und erkannt werde.309 Im Blick auf das Verhältnis zwischen Offenbarung und Religion scheint die Kirchliche Dogmatik daher ganz in der Fluchtlinie der Gedankenbewegung des Römerbriefkommentars zu stehen: »Die von der Offenbarung ausgehende Aufhebung der Religion wird somit als ihre einseitige Auflösung und Destruktion durchgeführt.«310 Das konstruktiv entfaltete Religionsverständ303 WAGNER, Was ist Religion, 153. Es ist festzustellen, dass das Interesse Wagners an der Rekonstruktion theologie- bzw. geistesgeschichtlicher Zusammenhänge besonders in die Zeit zwischen den Jahren 1970 und 1975 fällt, danach hingegen die Begründungsfrage in der Spannung zwischen kosmologischem und ontologischem Beweisverfahren in den Vordergrund tritt. Hier zeigt sich deutlich seine Präferenz für die Geltungsfrage gegenüber genuin theologiegeschichtlichen Fragen. 304 Ebd., 155. 305 Ebd., 155f. 306 Ebd., 156. 307 Ebd. 308 Ebd., 157. 309 Ebd., 158: »Die Religion wird sonach nicht aufgrund ihres Selbstwiderspruchs durch die Offenbarung aufgehoben. Denn wäre die der Religion durch die Offenbarung zuteil werdende Aufhebung durch den Selbstwiderpruch der Religion vermittelt, so wäre die Offenbarung in ihrem gegen die Religion gerichteten Tun durch diese selbst bedingt.« 310 Ebd.
Absolutheitstheorie und Kritik der Theologie
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nis innerhalb der KD erweise sich als unzureichend, da die »Religion« strikt in der Offenbarung, »von außen«, und verbunden mit der Begrenzung des religiösen Selbstbewusstseins (KD I/2, 363) begründet werde: »Barth führt jedoch die Begrenzung als Beschränkung, und d.h. als Vernichtung jeder Eigenständigkeit des menschlichen Selbstbewußtseins, durch.«311 Die Aufhebung des Subjekts in der Christologie (KD I/2, 381) bedeutet für Wagner die Beseitigung des selbständigen Subjekts, und damit zugleich desjenigen, welches in der Theorie des Absoluten gerade seine Begründung finden sollte. »Kirche« und »Kinder Gottes« als die »neuen Subjekte« der »Religion« würden damit nur in die doketische Christologie Barths hineingezogen,312 sodass »die von Gott bejahte Religion […] die mit seiner Offenbarungsentscheidung gleichgeschaltete und so in Wahrheit wegerklärte Religion«313 sei. »Gehorsam« und »Entsprechung« (KD I/2, 386) bilden wiederum den sprachlichen Ausdruck jener Gleichschaltung des starken anderen in der Kirchlichen Dogmatik: Die Träger der wahren Religion entsprechen dieser Selbstbestätigung Gottes, wenn sie an die Stelle ihres Subjektseins das der göttlichen Selbstbestimmung gehorsame christologische Subjekt treten lassen. […] Die wahre Religion ist die kraft des christologischen Subjekts mit Gottes souveräner Herrschaft gleichgeschaltete Religion.314
Barths Versuch stelle damit aber lediglich eine radikale Gegenposition zum Ausgang vom religiösen Bewusstsein dar, deren Schwäche darin liege, dass sie die Freiheit, Eigenständigkeit und Selbstbestimmung des Subjekts nicht mehr zur Geltung bringen könne.315 In Aufnahme der Cramerschen SpinozaKritik unterliegt seine Theologie daher dem Vorwurf des »Offenbarungspantheismus«, »der seiner trinitarischen Intention zum Trotz abstraktmonotheistisch durchgeführt wird«.316 311
Ebd., 159. Ebd., 159f. 313 Ebd., 160. 314 Ebd. 315 Ebd., 161f: »So ergibt sich die fatale Konsequenz, daß Barths einseitiger Austausch des religiösen Subjekts durch das der Offenbarung jenem die Freiheit nimmt. Denn eine Freiheit, die bloß darin bestehen soll, daß der ›Träger‹ der wahren Religion ihrem Subjekt diskussionslos sich zu unterwerfen hat, kann nur, sollen Begriffe nicht zu völlig beliebigen Spielmarken werden, als Scheinfreiheit bezeichnet werden.« 316 Vgl. insbesondere die präzise Bestimmung dieses Vorwurfs: »Denn die ›Alleinheitsthese‹ des Pantheismus hebt nicht darauf ab, daß alles Gott, sondern daß Gott alles ist, weil das, was ›außer‹ Gott, nur ›in‹ Gott ist. Der Pantheismus läßt also die Selbständigkeit von Kontingentem, d.h. von Anderssein, das, obschon durch Gott vermittelt, außerhalb Gott und so selbständig ist, nicht zu. Genau in diesem Sinne zeitigt die Barthsche Auflösung der Religion pantheistische Konsequenzen, so daß die von Gottes Selbstoffenbarung unterscheidbare Freiheit des menschlichen Andersseins zum Verschwinden gebracht wird.« (ebd., 162). 312
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Absolutheitstheoretische Kritik (F. Wagner)
Demgegenüber hält Wagner an der Notwendigkeit der Vermittlung von Selbstoffenbarung und religiösem Bewusstsein fest: »Aber die Selbstvorstellung darf – anders als Barth es tut – nicht auf die einseitige Umkehr des religiösen Bewußtseins hinauslaufen, so daß dieses zum unselbständigen Moment des göttlichen Selbstvermittlungsprozesses herabgesetzt wird.«317 Vielmehr müsse die »göttliche Selbstdarstellung« die menschliche Freiheit »zur vollen Entfaltung« bringen. Damit aber, so Wagner, zeige sich, »daß Barth mit dem Problem der Religion nicht fertig geworden ist«, wodurch er zum Zeugen für die Einsicht werde, »daß die Religion nicht bloß ein Problem in der Theologie, sondern das Problem der Theologie ist«.318
3.7 Wolf Krötkes Kritik der Barthdeutung Wagners Eine exemplarische Replik insbesondere auf den Band Die Realisierung der Freiheit stellt Wolf Krötkes Beitrag Gott und Mensch als »Partner«. Zur Bedeutung einer zentralen Kategorie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik dar. Krötke setzt sich mit der These des »autoritären Charakters der Barthschen Theologie« auseinander, die neben dem Kreis um Trutz Rendtorff auch von Gerhard Ebeling vertreten werde. Krötke setzt dieser Kritik Barths, die seiner Auffassung nach auf einem Missverständnis beruht, eine Interpretation der partnerschaftlichen Beziehung zwischen Gott und Mensch in der Kirchlichen Dogmatik entgegen. Indem Gott den Menschen in seinen Bund hineinzieht und durch seine freie Begegnung an seine Seite stellt, diesen zum Zeugen seiner Einladung in den Bund macht, werde die menschliche Freiheit gerade begründet und der Mensch zum freien Dienst berufen. Zugleich werde er in die zwischenmenschliche Partnerschaft und Zeugenschaft der von Gott Angesprochenen und Anzusprechenden aufgenommen: »Gerade weil es nicht in unserer Macht liegt, Gott begegnen zu lassen, dürfen wir alles Menschenmögliche tun, mit unseren Worten und Taten anzuzeigen, daß Gott keinen seiner Partner vergessen hat.«319 Grundlegend für diese Deutung der Theologie Barths ist die Betonung einer Position als Ausgangspunkt der Barthschen Theologie. Es handelt sich bei dem durch die Freiheit gewonnenen Perspektivenreichtum um denjenigen, der sich dann eröffnet, »wenn das Licht Jesu Christi auf uns fällt«.320 Demgegenüber sei es unsachgemäß zu behaupten, »es ginge bei 317
Ebd. KRÖTKE, Gott und Mensch als Partner. 319 Ebd., 119. 320 Ebd. 318
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Barth an erster Stelle um etwas Negatives, wie die ›Kritik der bürgerlichen Religion‹ oder die Kritik einer Gott und Mensch verwechselnden Theologie«.321 Um die implizite soteriologische Pointe von Krötkes Barthdeutung gegen Wagner deutlicher zu fassen, wird man allerdings auch die mit der positiv eröffneten Freiheit verbundene Negation nicht vergessen dürfen, die den entscheidenden Stein des Anstoßes für Wagners Kritik der Theologie Barths darstellt. Das Thema der Freiheit wird von Barth nicht nur im Kontext der Partnerschaft und des positiven Bundesverhältnisses im Sinne der durch diesen Bund bestimmten Freiheit behandelt, sondern auch im Zusammenhang der Hamartiologie. Die Freiheit, die Barth dem Sünder zuordnet, ist ›weltlich‹ gesprochen aber diejenige Freiheit, die der Verfasstheit des gefallenen Geschöpfs entspricht, in der es sich vorzufinden scheint, und deren Verlust ihm – obgleich ihr Gebrauch es überaus fordert und überfordert – schmerzlich und als Verlust seines Menschseins erscheint. Das Angebot der Freiheit im Bundesverhältnis ist eben nicht gemessen an unserer Freiheit das Angebot, das wir immer schon anzunehmen geneigt sind.322 Insbesondere am Denken Falk Wagners lässt sich zeigen, dass Freiheit – in seinem Sinne verstanden – eben keinen geeigneten Anknüpfungspunkt für den aus Unfreiheit befreienden Gott bildet, sondern dass vielmehr der von Krötke und Barth geteilte Gottesbegriff damit prinzipiell ausgeschlossen wird. Verständigung über Freiheit, insofern sie durch ein autoritär verordnetes sacrificium intellectu erkauft bzw. erschlichen wird, wie es folgerichtig in Wagners Argumentation liegt, ist a priori ausgeschlossen. Insofern impliziert Krötkes Barthdeutung eine fundamentaltheologische Pointe gegen Wagners subjektivitätstheoretische Prämissen.323
4. Differenzen zu Trutz Rendtorff Obgleich sich große Übereinstimmungen zwischen Wagner und Rendtorff sowohl im Blick auf das konstruktive Anliegen einer Neukonstitution der Theologie als Wissenschaft in der Hinwendung zur Subjektivität, als auch auf die Interpretation der Theologie Barths vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Subjektivitätsproblematik im Sinne einer »Aufhebung« zeigen, sind doch gewichtige Unterschiede zu konstatieren. Bilden die geschichtliche Wirklichkeit des Christentums und die theologische Relevanz der historischen Methode die Themenbereiche, denen Rendtorffs Denken in Aufnahme der Hegelschen Rechts- und Geschichtsphilosophie verpflichtet ist, 321
Ebd., 109. Vgl. dazu KRÖTKE, Rez. Realisierung der Freiheit, 300, mit Verweis auf KD IV/1, 458ff. 323 Dies wird deutlich in: KRÖTKE, Die Christologie Karl Barths, 2–4. 322
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Absolutheitstheoretische Kritik (F. Wagner)
so steht im Mittelpunkt des Wagnerschen Denkens die Geltungsfrage des Christentums der neuzeitlichen Religionskritik gegenüber, deren Beantwortung er auf den Spuren der Hegelschen Logik vermittelt durch die Cramersche Theorie des Absoluten sucht. Dem Problem der Geschichte hingegen kommt für Wagner keine entscheidende Bedeutung zu: Die Systematische Theologie fragt […] nicht bloß danach, was faktisch der Fall sei, sondern ebensosehr und vor allem danach, wie bestimmte Gehalte des Christentums zu denken seien, damit sie in ihrer Geltung und Relevanz begründet und gerechtfertigt werden können.324 Differenzen zu T. Rendtorff
Wagners Auseinandersetzung mit der Herausforderung durch die Religionskritik zeigt darüber hinaus, dass er die Situation der Theologie innerhalb der Neuzeit und die Krise, in die sie durch die Begründungsproblematik geführt wurde, offenbar schärfer wahrnimmt, als dies bei Rendtorff der Fall ist. Gründet der »optimistische« Grundzug der Rendtorffschen Christentumstheorie darin, dass sich die als Krise empfundene Situation als »christlich«, d.h. als Verwirklichung christlicher Freiheit, identifizieren lässt, so sieht sich Wagner sehr viel stärker durch die Religionskritik zu einer Letztbegründung herausgefordert. Sollte diese nicht erreicht werden, würden Religion und Theologie ihre Relevanz einbüßen. Der Verdacht, dass die von Wagner vorgelegte konstruktive Skizze zur Christologie – und damit das Programm einer Theorie des Absoluten – keineswegs repräsentativ für alle der vertretenen Autoren sei, wird durch Wagners Kritik an Rendtorffs Christentumstheorie und den von ihm vorgelegten Überlegungen zum Gottesbegriff erhärtet. In der Studie Was ist Religion? wird neben der Kritik der Theologie Barths auch die Abgrenzung gegenüber dem vom religiösen Bewusstsein ausgehenden Begründungsversuch der Theologie aufgrund der genannten Mängel des kosmologischen Gottesbeweises fortgeführt. Die deutliche Kritik, die hier an der Christentumstheorie geübt wird, lässt die unterschiedlichen Zugangsweisen zum Thema Freiheit hervortreten.325 Rendtorff verstehe die Freiheit als eine solche, die sich vom »alle Wirklichkeit bestimmende[n] Subjekt […] Gott« abhängig wisse.326 In diesem Wissen freilich, d.h. dem Bewusstsein der Abhängigkeit, setze sich das individuelle Subjekt als freies und selbständiges immer schon voraus.327 Die Gewissheit dieses Gegründetseins im absoluten Subjekt befähige zwar zur Negation »bestimmter Abhängigkeiten«328 und 324
WAGNER, Christentum und Moderne, 125. Vgl. WAGNER, Was ist Religion, 532–539. 326 Wagner rekurriert insbesondere auf Rendtorffs Essay Gott – ein Wort unserer Sprache? und dessen Deutung der Habermas-Luhmann-Debatte in Gesellschaft ohne Religion?. 327 WAGNER, Was ist Religion, 535. 328 Ebd., 536. 325
Differenzen zu T. Rendtorff
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somit zu jener in der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Anspruch genommenen Freiheit des Individuums, die Rendtorff als »christliche Freiheit« verstehe. Jedoch könne Rendtorff das Verhältnis zwischen jenem im absoluten Subjekt begründeten Bewusstsein der Freiheit und ihrer »nur bedingte[n] Verwirklichung« lediglich als »Bewußtsein der Differenz« näher bestimmen: »Denn Theologie als exemplarischer Fall einer Wirklichkeitstheorie wird von Rendtorff allein ›in der Perspektive des Menschen‹ dargestellt.«329 Rendtorff hebe seine Theorie menschlichen Freiheitsbewusstseins nicht in einer Theologie,330 d.h. einer absolutheitstheoretischen Begründung, auf und könne die Begründung der Freiheit lediglich als Gewissheit und nicht hingegen als Wahrheit entfalten. Im Blick auf seine gegebene Freiheit könne das Subjekt »niemals wissen, ob in ihr die Freiheit des absoluten Subjekts selbst erscheint; die Gewißheit der Freiheit kann so nicht zur Wahrheit werden«.331 Auch Rendtorff kann daher die Schwächen des kosmologischen Beweisverfahrens nicht überwinden und erreicht damit – gemessen am Begründungsanspruch der Absolutheitstheorie – lediglich den Status »bloß subjektiver Gewißheit«.332 Auf diesem Wege aber wird die Widerlegung des religionskritischen Projektionsvorwurfs nicht geleistet:333 »Das Verhältnis zu Gott als Ort der Abhängigkeit ist so nur ein Scheinverhältnis: es geht in der Verhältnislosigkeit des religiösen Selbstverhältnisses unter.«334 Die unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen von Phänomen des Selbstbewusstseins und theologischer Theoriebildung bei Wagner und Rendtorff treten an dieser Stelle deutlich hervor. Konzentriert sich Wagner in der Fortführung der Hegelschen Logik und ihrer Rezeption bei Cramer auf die Letztbegründung und Wahrheit menschlicher Subjektivität bzw. Freiheit, so ist deren innerweltliche Verwirklichung demgegenüber von nachgeordnetem Interesse. Rendtorff hingegen zeigt kein Begründungsinteresse hinsichtlich der immer schon – aufgrund des »Gegebenseins« – in
329
Ebd. In anderer Wendung ließe sich feststellen, dass Rendtorff die Hegelsche Rechts- und Geschichtsphilosophie nicht vor dem Hintergrund der Logik rezipiert – eben dies wird aber von Wagner gefordert, s. dazu WAGNER, Die Aufhebung der religiösen Vorstellung, 207. 331 WAGNER, Was ist Religion, 537. 332 Ebd. »Denn die Vermittlung zwischen absolutem und individuellem Subjekt verdankt sich einseitig der Leistung des religiösen Bewußtseins. Durch diese Vermittlung versucht das religiöse Bewußtsein zwar, die sich gegebene Freiheit auf das absolute Subjekt zurückzuführen, es kann aber niemals wissen, ob seine so verortete Freiheit auch wirklich an der göttlichen Freiheit partizipiert.« (ebd.). 333 Ebd., 537. Vgl. dazu ebd., 538: »Wegen der einseitig vom religiösen Bewußtsein konstituierten Vermittlung zwischen absolutem und individuellem Subjekt fehlt der Aussage, das individuelle Bewußtsein sei der ›empirische Träger eines unbedingten Freiheitsbewußtseins‹, der Rechtsgrund.« 334 Ebd., 538. 330
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Absolutheitstheoretische Kritik (F. Wagner)
Anspruch genommenen Freiheit, sondern ist um deren Erfassung in der gesellschaftlichen, geschichtlichen Wirklichkeit bemüht. Für die Barthdeutung folgt daraus bei Wagner die kritische Darstellung einer »Theorie des Absoluten«, deren Geltungsanspruch zu prüfen ist. Rendtorff hingegen erkennt in Barths Theologie die Konstruktion der Struktur von Subjektivität, die funktional in einen bestimmten historischen Kontext, der durch das Troeltsche Œuvre geprägt wird, eingebettet ist. Der »Rendtorffsche Barth« ist Christentumstheoretiker und nicht Absolutheitstheoretiker.
5. Die empirisch-historische Wende und ihre Konsequenzen 5.1 Die Wende Nur wenige Jahre nach dem Erscheinen der zuletzt genannten Monographie lässt sich eine folgenreiche Veränderung in Wagners Denken feststellen.335 Rückblickend stellte er selbst fest: Die empirisch-historische Wende […] beides zusammen, die Erschütterung der Begründbarkeit einer Theorie des Absoluten im Hegelschen Sinne auf der einen Seite und die Einsicht, daß die Einwände der radikal-genetischen Religionkritik nicht mit Argumenten zu widerlegen sind, hat mich dazu veranlaßt, den spekulativen Begründungszusammenhang einer Theorie des Absoluten insgesamt zu distanzieren.336
Der Einfluss von Günter Dux auf diese »Wende« ist von erheblicher Bedeutung, insofern die radikal-genetische Religionskritik eine Widerlegung im Rahmen der Theorie des Absoluten als unmöglich erscheinen lässt.337 Die Religionskritik mündet mit der Rückführung der »Rede von göttlichen Mächten« und darüber hinaus des »mit dieser Rede gemeinten semantischen Gehalt[s]« auf die Konstruktion des Menschen in die Frage, »unter welchen Bedingungen ihrer soziokulturellen Selbsttätigkeit Menschen genötigt seien, die von ihnen vorgestellten göttlichen Mächte entstehen zu lassen«.338 Wagner rezipiert Dux im Blick auf dessen (sozio)historisch335
Vgl. dazu vor allem U. BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus,
173ff. 336
WAGNER, Selbstdarstellung, 294. U. BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, sieht die entscheidenden Einflüsse auf den Wandel in Wagners Denken weniger in der Begegnung mit Dux, als vielmehr in seiner Auseinandersetzung mit Luhmann (vgl. ebd., 175) und Drehsen (ebd., 180) – es ist jedoch angeraten, Wagners Selbstwahrnehmung und die sich auch literarisch niederschlagende Auseinandersetzung mit Dux stärker zu gewichten als dies bei Barth der Fall ist. 338 WAGNER, Kritik und Krise der Religion, 21. Dux beabsichtige auf diesem Wege die Entwicklung einer »historisch-genetischen Theorie der menschlichen Kultur und Religion«, welche dazu dienen solle, »die auf L. Feuerbach, K. Marx, F. Nietzsche und S. Freud zurückgehenden 337
Die empirisch-historische Wende
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genetische Darstellung der »Fortbildung der kognitiven Strukturen«339 und der Folge von Ausdifferenzierungsprozessen, innerhalb derer die Religion ihre Bedeutung innerhalb der Kontexte von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft340 verliert. Die Frage nach der Bedeutung von Religion und Gottesgedanken im Kontext der Moderne ist damit, sofern sie nicht an ihr Ende gekommen sein soll, für Wagner neuen Herausforderungen ausgesetzt:341 Wenn die Religion der Moderne als eine lebenspraktische Angelegenheit der Individuen gilt, dann müssen die Konstitution und die Interpretation der Religion an der sozialen Stellung der Individuen in der modernen Gesellschaft orientiert werden. Die Auslegung ihrer kognitiven Gehalte darf dann nicht durch die Perspektive von akademischen und/oder kirchlichen Berufstheologen dominiert werden. Vielmehr werden die kognitiven Gehalte nach den Kriterien der Sozialdimension auszulegen sein, die für die Individuen konstitutiv ist. Das bedeutet nichts anderes, als daß die bisher professionell-theologisch verwalteten und monopolisierten Gehalte, durch die das Zentrum der religiösen Subjekte auf das sie tragende Gottesbewußtsein festgelegt wird, so umzuformen und umzugestalten sein werden, daß sie der sozialen Bestimmtheit der Individuen und der ihnen eignenden Religion entsprechen können. 342
Eine Auslegung der Gehalte in diesem Sinne diene der »Deutung der Individualität und ihres sozialen Kontextes«. Für den Gottesgedanken bedeutet dies eine erhebliche Akzentverschiebung gegenüber der früheren Theorie des Absoluten: Folglich ist der mit dem religiösen Gottesbewußtsein verbundene Gottesgedanke daraufhin zu fragen, ob, wie und unter welchen Bedingungen er tauglich sei, für das Selbstverständnis der Individualität und ihrer Differenz von Personalität und Sozialität Argumente der radikal-genetischen Religionskritik auf eine ihnen gegenüber verbesserte und plausiblere Grundlage zu stellen« (ebd., 22). 339 Ebd., 54. Vgl. zu Dux’ Bedeutung knapp WAGNER, Christentum und Moderne, 135. 340 Vgl. dazu WAGNER, Kritik und Krise der Religion, 56–62; DERS., Metamorphosen, 13–20. 341 Die Krise der Theologie könnte durchaus deren Ende bedeuten: »[…] die Krise der Theologie ergibt sich daraus, daß sie nicht Probleme hat, vielmehr selber zum Problem geworden ist. Mag sich die moderne, vor allem die protestantische Theologie auch ihrem Gegenstand und Grund auf höchst vermittelte Weise über den Glauben und die Frömmigkeit des religiösen Bewußtseins nähern, so kann sie doch nicht darüber hinwegsehen, daß die Geltung ihres Gegenstandes und Grundes, also die Geltung des Gottesgedankens fortschreitend destruiert und zersetzt worden ist. Sollte der Theologie die Geltung ihres Gegenstandes und Grundes im Zuge dieser Destruktion endgültig entzogen werden, so bedeutete das ihr definitives Ende als eigenständige Wissenschaft. Es bestünde dann die sachliche Notwendigkeit nicht mehr, die nach der Destruktion des Gottesgedankens zurückbleibenden Restbestände der christlichen Religion durch eine eigenständige Theologie bearbeiten zu lassen. Vielmehr ließen sich diese Restbestände dann einer empirischen Religionswissenschaft übereignen, die die ihr zugefallene Beute zugleich mit verschiedenen historischen, sozial- und humanwissenschaftlichen Disziplinen teilen würde.« (WAGNER, Christentum und Moderne, 131). 342 WAGNER, Kritik und Krise der Religion, 75f. Die Religion verarbeitet damit eine Krise, welche für das Subjekt »im Gefolge der drei neuzeitlichen Revolutionen durch veränderte gesellschaftliche Organisationsweisen« entsteht (ebd., 71).
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Absolutheitstheoretische Kritik (F. Wagner)
eine konstitutive Deutung zu bieten. Das Gottesbewußtsein kann nämlich in einer auf das Individuum konzentrierten Religion der Moderne nur dann einen für die Auslegung der Individualität förderlichen Beitrag leisten, wenn die Funktion des Gottesgedankens einen für die Thematisierung des individuellen Verhältnisses von Personalität und Sozialität unverzichtbaren, weil kognitiv belangvollen Beitrag erwarten läßt.343
Ein entscheidender Grund der Wende – jenseits der Duxschen Gedankengänge – liegt zudem darin, dass die Theorie des Absoluten selbst der Bedingung des »Wissen-Könnens«, d.h. der Dependenz des Absoluten von dem Kontingenten,344 unterliegt. Wagner setzt an diesem Punkt diejenige Kritik ins Recht, welche bereits 1966 von Hans Wagner an Wolfgang Cramers Absolutheitstheorie gerichtet wurde: Meine bange Frage ist also die: Sagt uns die Metaphysik des transzendenten Absoluten lediglich, wie wir uns dieses und dessen Verhältnis zum Kontingenten folgerichtig denken müssen, falls der Ansatz eines solchen Absoluten überhaupt zu Recht besteht – oder sagt sie uns auch, daß dieser Ansatz zu Recht besteht?345 343
Ebd., 77. Ebd., 94–98. Wagner führt hier aus, dass das Absolute zum Zwecke seiner Explikation auf das dieses selbst bedingende andere angewiesen sei, d.h. »daß das asymmetrische Verhältnis der göttlichen Selbst- und Allmacht und des ohnmächtig-abhängigen Andersseins, von aktiver Selbständigkeit und passiver Abhängigkeit durch ein Verhältnis symmetrischer Art abgelöst wird« (ebd., 95). Vgl. dazu WAGNER, Christentum und Moderne, 132f, wo diese Iteration in Aufnahme Kants zur Geltung gebracht wird: »Die den Gedanken der Einheit und des zusammenhängenden Ganzen verpflichtete menschliche Vernunft ist zwar unabweisbar genötigt, ihr regelhaftes Denken durch die Ausbildung des Gottesgedankens, den Inbegriff aller denkbaren Realitäten, zu krönen. Aber dieser krönende Abschluß kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Vernunft den Gottesgedanken als ihr eigenes ›Selbstgeschöpf‹ produziert. Die ihrer eigenen Grenzen ansichtig gewordene Vernunft würde jedoch ihr kritisches Geschäft mit einer dogmatisch-ontologischen Erschleichung verwechseln, wollte sie dem Gottesgedanken irgendeinen Realitätsgehalt unterschieben, der über sein bloßes Gedachtsein hinausginge. Die kantische Revolution der Denkungsart reduziert somit den Gottesgedanken auf seine reine und bündige Denkbarkeit.« 345 H. WAGNER, Ist Metaphysik des Transzendenten möglich, 325f. Folgerichtig betont Hans Wagner die bleibende Bedeutung der Kantschen Einsicht: »Als Kant die vorausgegangene Geschichte der Metaphysik überblickte, verzweifelte er an der Möglichkeit einer Metaphysik des Transzendenten aus theoretischer Vernunft und fand, daß die Versuche einer solchen Metaphysik des Transzendenten, hinsichtlich ihres Verfahrens betrachtet, ›ein bloßes Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen, gewesen‹ seien (vgl. Kr. D. r. V., B XV). Ich fürchte zuweilen, daß wir die Wahrheit dieser Bemerkung Kants noch gar nicht voll ausgeschöpft und in genügendem Ausmaß als Warnung für unsere eigenen metaphysischen Versuche aufgenommen haben.« (ebd., 325). Zur Problematik der absolutheitstheoretischen Denkfigur vgl. insbesondere WAGNER, Art. Religion, 536f. Vgl. auch REISINGER, Wolfgang Cramers Destruktionsversuch der Hegelschen Dialektik, 349: »Nun kann der von Cramer an den Ort des Gesetztseins, Gedachtseins verschobene Idealismus [an] sein eigenes Konzept des Absoluten […] das Argument der Iteration zurückgeben. Und zwar vom Ort unseres, also auch Cramers, vom Ort des endlichen Denkens aus. Denn dort stehen wir schließlich. Das absolut differente Sein ist von uns gedacht, d.h. in der Immanenz des von uns Gedachtwerdens als transzendental gemeint. Sein aber soll transzendent sein, egal ob von uns gedacht. Jedoch eben dies ist von uns gedacht. Das Sein ist vom Gedachtsein nicht zu befreien. Zwar wird es immer wieder aus dem Bewußtsein geschoben und als an sich, 344
Die empirisch-historische Wende
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Hinsichtlich des Programms einer Theorie des Absoluten (und damit zugleich absoluter Theoriebildung) entsteht im Blick auf die Arbeiten beider Autoren, Wolfgang Cramers und Falk Wagners, der Eindruck, dass dem kritischen Potential dieses Programms kein vergleichbarer Anteil konstruktiver Entfaltung entspricht – es bleibt in weiten Teilen bei der Programmatik und – insbesondere bei Wagner – bei philosophiegeschichtlichen Studien, insbesondere zu Hegel, innerhalb derer den bisherigen Absolutheitstheoretikern nachgedacht wird. Als Themenkomplex bleibt für Wagner nun das bis dahin kritisch beurteilte Feld der Religion, d.h. die Bahnen der Schleiermacherschen und der Gedankenfigur des kosmologischen Beweises folgenden Theologie346 – ohne dass freilich das Ziel einer Letztbegründung im Absoluten überhaupt noch erreichbar scheint. Die damit eingeleitete konstruktive theologische Neuorientierung des Wagnerschen Denkens fällt unter den »Grundgedanken der Revolutionierung des Gottesgedankens«.347 Dessen Pointe liegt in der Aneignung des »Gott ist tot« im Hegelschen Sinne,348 d.h. der »Veränderung und Negation« des Wesens Gottes als eines »unmittelbar selbstbestimmend-allmächtigen«.349 Das Verhältnis zwischen Gott und dem »starken anderen« sei als »Pattsituation«350 zu beschreiben. Die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch in der klassischen Soteriologie sei aufzugeben: Der als sündhaft-verfehlt qualifizierte Versuch zur ursprünglich-absoluten Selbstbestimmung kann nicht etwa zum Privileg des göttlichen Subjekts erklärt werden. […] Entsprechend der altrömischen Weisheit »Quod licet Iovi, non licet bovi« würde dem göttlichen Subjekt das zugestanden, was dem menschlichen Subjekt als Sünde ausgelegt wird. Die einem falschen Freiheitsbewußtsein geltende Kritik der Sünde wäre also erst dann vollständig und überzeugend durchführbar, wenn auch der im Sinne ursprünglich-absoluter Selbstbestimmung verstandene Gottesgedanke als ebenso verfehlt wie die menschliche Sünde verabschiedet würde.351
denkfrei gemeint, was aber eben nur unter der Bedingung möglich ist, zu vergessen, daß es de facto gedacht ist. Das Für-unser-Denken-Sein des denkunabhängig gemeinten Seins an sich ist nicht loszuwerden. Cramer kennt dies Argument, das er meines Wissens nicht widerlegt hat. Die Konsequenz Kants, die Kopernikanische Wende, wollte er nicht vollziehen. Auch Cramer ›springt‹ letztlich in das Seinsabsolute und vergißt den Sprung, der doch immer einer des Denkens ist. Mag es eine Seinsvergessenheit geben: Eine Denkvergessenheit, daß Sein immer nur im Denken als denkfrei gemeint sein kann, gibt es allemal.« 346 Vgl. dazu WAGNER, Selbstdarstellung, 295f: »In meinem eigenen Denken geschieht damit [im Zuge der ›Wende‹] sozusagen auch eine gewisse Rehabilitation Friedrich Schleiermachers, dem ich ja früher vom Begründungszusammenhang her distanziert gegenüber gestanden habe.« 347 Ebd. Vgl. dazu insbesondere WAGNER, Metamorphosen, 120–166. 348 Vgl. WAGNER, Metamorphosen, 75–119. 349 WAGNER, Christentum und Moderne, 141. 350 S. WAGNER, Metamorphosen, 107f. 351 WAGNER, Protestantische Reflexionskultur, 40f. Vgl. dazu die geschichtliche Fassung der Entwicklung der Freiheit von unmittelbarer zu vermittelter Selbstbestimmung in: DERS., Meta-
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Scheint der Gedanke der Allmacht Gottes unwiderruflich an sein Ende gelangt, so könne die – im Hegelschen Sinne verstandene – Auferstehung nur »die Neukonstitution Gottes als Geist der christlichen Gemeinde zum Inhalt haben«.352 Diese Neukonstitution realisiere sich anknüpfend an die Phänomenologie des Geistes als »Vollzug anerkannter und anerkennender Versöhnung«, der seinerseits vor einer Resubstantialisierung zu bewahren sei:353 »Der absolute Geist ist eben nicht als hypostasiertes Substanz-Wesen vorzustellen, sondern einzig und allein als der der versöhnenden Anerkennung immanente Geist zu begreifen.«354 Hegel lehrt also den Tod Gottes konsequenter zu denken, als dies dem Denken christlicher Theologie zuvor möglich war, und weist gerade damit dem Wagnerschen – auf den Bahnen der absoluten Reflexion gescheiterten355 – Denken den Weg. Der Gottesgedanke ist im Zuge seiner Revolutionierung in ein »prädikatives Verständnis« zu überführen: Der substantialistische Gottesgedanke wird […] durch personale und soziale Anerkennungsverhältnisse ersetzt, die sich unter der Bedingung ihres Gelingens als »göttmorphosen, 179–185, dort insbesondere 184: »Aufgrund des Scheiterns und der Aufhebung der Herrschaftsfreiheit unmittelbarer Selbstbestimmung fällt der vermeintlich theologische Rechtsgrund dahin, dem göttlichen Subjekt die Herrschaftsfreiheit als sakrosankt einzuräumen, die auf seiten des menschlichen Subjekts als Inbegriff der Sünde unmittelbarer Selbstbehauptung gebrandmarkt wird. Dieses theologische Zwiedenken wird aufgrund der Unterscheidung zwischen der Herrschaftsfreiheit unmittelbarer Selbstbestimmung und der Freiheit vermittelter Selbstbestimmung ein für allemal seiner suggestiven und doch bloß erschlichenen Plausibilität entkleidet.« Vgl. dazu DIERKEN , Zur Theologiegeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts I, 205, der in dieser Feststellung Wagners »nachhaltigste Verdienste« sieht, denn »[a]ndernfalls wird der christliche Zentralgedanke der Menschwerdung Gottes ebenso kupiert wie die moderne Freiheitsidee«. 352 WAGNER, Christentum und Moderne, 142. 353 WAGNER, Metamorphosen, 111 (mit Rekurs auf Hegel). Bei Hegel freilich münde diese Darstellung in eine »vernichtende Kritik« am Christentum: »Die christliche Religion ist aufgrund ihrer Verhaftung an die Form des vorstellenden religiösen Bewußtseins nicht in der Lage, den Begriff der als wechselseitigen Anerkennung vollziehbaren Versöhnung auf voll-endete Weise zu realisieren.« (ebd., 112). Der Grund liegt in dem Rückfall auf »die Positivität einer resubstantialisierten Vorstellung des göttlichen Geistes« (ebd., 111). 354 Ebd., 114. 355 Zur Bedeutung für das damit gerade nicht aufzugebende Denkprojekt, verifiziert am Denken Hegels, s. ebd., 117f: »Folglich hängt die Durchführbarkeit des Gedankens der Selbstauslegung des Absoluten von dessen Fremdauslegung durch die menschlich-vernünftige Reflexion ab. An der Stelle dieser externen Fremdauslegung ist dann der Gedanke des sich explizierenden Absoluten so zu manifestieren, daß die Fremdauslegung dem Begriff des Absoluten entspricht. Der so ausgelegte Gedanke des Absoluten wird somit als ein symmetrisches Verhältnis manifestiert, das die gleichwertige Selbständigkeit seiner Relate einschließt. Diese Einsicht führt allerdings zu der kritischnegativen Konsequenz, der als absolutes Substantialitäts- oder Kausalitätsverhältnis ausgelegte Gedanke des Absoluten sei zum Scheitern verurteilt. Der Gedanke einer substantiellen oder ursächlichen Macht kann nämlich nur mittels seiner konstitutiven Angewiesenheit auf ein ebenso von ihm unterschiedenes wie selbständiges Anderssein manifestiert werden.« Dies mündet in die Einsicht: »Die Auslegung des Gedankens des Absoluten fällt also mit dessen Destruktion zusammen.« (ebd., 118).
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lich« prädizieren lassen. Derartige Anerkennungsverhältnisse stellen den personalen und sozialen Boden dar, auf dem eine umgeformte christliche Religion der Moderne der Moderne der Religion Ausdruck verleihen kann. 356
Damit mündet aber das spekulative Denken in die Destruktion des Absoluten.357 Insofern gezeigt wurde, dass Wagners Barthdeutung eng mit dem Programm der Theorie des Absoluten verknüpft war, ist es folgerichtig, dass diese in den späten Studien eine andere Schwerpunktsetzung aufweist. Es entfällt nämlich nunmehr der Anspruch, die bisherige Theoriebildung aufzuheben und damit konstruktiv (unter Einschluss des aufgehobenen Anliegens) zu überbieten. Das Programm einer absolutheitstheoretischen Letztbegründung, welches Barth und Wagner – in dessen Perspektive – gerade einte, hat sich erledigt.358 Es fragt sich daher, wie sich die Barthsche Frage nach Gott in der Perspektive einer Theorie darstellt, die nunmehr die Theologie in der horizontalen Dimension aufgehen und die funktionale Bewährung des Gottesgedankens im Kontext der menschlichen Sozialität zu dessen Kriterium werden lässt.359 356 Ebd., 120. Vgl. dazu auch U. BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, 193f, der die Bedeutung dieses Wandels innerhalb des Wagnerschen Denkens hervorhebt: »Hier wird die Idee des Absoluten vollständig zurückgenommen auf die in der ›Korrespondenzlogik von Anerkennungsverhältnissen‹ zur Erfüllung gelangende Realität des ›»absoluten«‹ Geistes, dessen Absolutheit sich in einem ›prädikativ verstandene(n)‹ Absolutsein‹ […] erschöpft.« (ebd., 194, zit. WAGNER, Art. Religion, 537). Barth stellt freilich auch heraus, dass Wagners Orientierung an Hegel damit bestehen bleibt: »Statt von einer Absage an Hegel wird man […] richtiger von einem Wandel vom harten Hegelianismus zum weichen Hegelianismus zu sprechen haben.« (BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, 197). Dieser finde seinen Ausdruck in Wagners Wendung von der Logik hin zur Phänomenologie des Geistes. 357 FISCHER, Protestantische Theologie, 268, deutet Wagners spätere Arbeiten gänzlich auf der Linie der bisherigen Theorie des Absoluten als Versuch einer Letztbegründung, der vor dem Hintergrund der »Wende« »unverständlich« sei: »Trotz theoretisch-abstrakter Hochanstrengungen vermag er auch dieses Mal nicht zu zeigen, wie es aus den Relativitäten menschlicher Reflexion heraus je zum Gedanken der Selbstauslegung des Absoluten und damit zu einer überzeugenden Begründung des Absoluten sollte kommen können.« Vgl. dazu auch KOCK, Natürliche Theologie, 220. Hier wird Wagner m.E. missverstanden, insofern die späteren Entfaltungen (vgl. etwa WAGNER, Metamorphosen, 120–166) aufzeigen, dass der Ausgang vom gedachten Absoluten notwendig zu dessen Destruktion führt, d.h. er wird von Wagner nicht mehr mit dem bisherigen Begründungsanspruch aufgeladen. 358 Vgl. dazu U. BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, 191, im Blick auf Wagners Annäherung an die Theologie im Gefolge Schleiermachers: »Die vorbehaltlose Zustimmung zur religionstheoretischen Umformung der Theologie im Interesse der Zuwendung zur gelebten Religion hat aber nichts daran ändern können, daß Wagner an seiner prinzipiellen Auffassung festgehalten hat, wonach auf diesem Wege die Geltungsfrage bezüglich jener Gehalte [der Theologie] nicht beantwortet werden kann.« 359 Diese Differenzierung ist gegen KOCK, Natürliche Theologie, 210–249, zu beachten (vgl. etwa ebd., 212). Kock vermischt die absolutheitstheoretische Barthdeutung mit der späteren Polemik gegen die neuevangelische Wendetheologie und verstellt sich damit weitgehend den Blick auf deren eigentliche Pointe der »Aufhebung«.
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5.2 Karl Barths neuevangelische Wendetheologie Die Theologie Barths bleibt durchgängig ein Thema der Studien, die Wagner in der Zeit nach der so genannten »Wende« vorlegte.360 Sie ist nun allerdings eingebunden in ein verändertes theologiegeschichtliches Bild. In den früheren Studien ließ das absolutheitstheoretische Programm eine gemeinsame Grundstruktur der Theorieentwürfe des 19. und 20. Jahrhunderts erkennen und damit die dialektische Theologie – sowie deren Folgegeschichte – als einheitliche Gedankenbewegung begreifen. Nunmehr betont Wagner deutlich den Bruch innerhalb der neuzeitlichen Theologiegeschichte, welcher zwischen den der Umformung des christlichen Denkens verpflichteten neuprotestantischen Religionstheologien und dem von Wagner als »neuevangelische Wendetheologie des Wortes Gottes« betitelten Neuaufbruch zu diagnostizieren sei. Die »Koalition« neuevangelischer Wendetheologie setzt sich freilich aus höchst unterschiedlichen Vertretern zusammen, was durch Wagners schillernde Verwendung des Begriffs unterstrichen wird. So ist von »›dialektischen‹, hermeneutischen, neureformierten, neulutherischen und kirchlich-positiven Spielarten der neuevangelischen Wendetheologie des Wortes Gottes«361 die Rede, zu denen neben Barth, Bultmann362 und Gogarten als namentlich erwähnte Gerhard Ebeling und Wolfhart Pannenberg zählen, deren letzterer aufgrund seiner »LehrkonsensÖkumene«363 scharfer Kritik unterzogen wird. Ausgenommen wird aber Emanuel Hirsch, der als einer der »ganz wenigen hellsichtigen Theologen«364 die Gefahren des Abbruchs durch die dialektische Theologie erkannt habe. Der gemeinsame Nenner dieser unterschiedlichen Entwürfe neuevangelischer Wendetheologie sei ihr »Antimodernismus«.365 Wagners Darstellung der »Umformungskrisen des deutschsprachigen Protestantismus«366 berücksichtigt über die von Dux benannten externen Bedingungen367 des Relevanzverlustes der Religion durch die neuzeitlichen Revolutionierungen hinaus interne Entwicklungen des Protestantismus in Anlehnung an Emanuel Hirschs Darstellung der Theologiegeschichte.368 Die 360
S. WAGNER, Zur gegenwärtigen Lage; DERS., Metamorphosen; D ERS., Theologiepolitik. WAGNER, Metamorphosen, 58. 362 Bultmanns Rolle bleibt aber schillernd, einerseits habe er die Umformung des Protestantismus fortgeführt, andererseits gehöre er zu den Vertretern der Wendetheologie vgl. ebd., 20.63. 363 Ebd., 65. 364 Ebd., 12. 365 Ebd., 58. 366 WAGNER, Metamorphosen, Kap. 1. 367 S. dazu ebd., 13–20. 368 Bereits der Begriff »Umformung« verweist auf Hirsch – s. HIRSCH, Die Umformung des christlichen Denkens. Vgl. dazu auch U. BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, 179; FISCHER, Protestantische Theologie, 267. 361
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historisch-kritische Destruktion biblischer und dogmatischer Geltungsansprüche und die soziale Differenzierung von Religion und Theologie bildeten gemeinsam die kritischen Elemente jenes Umformungsprozesses,369 denen in konstruktiver Hinsicht die Reinterpretation der Gehalte im Vollzuge der Selbstauslegung des religiösen Bewusstseins370 korrespondiere. Der Neuprotestantismus hat damit die Religion auf eine ihrem engeren wissenschaftlichen und weiteren gesellschaftlichen Kontext zugängliche und angemessene Weise thematisiert und akzeptierte zugleich, »daß die Religion ihre vormoderne Zuständigkeit für die kosmologische Deutung der Naturwelt und die naturrechtliche und sozialtheologische Gestaltung der Sozialwelt verloren hat«.371 Die neuprotestantischen Religionstheologien stellten so »ihre Kompetenz unter Beweis, die personal und sozial differenzierte Religion der Individuen so zu begründen und zu thematisieren, daß sie für ihre innergesellschaftliche soziokulturelle Umwelt anschlußfähig bleibt«.372 Die »neuevangelische Wendetheologie«, deren Ursprung aufs engste mit der Theologie Barths verbunden wird, ohne dass Wagner ein Interesse an weiteren Differenzierungen innerhalb dieser Versammlung höchst unterschiedlicher Theologen zeigt, stellt den Abbruch jener Umformung des Protestantismus dar. Die den Transformationsprozess des Neuprotestantismus vorantreibende Krise wird hier auf das Subjekt »Gott« zurückgeführt:373 Die Umformungskrise des Protestantismus soll somit durch eine Ursprungskrise überboten werden. Denn die vom Ursprung der göttlichen Offenbarung ausgehende Krise macht jede Art der Umformung des christlichen Glaubens überflüssig, da das Offenbarungswort über die Wirklichkeit und Möglichkeit seiner Mitteilung und Vermittlung exklusiv und total entscheide.374
Die Umformungskrise werde auf diesem Wege zu einer »Zustands- und Stillstandskrise des gegenwärtigen Protestantismus«.375 Als Grund für die 369 Wiederum wird an diesem Punkt wie bei Rendtorff die christentumsgeschichtliche Bedeutung Johann Salomo Semlers hervorgehoben (vgl. dazu oben Teil 1., Kapitel 3). 370 WAGNER, Metamorphosen, 43. Vgl. ebd., 44: »Die supranatural verankerte altprotestantische Gottes- und Trinitätslehre wird ihres objektivistischen Scheinanspruchs entkleidet und von den neuprotestantischen Religionstheologien durch eine Theorie des religiösen Gottesbewußtseins ersetzt.« 371 Ebd., 47f. 372 Ebd., 48. Ebd. fährt Wagner fort: »Nicht zuletzt deshalb hat der Neuprotestantismus, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung die Vertreter der klassischen deutschen Philosophie als Philosophen des Protestantismus geehrt.« 373 »Nicht soziohistorisch und lebensweltlich identifizierbare Krisenerfahrungen, sondern das göttliche Subjekt wird zum Ursprung der Krise erklärt, durch die der Mensch, seine Welt und seine Geschichte der Nichtigkeit verfallen sollen.« (ebd., 54) Wagner rekurriert hier auf Röm2 57.318 sowie KD I/2, 316.355. 374 WAGNER, Metamorphosen, 55. 375 Ebd., 57 (im Original hervorgehoben).
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Verwendung der Metaphorik des »Bruchs« zwischen Neuprotestantismus und neuevangelischer Wendetheologie verweist Wagner insbesondere auf die in der Barmer Erklärung fixierte Abgrenzung gegen den Neuprotestantismus – in der Kritik »natürlicher Theologie« – als »Häresie«.376 Die Übernahme dieses theologiegeschichtlichen Bildes, welches Wagner bis dahin vor dem Hintergrund der Interpretation dialektischer Theologie als Theorie des Absoluten in der Kontinuität neuzeitlicher Theoriegeschichte gerade vermeiden wollte, bildet damit ein Spezifikum seiner späten Barthdeutung. Die semantische Schärfe, derer sich Wagner in der Auseinandersetzung mit dieser »neuevangelischen Wendetheologie« und Karl Barth als einem ihrer Protagonisten bedient, wurde in hinreichendem Umfang kritisch beurteilt,377 obgleich sie wohl den besonderen Reiz seiner Analysen innerhalb der gegenwärtigen theologischen Landschaft ausmacht. Der Grund dieser Verschärfung wird vor allem in der Ernüchterung zu sehen sein, die für Wagner mit der Renitenz kirchlicher und akademischer Theologie dem neuzeitlichen Reflexionsniveau gegenüber verbunden ist. Diese Pointe im Blick auf die gegenwärtige Theologie bleibt wohl sein entscheidendes Anliegen: Denn wenn auch die diastatischen Pointen der anfänglichen »dialektischen« Theologie inzwischen längst relativiert worden sind, so ist die gegenwärtige evangelische Theologie weiterhin und weithin von den Folgen der Wirkungsgeschichte der neuevangelischen Wendetheologie des Wortes Gottes bestimmt.378
Dabei zeige sich jedoch eine zunehmende Verflachung, da der »neuevangelische Uniformismus […] seinen faktischen Sieg nur dadurch feiern [könne], daß er auf Spitzenformulierungen der Barthschen oder Bultmannschen Theologie zugunsten einer durchschnittlichen Mainstream-Theologie des Wortes Gottes verzichtet«. Wagners zentraler Kritikpunkt im Blick auf die neuevangelische Wendetheologie zielt darauf, dass diese des Themas der menschlichen Freiheit, d.h. der Realität des »starken anderen«, nicht bzw. nicht in hinreichender Weise gewärtig geworden sei. Das Scheitern der Wort-Gottes-Theologie vollziehe sich im Blick auf die triviale, neuzeitlich allerdings unhintergehbare Einsicht, dass auch das »Wort Gottes« nur im Medium menschlicher Sprache existiere.379 Damit sei die scheinbare Überlegenheit gegenüber der Theologie, die vor allem in der Gestalt Schleiermachers der »Anthropo376
Mit Verweis auf KD I/1, 33.62; II/2, 196f. Vgl. dazu nur BERGER, Krise und Zukunft der protestantischen Theologie, 138f, der im Blick auf die von ihm sonst positiv gewürdigte diagnostische Leistung Wagners eine »sprachliche Selbstrelativierung« (ebd., 139) einfordert. 378 WAGNER, Theologiepolitik, 488. 379 Vgl. zu dem Argument in Anknüpfung an Hegel, WAGNER, Metamorphosen, 105. 377
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zentrik« bezichtigt wird, hinfällig, da die Vertreter der Wort-GottesTheologie selbst »nur über die menschliche Rede vom Wort Gottes« verfügten – sich der Einsicht in diesen Sachverhalt freilich verweigerten.380 So werde die erkenntnistheoretisch-semantische Trivialität, daß menschliche Individuen das Wort Gottes nur als menschliche Rede von demselben artikulieren können, die Gralshüter der Wort-Gottes-Theologie nicht davon abhalten, weiterhin mit dem zur Spielmarke gewordenen Gegensatz zwischen theozentrischer Bibliokratie des Wortes Gottes und anthropozentrischer Religion zu jonglieren.381
Setzte Wagner seinen Versuch einer Theorie des Absoluten dem »starken anderen«, d.h. der Bedingung, am Ort des menschlichen Subjekts gewusst zu werden, aus, um letztlich die Destruktion des Absoluten feststellen zu müssen, so scheint diese Problemkonstellation bei der mit dem Rekurs auf das »Wort Gottes« intendierten Inanspruchnahme des Absoluten reflexionslos übersprungen zu werden.382 Dennoch wird die Kritik der dialektischen Theologie im Blick auf den Geltungsanspruch des Schleiermacherschen Theologietypus weiterhin als »berechtigt« anerkannt.383 Die problematische Struktur einer auf dieser Grundlage entwickelten Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch skizziert Wagner jedoch weiterhin in Anknüpfung an die frühere absolutheitstheoretische Rekonstruktion und Kritik, die nun aber auf die gesamte »neuevangelische Wendetheologie« ausgeweitet wird:384
380 Vgl. dazu etwa ebd., 55: »Die Positivität einer historisch bedingten Wort-GottesKonzeption wird mit dem hybriden Anspruch aufgeladen, die Selbstgegebenheit des göttlichen Selbstwortes zu repräsentieren.« 381 WAGNER, Theologiepolitik, 486. Weitere Belege zum Scheitern der Wort-Gottes-Theologie an der erkenntnistheoretischen Einsicht in: WAGNER, Metamorphosen. Etwa ebd., 4: »Mit der Behauptung, von Gott könne ›nur Gott selber reden‹ [K. Barth], scheint sich das ›Wort Gottes‹ als ›Anker im Meer des Unsagbaren‹ anzubieten. Aber der Anker des Wortes Gottes hält nicht, was er zu versprechen suggeriert. Auch vom Wort Gottes kann nur mittels und in der menschlichen Sprache die Rede sein.«; DERS., Zur gegenwärtigen Lage, 49: »Der erkenntnistheoretische Grundfehler der Wort-Gottes-Theologie liegt für jeden, der sich seiner Vernunft selbsttätig-frei und vorurteilslos zu bedienen weiß, offen zutage. Das hat aber die neuevangelische Theologie nicht davon abhalten können, den von ihr inszenierten Subjekttausch durchzusetzen.« 382 U. BARTH, Die Umformungskrise des modernen Protestantismus, 195 weist an diesem Punkt aber zu Recht darauf hin, dass sich die »sprachphilosophische Elementarunterscheidung« zwischen dem Wort Gottes und der Rede vom Wort Gottes auch gegen Wagners »spekulativen Weg« richtet: »Auch hinsichtlich der Selbstexplikation des Absoluten am Orte des Anderen seiner selbst darf die Differenz zwischen der Ebene jener Selbstexplikation und der Ebene ihrer rekonstruktiven Darstellung nicht verwischt werden. […] Die spekulative Theorie des Absoluten befindet sich also in einer methodisch ganz ähnlichen Lage wie die viel gescholtene Wort-GottesTheologie.« 383 WAGNER, Metamorphosen, 60; vgl. KOCK, Natürliche Theologie, 213. 384 WAGNER, Metamorphosen, 61f; DERS., Zur gegenwärtigen Lage, 50.
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Das göttliche Herrschaftssubjekt bezieht sich auf das Anderssein der Welt und des Menschen im Modus der Negation. Zu dieser Verneinung des eigenständigen Andersseins sei aber allein der einzig gehorsame Jesus Christus in der Lage. […] Damit verschreibt sich die Theologie dem dogmatischen Spiel Gottes mit sich selbst. Schleiermacher, der noch dazu aufrufen mußte, »eine Locke den Manen des heiligen verstoßenen Spinoza« zu opfern, hätte wohl nicht nur seine Freude angesichts der Beobachtung, daß die einflußreichste Gestalt der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts einer vereinseitigten Spinoza-redivivus-Theologie gleicht: Die Herrschaft des unmittelbar-selbstbestimmenden Gottes erscheint in der Tat als konkurrenzlos, weil sie nicht einmal des Scheins eines welthaft-menschlichen Andersseins bedarf, um zu triumphieren. Das ist der Pantheismus eines Herrschaftsgottes, dem die Abhängigkeit der Welt und des Menschen nur dazu dient, seine Selbständigkeit zu behaupten.385
Darüber hinaus ist aber nach der eigentlichen Interessenlage, die zur Entstehung »neuevangelischer Wendetheologie« führte, zu fragen. Wagner sieht diese in machtpolitischen Interessen.386 Besonders deutlich zeigen sich diese in der Neufassung der Rendtorffschen These der radikalen Autonomie Gottes in der Theologie Barths: Die ursprüngliche Fassung dieser These besagte, dass auf einem hohen Theorieniveau das neuzeitliche Konzept der (menschlichen) Autonomie auf Gott übertragen werde. Die neuevangelische Wendetheologie, so fasst Wagner nun die These, hat aber nicht etwa das Subjekt der Religion, nämlich das individuell-religiöse Bewußtsein durch das göttliche Wort- und Offenbarungssubjekt ersetzt. Diese Selbststilisierung der Wort-Gottes-Theologie liefe auf eine schlichte Legendenbildung hinaus […]. Denn diese Wendetheologie hat das religiöse Bewußtsein als Subjekt der Religion durch das professionelle Subjekt von Berufstheologie ersetzt.387
Die Position »Gottes« wird damit von den Berufstheologen reklamiert und mit bloß autoritärem Gehabe ausgefüllt.388 Damit werde aber auch in sozialer Wirklichkeit gerade keine Freiheit heraufgeführt, sondern »der ›durch die Autorität von Gottes Wort‹ gebundene Gehorsam entläßt aus sich soziale Verhältnisse der Unfreiheit«. Für die Realität kirchlicher Strukturen 385
WAGNER, Zur gegenwärtigen Lage, 50. Ebd., 50f: »Die neuevangelische Theologie des Wortes Gottes, die diese als Theologie der unbedingten Herrschaft Gottes durchführt, bleibt selbstverständlich menschliche, allzu menschliche Theologie. In ihr spricht weder Gott selbst, noch macht sich das Wort Gottes selbst kund. Das Wort Gottes wird vielmehr unter der Bedingung des menschlich-theologischen Wissens ausgelegt, daß das mit dem Ausdruck ›Gott‹ Gemeinte dem Gedanken der unbedingten Herrschaft zu folgen habe.« 387 WAGNER, Metamorphosen, 57. 388 Vgl. dazu NIGG, Geschichte des religiösen Liberalismus, 399: »Eine Hochkonjunktur erlebt [unter dem Einfluß der dialektischen Theologie] die Homiletik, die der neuerwachten Kirchlichkeit entspricht und ein verkrampftes Pfaffentum hochzüchtet, das sich zunächst in einer unangenehmen Schulmeisterei auswirkt.« 386
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bedeutet der Rekurs auf das im Wort Gottes gegründete (dogmatische) Wesen der Kirche, dass die Umsetzung demokratischer Strukturen, welche von Barth gefordert werde,389 innerhalb der Kirche ihrer Verwirklichung harre.390 Die behauptete und nicht von einer Fiktion unterscheidbare Vorordnung des »Herrn« stehe dabei im Dienste der Selbstbehauptung von Berufstheologen: Das Interesse, ihre ebenso privilegierte wie autoritäre Dominanz innerhalb der Kirchen nicht zu verlieren, wird mittels der geistlich-dogmatischen Idee sakriert und sanktioniert, die kirchlich-theologischen Amtsträger verdankten ihre Amtsautorität der behaupteten Vorgegebenheit ihres »Herrn«, obwohl diese nicht verleugnen kann, ein nach üblicher menschlicher Machart produziertes Vorstellungskonstrukt zu sein.391
Auch der Rekurs auf den Kirchenkampf, mit dem geradezu »heiligenlegendenartig«392 umgegangen werde, sei diesem Machtinteresse letztlich nur funktional untergeordnet.393 Vor dem Hintergrund dessen, dass eine entwicklungsfähige Theorie des Absoluten nicht mehr in der Reichweite des Denkens liegt, kann Wagners Deutung der Wendetheologie nicht auf deren Aufhebung zielen. Vielmehr muss nun jede Rede von dem Absoluten, die nicht im Sinne von dessen Revolutionierung verstanden wird, als Versuch der Durchsetzung einer endlichen Position wirken und Züge einer »Gewaltherrschaft« annehmen. Hinzu tritt als Hintergrund der Kritik das in der Rezeption Duxscher Überlegungen gewonnene Kriterium der möglichen Geltung der Religion unter den Bedingungen der Moderne, sofern sie sich der Auslegung für bzw. durch das religiöse Subjekt in dessen sozialer Bestimmtheit als tauglich erweist. Sofern sich die neuevangelische Wendetheologie daher augenscheinlich an dem »Wort Gottes« und nicht an dem religiösen Subjekt orientiert, verfehlt sie ihre Funktion. Vor diesem Hintergrund der funktionalen Zuordnung des theologischen Denkens zum religiösen Subjekt ist die praktisch-theologische Dimension der Kritik zu sehen. Die neuevangelische Wendetheologie führe »mit der Verabschiedung des Religionsthemas« und der damit verknüpften Entdifferenzierung von Religion und (Berufs)Theologie zum Ausschluss von »wirklich selbständig-
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WAGNER, Zur gegenwärtigen Lage, 174. Ebd., 177. 391 Ebd., 178. Vgl. WAGNER, Metamorphosen, 196: »Das dem theologischen Zirkel vom beanspruchten Wort Gottes und pfarramtlicher Verkündigungsfunktion Ausdruck verleihende Normativitätsideal gibt sich jedoch als Ideologie der akademischen und kirchenleitenden Berufstheologen zu erkennen.« 392 WAGNER, Metamorphosen, 5. 393 Vgl. insgesamt zur Kritik neuevangelischer Wendetheologie im Lichte ihrer Folgen in der Praxis Wagners Diagnose der pfarramtlichen Ausbildung, W AGNER, Metamorphosen, 191–199. 390
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spontaner Individualität des Menschen«394 und bediene »[d]ie weder zu überschätzenden noch zu leugnenden religiösen Sinnbedürfnisse einer individuellen Lebenspraxis […] mit biblisch-dogmatischen Antiquitäten«.395 Dieses Argument lässt sich nunmehr religionspädagogisch-seelsorgerlich wenden angesichts der aus solcher Dogmatik folgenden kirchlichen Praxis eines »autoritären Modells der Wortverkündigung«: Vor allem die jugendlichen Adressaten, die die Pflichtgottesdienstbesuche während der Zeit des Konfirmandenunterrichts absolviert haben, wehren sich dadurch, daß sie wegbleiben. Sie machen überdies die Erfahrung eines in vielen Fällen nicht mehr heilbaren Bruchs: Der ihnen an den Stätten kirchlich-religiöser Sozialisation vermittelte Kinderglaube zerbricht, ohne in einen gebildeten Glauben von Erwachsenen überführt und aufgehoben werden zu können. Denn die Ausbildung eines reflektierten und aufgeklärten Umgangs mit dem Christentum muß scheitern, weil das kirchlich dominante Sprachmodell in hohem Maße auf das Bewußtsein nicht selbständig denkender Kinder zugeschnitten ist. Die die Wort-Gottes-Theologie sanktionierende kirchliche Praxis der geistlichen Kommunikation gleicht dem Versuch, das den Alltag der Individuen bestimmende moderne Bewußtsein autonomer Selbständigkeit und freier Selbstbestimmung durch eine sonntägliche Idylle zu kontrastieren, deren Vorstellungswelt einem antik-mittelalterlichen Verständnis Gottes, der Welt und des Menschen verpflichtet ist.396
Die Jugendlichen wiederholen gleichsam im biographischen Kontext jene Emanzipation vom kirchlichen Christentum, welche die neuprotestantischen Religionstheologien in der Abwendung von der Orthodoxie vollzogen haben. Ihr kirchlich geförderter Kinderglaube zerbricht an der Einsicht, »daß die an übernatürlichen Handlungsmächten orientierte kirchlich-religiöse Welt- und Selbstdeutung kognitiv unzutreffend und somit überholt ist«.397 Damit ist nicht nur eine Vermittlungsproblematik benannt, sondern die gänzliche Untauglichkeit der Wort-Gottes-Theologie im Dienste der Entwicklung selbständiger Subjektivität. Zur Begründung dessen wird unter implizitem Rückbezug auf die frühe absolutheitstheoretische Barthkritik formuliert: »Die behauptete Substanz des Evangeliums sei nicht in die sachlich, sozial und zeitlich bedingte Sprache des Andersseins [!] seiner Adressaten zu übersetzen, weil diesen Adressaten gar kein eigenständiges Anderssein zukomme.«398 Die kirchliche Praxis stellt sich damit programmatisch der Bildung religiös-frommer Subjekte in den Weg und büßt auf diesem Wege die Chance ein, ihre Relevanz in der – religionskritisch geschulten – Moderne zu 394
WAGNER, Theologiepolitik, 496. Ebd. 396 WAGNER, Zur gegenwärtigen Lage, 54. Vgl. zu dieser Kritik DERS., Metamorphosen, 20ff.49ff. 397 WAGNER, Metamorphosen, 51. 398 Ebd., 56 (als Wiedergabe der Barthschen Position – KD IV/3/2, 927–941). 395
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behaupten. Die berufstheologisch normierte »Religion« trage in ihrer kirchlichen Wirksamkeit Züge einer »sektiererischen Gettomentalität«.399 Der Moderne gegenüber untauglich sei die neuevangelische Wendetheologie nicht zuletzt, insofern sie die mit den drei neuzeitlichen Revolutionen im Bereich von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft eingetretene Differenzierung nicht berücksichtige. Vielmehr komme es in ihrem Vollzug zu einer Entdifferenzierung. Dies zeige sich etwa in der binnendogmatischen Begründung der Demokratie bei Karl Barth, die zwar die Kirche der Demokratie gegenüber öffne, aber – so stellt Wagner fest –: Theonome Begründungen der Verfassung werden nun einmal nicht von »Gott selbst«, sondern einzig und allein von religiös motivierten Menschen vertreten. Religiös wie nicht religiös eingestellte Menschen genießen dieselbe Rechtsgleichheit, die aber nur dann gegeben ist, wenn der demokratische Rechtsstaat im Interesse der Autonomie des Rechts und der Rechtsgleichheit auf jede theologische oder religiöse Legitimierung seiner Verfassung verzichtet.400
Gegenüber den früheren Anklängen hinsichtlich der politischen Wirkungen Barthscher Theologie überrascht Wagner hier mit der Feststellung, Karl Barth käme eine Schlüsselfunktion in dem Prozess zu, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zur kirchlichen Akzeptanz des demokratischen Rechtsstaates geführt hat.401 Zu diesem Urteil gelangt Wagner im Vergleich der Theologie Barths mit der lutherischen Ordnungstheologie. Jedoch gelange Barths politische Ethik im entscheidenden Punkt gerade nicht über das Niveau der Ordnungstheologie hinaus: »Auch er erklärt den Staat zur Anordnung und Stiftung Gottes, so daß er eine Schutzordnung zur Abwehr von Sünde und Chaos darstelle.«402 Der Staat werde somit, mit relativer Tendenz zur demokratischen Verfassung, binnenkirchlich begründet, d.h. diese Begründung stehe unter der »Voraussetzung einer soziopolitischen Einheitskultur«403 und werde der aus der »funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft« hervorgegangenen Konstitution des demokratischen Verfassungsstaates und seiner programmatischen weltanschaulichreligiösen Neutralität nicht gerecht.404 Letztlich scheitert damit Barths – wie auch Rendtorffs! – Versuch405 einer theonomen Begründung des Staates. 399
WAGNER, Metamorphosen, 57. WAGNER, Zur gegenwärtigen Lage, 173. 401 Ebd., 171: »Zusammen mit dem Generationenwechsel seit den 1960er Jahren hat Barths vorsichtiges Eintreten für die Demokratie faktisch dazu beigetragen, daß die protestantische Theologie und die Kirchen inzwischen den demokratischen Rechtsstaat zu akzeptieren und zu bejahen gelernt haben.« 402 Ebd., 170 mit Bezug auf BARTH, Ethik II. 403 WAGNER, Zur gegenwärtigen Lage, 169. 404 Ebd. 405 Ebd., 172f. 400
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5.3 Erträge der späten Auseinandersetzung mit Barth In Wagners späten Studien lässt sich kaum das Interesse an einem wirklichen Verstehen bzw. Begreifen der Theologie Barths erkennen. Vielmehr geht es hier darum, das Scheitern der Theologie Barths sowie der auf deren Grundentscheidungen basierenden gegenwärtigen Theologie am neuzeitlichen Reflexionsniveau, insbesondere im Blick auf die Wirkungen der daraus erwachsenden Praxisorientierung, scharf herauszuarbeiten. Beispielhaft ist Wagners Beurteilung der Karl Barth-Gesamtausgabe, welche der theologiegeschichtlichen Verortung seiner Theologie ein deutlich breiteres Fundament bereitstellt, die jedoch von Wagner als »inszenierter Nachlaß ohne Unterlaß«406 bezeichnet wird. Barths Werk als Ursache einer »Retheologisierung des kirchlichen Protestantismus«407 verschreibe sich »der faktischen Rekatholisierung eines bibel- und dogmengläubigen Fundamentalismus«.408 Mit der Herausgabe der Gesamtausgabe sei intendiert, »die Bedeutung Karl Barths als ›Kirchenvater des 20. Jahrhunderts‹ [E. Jüngel] [zu] sichern, befestigen und verstärken«.409 Gegenüber solch’ epigonaler Fortschreibung könne die Gesamtausgabe einem historisierenden Zugang jedoch auch einen anderen Blick auf das Barthsche Werk eröffnen: Wie kommt ein Autor, dem es allein um die »eine Treue« zu der einen Sache des Wortes Gottes zu tun war, dazu, diesem »Einen« immer wieder unermeßlich viele Wörter, Sätze und Schriften zu widmen? Die in dieser Frage zutage tretende Diskrepanz nährt den Verdacht, der dauerhafte Wort-Schwall der positiven Theologie verhalte sich umgekehrt proportional zur prinzipiellen Unbegreiflichkeit und Unbestimmbarkeit des ihren gegenstandslosen Gegenstand repräsentierenden Wortes »Gott«.410
Letztlich werde in den »ungezählten Wort-Gottes-Bibliotheken«411 durch literarische Produktion die Aporie kompensiert, die dem Versuch solcher Theologie seit Kant unhintergehbar eignet: »Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fasse.«412 Diese Aporie ihres Nichtwissens kompensiert die positive Bibel- und Offenbarungstheologie durch ihre literarischen Produktionen ohne Unterlaß. Indem sie sich an die endlosen Wortfolgen ihrer eigenen Texte hält, scheint das Vertrauen in das eine Wort des Anfangs brüchig zu sein.413
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WAGNER, Theologiepolitik, 490. Ebd., 496. 408 Ebd. 409 Ebd., 495. 410 Ebd., 497. 411 Ebd. 412 KANT, Streit der Fakultäten, 333 – zit. von WAGNER, Theologiepolitik, 497. 413 WAGNER, Theologiepolitik, 497. 407
Die empirisch-historische Wende
251
Zwischen der Theologie Barths und ihrer Wirkungsgeschichte, die wohl in bestimmten Spielarten des »Barthianismus« Wagners Zerrbild entsprechen mag, wird nicht weiter differenziert.414 Im Vergleich mit der vorangegangenen Deutung der Theologie Barths gerät die gegen diese als Paradigma der »neuevangelischen Wendetheologie« gerichtete Kritik Wagners zu einem explizit positionellen Widerspruch. Der Umformungsprozess des Protestantismus kann nur fortgeführt werden, wenn die Wege der neuevangelischen Wendetheologie verlassen werden. Ein entsprechend der Theorie des Absoluten vorausgesetztes Rekonstruktionsniveau, welches die Theologie Barths als dem eigenen Theorieprogramm abkünftige Gestalt erweist, existiert nicht. Die Einebnung der Theologie in die horizontale Ebene bringt so eine grundsätzlich neue Sicht der eigentlichen Rekonstruktionsebene mit sich. Barths Theologie entspringt »weltlichen« Dominanzinteressen als Theologie von Berufstheologen für Berufstheologen, welche sich der Einsicht in die Mündigkeit religiöser Individuen verweigerten. Die Inanspruchnahme des Absoluten dient nun der Verabsolutierung einer endlichen Position.415 Entsprechend erscheint die Theologie Barths vor diesem Hintergrund als antimoderne bzw. vormoderne Theoriebildung, welche den kritischen Weg der Umformung des Protestantismus verlasse.416 Eine Erklärung ihrer Entstehung jenseits des konstatierten Dominanzinteresses von Berufstheologen und eines nicht nachzuvollziehenden Ausbruchs aus der Transformationsbewegung des Neuprotestantismus legt Wagner nicht mehr vor.417 Rendtorff gegenüber büßt Wagners Interpretation damit den Erweis der Neuzeitlichkeit Barthscher Theologie ein und bestätigt das theologiegeschichtliche Bild des Rückfalls hinter Einsichten der Aufklärung zurück418 – dies freilich vor 414
Vgl. KOCK, Natürliche Theologie, 248. Vgl. dazu unten Teil 3. 416 Dafür spricht u.a. die wiederkehrende Kritik der Rekatholisierung des Protestantismus. »Der von Schleiermacher bis Harnack durchschrittene Eingang zum Ausgang aus der antiken griechisch-römischen Denk- und Sprachform des Dogmas ist auf diese Weise längst wieder versperrt worden.« (WAGNER, Theologiepolitik, 496). Die Rekatholisierung des Kirchenbegriffs stellt Harnack bereits 1896 fest, s. HARNACK, Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus; vgl. auch NIGG, Geschichte des religiösen Liberalismus, 398, der mit Verweis auf Barths Theologie feststellt: »Unter der Einwirkung von Calvins Theologie liefen ihre Ergebnisse ausschließlich auf die Inthronisierung einer machtsüchtigen Neuorthodoxie hinaus«. – Vgl. WAGNER, Metamorphosen, 59, die neuevangelische Wendetheologie vollziehe eine Rückkehr zur altprotestantischen Einheitstheologie. 417 Vgl. dazu die kritischen Anmerkungen bei BERGER, Krise und Zukunft der protestantischen Theologie, 137, der eine historische Undifferenziertheit und einen Schematismus in Wagners Erklärung des Übergangs vom Neuprotestantismus zur »neuevangelischen Wendetheologie« sieht. Die Beschränkung auf wenige »Helden« des theologischen Aufbruchs innerhalb der Pfarrerschaft reiche nicht aus, um ihre beachtliche Wirkung in Theologie und Kirche zu erklären. 418 Gegen KOCK, Natürliche Theologie, 218f, der feststellt, die Theologie Barths sei für Wagner von Beginn an ein nicht aufzuhebender »Störfall« gewesen – dies trifft nur für die späten 415
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Absolutheitstheoretische Kritik (F. Wagner)
dem Hintergrund, dass dieser Weg redlicher Reflexion nicht gangbar sein dürfte.419 Die eigene Anknüpfung an den Neuprotestantismus, die in den vorangegangenen Studien von Wagner als Weiterentwicklung und Aufhebung des früheren Niveaus unter Einschluss der Theologie Barths verstanden wurde, geschieht nun unmittelbar. Das starke andere als Bezugspunkt des Denkens, obgleich spekulativ in der Auslegungsfigur des »Todes Gottes« sich seiner selbst vergewissernd, kann nunmehr nur gegen den Anspruch eines Absoluten gesetzt werden. So wird des Menschen Freiheit zum Ausgangs- und zugleich zum Fluchtpunkt, welche den Horizont des Wagnerschen Denken abstecken und zu deren Wahrung seine scharfe Polemik gegen jene Theologie, die einen damit unvereinbaren Gottesbegriff führt, gerichtet wird.
5.4 Parallelen positioneller Barthkritik Die positionelle Barthkritik, die Wagner in den späten Studien vorlegt, büßt mit ihrem Bemühen um die Aufhebung dieser Theologie zugleich ihre Originalität ein und fällt auf das Niveau der Barth bereits in der Frühzeit entgegengebrachten Kritik zurück. Gewisse Parallelitäten lassen sich zwar zwischen der absolutheitstheoretischen Barthdeutung und Friedrich Gogartens philosophischem Interpretationsversuch der Theologie Barths als Entfaltung eines spekulativen, idealistischen Mythos, feststellen, jedoch bleibt hier das Ziel der Aufhebung Wagners Proprium. Die Rückführung der Theologie Barths auf eine Konstruktionsebene dient hier gerade nicht deren Desavouierung im Lichte ihres Anspruchs, sondern der Fortführung ihres eigentlichen Anliegens. In den späteren Studien besteht eine weitaus größere Affinität zum Bild der Theologie Barths, welches von Adolf von Harnack in seinem Briefwechsel mit Barth gezeichnet wurde.420 Wesentliche seiner Kritikpunkte lassen eine sachliche Übereinstimmung zur Wagnerschen Kritik feststellen. Der Vorwurf, Barth verwandle »den theologischen Lehrstuhl in einen Predigtstuhl«421 und vermische Predigt bzw. Zeugenschaft und WissenStudien zu, hingegen zielen die frühen Studien gerade auf die Aufhebung durch die Theorie des Absoluten, in deren Perspektive es keine unbegriffenen Störfälle geben darf. 419 Vgl. dazu BERGER, Krise und Zukunft der protestantischen Theologie, 140, der feststellt, Wagner neige dazu, »die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts als eine Verfallsgeschichte zu lesen« – darin dürfte sich der Abbruch einer idealistischen Geschichtskonzeption als Fortschrittsgeschichte – etwa im Blick auf die Entfaltung der Theorie des Absoluten – deutlich äußern. 420 Aber auch der Titel der Wagnerschen Studie Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus verweist auf Harnacks gleichnamigen Aufsatz. Einen knappen Hinweis bietet bereits KOCK, Natürliche Theologie, 218. Vgl. auch WAGNER, Theologiepolitik, 491f. 421 Briefwechsel Barth-Harnack, 68.
Ertrag
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schaft, richtet sich auf die Entdifferenzierung der neuzeitlichen Unterscheidung von Religion und Theologie: »Im Leben sind zwar wissenschaftliche Theologie und Zeugenschaft oft genug vermengt; aber weder die eine noch die andere kann gesund bleiben, wenn die Forderung, sie getrennt zu halten, außer Kraft gesetzt wird.«422 In der Konsequenz werden Paulus und Luther wie auch Barth nicht als Subjekte sondern als Objekte theologischer Wissenschaft wahrgenommen.423 Für das Verständnis Barths weist Harnack zudem auf die entscheidende erkenntnistheoretische Aporie hin, die Wagners Interpretation von Beginn an leitet. Barths Rekurs auf die »Offenbarung« lasse sich im Diskursrahmen der Wissenschaft nicht nachvollziehen, denn »[d]er Begriff der Offenbarung ist kein wissenschaftlicher Begriff […]. Vollends aussichtslos aber ist der Versuch, ein ›Wort‹ dieser Art als etwas so rein ›Objektives‹ zu fassen, daß das menschliche Sprechen, Hören, Aufnehmen und Verstehen [kurz: die Tätigkeit von Subjektivität in Kritik und Konstruktion] sich in seiner Einwirkung ausschalten läßt.«424 Der Vorwurf zielt ebenso wie Wagners Kritik auf die Unmöglichkeit einer Theologie, die unter Ausblendung der Beteiligung menschlicher Erkenntnis konstituiert werden soll. Damit aber richtet Harnack den Vorwurf gegen Barth, dieser rede einem willkürlichen Subjektivismus in der Theologie das Wort, der wohl nur eine Sondergruppe gründen könne.425 Seine Theologie selbst sei verstrickt »in sublimster Psychologie und Metaphysik«426 und trage gegenüber den freien Gewissen der anderen Züge einer Gewaltherrschaft. Barths Ansatz im Bezug auf die Probleme der Geschichtlichkeit und Bibelwissenschaft schaffe »den Freibrief für jede beliebige Phantasie und für jede theologische Diktatur, die das Geschichtliche unserer Religion auflöst und die Gewissen Anderer mit der eigenen Erfahrung zu foltern sucht«.427 Die mangelnde Achtung der Subjektivität anderer Christen stehe daher im Dienste der Selbstdurchsetzung Barthscher Subjektivität (im Gestus eines Sektengurus): »[…] sind die
422
Ebd., 87. Ebd., 71. 424 Ebd., 88. Vgl. dazu bereits die Barth im Blick auf seinen Vortrag Die dogmatische Prinzipienlehre bei Wilhelm Herrmann entgegengebrachte Kritik: »Es gibt keine objektiv garantierte Autorität. Wir suchen nach einem Ruhekissen. Aber in dem allen kann ich nichts erblicken als eine Flucht vor der Tatsache, daß etwas Objektives für mich gar nicht erreichbar ist; Theologie kann nur feststellen, daß es diese Autorität für uns nicht gibt. […] Diesem vollständigen Einsamsein ist Barth ausgewichen durch Rückgriff auf ein Absolutes. Das ist Garantismus, Versuch, zu einer Garantie zu kommen für Etwas, das in keiner Weise garantiert werden kann.« (in: An die Freunde Nr. 80, 893). Diese Kritik wurde auch von Gogarten vorgetragen, s. GOGARTEN, Die Wirklichkeit des Glaubens, 95. 425 Briefwechsel Barth-Harnack, 71. 426 Ebd. 427 Ebd., 72. 423
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Absolutheitstheoretische Kritik (F. Wagner)
Keulenschläge berechtigt, mit denen sie Alles, was sich sonst als christliche Erfahrung gibt, niederschlägt?«428 Ertrag Wagner teilt mit Harnack das Verständnis einer einheitlichen wissenschaftlichen Methode,429 deren Anwendung den Unterschied von Subjekten und Objekten der Forschung ausmacht. Letztlich wird hier die Besonderheit von Wagners früherer Barthdeutung und -kritik deutlich, die darin besteht, dass er Barth als Subjekt von Wissenschaft zu deuten vermochte.
6. Ertrag: Die Barthdeutung Falk Wagners Wagners Deutung der Theologie Barths ist untrennbar mit deren scharfer Kritik verbunden. Angemessen zu interpretieren ist sie allein vor dem Hintergrund der anspruchsvollen Theoriekonzeption Wagners, welche in ihrer ersten absolutheitstheoretischen Phase auf eine metatheoretische Überbietung und Aufhebung sowohl der neuprotestantischen als auch der WortGottes-Theologie zielt. Die Auseinandersetzung mit Barth wird hier vor dem Hintergrund des ehrgeizigen Ziels geführt, der neuzeitlichen Religionskritik die Stirn zu bieten und den Gottesgedanken im Licht der durch Wolfgang Cramer vermittelten idealistischen Denkversuche als dem Selbstbewusstsein notwendigen und letztbegründenden Gedanken zu erweisen. Im Blick auf dieses Bemühen sieht Wagner eine Übereinstimmung mit der Theologie Barths, sofern diese auf ihr implizites Theorieniveau rückgeführt wird. Ingolf Dalferth hat daher wohl nicht zu Unrecht eine »Art spekulativen Barthianismus«430 in Wagners Untersuchungen entdeckt. In dieser Phase stimmen zudem Wagner und Rendtorff darin überein, dass Barths Theologie trotz ihrer materialen »Verkleidung« nicht unter die von Kant und Cramer als der Philosophie unzugänglich erachtete »biblische Theologie« falle, sondern eine eigenständige Verarbeitung der neuzeitlichen Subjektivitätsproblematik darstelle. Darin, dass hier nicht die Struktur von Subjektivität, sondern deren Grund im Sinne des Absoluten gedacht wird, ist Wagners Deutung der Theologie Barths in gewisser Hinsicht theo-logischer als die Rendtorffsche. Der durch die Geltungsfrage begründete theologiegeschichtliche Zugriff auf der Ebene einer abstrakten Rekonstruktionsebene überzeugt freilich nur, insofern man diese Reflexionsebene als Voraussetzung der Theoriebildung für erweisbar und die inhaltliche Dimension entsprechend für sekundär nachgeordnet und austauschbar hält. Die genuin histori-
428
Ebd., 88. Ebd. 430 DALFERTH, Rez. Falk Wagner, 158. 429
Gottes und des Menschen Freiheit
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sche Frage, warum Theorieentwürfe in jeweils spezifischer Inhaltlichkeit ausgearbeitet werden, bleibt unberücksichtigt.431 Der Status der »Metatheorie« als – in der ersten Phase – »absoluter Theorie« lässt freilich einen Anspruch erkennen, der eine kritische Auseinandersetzung mit Wagners Arbeiten dieser Zeit erschwert. Ist nämlich in der Tat die Tätigkeit der Subjektivität eine unhintergehbare Voraussetzung, so ist diese Reflexionsebene prinzipiell der Kritik enthoben, bzw. nur insofern der Kritik zugänglich, als diese selbst unter der Voraussetzung tätigen Selbstbewusstseins bereits formuliert wurde. In der Konstruktion einer prinzipiell überlegenen Theorieebene liegt der entscheidende Unterschied zwischen der Barthkritik Rendtorffs und Wagners und der »binnendogmatischen« Auseinandersetzung mit Barth bei Ebeling und Pannenberg.432 Das Niveau der späteren Auseinandersetzung mit der Theologie Barths als Paradigma der »neuevangelischen Wendetheologie« fällt demgegenüber stark ab. Die Barthdeutung gerät zur positionellen Barthpolemik, die jedoch in wesentlichen Punkten Selbstkritik im Blick auf das frühere Projekt der Theorie des Absoluten impliziert.
7. Gottes und des Menschen Freiheit – die systematische Pointe Wagnerschen Denkens In Wagners Deutung der Theologie Barths kristallisiert sich schließlich ein Kernproblem heraus, welches ihn in Opposition zum Denken Barths als Paradigma einer weitaus umfassenderen Strömung theologischen Denkens innerhalb des 20. Jahrhunderts bringt. Jede Theologie, die nicht von Beginn an auf die Rechtfertigung des »starken anderen« zielt, sondern im Gefälle der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft auf die Konstitution des gerechtfertigten Sünders als eines freien Menschen im Widerspruch zu diesem und der von ihm beanspruchten Freiheit, macht sich einer erkenntnistheoretischen Erschleichung und der gewaltsamen Durchsetzung positioneller Bevormundung schuldig. Gottes und des Menschen Freiheit Diese Pointe kennzeichnet auch Wagners Verständnis der Reformation und ihrer bleibenden Bedeutung. Letztere bestehe in der Entdeckung der »christlichen Freiheit«, die allen Menschen zukomme »und allein in deren direkter Beziehung zu dem Gott [gründe], durch den sich jeder Mensch 431 An diesem Punkt zeigt sich die Übereinstimmung zwischen Wagner und seinem Lehrer Cramer (vgl. CRAMER, Spinozas Philosophie des Absoluten, 20). Dem Projekt einer Theorie des Absoluten bleibt das Verstehen des Autors um seiner selbst willen untergeordnet. Vielleicht wird dieser souveräne Zugriff auch eine Berührung mit Karl Barth darstellen? 432 Dies bleibt gegen Krötke (s.o. Teil 2, Kap. 3.7) festzuhalten.
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Absolutheitstheoretische Kritik (F. Wagner)
bedingungslos anerkannt weiß«.433 Jedoch hinterlasse die Theologie der Reformatoren zwei Schwierigkeiten, die erst der Neuprotestantismus grundlegend habe lösen können. Deren erste sieht Wagner in der Verhältnisbestimmung von »Alleinwirksamkeit Gottes« und passivem Empfang der Rechtfertigung und Freiheit auf Seiten des Menschen. Es sei so nicht möglich, vom »›Ergreifen‹ der Freiheit im Glauben« zu sprechen, da die Freiheit des Menschen, die dazu vorausgesetzt würde, dem »Axiom der Alleinkausalität Gottes«434 widerspräche. Die zweite Schwierigkeit bestehe darin, dass die christliche Freiheit ausschließlich als innere Freiheit verstanden wurde, der kein äußeres Dasein der Freiheit entsprach. Das Leben des Christen sei das eines im »sozialen und politischen Dasein unfreien und gehorsamen Untertanen«.435 Demgegenüber gehe jene Theologie, der der »Ehrentitel des Neuprotestantismus«436 zukomme, »völlig zu Recht von dem Bewußtsein aus, daß das menschliche Subjekt immer schon als freies und spontanes, also selbsttätiges Selbstbewußtsein sich voraussetzt und sich gegeben weiß«.437 Die Theologie des Neuprotestantismus bleibt gerade mit diesem Widerspruch gegen göttliche Allkausalität und unfreien Willen des Menschen der Reformation treu, indem sie deren Bemühung um die »Rekonstruktion der menschlichen Freiheit auf konsistente, also nicht bloß dilemmatische Weise«438 fortführe.439 Darüber hinaus verstehe es die Theologie des Neuprotestantismus, die Realisierung der Freiheit so zu denken, »daß die theologisch begründete Freiheit des besonderen christlichreligiösen Bewußtseins in die allgemeine Freiheit des soziokulturellen Selbst- und Weltumgangs übersetzt wird«.440 Die Theologie könne daher nur um den Preis des Rückfalls in einen »offenbarungspositivistischen Reflexionsstillstand« und einer »(Un-)Kultur der Denkverbote« dem von 433
WAGNER, Protestantische Reflexionskultur, 32. Ebd., 33. Vgl. dazu WAGNER, Zur gegenwärtigen Lage, 61f. 435 WAGNER, Protestantische Reflexionskultur, 34. 436 Ebd., 35. 437 Ebd., 37. 438 Ebd., 40. 439 Die damit scheinbar aufgelöste Verbindung zwischen Gott und Mensch, also Allgemeinem und Kontingentem lässt sich auf den theoretischen Bahnen der späten Theorie Wagners, innerhalb derer der Gottesbegriff im Zusammenhang reziproker Anerkennungsverhältnisse seinen Ort hat, wiederum zusammenführen: »Der Begriff der Freiheit ist nur dann konsistent formulierbar, wenn er von vornherein, also apriori als Verhältnisweise konzipiert wird. Freiheit wird nur dort als praktisches Problem entdeckt, wo im Rahmen einer Pluralität von Subjekten deren Beziehung zu regeln ist. […] Dieses Verhältnis der besonderen Freiheit eines singulären Subjekts zu der eines möglichen anderen Subjekts schließt zugleich das Verhältnis von besonderer und allgemeiner Freiheit ein. Denn schon das Verhältnis der besonderen Freiheit eines singulären Subjekts zu der eines anderen singulären Subjekts impliziert die allgemeine Möglichkeit, die jeweils besondere Freiheit als Freiheit überhaupt auszusagen. Daher schließt die Rede von der besonderen Freiheit singulärer Subjekte notwendigerweise den Begriff der allgemeinen Freiheit ein.« (ebd., 41). 440 Ebd., 42. 434
Gottes und des Menschen Freiheit
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Barth und anderen eingeschlagenen Weg folgen. Die Opposition, in die Wagner innerhalb der protestantischen Theologie einrückt, verfügt daher mit dem zugrunde zu legenden Verständnis menschlicher Freiheit über ein Kriterium, das jegliches Bemühen um rechtfertigungstheologisches Denken, welches auf eine Befreiung des Menschen aus einer Unfreiheit zielt, – ohne sich damit als Rekonstruktion jener immer schon in Anspruch genommenen Freiheit des neuzeitlichen Subjekts zu verstehen – als verfehlt erscheinen lässt. Die neuzeitliche Subjektivität hat auch die ihr entgegenbrachte Kritik als Inanspruchnahme ihrer selbst enttarnt und folglich als unmögliches Unterfangen erwiesen. Damit trifft Wagners Polemik weite Teile der Theologie des 20. Jahrhunderts, insbesondere jede in rechtfertigungstheologischer Tradition stehende Soteriologie. Sie liegt auf einer Linie mit Kants Kritik des Gedankens der Prädestination als »salto mortale der menschlichen Vernunft«.441 Im Blick auf diese anti-soteriologische Zuspitzung des Wagnerschen Denkens könnte kritisch eingewendet werden, dass gerade die Theologie des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer erkenntnistheoretisch gewendeten Rechtfertigungslehre die Problematik der Begründung des Gottesgedankens auf der Grundlage der Subjektivität vor dem Hintergrund der These Luthers – »Non potest homo naturaliter velle Deum esse Deum, Immo vellet se esse deum et deum non esse deum«442 – interpretiert habe. Wagners Denken würde sich diesem Einwand entziehen mit dem Hinweis auf die Bedingung des »Wissen-Könnens« auch dieses Einwands. Der Begründungszusammenhang jenes Einspruchs in der Begegnung mit dem biblischen Zeugnis und der Rekurs auf die fides wäre für ihn neuzeitlichem Denken nicht zugänglich. Hier erreicht sein Denkansatz die Grenzen seiner Reichweite.443
441
KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 784. LUTHER, Disputatio contra scholasticam theologiam, 166. 443 Vgl. hier auch die Kritik an Wagners Religionsverständnis bei FISCHER, Protestantische Theologie, 269: »Es stellt sich die Frage, in wessen Namen und cui bono Wagner seine Kritik und Konstruktion vorträgt. Fungiert hier wirklich das religiös affizierte Subjekt als Instanz oder nicht viel eher eine an systematischer Stringenz interessierte ›berufstheologische‹ Intellektualität? Die Religion hatte und hat es immer mit vitalen Lebensfragen und -problemen zu tun. Diese Dimension kappt Wagner als ›trivial‹. Mit seiner Art von Umformung zieht er der Religion ein rationales Rückgrat ein, an dem sie zu verkümmern und zu ersterben droht. Ihm scheint es bei seinem Verständnis von ›gebildeter‹ Religion lediglich um die Lösung von Denkproblemen und um ihre Sozialverträglichkeit zu gehen. Der angeblich empirische Religionsbegriff entpuppt sich als ein Konstrukt von Religion, aus dem religiöse Urerfahrungen wie etwa Geschöpflichkeit, Geborgenheit, Liebe Gottes und Gnade ausgeklammert sind.« 442
Teil 3: Historisierung der Theologie Karl Barths (Friedrich Wilhelm Graf)
1. Einführung Zeigte sich schon am Beispiel Falk Wagners, dass dieser Trutz Rendtorff gegenüber eigenständige Wege der Barthdeutung ging, so gilt dies in gleicher Weise für Friedrich Wilhelm Graf, der erstmals in dem gemeinsamen Sammelband Die Realisierung der Freiheit literarisch zum Thema »Barth« an die Öffentlichkeit tritt. Zu diesem Zeitpunkt liegt Rendtorffs Deutung der Theologie Barths im Kontext der Christentumstheorie ebenso wie Wagners absolutheitstheoretische Rekonstruktion der neuzeitlichen Geistes- und Theologiegeschichte bereits vor. Scheint Graf zunächst dem Wagnerschen Ansatz zu folgen, so setzt er in der Folgezeit einen eigenständigen Schwerpunkt mit dem Programm einer »Historisierung« der Theologie Barths, d.h. der konsequenten Relativierung und Kontextualisierung von Genese und Entwicklung der Theologie Barths im Zusammenhang der Sozial- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wiederum soll zunächst die Entwicklung der Barthdeutung unter Berücksichtigung der systematisch-theologischen Implikationen nachgezeichnet werden.
2. Die Freiheit der Entsprechung zu Gott – Deutung und Kritik der Anthropologie Karl Barths Den ersten Beitrag zur Interpretation der Theologie Karl Barths legt Graf mit seiner dem Band Die Realisierung der Freiheit beigesteuerten Studie vor, die eine Deutung und Kritik der Anthropologie der Kirchlichen Dogmatik enthält. Als erkenntnisleitende These legt Graf den Konsens des gesamten Bandes zu Grunde: »Das Ganze der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths ist allein Theo-Logie im strengen und engen Sinne des Wortes.«1 Funktional im Dienst dieser Theo-Logie stehe die Christologie, die die »Einholung außer-theologischer Lehrstücke in die Theo-Logie«2 ermöglichen solle. Graf folgt damit 1 2
GRAF, Die Freiheit der Entsprechung zu Gott, 76. Ebd., 77.
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Historisierung (F.W. Graf)
dem durch Wagner und Rendtorff aufgenommenen – und bereits für Gogarten nachgewiesenen – philosophischen Interpretationszugang, der die Wahrung der Souveränität des göttlichen Herrschaftssubjekts in seiner Offenbarung als Grundzug Barthscher Theologie erkennt – dies auch an der Stelle, wo Barth scheinbar von der Theozentrik der frühen Theologie abrückend einer stärkeren Würdigung des Gott gegenüber anderen von Schöpfung und Geschöpf Raum zu geben beginne.3 Gerade hier stelle sich die Frage, »ob die These der exklusiv theo-logischen Gestalt der Kirchlichen Dogmatik nicht an der relativen Eigenständigkeit von Schöpfungs- und Versöhnunglehre scheitert«,4 ob also die Wirklichkeit von Schöpfer und Geschöpf von dem theologischen Ansatz aus zu fassen sei. Diese Frage verschärfe sich vor dem Hintergrund, dass Barth selbst die »schlecht-theologische Ineinssetzung von Theologie und Anthropologie« stets abgelehnt habe. Anhand von KD III/2 arbeitet Graf als Kern der Barthschen Schöpfungslehre heraus, dass Barth hier die »Erkenntnis Gottes« im Medium der geschöpflichen Wirklichkeit verfolge. Damit sei die Schöpfungslehre »primär Theo-Logie und nur sekundär auch Darstellung von geschöpflicher Wirklichkeit«.5 In der Konsequenz dieses Bemühens, Gott »in der Bestimmtheit seiner Selbstbestimmung« als Erkenntnis gründend zu denken, sei Barth zur »Absage an die herkömmliche Darstellung der Schöpfungslehre als Kosmologie«6 gezwungen. Die Entwicklung einer Kosmologie durch die spekulative Erkenntnisaktivität des Menschen würde eben diesen »Kosmos« als eigenständige – »sich selbst begründend[e]«7 – Größe zwischen Schöpfer und Geschöpf setzen. Damit bliebe der Anspruch des göttlichen Subjekts auf Unbedingtheit und theo-logische Bestimmung der Schöpfung unabgegolten. Barth konzipiere seine Schöpfungslehre daher anthropozentrisch.8 3 Vgl. dazu ebd., 76: »Insofern nämlich der durch die Christologie benannte Grund (Jesus Christus) zum Beispiel der Anthropologie selbst noch in einem solchen Grund gründet, dem selbst kein weiterer Grund als ihn begründend vorausgesetzt ist bzw. vorausgedacht werden kann, verweist die Christologie an sich selbst auf denjenigen einzigen Begründungsort aller dogmatischen Gehalte, der auch als die Christologie selbst begründend als dieser vorausgesetzt gedacht werden muß. Allein dem Grund, in dem auch jede christologische Aussage gründet, ist die logische Bestimmung Grund adäquat. Nur von ihm kann gesagt werden, daß er als Grund alles Gegründeten Grund seiner selbst ist und also sich nicht einem anderen verdankt. Er erweist sich als durch sich selbst gegründeter Grund gerade darin, Gegründetes gründen, d.h. aus sich entlassen zu können. Denn im Gründen des Gegründeten bestimmt sich der Grund als Grund und also auch dazu, als Grund durch das von ihm Gegründete bestimmt zu sein; indem er sich als Grund (Bestimmendes) bestimmt, bestimmt er sich als durch das Bestimmte (Gegründetes) Bestimmtes.« 4 Ebd., 78f. 5 Ebd., 79. 6 Ebd., 79f. 7 Ebd., 80. 8 Zur Begründung ebd., 81: »Denn die theologische Reflexion auf den Menschen als Geschöpf führt im denkenden Nachvollzug seiner Geschöpflichkeit zu ›Gott in dessen Verhältnis zu den unter dem Himmel auf der Erde existierenden Menschen‹« (mit Zitat KD III/2, 7).
Deutung und Kritik der Anthropologie Barths
261
Die Anthropologie werde unter dem strengen Vorzeichen der Inkarnation, d.h. des durch Gottes Selbstbestimmung bestimmten Geschöpfes entfaltet.9 Durch die analogia fidei seu relationis werde eine Kongruenz zwischen Theo-Logie und (christologisch entfalteter) Anthropologie hergestellt.10 Die analogia entis hingegen müsse konsequent ausgeschlossen werden, da sie mit dem vorausgesetzten ›ens‹ einen Grund der Relation von Schöpfer und Geschöpf setze, der die Unbedingtheit des die Relation allererst begründenden Gottes ausschließe. Deutung und Kritik der Anthropologie Barths Der Wahrheitsanspruch der theo-logisch gefassten Anthropologie müsse so konstruiert werden, dass er nicht in Konkurrenz zur weiteren Anthropologie gerate.11 Ebenso müsse der Widerspruch des Menschen, die Sünde, im Sinne des Sich-selbst-Setzens als von Gott bereits ontologisch ausgeschlossener Versuch verstanden werden: Denn würde die Sünde als ein gegenüber Gott selbständiges Prinzip angesetzt, wäre sie ein reales Außerhalb der Gnade Gottes, dessen Absolutheit an der nicht depotenzierten Macht des Sünders und seiner Sünde zugrunde gehen müßte.12
Der theologischen Anthropologie stelle sich somit die Aufgabe, dem »absoluten Vorrang des Schöpfers vor dem Geschöpf in allen ihren Erkenntnisakten«13 zur Darstellung zu verhelfen, was sie mit der ausschließlichen Orientierung am Menschen Jesus einlöse.14 Die Differenz zwischen Jesus als Gott entsprechendem Menschen und den Menschen (als Sündern) werde offen gehalten, die Wesensbestimmung des Menschen ziele jedoch auf »des Menschen Entsprechung zu Gottes Selbstentsprechung«,15 d.h. auf die Einholung 9
GRAF, Die Freiheit der Entsprechung zu Gott, 81: »[…] der Mensch ist nur insofern Erkenntnisobjekt der Dogmatik, als er das von Gott gesetzte und demzufolge auch im Ausgang von Gott aus zu bestimmende Wesen ist, in dessen Bestimmung Gott sich bestimmt.« 10 »Durch die analogia relationis ist es möglich, alle Analogate auf das eine Ereignis der alle Analogie gründenden ›Uranalogie‹ [zit. KD III/2, 261], der Entsprechung Gottes zu sich selbst zurückzubeziehen, sodaß alle Analogien und Analogate als durch die ›Urentsprechung‹ bestimmt angesehen werden können. Insofern nämlich den Beziehungen im innergöttlichen Sein die Beziehung Gottes zum Menschen Jesus entspricht, ist der Mensch Jesus nur als Entsprechung zu den Beziehungen im innergöttlichen Sein.« (ebd., 82). 11 Ebd., 84f. 12 Ebd., 85, mit Verweis auf RENDTORFF, Theorie des Christentums, 176f. 13 GRAF, Die Freiheit der Entsprechung zu Gott, 86. 14 Vgl. ebd., 87: »Die dogmatische Anthropologie entspricht somit ihrer Stellung als Funktion der Theo-Logie in der materialen Durchführung nur dann, wenn sie als die Erkenntnis des durch Gott bestimmten Menschen nicht bei dem Geschöpf, sondern bei dem bestimmten Menschen Jesus als des Menschen für Gott einsetzt. Indem das Wesen des Menschen Jesus als die durch den Menschen Jesus bestimmte Geschichte sich zeigt, erweist sich die Identität von Sein und Tun, von Menschsein und Amt Jesu. […] Jesu Identität gründet ausschließlich in seiner Entsprechung zu Gott.« 15 Ebd., 88. »Da der Mensch Jesus nur ist, sofern Gott sich selbst in ihm entspricht, kann das Wesen des Menschen nur als von Gott gesetzte Entsprechung zur sich in allem entsprechenden Selbstentsprechung Gottes gedacht werden.«
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Historisierung (F.W. Graf)
des Menschen in das – durch Jesus verkörperte – Sich-selbst-Entsprechen Gottes: »Die Freiheit des Menschen kann nur als die Freiheit der Entsprechung zu Gottes unbedingter Herrschaft konzipiert werden.«16 Zum Erweis der Überlegenheit jener strikt theo-logischen (dogmatischen) Anthropologie gegenüber »autonomen Anthropologien« rekurriere Barth (KD III/2, 87) auf die Zirkelhaftigkeit menschlicher Erkenntnis: »Denn da der Mensch, der sich aus sich erkennen zu können meint, sich in der Erkenntnis seiner selbst immer schon als sich selbst setzend voraussetzt, vermag die autonome Anthropologie das Implikat der unausgewiesenen Selbstmächtigkeit selbst nicht mehr zu befragen.«17 Obgleich Graf die neuzeitliche Problematik der Zirkelhaftigkeit des Selbstbewusstseins, auch in dessen philosophischer Wahrnehmung, zugesteht, bleibt sie seiner Auffassung nach für die Theologie unhintergehbar: »Gezeigt werden muß, dass noch die Kritik der Theorie des Selbstbewußtseins sich diesem verdankt. […] Bedacht will sein, daß das Argument des Zirkels immer schon Einheit des Selbstbewußtseins negativ in Anspruch nimmt.«18 Die Theologie muss daher, »insofern das Konstitutionsproblem von Freiheit das Grundproblem aller neuzeitlichen Theologie ist, […] die Einsicht in das Problem der Selbstbegründung des Selbstbewußtseins zumindest produktiv festzuhalten versuchen«.19 Dieses Problem, welches Fichte zu lösen nicht imstande war,20 erfordere von der Theologie ihrerseits zunächst den Aufweis der immer schon in Anspruch genommenen Einheit von »Ich – Subjekt« und »Ich – Objekt« und sodann den Entwurf einer Theoriefigur, »aufgrund derer die Zirkelhaftigkeit aller Theorie, die Selbstbewußtsein in Anspruch nimmt, ausgesagt werden kann«.21 Die Kritik der bisherigen Selbstbewusstseinstheorie lasse sich nur durch eine überlegene, die Aporien aufhebende Theorie des Selbstbewusstseins ins Recht setzen. Sie muss allererst den Ort angeben können, von dem aus sie nicht selbst der eigenen Kritik verfällt.22 Barth unternehme jenen Versuch implizit in einer »durch die Kritik vermittelten Konstruktion einer Anthropologie sub specie Dei«23 (KD III/2, 16
Ebd. Ebd., 89. 18 Ebd., 90f Anm. 19 Ebd., 90 Anm. 20 Vgl. dazu ebd., 91f, Graf rekurriert hier auf HENRICH, Fichtes ursprüngliche Einsicht. 21 GRAF, Die Freiheit der Entsprechung zu Gott, 92. 22 »Rekurriert die Kritik der Selbstbewußtseinstheorie, wie sie für die Barthsche Dogmatik konstitutiv ist, auf das klassische Argument des Sich-immer-schon-Gegebenseins des Selbstbewußtseins, so nimmt sie Selbstbewußtsein als sich wissende Subjektivität insofern in Anspruch, als im Wissen-Können des Moments des Nichtgesetztseins immer schon ein gelungener Fall der Selbstmitteilung des Selbstbewußtseins impliziert ist.« (ebd., 93). 23 Ebd., 94. 17
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128ff), in kritischer Distanzierung von den zwar als Fortschritt beurteilten, dennoch aber an der Begründung der Selbsterkenntnis durch die Transzendenz scheiternden Anthropologien des Idealismus (Fichte) und der Existenzphilosophie (Jaspers). In ihrem Scheitern dienten beide als »apagogischer Beweis der Wahrheit der theo-logisch begründeten Anthropologie«.24 Deren Ausgangspunkt liege nunmehr außerhalb der Selbstbestimmung des Menschen im ›Sein und Wesen Jesu Christi‹ (KD III/2, 158f). Jesus als der sich nicht selbst setzende und damit Gott entsprechende Mensch25 erschließe das menschliche Sein als »Sein von Gott her« und bringe es in seiner Mitmenschlichkeit seinerseits in das Entsprechungsverhältnis zur göttlichen Souveränität. Eine Wirklichkeit außerhalb dieses Entsprechungsverhältnisses, etwa das eigenständige Bemühen des Menschen um Selbstbegründung (Sünde!), dürfe Barth um der unbedingten Souveränität nicht zulassen – diese Wirklichkeit »kann nur als nichtig gedacht werden«.26 Erweise sich aber die Theologie Barths – zumindest ihrem Überbietungsanspruch nach – als notwendig auf das Problem der Begründung von Selbstbewusstsein bezogen, so sei die Christologie als »Theorie des Selbstbewusstseins« zu interpretieren, wie Graf im Anschluss an Wagner formuliert. Dann aber ist auch die Theo-Logie funktional im Dienste dieser Theorie zu verstehen. Die Christologie konstruiert mit Jesus ein zirkelfrei begründetes Selbstbewusstsein, dessen Grund aber theo-logischer Entfaltung bedarf. TheoLogie leiste »den Aufbau eines allgemeinen Selbstbewußtseins, in welchem auch das Moment des Sich-Gegebenseins unter die Bedingung des GesetztSeins durch das sich setzende Selbstbewußtsein gestellt werden kann«.27 Etwa in der Konstruktion Gottes als actus purus verleihe das Selbstbewusstsein seiner eigenen reinen Tätigkeitsstruktur Ausdruck. Die Theo-Logie öffne damit eine Perspektive auf die »Restriktion durch empirischgegenständliche Bedingtheiten«,28 die diese Bedingtheiten (als Objektives) als »Manifestationen getätigten Tuns« erschließe. Die Subjektivität bleibe so nicht ›abstrakt‹, sondern erschließe die Objektivität als Selbstdarstellung des Subjekts.29 Wird in der Christologie exemplarisch die »Selbstnegation des 24
Ebd., 96. Vgl. ebd., 96 mit Anm. 22 – dort der Verweis auf Barths Ausführungen zur Jungfrauengeburt KD I/2, 189ff und IV/1, 226ff als Beleg für das Nicht-Selbstsetzen Jesu. 26 GRAF, Die Freiheit der Entsprechung zu Gott, 97. 27 Ebd., 99. Ebd.: »Das Selbstbewußtsein leistet im Denken des Gedankens Gott eine Rekonstruktion seiner selbst, in welcher es seine Genese sich anschaulich machen kann. Denn das seinen Tätigkeitsvollzügen vorgegebene Moment seiner Vorfindlichkeit wird in der Konstruktion des allgemeinen Selbstbewußtseins transparent als ein solches Moment von Gesetztsein, das als in der Setzung des allgemeinen Selbstbewußtseins gründendes Gesetztsein zu denken ist.« 28 Ebd., 100. 29 »Im Denken des Gedankens Gottes als Subjekt wird sich das frei konstruierende Subjekt der Theo-Logie seiner eigenen Subjektivität so inne, daß Subjektivität als durch die Objekthaftigkeit 25
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Allgemeinen« und dazu kongruent die »Selbstsetzung des Besonderen« in Negation des Allgemeinen30 entfaltet, so leistet die Pneumatologie den Erweis der Gültigkeit im Blick auf jedes Besondere, »insofern es sich durch die Negation seiner selbst der Möglichkeit des Zusammenschlusses mit dem Allgemeinen öffnet«.31 Das Selbstbewusstsein langt daher in der Pneumatologie bei der Begründung seiner Freiheit an: Die realisierte Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit vermag dann auch im Hinblick darauf dargestellt zu werden, daß sich im Wissen der Pneumatologie das Subjekt der Dogmatik zur frei konstruierenden Tätigkeit befreit weiß. 32
Mit dieser Exposition der scheinbar gelungenen Begründung des Selbstbewusstseins in der Konstruktion von Trinitätstheologie zeige sich freilich zugleich die Schwäche der Theologie Barths als Subjektivitätstheorie. Insofern nämlich die Theorie Barths kritisch gegen jede Theorie des Selbstbewusstseins gerichtet sei, die sich bemüht zeigt, »im Medium des Besonderen« zu gründen, werde die Freiheit/Subjektivität Gottes demgegenüber »in unmittelbarer und abstrakter Weise zur Geltung gebracht«,33 d.h. es werde keine Überwindung (Aufhebung) des Besonderen erreicht: »Denn indem in der Kirchlichen Dogmatik Unbedingtheit gegen Bedingtheit und Allgemeinheit gegen Besonderheit gestellt wird, zeigt sich das Allgemeine selbst als Besonderes, insofern es Besonderes außer sich hat.«34 In der Wagnerschen Terminologie sei die Christologie daher als Gleichschaltung zu bestimmen, durch die dem Zwang der Durchsetzung göttlicher Subjektivität – die als unbedingt behauptet wird – folgend »alle Besonderheit gleichgemacht und vernichtet«35 werde. Dem von Wagner in der Folge Hegels und von Lebenswelt nicht restringiert gewußt werden kann. Dann aber ist auch der sachliche Zusammenhang von Gotteslehre und Christologie im Kontext der Selbstbewußtseinsproblematik evident. Denn zielt die Darstellung des allgemeinen Selbstbewußtseins um der Freiheit auch des empirischindividuellen Ich willen auf die Unbedingtheit und Allgemeingültigkeit des Selbstbewußtseins, so muß sie sich im Interesse dieser Freiheit und entsprechend dem Gedanken der Unbedingtheit des Selbstbewußtseins in eine Darstellung der Vermittlung des allgemeinen mit dem besonderen Selbstbewußtsein aufheben.« (ebd., 101). 30 Ebd., 102. 31 Ebd., 103. Graf verdeutlicht diesen Vorgang als doppelte Negation: »Denn im Wissen um den Kreuzesmord als dem Bewußtsein der Negation des Allgemeinen weiß sich das qua Negation aufbauende Besondere als Negativität. Gemäß seiner Bestimmung der Negativität aber negiert sich das abstrakt Besondere. Indem das abstrakt Besondere sich aufgrund seiner Negativität selbst negiert, negiert es sich als Negativität und bestimmt sich dazu, in Negation seiner selbst zur freien Beziehung auf das Allgemeine imstande zu sein. Es bestimmt sich in der Vermittlung mit dem Allgemeinen als wahrhaft frei, worin die Möglichkeit der pneumatologischen Aussage wahrer Besonderheit und wahrer Allgemeinheit gründet.« (ebd.). 32 Ebd., 104. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Vgl. ebd., 105.
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Cramers etablierten Kriterium eines gelungenen Konstruktionsexempels des Allgemeinen vermag Barths Theorie daher nicht zu genügen: »Denn erst diejenige Allgemeinheit kann als Allgemeinheit qualifiziert werden, die zur Negation ihrer selbst, zur Selbstdarstellung im Anderen, Besonderen imstande und zur Vermittlung mit dem ihr nicht immer schon Eigenen fähig ist.«36 Gottes Freiheit, das ist das Defizit der Barthschen Theologie, bleibe auf dieses andere negativ bezogen, die Frage nach einer positiven Freiheit werde nicht gelöst. Die Durchführung sei freilich konsequent gestaltet, insofern auch die »Empfänglichkeit zum Bestimmt-Werden«37 ausschließlich als Wirkung der göttlichen Subjektivität gedacht werden kann: In der Struktur des Barthschen Gottesbegriffs können somit auch diejenigen Aporien identifiziert werden, welche die Fichtesche Theorie des absoluten Selbstbewußtseins prägten. Denn jede Theorie des absoluten oder »abstrakten« Selbstbewußtseins muß um der unbedingten Selbstbestimmung oder reinen Sichselbstgleichheit des absoluten Selbstbewußtseins willen dieses als wesentlich negativ denken.38
Nach »außen« unterliegen daher beide Theorien einem Identitätszwang: Indem die unbedingte Selbstbestimmung ein jedes Außerhalb in Adäquanz zu sich bringen bzw. dasjenige vernichten muß, das ihr nicht gleichgeschaltet werden kann, steht die unbedingt sein sollende Selbstbestimmung selbst unter der Bedingung ihrer selbst; sie ist in Gleichschaltung oder Vernichtung vom zu vernichtenden Selbstsetzen außerhalb ihrer als auch vom gleichzuschaltenden Außer-Theo-Logischen bestimmt.39
Um der Wahrung der Unbedingtheit willen gerate Barth so in einen »Zwang der Iteration«,40 d.h. »die Tatsache, daß angesichts unbedingt konzipierter Selbstbestimmung gleichgeschaltet werden muß, ist gleichzuschalten«.41 Liegen diese Thesen zum Scheitern Barthscher Theologie gänzlich in der Fluchtlinie der Wagnerschen Barthdeutung und -kritik, so unternimmt Graf abschließend den Versuch, diese Interpretation zur Selbstwahrnehmung Barths ins Verhältnis zu setzen. Ausgangspunkt dafür ist der Anspruch Barths, die Freiheit des Menschen auf der Grundlage der Freiheit Gottes adäquat gedacht zu haben, dies unter Ausschluss der »Willkür« Gottes (KD III/2, 260) und unter Rekurs auf Gottes Treue. Allerdings sei festzustellen, dass diese in Gottes Selbstentsprechung als Beziehung gründende Freiheit gerade negativ und abstrakt sei.42 Die innertrinitarisch entfaltete Beziehung 36
Ebd. Ebd., 106. 38 Ebd., 106f. Zur Kritik an Fichte s. ebd., 106 mit Anm. 30. 39 Ebd., 108. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd., 110. 37
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Gottes, die ad extra lediglich wiederholt werde, sei schließlich die Selbstentsprechung Gottes unter Ausschluss des anderen: »Daß Gott sich ad extra bezieht und darin ein Außerhalb seiner gründet, dient allein dazu, seiner Selbstentsprechung ad intra einen Ort erneuter Geltung zu verschaffen.«43 Der Mensch werde daher nur als Gott entsprechender, d.h. als weiterer Darstellungsbereich der Theo-Logie, in der Dogmatik zum Thema, nicht aber um seiner selbst willen. In das Entsprechungsverhältnis des Menschen gliedert sich so auch (KD III/2, 198) das menschliche »Sein im Danken«44 ein. »Freiheit« ist daher als »abbildliche Freiheit des Menschen nicht als eine Freiheit außerhalb der Entsprechung zur urbildlichen Freiheit Gottes« zu verstehen.45 Die Kritik der Barthschen Bestimmung von Freiheit dürfe, wie Graf ausdrücklich feststellt, nicht grundsätzlich gegen die Verknüpfung »mit der Konstruktion theo-logischer Gehalte«46 gewendet werden, sondern allein gegen die Art und Weise, wie Barth diese Vermittlung suche. Der Kerngedanke der Kirchlichen Dogmatik, »daß die Entsprechung der Freiheit Gottes und der Freiheit des Menschen als die Entsprechung der abstrakten Herrscher-Freiheit Gottes und der Unterordnungs-Freiheit des Menschen gedacht ist«,47 lasse eine doppelte Aporie erkennen: Indem Barth einen Begriff des Absoluten etabliert, im Kontext dessen das Allgemeine seine Allgemeinheit nur im negativen Bezug auf das Recht der Besonderheit zu erweisen vermag, kann er weder die Freiheit des Allgemeinen noch die des Besonderen angemessen zur Darstellung bringen.48
Auch die Freiheit Gottes bleibe unter dem »Ermächtigungsgesetz der sich allgemein setzenden Besonderheit«49 unterbestimmt, insofern sie auf das Besondere negativ bezogen sei und dem Zwang zu dessen Gleichschaltung bzw. Vernichtung unterliege. Graf wiederholt dezidiert die These, dass in dem negativen Bezug auf die sich selbst begründende individuelle Subjektivität eine Entsprechung zwischen der Theologie Barths und anderen Theorieentwürfen von Tillich über Gehlen und den Dezisionismus bis hin zur Theorie des Faschismus festzustellen sei. Zur Überwindung der kritisierten Positi43
Ebd., 110f. Ebd., 111f. 45 Ebd., 113. »So ist im Gedanken der Freiheit des Menschen nicht eine solche freie Selbstbestimmung gedacht, die die eine unbedingte Selbstbestimmung Gottes negieren könnte bzw. ihr zu widerstehen vermöchte. Denn muß die Freiheit des Menschen als die Freiheit des Gehorsams zu Gott gedacht werden, so ist sie als die Freiheit bestimmt, der Selbstentsprechung Gottes in seiner Freiheit zu entsprechen.« (ebd., 113; vgl. KD III/1, 301). 46 Ebd., 114. 47 Ebd., 115. 48 Ebd., 116. 49 Ebd., 115. 44
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on des 19. Jahrhunderts sei es freilich nicht gekommen, vielmehr stellten sie eine radikalisierte Positionalität dar, die dem Kritisierten negativ verhaftet sei. Zwar sei der »Ruf zur Sache« insofern berechtigt, als er »auf die im Gedanken des frei konstruierenden Subjekts theologischer Gehalte in Anspruch genommene Voraussetzung […] [hinweise], diese Gehalte erzeugen zu können«.50 In diesem Streit dürfe aber nicht, wie es die dialektische Theologie vornehme, die »Sache« mit dem partikularen Theorieversuch identifiziert werden, um damit andere Theorietypen als Nicht-Theologie auszuschließen. Die neuzeitlichem Denken unhintergehbare Einsicht, dass auch der Gedanke der Kritik seinerseits unter der Bedingung des Denkens des Gedankens steht, werde von der dialektischen Theologie konsequent durch die Negation aufgrund der »abstrakt-unmittelbaren Herrscher-Freiheit«51 ausgeblendet. Diese »Selbstgleichschaltung« des Subjekts theologischer Theoriebildung bildet die letzte Konsequenz »radikaler Autonomie Gottes« – die Untauglichkeit dieses Versuchs ist für Graf evident. Eine Theorie des Selbstbewusstseins unter Einschluss eines Begriffs des Allgemeinen, der die Integration von Besonderheit erlaubt, wäre demgegenüber der einzig gangbare Weg. Graf sieht daher die entscheidende Aufgabe neuzeitlicher Theologie darin, eine zirkelfreie Begründung des Selbstbewusstseins zu entwerfen. An diesem Punkt ist er mit Wagner einig, und dies legitimiert den subjektivitätstheoretischen Zugriff auf die Theologie Karl Barths. Graf selbst legt in der Folgezeit jedoch keine konstruktiven Überlegungen dazu vor, wie dieses Problem auf absolutheitstheoretischem Wege gelöst werden kann. Vielmehr gewinnt Graf einen eigenständigen Zugriff auf die Theologiegeschichte, der sich deutlich von dem Wagnerschen abheben lässt und die Preisgabe der subjektivitätstheoretischen Rekonstruktionsebene mit dem Ziel der »zirkelfreien Selbstbegründung« bedeutet. Theologie als implizite Elitetheorie
3. Theologie als implizite Elitetheorie – Grafs Neuansatz Der methodische Schwerpunkt Grafs, der in der Folge seine Arbeiten zur Theologiegeschichte bestimmt, lässt sich exemplarisch anhand seiner Münchner Habilitationsvorlesung Vom Munus Propheticum Christi zum prophetischen Wächteramt der Kirche? zeigen. Grafs These – »Zumindest für die lutherische Ekklesiologie gilt: Ein prophetisches Wächteramt der Kirche entbehrt theologischer Legitimität.« – wird anhand einer histori50 51
Ebd., 117. Ebd., 118.
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schen Rekonstruktion jenes Weges begründet, der das »prophetische Amt« der Kirche zu seiner Dominanz im 20. Jahrhundert führte. Hier freilich verbinde sich mit dem »prophetischen Amt« weder ein einheitliches politisches Urteil, noch »ein eindeutig bestimmbarer theologischer Gehalt«,52 vielmehr bestehe die Funktion jenes Theologoumenons in der Inanspruchnahme eines »ethische[n] Autoritäts- und Avantgardeanspruch[es] gegenüber der Gesellschaft«.53 Es handelt sich bei dem Rekurs auf das »prophetische Amt« also um die funktionale Verwendung eines Theologoumenons. In einem ersten Argumentationsgang wird dieser Vorgang in historischer Perspektive erhellt, wobei sich der zeitliche Vorrang der »dogmatischen Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi«54 gegenüber dem von der Kirche beanspruchten »ethischen Wächteramt« zeige: »In dieser Ethisierung eines ursprünglich rein dogmatischen Vorstellungsgehaltes reflektiert sich der Wandel der Rolle der Kirche im Prozeß moderner gesellschaftlicher Differenzierung.«55 Die dogmatische Theoriebildung reagiere auf gesellschaftliche Entwicklungen und Problemlagen. So lasse sich in der reformierten Dogmatik, die seit Calvin jenes dritte Amt Christi vertritt, der Einfluss externer Faktoren auf die dogmatische Theoriebildung in der Begrenzung des prophetischen Wirkens der Welt gegenüber erkennen (bei den altreformierten Dogmatikern im 16./17. Jh.), welches »auf eine Gesamtprophetie der Kirche gegenüber der Welt«56 zurückgenommen werde. Nur vor dem Hintergrund der kirchenpolitischen Problematik charismatischer Einzelgestalten sei diese Entwicklung verständlich. Jedoch handle es sich nicht um ein einseitiges Bedingungsverhältnis der Theologie durch den jeweiligen gesellschaftlich-politischen Kontext, denn die Auffassung der reformierten Christologie, Christus handle über die Einzelnen seiner Kirche in der Welt, sei zugleich die Begründung »jener egalitär-demokratischen und politisch-aktivistischen Grundhaltung, wie sie für den reformierten Protestantismus bis in die unmittelbare Gegenwart hinein kennzeichnend und für die moderne politische Kultur Westeuropas so folgenreich geworden ist«.57 Demgegenüber habe die mit der Ubiquität Christi rechnende lutherische Christologie, deren »Quietismus« oftmals kritisiert wurde, einen anderen Einfluss auf die gesellschaftliche Wirklichkeit: »Die Omnipräsenz des erhöhten Christus in der Welt bedeutet primär eine theologische Aufwertung der gegenüber der empirischen Kirche selbständigen Kultur, sie bein-
52
GRAF, Vom Munus propheticum, 88. Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd., 90. 57 Ebd., 91. 53
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haltet eine relative Selbständigkeit der Welt.«58 So sei dem Luthertum der Gedanke einer »direkten Entsprechung« von Christologie und Ekklesiologie unmöglich, d.h. in der Ekklesiologie könne die Kirche nicht als »exklusives Subjekt der Realisierung christokratischer Ansprüche«59 auftreten. Die römisch-katholische Lehre schließlich erhebe jenen genuin protestantischen Topos erst im 20. Jahrhundert zur »verbindlichen Kirchenlehre«, die einem eindeutig bestimmbaren Zweck diene: »der Stärkung der Identität der Kirche im ausdrücklichen Gegensatz zu einer neuzeitlichen Lebenswelt, die sich von den traditionellen ethischen Prädominanzansprüchen der Kirche über Kultur und politisches Gemeinwesen emanzipiert hat«.60 Mit der Bestimmung des päpstlichen Lehramtes vom prophetischen Amt her gewinne dieses »jene antipluralistische Autoritätsstruktur, wie sie mit dem I. Vatikanum kanonisiert worden ist«.61 Die damit verbundene »ethische Infallibilität« und die »ethische Prärogative über die Gesellschaft« führen Graf zu Feststellung: »Die moderne römisch-katholische Ekklesiologie weist vielfältige strukturelle Affinitäten zu einer Elitetheorie auf.«62 Vor dem Hintergrund solcher »Elitetheorie« werde nunmehr auch die Dominanz des »prophetischen Amtes« in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts verständlich. Die Theologen versuchten, der »Relevanzkrise der Kirche als Institution« in der neuzeitlichen Gesellschaft durch »eine Neudefinition der Subjektivität der Kirche gerecht zu werden«.63 Jenseits konfessioneller Widersprüche wird das »prophetische Amt« zu einem funktional eingesetzten Gemeinplatz dieser Zeit. Gegenüber »den Heiligenlegenden des ›politischen Linksbarthianismus‹« sei festzuhalten, dass auch konservative Neulutheraner mit gänzlich anders gelagerten Interessen, keinesfalls also nur Barth und Tillich, vom Munus propheticum Gebrauch machten.64 Die theologische und politische Heterogenität der jeweiligen Begründungen und Urteile, nach 1945 auch innerhalb »jener Gruppen in der ›Bekennenden Kirche‹, die wesentlich von der Dahlemer Synode geprägt sind«,65 dient Graf als Erweis der bloß funktionalen Bedeu58
Ebd. Ebd. 60 Ebd., 93. 61 Ebd., 94. 62 Ebd. Das Verständnis der Prophetie wandelt sich damit grundlegend: »Bedeutete Prophetie einst die kritische Infragestellung der Institutionalität der Kirche, so dient sie nun gerade der Stärkung kirchlicher Identität im Gegenüber zur modernen Kultur.« (ebd.). 63 Ebd., 95. 64 Ebd.: »Weder ist die Vorstellung vom Wächteramt Sondergut einer dem religiösen Sozialismus verpflichteten antibürgerlichen theologischen Tradition, noch reflektieren sich in ihr nur die historischen Erfahrungen des Kampfes der Bekennenden Kirche gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik.« (im Original hervorgehoben). 65 Ebd., 96 (im Original hervorgehoben). 59
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tung jener Lehre. Karl Barth, etwa in seiner Kritik gegen Otto Dibelius,66 scheine zwar jenem Klerikalismus zu widersprechen – dennoch: die von der Lehre vom prophetischen Amt beanspruchte »ethische Autorität und analytische Generalkompetenz«, der »geschichtliche Weitblick« und die »praktische Überlegenheit« leisteten zwangsläufig eben jenem Klerikalismus Vorschub.67 Das Problem, welches bereits in der altreformierten Dogmatik zur Entschärfung der Lehre führte, nämlich wie das mit prophetischem Anspruch auftretende Subjekt einen Legitimitätserweis erbringen könne, drohe in der neueren Theologie »nun durch ein dezisionistisches Diktat überspielt zu werden«:68 »Weder muß der Prophet Kompromisse mit der Realität schließen, noch sich der eigenen Rationalität der Institutionen anpassen.«69 Auch die vernünftige Ausweisbarkeit sei nicht möglich, insofern der Diskurs nicht gelöst »von den eigenen autoritativen Vorgaben der Propheten« 70 geführt werden könne. Jeder theologischen Begründungsfigur einer Lehre vom »prophetischen Amt« wird durch eine noch weitergehende Verschärfung in der Darstellung der im Hintergrund stehenden Dominanzinteressen der Boden entzogen: »In der radikalen Kompromißlosigkeit seines Handelns ist der Prophet aber nur eine Traumgestalt spezifisch bürgerlicher Sehnsüchte. Hinter der Maske des antibürgerlichen Protests verbirgt sich ein radikal autonomes Handlungssubjekt.«71 Wie nunmehr das Prophetenbild von Wellhausen und Duhm sich nur vor dem Hintergrund von »Thomas Carlyles bürgerlichem Heldenkult angemessen verstehen« lasse, so könne man »auch das heroische Pathos von unbedingter Entschiedenheit, welches in der Theologie der zwanziger und dreißiger Jahre die Propheten auszeichnet, nur im Horizont der zeitgeisttypischen Sehnsucht nach einem starken Führer zureichend verstehen«.72 Als Beispiel hierfür dient, wie später noch öfters, die Rezeption Carl Schmitts durch den reformierten Schweizer Theologen Alfred de Quervain. 66
Vgl. ebd., 97. »Unter dem Eindruck von Barths theologischem Grundinteresse, zwischen der Universalität Christi und der Partikularität der Kirche strikt zu unterscheiden und dadurch alle Klerikalisierung der Gesellschaft als theologisch illegitim zu erweisen, wird dieser Vorsprung in allen Lagern der neueren protestantischen Theologie dann zwar gern als ›Dienst‹ oder gesellschaftliches Diakonat der Kirche an der Welt bestimmt. Aber zumeist geht es hier dann weniger um fromme Demut, als vielmehr um neue theologische Allzuständigkeit und kirchliche Omnipotenzansprüche. Der Wächter hoch oben auf der Zinne weiß sich jenen Niederungen der gesellschaftlichen Realität, in denen wir armen Durchschnittsmenschen uns tummeln müssen, unendlich überlegen. Er kann selbst bei Barth, der Endlichkeit und Fehlbarkeit des prophetischen Zeugnisses der Gemeinde hervorhebt, die Rätsel der gegenwärtigen Weltlage lösen und die Zeichen der Zeit deuten.« (ebd.). 68 Ebd., 97. 69 Ebd., 98. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd. 67
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Der Ausweg aus jenen Bevormundungsinteressen führte indes über die Anerkenntnis und Anwendung »rationaler Kritik«: Dies bedeutet vor allem die Anerkenntnis einer theologischen Legitimität des Endes einer kirchlich dominierten Einheitskultur. Weder hat die Kirche ein Monopol auf Sinnstiftung noch ist sie das einzige Subjekt ethischer Orientierung und gesellschaftlicher Integration. Der moderne Pluralismus hat eine eigene theologische Qualität. Dann muß das Pathos prophetischer Kompromißlosigkeit von jener kritischen Sensibilität für die innere Vielgestaltigkeit der Welt abgelöst werden, die Voraussetzung des ethischen Kompromisses und insofern auch eine Bedingung der Demokratiefähigkeit der Kirche ist.73
In jedem Fall bedeutet die aufgezeigte Entwicklung der Inanspruchnahme des Munus Propheticum eine »Perversion der Christologie«:74 Denn wo einst das Selbstzeugnis der Versöhnung dargestellt wurde, werden nun permanenter Kampf und Stärke beschworen, und wo ursprünglich die Entäußerung Gottes an den sündigen Menschen und seine endliche Welt thematisch war, wird nun ein spezifisch neuzeitlicher theologischer Titanismus inszeniert: die Absolutsetzung eines faktisch nur partikularen Handlungssubjekts.75
D.h. insbesondere die Theologie Barths, die augenscheinliche Infragestellung des Titanismus des neuzeitlichen Subjekts, gerät unter der Hand zur Inszenierung eines anderen Partikularsubjekts »Kirche/Prophet«. Indem nun aber die prophetische Kritik sich »mit ihrer theologischen Voraussetzung […] gleichschaltet«, gehe ihr selbst das »Jenseits prophetischer Kritik«, also der »theologische[] Ort kritischer Distanz zu faktischen Kritikansprüchen«,76 und damit die Unterscheidungsfähigkeit zwischen wahrer und falscher Prophetie, verloren. Der von Graf programmatisch geforderte Ausweg besteht in der »frommen Selbstbegrenzung«, die von einem »Pluralismus der Wirkungsweisen des erhöhten Christus« ausgeht und gerade daher mit Max Weber »das Wissen präsent [hält], daß kein Wahrheitsanspruch mit der Wahrheit selbst differenzlos identisch ist«.77 In dieser Studie wird exemplarisch deutlich, dass für Graf die jeweilige Zeitgeschichte, insbesondere deren ethische und politische Orientierungsprobleme, erheblichen Einfluss auf die Deutung theologischer Gedankengänge haben. So verfolgt die Theologie mit dem Rekurs auf das prophetische Amt ein eminent politisches Interesse. Es geht – im Gegensatz zum
73
Ebd., 99. Vgl. ebd. 75 Ebd. 76 Ebd., 100. 77 Ebd. 74
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Wagnerschen Zugang – nicht um die Konstruktion des Absoluten, sondern um die Verabsolutierung einer Position. Ein weiteres Beispiel und zugleich die exemplarische Grundlegung des hier in Anspruch genommenen Interpretationshorizonts stellt Grafs Habilitationsschrift Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie dar, innerhalb derer die Zuordnung von Theonomie und Autonomie78 durch historische Untersuchungen zu Wilhelm Traugott Krug, Julius Müller, Otto Pfleiderer und Hans Lassen Martensen erörtert wird. Im Ergebnis stellt Graf zwei unterschiedliche Verwendungsweisen des Begriffs seit dem 19. Jahrhundert heraus: historisch primär diene der Begriff in kantianischer Tradition zur »konstruktiven Stärkung vernünftiger Autonomie«.79 Demgegenüber könne der Begriff historisch sekundär im Rahmen einer »dichotomische[n] Opposition von Autonomie und Theonomie, derzufolge die Gottesgesetzgebung ein Ensemble spezieller religiös-sittlicher, vernunftunabhängiger Normen repräsentiert«,80 Verwendung finden. Damit steht unter dem Leitbegriff der Theonomie zwischen protestantischem Liberalismus und protestantischem wie römisch-katholischem Konservativismus die Frage einer theologischen Legitimität der modernen Kultur zur Verhandlung. Das Ziel der konservativen Verwendung eines substantialistischen Theonomiebegriffs liegt dabei in einer »kirchlichen Heteronomie der Kultur«:81 »um der Lex Dei Geltung zu verschaffen, muß die Kirche als primäres oder sogar einziges Subjekt des Wissens um wahre ethische Verbindlichkeit alle Sphären der Kultur zu dominieren bzw. deren eigene Gesetze unter das eine Gesetz Gottes zu stellen versuchen«.82 Wie bereits die Rede vom prophetischen Amt so kennzeichnet auch die Verwendung des Theonomiebegriffs ein »positioneller Plural«.83 Seine Verwendung sei nur 78 GRAF, Theonomie, 11: »›Theonomie, Gottesgesetzlichkeit, ist Grundbestimmung der Religion.‹ [zit. H. BLUMENBERG, Art. Autonomie und Theonomie] Trifft diese lapidare Feststellung Hans Blumenbergs zu, dann signalisiert der Theonomiebegriff ein zentrales Problem neuzeitlicher theologischer Ethik: das Problem der Vermittelbarkeit der Lex Dei der Tradition mit der modernen Auslegung ethischer Verbindlichkeit als vernünftiger Autonomie. Läßt sich sittliche Normativität allein durch ein der menschlichen Vernunft vorgegebenes und materialiter eigenständiges göttliches Gesetz gewinnen? Oder vermag christliche Theologie sich die Vorstellung der Erzeugung ethischer Verbindlichkeit aus vernünftiger Selbstbestimmung produktiv anzueignen? Sind Autonomie und Theonomie überhaupt Gegenbegriffe, oder ist Theonomie ein theologischer Korrespondenzbegriff zu Autonomie? Ist Theonomie ein der Vernunft extern gegebenes Ensemble von normativen Inhalten oder eine religiös vermittelte Auslegung der Formalstruktur von Autonomie?« 79 GRAF, Theonomie, 19. Diese Begriffsverwendung finde sich auch bei Troeltsch (ebd., 14). 80 Ebd., 19. Korrespondierend dazu lasse sich eine dichotomische Verhältnisbestimmung in »religionskritischer philosophischer Ethik« feststellen, die ihrerseits Theonomie im Sinne von Heteronomie als Gegenbegriff zu Autonomie versteht (ebd., 14). 81 Ebd., 19f. Beide Verwendungsweisen können insofern als präskriptiv und deskriptiv voneinander unterschieden werden (vgl. ebd., 20). 82 Ebd., 20. 83 Ebd.
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vor dem Hintergrund des Anspruchs kirchlicher Kreise auf die Rolle einer »Avantgarde der Gesellschaft«84 zu erklären. Seine antiliberale Wirkungsgeschichte münde etwa bei Otto Piper in die »Gefahr einer objektivistischen Gleichschaltung göttlicher Autorität mit gegebenen kulturellen Werten«.85 Die Konsequenzen für die Interpretation der Theologie Karl Barths deutet Graf im Rahmen seiner Untersuchung nur knapp an.86 Barth habe sich im Gegensatz zu seinen kantianischen Anfängen seit dem Unterricht in der christlichen Religion »mit antiliberalem Mut zur Autorität«87 bekannt. Innerhalb der Kirchlichen Dogmatik stelle sodann der »›von oben … her‹« als Theonomie erschlossene Zusammenhang von »Autonomie und Heteronomie« einen »begriffsstrategisch gezielte[n] Akt der Indifferenzierung der überkommenen antithetischen Fixierung von Autonomie und Heteronomie zugunsten eines christologisch etablierten dritten Ortes [dar], von dem her der ›intime Zusammenhang von Theonomie und Autonomie‹,88 wie er in der Erwählung Jesu Christi sich ereignet, sogar noch das vermeintlich andere der göttlichen Souveränität integriert und ›Theonomie‹ sich als ›Gottesherrschaft‹ ›auf der ganzen Linie‹89 auslegen läßt«.90 Durch dieses Gefälle ergebe sich auch für Barth nunmehr die Notwendigkeit, »die kirchentheologische Ethik deshalb im Sinne einer Elitetheorie« zu konzipieren, »derzufolge in erster Linie die Kirche Subjekt wahrer ethischer Orientierung ist«.91 »Insoweit« – so schließt Graf seine knappen Ausführungen – »bestehen zwischen Barths Auslegung von Theonomie und dem Begriffsgebrauch der lutherischen Schultheologen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bemerkenswerte Kontinuitäten«.92 Das Konzept einer impliziten Elitetheorie erhellt somit die »ekklesiologische Funktionalisierung«93 des Theonomiebegriffs. Eine implizite Elitetheorie, die im Rahmen der Untersuchung im Denken von Müller und Martensen nachgewiesen werden soll, stelle eine spezifisch moderne Erscheinungsform dar:
84
Ebd., 25. Ebd., 29. Dabei habe sich die historisch primäre konstruktive Verwendung des Begriffs letztlich nicht gegen die sekundäre Verwendung durchsetzen können. Vgl. dazu ebd., 26: »Einst ein emphatischer Leitbegriff für liberaltheologische Offenheit der modernen Kultur gegenüber ist der Begriff von theologischen Repräsentanten dezidiert liberalismuskritischer kirchlicher Heteronomieprogramme nun so erfolgreich besetzt worden, daß ein Liberaler wie Baumgarten ihn seinen theologischen Gegnern 1921 preisgibt.« 86 Ebd., 31–33. 87 Ebd., 32. 88 Zitiert wird BARTH, KD II/2, 202. 89 Zitiert wird BARTH, KD II/2, 39. 90 GRAF, Theonomie, 32f. 91 Ebd., 33. 92 Ebd. 93 Vgl. ebd., 25. 85
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So wie in den negierten Autonomietheorien jeweils bestimmte Klassen, Parteien, politische Eliten, Bewegungen oder gegenkulturelle Avantgardegruppen zu Bewußtseinsträgern des Vorgriffs auf einen vollkommeneren Geschichtszustand bzw. zu Agenten seiner Realisierung erklärt werden, so wird in den theologischen Gegenentwürfen ein speziell religiöses Subjekt, zumeist die Kirche, zu diesem starken geschichtlichen Handlungssubjekt erklärt. Die theologische Ekklesiologie stimmt ihrer Struktur nach dann mit den theologisch perhorreszierten Positionen neuzeitlicher Autonomie perfekt überein: die Kirche wird mit einer exklusiv gedachten Handlungskompetenz ausgestattet, sie allein vermag einer als ethisch orientierungslos behaupteten pluralistischen Gesellschaft verbindliche Normen zu geben, und sie soll als elitäres Subjekt ethischen Wissens zugleich auch der wichtigste kulturpraktische Träger des intendierten gesamtkulturellen Fortschrittes sein.94
Die Überlegenheit des Theonomiebegriffs in kantianisch formalethischer Fassung gegenüber seiner konstitutionstheoretischen Fassung, die durch den Konservativismus repräsentiert werde, ist somit für Graf evident. Ist ersterer dazu in der Lage, eine »theologische Qualifikation von Autonomie«95 im Sinne von deren kritischer »Selbstbegrenzung«96 zu entwickeln, inhäriert der konstitutionstheoretischen Fassung des Begriffs eine Tendenz zur Auflösung der Relation von Grund und Gegründetem in eine absolute Position […]: entweder wird um der Absolutheit des Grundes willen die relative Selbständigkeit des Gegründeten aufgehoben; oder der Grund wird zur bloßen Funktion des Gegründeten herabgesetzt und dieses unmittelbar verstärkt.97
Den zur Kritik befähigenden Hintergrund bilden hier unverkennbar die bereits von Falk Wagner im Rahmen der Absolutheitstheorie vorausgesetzten Kriterien. Der beanspruchte »absolute Ort« der Reflexion entgleitet aber den Vertretern eines konstitutionstheoretischen Verständnisses von Theonomie, insofern sie »der Gefahr der Funktionalisierung von Theonomie auf die Verstärkung und tendenzielle Absolutsetzung einer endlichen Position hin«98 unterliegen. Damit aber sei sie auch am ›klassischen‹ theologischen Problemniveau gemessen illegitim, da sie auf die »Verabsolutierung von Endlichem«99 hinausliefe. Die Rückkehr zur ursprünglichen Verwendung des Theonomiebegriffs ist darum die notwendige Konsequenz der Studie: Theonomie strikt formalethisch auszulegen, ist gerade aus der eigenen Logik der Theologie geboten. Denn der innere Sinn von Theonomie, die Kritik der Perversion von Freiheit zu Willkür bzw. zu abstrakt-unmittelbarer Selbstdurchsetzung, ist hier in die innere Struktur von Autonomie selbst eingeholt. Nichts belegt dies so deutlich wie 94
Ebd., 239. Ebd., 232 (im Original hervorgehoben). 96 Ebd., 233. 97 Ebd., 233f. 98 Ebd., 234. 99 Ebd., 237. 95
Theologie als implizite Elitetheorie
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die durch den Verzicht auf eine materiale Fixierung von Theonomie ermöglichte Fähigkeit zum Pluralismus.100
Graf zeigt sich hier folglich bemüht, auf historischem Wege die liberalismuskritische Verwendung des Theonomiebegriffs als seiner ursprünglichen »liberalen« Verwendung gegenüber sekundäre zu erweisen, wobei diese historische These durch die systematische ergänzt wird, dass die Theonomie keinen der durch die Autonomie bezeichneten Problemlage enthobenen Standpunkt darzustellen geeignet ist. Das Vorgehen, die Verwendung theologischer Gehalte funktional auf die Interessenlage der Theologie bzw. ihrer Trägerschaft zu beziehen, zeigt deutlich eine Anknüpfung an Rendtorffs frühe Gedankengänge. 101 Die scheinbare materialtheologische Orientierung wird hier auf eine eigentliche Funktion hin transparent gemacht, deren Ziel in der unmittelbaren Einwirkung auf gesellschaftliche und kirchliche Prozesse zu sehen ist – implizit wird so vor allem diejenige Theologie kritisch beurteilt, die im Anschluss an den Kirchenkampf ein Wächteramt der Kirche reklamiert. Der neuzeittheoretische Horizont, der bei Rendtorff als Hintergrund die Theologiegeschichte als Teil der fortschreitenden Freiheitsgeschichte der Neuzeit zu begreifen erlaubte, wird indes von Graf verlassen. Insofern wird aus der begriffenen Geschichte Geschichte, wie sie sich dem positionell perspektivierten Blick des Historikers darstellt. Rendtorff hatte das Niveau der Christentumstheorie durch die Aufhebung der Troeltschen Aporie im Rekurs auf das Denken Hegels erreicht. Dieses konstruktive Interesse verfolgt Graf nicht, sondern übernimmt von Troeltsch, wie sich im Folgenden zeigen wird, allein das diagnostische Instrumentarium. Er löst sich damit von jenem Troeltschen Diktum zur Aufgabe der Geschichtsphilosophie, welches zugleich die zwischen Rendtorff und Wagner aufbrechende Differenz markiert: Die großartigste Lösung dieser Aufgabe liegt bisher in der Hegelschen Lehre vor. Da aber diese Lehre auf einer in dieser Gestalt und Begründung unhaltbaren rein metaphysischen Konstruktion der Weltvernunft und auf dem ihr immanenten logischen Gesetz der Vernunftdialektik beruht, so ist das Ziel Hegels zwar festzuhalten, aber 100
Ebd., 238. »Denn die tolerante Anerkennung faktischer Differenz ist als ein lebensweltlicher Ausdruck des Vermögens zu kritischer Selbstbegrenzung von Autonomie, also als eine Konkretionsgestalt von Theonomie zu verstehen. Im Pluralismus individueller Freiheitsvollzüge drückt sich genau jene Relativität endlicher Freiheit aus, die religiöses Bewußtsein durch die Darstellung der Unaufhebbarkeit der Differenz von Gott und Mensch präsent hält.« 101 Vgl. dazu RENDTORFF, Gesellschaftsbildende Aufgaben und Möglichkeiten, 526: »Wo die Gemeinde meint, die Rede von der Christusherrschaft sei eine Rede von einem ihr gegebenen Auftrag, ihrer Verwirklichung befohlen, da wird die Christokratie eben zur Möglichkeit des Christseins und die Christologie zur Funktion einer in den Himmel projizierten und von dort in der Entscheidung aktualisierten radikalsten Form der Autonomie.«
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Historisierung (F.W. Graf)
seine Erreichung auf anderen logischen und methodischen Wegen zu erreichen. Ohne Metaphysik wird es auch so nicht abgehen, aber es wird eine Metaphysik des Rückschlusses aus den Tatsachen und nicht eine deduktive Metaphysik des Absoluten sein müssen.102
4. Die Historisierung Barthscher Theologie 4.1 Das Programm der Historisierung In der Habilitationsschrift und der Studie zum Munus propheticum unterscheidet sich das Grafsche Vorgehen deutlich von einem rein ideen- bzw. begriffsgeschichtlichen Vorgehen. Anknüpfend an »Fragestellungen der neueren philosophischen und geschichtswissenschaftlichen Begriffsgeschichtsdebatte«103 werde »der jeweilige gesellschaftliche und politische Kontext«104 berücksichtigt. Der sich daraus ergebende »methodische Pluralismus« diene dem antireduktionistischen Interesse, in der Vermittlung von Konzept und Kontext zugleich auch das Wissen um deren Differenz präsent zu halten. Denn so wenig sich theologische Vermittlungs- bzw. Integrationsansprüche unter Abstraktion ihres Kontextes rekonstruieren und theologisch beurteilen lassen, so wenig gehen sie darin doch auf: gerade theologische Theorien sind von ihrer lebensweltlichen Umsetzung immer auch relativ unabhängig. 105
Dieses methodische Vorgehen der Interpretation theologischer Entwürfe in enger Bezogenheit auf gesellschaftliche und kulturelle Problemlagen wird von Graf in der Folgezeit programmatisch als Historisierung entfaltet. Neben der Aufnahme neuerer geschichtswissenschaftlicher Debatten ist damit die Revitalisierung des Werks von Ernst Troeltsch innerhalb der Theologie verknüpft, dessen Verdienst darin besteht, Bedeutung und Konsequenzen der historischen Methode insbesondere im Blick auf den Geltungsanspruch als normativ vertretener Theorien aufgezeigt zu haben. Troeltsch hebt bereits die Bedeutung der Aufnahme soziologischer Einsichten in der Geschichtswissenschaft hervor106 und gehörte zu den bedeutendsten Vertretern der Historismusdebatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dass dieses von Graf im Anschluss an Troeltsch angewandte methodische Verfahren bereits einen Widerspruch gegen Tendenzen der Theologie des 20. Jahrhunderts 102
TROELTSCH, Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, 31. GRAF, Theonomie, 36. 104 Ebd., 37. Dazu würden etwa das »jeweils zugrundeliegende Neuzeitverständnis« und die »politisch-soziale Erfahrungswelt des jeweiligen Autors« hinzugezogen. 105 Ebd. 106 Vgl. TROELTSCH, Die Krisis des Historismus, 253–256. 103
Antihistorismus nach E. Troeltsch
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und die Theologie Barths im besonderen impliziert, ist Graf durchaus bewusst: Antihistorismus nach E. Troeltsch Die bewußte Betonung der Eigenständigkeit der Theologie gegenüber anderen historischen Kulturwissenschaften, wie sie im Gefolge der dialektischen Theologie die deutschsprachige Theologie der Gegenwart weithin bestimmt, hat auch eine methodische Engführung in der Theologiegeschichtsforschung bewirkt.107
Den Wert der im Zuge dieser Engführung geleisteten »ideengeschichtlichen Erschließung der neueren Theologiegeschichte« keineswegs leugnend, hebt Graf jedoch die Problematik der »Abblendung all jener sozialgeschichtlichen Fragestellungen, die die Wissenschaftsgeschichtsforschung außerhalb der Theologie prägen«, hervor, »[d]enn die Produktion von Theologie ist niemals rein als ein einsamer Schaffensprozeß des einzelnen Theologen zu verstehen«.108 Theologiegeschichtsschreibung hat daher für Graf das Gesichtsfeld dem jeweiligen historischen Kontext theologischer Theoriebildung gegenüber zu erweitern, der in kulturell-politischen Frontstellungen oder etwa der sozialen Trägergruppe eines theologischen Entwurfes bzw. dessen Rezeption seine konkrete Form gewinnt. Das Ziel solcher Theologiegeschichtsschreibung als Historisierung liegt in einer Anreicherung der Darstellung um bestimmende Faktoren, die nicht in einem theologischen Binnendiskurs aufgehen bzw. in dessen ›unhistorischer‹ Perspektive überhaupt nicht erst in den Blick gelangen, die jedoch entscheidenden Einfluss auf Gestalt und Inhalt eines Theorieentwurfs selbst wie auf dessen Rezeption haben.
4.2 Die antihistoristische Revolution nach Ernst Troeltsch Neben der Programmatik des historiographischen Zugangs zur Theologiegeschichte ist das Troeltsche Œuvre für die Grafsche Barthdeutung noch in einem weiteren Aspekt von entscheidender Bedeutung. Troeltsch als Krisendiagnostiker des Protestantismus um die Jahrhundertwende par excellence bringe eben jene Krise zur Darstellung, die die Voraussetzung der dialektischen Theologie als »Theologie dieser Krise« bilde. Die Entwicklung radikaler Positionen als Folge der allgemeinen Krise habe Troeltsch wahrgenommen und ihre Motive und Charakteristika aufgezeigt, dies freilich mit dem Urteil verbunden, dass das »Prophetentum« eher Ausdruck als Lösungsversuch der Krise darstelle. So erweist sich für Graf nunmehr die Troeltsche Diagnose als grundlegend für das Verständnis der dialektischen 107 108
GRAF, Protestantische Theologie und die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft, 11. Ebd.
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Historisierung (F.W. Graf)
Theologie. Sie ermöglicht von einer überlegenen Position aus zugleich deren Beurteilung und Überwindung. Ein Beispiel der Troeltschen Krisendiagnose sei im Folgenden gegeben: Das Uebermaß der Intellektualisierung alles Lebens, verbunden mit der Unübersichtlichkeit und Zersplitterung der spezialisierten Wissenschaft, die relativistische Gebrochenheit eines alles historisierenden und psychologisierenden und damit die eigene Produktionskraft lähmenden Triebes der Selbsterklärung, vor allem aber die ungeheure Mechanisierung des Lebens durch den Kapitalismus und den modernen Riesenstaat: all das hat gegen Ende des Jahrhunderts eine Bewegung zur Innerlichkeit, Einheit und Produktionskraft, zum vertieften Individualismus und gleichzeitig zu einer verinnerlichten und verstärkten Gemeinsamkeit hervorgerufen, in der der eigentliche Geist des Jahrhunderts erst zu seinem vollen Ausdruck kommt. Aehnlich wie Rousseau, der Neuhumanismus, die Romantik und der Nationalstaat als Reaktion gegen den Geist und die Kultur der Aufklärung und des ihr entsprechenden utilitaristischen Absolutismus waren, so folgt der Entwicklung des demokratisch-kapitalistisch-imperialistischtechnischen Jahrhunderts die Kulturkritik. Sie knüpft naturgemäß an allerhand bestehende geistige Ueberlieferungen an, erneuert bald Romantik, bald den klassischen Neuhumanismus, bald die Renaissance und Antike, bald das germanisch-mittelalterliche Ideal. Sie gibt sich bald als künstlerische, bald als philosophische, bald als soziale und schließlich als religiöse Wiedergeburt, ist aber niemals eine einfache Repristination, sondern stets durch den inzwischen gebildeten Gegensatz des mechanistischen Jahrhunderts bedingt. Es ist viel mehr ein Drang nach einem der neuen Lage angemessenen und zugleich sie innerlich überwindenden aktiven und produktiven Geiste als eine eigentliche Wiederaufnahme. Es ist eine geistige und soziale Revolution von den allerverschiedensten Ausgangspunkten her und in der Richtung auf die widersprechendsten Ziele hin, aber überall geeint durch den instinktiven Gegensatz und durch das Gefühl eines neu emportauchenden geistigen Gehaltes; unfertig und unklar, keineswegs ihres Zieles gewiß und daher oft in Skepsis, Blasiertheit und Sophistik zurücksinkend; vor allem überaus gegensatzreich und darum schwer in ihrer wirklichen Entwicklungsrichtung abzuschätzen; aber in alledem doch eine auf die letzten Grundlagen gehende Kritik und durch eben diese Kritik auch gegenüber Romantik und Neuhumanismus, Nationalismus und demokratischem Sozialismus ein wirklich neuer Geist.109
Es sind Passagen wie diese, die Graf seiner Deutung der theologischen Neuaufbrüche in den 20er Jahren zugrunde legt. Bereits Troeltsch forderte eine »historische Kontextualisierung« der unterschiedlichen Erscheinungen jener »geistigen Revolution«, wodurch diese freilich entgegen ihrem Anspruch auf Novität »von vornherein relativiert«110 würden. Der Horizont, den Troeltsch dieser Historisierung eröffnet, ist zunächst weit gefasst als »Krise der modernen okzidentalen, kapitalistischen Kultur«,111 welche etwa 109
TROELTSCH, Das Neunzehnte Jahrhundert, 641f; DERS., Die Revolution in der Wissenschaft. GRAF, Kierkegaards junge Herren, 178. 111 Ebd., 175. 110
Antihistorismus nach E. Troeltsch
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seit 1890 feststellbar und als »Krise des Historismus« zu verstehen sei. Innerhalb dieser krisenhaften Entwicklung habe der Erste Weltkrieg faktisch keine völlig neue Qualität der Negativitätserfahrungen der gegebenen Kultur mit sich gebracht, sondern nur das Krisenbewußtsein potenziert und radikalisiert, das bereits von den diversen Kulturreformbewegungen der Gebildeten einerseits und bestimmten sozialistischen Theoretikern andererseits artikuliert worden ist.112
Troeltschs Leistung selbst liege wesentlich in der Mitwirkung an einem Transformationsprozess, welcher nicht zuletzt dem »politisch-sozialen Umbruch vom wilhelminischen Obrigkeitsstaat zur liberal-sozialstaatlichen Demokratie von Weimar«113 korrespondierend eine »geistige Revolution« – freilich nicht im Sinne derjenigen der »Jugend« – zur Seite stellen sollte. Graf stellt vier Merkmale der Troeltschen Diagnose jener vor allem in einer Anti-Haltung gegenüber der religiös und kulturell zersplitterten Gesellschaft und Wissenschaft, die »einseitig von der industriellen Rationalität der Weltbeherrschung«114 dominiert werde, verbundenen Versuche heraus: Diese strebten (1) eine »neue Kultursynthese« an, wobei Uneinigkeit darüber bestehe, welches Teilsystem die Ökonomie ablösen solle – die Religion stelle nur eine Möglichkeit unter anderen dar. Sodann handle es sich (2) um ein »gesamteuropäisches Phänomen«.115 Das Phänomen sei (3) historisch zu kontextualisieren, was Troeltsch durch den Bezug auf die »kulturkritischen Traditionen des 19. Jahrhunderts« und den »Gebrauch von Neo-Bildungen« wie »Neoromantik, Neokonservativismus […]« verdeutliche.116 Schließlich (4) handle es sich bei der geistigen Revolution keineswegs um ein »generell antimodernes Phänomen«, denn ihre Vertreter »repräsentieren vielmehr eine bestimmte Auslegungsgestalt von Modernität bzw. materialer neuzeitlicher Rationalität«.117 Eine im Anschluss an Troeltsch vorgenommene Deutung und Kritik der geistigen Revolutionsversuche der jüngeren Generation umfasst diese daher in einem denkbar weit gespannten Zirkel. So sind als Vertreter der Theologie die ›dialektischen Theologen‹ ebenso inbegriffen wie Vertreter des Neuluthertums und etwa auch Emanuel Hirsch, darüber hinaus werden philosophische Theorieentwürfe und moderne Kunst und Literatur118 von 112
Ebd. Ebd., 191. 114 Ebd., 176. 115 Ebd., 177 (im Original hervorgehoben). Vgl. TROELTSCH, Die Revolution in der Wissenschaft, 318f. 116 GRAF, Kierkegaards junge Herren, 179. 117 Ebd., 179. Eine Parallele sieht Troeltsch in der Romantik: »Diese war nicht bloß Gegenaufklärung und Restauration, sondern radikalisierte, wie Troeltsch insbesondere in Hinblick auf das romantische Individualitätspathos betont, gerade bestimmte Elemente neuzeitlichen Bewußtseins.« (ebd.) 118 Hier insbesondere der sog. »George-Kreis«. 113
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Historisierung (F.W. Graf)
Troeltschs Analyse erfasst. Zwar lasse sich bezüglich Trägerschaft und Zielen keine einheitliche Gruppe rekonstruieren, jedoch erkenne Troeltsch »[b]ei aller Verschiedenheit der Ausdrucksgestalt […] gemeinsame Grundmotive und -themen«.119 Zwei Hauptpunkte in Troeltschs Analyse dieser »Revolution« sind für den Fortgang von besonderer Bedeutung. Zunächst die Troeltsche Einsicht, dass deren Vertreter als Propheten- und Charismatikertum lediglich eine »krisenkomplementäre Illusion«120 ohne Realitätsgehalt verfolgten. Derartige Eliten- bzw. Sektierertheorien mit dem Anspruch auf eine neue gesellschaftlich-kulturelle Einheitsstiftung seien schlicht untauglich zur Krisenbewältigung: »Die Propheten sind nicht Strategen der Bewältigung der Krise, sondern deren Ausdruck.«121 Wiederum bietet das Modell einer »Elitetheorie« den angemessenen Zugang zur dogmatischen Materialität. Troeltsch verbinde die Kritik an deren eigener Überschätzung ihrer Reichweite mit einer prononcierte[n] Absage an alle Elitetheorien, d.h. an solche Theorien, welche den Ausstieg aus den Gehäusen der modernen Rationalität oder den Gewinn einer größeren individuellen Bewegungsfreiheit innerhalb dieser Gehäuse zur exklusiven Leistung einer neuen Aristokratie, etwa einer Aristokratie des Geistes oder einer Aristokratie der wahren Frömmigkeit erklären.122
»Recht und Notwendigkeit intellektueller Eliten« – zu denen auf seine Weise freilich Troeltsch selbst zählte – würden von ihm selbst »immer funktional begründet und insoweit auch begrenzt«.123 Sodann habe Troeltsch explizit die politischen Folgen der geistigen Revolution im Blick. So ziele sie gegenüber einer liberalen Wissenschaftskultur, die sich um die »Etablierung einer demokratisch-sozialstaatlichen Verfassungsordnung« und eine »Kultur der Liberalität« bemühe, auf »die gesamtgesellschaftliche Durchsetzung eines demokratiekritischen, postliberalen Kulturverständnisses«.124 Gegenüber derjenigen »geistigen Revolution«, die Troeltsch selbst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs mitvollzogen habe und die »in der Übereinstimmung mit der politischen Revolution«125 durchgeführt wurde, so das implizite Urteil, erweise sich die »geistige Revolution« der jüngeren Generation als unterlegen, ja geradezu als fatal, denn – so der Grafsche Troeltsch –: 119
Ebd., 176. Ebd., 182. 121 Ebd. 122 Ebd., 181. 123 Ebd. 124 Ebd., 190. 125 Ebd., 191. 120
Antihistorismus nach E. Troeltsch
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Nur in genau dem Maße, als philosophisch-theologisches Denken einen dogmatischen Monismus der Wahrheit hinter sich zu lassen und diese in ihrer Vielgestaltigkeit zu erschließen vermag, wird es jenem Überschritt in eine spezifisch moderne pluralistische Individualitätskultur gerecht, wie er in Deutschland politisch erst 1919 durch die Weimarer Reichsverfassung vollzogen worden ist.126
Es sind im Folgenden zwei Fragen, denen nachzugehen ist. Wie stellt sich (1) die dialektische Theologie und insbesondere die Theologie Karl Barths für Graf im Kontext jener »geistigen Revolution« dar, und wie sind (2) deren Konsequenzen im Blick auf eine »moderne pluralistische Individualitätskultur« zu beurteilen?
4.3 Die Theologie Barths im Kontext der antihistoristischen Revolution Obgleich die »geistige Revolution« durch eine Vielzahl von ›Anti‹Beziehungen127 miteinander verknüpft ist, wird deren Erscheinungsform innerhalb der protestantischen Theologie der 20er Jahre im Anschluss an Kurt Nowak128 näherhin als »antihistoristische Revolution« von Graf bestimmt.129 Der »relativ breite historismuskritische Grundkonsens«130 in der jungen Theologengeneration bedeute nichts anderes als die Forderung eines Paradigmenwechsels,131 um die Geschichtswissenschaft als Leitwissenschaft durch die Theologie abzulösen: Die Theologie werde »aus einer empirisch 126
Ebd., 192. GRAF, Die antihistoristische Revolution, 378: Die »Revolution ist zunächst eine antibürgerliche Protestbewegung […]. Sie ist darüber hinaus eine bewußt antiakademische Protestbewegung […]«. 128 NOWAK, Die antihistoristische Revolution. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung in Deutschland (1987). Zu früheren Kontextualisierungen vgl. bereits MEHNERT, Evangelische Kirche und Politik (1959), 5: »Für die evangelische Theologie brachte die Zeit um 1918 eine bedeutsame Wende. Sie ist gekennzeichnet durch den dritten Band von Karl Holls Gesammelten Aufsätzen, ›Der Westen‹ (1917), der die Lutherrenaissance einleitete, und durch Rudolf Ottos Buch ›Das Heilige‹ (1917) und durch Karl Barths Römerbriefkommentar (1919). Diese theologische Wende aber war kein geschichtlich singuläres Ereignis, sondern offenbar eine Teilerscheinung eines umfassenderen geistigen wie politischen Epochenwandels, der etwa mit dem Jahr 1917 einsetzte.« Zum Hinweis auf die Bedeutung des Historismus, an dem gegen die »romantische Bewegung« festzuhalten sei, auch SCHOLDER, Neuere deutsche Geschichte, 96f. 129 Der Begriff »Antihistorismus« findet sich etwa bereits bei Troeltsch. Vgl. TROELTSCH, Die Krisis des Historismus, 260. 130 GRAF, Die antihistoristische Revolution, 379. 131 Es gehe um die Ausschaltung des bisherigen Paradigmas: »Gerade für die protestantische Theologie gilt: Die antihistoristische Revolution des frühen 20. Jahrhunderts muß als Versuch einer bewußt gewollten Zerstörung von zentralen Partien des Gedächtnisses der herrschenden Wissenschaft begriffen werden. Denn die verschiedenen theologischen Antihistoristen stimmen, trotz erheblicher materialer Differenzen zwischen ihren theologischen Entwürfen, vor allem in der Forderung überein, ein neues, rein systematisches Selbstbewußtsein der Theologie jenseits gegebener geschichtlicher Vermittlungen aufzubauen.« (ebd., 382f). 127
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orientierten bzw. historisch-hermeneutischen Christentumswissenschaft zu einer deduktiven, rein systematischen ›Normwissenschaft‹ umgeformt«.132 Die Auseinandersetzung innerhalb der Theologie stelle, die »Züge eines Kulturkampfes«133 tragend, eine allgemeine Grundlagendiskussion über »das Verständnis der modernen Kultur und deren ethische Orientierung«134 dar. Deswegen, so Graf, lasse sich die Theologie der 20er Jahre nur im Kontext, bzw. als Teil jener größeren Auseinandersetzung interpretieren. Gleichwohl zeige sich aber, dass die Auseinandersetzung mit dem Historismus in der Theologie wesentlich grundsätzlicher als in »anderen Kulturwissenschaften« geführt worden sei.135 Graf beansprucht, im Rahmen seiner Interpretation die Genese des theologischen Denkens Barths im Kontext seiner Zeit und deren maßgebliche Begründungsmomente herausarbeiten zu können. Im Lichte der Troeltschen Darstellung der gesellschaftlich-kulturellen Krise ist die gesamte dialektische Theologie, verbunden mit den weiteren Neuaufbrüchen (und anknüpfend an den früheren »Antihistorismus« Overbecks und Kählers), als radikale Reaktion gegen den Historismus, aber doch zugleich als Lösungsversuch der durch ihn hervorgerufenen Krise zu verstehen, als Suche nach einem »Ort des Denkens und Handelns, der keiner geschichtlichen Relativierbarkeit unterliegen soll«.136 Die Geschichte verliere auf diesem Wege jegliche Eigenständigkeit, so gelte für Barths hermeneutische Prämissen im Römerbriefkommentar: »Im souveränen Gestus von Intuition und Unmittelbarkeit wird die Vergangenheit ihrer relativen Eigenständigkeit beraubt und zur bloßen Funktion von theologischen Gegenwartsinteressen mediatisiert.«137 Geschichte sei nur insofern von Interesse, als sie sich »einer direkten Mediatisierung auf die Gegenwart hin bzw. auf die eigene Theologie hin«138 füge. Pointiert stellt Graf in unverkennbarem Anklang an die Rendtorffsche Barthdeutung heraus: »Ziel der Barthschen Gotteslehre ist die Konstruktion eines Ortes, der nicht mehr jener Relativität unterliegt, welche für alles Endliche oder Historische konstitutiv ist.«139 Ausgehend von diesem Grundproblem der Theologie Barths ließen sich sowohl Barths Rekurs auf vormoderne Theologoumena biblisch-reformatorischer Herkunft, aber auch die immanente Entfaltung und Modifizierung seines theologischen Ansatzes verständlich machen. Übernimmt Barth zustimmend die relativis132
Ebd., 389. Ebd., 380. 134 Ebd. 135 Ebd., 388. 136 Ebd., 388. 137 Ebd., 391. 138 Ebd. Mit Hinweis auf zahlreiche frühe Barthkritiker, darunter A. Jülicher. 139 Ebd., 393. 133
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tische Zuspitzung des Historismus im Blick auf das »bloß Menschliche«, so leiste die Gotteslehre die Konstruktion eines dem Relativismus entzogenen Ortes und in ihrer trinitarischen Durchführung die »Aufhebung von Geschichte in die ›innergöttliche Geschichte‹«.140 Der Weg der Entfaltung der Barthschen Gotteslehre lasse sich der Auseinandersetzung mit dem Geschichtsproblem insofern funktional zuordnen:141 »In Aufnahme von Elementen des spezifisch calvinistischen Gottesbildes radikalisiert Barth die Differenz von Gott und Mensch deshalb zu einem absoluten Gegensatz.«142 Jedoch erweise sich Gott in dieser Entgegensetzung noch seinem Gegenteil, dem Relativen,143 verhaftet, womit Barth zu einer Weiterentwicklung genötigt werde: In mehreren Anläufen bemüht Karl Barth sich in den zwanziger und frühen dreißiger Jahre deshalb um einen solchen Begriff der Absolutheit Gottes, der diesem Einwand nicht mehr unterliegt. Dazu rekurriert er insbesondere auf die spekulativen Argumentationspotentiale der Trinitätslehre. […] Mit der Trinitätslehre sucht Barth deshalb eine rein durch ihre internen Selbstverhältnisse sich selbst erzeugende Subjektivität zur Darstellung zu bringen.144
Der Ausgangspunkt der Barthschen Theologie, das Problem der Geschichte unter dem Vorzeichen der Krise des Historismus, setzt somit eine ganze Kette von Konsequenzen in deren Entwicklung in Gang. Es ist nun bezeichnend für die Grafsche Barthdeutung als »Historisierung«, dass eine systematisch-theologische Diskussion an dieser Stelle ausbleibt. Unverkennbar jedoch ist, dass in der »Historisierung« Deutungsaspekte und Kritikpunkte wiederkehren, die aus der Wagnerschen Deutung und Kritik bekannt sind. Dies wird noch deutlicher, wenn Graf sich dezidiert den »potentiellen Konsequenzen«145 der theologischen Neuorientierung zuwendet. Zunächst gehöre in politischer Hinsicht zu den problematischen Folgen einer solchen Konstruktion eines »starken Handlungssubjekts«, dass deren dezisionistisches Element zumindest für einen Teil der Weggefährten 140
Ebd. Vgl. ebd.: »In einer bestimmten Hinsicht sind ihre [sc. der Krisenintellektuellen] neuen Gotteslehren […] höchst modern: alte dogmatische Lehrvorstellungen werden nicht einfach repristiniert, sondern im Interesse der Radikalisierung der Übergeschichtlichkeit Gottes funktional reinterpretiert.« – »Alle traditionell in einer theologischen Dogmatik verhandelten Themen wie Schöpfungslehre, Anthropologie, Erlösungslehre, Ekklesiologie etc. werden zur bloßen Funktion der Darstellung der Aseität Gottes depotenziert.« (ebd., 394). 142 Ebd., 393. 143 Insofern Gott negativ als das nicht den Bedingungen des Historismus Unterliegende bestimmt würde. Vgl. ebd., 394: »Denn auch der Gott, der über alles Relative in absoluter Souveränität erhaben ist, ist in einer bestimmten Hinsicht selbst noch relativ: er wird durch das ihm entgegengesetzte bzw. von ihm ausgeschlossene Relative negativ bestimmt.« 144 Ebd. (Hervorhebungen von mir, S.H.). 145 Ebd. 141
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Barths, namentlich Alfred de Quervain, eine Brücke zum Dezisionismus politischer Theoriebildung darstellen konnte. Es lasse sich »eine Faszination für ein allen Bedingtheiten entrücktes, voluntaristisches und kompromißloses Handlungssubjekt erkennen«.146 Sodann sei Barth zur »Theologisierung des gesamten Wirklichkeitsverständnisses«147 sowie zur Konstruktion eines »extrem monistische[n] Geschichtsverständnis[ses]« genötigt. Deren Folgen ließen den »antiliberalen« Charakter – der in seiner Wirkung binnentheologische Diskurse übersteige – erkennen: Die »Prädominanz des Allgemeinen vor dem Besonderen« liefe, »zumindest der Tendenz nach, auf eine Vernichtung der Selbständigkeit des Individuellen hinaus«, ebenso werde »die unendliche Mannigfaltigkeit individueller Geschichten […] in die eine Geschichte der ewigen trinitarischen Selbstentsprechung Gottes aufgehoben«.148 Der Verweis auf spinozistische Argumentationsstrategien Barths in der Verhältnisbestimmung von Absolutem und Individuellem zeigt deutlich den implizit vorausgesetzten Wagnerschen Hintergrund, ohne dass freilich dessen normierende Kriteriologie einer »Theorie des Absoluten« explizit gemacht würde. Die Funktionalität im Dienste des Ausschlusses von Individualität charakterisiere insbesondere die Christologie, die »innerhalb der theologischen Dogmatik gleichsam das Einfallstor für konkret individuelle Geschichte«149 bilde. Der geschichtliche Gehalt, der »historische Jesus« als exemplarischer Fall historischer Individualität, werde gezielt neutralisiert, indem er aus der Christologie durchgängig ausgeschlossen und durch »Christus« als »exemplarisches Allgemeinsubjekt«150 ersetzt werde. Barths Theologie, wie weite Teile der theologischen Entwürfe seiner Zeit, lasse sich durchgängig als Verteidigung gegen die Geschichte verstehen. Was bedeutet dies aber nunmehr für die pragmatischen Interessen, die Barths Theologie gemeinsam mit den anderen »antihistoristischen« Theologien leiten? Insbesondere die grundlegende Bedeutung, die in ihnen die »Eschatologie« erlangte, zielt für Graf darauf, den eigenen Standort dem historischen Relativismus zu entheben. Dies diene einem eminent praktischen Zweck: funktional durch die Vorstellungsgehalte der Eschatologie entfaltet werde die Gegenwart »zu einem Ort mit endgeschichtlich absoluter Entscheidungsqualität hypostasiert«,151 der radikale Kulturkritik ermögliche. Den überlegenen Standpunkt des radikalen Kritikers verschafften sich die theologischen Antihistoristen, insofern sie beanspruchten, an der – »Gott« 146
Ebd., 395. Ebd. 148 Ebd., 396. 149 Ebd., 397. 150 Ebd., 397f. 151 Ebd., 401. 147
Antihistorismus nach E. Troeltsch
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zukommenden – absoluten Souveränität teilzuhaben. Letztlich, hier liegt eine Parallelität zur späten Neufassung der Rendtorffschen These von der »radikalen Autonomie Gottes« bei Wagner, ist die exemplarische der Relativität enthobene Subjektivität die des Theologen. Im Selbstbewusstsein einer Elite zielten daher alle Antihistoristen auf einen relevanten Beitrag zur gesellschaftlichen bzw. politischen Lage, freilich in einem dem theologischen und politischen Liberalismus gegenüber veränderten Gestus: […] an die Stelle des pragmatischen Umgangs mit geschichtlich gegebenen, insofern relativen Konfliktlagen tritt das Pathos letzter Entscheidungen, politische Auseinandersetzungen gewinnen die quasireligiöse Qualität eines weltgeschichtlichen Prinzipienkampfes zwischen Licht und Finsternis, und nüchternes Sicheinstellen auf die politisch-soziale Komplexität moderner Gesellschaften wird durch die Dauerproduktion von Unbedingtheit und Kompromißlosigkeit abgelöst.152
Die strikte Ablehnung von Kompromissen und des Eingehens auf geschichtliche Gegebenheiten wiesen »strukturelle Affinitäten zu den politischen Elitetheorien der Zeit auf, d.h. zu solchen Theorien, die geschichtlichen Fortschritt mit der praktischen Durchsetzung eines gesamtkulturellen Führungsanspruches jener Gruppen identifizieren, die einen exklusiven Zugang zur Wahrheit reklamieren«.153 Letztlich, und darin liegt die Pointe der Analyse der »potentiellen Konsequenzen«, habe die »antihistoristische Revolution« – und damit auch die Theologie Barths – den Boden bereitet, auf dem verabsolutierte Subjektivität uneingeschränkt wirksam werden konnte: Denn in genau dem Maße, als die gegebene Lebenswelt enthistorisiert bzw. zu einer Welt ohne theologisch relevante Herkunftsgeschichte erklärt wird, kann sie zum Feld einer gesellschaftlichen Praxis werden, die sich an keine externen Bedingungen und Voraussetzungen mehr gebunden wissen muß.154
Das Ende der Weimarer Republik findet seinen Grund in einer geistigen Grundlagenkrise, die – so Grafs Überzeugung – die Theologie, und darunter nicht zuletzt die Theologie Barths, wesentlich mitgeprägt habe.155 152
Ebd., 403f. Ebd., 404. 154 Ebd., 405. Vgl. dazu NOWAK, Protestantismus und Weimarer Republik, 230f: »Während der seit 1922 in Deutschland lehrende Schweizer Karl Barth trotz seiner Option für sachliche Mitarbeit in der Sozialdemokratie (die allerdings aus der Perspektive des radikal Neuen und ganz anderen nur ironisch gebrochene Qualität besitzen konnte) und seines SPD-Beitritts 1931 sich politisch-ethischen Konkretionen seiner mit dem Pathos der Distanz ausgestatteten Theologie verweigerte, haben andere Vertreter des ›theologischen Aufbruchs‹ nach 1918 Theologie und Politik zu systematischen Entwürfen zusammengeführt (Religiöser Sozialismus, Luther-Renaissance, auch neu-lutherische Ordnungstheologie). Da ihnen Kompromißfähigkeit im Theologischen wie im Politischen weithin abging, ähnelten diese Entwürfe strukturell den Ideologien jener Gruppen, Bünde und Bewegungen der Weimarer Republik, die nur innerhalb ihrer eigenen Wertwelt diskursfähig waren.« 155 Vgl. auch GRAF, Die antihistoristische Revolution, 380f. 153
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Historisierung (F.W. Graf)
4.4 Historisierung als Kritik Es zeigt sich, dass Graf in der »Historisierung« der Theologie Barths bzw. der gesamten dialektischen Theologie Ernst Troeltschs Diagnose der geistigen Situation der Zeit um den Ersten Weltkrieg übernimmt.156 Die »Krise des Historismus« bildet insofern den Horizont, vor dem die unterschiedlichen Neuaufbrüche innerhalb der protestantischen Theologie im Kontext der allgemeinen Geisteslage zu deuten und im Blick auf ihre Konsequenzen kritisch zu beurteilen sind. Der Historismus, »die historistische Denkrevolution«, wird von Graf mit Troeltsch als die »entscheidende Signatur der kulturellen Moderne«157 verstanden, die insofern unhintergehbar ist. In der Konsequenz einer solchen auf ein Kernproblem perspektivierten theologiegeschichtlichen Rekonstruktion muss freilich jeglicher Theorieentwurf als dessen Verarbeitung verstanden werden. Dies liegt bereits in der Konsequenz des Troeltschen Denkens, was sich im Blick auf seine Deutung der »Ethik« Wilhelm Herrmanns zeigt. Habe Kant »mit seinem formalen Rationalismus die innere Beziehung zur Historie überhaupt ganz aufgegeben«, so versuche Herrmann »eine Beziehung festzuhalten, die bei aller Anerkennung des historischen Relativismus noch möglich«158 sei: Das Objektiv-Gegebene hat sich daher für Herrmann verändert und zusammengezogen auf das sittliche Charakterbild Jesu. Das aber hat es getan unter den Einwirkungen der modernen historischen Denkweise. Es ist nur ein Schein, wenn diese Denkweise von vorneherein als aus ethischen Gründen gefordert erscheint und gerade der Kern des Christlich-Sittlichen als gegen sie völlig selbständig dargestellt wird. Vielmehr ist Herrmanns Position vor allem bedingt durch die von der Historie bewirkte Zersetzung des früheren Begriffsapparates der theologischen Ethik. Daher bleibt es auch sein eigenes Hauptproblem, diejenige Verbindung des Sittlich-Notwendigen mit dem Historisch-Gegebenen, die er im Unterschiede von Kant noch festhält, gegen die Historie zu behaupten. Es ist auch für ihn das alte Problem, nur in der Frontstellung gegen eine neue Historie, und Herrmanns Lösung hat, weit entfernt von einer definitiv erreichten Unabhängigkeit von der Historie, gerade ihr gegenüber den schwersten Stand.159
156
Die Deutung der Theologiegeschichte nach dem Ersten Weltkrieg als durch den Antihistorismus geprägt bleibt auch weiterhin für Graf bestimmend, vgl. GRAF, Fundamentalpolitik, 31. Die »jüngere Generation, die in den späten siebziger und achtziger Jahren [des 19. Jahrhunderts] geboren wurde«, habe »nach 1918/19 dann jene ›antihistoristische Revolution‹ des theologischen Denkens [inszeniert], in der sich der Kampf gegen alte historisch-philologische Standards der Disziplin eng mit einer Fundamentalkritik des bürgerlichen Liberalismus verband – zugunsten unbedingter Entscheidung und expressionistisch inszenierter absoluter neuer Absolutheit«. 157 GRAF, Einleitung, 11. 158 TROELTSCH, Grundprobleme der Ethik, 572. 159 Ebd., 572f.
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Die grundsätzliche funktionale Zuordnung theologischen Denkens auf das Problem des Historismus hin erlaubt es Graf daher auch, die gesamte Theologie Barths und ihre Entwicklung als Reaktion darauf zu deuten. Im Kontext der bisher untersuchten Deutungen ist an diesem Punkt die Nähe zur Rendtorffschen Habilitationsschrift Kirche und Theologie160 unverkennbar. Obgleich die systematisch-theologische Kritik der Konsequenzen der Theologie Barths im Anschluss an die Programmschrift Die Realisierung der Freiheit im Blick auf eine moderne Individualitätskultur fortgeführt wird, verändert sich auf diesem Wege ihr Hintergrund. Barths Theologie stellt nicht länger den Versuch einer zirkelfreien Begründung des Selbstbewusstseins dar, womit auch der Gottesbegriff nicht auf die Entfaltung des »Absoluten« im philosophischen Sinne zielt. Der Grund ihrer Genese liegt nicht in dem von Wagner eröffneten weiten philosophischen Problemzusammenhang, sondern in dem engen historischen Kontext der die Geisteswissenschaften prägenden »Krise des Historismus«. Mit der Rendtorffschen Habilitationsschrift sowie der späten Wagnerschen Deutung der Theologiegeschichte verbindet Graf zudem die Auffassung, dass die dialektische Theologie, obgleich sie ein spezifisch modernes Phänomen darstelle, den Abbruch der Wirkungslinie des Neuprotestantismus bedeute. Dieser Gegensatz, der die von den dialektischen Theologen verwendete Bruchmetaphorik zu bestätigen scheint, wurde von Rendtorff im Rahmen der »Theorie des Christentums« und Wagner im Rahmen der »Theorie des Absoluten« aufgehoben. Freilich gegen ihr Selbstverständnis stellt die Theologie Barths für Rendtorff einen gedanklichen Fortschritt auf dem Wege zu einer neuen Stufe des historischen Bewusstseins dar, welche die Krise des Historismus auf der Grundlage eines vertieften Verständnisses von Subjektivität zu entschärfen in der Lage sei. Graf teilt dieses Interesse einer Aufhebung der Theologie Barths auf den Bahnen des Idealismus nicht, und so fällt seine Rekonstruktion in der Tat auf das Troeltsche Niveau zurück, wie bereits die späte Wagnersche Barthdeutung in große Nähe zur Harnackschen rückt. Jenseits der zeitgeschichtlich erklärbaren Neigung der »Jugend« zur antihistoristischen Revolution bleibt sie daher »unbegriffen«. Es zeigte sich, dass sowohl Rendtorffs als auch Wagners Deutungen der Theologie Barths im Versuch der Überbietung bzw. Aufhebung letztlich auf deren Begriff zielten und darum einer detaillierten theologiegeschichtlichen Rekonstruktion kein wesentliches Interesse widmeten – demgegenüber verfolgt die Grafsche Historisierung den Anspruch, ein historiographisch zutreffendes Bild zu entwerfen. Solange nun die Rezeption der Theologie Barths innerhalb der liberaltheologischen Kreise um Troeltsch ermittelt werden soll, 160
S.o. Teil 1, 3.2.
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Historisierung (F.W. Graf)
wird ihr zuzustimmen sein. Troeltschs Kritik richtet sich in der Tat wesentlich gegen den »Antihistorismus« der theologischen »Neuaufbrüche«, die gegen ihr Selbstverständnis kontextualisiert und relativiert werden. Insbesondere die enge Beziehung Barths zu Bultmann und Gogarten dürfte dieses Bild geprägt haben, insofern beide ihre Auseinandersetzung mit der liberalen Theologie wesentlich im Blick auf das Geschichtsproblem führten.161 Gogarten nahm jene Auseinandersetzung mit Troeltsch um das Problem der Geschichte explizit auf, wobei er einschärfte, dass die Einsichten des Historismus unhintergehbar seien. Gerade vor dem Hintergrund der späteren Entfremdung zwischen Barth und Gogarten bzw. Bultmann, deren Ursprünge sich bis in die frühe Zeit hinein verfolgen lassen, ist es aber problematisch, dass Graf der entdifferenzierenden Darstellung Troeltschs – die immerhin allein Gogarten im Blick hatte – folgt und die Begründungszusammenhänge theologischen Denkens nicht aus einer entsprechenden Binnenperspektive nachvollzieht. Im Falle Barths jedoch gibt es hinreichenden Anlass zu der Frage, ob das Geschichtsproblem in seinem Denken den zentralen Gegenstand bildete.162 Zudem wird in Grafs Rekonstruktion nicht deutlich, inwiefern von dem historisierenden Vorgehen der Kontextualisierung dialektischer Theologie überhaupt ideengeschichtliche Zusammenhänge in den Blick kommen können. Die allein auf das Problem des Historismus fokussierte Rekonstruktion der Theologiegeschichte verstellt geradezu programmatisch den Blick auf Sachzusammenhänge theologischen Denkens, die etwa in der Frage nach Gott163 im Zusammenhang theologischer und philosophischer Theoriebildung zu sehen wären. Die so genannte »Positive Theologie«, das Denken etwa Johann Tobias Becks und Fritz Barths, aber auch die »positi161 Vgl. dazu BULTMANN, Die liberale Theologie, 6–13; sowie insbesondere GOGARTEN, Historismus. Vgl. dazu S CHWAN , Geschichtstheologische Konstitution, bes. 12–23. 162 Eine stärkere Differenzierung hätte sich insbesondere vor dem Hintergrund von Grafs detaillierter Gogartenstudie nahegelegt (s. GRAF, Friedrich Gogartens Deutung der Moderne). Vgl. zu den Unterschieden BARTH, Gespräche 1964–1968, 117: »Und nun kommt also Friedrich Gogarten [im Winter 1921/22; S.H.] (der war damals noch Pfarrer in Stelzendorf). [Er] wohnte bei mir und ist natürlich mit in meine Vorlesungen gekommen, hat sich das ein paar Mal angehört, was ich da über den Heidelberger sagte, über den Epheserbrief und so. Und ich höre es noch, wie er dann, bevor er wieder abreiste, zu mir gesagt hat: ›Weißt du, Karl Barth, ich glaube, es wird so doch nicht gehen, wie du meinst. Bevor wir über den Heidelberger Katechismus, bevor wir über den Epheserbrief richtig reden können, müssen wir wissen, was ›Geschichte‹ ist?‹ – ›Ja, da muß ich mich auseinandersetzen mit Troeltsch, mit Dilthey, mit Yorck von Wartenburg …‹ – und einigen anderen Größen der damaligen Zeit, der beginnenden zwanziger Jahre. (Er selber kam ja von Fichte her – das war sein ursprünglichster Kirchenvater, von dem er sich dann allerdings gelöst hat.) Aber also: ›Wir müssen einen Geschichtsbegriff haben, und dann auf Grund dieses Geschichtsbegriffs kann man solche Texte lesen wie den Epheserbrief und den Heidelberger.‹ Und dort habe ich – das war also noch im Winter [19]21/22 – gemerkt: ich glaub’, wir meinen es doch nicht ganz gleich.« 163 Vgl. dazu BEINTKER, Die Gottesfrage in der Theologie Wilhelm Herrmanns.
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ven« Elemente bei Christoph Blumhardt und Hermann Kutter kann Graf in seiner Deutung als Bezugspunkt des Barthschen Denkens nicht würdigen. Insofern aber seine Deutung mit dem Anspruch historischer Genauigkeit vorgetragen wird, erweist sich ihre Perspektive als begrenzt und daher der Ergänzung durch weitere, ideengeschichtliche Zusammenhänge erschließende Perspektiven theologiegeschichtlicher Arbeit bedürftig.164
5. Die politische Wirkung der Theologie Barths Die bereits angeklungene Kritik der Theologie Barths als Teil jener »antihistoristischen Revolution« bezieht sich wesentlich auf deren vermittlungsfeindliche Wirkung innerhalb der Gesellschaft und Kultur der Weimarer Republik, die der Durchsetzung des Nationalsozialismus den Boden bereitet habe. Die Einsichten Troeltschs, der bereits hellsichtig die Gefahren jener Entwicklungen in der jungen Republik erkannt hatte, verknüpft Graf wiederum mit neueren geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen, die zu einer kritischen Sicht der dialektischen Theologie geführt hätten. Bereits 1959 kam Gottfried Mehnert zu einer kritischen Einschätzung der politischen Wirkung der dialektischen Theologie innerhalb der Weimarer Republik, insbesondere im Blick auf Barths Auseinandersetzung mit Friedrich Naumann und den so genannten Tambacher Vortrag.165 Er stellte fest: Von dieser [Barthschen] theologischen Position wurde jede politische Programmatik, welcher Art auch immer, jede politische Position abgelehnt […]. Neben der Opposition gegen den demokratischen Staat der Weimarer Republik von der Seite des konservativen, jetzt deutschnational orientierten Kirchentums auf dem rechten Flügel des deutschen Protestantismus trat auf der linken Seite ein theologisch fundierter Sozialanarchismus, eine zum Prinzip erhobene soziale und kulturelle[] Indifferenz, und beide haben es in der Folgezeit dem deutschen Protestantismus – allen Versuchen zum Trotz, die die bewußten protestantischen Demokraten unternahmen – unmöglich gemacht, ein Verhältnis zur Demokratie zu finden. Hierin teilte der deutsche Protestantismus das Schicksal des Weimarer Staates, der ebenfalls und unter dem nicht geringen Einfluß gerade des deutschen Protestantismus durch die reaktionäre Opposition von rechts und die revolutionäre von links untergraben wurde und in die Katastrophe stürzte.166
164
Vgl. etwa LESSING, Geschichte II, 36f. MEHNERT, Evangelische Kirche und Politik, 197–202. 166 Ebd., 201f. Bereits Mehnert zählt Troeltsch zu den »bewußten protestantischen Demokraten«, die durch jenen Radikalismus besonders betroffen wurden: »Ernst Troeltsch, der diese staatliche Konstellation [der beidseitigen Gefährdung] bereits am Anfang der Weimarer Republik deutlich als eine Gefahr erkannte, hat auch neben der offenen Parteinahme der evangelischen Kirchen für die gegenrevolutionäre Politik die Gefährlichkeit der Diastasentheologie der jungen Generation erkannt.« (ebd., 202). 165
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Klaus Scholder unternahm sodann im Jahre 1963 den Versuch, die dialektische Theologie in den Zusammenhang der Geistesgeschichte der Weimarer Republik einzuordnen.167 Im Rekurs etwa auf die Arbeiten von Christian Graf von Krockow168 und Kurt Sontheimer169 beschreibt er das Phänomen einer konservativen Revolution jüngerer Geisteswissenschaftler aus dem bürgerlichen Kontext, welche durch ihre scharfe Ablehnung des bürgerlichen Liberalismus und der liberalen Demokratie den Untergang der Weimarer Republik mit heraufbeschworen hätten und geradezu »in die unmittelbare geistige Vorgeschichte des Führerstaates«170 gehörten. Ihr Gefallen an der Krise, an der Nichtung des Bestehenden treibe sie zu einer politischen Romantik, die sich teilweise mit dem nationalsozialistischen Aufbruch vereinigt habe. Damit wurde neben den deutschnationalen Kräften, welche die Niederlage im Ersten Weltkrieg nicht verwinden konnten, eine zweite innenpolitisch relevante Strömung bzw. eine geistige Haltung ausgemacht, die die geistige Vorgeschichte des Untergangs der Weimarer Republik prägte: »Ihre Devise war der Kampf gegen die bürgerlich-liberale Welt des 19. Jahrhunderts, ihr Hauptgegner die Aufklärung und das von ihr bestimmte rationale Denken des Westens, ihr Arsenal vor allem das romantische Ideengut aller Schattierungen.«171 Als Vertreter werden neben anderen Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger172 genannt. Aus der theologischen Fakultät wird zu diesem Kreis bei Sontheimer173 und so auch bei Scholder Friedrich Gogarten gezählt.174 Dass Gogarten zu den entsprechenden Kreisen zu rechnen ist, kann insbesondere vor dem Hintergrund seiner Schriften Wider die Ächtung der Autorität und zur Politischen Ethik als unstrittig gelten. Scholder freilich zieht daraus weitreichende Konsequenzen für das Verständnis seines Denkens und stellt fest, dass für Gogarten »die Krise das erste und Gottes Wort das zweite« gewesen sei.175 Gogartens Zustimmung zur Krise des bürgerlichen Liberalismus und des »Kulturidealismus« als dessen Ideologie sei das eigentliche Movens seiner Wort-Gottes-Theologie. Er wurzle wie die übrigen Vertreter der antidemokratischen Revolution »in der irrationalen, antibürgerlichen Bewegung der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg«.176 Scholder 167
SCHOLDER, Neuere deutsche Geschichte. KROCKOW, Die Entscheidung. 169 SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken. 170 SCHOLDER, Neuere deutsche Geschichte, 78. 171 Ebd. 172 KROCKOW, Die Entscheidung. SCHOLDER, Neuere deutsche Geschichte, 77, nennt Michael Moeller van den Bruck, Oswald Spengler, Hans Freyer, Alois Dempf und Hans Zehrers »Tatkreis«. 173 SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken, 196.268. 174 SCHOLDER, Neuere deutsche Geschichte, 80ff. 175 Ebd., 84. 176 Ebd., 82. Vgl. SCHWAN, Zeitgenössische Philosophie und Theologie, 265–267; NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 236–240; vor allem: STROHM, Theologie im Schat168
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zieht Karl Barth als zweiten Protagonisten der dialektischen Theologie vergleichend hinzu. Er stellt fest, dass auch bei Barth das starke ›Nein‹ gegenüber allem Bestehenden etwa im Tambacher Vortrag Der Christ in der Gesellschaft (1919) eine große Bedeutung habe, es sei aber immer an das noch größere ›Ja‹ Gottes gebunden. Hinzu komme, dass Barth stets seine Affinität zur Sozialdemokratie habe erkennen lassen und daher politisch kaum in die Nähe der beschriebenen Revolution zu bringen sei. Und doch stellt Scholder fest, Barth habe es, obgleich »es in der Konsequenz dieses Denkens« hätte liegen können, nicht vermocht, sich auf die Seite einer zu bildenden »demokratischen Mitte« zu stellen, »die die Häupter des alten Liberalismus zu schaffen versuchten«.177 Damit ist man Scholders Auffassung nach zu einer zweiten Feststellung genötigt: Die politische Wirkung der Theologie Barths Daß Karl Barth diesen Weg nicht sichtbar – trotz seinem bewußten Anschluß an die Sozialdemokratie – gegangen ist, daß er vielmehr in jenen Jahren, als die Republik geistig sturmreif geschossen wurde, jedenfalls im Bewußtsein der weiteren Öffentlichkeit, auf der Seite derer stand, die da mitschossen, gehört zu den Merkwürdigkeiten, an denen diese Zeit so reich ist.178
Dieses Urteil hinsichtlich der Wirkung Barthscher Theologie – ohne die bei Scholder vorliegende Berücksichtigung des von Barth demgegenüber Intendierten! – prägt das Verständnis der Theologiegeschichte der Weimarer ten politischer Romantik, 1970, 161: »Gogartens Theologie hatte ihre Wurzeln in der romantischen Vorstellungswelt, derzufolge die Heilung und Restitution der Welt als geordneter Schöpfung inmitten einer in Auflösung befindlichen Welt einzig durch die Wiedergeburt aus dem Geiste der Religion und Gläubigkeit sich herstelle. Sie stand von Anfang an in der Nähe des romantischen Irrationalismus, aus dem letztlich auch die Ideologie des Nationalsozialismus erklärt werden kann.« Ein Beispiel für die zustimmende Rezeption Gogartens in den entsprechenden »geistigen Milieus« stellt M. G RIMM, Politische Theologie (Der Ring, Heft 31, 3.8.1930) dar. Grimm sieht Übereinstimmungen zwischen Heidegger und Gogarten, und insbesondere zwischen der Bestimmung des Politischen bei Gogarten und Carl Schmitt – vgl. dazu GÖCKERITZ, in: Briefwechsel, Bultmann-Gogarten, 187–189, der aufzeigt, dass der Text von Horst Michael unter dem Pseudonym »Martin Grimm« veröffentlicht wurde (ebd., 188). Michael arrangierte im Jahre 1931 eine Begegnung zwischen Gogarten und Carl Schmitt, um diese gemeinsam als Herausgeber einer Zeitschrift unter dem Titel Der Staat zu gewinnen (ebd., 188f) – letztlich blieb dieser Plan unverwirklicht. Zum Verhältnis zwischen Gogarten und Schmitt s. auch BRAUN, Carl Schmitt und Friedrich Gogarten. 177 SCHOLDER, Neuere deutsche Geschichte, 84. Vgl. ebd., 79: »Die ältere Generation der Bürgerlich-Liberalen, Männer wie Ernst Troeltsch, Friedrich Meinecke, Hugo Preuß, Max Weber, Friedrich Naumann und nicht zuletzt Thomas Mann, war bereit, diesen bitteren Weg [der Anerkennung der Überlegenheit westlichen Denkens über die deutsche Ideologie] zu gehen.« Zur Würdigung des Troeltschen Engagements im geschichtswissenschaftlichen Diskurs vgl. ERDMANN, Die Weimarer Republik, 246f. 178 SCHOLDER, Neuere deutsche Geschichte, 84f. Vgl. auch ebd., 86: »Das große Nein der jungen Theologen ist in den entscheidenden Jahren zweifellos mehr gehört worden als das Ja. Denn die Zeit hörte bloß, was sie hören wollte: eben das Nein über Vernunft und Humanität, über Geist und Kultur. Das begriff und behielt sie, denn das schien Geist von ihrem Geist.«
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Zeit über den kirchengeschichtlichen Diskurs hinaus in der ›profanen‹ Geschichtsschreibung. Bis hin zu den Darstellungen von Karl Dietrich Bracher179 und Hagen Schulze180 setzt sich das Bild des theologisch wie politisch antiliberal wirkenden Barth fort, womit dieser gleichzeitig zu den Sargträgern der Weimarer Republik gezählt wird.181 In neueren Untersuchungen wurde zudem die politisch heterogene Herkunft und Interessenlage jener jüngeren Generation hervorgehoben, die darin verbunden war, dass die Weimarer Republik bei ihr keine Unterstützung erfuhr. Vom Nationalsozialismus freilich wandten sich nicht wenige ihrer Vertreter, nachdem dieser an die Macht gekommen war, ab – dem Urteil der Historiker entsprechend damit allerdings zu spät.182 Diese geistige Grundlagenkrise der Wei179
BRACHER, Zeit der Ideologien, 198f: »Die Barthsche Theologie trat erstmals 1919 hervor – im Jahr der unmittelbaren Nachkriegsenttäuschungen. Seine Kampfansage galt dem im Bildungsbürgertum verbreiteten Gleichsetzen von zivilisatorischem und christlichem Fortschritt. Aber mit diesem Angriff auf die heilsgeschichtliche Tradition in ihrer fundamentalen Bedeutung für die moderne Fortschrittsidee als säkularisierte, moralisierte Version der Heilsgeschichte traf er zugleich den politischen Liberalismus, die moderne Demokratie, die westliche Zivilisation, die im Vertrauen auf die vernünftige Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit des Menschen begründet waren. Barths Kritik lief, zugespitzt formuliert, auf ›eine Einebnung aller politischen Maßstäbe und Kriterien aufgrund der prinzipiellen Verurteilung ihres Selbstwertes‹ hinaus. Die Krisentheologie vertiefte also noch die Krise, auf die sie zu antworten suchte: darin lag die vertrackte Ambivalenz, die sie mit der Krisenphilosophie wie mit der kritischen Sozialtheorie, dem Neomarxismus und auch mit der scharfen Demokratiekritik der enttäuschten Intellektuellen teilte.« 180 SCHULZE, Weimar, 131f. 181 Vgl. dazu auch die Zusammenstellung bei TANNER, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, 65–67, sowie die bei ERDMANN/SCHULZE, Weimar, 287–304, dokumentierte Diskussion. Exemplarisch für die Kritik sind die Ausführungen von SCHWAN, Zeitgenössische Philosophie und Theologie, 260–264. Schwan sieht Barth, Gogarten, Heidegger, Jaspers, Buber, Tillich, Lukács und Korsch darin verbunden, »daß ihr Verhältnis zur Weimarer Republik bei allen Unterschieden, die zwischen ihnen zu konstatieren sind, durchgängig ein Mißverhältnis war, das vom Un-Verhältnis bis zum Anti-Verhältnis reichte« (ebd., 261). Der Wandel hin zu einer positiven Einstellung zur liberalen Demokratie vollziehe sich bei einigen dieser Denker, darunter Barth, »dann nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung des Untergangs der Weimarer Republik und ihrer Usurpation durch den Nationalsozialismus, die man aufgrund der eingenommenen Haltung nicht hatte verhindern können« (ebd.). Für Barths Haltung während der Weimarer Zeit maßgeblich sei sein zweiter Römerbriefkommentar, in dem Barth »zum Angriff auf die bestehende Kultur und ihr Ethos blies« (ebd., 263): »Da Kultur und Ethos sich damals konkret ihm Rahmen der demokratischen Verfassung zu entfalten hatten, wurde auch diese mitgetroffen. Die Dialektische Theologie gewann einen direkt antiliberalen, indirekt damit auch antidemokratischen Impetus.« (ebd., 263f). Zu spät habe Barth mit der Fortentwicklung seiner Theologie im Zusammenhang seines Protestes gegen den Untergang der Weimarer Republik einen konstruktiven Zugang zum Problem des Politischen gewonnen. 182 Vgl. dazu auch ERDMANN, Die Weimarer Republik, 244–260, insbesondere die Beschreibung der Wirkung jener jüngeren Generation: »Die Kritiken der Linken und Rechten gegen die Weimarer Republik waren so formuliert, daß sie ihr Publikum fanden, ihre literarischen Produkte waren schmissig und attraktiv. Wie ärmlich erschien demgegenüber die graue Prozedur der Kompromisse. Aber von der Bereitschaft, dieses mühsame Geschäft zu bewältigen, hing es ab, ob dieses erste Experiment einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland gelingen oder scheitern sollte.« (ebd., 259). Vgl. auch SCHWAN, Zeitgenössische Philosophie und Theologie, 285: »Der Staat von Weimar wirkte wohl zu provisorisch und transitorisch, als daß von ihm oder seiner
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marer Demokratie aber, so Hagen Schulze, habe wesentlich ihren Untergang verursacht, da es scheine, dass »die erstrangigen Faktoren, die für das Scheitern der Weimarer Republik haftbar zu machen sind, dem Feld der Mentalitäten, der Einstellungen und des Denkens zuzuordnen sind«.183 Es ist diese ältere Debatte, die Graf im Jahre 1986 wieder aufnimmt und mit dem Hinweis auf veröffentlichte bzw. noch unveröffentlichte Archivbestände verknüpft.184 En gros gelangt Graf zu einer Bestätigung und teilweisen Verschärfung der These. Den Ausgangspunkt bildet Barths Rezension der »Hilfe« des Jahres 1913, die den Plausibilitätsverlust des bürgerlichen Liberalismus durch »theologische Fundamentalkritik« aufweise.185 Diese Kritik, die in dem Vorwurf des »praktischen Atheismus« des Naumannschen Denkens kulminiere, habe insofern erhebliche Sprengkraft, als dieser Vorwurf »indirekt auch prominente Repräsentanten der deutschen Universitätstheologie betrifft: zwischen den ›Freunden der Christlichen Welt‹ und dem ›Hilfe‹-Kreis bestanden vielfältige personelle Verflechtungen und zahlreiche ›liberale Theologen‹ publizierten in Naumanns Organ«.186 Barths Kritik gelte daher nicht allein Naumann, sondern »dem reformorientierten protestantischen Bildungsbürgertum und der liberalen Universitätstheologie«187 insgesamt. Obgleich die deutsche Sozialdemokratie nach ihrer Unterstützung der Kriegspolitik für Barth als politische Identifikation ausfällt, setze sich seine Kritik des Liberalismus fort. In der Fortentwicklung des Barthschen Denkens sei aber festzustellen, dass seiner Kritik des liberalen Gesellschaftsund Politikverständnisses »keine konstruktive theologische Vermittlung mit irgendeiner politischen Praxis, die auf eine innergeschichtlich realisierbare nachliberale Gesellschaft zielt«, korrespondiere.188 »Liberalismus« hingegen werde entdifferenziert als »ein Ideal der Kultur, das für alle kulturellen Verfassung eine positiv anregende und bindende Kraft auf dieses unruhige und ungeduldige Denken hätte ausgehen können. […] Die Republik wurde als ein zu leichtgewichtiges, flüchtiges und künstliches Gebilde empfunden, als daß sie echte Achtung hätte erfahren können. Und gerade aufgrund solch negativer Einstellung blieb sie dann tatsächlich dieses flüchtige geschichtliche Gebilde, so daß ihr nicht die Chance eingeräumt wurde, ihre politischen Vorzüge langfristig zu beweisen. […] Sie war in der Tat eine Republik ohne Republikaner und ein demokratisches Staatswesen ohne eine ihr adäquate Philosophie. Ein Wort Friedrich Gogartens transponierend könnte man sagen: Für die erste deutsche Demokratie hatten die deutschen Denker ›jetzt keine Zeit‹. Sie standen auf verhängnisvolle Weise ›zwischen den Zeiten‹.« 183 SCHULZE, Das Scheitern der Weimarer Republik, 36. 184 In der Auseinandersetzung mit früheren Barthinterpretationen ist zu beachten, dass die Quellenlage nach Barths Tod mit dem Erscheinen der »Gesamtausgabe« sukzessive erheblich erweitert wurde. So stand Mehnert und Scholder nur eine begrenzte Anzahl von Quellen zur Verfügung. 185 GRAF, Der Götze wackelt, 423. 186 Ebd., 425. 187 Ebd. 188 Ebd., 429.
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Institutionen einschließlich der Kirche Geltung beansprucht, […] die Weltanschauung, die in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft geschichtliche Realität geworden ist, […] der Inbegriff des falschen, durch die Macht der Sünde geprägten Gottesverhältnisses«,189 wahrgenommen. Barth könne aufgrund dieser Entdifferenzierung die Leistungen des politischen Liberalismus nach dem Ersten Weltkrieg nicht hinreichend würdigen, was insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit Friedrich Naumann deutlich werde. Bis hin zur zweiten Auflage des Römerbriefkommentars gewinne Barth zu den liberalen Kulturwerten, »zu Verfassungsdenken, Rechtsstaatsidee, Gewaltenteilung und zum Toleranzpostulat des 18. Jahrhunderts kein konstruktives theologisches Verhältnis«.190 Barths Kritik an Naumann aus dem Jahr 1919191 – die also historisch bereits den politischen Wandel Deutschlands voraussetzt – lasse aufgrund ihrer Radikalität zudem den Eindruck entstehen, es werde »Naumanns ›Deutscher Demokratischer Partei‹ das Recht auf aktive Mitgestaltung der neuen deutschen Demokratie streitig« gemacht, als vollziehe Barth eine »Distanznahme zur Politik der sog. Weimarer Koalition aus Sozialdemokratie, Zentrum und DDP, die neue Demokratie durch ein Bündnis von Arbeiterbewegung und reformorientiertem, demokratischem Bürgertum zu stärken«.192 Von diesen Beobachtungen zur Anfangszeit Barths ausgehend fragt Graf, »inwieweit die Modifikationen der Diastasen-Theologie der frühen Jahre auch als ein Versuch zu verstehen sind, für die liberale Demokratie von Weimar theologische Verantwortung zu übernehmen«.193 Der – nach den im Jahr 1986 vorliegenden Quellen – zu ermessende Befund zeige nunmehr, »daß er [sc. Barth] sich in keinem der von ihm in den zwanziger Jahren publizierten Texte zu dem mit der deutschen Revolution von 1918/19 eingetretenen Wandel ausdrücklich positiv geäußert hat«.194 Barth erscheine zwischen den um die Legitimität der parlamentarischen Demokratie streitenden Fronten gleichsam als »der unpolitischste Universitätstheologe der zwanziger Jahre«.195 Graf verweist aber im Blick auf mögliche indirekte politische Folgen der Barthschen Theologie auf Äußerungen W. Trillhaas’ und H. Thielickes,196 die rückblickend die Kritik des Liberalismus zur problematischen Vorgeschichte der nationalsozialistischen Herrschaft zählen. 189
Ebd., 428. Ebd., 430. 191 BARTH, Vergangenheit und Zukunft, 43: »Wenn etwas durch die heutige Weltkatastrophe Lügen gestraft, abgetan und erledigt ist, so ist es die religiöse und politische Gedankenwelt Friedrich Naumanns.« 192 GRAF, Der Götze wackelt, 431. 193 Ebd., 432. 194 Ebd. 195 Ebd., 433. 196 THIELICKE, Zu Gast auf einem schönen Stern, 77f. 190
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Vor dem Hintergrund des entdifferenzierten »Liberalismus«-Begriffs stelle sich die Frage, ob seine Kritik »in einer Zeit, in der der Kampf gegen liberales Denken das zentrale Thema aller kulturell-politischen Debatten war, nicht auch als Ausdruck der Distanz zum politischen Engagement der liberalen Theologen verstanden werden«197 musste. Diese Frage sei gerade vor dem Hintergrund der etwa von Althaus festgestellten Nähe von Barths Staatsbegriff zum »liberalen Rechtsstaat«198 festzuhalten, die zweifelsohne kaum der Selbstwahrnehmung Barths entspräche. Diese kritische Sicht des Barthschen Wirkens findet eine Fortführung in der Feststellung, »daß Barth sich zum Thema Nationalsozialismus öffentlich erst relativ spät geäußert«199 und nicht in gleichem Ausmaße wie etwa Otto Baumgarten200 gegen »völkische Religion, Antisemitismus und aufkommenden Nationalsozialismus gekämpft«201 habe. Barths Vortrag Fragen an das Christentum aus dem Jahre 1931 zeige vielmehr, dass Barth den »Amerikanismus« in gleicher Weise für einen »totalitäre[n] Verrat des Evangeliums wie Faschismus und Kommunismus«202 halte. Ebenso wirke die pejorative Verwendung des »Parlamentierens«203 in diesem Text vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte zumindest irritierend:204 Hat Barth auch 1931 den Parlamentarismus noch zu den liberalen Götzen gezählt? Oder war er in der Wahl von Metaphern aus der Welt des Politischen naiv und wenig reflektiert? Ende 1931 in Deutschland gegen das Parlamentarisieren zu polemisieren, war zumindest sehr mißverständlich.205
Erst mit Rechtfertigung und Recht, »erst sieben Jahre nach dem Ende einer liberalen, rechtsstaatlichen Demokratie in Deutschland«,206 habe Barth eine konstruktive Beziehung zwischen seiner Theologie und Fragen der Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates entworfen. Noch in den Ethikvorlesungen ließen sich diese Probleme nur am Rande nachweisen, d.h. sie erhielten nicht die Bedeutung, die sie im liberaltheologischen Diskurs längst erlangt hatten und derer sie im Horizont der zeitgeschichtlichen Vorgänge bedurft hätten. 197
GRAF, Der Götze wackelt, 434. Ebd., 435. 199 Ebd., 436. 200 Vgl. dazu ebd., 436, mit Verweis auf G RAF, Lex Christi und Eigengesetzlichkeit. 201 GRAF, Der Götze wackelt, 436. 202 Ebd., 438. 203 Ebd., 439. 204 Barths Frage »Warum parlamentiert das ›Christentum‹, wenn es an eine offenbarte Wahrheit glaubt?« (BARTH, Fragen an das Christentum, 98) wird hier gegenübergestellt: »Auch Carl Schmitt hat den Parlamentarismus gerade wegen der – vermeintlichen – Unfähigkeit verworfen, der Wahrheitsfrage gerecht zu werden.« (GRAF, Der Götze wackelt, 439). 205 GRAF, Der Götze wackelt, 440. 206 Ebd., 441. 198
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Um die Pointe recht zu erfassen, ist es zunächst von Bedeutung, die von Graf verfolgte Intention seiner Überlegungen herauszustellen. Es gehe um den Versuch, »nicht immer wieder die liberalen Theologien nur von ihrer dialektisch-theologischen Kritik her wahrzunehmen, sondern nun auch einmal den Aufbruch der Dialektischen Theologie aus der Sichtweise der ›liberalen Theologie‹ zu rekonstruieren«.207 Dieses Vorhaben wird mit einer kritischen Spitze gegen eine »stärker hagiographisch als historisch« orientierte Deutung des Werkes und Wirkens Barths verfolgt, die von der Behauptung ausgehe, »Barth habe gerade aufgrund seiner besonderen theologischen Kompetenz schon erstaunlich früh die vom Nationalsozialismus her drohenden Gefahren für die Kirche und ihre Verkündigung erkannt«.208 Als Vertreter werden Peter Winzeler, Dieter Schellong sowie Eberhard Busch (insbesondere im Blick auf dessen Barth-Biographie) genannt.209 Dezidiert stellt Graf im Blick auf Barths Verhältnis zur Demokratie fest: Ich behaupte nicht, daß Barths politische Stellung zur parlamentarischen Demokratie von Weimar tatsächlich ambivalent gewesen ist. […] Aber man darf […] nicht davon schweigen, daß Barths Theologie faktisch demokratierelativierend gewirkt hat.210
Grafs Überlegungen lassen sich daher als Versuch verstehen, von dem politischen Engagement Barths nach 1933 absehend, das Verhältnis seiner Theologie und politischen Ethik zu denen der Vertreter »liberaler Theologie« neu zu justieren. Als Maßstab, an dem die Alternativen gemessen werden, dient dabei die Frage, inwiefern jeweils konstruktive Bemühungen bzw. »eine analytische Kompetenz […], um den neuen politisch-sozialen Realitäten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verantwortungsvoll gerecht zu werden«,211 erkennbar sind. Graf kann an dieser Stelle auf die in den 70er Jahren begonnene Diskussion um das Verhältnis zwischen Theologie und Politik im Denken Barths rekurrieren.212 207
Ebd., 436. Ebd., 435. 209 Ebd. Anm. 210 Ebd., 440. Vgl. zu diesem Kritikpunkt insbesondere NOWAK, Protestantismus und Weimarer Republik, 228–231. Nowak stellt fest, »daß einige Repräsentanten der mit Absolutheitsansprüchen ausgestatteten theologischen Aufbruchsgeneration sich zwar pragmatisch auf den Boden der Republik stellten (Teile des Religiösen Sozialismus, Karl Barth), in der Überbietungsdynamik ihrer Theologie jedoch teils gewollt, teils ungewollt einer antidemokratischen Obstruktion dienten« (ebd., 231). 211 Ebd., 423. 212 Vgl. dazu etwa DANNEMANN, Theologie und Politik im Denken Karl Barths, der unter der Überschrift »Nachwirkungen des Theologie-Politik-Verhältnisses des R II in den zwanziger Jahren« (ebd., 119–121) die politische »Abstinenz« (ebd., 119) durchaus kritisch beleuchtet. Neben den »praktischen Gründen« (Schweizertum und theologische Konzentration) sei für die Abstinenz letztlich auch die Pointe des zweiten Römerbriefkommentars ausschlaggebend, »daß nämlich jedes politische Engagement letztlich sinnlos sei« (ebd.). Die Überwindung jener Position 208
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Grafs These zieht ihre Stärke aus der Opposition gegen eine in der Tat zuweilen unkritische Interpretation der politischen Haltung Barths. Exemplarisch sei das Urteil Günther van Nordens zitiert, der im Blick auf Barths Offene Briefe feststellt, dass […] Barth sich immer in einem faszinierenden Engagement zu wesentlichen Fragen der Zeit zu Wort gemeldet hat, niemals der Auseinandersetzung in theologische Glasperlenspielereien ausgewichen ist und mit einer treffsicheren Sprachkraft stets den Punkt getroffen hat, der zur Debatte stand. Dabei hat er sich auch nicht gescheut, wie der schweizerische Volksheld Winkelried die Speere der Gegner auf sich zu ziehen, weil er das, was viele vorsichtig verschwiegen, deutlich und klar aussprach. So war er tatsächlich das, was die Kirche oft nicht die Kraft und den Mut hatte zu sein: Mund der Stummen. Und insofern auch oft ein Prophet in der Wüste. 213
Sofern sich ein solches Urteil, wie zuweilen geschehen, mit der Überzeugung verbindet, die politische Weitsicht Barths sei die konsequente Folge seines theologischen Ansatzes, wird es in der Tat von Grafs Kritik getroffen. Für eine Auseinandersetzung mit Grafs These ergibt sich daraus vorab folgendes. Grafs Interesse richtet sich nicht primär darauf, Barth selbst eine dezidiert antidemokratische Haltung nachzuweisen,214 sondern Konsequenzen und Wirkungen seiner Theologie in der Weimarer Republik zu ermitteln. Im Blickpunkt steht damit vornehmlich die Rezeption der Theologie Barths vor dem Hintergrund des historischen Kontextes der Weimarer Republik. Darüber hinaus stellt Graf den engen Zusammenhang der Entwicklung von politischem und theologischem Urteil in Barths Denken infrage – es scheint, dass Barth erst zu spät einen konstruktiven Zugang zu Fragen der Verfassung gewinnt. Im Blick auf die Teilnahme an den politischen Diskursen erweist sich das Denken Ernst Troeltschs damit als überlegen, und dass diese Linie des protestantischen Gelehrtentums nach Troeltschs Tod nicht fortgeführt wurde, gehört für Graf zu den problematischen Konsequenzen der dialektischen Theologie. Eine umgehende Erwiderung erfuhren Grafs Thesen durch Heinz Eduard Tödt, der diese vor dem Hintergrund der im Band Die Realisierung der Freiheit von Wagner und Graf vertretenen Behauptung einer Strukturverwandtheit zwischen nationalsozialistischer bzw. stalinistischer Theoriebillässt sich für Dannemann durch drei Entwicklungen erklären: 1. Die mit der »Ausarbeitung einer Theologie des Wortes Gottes« (ebd., 120) eingeleitete Neubestimmung von Dogmatik und Ethik, die u.a. in den Ethikvorlesungen Ausdruck gewinnt, sodann 2. in der Opposition gegen den aufkommenden Nationalsozialismus ab 1931 (Fall Dehn), und 3. in der Auseinandersetzung mit dem Bemühen Gogartens, eine »Theologie des Wortes Gottes mit einer konservativ-autoritären Ethik« (ebd., 121) zu verbinden. 213 VAN NORDEN, Der politische Karl Barth in den Offenen Briefen, 34f. 214 Dies wäre, wie Graf wiederholt eingesteht, aufgrund der zur Verfügung stehenden Quellen im Jahre 1986 auch kaum möglich gewesen.
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dung und der im Hintergrund der Kirchlichen Dogmatik stehenden Theoriefigur sah. Tödt mahnt eine differenziertere Sicht der Weimarer Parteienlandschaft an.215 Barths im Jahr 1919 veröffentlichte Kritik an Naumann lasse sich zudem kaum als grundsätzliche Kritik der Weimarer Verfassung verstehen, sondern eher als »republikinterne Kritik«,216 deren Ziel eine stärkere Berücksichtigung sozialdemokratischer Einsichten gewesen sei. Im Blick auf Barths harsches Urteil über den »moribund« riechenden Liberalismus gibt Tödt zu bedenken, dass dieses Urteil einerseits Anhalt an dem realen Einflussverlust des theologischen Liberalismus unter der jüngeren Generation gehabt habe, dass es zudem aber eine »mächtige staatsrechtliche und politische Liberalismusdiskussion«217 gegeben habe, die etwa im Blick auf den Staatsrechtler Gerhard Leibholz durchaus Übereinstimmungen mit Barths Naumann-Kritik erkennen ließe.218 Überdies sei zu fragen, inwiefern die Kritik des Liberalismus nach dem zweiten Römerbriefkommentar nicht nur einen Anwendungsfall der prinzipiellen kritischen Haltung Barths allen Ideologien gegenüber darstelle. Im Blick auf Barths politische Zurückhaltung sei festzustellen: Die heutige Diskussion um die politische Rolle Barths in der Weimarer Republik krankt daran, daß man anachronistisch – nämlich fasziniert von den mächtigen Konturen der Gestalt Barths in und nach dem Kirchenkampf – sein Handeln in den zwanziger Jahren so betrachtet bzw. kritisiert, als sei ihm da schon das öffentliche Ansehen und also die politische Mitverantwortung der späteren Zeit zugefallen gewesen.219
Innerhalb der Theologie blende Graf diejenigen Vertreter aus, die die liberalen Traditionen aktiv noch während des Zusammenbruchs der Weimarer Republik bekämpft hätten, wie Althaus, Elert, Gogarten und Hirsch. Tödt gibt demgegenüber einige Hinweise im Blick auf die Ethikvorlesungen, die anhand der Leitfrage zu diskutieren seien, »ob es in ihnen Raum gab für 215 TÖDT, Karl Barth, 537: »Der deutsche Liberalismus kannte etliche Richtungen. Die Nationalliberalen, oft auch verflochten mit dem Nationalprotestantismus, hatten 1914 politisch die Führung. Dies mag Barth veranlaßt haben, die liberalen Theologen allzu nahe bei den Nationalliberalen zu sehen. […] Zu eng ist auch Grafs Erfassung des Liberalismus nach 1918. Nicht nur die Deutsche Demokratische Partei, gegründet von dem 1919 gestorbenen Naumann, vertrat ihn. Vielmehr schloß die Deutsche Volkspartei Stresemanns an die Nationalliberalen der Vorkriegszeit an. Welcher der beiden Parteien die ›liberalen Theologen‹ zugeneigt waren, bedürfte der genauen Untersuchung.« 216 Ebd., 538. 217 Ebd., 539. 218 Ebd., 540f. 219 Ebd., 542f. Vgl. ebd., 542: »Nun war Barth als theologischer Lehrer und nicht als praeceptor Germaniae in politicis nach Göttingen, Münster und Bonn berufen worden, hatte erst nach Jahren eine Doppelstaatsbürgerschaft angenommen und begegnete auf Schritt und Tritt der Einstellung, daß er als Schweizer für die politischen Dinge in Deutschland nicht kompetent und autorisiert sei.«
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Elemente des politischen Liberalismus, die auch uns unaufgebbar erscheinen«.220 Barths im Rahmen der »Versöhnungsordnung« entwickeltes Verständnis des Staates impliziere deutlich erkennbare Kritik der nationalsozialistischen Ideologie, und nicht zuletzt der Widerspruch gegen Nationalismus, Antisemitismus und Volkstumsideologie und die sachliche Entsprechung der Ausführungen Barths zum Staat zum demokratischen Staatsverständnis widersprächen Grafs »Lektüre des Buches vom Sachregister her«.221 Zudem treffe man in den Ethikvorlesungen nicht auf »Polemik gegen Traditionen des politischen Liberalismus«,222 und in der Bestimmung des Staates als »Rechtsstaat« und »Kulturstaat« treffe sich Barth mit der Weimarer Verfassung. Die Würdigung der »Humanität« lasse sich als implizite Kritik Gogartens verstehen.223 Schließlich sei festzustellen: »In der Krise der Republik ist scharf zu unterscheiden zwischen Barths Ablehnung des theologischen Liberalismus und seiner praktisch-politischen Einstellung zu Werten, welche die Liberalen mit den Sozialdemokraten teilten.«224 Diese Differenzierung lasse sich auch in der Kirchenkampfszeit nachweisen, in der Barth die liberale Theologie als »natürliche Theologie« weiterhin kritisiert,225 die politischen Traditionen des Liberalismus hingegen vor dem Hintergrund ihrer Auflösung verteidigt habe.226 Tödt wirft Graf somit vor, ein mangelhaftes historisches Bild der Theologie und des Wirkens Barths gezeichnet zu haben.227 Diese Defizite ließen sich, so Tödts Vermutung, nur vor dem Hintergrund der in dem Band Die Realisierung der Freiheit von Wagner und Graf vertretenen Thesen erhellen, die Barths Theologie bereits in großer Nähe zur nationalsozialistischen bzw. stalinistischen Theoriebildung sahen. Darin aber dürfte Tödt die entscheidenden Differenzen zwischen der frühen und der nun von Graf vorgelegten Kritik übersehen haben. Die frühen Versuche zum Theorievergleich hoben auf die Struktur der dialektischen Theologie vor dem Hintergrund des absolutheitstheoretischen Theorieprogramms ab. Grafs Kritik aus dem
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Ebd., 543. Ebd., 546. 222 Ebd., 547. 223 Vgl. GÖCKERITZ, Briefwechsel Bultmann-Gogarten, 267f. 224 TÖDT, Karl Barth, 548. 225 Wobei Tödt (ebd., 548) eingesteht, dass Barth damit etwa der Haltung Hans von Sodens nicht gerecht werde. 226 Tödt weist zudem auf Althaus hin, der im Blick auf Barmen V feststellte, Barth vertrete den Staatsbegriff des »liberalen Rechtsstaates« (ebd., 549). 227 Vgl. ebd., 550: »Gegenüber Karl Barth beschränkt er sich auf Defizitnachweise, anstatt dessen dramatischen theologischen Weg in seinen verschiedenen Phasen zu analysieren. So demonstriert er jene analytische Inkompetenz, die er Barth wiederholt vorwirft. Eine brauchbare Rekonstruktion des theologischen Weges von Barth aus liberaltheologischer Perspektive hat er bei allem Fleiß nicht vorgelegt.« 221
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Jahre 1986 hingegen ist wesentlich als Aufnahme der älteren geschichtswissenschaftlichen Debatte zu verstehen. Graf hat in der Reaktion auf Tödts Kritik die Pointe seiner Untersuchung dahingehend präzisiert, dass im Horizont der neueren Forschung die trennscharfen Unterscheidungen aufzugeben sind: »Für die geistige Signatur der Zeit sind gerade die – aus einer Post-1933-Perspektive schwer verständlichen – vielfältigen Verbindungen zwischen politisch linken und rechten Intellektuellenmilieus repräsentativ.«228 Gerade vor dem Hintergrund des von Tödt vertretenen Einflusses »politische[r] Kategorien der Sozialdemokratie«229 sei aber nach dem genauen Zusammenhang zwischen der Theologie Barths und der Weimarer Sozialdemokratie zu fragen.230 Eine inhaltliche Auseinandersetzung Barths mit der Sozialdemokratie lasse sich aber gerade kaum nachweisen, was Graf zu der, eine »elitetheoretische Pointe« implizierenden, Frage führt: »Lassen die bisher edierten Briefe der zwanziger Jahre nicht erkennen, daß ihm Entwicklung und innerkirchliche Durchsetzung seiner Theologie ungleich wichtiger als die Teilnahme an gelehrtenpolitischen Aktivitäten für die Republik gewesen sind?«231 Hingegen wird Tödts Verweis auf die Beziehung der Liberalismuskritik Barths zu der von Gerhard Leibholz geäußerten von Graf gegen dessen Intention gewendet, da Leibholz im Lichte neuerer Forschungen neben Carl Schmitt zu jenen zähle, die »das parlamentarische System in eine plebiszitär unterbaute Präsidialdiktatur zu überführen verlangt«232 hätten. Schließlich führte die von Tödt geforderte Berücksichtigung der »Volkstumstheologien« gerade vor das oben bereits erwähnte Problem, dass sich in der Weimarer Zeit keine trennscharfen Unterscheidungen finden ließen. Als Beispiel wird auf die Konzeption des Politischen bei Alfred de Quervain verwiesen.233 Die Ethikvor228 GRAF, Der Weimarer Barth, 556. Entsprechend Tödts Forderung präzisiert Graf zudem die Sicht der politischen Parteien dahingehend, dass »der deutsche Liberalismus […] sich schon im 19. Jahrhundert auf den Weg einer programmatischen Abkehr von jenem ›westlichen‹ liberalen Denken begeben [habe], das die unaufhebbare Spannung zwischen Individuum und sozialer Ordnung nicht zugunsten irgendwelcher Integrationsideologien eingeebnet hat. Diese antiindividualistische Tendenz – Kritik der Vertragslehre und Konstruktion eines spezifisch deutschen, auf Bindung und Gemeinschaft zielenden Freiheitsbegriffs! – ist in den zwanziger Jahren noch verschäft worden.« (ebd., 558). Eine entsprechende kritisch differenzierte Sicht wird auch im Blick auf die Sozialdemokratie wiedergegeben, die einen »›linken Antiparlamentarismus‹« gefördert habe (ebd., 559). 229 TÖDT, Karl Barth, 537. 230 Insofern Tödt dies ausdrücklich auf die Zeit vor dem zweiten Römerbriefkommentar bezieht, dürfte daraus kaum die Grafsche Konsequenz einer genaueren Klärung des Verhältnisses zur Weimarer Sozialdemokratie zu ziehen sein. Eher dürfte der Einfluss hier im näheren Kontext der Schweizer Sozialdemokratie zu sehen sein. 231 GRAF, Der Weimarer Barth, 561. 232 Ebd. Vgl. ebd., 562 mit Verweis auf TANNER, Fromme Verstaatlichung. 233 Kritisch gegen Grafs Deutung der Liberalismus-Kritik Quervains GÖLLNER, Die politische Existenz der Gemeinde, 94–97.
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lesungen Barths schließlich ließen gerade nicht in der von Tödt behaupteten Klarheit die Fortführung liberaler Traditionen erkennen.234 In gewisser Hinsicht stellt die Auseinandersetzung mit dieser genuin historischen Frage einen Nebenpfad im Duktus dieser Untersuchung dar, die sich bislang vor allem mit den systematisch-theologischen Prämissen theologiegeschichtlicher Rekonstruktion auseinandersetzte. Insofern die kritische Bewertung politischer Wirkungen der Theologie Barths allerdings nicht nur bereits bei Rendtorff und Wagner anklang, sondern darüber hinaus einen locus classicus in weiten Teilen des fachhistorischen Diskurses bildet,235 sollen an dieser Stelle zumindest einige Hinweise gegeben werden, die eine Differenzierung des Bildes ermöglichen. Im Kontext der zuvor untersuchten Barthdeutungen Rendtorffs und Wagners zeichnen sich freilich gewisse Berührungspunkte ab. Rendtorff wies in seiner Habilitationsschrift Kirche und Theologie auf die Bedeutung des historischen Kontextes im Blick auf die allgemeine Krisenstimmung hin und benannte eine Strukturparallele zwischen dialektischer Theologie und dem zeitgenössischen Dezisionismus bei Carl Schmitt.236 Bei Wagner werden diese Strukturparallelen zur zeitgenössischen Theoriebildung – im Horizont des von ihm vorausgesetzten Theorieniveaus – provokant zugespitzt, um freilich sodann der Kritik zu unterliegen, dass dieser Theorievergleich mit dem historischen Kontext kaum zu vermitteln sei.237 Die enge Verknüpfung mit dem geschichtswissenschaftlichen Diskurs und die materiale Ausführung der Thesen stellen vor diesem Hintergrund das Proprium der Grafschen Untersuchungen dar. Die Hinweise im Folgenden können keinesfalls den Anspruch erheben, ein auch nur annähernd vollständiges Bild des Weges Barths während der Weimarer Republik zu zeichnen. Es sollen lediglich einige Hinweise auf den seit 1986 veränderten Stand der Quellenlage und zu wenig berücksichtigte Aspekte gegeben werden.
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GRAF, Der Weimarer Barth, 566. Hinzuweisen ist etwa auf die von Inacker vorgelegte Studie. Inacker wiederholt stark wertend die Kritik, nach der die Theologie Barths zu den »theologischen Abbruchunternehmen« gehöre (INACKER, Zwischen Transzendenz, Totalitarismus und Demokratie, 89), die die Bemühungen der wenigen Liberalen nicht hätten zur Entfaltung kommen lassen. Inacker freilich interpretiert die Äußerungen Barths ausschließlich aus einer Außenperspektive, ohne deren inneres Begründungsgefälle zu reflektieren. 236 Vgl. zur Gefahr des Antiliberalismus auch RENDTORFF, Kirche und Gesellschaft, 84f. 237 Vgl. FISCHER, Protestantische Theologie, 260. 235
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6. Karl Barth und die Politik während der Weimarer Republik 6.1 Frühe Belege zum Demokratieverständnis Schon vorab lässt sich die Diskussion entschärfen, wenn die seit dem Jahre 1986 neu edierten Quellen hinzugezogen werden. Von Bedeutung ist hier insbesondere der am 15.10.1911 von Barth vor dem Arbeiterverein Safenwil gehaltene Vortrag Menschenrecht und Bürgerpflicht, in dem er sich der »Frage nach der Entstehung und Bedeutung des Staates« widmet.238 In enger Anlehnung an Hermann Cohen entwickelt Barth einen moralischen Begriff des Staates aus einer rechten Verhältnisbestimmung von »Menschenrecht und Bürgerpflicht«, welche gegeneinander gerichtet als Revolution und Restauration politisch gefährlich würden: »Menschenrecht muß etwas Anderes sein als schrankenlose Bewegungsfreiheit[,] und Bürgerpflicht muß etwas Anderes sein als Festlegung auf bestimmte gesellschaftliche Ordnungen«.239 Über den Begriff des Handelns, welches allein als rechtes Handeln zu denken sei, gelangt Barth zu dem Gedanken, dass Recht wesentlich als Pflicht bzw. Bürgerpflicht zu verstehen sei. Daraus ergebe sich ein »moralischer Begriff des Staates«: »Indem ich mein Menschenrecht ausübe in der Bürgerpflicht, bestätige ich den Staatsgedanken.«240 Menschsein und Bürgersein sind daher ein und dasselbe.241 Damit jedoch ist keinesfalls eine bestimmte Staatsform gesetzt, vielmehr betont Barth den zeitgebundenen Charakter einer jeden Staats- und Gesetzesform.242 Im Blick auf Deutschland stellt Barth fest: »Die monarchische Verfassung mag z.B. für die heutigen Deutschen das Angemessene sein, ob sie es in hundert Jahren noch sein wird[,] ist eine ganz andre Frage, ob sie es für uns Schweizer wäre, ist wieder eine ganz andre Frage, über die wir wohl Alle unsre ziemlich bestimmte Meinung haben.«243 Mit der historischen Relativität ist die aktive Mitwirkung der Bürger an ihrer jeweiligen Staatsform hin zu einem entgrenzten, alle Menschen umfassenden Staatsverständnis gefordert. Bürgerpflicht, so stellt Barth fest, bestehe »gerade darin, die Form des Staates immer aufs Neue zu revidieren, zu erneuern und zu verbessern, sie in unendlichem Streben jenem unendlichen Ziel entgegen zu führen, das darin bestehen würde, daß sie in allen ihren Bestimmungen wirklich Pflichtregel der Allheit der Menschen wäre«.244 Lässt sich die Affinität dieses Staatsgedankens zur demokratischen Verfassung bereits 238
Vgl. dazu LIENEMANN, Gewalt, Macht, Recht, 157–159. BARTH, Menschenrecht und Bürgerpflicht, 369. 240 Ebd., 371. 241 Ebd., 372: »Ich bin überhaupt nur dadurch Mensch, daß ich Bürger werde.« 242 Vgl. ebd., 372f. 243 Ebd., 372f. 244 Ebd., 373. 239
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hier deutlich spüren, so wird dies explizit in den Grundsätzen eines »Katechismus der richtigen Politik«245 deutlich, mit denen Barth seinen Vortrag beschließt. Er fordert die »umfassende Kompetenz des Staates«, welche darin bestünde, »daß wirklich Allen Gelegenheit geboten wird, in der Bürgerpflicht ihr Menschenrecht auszuüben. Die Demokratie steht deshalb zweifellos dem reinen Staatsgedanken näher als die Monarchie, um von der Despotie nicht zu reden, die in Wirklichkeit noch gar keine Staatsform genannt werden kann.«246 Jedoch sieht Barth die Aufgabe einer fortschreitenden Demokratisierung: »Aber auch die Demokratie bedarf noch eines weitern Ausbaus durch Heranziehung der Frau zur Mitausübung des Bürgerrechts. Solange die Bürgerpflicht blos Männerrecht ist, ist sie noch nicht[,] was sie sein soll, Betätigung des reinen Staatsgedankens.«247 Offensichtlich hat Barth also bereits relativ früh den Versuch einer moralischen bzw. philosophischen Begründung einer idealen Staatsform unternommen, die in einer deutlichen Nähe zur demokratischen Verfassung gesehen wird. Er ist sich kritisch der kulturellen Differenz zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich bewusst. Im Falle der Schweiz ist die Demokratisierung noch weiterzuführen.Barth in der Weimarer Zeit Die Partizipation am politischen Leben fordert Barth daher in zwei Predigten zum Bettag vom 21.9.1913 von seinen Gemeindegliedern. In deren erster über Ps 62,12 wird die Schweiz als »eines der merkwürdigsten politischen Gebilde der Welt«248 charakterisiert: […] an der Spitze dieses Staates nicht ein Monarch, der mit fester Hand all die auseinanderstrebenden Gewalten am Zügel hält, sondern dieses unter sich so grundverschiedene Volk selber, das seine Vertrauensmänner wählt und in ihrem Tun überwacht und, wenn es es für nötig hält, korrigiert, dieses Volk, das eigentlich durch nichts zusammengehalten ist als durch das Gelöbnis: wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern! und: wir wollen frei sein, wie die Väter waren!249
Gerade in dieser Eigentümlichkeit habe die Schweiz aber eine »ganz gewaltige Aufgabe«: Wir sollen den Völkern ringsum, die in tierischem Gegensatz der Stämme und Rassen einander beständig mit Krieg bedrohen, die in sich selber zerfallen sind in Feindschaft zwischen den verschiedenen Stämmen, Konfessionen und Interessengruppen, wir sollen ihnen zeigen, was ein Staat ist, d.h. eine einheitliche Ordnung des gemeinsamen Lebens, und zwar eine Ordnung, die nicht von oben her, durch Fürstengewalt aufgezwungen und mit Gewalt erhalten wird wie etwa in Österreich, sondern die von 245
Ebd., 374. Ebd., 374f. 247 Ebd., 375. 248 BARTH, Predigt Ps 62,12, 480. 249 Ebd., 481. 246
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den Völkern selbst gewollt und aufgerichtet ist, eine Ordnung, die sie sich selber gegeben haben. Ist das nicht eine Weissagung darauf, was die ganze Menschheit einmal werden muß […]?250
Aus dieser besonderen Gestalt der politischen Verfassung der Schweiz folgt nunmehr aber die Notwendigkeit, von den »staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten«251 einen verantwortlichen Gebrauch zu machen: solange die Mehrheit unsrer Stimmfähigen sich darüber nicht klar ist, daß zur Stimmabgabe notwendig die eigene Überzeugung und das Bewußtsein vollster persönlicher Verantwortlichkeit gehört, daß, wer dabei nach Interessenrücksichten und persönlichen Rücksichten und Gründen vorgeht, ein schlechter Bürger ist rundweg – solange ist unsre ganze Demokratie, auf die wir so stolz sind, keinen Batzen wert, solange muß man sich schämen, mit Ausländern über unser politisches Leben zu reden.252
In der zweiten Predigt über Jer 29,7 setzt sich Barth sodann kritisch mit den Einwänden gegen das Interesse an der Politik auseinander, »Politik [sei] in sehr vielen Fällen etwas Häßliches«253, und »Gott ist größer als alle Politik«.254 Dem entgegnet Barth zunächst, dass auch die politisch Desinteressierten das Gute genießen würden, »das einer rechten Ordnung im Staat, in der Gemeinde, im wirtschaftlichen Leben zu danken ist«.255 Daraus entstehe aber die Verpflichtung, dem Zustandekommen dieses Guten nicht gleichgültig gegenüberzustehen. Der zweite wichtigere Grund gegen das Desinteresse liege aber darin, dass, »wer ein Christ ist, […] einen ganz besondern Auftrag in der Welt«256 habe. Dieser bedeute etwa den Widerspruch gegen gesellschaftliche Missstände257 oder den Krieg in der europäischen Nachbarschaft.258 Gegen Ende seiner Predigt stellt Barth fest: Liebe Freunde, wir dürfen nicht sagen: es geht mich nichts an! dem politischen Denken gegenüber, wenn wir Christen sein wollen. Ich las dieser Tage ein merkwürdiges Wort eines deutschen Professors und Schriftstellers. Er sagte: »Jeder verständige Mensch muß Politik treiben, nur Kranke, Lahme und Sonderlinge sind entschuldigt!« Wenn es uns zu tun ist darum, daß Gottes Reich komme, denn muß uns am Herzen liegen, was vorgeht in der Gemeinde und im Vaterland und in der Welt draußen. Es ist unsre Welt. […] Oder wollen wir zu den Kranken, Lahmen und Sonderlingen gehören?259 250
Ebd. Ebd., 484. 252 Ebd., 485. 253 BARTH, Predigt Jer 29,7, 493. 254 Ebd., 494. 255 Ebd., 497. 256 Ebd., 499. 257 Ebd., 501f. 258 Ebd., 502–504. 259 Ebd., 505. 251
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Wer jener »deutsche Professor und Schriftsteller« war, bleibt in der Edition unklar.260 Jedoch wird die sachliche Übereinstimmung mit Friedrich Naumann vermerkt.261 Diese frühen Äußerungen Barths lassen keinen Zweifel daran erkennen, dass seine Haltung der demokratischen Verfassung gegenüber durch uneingeschränkte Zustimmung gekennzeichnet war. Auch Barths Eintritt in die sozialdemokratische Partei im Jahr 1915262 dürfte dies grundsätzlich bestätigen, insofern sich die Sozialdemokratie in der Schweiz programmatisch auf den Boden der Demokratie stellte.263 Barths Kritik des Liberalismus wird auf der Grundlage einer prinzipiellen Zustimmung zur Demokratie vorgetragen, wenngleich Barth erst 27 Jahre später auf der Grundlage seines veränderten theologischen Denkens einen erneuten Versuch theologischer Begründung der Demokratie vorlegte.
6.2 Die Auseinandersetzung mit dem Liberalismus Heinrich August Winkler setzt die rückblickende Bewertung von Positionen im Zusammenhang geschichtswissenschaftlicher Forschung folgender kritischer Forderung aus: Ungerecht wäre es […], würde der Historiker sich damit begnügen, bestimmte Prozesse mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Analyse als »gesollte Geschichte« zu ermitteln, und allein darauf Schuldsprüche gegenüber denen aufzubauen, die nicht taten, 260 Ebd., 505 Anm. 17: »In Frage kommen H. Delbrück, P.A. de Lagarde, K. Lamprecht, F. Meinecke, G. Schmoller, R. Sohm, W. Sombart oder M. Weber […].« 261 Vgl. die Belege ebd. 262 S. dazu Barth an Thurneysen, 5.2.1915 (Briefwechsel Barth-Thurneysen I, 30): »Ich bin nun in die sozialdemokratische Partei eingetreten. Gerade weil ich mich bemühe, Sonntag für Sonntag von den letzten Dingen zu reden, ließ es es mir nicht mehr zu, persönlich in den Wolken über der jetzigen bösen Welt zu schweben, sondern es mußte gerade jetzt gezeigt werden, daß der Glaube an das Größte die Arbeit und das Leiden im Unvollkommenen nicht aus- sondern einschließt. Die Sozialisten in meiner Gemeinde werden mich jetzt nach meiner öffentlichen Kritik an der Partei hoffentlich richtig verstehen.« 263 Vgl. dazu nur HARDMEIER, Geschichte der sozialdemokratischen Ideen in der Schweiz, 10, der hinsichtlich der Frage nach der »Stellungnahme der SPS gegenüber der Demokratie« feststellt: »Zur Abklärung dieser Frage lassen wir am besten gleich Gridazzi [M. GRIDAZZI, Die Entwicklung der sozialistischen Ideen in der Schweiz, 1935, 280] reden: ›Der schweizerische Sozialismus […] ist gekennzeichnet durch sein absolutes Bekenntnis zur Demokratie und seine grundsätzliche Absage an eine revolutionäre Erhebung des Proletariats, sofern ihm nicht durch das Verhalten seiner politischen Gegner ein Kampf mit Waffen aufgezwungen wird,‹ Es besteht also der Glaube an die Möglichkeit einer friedlichen Evolution nicht gegen den Staat, sondern vielmehr unter Benützung des demokratischen Staates hofft man die sozialistischen Ziele zu verwirklichen. Das Bekenntnis zur schweizerischen Demokratie, die als Staatsform bejaht wird, der aber ein anderer Inhalt gegeben werden soll, kommt vielleicht am deutlichsten darin zum Ausdruck, dass die schweizerische Sozialdemokratie bis zum Jahre 1917 auf dem Boden der Landesverteidigung stand.«
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was sie sollten. Ungerecht wäre es, über der Frage nach objektiven Wirkungen von Entscheidungen die Frage zu vernachlässigen, welche Alternativen es für die Handelnden in der konkreten Situation gab. Ein solches Verfahren wäre in der Tat ein Rückfall hinter eine bleibende Errungenschaft des Historismus: die Einsicht, daß alle historischen Vorgänge aus ihren eigenen inneren und äußeren Voraussetzungen erklärt werden müssen. Daraus folgt, daß der Historiker Werturteile über Akteure der Vergangenheit erst abgeben kann, wenn er ihre Motive und ihren Handlungsspielraum rekonstruiert und mit dem in Beziehung gesetzt hat, was sich ihm in einer bestimmten Situation als »historisches Bedürfnis« darstellt.264
Im Blick auf Barths Auseinandersetzung mit dem Liberalismus bedeutet dies, dass das historische Urteil, ohne deren problematische Konsequenzen aus den Augen zu verlieren, den historischen Ort und Kontext berücksichtigen muss, in dem Barth diese Kritik übte. Dass »Liberalismus« weder in politischer (seit der Safenwiler Zeit) noch in theologischer Perspektive (seit dem Kriegsausbruch 1914) für Barth eine ernsthafte Option darstellte, steht außer Frage. Graf setzt Barths Kritik jedoch dem direkten Vergleich mit dem Wirken Naumanns und Troeltschs während der Gründungsphase der Weimarer Republik aus, um dann die problematischen Konsequenzen aufzuzeigen, die sich insbesondere im Blick auf den weiteren antiliberalen Kontext der Weimarer Zeit ergaben. Bevor dieser Vergleich angestellt wird, ist allerdings der nähere Kontext der Kritik des politischen Liberalismus zu berücksichtigen, insofern Historismus auch für Graf die genaue Ermittlung des jeweiligen »lokalen Diskursmilieus« bedeutet.265 Vor dem Jahr 1914 hatte der Pfarrer in der Arbeitergemeinde Safenwil als Repräsentant des politischen Liberalismus primär den Schweizer Freisinn in Gestalt des Kapitalismus der Fabrikanten in seiner Gemeinde vor Augen.266 Sein Beitritt zur sozialdemokratischen Partei sowie seine gedankliche Nähe zum Religi264
WINKLER, Liberalismus und Antiliberalismus, 287. »Die entscheidende Aufgabe für den ›Geisteshistoriker‹ besteht […] darin, lokale Diskursmilieus zu rekonstruieren. Dies führt unweigerlich zu einer radikalen Historisierung von Theologien: Der historische Abstand zwischen damals und heute wird sehr viel größer, die Vergangenheit wird noch fremder, als sie sowieso schon ist. ›Die Geschichte‹ der Theologie löst sich tendentiell in viele plurale, je individuelle Geschichten auf. Viele Historiker sehen darin ein Problem, weil so die Frage offenbleibt, wie individuelle Erfahrung und allgemeine Struktur, Kontext und MakroKontext miteinander vermittelt sind. Aber man kann die radikale Historisierung auch als einen Vorzug deuten: Je mehr individuelle Kontexte in den Blick kommen, desto stärker wird jene Pluralität erkennbar, in der schon die Menschen der Vergangenheit ihre Zeit wahrgenommen haben. Das Allgemeine der sogenannten ›objektiven‹, überindividuellen Strukturen läßt sich immer nur in bestimmten, individuellen Perspektiven als relevanter Kontext theologischer Wissensproduktion erschließen.« (G RAF, Fundamentalpolitik, 42). 266 Vgl. dazu Barths Briefwechsel mit Walter Hüssy aus dem Jahre 1912, in: BARTH, Offene Briefe 1909–1935. Lienemann stellt im Blick auf Barths Vortrag Menschenrecht und Bürgerpflicht (s.o.) fest: »Wenn man diesen und verwandte Texte aus jener Zeit liest, ist es klar, dass es in Safenwil alsbald zu einem schweren Zusammenstoss mit einem dortigen Unternehmer und Fabrikbesitzer kommen musste.« (LIENEMANN, Gewalt, Macht, Recht, 158f). 265
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ösen Sozialismus entwickeln sich in diesem Milieu. Aufgrund der Lage der Arbeiter in seiner Gemeinde kommt für ihn eine Rechtfertigung des Bestehenden, die er bei Friedrich Naumann zu sehen glaubt, dessen Zeitschrift Die Hilfe er 1914 zu rezensieren hat, kaum in Frage. Als Religiöser Sozialist von Rade um eine Beurteilung gebeten nimmt er Naumann darin ernst, dass dieser selbst sich in seinem politischen Wirken von dem ursprünglich christlichen Impuls gelöst hatte. Er versucht jedoch zu zeigen, dass auch Naumanns Politik eine Art »Glaube« impliziert, und stellt fest: »Aber man kann auch ein wenig weiter ›links‹ stehen als die Hilfe. Man kann noch ein wenig mehr erglauben und erhoffen als bloß ein starkes industrielles demokratisches Deutschland.«267 Barth führt hier eine Auseinandersetzung fort, die von Seiten der Schweizer Religiös-Sozialen zuvor vor allem zwischen Kutter und Naumann geführt wurde.268 Martin Rade war der Überzeugung, dem Abdruck den Hinweis auf die Schweizer Herkunft Barths sowie dessen begrenzte Einsicht in die deutschen politischen Verhältnisse voranstellen zu müssen.269 Die scharfe Kritik des Naumannschen Liberalismus, die Barth in der Gegenüberstellung Blumhardts und Naumanns aus dem Jahre 1919 »nicht als Richter, sondern als Parteigänger«270 vorträgt, steht unter dem Einfluss der Unterstützung der Kriegspolitik im Deutschen Reich durch maßgebliche Vertreter des politischen und theologischen Liberalismus seit dem Jahr 1914. Diese Kritik Naumanns, verknüpft mit der Würdigung Blumhardts, 267
BARTH, Die Hilfe, 777. Die Rezension enthält freilich auch würdigende Elemente (ebd.). Vgl. dazu KUTTER, Sie müssen, 24f. Zum Vorwurf der Gottlosigkeit gegen Naumann vgl. ebd., 6: »Gottlosigkeit war die Losung, die Stöcker der Sozialdemokratie gegenüber ausgab, Gottlosigkeit das Wort, das ein Naumann immer und immer wieder den Sozialdemokraten entgegengehalten. Wie? Eine Bewegung, die so sehr den Stempel des lebendigen Gottes an sich trägt, die so ernst macht mit den Forderungen seines Wortes, die sich als Gegnerin seines einzigen Feindes, des Mammons, erklärt, wird von den Trägern des christlichen Glaubens gottlos genannt? Ist es da nicht klar, daß zwischen Gott und diesem Glauben eine tiefe Kluft befestigt ist?« In Barths Rezension tritt die sachliche Nähe zu Kutter insbesondere in der Frage hervor, »inwiefern in der Hilfepolitik noch heute neben oder über dem Evangelium der Technik, der Macht und des allgemeinen Stimmrechts das Evangelium des absoluten und lebendigen Gottes spürbar ist« (BARTH, Die Hilfe, 776). 269 S. dazu Rades »Vorbemerkung des Herausgebers«: »Obiger Artikel ist das Votum eines schweizer Religiös-Sozialen über einen Jahrgang der Naumannschen ›Hilfe‹. Der Verfasser […] hatte keine weitere Aufgabe, als von seinem Standpunkte aus über diese uns so nahe stehende deutsche Wochenschrift seine Meinung zu sagen. Ich würde unter andern Umständen dem Artikel sofort einige Worte über den Unterschied der deutschen von der schweizerischen Sozialdemokratie beigefügt haben, desgleichen über die Entwickelung von Naumanns Stellung zu unsrer Sozialdemokratie. Ich verzichte darauf unter dem unmittelbaren Eindruck der Reichstagssitzung vom 4. August.« (ChW 28, 1914, 778). Obgleich Barth in seinem dann von Rade veröffentlichten Brief vom 31.8.1914 diesen Hinweis auf seine Schweizer Perspektive nicht gelten lassen will, hält Rade an ihm in seiner Antwort fest; »Sie hatten – auf Grund Ihrer schweizerischen Staats- und Gesellschaftsverfassung – eine sehr andere Sozialdemokratie als wir.« (Briefwechsel Barth-Rade, 107). 270 BARTH, Vergangenheit und Zukunft, 38. Dies ist insofern bemerkenswert, als Barth die Positionalität seiner Darstellung a priori herausstellt. 268
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hatte einen biographischen Anlass. Im Jahr 1934 bestimmt Barth in einem Brief sein Verständnis von Liberalismus: »Liberalismus«, so Barth, »heisse jetzt einfach: die Indienststellung der Kirche und ihrer Verkündigung für die jeweils im Vordergrund stehenden säkularen Interessen des Menschen. Ich werde nie vergessen, mit welcher Erhabenheit mir einst im Jahre 1915 Friedrich Naumann wörtlich sagte: ob Heilsarmee oder Islam, darauf komme es jetzt gar nicht mehr an, sondern nur auf die Frage, ob eine Religion es verstehe, die Menschen ›sterben zu lehren‹.«271 Barths Kritik Naumanns speist sich wesentlich aus dieser Begegnung, an die sich ein Besuch Blumhardts in Bad Boll anschloss.272 Graf blendet diesen Horizont, insbesondere Naumanns Haltung zur Rolle der Religion im Krieg, die theologischem Denken in der Tat als fragwürdig erscheinen dürfte, aus. Es wäre zu fragen ob Barths Misstrauen Naumann gegenüber über das Jahr 1918 hinaus nicht seine relative Berechtigung gehabt haben könnte, insbesondere angesichts dessen, dass Barth in den Auseinandersetzungen der Jahre 1914–1918 als Charakteristik des politischen Liberalismus keineswegs dessen Ausrichtung auf Ausgleich und Kompromiss vor Augen stand.273 Graf und Tödt berücksichtigen zudem in der Diskussion der Frage, welche Bedeutung die Naumann-Kritik in der Anfangsphase der Weimarer Republik gehabt habe, nicht, dass Barths Text Vergangenheit und Zukunft am 3. und 4. September 271
Barth an Schmitz, 13.1.1934 (Original im KBA). Diese Begegnung mit Naumann fand am 9. April 1915 während der Hochzeit von Peter Barth und Helene Rade, der Tochter Martin Rades, in Marburg statt (vgl. BUSCH, Lebenslauf, 96f). Vgl. dazu auch BARTH, Vergangenheit und Zukunft, 42: »Das neudeutsche Ideal hat in seinem [sc. Naumanns] Lebenswerk über die Erkenntnisse seiner Anfangszeit gesiegt. ›Alle Religion ist uns jetzt recht‹, sagte er uns damals wörtlich, ›heiße sie Heilsarmee oder Islam, wenn sie nur dazu taugt, uns den Krieg durchhalten zu helfen‹.« Die Opposition von Blumhardt und Naumann im Rahmen dieses Aufsatzes dürfte vor allem biographisch konnotiert sein, denn im Anschluss an die Begegnung mit Naumann besuchte Barth vom 10.–15. April in Bad Boll Blumhardt (BUSCH, ebd., 97). Vgl. dazu BARTH, ebd., 48: »Naumann und Blumhardt haben sich einst gekannt. Ich war später einmal in der seltsamen Lage, Blumhardt einen Gruß von Naumann ausrichten zu dürfen, den letzten wahrscheinlich.« Bereits am 20.12.1914 schrieb Barth an Helene Rade: »[…] zwischen der Welt, in der dein Onkel Naumann jetzt lebt (ich sehe auch die ›Hilfe‹ öfters) und der unsrigen ist eine Versöhnung vollends unmöglich. Ihr mögt uns glauben, daß wir es nicht leicht nehmen mit dem Problem, daß wir uns jetzt zu einer solchen Wolke von klugen, geistreichen und frommen Menschen in schweren Widerspruch setzen.« (Briefwechsel Barth-Rade, 127). Vor dem Hintergrund der funktionalen Bestimmung der Religion ist auch Barths Äußerung zu verstehen, dass Naumann aus der »orthodoxe[n], lutherische[n] Kirche Sachsens« stamme, was aber zufällig sei, »es hätte auch die katholische oder die mohammedanische sein können – jedenfalls die Kirche, der das Verhältnis der Welt zum Göttlichen eine zum vorneherein feststehende, geordnete und sich selbst gleich bleibende Beziehung ist, die bloß der religiösen Erklärung und Verklärung bedarf.« (BARTH, Vergangenheit und Zukunft, 38f). 273 Vgl. dazu die in dem Briefwechsel zwischen Barth und Rade dokumentierte Auseinandersetzung. Zur kritischen Beurteilung von Naumann und Troeltsch knapp GAY, Die Republik der Außenseiter, 124. In jedem Fall ist deutlich erkennbar, dass sich Barths Naumann-Kritik aus dem Jahre 1919 aus dessen Haltung zum Krieg speist (BARTH, Vergangenheit und Zukunft, 43). 272
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1919 in der Zeitung Neuer Freier Aargauer. Sozialdemokratisches Tagblatt erschien, d.h. der primäre Veröffentlichungsort in der Schweiz lag,274 und dass er sich entsprechend an ein demokratisch geschulteres Publikum richtete. Eine Rezeption seiner Ausführungen in der Weimarer Republik dürfte Barth zunächst kaum im Blick gehabt haben, sodass sich die Frage nach dem »republikinternen« Charakter zu erübrigen scheint.275 Insgesamt lassen die zugänglichen Texte Barths dieser Jahre, die auf die Situation in Deutschland verweisen, keine differenzierten Kenntnisse der genauen politischen Verhältnisse erkennen. Seine Kritik des Naumannschen Liberalismus, die vor allem auf dessen Person vor dem Hintergrund der früheren Begegnung bezogen ist, speist sich aus einem religiös begründeten sozialdemokratischen Utopismus. Die Relativität des Vorletzten müsse vor dem Hintergrund des Letzten, des »lebendigen Gottes«, gesehen werden. Mit diesem Ideal einer Sozialdemokratie sieht sich Barth in der Tat vor ein Vermittlungsproblem im Blick auf den politischen Diskurs gestellt. In dem im Jahre 1919 gehaltenen Vortrag Vom Rechthaben und Unrechthaben276 wird die Existenz der Sozialdemokratie als »Wächteramt«,277 als exemplarischer Auslöser der Unruhe der »Bürgerlichen«, verstanden: Die Welt hat es bitter nötig, daß ihr das immer wieder gesagt wird, was wir ihr zu sagen versuchen mit der ganzen Unrast, mit dem ganzen unerbittlichen Protest, mit dem ganzen Glauben an das Unmögliche, der in uns steckt und der das Wesen des Sozialis274
Erst am 21.9.1919 und 12.10.1919 erschienen die Abschnitte in Das neue Werk. Der Christ im Volksstaat, hier mit dem redaktionellen Zusatz: »Der Aufsatz ist von einem schweizerischen Religiös-Sozialen geschrieben. Er zeigt, wie auch ein folgender Artikel desselben Verfassers über Christoph Blumhard, an einem aktuellen Punkt das grundsätzliche Verhältnis der in der Schweiz geborenen religiös-sozialen Bewegung zu den deutschen Evangelisch-Sozialen.« (Das Neue Werk, Nr. 25 vom 21.9.1919, 399). Dass Barths Aufsatz in diesem Organ erschienen ist, weist aber gerade nicht in die Richtung der von Graf angenommenen Wirkung. Erst seit der Nr. 25 unter dem Titel Das Neue Werk. Der Christ im Volksstaat erscheinend, trug die Zeitung zuvor den Titel Der Christliche Demokrat. Ziel und Aufgabe der Zeitung richten sich dem ersten Herausgeber gemäß u.a. auf die »Pflege der aller echten Demokratie zu Grunde liegenden persönlichen Freiheit in jeder sittlich berechtigten Form und ihre Durchdringung mit dem Geiste lebendigen Christentums«, die »Kritik der Kultur vom christlichen und demokratischen Standpunkt aus und ihre Förderung aus der Kraft der christlichen und demokratischen Gesinnung« sowie »das Bestreben, den Geist der Demokratie zunehmend zu verinnerlichen und auch von uns aus […] der demokratischen Arbeit neue erstrebenswerte Hochziele zu stecken« (zit. nach VOLLMER, Die Neuwerkbewegung, 1f). Die Untersuchung von Vollmer bietet eine Übersicht über die Entstehung der Zeitung, die beteiligten Autoren und Herausgeber, sowie die behandelten Themen. 275 Vgl. dazu auch die gelassene Reaktion Rades auf die Artikel, die Barth ihm offenbar mit entschuldigenden Worten verbunden gesendet hatte, in: Briefwechsel Barth-Rade, 147. Indes ist zu berücksichtigen, dass Graf in Barths Text die abschließende Pointe hervorhebt, die ausführliche und keineswegs durchgängig polemische Darstellung des Naumannschen Lebensweges hingegen kaum berücksichtigt. 276 In der Wochenschrift Das neue Werk vom 4.1.1920 unter dem Titel Vom Rechthaben und Unrechthaben. Rede, gehalten zu einer sozialdemokratischen Volksversammlung veröffentlicht. 277 BARTH, Vom Rechthaben und Unrechthaben, 641.
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mus ist.278 – So schärft Barth ein: Wir dürfen nicht bürgerlich werden. Ich sage das ohne allen Haß gegen das Bürgertum. Ich komme auch aus dem Bürgertum. Und ich weiß vor allem, daß es im Bürgertum viel edle, feine und ernste Menschen gibt, bessere als wir alle. Aber ich weiß auch, was das Bürgertum in seinem Wesen ist. Bürgertum ist Schweigen um des Friedens willen. Bürgertum ist Gleichgewicht um jeden Preis. Bürgertum ist: Nicht verantwortlich sein wollen, sich nicht stören lassen, nicht fragen, nicht zweifeln, nicht »grübeln«, nicht anklagen. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Bürgertum ist auch eine Art Glaube: Der Glaube an den Menschen, wie er ist, der Glaube an einen Fortschritt, der von selbst kommt, vor allem der Glaube an alles, was dazu dienen kann, das große Unrecht zu verdecken, als nicht so schlimm hinzustellen. Bürgertum heißt recht haben wollen. Und darum dürfen wir nicht bürgerlich werden. Dürfen weder den Weg der deutschen Mehrheitssozialdemokratie gehen noch den Weg des russischen Sowjet-Sozialismus. Beider Wege sind bürgerliche Wege: Faule Friedensschlüsse, allzu nahe liegende praktische Mittel, allzu schnelles am Ziel sein wollen, recht haben wollen – hier wie dort. […] Der Weg, der mitten hindurchführt zwischen den Profit-Sozialisten und den Krach-Sozialisten, ist heute unerhört schmal.279
Hier wird deutlich, dass Barth dem politischen »bürgerlichen« Neuaufbruch der Weimarer Republik nicht traute, und dass auch die deutsche Sozialdemokratie der Kritik unterliegt.280 Barths Urteil hinsichtlich der politischen Bedürfnisse der Weimarer Republik besonderen Scharfsinn zu unterstellen, dürfte vor diesem Hintergrund kaum angebracht sein. Zwar bleibt festzuhalten, dass es neben Naumann und Troeltsch eine Strömung des »Liberalismus« gab, die dem Naumannschen Denken der Kriegszeit verhaftet blieb281 – an der Undifferenziertheit des Barthschen Bildes ändert dies nichts. Unklar bleiben insbesondere die Optionen, die den Barthschen Sozialismus in der aktiven, konstruktiven Gestaltung von Politik auszeichnen würden. Der Sozialismus des Barths unterscheidet sich indes deutlich von der konservativen antidemokratischen Bewegung. Diese war, so Scholder,
278
Ebd. Ebd., 640f. 280 Vgl. ebd., 637: »Und nun ist der Krieg vorbei und wieder kommen sie und haben so unsäglich recht und gründen ihren Völkerbund für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie und wie das alles heißt. Endlich der langersehnte Friede, der Friede für immer hoffentlich, oder wenigstens ein entscheidender Schritt vorwärts, diesem Ziel entgegen. Und wieder sind wir die Ungläubigen und stehen abseits und wieder zeigt unser Finger: Es ist ja nicht wahr, ihr lügt ja, das ist ja Imperialismus, nicht Friede. […] Auch da wieder: Keine schöne Stellung, wenn man nichts glauben will, nicht glauben an den guten Willen der Regierungen, nicht glauben an den ›Fortschritt‹, nicht glauben an den Präsidenten Wilson. Aber können wir anders? Können wir etwa glauben? Das große Unrecht sitzt in uns und gibt uns scharfe, mißtrauische Augen. Ob schön oder nicht schön, wir sagen nein zu dem, was sie da in Paris gekocht und in Bern geduldig verschluckt haben.« 281 Vgl. dazu nur die Unterscheidung zwischen denjenigen »Liberalen«, die die Verfassung der neuen Republik gestalteten und trugen, und denjenigen »Vernunftrepublikanern«, die dem Kaiserreich verhaftet blieben, bei SONTHEIMER, Weimar – ein deutsches Kaleidoskop, 14f, im Anschluss an GAY, Die Republik der Außenseiter, 44ff. 279
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weder bereit, die Niederlage [des Ersten Weltkriegs] zu akzeptieren, noch irgendwelche Konsequenzen daraus zu ziehen. So blieb ihr nur der Weg in die »Philosophie der Krise«. Sie war die geistige Entsprechung des »Und ihr habe doch gesiegt«, der Versuch, jenen irrationalen Aufbruch zu retten, indem man den Krieg nur als eine Etappe in der Epoche weltgeschichtlichen Umbruchs verstand. Sein Verlust war ein Zeichen, daß die »deutsche Idee« noch nicht rein, noch nicht radikal genug ausgearbeitet war.282
Würde Barths Denken dieser Zeit als Beitrag zum deutschen politischen Geschehen verstanden, wäre er aber auf die Seite derjenigen »Linken« zu stellen, die dem Kompromiss der Weimarer Republik skeptisch gegenüberstanden – inwiefern aber Reden vor Versammlungen im Aargau insbesondere vor dem Hintergrund der früheren Äußerungen zur Demokratie in diesem Zusammenhang angemessen zu beurteilen sind, dürfte fraglich sein. Die Auseinandersetzung mit dem politischen Liberalismus tritt nach 1919, dem Todesjahr Naumanns, deutlich zurück, was sich etwa im Blick auf den Übergang vom ersten zum zweiten Römerbriefkommentar zeigen lässt.283 In die folgende Zeit der Lehrtätigkeit Barths in Deutschland fällt seine Auseinandersetzung mit der liberalen Theologie, die vor allem an der Theologie Schleiermachers ausgearbeitet wird. Der Neuprotestantismus hat zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich an Wirkung eingebüßt. Anhand von Barths Brunner-Kritik im Blick auf dessen Schleiermacher-Buch ist aber erkennbar, dass sich Barth bemüht zeigt, eine allzu scharfe, die Züge eines Tribunals annehmende Kritik der liberalen Theologie zu vermeiden, wenngleich ein »Kampf« gegen den Schleiermacherschen Theologietypus zu führen sei.284 Dass die Liberalismus-Kritik während der Weimarer Zeit problematisch war und wirken konnte, insofern sie von Barth zunächst nicht explizit gegenüber der aus anderen Hintergründen vorgetragenen abgegrenzt wurde, bleibt gleichwohl festzuhalten.285 Dieses Urteil hat insofern Anhalt an Barths späterer Einschätzung, als er es in KD I/2, erschienen im Jahr 1938, als »schwere Belastung« und »Kompromittierung« der theologischen Auseinandersetzung mit dem Liberalismus bezeichnet,
282
SCHOLDER, Neuere deutsche Geschichte, 79. Vgl. dazu Barths Auslegungen von Röm 6,2–23 (Röm1, 241–246; Röm2, 206–210). 284 BARTH, Brunners Schleiermacherbuch, 411ff. Vgl. dazu auch Barths Schilderung vom 29.5.1931 im Blick auf sein Schleiermacher-Seminar, Briefwechsel Barth-Thurneysen III, 142– 144, sowie die dort zitierten Erinnerungen Gollwitzers. 285 Vgl. dazu auch SCHLEMMER, Von Karl Barth zu den Deutschen Christen (1934), 22–25, der feststellt: »Völlig einig sind sich dialektische Theologie und D.C. in der Ablehnung jedes Kulturprotestantismus, für den auch das Wort ›Liberalismus‹ gebraucht wird.« (ebd., 22). Schlemmer stellt jedoch auch die Grenze dieser Übereinstimmung heraus (ebd., 24), die dort erreicht werde, wo die Deutschen Christen selbst »den Rückfall in eine Art von Kulturprotestantismus« vollzögen. 283
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[…] daß wir ja gleichzeitig auch in einer weltanschaulich-politischen Auseinandersetzung stehen, in welcher es ebenfalls um Autorität und Freiheit geht oder doch zu gehen scheint. […] »Autorität« ist also auf einmal ein weltliches Lieblingslosungswort und »Liberalismus« ist auf einmal ein weltliches Schimpfwort geworden. Eine schlimmere Störung jener kirchlich-theologischen Auseinandersetzung und Arbeit als gerade diese hätte sich gar nicht denken lassen. Oder wie könnte das Leben der Kirche schlimmer gestört werden als dadurch, daß es […] einen solchen Doppelgänger bekommt, der in einer bis in die Einzelheiten gehenden Parallelität eben das, was sie tut, auch zu tun scheint. […] Jedes Wort, das in Kirche und Theologie für die rechte Autorität und gegen den Mißbrauch der Freiheit gesagt werden kann und gesagt werden muß, kann offenbar sofort grundfalsch gemeint sein und grundfalsch verstanden werden, wenn es mit den gleichlautenden Schlagworten der Zeitbewegung auch nur in die fernste Beziehung gebracht wird.286
Die einzige Möglichkeit, dieser fatalen Verwechslung Vorschub zu leisten, besteht für Barth nunmehr in der Abwehr eines jeglichen Versuches, beide Phänomene in Beziehung zueinander zu setzen, und: Es wird vielmehr so sein, daß die Kirche in ihrem Verhalten und Reden der Welt gegenüber sich heute des im Raum der Welt unterdrückten und verfolgten Freiheitsgedankens anzunehmen, die relative Berechtigung seines Anliegens zu schützen hat.287
Dass Barth, obgleich er die Differenzen im Blick auf das politische Urteil im Verhältnis zu Gogarten und de Quervain bereits früh erkannte,288 seinen dezidiert theologischen Widerspruch Gogarten gegenüber erst im Abschied des Jahres 1933 formulierte, dürfte als ein wesentlicher Punkt der undifferenzierten Rezeption »der« dialektischen Theologie als antiliberal im Sinne der zeitgenössischen Stimmung zu beurteilen sein.289 286
BARTH, KD I/2, 743f. Ebd., 745. 288 Vgl. dazu die in den Briefwechseln mit Thurneysen von Beginn an Gogarten gegenüber erkennbare Skepsis Barths – aber auch Bultmanns Kritik in: Briefwechsel Bultmann-Gogarten, 181– 190, ausgelöst durch Gogartens Schrift Wider die Ächtung der Autorität. Eine frühe kritische Reaktion Barths an Gogarten findet sich in einem Brief vom 23.12.1922 (in: GÖCKERITZ, Briefwechsel Bultmann-Gogarten, 267–273). Barth antwortet Gogarten hier im Blick auf dessen Schrift Von Glauben und Offenbarung: »Doch stört mich hier am Stärksten […] die Polemik gegen den Idealismus. Es leuchtet mir nicht ein, dass es gut sein soll, den (Idealismus) neben Fuchs, Mensing etc. auf die zu bekämpfende Gegenseite zu stellen […] und so den alten Span zwischen Reformation und Humanismus weiter zu nähern. Ich hatte ja in meiner 1. Aufl. [des Römerbriefs] auch allerlei in dieser Richtung, habe aber Alles getilgt […]. Bes. bei der Errichtung der Autorität der sichtbaren (denn von dieser redest du offenbar) Gemeinde geht es mir etwas zu stürmisch zu und sehe ich nicht ganz, wie du die von dir gesehene Gefahr der konservativen Romantik […] vermeiden willst. Was wird die Autorität durch die Autorität von Gottes Wort?« (ebd., 267f). 289 Vgl. dazu SCHLEMMER, Von Karl Barth zu den Deutschen Christen, 32, der im Verweis auf Barths Abschied feststellt: »Man könnte ja an diese Ausführungen Barths mancherlei Betrachtungen knüpfen, z.B. warum er solange noch an Gogartens Seite geblieben ist, wenn dieser seinen ›Verrat am Evangelium‹ ›schon immer gemeint und gewollt‹ hat – aber gleichviel: die nun erfolgte Klärung ist sehr erfreulich. Barth und Gogarten gehören nun einmal nicht zusammen; und dialekti287
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Gänzlich ausgeblendet wird bei Graf aber die Frage, ob Barths Kritik des Liberalismus eine sachliche Begründung hatte, und ob sich vor diesem Hintergrund jede Auseinandersetzung mit dem Liberalismus während der Weimarer Zeit ins Unrecht setzen lässt.290
6.3 Barths politische Haltung in der Weimarer Republik Im Blick auf das Urteil, Barth sei der »unpolitischste Theologe« der Weimarer Republik, hätte Graf allen Grund gehabt, Barth selbst gegen »heiligenlegendenartige« Interpretationen ins Feld zu führen, insofern dieser seine Rolle in der Weimarer Republik durchaus selbstkritisch reflektierte. In seinem auf den 8. Juli 1945 datierten Brief An die deutschen Theologen in der Kriegsgefangenschaft schreibt Barth: Ich will Ihnen darum offen gestehen: Wenn ich mir selbst im Blick auf meine in Deutschland verbrachten Jahre etwas vorwerfe, so ist es dies, daß ich es damals aus lauter Konzentration auf meine theologisch-kirchliche Aufgabe und auch in einer gewissen Scheu vor der Einmischung des Schweizers in deutsche Angelegenheiten unterlassen habe, vor den Tendenzen, die mir, seit ich 1921 den deutschen Boden betreten hatte, in der mich umgebenden Kirche und Welt sichtbar und unheimlich genug waren, zu warnen: nicht nur implizit, sondern explizit, nicht nur privatim, sondern auch öffentlich zu warnen! Die mich damals gekannt haben, werden mir vielleicht das Zeugnis geben, daß ich nicht einfach stumm gewesen bin. Aber so laut und deutlich, wie damals hätte geredet werden müssen, habe auch ich damals nicht geredet.291
sche – wirklich, ungefälschte dialektische – Theologie und D.C. gehören auch nicht zusammen, soviel Verbindungsfäden auch, wie wir sahen, zwischen ihnen vorhanden sind. Man muß diese Fäden kennen, wenn man die D.C.-Theologie verstehen will; aber je mehr man sie kennt, desto mehr wird einem auch deutlich werden, daß die Ehe zwischen D.C. und Dialektik nicht von Dauer sein konnte. Von Barth zu L. Müller geht der Weg über Gogarten. Nicht wenige sind diesen Weg gegangen und gehen ihn noch; aber Barth selbst denkt nicht daran, ihn zu beschreiten.« 290 Vgl. dazu etwa GEYER, Die dialektische Theologie und die Krise des Liberalismus. 291 BARTH, An die deutschen Theologen in der Kriegsgefangenschaft, 50. Dies widerspricht freilich in gewisser Hinsicht anderen Äußerungen. Im Jahre 1961 berichtet Barth rückblickend auf seine Zeit in Deutschland: »Ich sah ein Deutschland, das im Begriff war, sich von dem verlorenen Weltkrieg und seinen Folgen […] erholen zu wollen, das sich aber offenbar nicht erholen konnte. Ich begleitete die Bemühungen der wenigen besonnenen Männer, der kleinen gutwilligen Kreise, die die ›Weimarer Republik‹ und ihre Verfassung ernst nahmen, eine deutsche soziale Demokratie aufbauen und dem Lande einen angemessenen Raum inmitten der ihm zunächst noch mißtrauisch genug gegenüberstehenden Umwelt in loyaler Weise sichern wollten.« Von Beginn an habe er die so genannten »Deutsch-Nationalen« kritisch gesehen, die aus der Vergangenheit nichts gelernt und die neue Republik »torpediert« hätten. Den Nationalsozialismus freilich, so gesteht Barth ein, habe er unterschätzt. Er sei ihm »in seinen Ideen und Methoden, in seinen führenden Gestalten von Anfang an nur eben absurd« vorgekommen, das deutsche Volk hielt er »nun doch einfach für zu gescheit, um auf diese Möglichkeit hereinzufallen« (BARTH, Zwischenzeit, 38).
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Die hier genannten Gesichtspunkte theologischer Konzentration und die Zurückhaltung des Schweizers in einer für ihn fremden politischen Kultur sind in der Zeit der Weimarer Republik bestimmend für Barths Verhalten.292 Hinzu tritt eine durchgehend festzustellende Befremdung Barths angesichts der unter seinen Kollegen verbreiteten konservativ-nationalen Einstellung. Ein beispielhaftes Dokument für die Erfahrungen, die Barth in seiner Anfangszeit in Deutschland machte, ist ein Brief vom 28.6.1922 an seine Schweizer Freunde. Barth berichtet hier über seinen Kollegen Hirsch in Göttingen, dieser habe eine »grosse nächtliche Schutzrede für die Mörder von Erzberger« gehalten, und fährt fort: […] was er von der Ermordung Rathenau’s hält, daran zweifle ich darnach keinen Augenblick. Die deutschen Professoren sind eben wirklich so schlimm wie ihr Ruf, nur dass man, wenn man sie vor sich sieht, alle Lust daran verliert, so gegen sie vorzugehen, wie die Schweizer Religiössozialen pflegten und wie wir gelegentlich mit ihnen. Eschatologie einerseits und zoologischer Garten andererseits sind die einzig möglichen Gesichtspunkte, unter denen man diese »Geschöpflein« des lieben Gottes betrachten kann in ihrer gänzlichen Umnachtung, die dann doch ganz einwandfrei wieder mit so viel Gescheitheit, Liebenswürdigkeit, Gemüt und Frömmigkeit verbunden ist. Am Tag nach dem Rathenau-Tag waren wir bei Walter Bauer eingeladen mit lauter alten Corpsstudenten und ihren Frauen und hörten Wobbermin die ungeheuersten nationalen Worte ausstossen […] »Kollege Barth« sitzt dann dabei und gibt durch Ah, ja? Mhm – Ssssooo seine teilnehmende Aufmerksamkeit zu erkennen. Was soll man auch sagen, wenn einer unter Faustschlag auf den Tisch verkündigt, ein Jude sei immer vaterlandslos und gehöre nun einmal nicht in eine deutsche Regierung?, besonders wenn man noch Schweizer und also selbst so etwas wie ein Jude ist? […] Beim »Sommerfest« […] stiessen wir zu unserm Heil auf ein demokratisches Ehepaar […].293
Gleichwohl lassen sich Hinweise darauf finden, dass Barth während dieser Zeit durchaus kritisch Stellung bezog und das Phänomen des Politischen, wenn es auch kein Gegenstand der theologischen Arbeit im engeren Sinn war, zumindest in seinem Blickfeld lag. Hinsichtlich des Nationalismus lassen sich zudem deutlich früher als von Graf angenommen kritische öf292 Die Forderung nach politischer Zurückhaltung Barths wurde bereits im Rahmen erster Anfragen hinsichtlich der Bereitschaft zur Übernahme der Stiftungsprofessor in Göttingen erhoben, vgl. dazu Briefwechsel Barth-Rade, 154 (Brief Barths an Rade vom 31.1.1921): »Pfr. Heilmann spricht den Wunsch aus (sehr freundlich übrigens), ich möchte mich, wegen der Schwierigkeiten der Stellung der ›Agitation für meine politische Überzeugung‹ enthalten. Das würde mir nicht schwer fallen, da ich auch hier nie agitiert habe. Oder steckt hinter diesem Wunsch irgend etwas Bedenkliches, Reaktionäres, mit der Rechtsströmung auf Euren Universitäten Zusammenhängendes, eine Fußangel, der ich mich sofort entwinden müßte, ehe es zu spät ist?« Rade antwortete am 12.2.1921 (ebd., 156): »Dein politischer Standpunkt? Es wäre gewiß nicht klug, ihn alsbald hervorzukehren, bei den sicherlich auch in Göttingen herrschenden reaktionären Stimmungen.« 293 Rundbrief vom 28.6.1922 (vollständig im KBA).
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fentliche Äußerungen finden, die auch als Kontext der Liberalismus-Kritik zu berücksichtigen sind.294 Wolfgang Trillhaas berichtet in seinen Erinnerungen an Barths Göttinger Zeit: »An Hirsch widerfuhr Barth freilich auch, und das überwog in jenen Jahren in bedrückender Weise alle theologischen Differenzen, der politische Gegensatz, das nationalistische Ressentiment gegen Demokratie, Neutralität, Friedenspolitik und gegen die Niederlage von 1918.«295 Mit den Studenten versuchte Barth bereits in der Göttinger Zeit politisch ins Gespräch zu kommen. Hierzu dienten die so genannten »Offenen Abende«, die Barth wöchentlich in seinem Haus abhielt. Es wurden u.a. politische Biographien der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart studiert. So berichtet Barth wiederum in einem Rundbrief vom 18.5.1924 im Blick auf die Offenen Abende: Dort geht jetzt bei stärkster Beteiligung ein ethisches Conservatorium in Szene über die politischen Biographien der letzten Jahre: Tirpitz und Liebknecht wurden schon behandelt, es folgen Michaelis, der Kaiser, Scheidemann, der Kronprinz, Ludendorff, Bethmann-Hollweg, Erzberger, Dryander usf. Bis jetzt ging es sehr gut: Ausscheidung des Politischen an sich, Frage nach den Motiven des Handelns und ihrem Verhältnis untereinander. Aber auch dieses Unternehmen ist sehr gewagt, und ich werde froh sein, wenn Ende Juli alles gut abgelaufen ist.296
Das Vorgehen, die Hintergründe des politischen Handelns zu diskutieren, entspricht dem prinzipiellen ideologiekritischen Ansatz Barths während dieser Zeit. Seine eigene Position, dies wird in einem weiteren rückblickenden Bericht des damaligen Studenten Wolfgang Trillhaas deutlich, wurde implizit durchaus erkennbar: [E]s war kein Zweifel, daß dieser Praxisbezug [der Barthschen Theologie] bis in das Feld des Politischen reichte. Nicht, als ob Barth im Schatten oder im Dienste des Marxismus gestanden wäre. Aber er ließ keinen Zweifel daran, daß er aus realpolitischer Einsicht gegen die Ideale des deutschen Nationalismus und des deutschen Bürgertums stand. Seine Offenen Abende hatten in dieser Hinsicht einen oft fast rührend wirkenden werbenden Tenor. Die überwiegende Nähe der Demokratie und der dem deutschen Nationalismus entgegenstehenden Friedenspolitik zum Christentum wurden weniger begründet als stimmungsmäßig vorausgesetzt.297
294 Es sei an dieser Stelle zudem an Barths ersten Offenen Brief erinnert, der an ein deutsches Publikum gerichtet war, den Offenen Brief an Martin Rade aus dem Jahre 1914, der eine scharfe Kritik der religiösen Legitimation der kaiserlichen Kriegspolitik enthielt. Zur Bedeutung von Nationalismus und Militarismus gerade »evangelisch-kirchlicher Laienkreise« als Vorgeschichte der nationalsozialistischen Diktatur: DIBELIUS, Selbstbesinnung des Deutschen, 25f. 295 TRILLHAAS, Karl Barth in Göttingen, 173. Zur Kritik der deutschen Kriegspolitik und der »offiziellen Geistigkeit der wilhelminischen Ära Deutschlands« vgl. auch BARTH, Gegenrede, 199. 296 Briefwechsel Barth-Thurneysen II, 252. 297 TRILLHAAS, Aufgehobene Vergangenheit, 96.
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Die Konzentration auf die theologische Arbeit und die Zurückhaltung jeglicher Identifikation theologischen Denkens mit politischen Zielen gegenüber, die Barth selbstkritisch feststellt, entbindet den Theologen seiner Auffassung nach zudem keineswegs der kritischen Stellungnahme zu den zeitgenössischen Problemen. Im Rahmen des Vortrags Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allgemeinen reformierten Glaubensbekenntnisses – gehalten im Juni 1925 in Cardiff und Duisburg (dort vor etwa 1000 Hörern)298 – stellt Barth in Anspielung auf Mt 5,15 heraus, dass die Kirche in die gesellschaftliche Wirklichkeit hinein zu sprechen habe: […] die Kirche hat etwas zu sagen, etwas zu verkündigen ins konkrete Leben der Menschen hinein. […] Ist sie hier ein stummer Hund, der seine Wächterpflicht nicht versteht, so taugt auch ihre beste Dogmatik nichts. Eine Kirche, die heute bekennen wollte, müßte den Mut haben, ihre vorläufig aus der Schrift gewonnene Einsicht von den Lebensproblemen, die heute ihre Glieder drücken, auszusprechen. Nicht immer erst dreißig Jahre zu spät, wie im sozialen Manifest des Bielefelder Kirchentages, sondern wenn die Probleme noch brennen, wenn es für sie noch Zeit ist, ihr Wort, das an den Anfang der Entwicklung gehört, dazu zu sagen. Heute z.B., um nur eines zu nennen, zu dem seit dem Krieg in allen Ländern in gleichförmiger Weise auftretenden faschistisch-völkischen Nationalismus. Sagt die Kirche ja oder nein zu dieser Sache? sagt sie zum Antisemitismus ja oder nein? sagt sie zum Krieg prinzipiell und bewußt ja oder hat sie etwa aller praktischen Vorbehalte ungeachtet ein letztes prinzipielles, aber eben als solches unbedingtes und unüberhörbares, nicht pazifistisches, sondern spezifisch christliches Nein gegen den Krieg auf den Leuchter zu stellen? Gedenkt die Kirche, die in allen Ländern eindeutig militaristische Haltung, die sie 1914 in dieser Frage eingenommen hat, bekenntnismäßig festzulegen und zu bestätigen? Oder gedenkt sie vielmehr zu bekennen, daß sie sich unterdessen eines Anderen besonnen hat?299
Im Jahr darauf druckte Wilhelm Stapel in der Zeitschrift Deutsches Volkstum Antworten Karl Barths ab, in denen dieser zu erkennen gibt, daß ich den Nationalismus speziell der Mehrzahl der deutschen Akademiker irgendwie rein physisch nicht mag und ihm gegenüber dem, was Sie »soziale Dialektik, rationalen Pazifismus« nennen (ich bin als sozialistischer Pfarrer immerhin ein Jahrzehnt lang als ein bißchen ungesicherte »Existenz« auf dem »Kampfplatz« gewesen!), immer noch den Vorzug gebe.300
Obgleich eine umfassende Untersuchung zu Barths Ethikvorlesungen noch aussteht, wurde von Jüngel, Gundlach und Lienemann in jüngerer Zeit gezeigt, dass hier ein positives Verhältnis zur rechtsstaatlichen Verfassung 298
Der Aufsatz erschien in Zwischen den Zeiten (Nr. 4, 1925) und wurde in Barths zweitem Band gesammelter Vorträge (1928) erneut abgedruckt. 299 BARTH, Wünschbarkeit und Möglichkeit, 640f. 300 Abgedruckt in: BARTH, Offene Briefe 1909–1935, 103.
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aufzuweisen ist,301 welches zumindest nicht in den Widerspruch zur Weimarer Verfassung gebracht werden kann. Das Thema Volkstum behandelt Barth hier auf der Grundlage, »daß wir von Adam her doch Alle miteinander verwandt sind«,302 sodass sich folgende Reihenbildung ergibt: Hinter den Blutsverwandten tritt der Volksgenosse, hinter den Volksgenossen der »Fremdling, der in deinen Toren ist« [Ex. 20,10], und gerade dieser Letzte sagt uns, wenn wir es vorher noch nicht gehört haben sollten, daß es sich um Humanität wahrlich auch bei diesen blutmäßigen Bezogenheiten handelt.303
Mitmensch und Nächster ist damit prinzipiell jeder Mensch, und damit »wird er uns zur Frage, wie sich unser Tun zu dem Gebot des Gottes verhalten möchte, dessen Berufung auch in dieser Wirklichkeit besteht. Ich brauche«, so Barth nach dieser Anspielung auf das Gebot der Nächstenliebe, »die Fragen wohl nicht auszusprechen, die sich aus dem Allem ergeben in bezug auf das alte Phänomen des Antisemitismus auf der einen, das moderne Phänomen des bewußten Nationalismus auf der anderen Seite. Mögen sie mögliche oder unmögliche Möglichkeiten sein, das ist sicher, daß sie als Prinzipien menschlichen Wollens und Handelns der Krisis des umfassenden Begriffs der Verwandtschaft unterliegen, wie wir ihn hier kennengelernt haben als Komponente der Wirklichkeit, in der wir vor Gott stehen.«304 Es wurde weiterhin gezeigt, dass Grafs These, die »Demokratie-Thematik« spiele in den Ethikvorlesungen keine Rolle, unzutreffend ist. Barth stellt deutlich heraus, dass die »entscheidenden Elemente der Gemeinschaftsbildung durch den nationalen Rechts- und Kulturstaat« durch »Verfassungsgebung«, »Gesetzgebung […] im Sinn der bestmöglichen Sicherstellung der Einigkeit, des Rechtes und der Freiheit«, »die eigentliche Regierung« und schließlich »die Gerichtsbarkeit als die über die Anwendung der Gesetze im Konfliktfall unabhängig (auch von der jeweiligen Regierung) entscheidende Instanz«305 dargestellt würden. Im Blick auf Barths Ethikvorlesungen zeigt sich aber ein grundsätzliches Problem der Deutung seiner Theologie im Horizont der Weimarer Republik: während etwa Jüngel, Tödt und Gundlach den gedanklichen Duktus nachzeichnen, verweist Graf auf Spitzensätze, die in der Tat, in einen entsprechenden geistesgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, problematisch klingen.306 301 JÜNGEL, Zum Verhältnis von Kirche und Staat nach Karl Barth, insbes. 118f; GUNDLACH, Theologische Ethik unter modernen Bedingungen; LIENEMANN, Gewalt, Macht, Recht. 302 BARTH, Ethik I, 331. 303 Ebd. 304 Ebd., 332. 305 BARTH, Ethik II, 337. 306 Vgl. dazu auch LIENEMANN, Gewalt, Macht, Recht, 160, der im Blick auf Paragraph 12 der Ethikvorlesungen feststellt, hier begegneten »autoritäre Töne, wie sie in der Zeit der Weimarer Republik verbreitet waren, für heutige Ohren jedoch teilweise sehr befremdlich klingen«.
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Dass Barths Verhältnis zur Weimarer Verfassung ein positives war, wird zudem angesichts der Empörung deutlich, die er am 16.9.1932, d.h. in der Endphase der Republik, Wilhelm Wedekind gegenüber äußert: Mir mißfällt gründlicher – viel gründlicher als mir der Nationalsozialismus mißfallen hat –, was jetzt in Deutschland politisch gespielt wird. Ich kann es nicht anders ansehen: die gleiche in ihrem Wesen kosakische Mentalität, die schon 1914 mit dem »Not kennt kein Gebot« meinte arbeiten zu dürfen, ist nun im Begriff, auch mit der beschworenen Reichsverfassung als mit einem »Fetzen Papier« umzugehen und uns zuzumuten, daß wir ihr Walten als das der Vorsehung respektieren sollen.307
Bereits im Jahr 1930 hatte Barth Rudolf Pestalozzi gegenüber das Verhalten der deutschen Wähler kritisch beurteilt: Die Nachrichten über die deutschen Wahlen sind erschütternd. Sie bedeuten, dass dieses Volk politisch über die Häfelischule noch immer nicht hinaus ist, sondern, von seinen Fürsten vielleicht zur Unzeit befreit, aus der Wohltat der Demokratie vorläufig nur den Unsinn zu machen versteht, den jeweilig lautesten Maulhelden und Krachbrüdern am begeistertsten Gefolgschaft zu leisten.308
Dass Barth während dieser Zeit an der ideologiekritischen Aufgabe der Theologie festhielt, zeigt sich in seinen »Offenen Abenden«, die im Wintersemester 1930/1931 die »Ideologien der politischen Parteien« zum Thema hatten. Hier erkannte Barth bereits relativ deutlich, welche Probleme sich in der politischen Situation Deutschlands abzeichneten. Am 19.10.1930 schreibt Charlotte von Kirschbaum an Eduard Thurneysen: »Und allmählich rückt nun das Semester heran. Vorbereitend für die offenen Abende bin ich daran, Literatur zu sammeln. Karl will die ›Ideologien der politischen Parteien‹ behandeln, und das wird den großen Vorzug haben, daß wir auch die politischen Ereignisse wieder mit größerer Aufmerksamkeit verfolgen werden.«309 Einen lebendigen Eindruck von diesen Abenden vermittelt ein Bericht Helmut Gollwitzers, damals Student in Bonn: Im Wintersemester 1930/31 hatte Barth als Thema für seine Offenen Abende die Programme der politischen Parteien gewählt. Ich hatte zu beginnen mit einem Referat über die Ideologie der Weimarer Verfassung. Meine Analyse blieb ohne Entscheidung, weil ich den weimarischen Liberalismus sowohl bejahte wie ironisierte – wie es eben meiner eigenen Verwirrung zwischen eben erst verlassenem bündischen Jungkonservativismus, Marxismus und gerade erst entdecktem Liberalismus entsprach. Barth hielt das aber für den Wunsch, allen gerecht zu werden, und mahnte mich, wie später noch öfters, mit dem Worte des Predigers: »Sei nicht allzu gerecht und nicht 307
Original im KBA, abgedruckt in: Briefwechsel Barth-Thurneysen III, 274 Anm. 18. Barth an Pestalozzi, 15.9.1930 (Original im KBA). Vgl. dazu auch Briefwechsel BarthThurneysen II, 399, wo Barth über den von ihm geleisteten Eid auf die Weimarer Reichsverfassung berichtet. 309 Abgedruckt in: Briefwechsel Barth-Thurneysen III, 47f. 308
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allzu weise!« – Wie gezählt die Tage des liberalen Systems seien, wurde uns an jenen Abenden bewußt, als die Reihe an die Nationalsozialisten kam. Unter uns gab es nicht wenige, in deren Buden die Bilder von Barth und Hitler friedlich nebeneinander, als gleichmäßig verehrte Idole hingen. Wenige Tage vor dem betreffenden Abend wurde bekannt, die Partei habe ihren Mitgliedern verboten, an diesem Abend zu referieren, ja auch nur teilzunehmen; ein Nationalsozialist habe für seine Weltanschauung zu kämpfen, nicht aber sie zur Diskussion zu stellen. Nicht dieses lächerliche Verbot, wohl aber, daß unsere Kommilitonen, mit denen wir bis dahin trotz heftiger Dispute ungetrübt zusammengesessen hatten, sich diesem Verbote fügten, ließ uns einen Abgrund sichtbar werden. Barth hielt sich in politischen Fragen zurück. Daß er, wie ihm die Rechtspresse vorwarf, uns zu Sozialdemokraten erziehe, war Greuellegende. Nur selten einmal, etwa nach einer wilden Rede des Nazi-Häuptlings Hans Schemm vor den Bonner Studenten (man stritt sich damals um die Aufstellung eines wenig schönen Jung-Siegfried-Denkmals, das auf den Alten Zoll abgeschoben war, im Universitätshofe), flocht er ein paar Sätze dazu in seine Vorlesung ein. Daß ich mehr nach links rutschte, muß ihm aber nicht zuwider gewesen sein, denn eines Tages sagte er wohlgefällig: »Herr Gollwitzer, man hat mir erzählt, Sie hätten gestern abend in einer Versammlung die Internationale mitgesungen. Sie machen gewaltige Schritte!« – Bald waren sie zu gewaltig; denn ich zeigte ihm Spott und Entsetzen, als er eines Tages in die SPD eintrat.310
Obgleich sich die Quellenlage durch die mittlerweile veröffentlichten Briefwechsel zwischen Barth und Thurneysen in den Jahren 1930–1935 erheblich verbessert hat, sind an diesem Punkt noch weitere Klärungen erforderlich. Es ist allerdings nicht zu bestreiten, dass Barth ein konstruktives theologisches Bemühen zur Begründung demokratischer Werte und Verfassungselemente während seiner Lehrtätigkeit in Deutschland über die Ansätze der Ethikvorlesungen hinaus nicht in den Blick nimmt. Hier ist Graf zuzustimmen, denn ein entscheidender Wandel findet erst mit der Entstehung von Rechtfertigung und Recht und der von Barth nach dem Anschluss Österreichs empfundenen unmittelbaren Bedrohung der freien Rechtsstaaten statt. Den Plan zur Abfassung der Schrift fasste Barth offenbar im April 1938 und äußerte ihn in einem Brief vom 12.4.1938 gegenüber Thurneysen. Barth erwägt einen Vortrag »unter dem Titel: ›Rechtfertigung und Recht‹ […], auf Grund von allerhand Gesprächen der letzten Zeit«, und fährt fort: Meinst du nicht auch, dass das ganze Staatsproblem – und dann auch das Kriegsproblem uns noch einmal ganz anders anschaut, seit wir es mit dem Geltungs- und Machtanspruch des Fascismus zu tun haben, dessen Bosheit nun eben doch nicht einfach mit dem Hinweis auf die auch vorhandene Bosheit anderer Systeme zu relativieren ist, sondern der gegenüber man sich nun eben doch für unsre ach so bedenkliche schweizerische Demokratie totschiessen lassen müsste? Ich lese hier […] die Neuen Wege seit 1908 […] und sehe daraus[,] wie wir vor und nach 1914 bei der ganzen 310
GOLLWITZER, Erinnerungen, 284f.
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Sache stur auf das Nationalitätenproblem eingestellt waren und von da aus billig mit der allgemeinen christlichen Relativierung antworten konnten. Heute hat diese Fragestellung eigentlich keinen Sinn mehr und die Frage erhebt sich, ob wir fernerhin so tun dürfen, als ob sich vom Glauben an die Rechtfertigung aus nicht auch eine ganz bestimmte Stellung zum Recht ergebe. […] Mit dem Wort von 1914 kommen wir[,] seit es einen Hitler und Mussolini giebt, nicht mehr durch.311
Die Frage nach jenem Zusammenhang wird auch in einem am 18.4.1938 geschriebenen Brief an F.A. Voigt deutlich, in dem er für die Übersendung von dessen Buch Unto Caesar dankt und anmerkt: Ihr Buch ist in der Hauptsache ein polemisches Buch. So kommt es, dass es nach der theologischen Seite von der Erkenntnis beherrscht ist, dass der Staat um der Sünde willen sein muss und also nicht zum Instrument eines angeblichen Himmels auf Erden gemacht werden darf. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten können über die positive Seite dieser Erkenntnis. Die Ueberwindung der Sünde ist die göttliche Vergebung oder »Rechtfertigung« (justification). Inwiefern kommt man von ihrer Erkenntnis aus zur Erkenntnis des relativen Rechtes des Staates. […] Ich bin sicher, dass hier ein notwendiger Zusammenhang besteht. Ich gestehe aber, dass ich ihn im Augenblick nicht zu formulieren wüsste.312
Die »allgemeine christliche Relativierung« des Politischen leitet sich gedanklich aus Barths Bemühen her, ausgehend von der Indienstnahme der Theologie im Ersten Weltkrieg (die maßgeblich seine Distanznahme zur Sozialdemokratie verursachte), jeglichen Bindestrich-Zusammenhang von Theologie und politischer Ideologie zu vermeiden. Im Oktober desselben Jahres schreibt Barth an Pierre Maury – unter dem Einfluss der Folgen seines Briefs an Hromadka – mit scharfer Selbstkritik: Ich habe es mir oft genug zum Vorwurf gemacht, dass ich in Deutschland zwischen 1921 und 1933 zu Allem, was ich um mich her geschehen sah auf politischem Gebiet, geschwiegen habe, um nur ja jede Verwechslung zwischen dem Reiche Gottes und irgend einer politischen Ideologie zu verhüten. Vielleicht war dies […] damals nötig oder doch entschuldbar. Heute geht das so nicht mehr. Heute ist der totale Staat nicht als Idee sondern als praktische Macht auf dem Plane und wie man zu dieser Sache – laut oder leise – etwas Anderes als eben Nein sagen können soll, das kann ich nicht einsehen.313
Der Widerspruch der Kirche gegen den totalen Staat müsse sich daher mit dem der Demokratien verbünden.314 Dass die konstruktive Zuordnung von 311
Barth an Thurneysen, 12.4.1938 (Original im KBA). Barth an F. A. Voigt, 18.4.1938 (Original im KBA). 313 Barth an Maury, 12.10.1938 (Original im KBA). 314 Barth verweist hier darauf, dass der kirchliche Widerspruch den der Demokratie noch übertreffe, insofern er das Problem nicht als bloß politisches, sondern als theologisches begreife: »Du weißt, dass ich einen gründlicheren und radikaleren Widerstand gegen dieses System kenne und vertrete als den, der von den Demokratien auch im besten Fall geleistet werden könnte. Aber darum 312
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Rechtfertigung und Recht im Denken Barths gleichwohl eine Vorgeschichte aufweist, hat Jüngel überzeugend in Auseinandersetzung mit Graf anhand der Ethikvorlesungen gezeigt.315 Es ist nicht fraglich, dass Barths politische Haltung in der Zeit der Weimarer Republik nicht die Eindeutigkeit besaß, die vor dem Hintergrund seiner Rolle im Kirchenkampf zu erwarten wäre. Dieser Sachverhalt, den Graf zutreffend notiert, richtet sich freilich weniger gegen Barths durchaus selbstkritische spätere Äußerungen, als vielmehr gegen bestimmte Interpretationsrichtungen der Barthschen Theologie und politischen Haltung, die insbesondere in den 70er und 80er Jahren das »Barth-Bild« prägten.316 Jedoch lassen sich nicht wenige Belege dafür finden, dass Barths politische Haltung sich in der Tat von den antiliberalen Strömungen innerhalb der Weimarer Republik und Gesellschaft unterscheiden ließ,317 dass Barth darüber hinaus keineswegs der »unpolitischste Universitätstheologe« dieser Zeit war.
6.4 Eine Problemanzeige Die benannten Aspekte des Barthschen Wirkens innerhalb der Weimarer Republik lassen erkennen, dass eine umfängliche Rekonstruktion seines Denkens und Weges in die Opposition zur nationalsozialistischen Herrschaft im Rahmen einer kritischen Barthbiographie noch aussteht. Jedoch lässt sich der »Antiliberalismus« Barths seiner Intention nach schwerlich in die Nähe zu den diversen antiliberalen Strömungen bringen, die schließlich dem Nationalsozialismus den Boden bereiteten. Zwar ist ein politischkonstruktives Potential der Barthschen Theologie in der Phase des zweiten Römerbriefs, wie häufig bemerkt wurde, kaum in der Reichweite seines Denkens, jedoch wäre gerade im Rahmen einer milieu-orientierten Historisierung hier die Bedeutung des Schweizer Kontextes zu bedenken, der bestimmte Fragen nicht in gleicher Weise dringend erscheinen ließ, wie ist das, was die Demokratien in dieser Sache leisten könnten und nach ihrem eigenen Programm leisten müssten, doch nicht gleichgiltig. Und es kann die Kirche dem, was die Demokratie in dieser Sache tut oder nicht tut, nicht unverantwortlich und also auch nicht schweigend gegenüber stehen, als ob sie den totalen Staat neutral für eine Möglichkeit neben anderen hielte. Die bekennende Kirche in Deutschland hat sich das leider nicht klar gemacht und muss nun schwer genug dafür büssen.« 315 JÜNGEL, Zum Verhältnis von Kirche und Staat nach Karl Barth, 118 Anm. 165. 316 Zur Einschätzung Barths s. BARTH, Gespräche 1964–1968, 250: »Ich bin eigentlich von Natur gar kein streitbarer Mensch. Ich habe auch bis ins Jahr 1933 hinein ganz fröhlich an meinem Schreibtisch und in meinen Vorlesungen und unter den Studenten gelebt. Ich glaube nicht, daß die Leute, die mich damals gehört haben, von mir den Eindruck eines Streiters gehabt haben.« 317 Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der nationalprotestantisch geprägten kirchlichen Milieus festzuhalten (vgl. SCHOLDER, Neuere deutsche Geschichte, 87ff).
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dies in der jungen Weimarer Republik der Fall war. Zudem lässt sich der starke Einfluss persönlicher Begegnungen und lokaler Konflikte auf Barth ersichtlich machen. Diese Differenzen wären im Vergleich zu dem Naumannschen und Troeltschen Wirken in jener Zeit zu berücksichtigen gewesen. Sowohl »heiligenlegendenartiger Verklärung« der politischen Haltung Barths wie auch deren allzu kritischer Beurteilung gegenüber wäre hier Vorsicht angebracht. Die Auseinandersetzung zwischen Graf und Tödt im Blick auf die 20er Jahre geht in ihrem Kern auf ein Problem der Theologie Barths selbst zurück. In der ersten Zeit spielen die großen »Gelehrtendiskurse« der Weimarer Republik gegenüber der inhaltlichen Aufgabe einer auf die kirchliche Verkündigung bezogenen Theologie für Barth in der Tat keine maßgebliche Rolle, ebenso erweist sich die Suche nach einer klaren Zuordnung Barths im Kontext des Weimarer Parteienschemas als problematisch.318 Barth versteht die konstruktive Mitwirkung am politischen Geschehen während dieser Zeit nicht als seine Aufgabe, um nach den Erfahrungen des Jahres 1914 nicht vorschnell einer politischen Identifikation zu erliegen, derer sich die Theologie aufgrund der Barthschen Interpretation des Blumhardtschen »Gott ist Gott und Welt ist Welt« zu enthalten hat. Ein ausgewogenes theologiegeschichtliches Urteil im Blick auf die Theologie Barths muss daher versuchen, zwei Untersuchungsgänge miteinander zu verschränken. Auf der einen Seite sind biographiebezogen der Denkweg Barths und seine Beurteilung des politischen und gesellschaftlichen Geschehens während der Weimarer Zeit zu ermitteln. Auf der anderen Seite wäre dieser Denkweg in dem historischen Kontext zu verorten, seine Rezeption wäre zu erheben und anhand transparenter Kriterien einem historischen Urteil zuzuführen. Was die Rezeption Barthscher Theologie anbelangt, so wäre darüber hinaus eine Unterscheidung verschiedener Ebenen erforderlich. Als erste Ebene wäre das enge, durch persönliche Begegnung bestimmte Umfeld etwa der Universität zu bestimmen, in einem weiteren Sinne wäre diejenige literarische Öffentlichkeit zu benennen, die theologisches Schrifttum zur Kenntnis nimmt und theologische Zeitschriften bezieht. Der weiteste Sinn der Rezeption wäre dort zu sehen, wo innerhalb eines kulturellen Zusammenhangs etwa einzelne Schriften oder etwa Spitzensätze rezipiert werden, ohne dass deren semantischer und gedanklicher Kontext dabei zwangsläufig berücksichtigt wird. In den ersten beiden Radien konnte, dies lassen die oben genannten Hinweise erkennen, Barths Theologie kaum in die Vorgeschichte des Untergangs der Weimarer Republik eingeordnet werden – gerade in der Zeit, in der die Republik »geistig sturmreif geschossen« wurde, hat sich Barth vermehrt kritisch zu den Entwicklungen geäußert. Anders 318
Vgl. NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 13f.
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mag es dort aussehen, wo Barths Theologie anhand von Schlagworten zur Kenntnis genommen wurde, bzw. die in Barths Römerbrief sich niederschlagende geistige Stimmung seine Wahrnehmung bestimmte.
7. Barths politisches Urteil nach 1945 Dass Grafs Deutung ein grundsätzliches negatives Urteil hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Theologie Barths zur Bewältigung der Probleme moderner Gesellschaften impliziert, wird in seiner Deutung der politischen Wirkung Barthscher Theologie innerhalb der deutschen Nachkriegsgeschichte ersichtlich. Wiederum wird diese Deutung unter dem methodischen Paradigma der »Historisierung« entwickelt.319 Barths Theologie ziele von Beginn an auf politische Wirkung, insofern sie eine »Entdifferenzierung von Glaube und Politik« vollziehe. Diese zeige sich bereits in der sprachlichen Verschränkung von »politischer Rhetorik« und klassisch dogmatischen Sprachspielen: »Schon dieser Sprachstil Barths belegt: Er kennt keine prinzipielle Selbständigkeit des Politischen.«320 Wirksam wurde Barths Theologie damit insbesondere als »kirchliche Milieutheologie«, sie ermöglichte bestimmten inneren kirchlichen Kreisen die Wahrnehmung des »Außen«, der modernen differenzierten »Welt«. Damit leiste seine Theologie jener, bei Rendtorff als Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit Barth festgestellten, problematischen Abgrenzung der Besonderheit der Kirche der Welt gegenüber theologische Vorarbeit. Dies erweise sich aber nicht nur im Blick auf die praktischen Folgen im Selbstverständnis der Kirche als problematisch. Insofern die dogmatische Sprache zugleich eine sprachliche Grenze markierte, habe sie dazu geführt, »daß außerhalb dieser Milieus einseitig nur das Politische wahrgenommen wird«,321 das zugleich nicht sprachlich aus der binnentheologischen Perspektive vermittelt werde. Barth und »seine zahlreichen Anhänger« kämen daher über die Behauptung ihrer Position »im Gestus frommer Unbedingt-
319 GRAF, Die Theologie Karl Barths und ihre politische Wirkung, 134: »Solche Historisierung, wie sie in der Zeitgeschichtsforschung über den Nationalsozialismus, den deutschen Widerstand und die Frühgeschichte der beiden deutschen Staaten inzwischen selbstverständlich ist, bedeutet für die Barth-Forschung zweierlei: zunächst ein präziseres Verständnis von Barths politischen Optionen durch eine genauere Analyse ihres jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontextes; sodann eine an Einzelfällen orientierte Überprüfung von Barths These, daß seine politischen Entscheidungen eine direkte und notwendige Folge seiner Theologie seien. Historisierung bedeutet immer Relativierung: sie ist das einzige Mittel sowohl gegen eine unkritische Barthverehrung als auch gegen eine pauschale Globalverurteilung.« 320 Ebd., 135. 321 Ebd.
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heit« nicht hinaus, und der politische Widerspruch werde sogleich zum religiösen übersteigert.322 Damit tritt freilich das Problem der Verhältnisbestimmung von Barth und seinen »Schülern«, insbesondere dem linkspolitisch orientierten »Barthianismus«, auf. Obzwar die deutschen Barthianer, die »in den späten vierziger und fünfziger Jahren für eine neue Einheit von Religion und Politik kämpfen und mehr oder weniger offen eine Klerikalisierung des Politischen betreiben«,323 von Barths Widerspruch gegen solche Klerikalisierung des Politischen getroffen würden, sei ihr Versuch nicht ohne Anhalt an seinem Denken. Erweise sich Barth nämlich in der Ablehnung jener Klerikalisierung »als ein moderner, durch die Aufklärung und deren Folgen geprägter Theologe«,324 so stelle andererseits die der Tradition gegenüber starke theologische Begründung des Staates aus der »Königsherrschaft Jesu Christi« einen »vormodernen Anspruch«325 dar. Unklar bleibe bei Barth das Verhältnis der theologischen Begründung »zu jenen verfassungsmäßigen Begründungsmustern […], mit denen der moderne parlamentarisch-demokratische Rechtsstaat legitimiert wird«.326 Auch hier seien einerseits die moderne Kritik jeder »ideologischen Selbstverabsolutierung« einer philosophischweltanschaulichen Begründung des Politischen und die vormoderne Prävalenz der theologischen Begründung eigentümlich miteinander verschränkt. Die prinzipielle Relativierung führe zudem zu einer fragwürdigen Nivellierung der Unterschiede zwischen politischen Systemen. So sehe Barth die grundsätzliche Möglichkeit anderer Gestalten des rechten christlichen Staates,327 darunter auch die Diktatur, und auch seine Deutung der Nachkriegsgeschichte der beiden deutschen Staaten unter dem Leitbegriff »Totalitarismus« sei undifferenziert.328 Grafs Urteil fällt daher ambivalent aus: So sehr Barth antidemokratisches Denken im deutschen Luthertum und den Glauben an eine besondere politische Mission der Deutschen kritisiert hat, so sehr ist er doch selbst durch ein sozialromantisches Politikverständnis geprägt, das zu konstitutiven Elementen der liberal-parlamentarischen Demokratie in Spannung steht.329
322
Ebd., 136: »Sie können gar nicht anders, als die Kritiker ihrer politischen Einstellungen unter religiösen Bekenntniszwang zu setzen, indem sie bei Kontroversen um eine politische Einzelfrage immer wieder aufs theologisch Prinzipielle verweisen.« 323 Ebd., 137. 324 Ebd. 325 Ebd., 138. 326 Ebd. 327 Im Bezug auf BARTH, Christengemeinde und Bürgergemeinde, 36. 328 Mit Hinweis auf Barths Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik verweist Graf auf eine »Neutralisierung« des Totalitarismusbegriffs (GRAF, Die Theologie Karl Barths und ihre politische Wirkung, 139f). 329 Ebd., 140.
Barths politisches Urteil nach 1945
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Obgleich in der Erwählungslehre der Kirchlichen Dogmatik der Einzelne gerade gegen den Zeitgeist vorgeordnet werde, lasse die Kirchentheorie Barths eine Homogenitätsforderung erkennen, die dem im innerprotestantischen Raum bestehenden Pluralismus hinsichtlich Frömmigkeitstraditionen und politischen Positionen nicht Rechnung trage:330 Die monistische Grundorientierung seiner Theologie bringt es mit sich, daß Andersdenkende in der Kirche primär nur als Abweichler und potentielle Ketzer bzw. Häretiker wahrgenommen werden können. […] Im bundesdeutschen Protestantismus ist Barths Lehre von der Kirche denn auch zumeist nur als Volkskirchenkritik wirksam geworden.331 Barths politisches Urteil nach 1945
Dieselbe Tendenz kennzeichne aber auch Barths Verhältnis zu einem »konfliktorientierten Gesellschaftsmodell«, insbesondere was seine kritische Sicht des gesamten Parteienwesens anbelangt.332 Obgleich die Kritik an Barths Bemühung um einen konstruktiven Zugang zum modernen Politik- und Staatsverständnis damit überaus scharf ausfällt, würdigt Graf das »faszinierende ideologiekritische Potential der Theologie Barths«. Die Formel von der »Königsherrschaft Jesu Christi« ermögliche gegenüber jenen »Loyalitätsforderungen, die soziale Gruppen, Parteien und Verbände bzw. das politische System an den einzelnen immer wieder richten«,333 die kritische Abgrenzung eines Freiheitsraumes und »drückt eine elementare, letzte Selbständigkeit des Individuums gegenüber seiner sozialen Umwelt aus«.334 Beispiele für Barths kritische Orientierungsleistung sieht Graf etwa in der Ablehnung der »Re-Christianisierung der politischen Institutionen«,335 die von konservativen Politikern in der Nachkriegszeit betrieben wurde. Ihren problematischen Zug zeige Barths Theologie erst dort, wo sie konstruktiv die Begründung von Staat und Politik entwerfe und in die Gefahr der eigenen Absolutsetzung gerate. Durchgehend aber zeigt sich hier deutlich, dass Grafs Deutung der politischen Dimension des Barthschen Werkes von dem Bewusstsein der Überlegenheit der Leistungen des Neuprotestantismus getragen wird.
330
Ebd., 141. Ebd. 332 Mit Verweis auf BARTH, Christengemeinde und Bürgergemeinde, 37. 333 GRAF, Die Theologie Karl Barths und ihre politische Wirkung, 143. 334 Ebd. 335 Ebd. 331
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8. Ertrag: Barthdeutung als Historisierung Der Weg der Grafschen Barthdeutung, beginnend in weitestgehender Übereinstimmung zu Falk Wagners absolutheitstheoretischer Interpretation, verfolgt sodann mit dem Konzept konsequenter Historisierung eine eigenständige Richtung. Die entscheidende Differenz zu Rendtorff und Wagner ist darin zu sehen, dass bei Graf kein entsprechendes konstruktives Bemühen erkennbar ist, welches etwa bei Rendtorff auf die Überbietung und Aufhebung der Auseinandersetzung zwischen Troeltsch und Barth in der Theorie des Christentums zielte. Auch Wagner intendierte, wie gezeigt wurde, zumindest in der frühen Phase der Absolutheitstheorie die Aufhebung sowohl der liberalen Theologie als auch der unterschiedlichen Neuaufbrüche innerhalb des 20. Jahrhunderts. Entsprechend konnten beide in der Theologie Barths einen konstruktiven Gedankenfortschritt innerhalb der Christentums- bzw. Geistesgeschichte sehen, ohne die vermeintlichen problematischen Konsequenzen aus dem Blick zu verlieren. Dem jeweiligen konstruktiven systematischen Interesse entsprechend erlangte für beide eine präzise theologiegeschichtliche Untersuchung der Genese der Theologie Barths keine eigenständige Bedeutung. Ertrag Graf scheint sich, obgleich in seiner Kritik insbesondere Wagners Einwände modifiziert wiederkehren, hinsichtlich der Verhältnisbestimmung zwischen Barth als Exponent der dialektischen und Troeltsch als Exponent der neuprotestantischen Theologie hinter Rendtorffs Theorie des Christentums auf das Niveau der Rendtorffschen Habilitationsschrift zurück zu bewegen. Der Bruch mit dem Problem der Geschichte scheint im Kontext des antibürgerlichen Ressentiments die hinreichende Begründung zur Entstehung der dialektischen Theologie zu liefern. Der Weg der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts wird damit aus der Perspektive Troeltschs rekonstruiert, wobei die breit angelegte Kontextualisierung der Theologie Barths unter Aufnahme des neueren geschichtswissenschaftlichen Diskurses seinen wesentlichen Beitrag zur neueren Barthinterpretation bildet.336 In der Tat bildet die zeitgenössische Kultur einen oft vernachlässigten möglichen Interpretationshorizont der Theologie Barths, vor dem sich be336
Zur Kritik der fehlenden konstruktiven Potentiale der maßgeblich von Graf getragenen Troeltsch-Renaissance vgl. WAGNER, Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 159f, in der Besprechung der ersten Bände der »Troeltsch-Studien«: »[…] dem imposanten historiographischen Aufwand korrespondiert nicht ein entsprechender systematisch-theologischer Ertrag. Erschöpfen sich die systematisch orientierten Beiträge weitgehend darin, Troeltschs Theorien im Bewußtsein offener Probleme zu rekonstruieren, so wird dadurch der Eindruck zwar nicht vom ›Aporetiker‹ Troeltsch, wohl aber von der Verlegenheit seiner Reproduzenten verstärkt, die, geblendet von der ›Faszination durch die von Troeltsch bezeichnete Problematik‹ ([TroeltschStudien] Bd. 3, 9), nur in der Lage sind, die von ihm hinterlassenen Probleme ›wie offene Wunden‹ ([ebd.,] 339) zu pflegen.«
Ertrag
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stimmte Aspekte sinnvoll erhellen lassen.337 Hier liegt der berechtigte Hinweis Grafs, insbesondere im Blick auf die Rezeptionsgeschichte der Theologie Barths im Kontext der Geistesgeschichte der 20er Jahre. Aus der damit eingenommenen Außenperspektive ist allerdings noch nicht die Basis gewonnen, von der aus ein derart weitreichendes Bild entworfen werden kann, wie Graf es versucht. Um die Entstehung der Theologie Barths angemessen zu bestimmen, wäre die Außenperspektive auf eine Innenperspektive zu beziehen, die sich im Fall der Theologie Barths durch die edierten Briefwechsel338 erschließen lässt. Nur dann könnte insbesondere die These einer rein funktionalen Verwendung der Frage nach Gott im Dienste einer Elitetheorie plausibel belegt werden. Dieses rein funktionale Verständnis der Theologoumena durch Graf verdeutlicht letztlich, dass hier die Ideengeschichte jeglicher relativer Eigenständigkeit entbehrt und den bloßen Überbau bzw. die sprachliche Ausdrucksgestalt sozial- und kulturgeschichtlich motivierter Theoriebildung darstellt. Der Rekurs auf dogmatische Gehalte ist funktionsäquivalent zu dem auf Gehalte der Romantik oder Antike bei anderen Antihistoristen.339 Damit freilich verfehlt Graf das von ihm zuvor herausgestellte Ziel der »Historisierung«, die recht verstanden das bessere Verstehen theologischen Denkens intendiert, nicht hingegen die grundsätzliche Auflösung der Theologie als – zumindest relativ – eigenständiger Gedankenbewegung. Ihren stark wertenden Charakter erhält Grafs Deutung der Theologie Barths, indem sie diese im Blick auf ihre Folgen interpretiert, welche sich an der Herausforderung einer modernen Individualitätskultur und der demokratischen Verfassung eines pluralitätsfähigen Staatswesens messen lassen müssen. Obgleich die Frage nach der Wirkung Barthscher Theologie innerhalb der Weimarer Republik zu diskutieren bleibt,340 ist es problema337 Vgl. dazu etwa jüngst BOYD, Dogmatics among the ruins, der die Theologie Barths im Kontext des Expressionismus interpretiert. 338 So lagen 1986 bzw. 1988 zumindest die Briefwechsel Barth – Thurneysen allgemein zugänglich in der Karl Barth-Gesamtausgabe vor. 339 Hielt auch Wagner die Rekonstruktion der Barthschen Theologie durch andere Gehalte für möglich, so galt dies doch auf der Ebene des absolutheitstheoretischen Begriffs. Bei Graf wird dieses Verfahren durch die elitetheoretische Grundstruktur ermöglicht. Er bleibt dabei aber die von ihm eingeforderte selbst Differenzierung innerhalb der Theologie- und Geistesgeschichte schuldig. Er differenziert zwar innerhalb der Gesellschaft des Kaiserreichs und der jeweiligen inhaltlichen Besonderheit der theologischen Profile eindrücklich, die darauf folgende Generation des theologischen Abbruchs bzw. Neuaufbruchs hingegen wird einseitig aus der Perspektive des Neuprotestantismus und ohne eine entsprechende Differenzierung wahrgenommen. 340 Vgl. dazu auch LÖWITH, Leben in Deutschland, 24f. Löwith stellt hier (1940!) fest (ebd., 25): »Außer Spenglers Buch [sc. Der Untergang des Abendlandes] hatte nur noch eines eine ähnliche Bedeutung, obschon eine beschränktere Wirkung: der gleichzeitig erschienene Römerbrief Karl Barths. Auch dieses Werk lebte von der Verneinung des Fortschritts, indem es aus dem Verfall der Kultur theologischen Nutzen zog. Der durch den Krieg beförderte Unglaube an alle
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Historisierung (F.W. Graf)
tisch, a priori jede Kritik des Liberalismus ins Unrecht zu setzen. Für Graf sind es allein die Traditionen der liberalen Theologie, welche den Herausforderungen analytisch Rechnung zu tragen vermögen. Solche liberale Positionalität hätte im Medium theologiegeschichtlicher Darstellung kritischer Selbstreflexion bedurft. Den Charakter dieser Positionalität stellte Graf jüngst heraus: Der Versuch einer konstruktiven Anknüpfung an die Traditionen des deutschen bildungsbürgerlich-liberalen Kulturprotestantismus bedeutet: Für die weichen, toleranten, menschenfreundlichen Gestalten von Religion habe ich sehr viel größeres Verständnis als für dogmatisch harte, moralisch rigide, repressive und intolerante religiöse Lebenswelten. Skeptiker sind mir in aller Regel sympathischer als Fanatiker, und mit aufgeklärten Menschen vermag ich leichter zu kommunizieren als mit verbohrten Vorurteilsträgern. Wer den dogmatischen Glauben an die eigene moralische Vorzüglichkeit und überlegene Toleranz vermeiden will, den viele Liberale gern kultivieren, muss jedoch die Begrenztheit dieser vermeintlich so liberalen Perspektive und die strukturelle Intoleranz der sie konstituierenden normativen Leitannahme sehen. Für einen kulturprotestantisch sozialisierten westdeutschen Intellektuellen, der gleichsam den antitotalitären Grundkonsens der alten Bundesrepublik internalisiert hat, sind viele Formen gelebter Religion, auch gelebter christlicher Religion, nur sehr schwer verständlich. Sie bleiben ihm möglicherweise weithin verschlossen. Intellektuellen, die gern tolerant und liberal sein wollen, fällt es leicht, Menschen, die es mit ihrem Glauben wirklich ernst meinen, als »Fundamentalisten« zu klassifizieren. Aber in solch einer Etikettierung äußert sich auch die Unfähigkeit der Intellektuellen, der Allmacht religiösen Glaubens im Leben vieler Menschen gerecht zu werden.341
In dieser Selbstdiagnose des ›intellektuellen Liberalen‹ kehren gleichsam reflexiv die Probleme der reinen überlegenen Außenperspektive wieder, die dem Phänomen des Glaubens letztlich irritiert gegenübersteht. Indes besteht der anzuerkennende Wert der Beobachtungen jener liberalen Intellektuellen darin, dass der aus einer Binnenperspektive Argumentierende sich ihre kritische Diagnose gefallen lässt, eingedenk dessen, dass seine Theologie vor Selbstverabsolutierung nicht sicher ist. Auch die Historisierung der Theologie Barths selbst ist historisierbar, d.h. sie steht selbst unter dem Einfluss von deren Wirkungsgeschichte und ist in gewisser Hinsicht als negative Reaktion (»Antibarthianismus«) zu verstehen. Dass dies den Blick für eine stärkere Differenzierung zwischen Barths Theologie und deren Folgen im deutschen Nachkriegsprotestantismus schärfen sollte, wird freilich nur gelegentlich deutlich: menschlichen Lösungen trieb Barth vom christlichen Sozialismus zu seiner radikalen Theologie, die jede ›Entwicklung‹ des Christentums in der Wurzel verneint. Diese beiden Schriften Spenglers und Barths waren in dieser durch das Ende des Ersten Weltkriegs gestempelten Zeit die uns am meisten erregenden Bücher.« S. auch HEUSS, Erinnerungen, 177. 341 GRAF, Lob der Differenz, 14
Ertrag
329
Im Kontext des Kampfes um die Selbständigkeit der Kirche nach 1933 ist Barths Theologie primär als »Kirchentheologie« im Gegensatz zu »Kulturtheologie« wirksam geworden. Sie dient bis in die Gegenwart häufig zur Legitimation eines kulturellen Avantgarde- bzw. politischen Führungsanspruches der empirischen Kirche. Inwieweit solche Funktionalisierung der unbedingten Souveränität des Wortes Gottes auf die empirische Kirche hin den Intentionen Barths entspricht, ist in der neueren Barth-Diskussion umstritten.342
Sofern die Positionalität einer solchen Kritik der Theologie Barths im Lichte ihrer Wirkungsgeschichte bewusst gehalten und transparent gemacht wird, dürfte sie im Kontext der bisher diskutierten Barthdeutungen die erste sein, die einen weiterführenden Beitrag zu einer theologiegeschichtlichen Rekonstruktion bildet, die sich am Bestand des Barthschen Werkes auszuweisen vermag.
342 GRAF/TANNER, Das religiöse Fundament der Kultur, 44. Bezeichnend ist aber, dass als Alternative eine anders ausgerichtete Funktionalisierung im Blick auf die gesellschaftliche Situation angeboten wird: »Auf dem Hintergrund von Barths programmatischen Gegensatz gegen die lutherischen Kulturekklesiologien der zwanziger Jahre läßt sich die theologische Dogmatisierung des Kulturbegriffs auch als subtile Anpassung an die mit der gesellschaftlichen Differenzierung verbundene gesamtkulturelle Marginalisierung der Kirche deuten. Die theologische Reservatsprache wäre dann als Mittel reflektierter Darstellung und Akzeptanz der eigenen Partikularität zu deuten. Sie wäre zugleich Ausdruck des Verzichts auf den überkommenen kulturtheologischen Anspruch, im Medium der Religion eine umfassende Einheit aller Kultursphären formulieren zu können.« (ebd.) Diesen zur postmodernen Barthdeutung tendierenden Ansatz hat Graf jedoch nicht weiter verfolgt.
Teil 4: Karl Barths dialektische Theologie (Dietrich Korsch)
1. Einführung Im Anschluss an die Untersuchungen zu Rendtorff, Wagner und Graf ist ein Seitenblick auf Dietrich Korschs Deutung der Theologie Karl Barths im Horizont der Neuzeit geboten. Korsch profiliert seinen eigenständigen Zugang in kritischer Auseinandersetzung mit den in dem Band Die Realisierung der Freiheit versammelten Untersuchungen.1 Insofern der Schwerpunkt dieser von ihm eröffneten Auseinandersetzung in der Diskussion der Voraussetzungen jener Deutungen liegt, trifft sie sich mit dem in den vorangegangenen Abschnitten beschrittenen Weg.2 Neben die Kritik der diese Barthdeutungen leitenden Voraussetzungen tritt bei Korsch jedoch zugleich eine positive Anknüpfung an deren wesentliche Grundeinsichten. Die »Historisierung« der Theologie Karl Barths3 erscheint ebenso unumgänglich wie ihre Rückführung auf eine religionsphilosophische Ebene, auf der die Konstruktionsprinzipien sichtbar werden.4 Auf dieser Ebene kann Korschs Einschätzung nach als konstruktiver Ertrag der Beschäftigung mit der Barthschen Theologie ein Begriff »dialektischer Theologie« gewonnen werden, welcher den so genannten »Bruch« zwischen der dialektischen Theologie und der vorangegangenen Theologiegeschichte als bloß scheinbar erweist.5 »Dialektische Theologie« könne jenseits ihres historischen Auftretens »als eine Strukturtheorie des Protestantismus« verstanden werden, »nämlich als die durchaus in verschiedenen Positionen sich ausprägende Bemühung, die Grundeinsichten der Reforma1
Vgl. dazu die 1981 erstmals veröffentlichte und damit früheste Studie zur Deutung der Theologie Barths Christologie und Autonomie. Zur dogmatischen Kritik einer neuzeittheoretischen Deutung der Theologie Karl Barths. 2 Korsch beschränkt sich jedoch in seinen knappen Überlegungen auf das den Deutungen jeweils zugrunde liegende Freiheitsverständnis und bettet die Barthdeutung nicht werkgeschichtlich ein. 3 Im engen Sinne wird der Begriff »dialektische Theologie« für die Barthsche Theologie zwischen den Weltkriegen verwendet (KORSCH, Dialektische Theologie, VII). 4 Die Historisierung geschieht im Interesse der Einsicht in die systematischen Prämissen – vgl. ebd., VIII: »Diese Historisierung geschieht im Interesse der systematischen Aufgabe, die Struktur dialektischer Theologie genauer zu erfassen.« 5 Ebd., VIII.
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Karl Barths dialektische Theologie (D. Korsch)
tion im Angesicht der Entwicklung der Moderne zu bewähren und zu vertiefen«.6 Elemente »dialektischer Theologie« lassen sich daher auch jenseits der dialektischen Theologie im engen Sinne erkennen. Die Barthdeutung steht bei Korsch in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem konstruktiven Bemühen, auf diesem Wege einen innerhalb der »pluralistischen Spätmoderne« »deutungskompetenten«7 Begriff »dialektischer Theologie« zu entfalten, der in gewisser Hinsicht zugleich die Notwendigkeit einer Überschreitung der Theologie Karl Barths erfordert. Im Blick auf die vorangegangenen Untersuchungen dieser Arbeit lässt sich damit bereits ein Proprium der Deutung Korschs festhalten. Die Theologie Barths soll nicht als Durchgangsstation zu einem diese – als einer radikalen Gestalt des Neuprotestantismus – überbietenden Begriff des Neuprotestantismus bzw. als unvermittelbare Gegenreaktion auf den Neuprotestantismus verstanden werden. Vielmehr soll das Programm einer »dialektischen Theologie« fortgeschrieben werden, und dies vor dem Hintergrund, dass Potentiale »dialektischer Theologie« zeitlich bereits vor Barth auftreten und geradezu sachnotwendig das Wesen der Theologie kennzeichnen.
2. Die Kritik der neuzeittheoretischen Barthdeutungen Korschs im Jahre 1981 erschienene Darstellung und Kritik der von ihm als »neuzeittheoretische Barthdeutungen« bezeichneten Untersuchungen Rendtorffs, Wagners und Grafs (vor dem Hintergrund des Bandes Die Realisierung der Freiheit) stellt bis in die Gegenwart hinein einen maßgeblichen Ansatz zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen Deutungsansätzen dar. Von wenigen Hinweisen auf sachliche Missverständnisse in den Deutungen abgesehen,8 stellt Korsch vor allem eine Analyse von deren Voraussetzungen in das Zentrum seiner Überlegungen: So sei die von Rendtorff, Wagner und Graf im theologiegeschichtlichen Zugriff angewandte Hermeneutik an Hegel geschult und ziele auf die reflexive Überbietung der Theologie Barths. Mit der die genannten Autoren verbindenden Einsicht in die konstruktive Tätigkeit von Selbstbewusstsein, die als Inanspruchnahme von Freiheit die unhintergehbare Voraussetzung theologischer Theoriebildung – der eigenen und der zu deutenden – bilde, sei der tragfähige Grund einer solchen Überbietung erreicht: Kritik der neuzeittheoretischen Barthdeutungen Das Schema der Überbietung, von dem in der Regel Kritik und Interpretation als Mittel theologischen Fortschritts Gebrauch zu machen pflegen, ist damit in sein 6
Ebd., VII. Vgl. ebd., VIII. 8 KORSCH, Christologie und Autonomie, 149f. 7
Kritik der neuzeittheoretischen Barthdeutungen
333
reflexives Stadium eingetreten: Der Prozeß der Erzeugung von Theologie wird in den systematischen Begriff von Theologie aufgenommen.9
Das zugrunde gelegte Rekonstruktionsprinzip der Freiheit lasse dieses Verfahren selbst als unüberbietbar erscheinen, da es axiomatisch als theoretisch und moralisch unumgänglich qualifiziert werde. Das Unterlaufen des neuzeitlichen Reflexionsniveaus in seiner aufklärerisch-idealistischen Fassung auf der einen und die Gefährdung der neuzeitlich verwirklichten Freiheit (des Individuums) auf der anderen Seite bildeten nämlich die Gefahren, die mit dem Verlassen des neuzeittheoretischen Ansatzes unvermeidbar verknüpft seien. Die Rekonstruktion der Theologie Barths vor dem Hintergrund einer theologiegeschichtlichen Kontinuität zur Theologie des 19. Jahrhunderts diene in erster Linie dem Erweis, dass das vorausgesetzte Rekonstruktionsprinzip eine Fundamentalperspektive auf jegliche theologische Theoriebildung eröffne. Korsch stellt somit zutreffend den Charakter der von Rendtorff, Wagner und Graf10 vorgelegten Barthdeutungen heraus. Diese zielen auf den »Begriff« der dialektischen Theologie, indem sie den Fortgang der Geschichte der Freiheit auch dort nachzeichnen, wo sie in der materialen Entfaltung verborgen bleibt, und der scheinbare Widerspruch gegen die neuzeitliche Emanzipation in den Vordergrund gestellt wird. Das konstruktive Anliegen, welches in der Barthdeutung verfolgt würde, sei so der Versuch »der Rechtfertigung des neuzeitlichen Autonomiegedankens mit den Mitteln der Theologie«.11 In diesem Interpretationsrahmen liege das Proprium der im Rekurs auf Rendtorffs These der »radikalen Autonomie Gottes« verbundenen Deutungen, da »einerseits mit Autonomie, Selbstbestimmung, Selbstbegründung der Bezugshorizont aller neuzeitlichen Auslegung umschrieben und insofern andererseits im Begriff des sich selbst begründenden Wortes Gottes das Konstruktionszentrum der Theologie Karl Barths ausgemacht werden soll«.12 Der Horizont dieser Interpretation, der in der begriffenen Theologie Barths seine Bestätigung finde, erfordere sodann zugleich die Kritik an Barths Verständnis von Autonomie. Dieses sei aufgrund seiner Partikularität defizitär und müsse durch ein überlegenes Theoriekonzept aufgehoben werden – sei es die Wagnersche Theorie des Absoluten oder die Rendtorffsche Theorie des Christentums.13 Die Feststellung der disparaten Bestimmungen des überlegenen Theoriekonzeptes, insbesondere im Blick auf Rendtorff und Wagner, eröffnet so-
9
Ebd., 147. Hier, im Jahre 1981, im Blick auf Wagner und Graf freilich mit Bezug auf deren frühe absolutheitstheoretische bzw. subjektivitätstheoretische Barthdeutungen. 11 KORSCH, Christologie und Autonomie, 148. 12 Ebd., 166f. 13 Vgl. ebd., 148.166f. 10
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Karl Barths dialektische Theologie (D. Korsch)
dann jedoch Korschs Kritik jener Barthdeutungen.14 Es zeige sich nämlich, dass »sowohl die Verbindlichkeit des Interpretationsrahmens als auch die Triftigkeit des Interpretationsansatzes fraglich«15 seien. Bereits im Verhältnis zwischen den Autoren könne von einem gemeinsamen Verständnis »der neuzeitlichen Freiheit« keine Rede sein: Trutz Rendtorff scheint mit dem Begriff von Freiheit, der seine Kritik an Barth steuert, ein Verständnis von individueller Lebenswirklichkeit zu verbinden, der Theorie allemal nur nachlaufen kann; von dieser Freiheit wird wesentlich aus der Erfahrung gelebten Lebens gewußt, ihr Residuum und Hort ist Religion. Falk Wagner versucht, diesen lockeren Freiheitsbegriff zu präzisieren, indem er ihn auf den Begriff des Selbstbewußtseins konzentriert und in dessen theologischer Entfaltung die Auflösung der unendlichen Aufgabe der Selbstkonstitution von Freiheit intendiert.16
Die Differenz zwischen Rendtorff und Wagner lässt sich im Anschluss an Korsch daher auf unterschiedliche Bestimmungen des Verhältnisses von Theorie der Freiheit und Freiheit als Phänomen zurückführen. Die systematische Pointe Rendtorffs liegt in der Wahrung der gegebenen Freiheit, welcher die Theologie als Auslegung programmatisch den Freiraum erhält und ihr im Vollzug als Theorie des Christentums (methodisch) entspricht. Für Wagner hingegen gehört die Selbsterfassung des Subjekts innerhalb der Theorie des Absoluten zumindest bis zur empirisch-historischen Wende konstitutiv zum Begriff der Freiheit, letztbegründete Gewissheit angesichts des Problems der Begründung von Subjektivität stiftend. Die tiefe Übereinstimmung Rendtorffs und Wagners darin, dass die Freiheit als Tätigkeit von Selbstbewusstsein – als Kritik und Konstruktion – der materialen Entfaltung des Denkens immer schon vorausgeht und aus diesem Grunde zu dessen Interpretation vorausgesetzt werden muss, tritt in Korschs Darstellung jenen Unterschieden gegenüber zurück. Kritisch wird insbesondere Wagners konstruktive Entfaltung der Christologie als Versuch der Letztbegründung von Subjektivität beurteilt. Im Blick auf deren absolutheitstheoretische Rekonstruktion merkt Korsch an, dass Wagner auf diesem Wege gerade nicht zu einer Lösung der aporetischen Problemlage des Selbstbewusstseins gelange.17 Wagner konzipiere die Begründung des Selbstbewusstseins so, »daß die Faktizität der Struktur Selbstbewußtsein (die sich in der Unmöglichkeit ihrer allgemeinen Selbstbegründung ausspricht) auf ein gelungenes Faktum bezogen wird, das von 14
Vgl. etwa bereits ebd., 148 Anm. 8, wo es als »zweifelhaft« bezeichnet wird, inwiefern der konstruktive Beitrag Wagners zur Christologie im Rahmen der Realisierung der Freiheit von allen Autoren getragen wird. 15 Ebd., 167. 16 Ebd. Vgl. dazu auch ebd., 162–166. 17 Ebd., 165f.
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dieser Struktur ist, und das die Struktur im ganzen, also im Wechselbezug von besonderem und allgemeinem Selbstbewußtsein, als nichtaporetisch rechtfertigen soll«.18 Es bleibe jedoch […] der logische Status dieser Partikularität in der Theorie selbst unreflektiert. Würde der eigentümliche Charakter des Faktums bedacht, das diese Theorie realisiert, so stünde die Entscheidung an, ob entweder infolge der bleibenden Singularität des Faktums die Genese der Theorie in ihrer Besonderheit auf den – philosophisch unerläßlichen – Allgemeinheitsanspruch verzichten müßte. Oder, das wäre die andere Möglichkeit, das realisierende Faktum ist ein »Fall von« Selbstbewußtsein, der durch jede beliebige andere Realisierung ersetzt werden kann – dann wäre es selbst prinzipiell irrelevant und die Theologie nur eine transitorische Theoriegestalt auf dem Weg zur absoluten Philosophie.19
Wagners Begriff des »exemplarischen Selbstbewußtseins« sei zweideutig und inkonsistent. Die Aporetik des endlichen Selbstbewusstseins werde faktisch nicht aufgehoben, d.h. die Christologie erfülle eher eine »poimenische Funktion«20 und könne als »spekulatives Kerygma«21 bezeichnet werden: Den Anschein des Gelungenseins erhält die Theorie durch das vorausgesetzte »Interesse des Selbstbewußtseins an sich selbst« […], das als religiöses in der Christologie seine Befriedigung findet. Überraschenderweise steht so Wagners christologisch konzipierter Begriff des Absoluten in großer struktureller Nähe zur Theologie Barths, deren vermeintliche Aporien er doch gerade überwinden wollte.22
Wagners Versuch falle dabei aber hinter Barth zurück, insofern »die Theologie Barths um die theorieexternen Bedingungen ihrer selbst«23 wisse. Prinzipiell könne der Freiheitsbegriff in theologischen wie in philosophischen Debatten »nur als problematischer Orientierungsbegriff, nicht [aber] als apodiktische Norm«24 gelten.25 Verliert der Begriff aber seine Eindeutigkeit, so kann folgerichtig auch die Rekonstruktion der Theologie Barths auf dessen Grundlage nicht überzeugen.26 Korsch knüpft an diesem Punkt somit 18
Ebd., 165. Ebd. Zum »Faktum« vgl. auch WAGNER, Christologie als exemplarische Theorie, 166. 20 Vgl. KORSCH, Christologie und Autonomie, 164. 21 Ebd., 166. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd., 168. 25 Im philosophischen Diskurs wird auf das unterschiedliche Freiheitsverständnis der »Frankfurter« (Adorno/Cramer) und »Heidelberger Alternative« (Henrich/Tugendhat) hingewiesen (ebd., 167 Anm. 47). 26 »Verliert der vermeintlich fixe Freiheitsbegriff bei näherem Zusehen seine suggestive Identität, so geht damit auch die Eindeutigkeit der Behauptung verloren, Barth habe ›den‹ subjektiven Freiheitsgedanken der liberalen Theologie radikalisiert, indem er ihn in den Gottesbegriff übersetzt habe.« (ebd., 168). 19
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Karl Barths dialektische Theologie (D. Korsch)
an die internen Widersprüche der Barthdeutungen Rendtorffs und Wagners an, um auf diesem Wege der Behauptung der Unhintergehbarkeit des Interpretationsansatzes zu widersprechen. Die sublime Kritik Wagners führt indes zugleich auf die Spur des Gegenvorschlags, den Korsch zu einer seiner Auffassung nach angemessenen Deutung der Theologie Barths vorlegt.
3. Der alternative Rekonstruktionsversuch – die Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums Auf der Grundlage der Kritik des zugrunde gelegten Rekonstruktionsprinzips erweist sich für Korsch folgerichtig auch das in den neuzeittheoretischen Deutungen gezeichnete Bild der Theologie Barths als unzutreffend. Ausgehend von der vollständigen »Entpositivierung« lasse sich kein hinreichender Zugang zur gegenständlichen Gestalt der Theologie Barths, insbesondere der Kirchlichen Dogmatik, gewinnen: Die Methode der »Entpositivierung« kappt entschlossen die faktisch-gegenständliche Seite in Barths Theologie um der Reinheit der prinzipiell-strukturellen Willen. Es ist nicht verwunderlich, daß ihr dann lediglich eine theologische Variante der absoluten Identitätsphilosophie übrig bleibt, aus der sich dann natürlich nur die erstaunlichen Konsequenzen ergeben können, die sie konstruiert.27
Um die »strukturelle Mitte der Theologie Karl Barths«28 präziser zu bestimmen, sei es erforderlich, den Mangel der entpositivierenden Barthdeutung zu korrigieren, der darin liege, »daß sie die Prinzipialität der Theologie Karl Barths nicht streng genug faßt: die Doppelheit von faktischem und prinzipiellem Moment, von ›Offenbarung in Jesus Christus‹ und ›Struktur Selbstbegründung‹ bildet bei Barth eine unauflösbare prinzipielle Einheit«.29 Diese Einheit von faktischem und prinzipiellem Moment, terminologisch eine Anknüpfung an Gedankengänge Wolfgang Cramers,30 wird von Korsch als strukturelle Mitte der Theologie Barths – hier im Blick auf die Kirchliche Dogmatik – bestimmt: »Die Kirchliche Dogmatik Karl Barths hat als Theologie des einen Wortes Gottes die Form der Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums.«31 27
Ebd., 169f. Vgl. dazu ebd., 168: Die vorausgesetzte Konzeption »des« Freiheitsgedankens und des Bildes einer theologiegeschichtlichen Antithese zwischen der liberalen Theologie und der Theologie Barths lasse »den Blick auf die Theologie Karl Barths nur im Spektrum von Lösungsmöglichkeiten für ein bereits bekanntes und hinreichend definiertes Problem frei«. 28 Vgl. ebd., 166. 29 Ebd., 170. 30 CRAMER, Die Monade, 64ff. 31 Der Terminus »singuläres Faktum« findet sich bei CRAMER, ebd., 65.
Der alternative Rekonstruktionsversuch
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Die Bestimmung jenes »prinzipiellen (singulären) Faktums« komme in KD IV/332 pointiert zum Ausdruck: »Jesus Christus ist das eine, das einzige Wort Gottes«.33 Der Begriff des »Faktums« hat – neben dem Anklang an Cramer – deutlichen Anhalt an der Kirchlichen Dogmatik34 und verweist auf die der theologischen Reflexion vorausliegende Wirklichkeit Jesu Christi, mithin der Offenbarung. Der Satz, »Jesus Christus ist das eine, das einzige Wort Gottes«, lasse sich im Blick auf die Kirchliche Dogmatik in vier Schritten auf seine »prinzipientheoretische Schärfe«35 hin entfalten. Erstens schließe das eine Wort andere Worte »bestimmend« ein, d.h. es ist in menschlichen Worten explikationsfähig.36 Barth wahre damit die Unterscheidung von Prinzip (dem einen Wort) und Prinzipiaten (den Worten), ohne dass das »Wort Gottes« ein »leeres Absolutes« werde.37 Zweitens bestimme Barth den logischen Status dieses Prinzips als »suffizient«, »exklusiv« und »unableitbar«. Hier werde die Unterscheidung von Prinzip und dem Begriff des Prinzips gewahrt, denn: So gewiß […] das eine Wort Gottes in der Theorie den logischen Status des Prinzips einnimmt, weil aus ihm alles, was theologisch zu wissen ist, gewußt werden kann, so wenig läßt sich seine Singularität einer prinzipiellen Verallgemeinerung unterwerfen.38 Der alternative Rekonstruktionsversuch
Drittens werde der »Unterschied von Prinzip und Prinzipiat«39 in dem Sinne gewahrt, dass die Theologie das »eine Wort« nicht begründen kann, sondern dieses als sich selbst begründend denken muss.40 Jedoch werde viertens die Beziehung zwischen Prinzipiaten und Prinzip dadurch möglich, dass die Prinzipiate durch Jesus Christus zur Analogie werden können. Aus diesem Punkt folgt die Einsicht in die prinzipielle Pluralität der möglichen Prinzipiate:
32 Die Bedeutung von KD IV/3 für Korschs Barthdeutung wird einer späteren Studie (KORSCH, Kontingenzverstehen und Gotteserkenntnis, 267) klar benannt: Hier, im besonderen § 69.3, liege »die reflektierteste Erkenntnistheorie Barths, natürlich in dogmatischer Gestalt«, vor. 33 KD IV/3, 109. 34 Vgl. nur KD IV/3 – § 59.2. 35 KORSCH, Christologie und Autonomie, 170. 36 Ebd., 170f, als Deutung von KD IV/3, 106–110. 37 Der Zusammenfall beider wurde programmatisch von Wagner behauptet (s.o.), die terminologische Differenzierung entstammt, wie Korsch (KORSCH, Christologie und Autonomie, 171 Anm. 61) zu Recht feststellt, Wolfgang Cramers Studien. 38 KORSCH, Christologie und Autonomie, 171, als Deutung von KD IV/3, 110–114. 39 KORSCH, Christologie und Autonomie, 171, als Deutung von KD IV/3, 115–122. 40 »Dies geschieht auf einer ersten Ebene so, daß die Einheit von Form und Inhalt theoretisch aufgebaut wird: der Inhalt der Geschichte Jesu Christi ist als sich selbst mitteilend zu erkennen und zu erklären. Indem auf der zweiten Ebene der gesamte Inhalt der Geschichte von Gott und den Menschen aus dem einen Wort Gottes entwickelt wird, geschieht die Wahrnehmung der faktischen Selbstbegründung als umfassendes Prinzip.« (ebd., 171).
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In seinem prinzipiellen Rang ist es [sc. das eine Wort als Prinzip] keiner biblischkirchlichen Einschränkung (die immer auch Vermittlung wäre) unterworfen; mithin kann alles in die Funktion eines analogen Prinzipiates eingesetzt werden.41
Die Tragfähigkeit jener Theorie beruht damit auf jenem Element des Faktischen, welches das Prinzip als Prinzip von dem Begriff des Prinzips (im Medium des Prinzipiates) unterscheidbar hält und damit zugleich die »erkenntnistheoretische Voraussetzung« bildet, »die die Konstitution dieser Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums überhaupt ermöglicht« – gemeint ist die »Selbstbezeugung Christi«.42 Die Rekonstruktion der Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums »Jesus Christus«, als »Prinzip selbst«, begegnet damit aber Wagners Vorwurf der erkenntnistheoretischen Aporetik der Theologie Barths nicht auf derselben Ebene, sondern impliziert einen Widerspruch gegen die subjektivitätstheoretischen Grundlagen des Wagnerschen Denkens. In der Perspektive Wagners nämlich müsste Korschs Versuch, ein die Prinzipiate bestimmendes und seinerseits nicht durch diese begründetes Prinzip zu denken, entweder (im Sinne der frühen Studien) als absolutheitstheoretisch rekonstruierbarer Versuch der Selbstvergewisserung des Selbstbewusstseins, oder (im Sinne der späten Studien) als erkenntnistheoretisch unzulänglicher Versuch, insofern die Bedingung des »WissenKönnens« auch von Korsch nicht umgangen werden kann, gelten. Aus der Korschs Barthdeutung zugrunde gelegten strukturellen Mitte der Kirchlichen Dogmatik ergeben sich drei Perspektiven für deren Interpretation, die den eigenständigen Schwerpunkt Rendtorff, Wagner und Graf gegenüber herausstellen sollen: Zunächst führe der »prinzipielle Rang«43 der Geschichte Jesu Christi zu einer neuen Rekonstruktion der Schöpfungs- und Gotteslehre, sowie der Anthropologie. Von Beginn an würden diese klassischen Lehrstücke »als Voraussetzungen des Zusammenseins von Gott und Mensch in der Versöhnung gedacht«.44 Darin ist ein Widerspruch vor allem gegen Falk Wagner impliziert, dem gegenüber im Anschluss an Jüngel festgestellt wird: Das Problem lautet also nicht: »Wie kann das esse per se im esse pro nobis durchgehalten werden?« […], sondern: wie ist das esse per se Gottes zu denken, so daß, indem bereits dort zugleich ein esse pro nobis ist, es gleichwohl Gottes eigenes Sein ist, was gedacht wird?45
41
KORSCH, Christologie und Autonomie, 172. »Die Faktizität des Prinzips bedingt die Prinzipialität des Faktischen; und genau das heißt: Selbstbezeugung Jesu Christi.« (ebd., 176). 43 Ebd., 173. 44 Ebd. 45 Ebd., 173 Anm. 63 Zitiert wird: WAGNER, Theologische Gleichschaltung, 19 (mit Verweis auf JÜNGEL, Gottes Sein, 82–97). 42
Der alternative Rekonstruktionsversuch
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Die Kirchliche Dogmatik ziele von Beginn an auf die Versöhnung.46 In den Prolegomena freilich werde jenes Strukturprinzip des »prinzipiellen (singulären) Faktums« noch undeutlich herausgearbeitet, jedoch enthielten diese bereits sachlich die Unterscheidung von Begriff des Prinzips und Prinzip,47 und Barths Ablehnung der Konstruktion der Kirchlichen Dogmatik aus einem »Zentralbegriff« lasse gleichwohl die an Anselm geschulte Entfaltung eines rationalen Zusammenhangs der einzelnen Lehrstücke erkennen. Die Interpretation vor dem Hintergrund der aus der Versöhnungslehre entnommenen Formel (Jesus Christus ist das eine, das einzige Wort Gottes) stehe somit in sachlicher Kontinuität zu der »noch nicht vollständig präzisierte[n] Strukturlehre«48 der Prolegomena. Sodann sei die Unterscheidung von Prinzip und Begriff des Prinzips in Barths Verständnis der Theologie konstitutiv eingegangen, jedoch so, daß die Beziehung beider expliziert werden könne: »Die Aufhebung des Unterschiedes wird so gedacht, daß die theologische Theorie als Element der Bezeugung Anteil bekommt an der Bewegung der Selbstbezeugung.«49 Innerhalb dieser Bewegung kann die Theologie als »erkennende Wahrnehmung« auf die »Wahrheit des Erkannten« dergestalt verweisen, dass sie diese Wahrheit im Sinne der Selbstbezeugung Christi als sich vorausgesetzt gelten lassen kann und diese daher nicht selbst begründen kann noch muss.50 Schließlich sei die, im Blick auf die Barthdeutungen Rendtorffs, Wagners und Grafs, zentrale Frage nach (a) der Rolle der Autonomie innerhalb der Kirchlichen Dogmatik, sowie (b) dem Ort der Kirchlichen Dogmatik selbst in der Geschichte der Autonomie aufzuwerfen. (a) Die Freiheit werde in der Anthropologie Barths nicht als »Selbstbegründung, d.h. Selbstrealisierung«51 verstanden, sondern sie existiere »nur 46 Freilich ist auf diesem Wege die Wagnersche Deutung noch nicht getroffen, insofern die »Versöhnung« als Veränderung des menschlichen Wesens als Sünder im Gegenüber zu dem in seiner Souveränität sich behauptenden Gott gerade Wagner zu der Einsicht führt, dass solche Versöhnung die Behauptung des esse per se innerhalb des esse pro nobis bedeute, i.S. einer Versöhnung »für uns«, die »ohne uns« vollzogen werde. 47 Etwa in den Ausführungen zur dreifachen Gestalt des Wortes Gottes werde »der Raum ihres Entstehungs- und nächsten Geltungszusammenhangs« abgesteckt, »innerhalb dessen die Theorie des prinzipiellen Faktums als Theologie des einen Wortes Gottes entwickelt werden kann« (KORSCH, Christologie und Autonomie, 174). 48 Ebd. 49 Ebd., 175. S. ebd.: »Die Theologie Karl Barths begreift demnach ihren Ort im Horizont von und unter Bezug auf die Selbstbezeugung Jesu Christi. Sie verhält sich insofern als reine Theorie, als sie die Realisierung ihrer selbst von sich ausschließt, obwohl bzw. gerade indem sie deren Bedingungen zu erkennen gibt. In diesem doppelten Verhältnis von Unterschied und Beziehung zwischen Theorie und Prinzip dürfte der systematische Ursprung der Analogie als theologischer Methode zu finden sein.« 50 Ebd. 51 Ebd.
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im Zusammensein mit Gott und den Mitmenschen«.52 Diese Relationalität werde von Barth daher in die Konstitution von Subjektivität im Rahmen der Versöhnungslehre aufgenommen. (b) Die Konzentration auf Jesus Christus als prinzipielles Faktum eröffne die Universalität seiner Selbstdarstellung, d.h. »Prinzipialität des Faktischen«, in anderer Terminologie: dessen Analogiefähigkeit. Das prinzipielle Faktum erschließe so auch die »neuzeitliche Welt« und das neuzeitliche Denken: »Damit ist sie [sc. die Theologie Barths] selbst – auch in ihrer Beziehung und Abhängigkeit zu außerkirchlichen und außertheologischen Faktoren, also in ihrer Anteilhabe am prinzipiell orientierten ›neuzeitlichen‹ Denken – in diesem Raum [als Prinzipiat] inbegriffen.«53 Die Theologie könne diesen Raum (im Sinne der »Prinzipialität des Faktischen«) in Geschichte und Gegenwart als universale Darstellung des prinzipiellen Faktums erschließen, »[i]m Blick nach vorn ist zu prognostizieren, daß infolge der Selbstbezeugung Jesu Christi theorieexterne Vorgänge der geschichtlichen Welt Anlaß zu intensiverer Auslegung des einen und einzigen Prinzips geben werden, so daß die Theologie Karl Barths in hohem Maße entwicklungsfähig bleibt«.54 Mit diesem impliziten Widerspruch gegen Falk Wagner, der Barths Theologie für entwicklungsunfähig im Blick auf das Kontingente (Prinzipiat) hielt, anerkennt Korsch den Freiheitsgewinn für die Theologie in der Konzentration auf Jesus Christus als das eine Wort Gottes.55 Dies gilt freilich unter der Voraussetzung, dass die Theologie zu Recht auf den »theorieexternen Vorgang« der Selbstbezeugung Jesu Christi zu rekurrieren vermag, welcher die Unterscheidung des Prinzips von dem Begriff des Prinzips gewährleistet, sowie seine Wahrheit verbürgt. Der Fortschritt jener Barthdeutung Korschs ist so zunächst darin zu sehen, dass Barths Theologie im Horizont einer sachlichen Voraussetzung gedeutet wird, die ihren Kern in der theologischem Denken vorgeordneten Faktizität des Christusgeschehens und seiner gegenwärtigen Verkündigung hat. Die Grundlage jener theologiegeschichtlichen Rekonstruktion ist damit ein anderes Verständnis theologischen Denkens: die Selbstbezeugung Jesu Christi liegt der Konstruktion voraus und leitet das erkennende Subjekt. Korsch unternimmt den Versuch, auf dieser Grundlage das Wesen der Theologie Barths im Medium Cramerscher bzw. Wagnerscher Terminologie zu explizieren.
52
Ebd., 176. Ebd. 54 Ebd., 176f. 55 »Ihre [sc. der Theologie Barths] konstruktive Freiheit ist also nichts der Sache Fremdes, die prinzipielle Zuschärfung der Theologie kann, reflektiert betrachtet, als theologischer Fortschritt gewertet werden.« (ebd., 176). 53
Die Selbstbezeugung Jesu Christi
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4. Die Selbstbezeugung Jesu Christi – das Faktum als Voraussetzung der Rationalität Ausgehend von der expliziten Auseinandersetzung mit Falk Wagner ist die Rolle der »Selbstbezeugung Christi« innerhalb der Barthdeutung noch genauer zu ermitteln. Im Blick auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theologie Barths ist Korschs Deutung der Anselm-Interpretation von Bedeutung, insofern hier das Verhältnis von »Selbstbezeugung Jesu Christi« als Faktum und der die Dogmatik strukturierenden Ratio des Theologen zum Thema wird.56 Im Rekurs auf die theorieexterne Selbstbezeugung Jesu Christi intendiere Barth die »Voraussetzung der Vernunft« zu erhellen und trete so in Widerspruch zu dem Versuch, dieser »durch eine gesteigerte […] Selbstreflexion […] auf die Spur zu kommen«.57 Die Grundlegung in einer allgemeinen Erkenntnistheorie scheide zugleich als Möglichkeit zur Bestimmung der theologischen Vernunftkonzeption aus.58 Denn der Versuch, den Barthschen »Letztbegründungsvorschlag« im Horizont eines allgemeinen Wahrheitskriteriums auszuweisen, führte lediglich in die Pattsituation der Konkurrenz von Letztbegründungsansprüchen, welche auch faktisch »unumgänglich«59 sei. Mehr als eine »vom jeweiligen Systempunkt« ausgehende Interpretation des jeweils anderen Letztbegründungsanspruchs sei an diesem Punkt nicht erreichbar.60 In Barths Anselm-Studie werde jener Letztbegründungsanspruch mit dem Verständnis der fides als des umfassenden Horizonts, Ursprungs und Ziels des Menschen verknüpft (Notwendigkeit). Auf der Grundlage der fides vollziehe sich deren »Bedenken, die Theologie«. Insofern aber die fides »die schlechthin hinreichende und vollständige Grundlegungsrelation des Subjektes«61 darstelle, schließe sie notwendig auch Denken und Erkennen des Subjektes ein. Das objektive Credo ermögliche nunmehr die Theologie (Möglichkeit), es sei indes als bloßer Ausdruck von Bewusstseinstätigkeit nicht hinreichend bestimmt: Die Selbstbezeugung Jesu Christi 56
Korsch wendet sich damit jener durch das vorneuzeitliche Denken Anselms inspirierten Auseinandersetzung Barths mit dem neuzeitlichen Wahrheitsbewusstsein im Gefolge Descartes zu, die von Rendtorff, Wagner und Graf unberücksichtigt blieb (vgl. KORSCH, Intellectus fidei, 193 Anm. 17) – obgleich ihre Bedeutung bereits von H.U. von Balthasar herausgestellt wurde (s. VON BALTHASAR, Karl Barth, 101f). 57 KORSCH, Intellectus fidei, 207. 58 Ebd. 59 S. ebd., 208 Anm. 60. 60 Ebd. 61 Ebd., 202.
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Karl Barths dialektische Theologie (D. Korsch)
Credo-Sätze […] sind also zu bestimmen als solche Sätze, die auf Gottes Offenbarung zielen und von einem durch Gott selbst erleuchteten Bewußtsein formuliert worden sind. […] Die Credo-Sätze sind nicht als solche Träger des erleuchtenden Geistes. Wohl aber können sie als gelungene Sprachspiele des Glaubens angesehen werden; und es kann von dem Nach- und Mitspielen dieser Sprachspiele erwartet werden, daß es dabei abermals zu einer subjektiven Einsicht kommt, die der fides als der prinzipiellen Grundlegungsrelation des Menschen vor Gott auch im subjektivtätigen Bewußtsein entspricht.62
Mithin wird die Differenz zwischen dem Prinzip und dem (potentiellen) Prinzipiat auch an dieser Stelle gewahrt. Die Darstellung des Weges, auf welchem »objektives Credo und subjektives credere«63 in Übereinstimmung zueinander gelangen, verbinde Barth mit dem Hinweis auf das Gebet als »diejenige Aktion, die um die Gegenwart Gottes selbst im Vollzug des theologischen Denkens bittet«64 – die damit die theorieexterne Voraussetzung der »Selbstbezeugung Jesu Christi« erbittet.65 Der »Objektivismus« Barths erweise sich daher als nur scheinbar,66 insofern »der wahre Sinn dieses Weges die Erzeugung einer subjektproduzierten rationalen Selbstübereinstimmung des Bewußtseins sei, welche sich als Entsprechung zum intendierten Gegenstand erweist«. Erfolgversprechend freilich sei dieser Versuch nur genau dann, »wenn das von den Credo-Sätzen selbst intendierte an sich selbst rational und konstant ist«,67 was seinerseits dann zutreffe, wenn es sich um »Gottes Offenbarung« handle. Dies bedeute nichts anderes, als dass Offenbarung und Bewusstseinstätigkeit untrennbar zusammengehören: Genau im Modus subjektiver Selbstbetätigung ist der Mensch an der Erkenntnis von Gottes Offenbarung beteiligt. Und eben in dieser subjektiven Selbstbetätigung entdeckt der Mensch sein Konstituiertsein durch Gott, seine Abkünftigkeit von der ratio veritatis, von der Wahrheit selbst, außerhalb derer es folglich auch keine wahre Selbstbetätigung gibt und geben kann.68
Die Auseinandersetzung um die Konstitution der Rationalität lasse sich nur unter der Bedingung führen, »daß Gott allein (und nicht irgendein Gottesgedanke) […] die Bedingung der Wahrheit dieses Argumentes«69 sei. Der Beweis, der als solcher »›bloß‹ wissenschaftliche« Gewissheit beanspru62
Ebd., 204. Ebd., 205. 64 Ebd. 65 Ebd.: »Denn da das eigenaktiv denkende Subjekt nicht in der Lage ist, sich selbst und seinen Gegenstand zu synthetisieren, bleibt ihm als subjektive Möglichkeit genau und nur das Gebet als diejenige Aktion, die um die Gegenwart Gottes selbst im Vollzug des theologischen Denkens bittet.« 66 Ebd. – vgl. auch ebd., 212. 67 Ebd., 206. 68 Ebd. 69 Ebd., 209. 63
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chen könne, bedürfe der »Selbstbezeugung Gottes in seiner Offenbarung und im Geist«.70 Das Denken scheitert dann aber sowohl an dem Versuch der Begründung der Wahrheit des »Deus est aliquid quo maius cogitari nequit« wie auch an dem Versuch der Negation.71 Ein expliziter Widerspruch ist in dieser Deutung von Barths AnselmInterpretation gegen diejenigen Deutungen enthalten, die in jener Studie lediglich die Repristination eines antimodernen Rationalitätskonzeptes erkennen.72 Es sei demgegenüber festzustellen, »daß gerade die antimodern scheinende Wendung Barths im Anselmbuch ein Schritt zu einer spezifischen Wahrnehmung der gedanklichen Probleme der Moderne ist«.73 Das Verhältnis von fides und intellectus wird somit aus der Perspektive der fides kein unüberwindliches Gegenüber darstellen: »Aus der Perspektive des Glaubens, so muß man Barth verstehen, können Vernunft und Glaube einander entsprechen, ohne daß ihr Unterschied vereinerleit würde.«74 Aus der Perspektive des intellectus, d.h. des Selbstbewusstseins, hingegen scheine die Selbstbegründungsaufgabe unausweichlich gestellt zu sein. Hier sei eine »unüberwindliche Konfrontationslinie zwischen Vernunft und Glaube« erreicht, denn »der Vernunft muß der Konstitutionsanspruch des Glaubens als eine Beraubung ihrer vornehmsten Fähigkeiten vorkommen«.75 Ob dieser Widerspruch letztlich unüberwindbar bleibe, sei »die Frage, vor die Barths Anselmbuch am Ende stellt«76 und die bislang noch nicht abschließend beantwortet sei. Korschs Deutung der Anselm-Studie Barths ist als Hintergrund für seine Auseinandersetzung mit den neuzeittheoretischen Barthdeutungen durchaus erhellend. Im Anschluss an Barths maßgebliche Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Denken in Fides quaerens intellectum,77 die dort bemerkenswerterweise unberücksichtigt blieb, entfaltet Korsch, dass der Konstitutionsanspruch des christlichen Glaubens und die Selbstbegründungsaufgabe bzw. der Selbstbegründungsversuch des Selbstbewusstseins zumindest vordergründig einander ausschließende Alternativen sind. Dennoch ist für Korsch in der Theologie Barths ein modernitätsfähiges Theorieprogramm zu sehen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass der Glaubensbegriff – der ebenfalls in den neuzeittheoretischen Deutungen vermieden wird – als Voraussetzung der Theologie sinnvoll zu verwenden ist. Insofern impliziert 70
Ebd., 212. Ebd. 72 Vgl. ebd., 192 Anm. 13 mit Hinweis auf J. Rohls. 73 Ebd., 193. 74 Ebd., 213. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Vgl. dazu BEINTKER, … alles Andere als ein Parergon, 117–120. 71
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Karl Barths dialektische Theologie (D. Korsch)
Korschs Barthdeutung einen fundamentaltheologischen Widerspruch gegenüber den vorangegangenen Deutungen.
5. Karl Barth und die liberale Theologie Korschs These, dass in der theorieexternen Voraussetzung der »Selbstbezeugung Christi« als Faktum das Proprium der Theologie Karl Barths zu sehen ist, wird wiederum in einen weiteren religionsphilosophischen Horizont gestellt, der auf die Spur von Korschs Auffassung eines gegenwärtig relevanten Verständnisses »dialektischer Theologie« führt. Dieser Horizont lässt sich im Blick auf Korschs Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Barth und der so genannten liberalen Theologie erhellen. Exemplarisch wird das Verhältnis der Theologie Barths zu dem Ansatz Friedrich Schleiermachers sowie Wilhelm Herrmanns rekonstruiert. Darin lässt sich gegenüber den vorangegangenen »neuzeittheoretischen« Barthdeutungen eine bemerkenswerte Verschiebung hinsichtlich des Bildes der liberalen Theologie sehen, welches nunmehr nicht, wie es bei Rendtorff und Graf der Fall ist, allein in dem Werk Troeltschs seine maßgebliche Kontur gewinnt. Augenscheinlich und dem jeweiligen Selbstverständnis nach, dies hält Korsch vorab fest, schließen die liberale Theologie und die Theologie Barths einander aus. Diese Antinomie sei nicht durch eine metatheoretische Überbietung zu lösen: Barth und die liberale Theologie Es stehen sich gegenüber eine Theologie der Ausschließlichkeit und eine Theologie des Miteinanders. Eine Theologie, die sich ganz am konstitutiven Ursprungsgeschehen des Glaubens orientiert – und eine Theologie, die sich auf den interpretierenden Selbstauslegungsvorgang des Glaubens einstellt. Ein Typ exklusiv-konstitutiver Theologie und ein Typ inklusiv-interpretativer Theologie: das ist eine Antinomie, wie man sie sich genauer nicht vorstellen kann.78
Das Wesen dieser Antinomie lasse sich jedoch, wenn zwar nicht aufheben, so doch auf der Grundlage der »Einheit des Glaubens« als »Differenz seiner kontradiktorischen theologischen Reflexionsgestalten«79 erhellen: die Gemeinsamkeit, die sich auf dieser Grundlage ermitteln lasse, sei »die gemeinsame Überzeugung […], daß der Glaube von Gott kommt (und nicht etwa Gott vom Glauben gemacht wird)«.80 Die Schleiermachersche Theologie sei
78
KORSCH, Wort Gottes oder Frömmigkeit, 113. Ebd., 129. 80 Ebd., 110. Vgl. dazu KORSCH, Fraglichkeit des Lebens, 145, wo Korsch das Verhältnis der theologischen Konzeptionen Barths und Herrmanns als »Gespräch des Glaubens selbst über seine Vergangenheit und Zukunft« versteht, »zwischen den Positionen der unhintergehbaren subjekti79
Barth und die liberale Theologie
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ausgehend von dem »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« konstitutiv deutend auf die ihr vorausliegende Wirklichkeit Gottes bezogen,81 ohne freilich die Mittel zu haben, diese selbst nochmals jenseits des Deutungsvollzugs begründen zu können.82 Die Faktizität des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit und der damit zeitgleich hervortretende Deutungsvollzug des Bewusstseins, sich als durch Gott konstituiert zu verstehen, bilden das Spezifikum des Schleiermacherschen Denkens. Eine parallele Zentrierung auf das Bewusstsein lasse sich bei Wilhelm Herrmann nachweisen. Obgleich dieser die »Selbstoffenbarung« Gottes83 als Voraussetzung der Gotteserkenntnis benenne, sei diese doch konstitutiv auf das menschliche Bewusstsein als je individuell anzueignend bezogen. Es ist die Beziehung zu dem geschichtlichen Jesus, die im Herrmannschen Denken zur Realisierung der durch die Offenbarung ermöglichten »Neubestimmung des Selbstbewußtseins«84 führe. Die Wirklichkeit dieser Beziehung könne nur von einer »Autosuggestion des frommen Gefühls«85 bzw. einer »Hypothese«86 unterschieden werden, wenn sie als »Faktum« gedacht wird: Die Antwort der Selbstoffenbarung Gottes gibt dem Subjekt die Einheit seiner selbst, die es selbst nicht schaffen konnte. Damit ergibt sich der eigentümliche Umstand, daß das als kohärente Bezugsgröße angesetzte Bewußtsein sich als inkohärent herausstellt und daß die im Verhältnis zum Bewußtsein diskontinuierliche Selbstoffenbarung Gottes eine höhere Kontinuität desselben begründet. […] Die Diskontinuität der Offenbarung ist der Grund wahrer Kontinuität menschlichen Bewußtseins.87
ven, schon immer vertrauten Fraglichkeit des Lebens und der unüberholbar objektiven, schon immer in Christus gegründeten Evidenz des Glaubens« (ebd.). 81 »[…] schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl und Gott gehen nicht eines aus dem anderen hervor. Sondern es verhält sich so, daß die im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl gemeinte Wirklichkeit der Benennung durch religiöse Sprache immer schon vorausliegt. Die Wirklichkeit dessen, was mit Gott gemeint ist, entspringt also keinesfalls aus der Aktivität religiösen Bewußtseins.« (KORSCH, Wort Gottes oder Frömmigkeit, 117f). Gleichwohl bleibe das religiöse Bewusstsein konstitutiv sprachlich verfasst. Korsch schlägt vor, dieses Geschehen als »Geschehen der Interpretation oder Deutung zu verstehen« (ebd., 118), welches als schlechthinnige Abhängigkeit als »ursprünglichste Vorstellung« bzw. »unmittelbarste Reflexion« (ebd., 119) jeglichen »weltbezogenen Deutungsvorgängen« vorgeordnet sei. Über diese Deutungsvorgänge hinaus könne das Bewusstsein nicht zu seinem Grund zurück gelangen: »Es bleibt dabei, sich konstituiert zu wissen. Es kann sich als solches deuten – aber eben immer nur als solches, als schon konstituiertes. Es kann auch von Gott immer nur sprechen in der Form der Deutung.« (ebd.). 82 Vgl. ebd., 119f: »Daß aber diese Deutung vorgenommen wird und werden kann, das kann aus der methodischen Stellung des Ansatzes beim deutenden Bewußtsein selbst nicht noch einmal eigens begründet werden. Schleiermacher hätte darin einen unzulässigen Übergriff des humanen Bewußtseins über die Bedingungen gesehen, die ihm selbst in der Welt Freiheit ermöglichen.« 83 Vgl. KORSCH, Fraglichkeit des Lebens, 130. 84 Ebd., 132. 85 Ebd., 133. 86 Ebd., 135. 87 Ebd.
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Die Entfaltung dieser notwendigen Pointe seines Denkens habe Herrmann, so Korsch, nicht geleistet, insofern er die Offenbarung an den Ausgang von der »Diskontinuitätserfahrung des Bewußtseins«88 knüpfte. Die Kontinuität, welche dem Bewusstsein extern vorausliege, kann daher als Folge – die jedoch auf einem Missverständnis beruht – der Herrmannschen Inkonsequenz auf der Seite des Bewusstseins gesucht werden.89 Die Beurteilung der Konsistenz der Herrmannschen Theologie fällt so letztlich ambivalent aus: Auf der einen Seite besteht die methodische Notwendigkeit, den Offenbarungsbegriff am Bewußtsein und seiner Frage nach sich zum Ausweis zu bringen. Auf der anderen Seite ist es eben durch das Beharren auf diesem methodischen Ausgangspunkt unmöglich, den Offenbarungsgedanken als konstitutiven, prinzipiellen Begriff zu denken, von dem gezeigt werden könnte, daß er die Frage des Menschen nach sich deshalb wirklich beantwortet, weil er von Gott selbst herkommt.90
Herrmann ist folglich mit Schleiermacher – trotz der expliziten Rede von der Selbstoffenbarung – in dem methodischen Ausgang vom Bewusstsein und der nach dessen Maßgabe erforderten Rede von der Offenbarung in ihrer Bezogenheit auf das Bewusstsein, um nicht in die vormoderne Metaphysik der Orthodoxie zurückzufallen,91 verbunden. Barths Theologie setzt im Vergleich mit Schleiermacher und Herrmann an diesem Punkt der Faktizität der Selbstbezeugung92 als Voraussetzung des Bewusstseins in gänzlich anderer Weise an. Barth rückt die Frage der Letztkonstitution explizit in den Vordergrund. Jener Zugang, der vorab in den Prolegomena auf die Produktionen des Bewusstseins in Gestalt der biblischen und kirchlichen Verkündigung Bezug nimmt, ist selbst gegen den Konstruktionsvorwurf zu schützen. Barth tue dies in der Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes,93 die die Selbstmitteilung Gottes entfaltet.94 »Jesus Christus« als »faktischer Grund und Bezugspunkt der 88
Ebd., 136. Vgl. ebd.: »Herrmanns Weigerung, den Gedanken der Selbstoffenbarung nicht nur am Bewußtsein darzutun, sondern auch umgekehrt das Bewußtsein des Glaubenden in den Horizont der Selbstoffenbarung Gottes zu stellen, zeitigt daher die Konsequenz, unterhalb des Bruches, der durch das Erleben der Offenbarung bedingt ist, nach verdeckten Kontinuitätsstrukturen im Bewußtsein selbst zu suchen.« 90 Ebd. 91 Vgl. ebd., 135. 92 Vgl. zum »Faktum« auch ebd., 140. 93 Vgl. dazu auch ebd., 139f zu den Bedingungen, welchen Barths Verständnis des Geistes in der Beziehung auf die menschliche Frage unterliegt. 94 Es ist die Bibel, die alles menschliche Fragen neu qualifiziert: »Erstens und im negativen Aspekt so, daß die Fraglichkeit definitiv als Schranke menschlichen Existierens festgestellt wird: Was immer als Antwort gegeben werden mag – es ist erneuter Infragestellung fähig; zu einer abschließenden Antwort kommt es nie. Zweitens und in positiver Hinsicht freilich so, daß eben diese festgestellte Negativität diejenige menschliche Haltung, dasjenige menschliche Bewußtsein ist, welches der Göttlichkeit dieser Antwort entspricht.« (ebd., 138). 89
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kirchlichen Verkündigung und der Heiligen Schrift« wird im Gespräch mit Wilhelm Herrmann daher als »der ursprünglich-objektive Repräsentant des in der Offenbarung gemeinten Zusammenseins von Gott und den Menschen als auch der endgültig-subjektive Initiator einer Geschichte der spontanen Mitbeteiligung am Zeugnis seiner Wahrheit«95 begriffen. Dieses Geschehen der Selbstbezeugung muss so gedacht werden, dass es selbst die Beziehung zum Menschen und seine eigene Wirklichkeit und Wahrheit verbürgt: Es gibt […] keinen nachvollziehbaren Übergang von der analytischen Rekonstruktion des Anspruchscharakters des Wortes Gottes zu dessen aktualer Wirklichkeit unter den Menschen; vielmehr muß diese Wirklichkeit immer schon vorausgesetzt werden.96
Dass freilich diese Wirklichkeit eintritt, dass also Glaube entsteht, bleibt auch in Barths Theorie eine »Leerstelle«,97 sofern es das Werk des Heiligen Geistes ist. Dessen Werk besteht darin, »daß der ursprünglich Bestimmende selbst am Ort der bestimmten Selbstbestimmung aktual präsent ist und die strukturelle Entsprechung wirkt«.98 Gegenüber der vom Bewusstsein ausgehenden Theologie setzt Barths Theologie daher »mit einer im logischen Sinne absoluten Voraussetzung«99 ein, welche den wissenschaftlich möglichen Theorierahmen Herrmanns wie Schleiermachers verlässt, »um erst später wieder, explikativ und integrativ, darauf zurückzukommen«.100 Für Korsch bleibt schließlich festzustellen, dass Barths Theologie somit »mindestens auch dem Zweck, das Problem Herrmanns besser zu lösen«101, verpflichtet sei, sie bedürfe dessen, dass die Frage des Menschen nach sich selbst aufgeworfen wird, insofern sie sich nicht »aus sich selbst erzeugen« könne: Pointiert kann man also sagen: Wir müssen wie Herrmann fragen, um Barths Antwort zu verstehen. Wir müssen wie Barth antworten, um unsere eigenen Fragen in der nötigen Differenz zu uns selbst zu verstehen. 102
Die Vereinigung jener beiden Perspektiven des Bewusstseins und des konstitutionstheoretischen Fragens lasse sich nicht in einer »Supertheorie«103 vermitteln, es sei die Theologie des Heiligen Geistes, der die Überwindung der mit dem Wesen des Glaubens verknüpften Ansätze überlassen bleiben dürfe.
95
Ebd., 144. KORSCH, Wort Gottes oder Frömmigkeit, 123. 97 Ebd., 126. 98 Ebd. 99 KORSCH, Fraglichkeit des Lebens, 144. 100 Ebd. 101 Ebd. 102 Ebd., 145. 103 Ebd., 145 Anm. 40. 96
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Karl Barths dialektische Theologie (D. Korsch)
Es ist unverkennbar, dass diese Rekonstruktion der Theologiegeschichte einen religionsphilosophischen Kern hat, der die zwei theologischen Positionen, die von Schleiermacher und Barth idealtypisch repräsentiert werden, zwar nicht metatheoretisch aufheben jedoch auf die Religion als deren Voraussetzung zurückführen kann. Dieser Rekurs auf die vorausgesetzte »Religion« kennzeichnet die Theologie als spezifisch neuzeitliche:104 Die theologische Auslegung der Religion muß in zwei voneinander unterschiedenen Reflexionsgängen vorgenommen werden, wenn die Ausgangsdifferenz nicht wieder eingeebnet werden soll. Einmal ist von der Religion aus auf Gott hin zu denken; das anderemal ist vom Gedanken Gottes aus auf die Religion zurückzukommen.105
Erneut lassen diese Überlegungen erkennen, dass zumindest sachlich die Problembestimmungen Falk Wagners zum Verhältnis zwischen Theologie des religiösen Bewusstseins und dem von Karl Barth repräsentierten Typus aufgenommen und einer von dessen Studien unterschiedenen Lösung zugeführt werden. »Schleiermacher« und »Barth« stellen komplementäre Ansätze dar, die sich in der von beiden geteilten Voraussetzung der Wirklichkeit der Religion bzw. des Glaubens erschließen.
6. Dialektische Theologie im Kontext der Postmoderne Die in Auseinandersetzung mit der Rendtorffschen Interpretationslinie vorgetragene Deutung der Theologie Karl Barths als »Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums« wird von Korsch in religionsphilosophischer Perspektive als ein rezeptionsfähiger Theorieentwurf verstanden, der auf seine 104
Vgl. KORSCH, Die Vernünftigkeit des verborgenen Gottes, 301: »Die evangelische Theologie sieht sich seit zweihundert Jahren auf die Religion als ihren einheitsstiftenden Gegenstand bezogen, und das heißt auf die Behauptung der Vernünftigkeit der Vernunft am Ort individuellen Lebens. Durch den Bezug auf die Religion entwickelt die Theologie Selbständigkeit gegenüber der Philosophie, die sich ihrerseits von der Theologie geschieden hat und sich als eigene Disziplin und im Verein mit den Wissenschaften pluralisiert hat.« 105 KORSCH, Die Vernünftigkeit des verborgenen Gottes, 310. Die oben im Blick auf Barth auf der einen und Schleiermacher und Herrmann auf der anderen Seite skizzierte Verhältnisbestimmung von Glauben bzw. religiösem Bewusstsein und Gott als dessen Grund spiegelt sich in der seit Kant unhintergehbaren Problemlage des Absoluten in philosophischer Reflexion wider: »Die Verstrickungen der von Kant als dogmatisch apostrophierten Vernunft gehen darauf zurück, daß zwischen Bedingtem und Unbedingtem einerseits ein kontinuierlicher Zusammenhang, andererseits eine kategoriale Differenz in Anschlag gebracht wird. Unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität gilt, daß Denken und Gedachtes, Bedingtes und Unbedingtes derselben Sphäre der Realität angehören. Der Fortgang der Frage nach dem Bedingenden des Bedingten vollzieht sich in demselben Medium. Auf diese Weise ist freilich das als unbedingt Ausgegebene entweder selbst bedingt oder es verflüchtigt sich in einem infiniten Regreß. Unter dem Gesichtspunkt der kategorialen Differenz wird dann das Unbedingte zu einem bloß abstrakt Anderen der bedingten Welt.« (DERS., Das doppelte Absolute, 245).
Dialektische Theologie in der Postmoderne
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Weise in der gegenwärtigen Situation des Christentums konstruktive Perspektiven eröffne. Bereits in Korschs Kritik am Freiheitsverständnis seiner Vorgänger deutete sich an, dass in diesem Verfahren zugleich die von jenen vorausgesetzte Neuzeittheorie kritisch beurteilt wird, insofern etwa die synthetische Kraft der Perspektive des Christentums (Rendtorff) im Sinne gegebener und betätigter Freiheit nicht aufgenommen wird. Korschs weiterführender Beitrag zu einer konstruktiven Rezeption Barthscher Theologie unter dem Vorzeichen ihrer Entwicklungsfähigkeit setzt demgegenüber ein spezifisch abweichendes Verständnis des Zeitindexes gegenwärtiger Theologie voraus, welches mit dem Begriff der Postmoderne, bzw. der Spätmoderne106 oder postmodernen Moderne107 bestimmt wird. Theologiegeschichtlich ausgeführt wird dies zunächst im Blick auf die Entstehungssituation der dialektischen Theologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Wesen der Moderne ist für Korsch im Anschluss an Max Weber durch die aus dem westeuropäischen Protestantismus erwachsene und alle Lebensbereiche durchdringende Rationalisierung gekennzeichnet, welche den Kapitalismus als Gesellschaftsform heraufgeführt habe.108 Damit verbunden jedoch sei die zunehmende Eigengesetzlichkeit der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereiche, sodass letztlich »das Gemeinsame der Eigengesetzlichkeiten […] nur noch in der formalen ZweckMittel-Relation« bestehe.109 Die Folge der Rationalisierung ist daher eine Ausdifferenzierung sowohl der »sozialen Institutionen« als auch der »individuellen Wertsetzungen«,110 d.h. die Partikularisierung des Protestantismus gehört zu seinen eigenen Folgen. Damit habe nach Webers Analyse der Monotheismus den Polytheismus (der Werte) heraufgeführt. Genau hier reagierte die protestantische Theologie seiner Zeit, etwa Ernst Troeltsch, bei aller Zustimmung ablehnend. Die Religion selbst finde sich nun in einer Situation wieder, in der sie zwar ihre eigene Partikularität innerhalb der Kulturkräfte einzusehen habe,111 jedoch der Stärkung gemeinsamer Überzeugungen innerhalb des Wertepluralismus in der Hoffnung dienen könne, dass die individuelle Autonomie »noch immer religiös ansprechbar ist«.112 Dialektische Theologie in der Postmoderne Der Ort der Theologie Karl Barths im Kontext dieser Diagnose der Moderne, insbesondere im Horizont des Werks von Ernst Troeltsch, erschließt sich für Korsch freilich nicht direkt. Im Blick auf KD II/1 und die Bedeu106
KORSCH, Religion mit Stil, 1. Grundlegend: KORSCH, Theologie in der Postmoderne. Der Beitrag Karl Barths, 74–92. 108 Ebd., 75. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd., 77. 112 Ebd. 107
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tung, die Barth dort der Barmer Theologischen Erklärung beimisst, liege die Deutung Barthscher Theologie als »antimodern« überaus nahe. Dass die Barmer Erklärung als »Wunder«, d.h. als dem geschichtlichen Zusammenhang in kausal-relativierender Sicht enthoben, bezeichnet wird, sei nur ein Beispiel für Barths Verweigerung gegenüber »dem kategorischen Imperativ, den die Moderne der Theologie auferlegt, nämlich sich im allgemeinen historisch-kulturellen Zusammenhang auszuweisen«.113 Die bisherigen Deutungen Barthscher Theologie als antimodern, sei es im Sinne Rendtorffs und anderer als untauglicher Ausbruchversuch aus dem theologischen Theorieniveau der Moderne114 (1.), sei es mit Gollwitzer und Marquardt im Sinne einer fortzuführenden sozialistischen Linie (2.) oder im Sinne der modifizierten Fassung bei Schellong und Steck (3.), hätten vor allem das Trilemma seines Widerstandes gegen die Moderne aufgezeigt. Eine präzisere Ortsbestimmung der Barthschen Theologie im Kontext der Moderne nimmt Korsch anknüpfend an die philosophische »Postmoderne«-Debatte vor. Die Postmoderne »zeichnet sich genau dadurch aus, daß sie die Regel bestreitet, nach der sich die Kritik der Moderne an dem kritisierten Gegenstand selbst zu bemessen habe«.115 Der Widerspruch gegen die Moderne werde in der Postmoderne-Debatte auf der Grundlage der Zustimmung zur modernen Ausdifferenzierung entwickelt: »Man nimmt die modernen Differenzierungen hin, ohne eine Theorie des universellen Zusammenhanges aufzubauen, die diese Differenzen noch einmal vereinheitlichen könnte.«116 Korsch entwickelt sein Verständnis der Postmoderne und des Beitrags Barths in Auseinandersetzung mit Lyotard, der in antitotalitärer Ausrichtung von einer Fülle von Sprachspielen in den ausdifferenzierten Räumen ausgehe, für die es keine übergreifenden Regeln gebe. Lyotards Theorie erweist sich für Korsch jedoch als unzureichend: »Was zutage tritt, sind wirklich nur unzusammenhängende Sprachspiele – und eben darum kann jeder nach seinen [sic!] privaten Geschmack wählen, ohne sich irgendeiner Regel verpflichtet zu wissen.«117 Damit sei keine eigenständige auf die Moderne folgende Postmoderne erreicht, sondern die vollkommene Durchsetzung der destruktiven Wirkung der modernen Rationalisierung. Demgegenüber könne die Postmoderne […] nur dann als Fortführung der Moderne auftreten, wenn sie ihrerseits in der Lage ist, zwischen dem Pluralisierten Zusammenhänge entstehen zu lassen, die es erlauben, Differenzen zu ertragen und zu bearbeiten. Andernfalls triumphiert in ihr
113
Ebd., 79. Ebd., 80. 115 Ebd., 82. 116 Ebd., 83. 117 Ebd., 85. 114
Bedingungen der Rezeption
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das zerstörerische Potential der Moderne, und sie hat nicht einmal ein Bewußtsein davon, daß das so ist.118
Die Postmoderne soll demnach die konstruktiven Bemühungen der Moderne fortführen.119 Vor dem Hintergrund dieser Aufgabenstellung gelangt Korsch zu einer Würdigung der unabgegoltenen Potentiale, die sich in dem Umbruch der Theologiegeschichte zeigten, der zwischen Troeltsch und der dialektischen Theologie stattgefunden habe. Die protestantische Theologie, so scheint es, antizipiere hier in einer umfassenden Transformationsbemühung das, was die Theoretiker der Postmoderne bislang noch nicht hinreichend entdeckt hätten.120 Die zentrale Problemstellung der dialektischen Theologie bestehe in der Frage, »wie das Zentrum des Christlichen nach der Phase seiner einheitlich kulturprägenden Kraft zu denken und lebendig zu halten wäre«.121 Gegenüber dem Troeltschen Lösungsversuch, »aus der kulturellen Vielfalt eine ursprüngliche Einheit zu rekonstruieren«,122 werde von der dialektischen Theologie ein synthetischer Versuch unternommen. Es solle nunmehr »ein Prinzip aufgeboten werden, das von sich aus die Vielfalt erschließt und begreifen läßt«.123 Die Funktion dieses Prinzips werde durch die Christologie erfüllt. Barths Kirchliche Dogmatik entfalte eine christologisch erschlossene Kohärenz der Wirklichkeit, wobei die auf dem Weg der Kirchlichen Dogmatik vollzogene Entgrenzung ein notwendiger Schritt sei. So sei die Konzentration auf die »Kirche« als Entfaltungsraum der christologischen Wirklichkeit unzureichend und widerspreche der in der Fluchtlinie ihres Prinzips liegenden Entgrenzung.124 Grundlegend für diese Entgrenzung sei die in KD 118
»Es steht vielmehr für die Postmoderne selbst zur Debatte, ob sie etwas anderes ist als die bewußtlose Fortsetzung der sich beschleunigenden Differenzierung der Moderne, bis ins Extrem der kollektiven Lebenszerstörung hinein – statt, wie vorgegeben, die Rettung des Individuellen.« (ebd., 91) Die Kritik an Lyotard bezieht sich daher vor allem auf dessen Unfähigkeit zur konstruktiven Bewältigung der krisenhaften Zuspitzung der Moderne. 119 Vgl. dazu auch KORSCH, Religion mit Stil, 3. 120 Zu solcher Antizipation vgl. KORSCH, Theologie in der Postmoderne, 74: »Was kulturell an der Bruchstelle von der Moderne zur postmodernen Moderne diskutiert wurde und wird, das hat die Theologie bereits früher am eigenen Leibe erfahren, das hat sie zu bedenken und zu bewältigen versucht. Wo sonst wäre das geheime Thema dieser Debatte, die Pluralisierung des Absoluten, so frühzeitig und so intensiv erörtert worden wie in der Theologie, da doch damit ihr eigenes Thema zur Entscheidung steht?« Vermutlich ist vor diesem Hintergrund auch Korschs Rede von postmoderner Moderne zu verstehen, da eine eigentliche »Postmoderne« als Überwindung der Aporetik der Moderne gar nicht existiert, nur ein mehr oder weniger bewusstes Arbeiten an deren Problemstellungen (vgl. ebd., 74). 121 Ebd., 86. 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Korsch bezieht sich in dieser Kritik auf KD I/1, 1ff – »Die Trinitätslehre an der Spitze der Lehre von der Offenbarung hätte ihm die Möglichkeit an die Hand gegeben, die Grenzen des kirchlichen Umfeldes zu überschreiten.« (ebd., 88).
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Karl Barths dialektische Theologie (D. Korsch)
II/2125 vorgelegte Interpretation des Logos-Begriffs als »Platzhalter für Jesus von Nazareth«. Indem dieser Begriff von seiner Bedeutung im konkreten Kontext gelöst werde, sei es möglich, »daß eben alles in der Welt, von dem ersten Anfang in der Zeit her, im Ausgang von Jesus Christus und unter Bezug auf ihn zu denken und zu verstehen ist«.126 Die Christologie erhalte eine fundamentale Bedeutung innerhalb der Dogmatik gegenüber ihrer früheren Funktion als einzelner Locus.127 Die Individualität dieses Prinzips erfordere sachlich Pluralisierungen:128 Bedingungen der Rezeption Wer Jesus Christus ist und was er für das Leben der Menschen bedeutet, das muß sich an seiner eigenen Geschichte ablesen lassen. Seine Individualität ist so vorzustellen, daß sie sich selbst erweitert und für andere beziehbar macht; und diese Erweiterung und Beziehbarkeit behauptet sich gegen die Ansprüche kulturell vermittelter und insofern getrübter Christuserkenntnis.129
Ermöglicht werde diese Beziehbarkeit durch die Selbstbezeugung, die neben dem aktualen Wirken Christi als »Licht des Lebens« jene strukturellen Voraussetzungen »ins Licht setze«, die Barth als »Lichter des Kosmos« (KD IV/3, 153–171) bezeichne. In dem Christusbezug werde Individualität Wirklichkeit. Konkretionen solcher Individualität bringe Barth wohl nicht zuletzt deswegen nicht vor, da »gerade eine durch die Beziehung auf Christus sich gewinnende Individualität jeweils individuell in Erscheinung treten« und jeweils »andere Lebenskontexte erschließen« wird.130 Die Koexistenz dieser christologisch begründeten Individualität sei als »befriedeter Pluralismus« zu bezeichnen: »Ein solcher Aufbau von Zusammenhang zwischen Verschiedenen und Verschiedenem, der sich aufs Verschiedene einläßt statt es zu vereinheitlichen, der Verschiedenes verknüpft, ohne es zu beherrschen.«131 Solche »befriedete Pluralität« individueller Sprachspiele erfordere von der Theologie das Einbringen der Sprachspiele in die gesellschaftlichen Diskurse bzw. Erörterungszusammenhänge. Die Möglichkeit von Verständigung könne – so Korsch – der Begriff des Geistes zum Ausdruck bringen. Gegenüber der Grafschen Kritik der Barthschen Theologie als Abbruch der Versuche einer konstruktiven Bewältigung der von Ernst Troeltsch diagnostizierten spezifisch »modernen Probleme« hebt Korsch folglich die Anschlussfähigkeit »dialektischer Theologie« hervor. Barths Theologie 125
KD II/2, 102ff. Ebd., 89. 127 »Mit der christologischen Individualisierung der Erwählungslehre hat Barth, so könnte man sagen, seine Version vom Wesen des Christentums vorgelegt.« (ebd., 89). 128 »Wie realisiert sich die singuläre Maßgeblichkeit Jesu Christi in geschichtlich-sozialen Umständen, die eine kulturelle Vermittlung der Identität des Christlichen ausgehöhlt haben?« (ebd., 89). 129 Ebd. 130 Ebd., 91. 131 Ebd. 126
Bedingungen der Rezeption
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nimmt sich des Individualitätsgedankens gerade an, sie stellt offenbar den gelungenen Versuch des Aufbaus »von nichttotalitärer, nichtdoktrinärer Kohärenz«132 dar. Es zeigt sich jedoch auch, dass die Dogmatik als »Sprachspiel« einer spezifischen Selbstdurchsichtigkeit bedarf, um ihrer »postmodernen« Zeitgemäßheit gewärtig zu werden.
7. Bedingungen der Deutung und Rezeption dialektischer Theologie nach Karl Barth Die skizzierte Deutung der Theologie Barths im Zusammenhang des Projekts der Fortschreibung »dialektischer Theologie nach Karl Barth« erweist sich im Blick auf die zuvor untersuchten »neuzeittheoretischen Barthdeutungen« ebenfalls als voraussetzungsreiches Verfahren. Eine erste Voraussetzung stellt der von Korsch zugrunde gelegte Zeitindex der »Postmoderne« dar. Diese Beschreibung der Konditionen, denen auch die Theologie im 20. Jahrhundert unterliegt, eröffnet Korsch insbesondere Graf gegenüber die Möglichkeit einer erheblich optimistischeren Einschätzung der Leistungsfähigkeit dialektischer Theologie, die in diesem Zusammenhang augenscheinlich eher Lösungsansatz als Ausdruck der Krise ist. Dass im Widerspruch zu Lyotard die Postmoderne der Stiftung von Kohärenzen im Medium der Dogmatik bedarf, wird von Korsch allerdings eher vorausgesetzt als sachlich erwiesen. Inwiefern Barths Theologie explizite Hinweise erkennen lässt, die eine Deutung als »Sprachspiel« zur Stiftung von Kohärenzen nahe legen, bleibt offen. Dass Korsch die Theologie Barths in einem komplementären Verhältnis zur Theologie Schleiermachers und Herrmanns deuten kann, beruht auf einer zweiten Voraussetzung in Gestalt des zugrundegelegten religionsphilosophischen Koordinatensystems. Erst aus dieser Perspektive werden die entscheidenden Grundmerkmale der Kirchlichen Dogmatik sichtbar. Die Theologie Barths bedarf, wie bei Rendtorff und Wagner, größerer methodischer Selbstdurchsichtigkeit, als dies in ihrer Entfaltung angelegt ist. Die materiale Gestalt der Dogmatik muss auf die Ebene von »Konstruktionsprinzipien«133 hin überschritten werden, die das »religionsphilosophische Proprium der Theologie Barths«134 erkennen lassen. Dass Barth sich einer expliziten Darstellung dieser religionsphilosophischen Entscheidungen verweigerte bzw. deren Existenz bestritt, hat für Korsch verbreitete Missverständnisse begünstigt.135 132
Ebd. Zum Begriff s. KORSCH, Kontingenzverstehen und Gotteserkenntnis, 264f. 134 Ebd., 264 Anm. 21. Vgl. auch insbesondere ebd., 271. 135 Vgl. dazu KORSCH, Kontingenzverstehen und Gotteserkenntnis, 263: »Es gehört zu den so verbreiteten wie unplausiblen Selbststilisierungen der dogmatischen Theologie Karl Barths, zwischen Theologie und Philosophie einen schlichten Gegensatz zu behaupten.« 133
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Karl Barths dialektische Theologie (D. Korsch)
Die Ebene der materialen Dogmatik wird in der Konsequenz als »Sprachspiel«, bzw. eher als »das Arrangement religiöser Vorstellungen« denn als »deren strenge gedankliche Fassung«136 verstanden. »Theologischer Objektivismus«137 – als ein mögliches Missverständnis – verbiete sich geradezu vor dem Hintergrund des eigentlichen Interesses Barths. Dogmatik ist, einer neueren Studie Korschs zufolge, »Hermeneutik der Religion« bzw. in dieser früheren Phase zutreffender »Hermeneutik des Glaubens«.138 Um dies zu erkennen, bedarf es aber der Religionsphilosophie als »Hermeneutik der Dogmatik«. Dass die Komplementarität der Schleiermacherschen und Barthschen Theologiekonzeptionen zu Recht vertreten wird, basiert darauf, dass diese religionsphilosophische Ebene einen angemessenen Interpretationszugang darstellt. Die vom religiösen Bewusstsein ausgehende Theologie bedarf dann der Theologie, die der Selbstbezeugung der Wahrheit Ausdruck verleiht.139 Auf diesem Wege lässt sich Barths Theologie in eine Gedankenbewegung protestantischer Theologie integrieren, die ihn mit Schleiermacher und Herrmann verbindet. Im Vergleich mit Falk Wagners absolutheitstheoretischer Deutung der Theologiegeschichte, die ebenfalls die Gegenüberstellung von Barth und Schleiermacher voraussetzte, ist Korschs Ansatz dadurch gekennzeichnet, dass die Antinomie zwischen beiden Ansätzen als unüberwindbar erachtet wird – beide haben im Blick auf das Wesen des Glaubens ihr relatives Recht. Entsprechend erfordert die religionsphilosophische Ebene jedoch eine sachkritische Auseinandersetzung mit der Theologie Barths, die sich im wesentlichen auf drei Punkte richtet: (a) die mangelnde Selbstdurchsichtig136
KORSCH, Kontingenzverstehen und Gotteserkenntnis, 264. KORSCH, Intellectus fidei, 212f; s. DERS., Kontingenzverstehen und Gotteserkenntnis, 269. 138 KORSCH, Kontingenzverstehen und Gotteserkenntnis, 271. Vgl. DERS., Dogmatik als Hermeneutik der Religion. Hier scheint sich eine neue Funktionsbestimmung der Dogmatik abzuzeichnen, die den Glaubensbegriff zurücktreten lässt. Den Grund der festzustellenden Situation »Der faktische Pluralismus der Dogmatiken ist evident« (ebd., 56) sucht Korsch in der »Überlegung, daß religiöse Sinnsysteme oder Dogmatiken sich neuzeitlich durch Konzentration auf ein Schlüsselproblem aufbauen, welches sich untheoretischen Lebensdeutungsbedürfnissen verdankt« (ebd.). Insofern gebe es eine Vielzahl unterschiedlicher Rekonstruktionsmomente, die das Zentrum der Dogmatik bilden könnten. S. dazu die einleitenden Bemerkungen in: DERS., Dogmatik im Grundriß, 1ff, dort: »Viel deutlicher als ein […] ›verborgenes Christentum‹ ist ein religiöser Pluralismus, der eine bunte Mischung von Vorstellungen aus unterschiedlichen Quellen vornimmt, oder ein unbekümmerter Agnostizismus, der alles Religiöse verabschiedet zu haben meint.« (ebd., 1f). Dass vor diesem Hintergrund die Theologie Barths kritischer beurteilt wird, überrascht freilich nicht. Im Blick auf KD I/1 stellt Korsch fest, es drohe die Gefahr, dass aus diesem Ansatz eine radikal antipluralistische Option erwachsen könne (KORSCH, Dogmatik als Hermeneutik der Religion, 57f). 139 Vgl. dazu PFLEIDERER, Rez. Korsch, 163: »Theology is […] twofold. It has to be performed as a theory of religion, a theory of man, and as a theory of the foundational ground of religion, a theory of God in his revelation. Hegel and Schleiermacher, Barth and Bultmann – Protestant theology can not overcome these antipositions; it must acknowledge and develop the relative merits of both sides. In these sense Protestant theology is dialectical theology.« 137
Ertrag
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keit auf den Deutungsvollzug (zumindest im Sinne einer expliziten Auskunft), (b) die ekklesiologische Verengung, die freilich nicht zwingend aus Barths Theologie hervorgehen muss,140 sowie (c) die nicht hinreichend deutliche Einsicht, dass auch Barths Theologie die Wirklichkeit der Religion voraussetze. Im Horizont der vorangegangenen Untersuchungen und dem Überbietungsanspruch den früheren Barthdeutungen gegenüber sind jedoch auch vorsichtig kritische Fragen an Korschs Deutung aufzuwerfen: Kann das eigentümliche Changieren zwischen Binnen- und Außenperspektive, zwischen Dogmatik als Deutungsvollzug und Religionsphilosophie als dessen Beschreibung, einen angemessenen interpretatorischen Zugang zur Theologie Karl Barths darstellen?141 Wenn der »Glaube« sich als extern begründet realiter erfährt und dadurch genötigt ist, von der »Selbstbezeugung Jesu Christi« als Faktum zu sprechen, kann sodann von der Dogmatik die Einnahme einer Außenperspektive ohne die strenge sachliche Bezogenheit auf ihren externen Grund erwartet werden? Zumindest sofern die Barthsche Theologie – um rezeptionsfähig zu erscheinen – für Korsch konstitutiv dieser Selbstüberschreitung bedarf, wäre eine genauere Klärung des vorausgesetzten Begriffs »dialektischer Theologie« zu den von Barth benannten Argumenten in der Auseinandersetzung mit Schleiermacher erforderlich. Sodann wirft Korsch Rendtorff, Graf und Wagner vor, zur inhaltlichen Gestalt der Kirchlichen Dogmatik keinen hinreichenden Zugang gefunden zu haben. Es fragt sich aber, ob seine Deutung nicht auf ein vergleichbar abstraktes Niveau zurückfällt, sofern mit der »Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums« letztlich nichts anderes als eine prinzipientheoretische Struktur der Begründung des Glaubens zum Ausdruck kommt. Die Deutung der materialen Gestalt der Dogmatik hingegen als »Sprachspiel« kann zudem nicht schlüssig erweisen, warum die Kirchliche Dogmatik genau jener inhaltlichen (biblischen) Gestalt bedarf, warum das Faktum gerade »Jesus Christus« als das »eine, einzige Wort Gottes« sein muss.
8. Ertrag Im Kontext der bisher untersuchten Barthdeutungen wiesen die Studien Korschs ein deutlich anders gelagertes Paradigma der Interpretation auf. Korsch versucht, das Programm »dialektischer Theologie« fortzuschreiben und dessen Wahrheitsmomente gerade gegen die »neuzeittheoretische Kri140 141
KORSCH, Theologie in der Postmoderne, 88. Als Beispiel für solches Changieren vgl. KORSCH, Dogmatik im Grundriß, 18.
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Karl Barths dialektische Theologie (D. Korsch)
tik« herauszustellen. Gleichwohl lassen sich Berührungen zwischen den Barthdeutungen Korschs sowie Wagners und Rendtorffs festhalten, insbesondere im Blick auf das zu ermittelnde philosophische Gerüst der Theologie Barths, welches sowohl der Christentums- und Absolutheitstheorie, als auch der »dialektischen Theologie« nach Korsch die konstruktive Anknüpfung an Barths Werk ermöglicht. Auch Korsch beobachtet die dogmatische Entfaltung der Theologie Barths unter der Voraussetzung, dass »eigentlich« ein hintergründiges – prinzipientheoretisch adäquat zu beschreibendes – Theoriekonzept verfolgt werde. Dass Barth dieses Theoriegerüst nicht transparent herausgestellt habe, wird in allen bisherigen Deutungen sachkritisch eingewendet. Ebenso sieht Korsch jenseits der vordergründigen Antinomie zwischen den idealtypisch herangezogenen Ansätzen Schleiermachers und Barths eine Kontinuität der neuzeitlichen Theologiegeschichte, deren Grund allerdings – dies ist das Proprium seiner Deutung – als der theologischen Reflexion extern vorausgesetzt gedacht ist, insofern der »Glaube« bzw. die »Religion« jene unterschiedlichen Perspektiven der Theologie hervorruft. Ertrag Dieses konstruktive Bemühen um die Fortschreibung des unabgeschlossenen Projekts »dialektischer Theologie«, ohne zugleich in ein positionelles Gegenüber zu anderen Theologietypen zu fallen, markiert den Rang der Barthrezeption Korschs.142 Ob sie als Deutungsversuch zu überzeugen vermag, ist insofern offen, als der Erweis geliefert werden müsste, dass die hintergründige (eigentliche) Theoriekonzeption Barths eigenes Interesse widerspiegelt,143 und dass Barths Theologieverständnis die religionsphilosophische (im Gegenüber zu Schleiermacher und Herrmann) und postmoderne Relativierung erlaubt. Exakt diese Fragen sind es, die den Übergang zur Barthdeutung Georg Pfleiderers nahe legen.
142
Aufgenommen und fortgeführt wurden bislang insbesondere Korschs Überlegungen zum Ort Barthscher Theologie in der Postmoderne – vgl. insbesondere GUNDLACH, Selbstbegrenzung Gottes. 143 Theologiegeschichtlich wird dies von Korsch in Ansätzen im Blick auf das Verhältnis von Barth zu Cohen angedeutet (KORSCH, Hermann Cohen und die protestantische Theologie, 66–73).
Teil 5: Karl Barths praktische Theologie (Georg Pfleiderer)
1. Einführung Beobachtungen zu den in Georg Pfleiderers Untersuchung Karl Barths praktische Theologie implizierten Auseinandersetzungen innerhalb der neueren Barthdeutung standen am Ausgangspunkt dieser Studie. Sie führten zu der Frage, welche Voraussetzungen die unterschiedlichen Barthdeutungen leiten und wie diese das gezeichnete Bild der Theologie Barths beeinflussen. In der Untersuchung der Barthdeutungen Trutz Rendtorffs, Falk Wagners und Friedrich Wilhelm Grafs, in deren Tradition sich Pfleiderers Studie selbst verortet, wurden unterschiedliche Paradigmen christentumstheoretischer, absolutheitstheoretischer und konsequent historisierender Barthdeutung herausgearbeitet. Insofern die Herausstellung der spezifischen Perspektivität das Interesse dieser Untersuchung darstellt, sollen im Folgenden die wesentlichen Weichenstellungen von Pfleiderers Barthdeutung nachgezeichnet werden, um auf diesem Wege die Fortentwicklung der bisherigen Paradigmen im Medium einer detaillierten, historisch arbeitenden Untersuchung weiter zu verfolgen.
2. Zum Ansatz der Deutung Den eigenständigen Ansatz seiner Interpretation entwickelt Pfleiderer in grundsätzlicher Anknüpfung an die Untersuchungen Rendtorffs, Wagners und Grafs, sich jedoch zugleich gegenüber bestimmten Pointen kritisch abgrenzend, insbesondere im Blick auf die Beurteilung der politischen Konsequenzen der Theologie Barths.1 Bereits in der Einleitung der Studie wird deutlich, dass die Barthdeutung für Pfleiderer in ein neues Stadium eingetreten ist, welches die Frage nach konstruktiven Impulsen der Beschäftigung mit Barths Theologie in den Herausforderungen der Gegenwart ermöglicht. Es sei die »Ambivalenz der Moderne«,2 die den gemeinsamen 1 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 22f. Vgl. auch die Würdigung der Karl BarthGesamtausgabe (ebd., 155) gegenüber Wagners Urteil (s.o. Teil 2, 5.3). 2 Ebd., 4.
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Karl Barths praktische Theologie (G. Pfleiderer)
Problemhorizont der Theoriebildungen seit dem Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart hinein bilde, und die daher erwarten lasse, »daß die theologischen Problemlösungsmodelle, die im Umfeld der Kulturkrise von Weimar und in Reaktion auf sie entwickelt worden sind, zumindest hintergründig von aktueller Bedeutung sein könnten«.3 Programmatisch wird hier ein konstruktives Interesse zum Ausdruck gebracht.4 Barths Theologie als »die exemplarische Krisentheologie«,5 die scheinbar entgegen der notwendigen Ausrichtung kirchenleitenden Handelns an der »corporate identity«6 »nicht an den empirischen Prozessualitätsbedingungen gelebter Religion, sondern an einer ihr normativ vorgegebenen, substantiellen Voraussetzung«7 orientiert sei, stelle sich bei näherem Hinsehen durchaus anders dar. Es könne der Nachweis geführt werden, […] daß Barths scheinbar ganz auf rezipientenindifferente »Objektivität« abgestellte Theologie tatsächlich eine sehr bestimmte Form des Umgangs mit der für die Neuzeit und insbesondere für das 20. Jahrhundert typischen Differenzwahrnehmung von normativ-theologischen Geltungsansprüchen und »empirischer« Religion darstellt. Eine strukturelle und zugleich historisch-genetische Analyse der Barthschen Theologie kann an den Tag bringen, daß in dieser »das religiöse Andere« der Theologie nicht einfach verdrängt, sondern in gewisser und allerdings sehr sublimen Weise geradezu zum Orientierungspunkt der Theologie geworden ist.8
3 Ebd., 5. Vgl. auch ebd., 10f: »Daß die unter den Bedingungen der Kulturkrise der zwanziger Jahre formulierten Versuche theologischen Krisenmanagements für entsprechende gegenwärtige Versuche, wie sie unter den Bedingungen kultureller, politischer und ökonomischer Globalisierungsprozesse und ihrer krisenhaften Begleitumstände nun im 21. Jahrhundert zu unternehmen sind, nicht gleichgültig sein können, könnte auch damit zusammenhängen, daß jene älteren Unternehmungen ihre entwicklungsgeschichtliche Brunnenstube in Diskurszusammenhängen und deren kulturellen Hintergrundsbedingungen hatten, die mit den gegenwärtigen vielfältige Ähnlichkeiten besitzen.« 4 Kritisch abgegrenzt wird diese positive Würdigung gegenüber Wagners Deutung der Theologie Barths in der Studie Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, obgleich die Untersuchung Pfleiderers Wagner insoweit folge, »als sie die Theologie Karl Barths für besonders aussagekräftig im Hinblick auf eine Beantwortung der Frage hält, wie die protestantische Theologie mit der Umformungskrise der Moderne in den ersten drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts umgegangen ist« (ebd., 6). Vgl. auch ebd., 9, es sei der den deutschsprachigen Protestantismus orientierenden Theologie Barths »eine historische Leitung« zuzuschreiben, »die es anzuerkennen und auf ihre produktiven Implikationen für die eigene Gegenwart hin auszuleuchten« gelte. 5 Ebd., 6. 6 »Die rationale Selbststeuerung einer religiösen Institution scheint unter den Bedingungen der ökonomisch radikalisierten Moderne ihr Rationalitätskriterium wie alle anderen Institutionen genau darin zu haben, daß sie sich an dem Bild von Identität orientiert, das ihre tatsächlichen und intendierten ›Kunden‹ sich von ihr machen.« (ebd., 7). 7 Ebd., 7f. Genau dies erscheine in der Moderne aber als problematisch: »Wo der ›Zwang zur Häresie‹ [Peter L. Berger] allgemein geworden ist, scheint dann aber eine an dogmatischer Orthodoxie – sprich: an einem von ihr aus rein inneren, ›substantiellen‹ Gründen für richtig erkannten Selbstbild – orientierte praktisch-theologische Handlungsstrategie obsolet, ja für die Bestandserhaltung der Institution gefährlich kontraproduktiv geworden zu sein.« (ebd., 7). 8 Ebd., 8.
Zum Ansatz der Deutung
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Barths Theologie sei als Versuch zu verstehen, »rezipientenorientierte, pragmatische Religions-Theologie als agentenorientierte, normativ-dogmatische Theologie zu entwerfen«.9 Hervorgehoben wird, »daß Barths Theologie einen zu großer Homogenität gebrachten Versuch der Synthetisierung von modernen theologischen Reflexionskategorien, Lehrbegriffen und Inhalten der klassischen, vor- oder frühneuzeitlichen Dogmatik, von biblischer Sprache und biblischen Geschichten, aber auch traditioneller Frömmigkeitssprache, etwa des Gesangbuchs, darstellt«,10 welcher im Protestantismus des 20. Jahrhunderts eine maßgebliche Orientierungsleistung erbracht habe. Die bislang unabgegoltene Herausforderung einer zu schaffenden »corporate identity« lässt Barths Theologie aus diesem Grunde für gegenwärtige Modernisierungsdiskurse von Interesse erscheinen.11 Indes wird in diesen Vorüberlegungen der Untersuchung eine entscheidende und aus den zuvor untersuchten Barthdeutungen bereits wohlbekannte Weichenstellung vorgenommen, die sich in der aufgezeigten Problemmatrix Barthscher Theologie deutlich zeigt: Zum Ansatz der Deutung Es ist die liberale Theologie um und nach der Jahrhundertwende, in der erstmals die theoretischen und praktischen Probleme und Chancen ausgelotet wurden, die sich mit einer Einstellung der Theologie auf die Selbstwahrnehmung empirischer religiöser Individuen verbinden. Barths Theologie hat sich im Laufe ihrer Entwicklung als antihistoristische, antiempiristische Gegenposition zu den liberal-theologischen Entwürfen jener Zeit und später positioniert. Aber gerade in dieser Gegenwendung ist sie, wie nachzuweisen sein wird, auf jene Problemstellung bleibend bezogen.12
Die Untersuchung – als »Historisierung« der Theologie Barths – steht sodann aber unter einer doppelten Herausforderung: zunächst gelte es zu zeigen, »daß es eine solche pragmatische Orientierung der Barthschen Theologie gibt«, sodann sei darüber hinaus der Erweis zu erbringen, »daß diese Frage [sc. nach der impliziten Pragmatik] ins Zentrum der Barthschen Theologie führt«.13 Dass jeglicher Text auf »Rezeptionsabsichten« hin analysierbar ist, setzt Pfleiderer mit Wolfgang Iser14 voraus. Jedoch habe für Barth »die Orientierung am Leser eine besondere, eine signifikante Bedeutung«, sofern sie »in einer spezifischen, reflexiven Weise rezeptionsästhetisch oder pragmatisch verfaßt«15 sei. Im Unterschied zum literaturwissenschaftlichen Vorgehen bleibt bei Pfleiderer allerdings »die sprachliche, rhetorische Gestalt der 9
Ebd. Ebd., 9. 11 Ebd., 10. 12 Ebd., 11. 13 Ebd. 14 Vgl. ebd., 12 mit Verweis auf ISER, Der implizite Leser. 15 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 12. 10
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Karl Barths praktische Theologie (G. Pfleiderer)
Barthschen Texte«16 von sekundärem Interesse, während das Hauptaugenmerk sich auf den Zusammenhang von Pragmatik und erkenntnistheoretischer Struktur der Theologie Barths richtet. Es solle gezeigt werden, »daß die erkenntnistheoretische Struktur der Barthschen Theologie und deren Entwicklungsgang sich allererst im Rahmen einer textpragmatischen Analyse erschließen«17 ließen: Barths theologischer Erkenntnisbegriff und sein theologischer Reflexionsvollzug müssen im spezifischen Sinne pragmatisch, und das heißt grundsätzlich: als Handlungsvollzug, als intentionaler Akt interpretiert werden, für den mithin gilt, daß für ihn die Differenz von Intention und Realisation konstitutiv ist, und der vor allem konstitutiv auf Adressaten bezogen ist.18
Die Frage nach der Pragmatik bleibt damit keineswegs auf die Oberfläche Barthscher Theologie beschränkt, sie führt vielmehr in deren Zentrum. Deutlich werde die konstitutive Rezipientenorientierung exemplarisch in Barths Diktum im zweiten Römerbriefkommentar: »Die Leser selbst sind die Antwort«.19 Das entscheidende Merkmal der Theologie Barths sei, dass diese sich »zum Handlungscharakter ihres theologischen Reflexionshandelns in ein kritisches Verhältnis setzt«.20 Diese »Selbstunterscheidung des theologischen Reflexionshandelns von sich selbst« diene dazu, an der Stelle der intentionalen Rezipientinnen und Rezipienten der Theologie eine analoge Selbstunterscheidung hervorzurufen: die Selbstunterscheidung von theologischer Reflexion und religiösem Vollzug, die sich aber genau so und mit dem Zweck vollziehen soll, daß die Rezipienten die theologische Reflexion (des Autors K. Barth) als ihre eigene religiös-theologische Selbstauslegung vollziehen, sprich: als denjenigen Reflexionsvollzug, der allen ihren Handlungsvollzügen als Bedingung ihrer Möglichkeit immer schon zugrunde liegt.21
Die Differenz, die die Theologie Barths zu überwinden suche, sei daher diejenige »zwischen dem religiösen Bewußtsein als dem allen Handlungsvollzügen zugrundeliegenden Bewußtsein ihrer Möglichkeit und dem bewußten Bewußtsein davon, das die Theologie sein will«.22 Diese Überwindung – im Widerspruch zur Bewusstseinstheologie, insbesondere zu Schleiermacher – realisiere sich für Barth wiederum allein als Handlungsvollzug: Als seiner selbst als Handlung bewußtes Bewußtsein kann sich das religiöstheologische Bewußtsein aus Barths Sicht aber nur dann durchsichtig sein, wenn es sich 16
Ebd., 14. Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd., 16 mit Verweis auf BARTH, Der Römerbrief (1922), 565. 20 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 14. 21 Ebd., 16. 22 Ebd. 17
Zum Ansatz der Deutung
361
als solche Handlung tatsächlich vollzieht, und das geschieht, indem es sich bewußt als sprachliches Mitteilungshandeln zwischen Subjekten vollzieht, als Predigt.23
In diesem Sinne könne Barths Theologie als »praktische Theologie« gedeutet werden, die sich der »Aufgabe der Erzeugung intersubjektiv anschlußfähiger ›corporate identity‹«24 stelle.25 Das Verhältnis zwischen Theologie und Kirche sei dann aber wie folgt zu bestimmen: Theologie [sei] nicht gewissermaßen irgendeine »Funktion der Kirche«, bei welcher das Kirchesein und kirchliches Handeln als konstituiertes bereits vorausgesetzt und durch die Theologie sozusagen lediglich quantitativ verbessert werden soll, sondern dann muß Theologie als der bewußte Reflexionsvollzug desjenigen (Reflexions-) Handelns begriffen werden, das kirchliches Handeln an sich selbst ist. Theologie zielt dann aber immer schon und an sich selbst auf den Aufbau von »Kirche«, d.h. auf den Aufbau desjenigen intersubjektiven Reflexionszusammenhangs, der durch sich selbst als sich selbst durchsichtige religiös-theologische Subjektivität bestimmt ist.26
Der Kirche eigne damit eine besondere Qualität, sie sei »das Geschichtssubjekt par excellence«, sofern sie als kollektives Subjekt die »Realisierung von Handlungsfreiheit« und deren »Selbstdurchsichtigkeit« verbinde. Diese Funktionsweise der Theologie Barths gewinne ihrerseits in ihrem historischen Kontext schärfere Konturen: Als Projekt der intentionalen Konstituierung eines kollektiven Geschichtssubjekts, das als solches die transzendentale Möglichkeitsbedingung der Realisierung von Freiheit her- und darstellen soll, steht Barths Theologie in den zwanziger Jahren nun aber keineswegs einsam auf weiter Flur. Vielmehr ist genau dies das Ziel etlicher zeitgenössischer Entwürfe innerhalb wie außerhalb der Theologie, deren gemeinsames phänotypisches Kennzeichen ihr Antihistorismus ist. 27
In dieser Kontextualisierung zeigt sich Pfleiderers dezidierter Anschluss an die Untersuchungen Friedrich Wilhelm Grafs, der auf die strukturellen Berührungen der unterschiedlichen antihistoristischen Neuaufbrüche mit den zeitgenössischen politischen Elitetheorien hingewiesen hatte.28 Die 23
Ebd., 17. Ebd. 25 Bestätigt sieht Pfleiderer die Legitimität dieses Deutungsansatzes durch Barths Urteil, dass es ein spezifisches Pfarrerproblem gewesen sei, welches zur Abwendung von der liberalen Theologie geführt habe. »Der Ursprungsimpuls und ursprüngliche Anspruch der Theologie Karl Barths wäre demnach ein praktisch-theologischer; genauer gesagt: der Anspruch, eine Theologie zu initiieren, die als solche praktisch-theologische Kompetenz besitzt, und die in ihrer unmittelbaren praktisch-theologischen Kompetenz ihren spezifischen Innovations- und Überlegenheitsanspruch gegenüber der von ihr zu verdrängen versuchten liberalen Theologie der Vätergeneration begründet.« (ebd., 18). 26 Ebd., 18f. 27 Ebd., 20. 28 S.o. Teil 3, Kapitel 4. 24
362
Karl Barths praktische Theologie (G. Pfleiderer)
Untersuchung zu Barths »praktischer Theologie« wird in einem komplementären Verhältnis zu den Grafschen Untersuchungen gesehen, denn es solle […] die funktionale Beschreibung Grafs durch eine genaue systematische Innenrekonstruktion dieses Zusammenhangs ergänzt werden […], weil nur auf diese Weise das Funktionsprinzip der entsprechenden Theorien herausgearbeitet werden kann.29
Gegen Grafs Deutung der antihistoristischen Theorieentwürfe als »antimodern« versteht Pfleiderer diese im Anschluss an Ulrich Beck als »Konstruktion von ›Gegenmodernen‹«.30 Einer eigentlichen – in der Weimarer Republik unabgegoltenen – Intention der Moderne verpflichtet werde versucht, die jeweilige Theorie »als Instrument der politisch-geschichtlichen Durchsetzung des Geschichtssubjekts zu konzipieren«.31 Jene Theoriegestalt der Weimarer Zeit, die als »invertierte Transzendentaltheorie«32 bzw. als »invertierte praktische Transzendentaltheorie«33 zu bezeichnen sei, sei theoriegeschichtlich durch die »Rezeption der klassisch-modernen Transzendentalphilosophie namentlich Kants und Fichtes«,34 vermittelt durch den Marburger Neukantianismus, beeinflusst. Kritisch wird dieser Ansatz gegenüber Falk Wagner und Friedrich Wilhelm Graf abgegrenzt, welche die Theologie Barths vor dem Hintergrund unverkennbar autoritärer Züge jener Theoriegestalten eines »latent faschistischen Charakter[s]«35 für schuldig befunden und damit als nicht gangbaren – da in seiner politischen Wirkung fatalen – Weg verstanden hätten. Obgleich Barths Theologie in den Kontext weiterer Entwürfe einer »radikal-modernen Gegenmoderne« gestellt werde, verfolge die Deutung »keine denunziatorischen Absichten«.36 Überdies müssten zumindest im Blick auf die Theologie Karl Barths die »autoritären Züge der Theorie […] von den damit verbundenen politischen Optionen unterschieden werden«.37
29
Ebd., 21 Anm. 81. Ebd., 21. 31 Ebd. 32 Ebd., 23. Jener Theorietyp suche »die Lösung der Probleme, die sich einer transzendentalen Theorie individueller Freiheit stellen, durch den Aufbau eines kollektiven Geschichtssubjekts […], das in seiner Konstitution die Realisierungsbedingungen individueller Freiheit selbst enthalten soll« (ebd.). 33 Ebd., 140. 34 Ebd. 35 Ebd., 22. 36 Ebd. Vgl. ebd.: »Es geht nicht um eine Neuauflage der These vom totalitären, latent faschistischen Charakter der Barthschen Theologie.« – »Der Zug zum Autoritären, der den gegenmodernen Entwürfen der zwanziger Jahre oft unverkennbar eigen ist, sollte nicht zum Anlaß einer letztlich moralisch gelagerten Pauschalkritik genommen werden, welche die qualitativen Ansprüche jener Theorien ignoriert.« 37 Ebd., 23. 30
Der Kontext der Theologie Barths
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In Pfleiderers Verfahren werden auf diesem Wege zunächst zwei der älteren Deutungsansätze miteinander verknüpft. Grundlegend ist Grafs Deutung der krisenhaft zugespitzten Moderne am Beginn des 20. Jahrhunderts, die den Rahmen für Pfleiderers Rekonstruktion bereitstellt. Darüber hinaus werden die Impulse bezüglich der elitetheoretischen Signatur Barthscher Theologie im Horizont ihres geistesgeschichtlichen Kontextes aufgenommen. Dass jedoch die Barthsche Theologie aus einer Innenperspektive vor dem Hintergrund dieser Problemmatrix ausgeleuchtet wird, ergänze Grafs Barthdeutung in komplementärer Weise. Pfleiderer verbindet dies mit einem vorsichtigeren Urteil über die »Gegenmodernität« Barthscher Theologie, insofern sie nunmehr als konstruktiver Bewältigungsversuch der mit der Moderne gestellten Probleme verstanden wird.38 Die »Elitetheorien« scheinen nicht mehr nur Ausdruck, sondern zugleich doch vielversprechender Lösungsversuch der Krise zu sein. Die Rekonstruktion aus der Innenperspektive empfängt sodann vor allem Impulse durch Wagners theorievergleichende Studien, insbesondere zu Gehlens Handlungsbegriff. Obgleich der Bezugsrahmen der »Theorie des Absoluten«, der von Wagner in diesem Vergleich vorausgesetzt wird, nicht übernommen werden soll,39 muss Pfleiderer damit die subjektivitätstheoretische Vorbedingung des Wagnerschen Denkens teilen: Die Theorie Barths steht unter der Bedingung des WissenKönnens, d.h. sie muss auf die konstruierende Leistung des Subjekts »Karl Barth« hin transparent gemacht werden, und sie ist in der Konsequenz als mit dem Problem der Konstitution von Subjektivität befasst zu verstehen. Während das methodische Vorgehen des Theorievergleichs damit Wagner und dem auf diesen rekurrierenden Graf folgt,40 sind die Bewertungsmaßstäbe gewandelt, sodass sie nicht unmittelbar auf eine negative Einschätzung hinauslaufen. Pfleiderers Ansatz der Barthinterpretation kann bereits in formaler Hinsicht als paradigmatisch für eine Reihe neuerer Untersuchungen gelten, da die theologiegeschichtliche Einordnung – insbesondere im Blick auf das Verhältnis zwischen Barth und dem Neuprotestantismus – stärker im Rekurs auf dessen vordialektische Theologie vorgenommen wird.41 In der 38 Insofern lässt sich feststellen, dass Pfleiderer auf der historisierenden Ebene diejenigen konstruktiven Potentiale von neuem zu erschließen bemüht ist, die Wagner und insbesondere Rendtorff auf der »begriffenen« Ebene der Theologiegeschichte nachzeichneten. 39 Ebd., 23 Anm. 40 Ebd. Es sei festzuhalten, »daß Wagner der erste war, der solche funktionalen Theorievergleiche in Bezug auf die Theologie vorgenommen hat. Insofern schließt das hier geübte Verfahren an ihn an, wie auch insbesondere an die Einzelstudien F. W. Grafs. Die untersuchten Theorien werden jedoch hier nicht vor das Hohe Gericht einer Theorie des Absoluten gefordert […]; vielmehr soll eine eher detektivische Spurensuche betrieben werden« (ebd.). 41 PFLEIDERER, Das prophetische Amt der Theologie, 120 Anm. 25 werden als Referenzen die Arbeiten von MOXTER, Kultur als Lebenswelt und WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung,
364
Karl Barths praktische Theologie (G. Pfleiderer)
stärkeren Beachtung dieser – Rendtorff, Wagner und Graf noch nicht in edierter Fassung vorliegenden – Quellen lasse sich zeigen, »dass sich schon in Barths früher Rezeption der Theologie und Philosophie seiner liberalen ›Väter‹ durchaus originelle und die spätere Entwicklung bestimmende Motive erkennen lassen«42 – d.h. jener von Barth rückblickend diagnostizierte »Bruch« im Jahr 1914 wird quellengestützt zumindest relativiert, und die Kontinuität zwischen liberaler und dialektischer Theologie wird im Denken Barths selbst aufgewiesen.43 Das methodische Programm der Historisierung als Relativierung in Analogie und Kausalität wird daher konsequent auf den Denkweg Karl Barths angewendet. Der Kontext der Theologie Barths
3. Der Kontext der Theologie Barths Miteinander verbunden in der Voraussetzung, dass die krisenhaft zugespitzte Moderne die schlechthin entscheidende Herausforderung theologischer Reflexion darstellt, formieren sich gemäß Pfleiderers Rekonstruktion in der Weimarer Zeit unterschiedliche Ansätze zu einer »antihistoristischen Selbstüberbietung der Moderne«.44 Ihre gemeinsame Theoriesignatur sei in dem »Bestreben« zu erkennen, »die essentielle Thematik der Moderne, nämlich die Freiheit, unter der Bedingung der Einsicht in ihre radikal krisenhaften Folgen in reflexiver Aufhebung zur Durchsetzung zu bringen«.45 Als Vertreter werden Karl Barth, Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten, Emanuel Hirsch, Erik Peterson und Paul Althaus, sowie Georg Lukács, Ernst Bloch, Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger genannt.46 Geprägt durch das Bildungswesen des Kaiserreichs verarbeiteten diese Vertreter die Krisenerfahrungen im Zusammenhang des Ersten Weltkriegs im Medium von »Konterkarierungen von grundlegenden Parametern« der überkommenen »Deutungs- und Ordnungsmuster«47 als: »Antihistorismus«, »Antimethodis-
genannt. Zu Pfleiderers Rekonstruktion dieser Phase vgl. PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 139ff und DERS., Das prophetische Amt der Theologie, 120–122. 42 PFLEIDERER, Das prophetische Amt der Theologie, 120. 43 Vgl. dazu PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 24: Es solle gezeigt werden, »daß und inwiefern sich Barths selbständige theologische Position, die er im Lauf des Ersten Weltkriegs grundsätzlich entwickelt, als konsequente und im wesentlichen kontinuierliche Weiterentwicklung seiner frühen Rezeption moderner liberaler Theologie erweisen läßt«. Die früheren Bemühungen, insbesondere bei Rendtorff, die Kontinuität im Sinne bleibender Problemstellungen zu rekonstruieren, werden damit augenscheinlich auf ein historisch festeres Fundament gestellt. 44 Ebd., 29. 45 Ebd. 46 Hier zeigt sich die große Übereinstimmung mit Graf, sowie der gemeinsame Rekurs auf die »klassische« Untersuchung KROCKOW, Die Entscheidung. 47 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 32.
Der Kontext der Theologie Barths
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mus«, »Antiszientismus«, »Antiliberalismus« und schließlich »Antiparlamentarismus«.48 Waren die Grundlagen hierfür durch das »allgemeine Kulturkrisenbewußtsein«49 prädisponiert, so habe auch in der Luft gelegen, »daß die aus solchem Ganzheitshunger gespeisten Theorieansätze sich gerne Versatzstücke vormoderner Denkfiguren bedienen«:50 Die protestantischen Theologen unter den radikalen Krisenintellektuellen greifen bevorzugt auf die – gegen den Neuprotestantismus ausgespielte – reformatorische Theologie, etwa auf das an ihre theonomen Interessen anschlußfähig erscheinende Theologumenon des »Wortes Gottes« zurück und zielen in diesem Sinne auf eine »Luther-Renaissance«. […] Häufig werden antimoderne Strömungen der Moderne selbst zu beerben versucht, oder es wird auf die altprotestantische Orthodoxie (K. Barth), die Scholastik (E. Peterson) oder antiliberal wendbare Theoreme wie den Volksbegriff (F. Gogarten, E. Hirsch, C. Schmitt) oder auf F. Tönnies’ Entgegensetzung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« zurückgegriffen.51
Politisch erweise sich diese Gruppe als überaus heterogen.52 Verbindend sei aber durchgängig ihre Auseinandersetzung mit dem Thema der Geschichte. Aus diesem Grund sei der Begriff »›Antihistorismus‹ in der Tat, zumindest nach der negativen Seite hin, eine besonders prägnante Kennzeichnung der Weimarer Radikalen«.53 Die Geschichtsphilosophie – wiederum im Widerspruch zu Ernst Troeltsch entfaltet – entwickle sich von »einer philosophischen Spezialdisziplin« zu einer »kulturwissenschaftlichen Grunddisziplin«, »ja zur wissenschaftlichen Fundamentaltheorie schlechthin«.54 Eine exemplarische Gestalt solcher Geschichtsphilosophie sei die »eines Kommentars zum Römerbrief des Apostels Paulus«.55 Eine nachgerade klassische Studie in theorievergleichender Absicht sei Christian Graf von Krockows Untersuchung Die Entscheidung. Daneben sei es vor allem Falk Wagners Untersuchung zu Arnold Gehlens Handlungsbegriff gewesen, die einen wesentlichen Beitrag zur interdisziplinären Erhellung der Theoriegestalten der Weimarer Zeit geliefert habe.56 Als Pointe 48
Ebd. Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd., 32f. 52 »Auch die der dialektischen Theologie zuzurechnenden Autoren sind politisch eine alles andere als homogene Gruppe, und das gilt sowohl für die Anfangszeit, wie für die Zeit des Auseinanderbrechens dieser Gruppierung Anfang der dreißiger Jahre.« (ebd., 34f). Jedoch reichten die Affinitäten zwischen den Vertretern unterschiedlicher politischer Optionen »in die konstruktiven Fundamente der Theorieformationen hinein, die von den radikalen Antihistoristen konzipiert werden« (ebd., 35). 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 S.o. Teil 2, 3.4.2. 49
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entnimmt Pfleiderer dem Wagnerschen Rekonstruktionsversuch, dass »Gehlens Anthropologie als auf den Handlungsbegriff zusammengezogene Geschichtsphilosophie«57 verstanden werden könne. Er rückt damit Strukturbeobachtungen Wagners aus ihrem absolutheitstheoretischen Kontext heraus,58 um den Handlungsbegriff historisierend als Theoriesignatur der Weimarer Zeit herauszustellen. Entsprechend tritt der von Wagner herangezogene Vergleichspunkt Hegelscher Philosophie zurück. Hingegen wird – der These, die Antihistoristen seien neukantianisch beeinflusst, entsprechend – die Beziehung zu »Hermann Cohens Konzeption des Denkens als ›Erzeugung‹« sowie der »darin angelegte[n] Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft«59 als entscheidender Einfluss benannt. Der radikalisierte Handlungsbegriff als »logisch-kategorialer Grundbegriff des theoretischen und praktischen Selbstvollzugs geschichtlicher Subjektivität«60 könne im Blick auf die Theorieentwürfe der Weimarer Krisenintellektuellen die Ausblendung »selbständiger (geschichts-)methodologischer Debatten«61 ebenso erhellen wie die jeweilige Vermittlung und das Profil wissenschaftlicher Reflexion, die »nicht mehr als Aufzeigen von der Vernunft allgemein zugänglichen Sachverhalten« verstanden werde, »sondern als handelnde Übermittlung von Information, die im Akt ihrer Übermittlung die Bedingungen der Möglichkeit ihres Verstandenwerdens mittransportieren soll«.62 Diese Struktur sei es schließlich, die unterschiedliche Theorieentwürfe in der Ablehnung der »Zuschauerperspektive« vereinte.63 Reflexion werde zur Handlung, die nicht ihre Bedingungen zur Debatte stelle, sondern auf Reproduktion am Ort des Rezipienten ziele. Der Rekonstruktion der Theologie Barths ist in Pfleiderers Untersuchung eine umfängliche Darstellung des Kontextes zeitgenössischer Theoriebildung vorgeschaltet, in der der neuzeittheoretische Horizont abgesteckt wird:
57
PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 38. Ebd., es sei von der »logisch-kategorialen Kritik, die in diese Beschreibung einfließt«, zu abstrahieren. 59 Ebd., 38f. Desweiteren wird der Fichtesche Begriff der »Thathandlung« ins Feld geführt. 60 Ebd., 39. 61 Ebd. »Jener Affront gegen selbständige erkenntnistheoretische und methodologische Reflexionen ließe sich an vielen Systementwürfen der radikalen Weimarer Kriegsgeneration, etwa an Heideggers Sein und Zeit oder an Barths Hauptwerken im einzelnen illustrieren. Die Einziehung selbständig methodologischer Reflexionen ist bis in die Kirchliche Dogmatik das bestimmende formale Kennzeichen der Barthschen Theologie.« 62 Ebd., 41. 63 Ebd., 40: »Die Radikalisierung des Handlungsbegriffs, auf den Geschichte zusammengezogen wird, führt vor allem dazu, daß die Texte selbst als intentionale Handlungen verstanden und konzipiert werden, die einem mehr oder weniger intensiv agitatorischen Charakter und polemischen Duktus haben. […] Der radikalisierte Handlungsbegriff kodiert das Feld wissenschaftlicher Reflexion um und entgrenzt es zum Politischen.« 58
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Daß die Neuzeit einerseits Freiheitschancen für den einzelnen in zuvor ungeahntem Ausmaß eröffnet, daß sie andererseits neue, ebenfalls unabsehbare Risiken, Bedrohungen und Abhängigkeitsverhältnisse erzeugt, ist die Grundeinsicht der großen gesellschaftstheoretischen Entwürfe seit dem Ende des letzten Jahrhunderts, in der Forscher wie E. Durkheim, M. Weber, E. Troeltsch und G. Simmel übereinkommen […]. Für die Selbsterhaltung von Institutionen, die sich der Sicherung individueller Freiheit verschrieben haben, und dazu wollen sich die protestantischen Kirchen in der Regel zählen, bietet die Moderne konstitutive Entfaltungschancen, aber sie enthält auch unzweifelhaft Bedrohungselemente.64
Die spezifische Theoriesignatur, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auftritt, konturiert Pfleiderer am Beispiel von Georg Lukács, Carl Schmitt, Emanuel Hirsch und Friedrich Gogarten. Gleichsam als Vorspann der Darstellung der unterschiedlichen von den Krisenintellektuellen konzipierten Theorien legt Pfleiderer eine knappe Rekonstruktion der spezifisch modernen Problemlage bei Max Weber, im Lichte der Studie Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus, vor.65 Es zeigten sich bei Weber bereits wesentliche Merkmale der darauf folgenden Theorien: »Genuin moderne Subjektivität, so lässt sich Webers Theorem zusammenfassen, ist sich unendlich an ihrer Selbstkonstitution abarbeitende Subjektivität. Sie entsteht aus einem – psychologischen – Vergleich ihres empirischen Seins mit ihrem kategorischen Sollen.«66 Weber bestimme es als Aufgabe, »die Schließung der Differenz von Normbegriff und historisch-psychologischer Wirklichkeit«67 zu leisten, die sich letztlich im Begriff des »Berufsmenschen« realisiere. Auf diesem Wege erkläre bereits Weber »der kontemplativen Haltung des Zuschauers den Krieg«,68 obgleich er – anders als die Krisenintellektuellen – nicht den Glauben teile, »den Agenten der Moderne erzeugen zu können«.69 In den Entwürfen von Lukács, Schmitt, Hirsch und Gogarten liege nunmehr vor diesem Hintergrund eine »gemeinsame Theorieabsicht und auch eine darauf bezogene gemeinsame theoretische Grundstruktur«70 vor. Lukács und Schmitt seien durch ihre gemeinsame Gegnerschaft gegen die bürgerlich-liberale Kultur verbunden, vor allem jedoch durch ein gemeinsames »Grundmuster«: »beide versuchen praktisch-politische Optionen aus Theoriestrategien abzuleiten, die an geschichtsphilosophischen oder gesellschafts64
Ebd., 4. Ebd., 47–59. 66 Ebd., 58. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd., 59. »Der Agent der Moderne, auf den Weber reflektiert, ist vielmehr […] einer, der von der voll ausgebildeten Moderne zum Verschwinden bestimmt ist. Im Unterschied zu der radikalen Weimarer Kriegsgeneration hat Weber diese Einsicht aber gerade nicht daran gehindert, die begrenzten Gestaltungsräume der modernen Weimarer Demokratie zu nutzen.« 70 Ebd., 139. 65
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theoretischen Letztbegründungen orientiert sind«.71 Es handle sich um die »ebenso theoretisch anspruchsvolle wie mit konkreten praktischen Realisierungsansprüchen ausgestattete Gründung eines kollektiven revolutionären Handlungssubjekts«,72 welches mit »absolutem Geltungsanspruch«73 ausgestattet würde. Besonders hervorgehoben werden im Blick auf beide Theoretiker die Anleihen in religiöser Sprache,74 sowie (besonders im Blick auf Carl Schmitt) ihre politische Brisanz in der Weimarer Zeit.75 Am Beispiel Lukács’ lasse sich die Theoriestruktur besonders deutlich, insofern explizit vertreten, erkennen.76 Dieser Theoriesignatur entsprechend werden die Entwürfe Hirschs und Gogartens als »radikale theologische Konstruktion des starken Agenten der Moderne«77 gedeutet. Hirsch verfolge »die Souveränitätsproblematik des kollektiven Handlungssubjekts«78 als Kernproblem seines Denkens vor dem Hintergrund seiner früheren Auseinandersetzung mit »transzendentalphilosophischer Systemphilosophie« (Fichte), die jedoch »mit antisystemischen Fragmentarizitätstheoretikern« (Nietzsche, Overbeck, Kierkegaard) konfrontiert, »metakritisch« gebrochen und »damit krisenstabil« gemacht werden solle.79 Die von Hirsch intendierte »revolutionäre Gegenelite« verlange nach einer »Substanzialisierung«,80 die schließlich im Blick auf den Nationalsozialismus erfolge. Das systematische Problem des Denkens Hirschs, welches am Ende der Weimarer Republik deutlich hervortrete, wird von Pfleiderer in der Vermittlung des – »den sozialen Vergemeinschaftungsformen« gegenüber »mit selbständigem Recht« auftretenden – Individuums 71
Ebd., 60. Ebd., 60f. 73 Ebd., 61. »Die formale Gemeinsamkeit beider Theorien besteht […] darin, daß beide ihren politischen Agenten genau so konstruieren, daß in ihm Innenverhältnisse, mithin sein ›Bewußtsein‹, und Außenverhältnisse, nämlich seine politische Handlungspotenz, zur Deckung gebracht sein sollen. Durch diese Deckungsgleichheit von Bewußtsein und Handlungspotenz ist das starke Subjekt der Moderne in beiden Fällen konstitutiv ausgezeichnet. Und eben darin unterscheiden sich beide Theoretiker von ihrem modernitätstheoretischen Gewährsmann Max Weber.« (ebd.). 74 Zu Lukács s. insbesondere ebd., 69f 75 S. ebd., 89: »Carl Schmitt hat eine Theorie des Politischen entwickelt, die in allen ihren hier skizzierten Theoriephasen an den Konstitutionsproblemen eines sich selbst durchsichtigen, kollektiven Handlungssubjekts orientiert ist. Die ›Legitimierung‹ des Politischen, auf die sie zielt, ist Interpretation des Politischen in diesem Sinne. Ein Verständnis des Politischen als der Kunst gesellschaftlichen Interessenausgleichs ist ihr schon im Ansatz fremd.« 76 »Der rekonstruktive Aufwand, der zu treiben war, um die vorgeführte Theoriestruktur aufzudecken, ist im Falle von Georg Lukács’ Theorie – verglichen mit den drei nachstehend untersuchten Autoren – relativ gering. ›Transzendental-praktische‹ Fragestellung und Lösungsmodell werden hier zwischen zwei Buchdeckeln und ganz explizit geliefert […]« (ebd., 70). 77 Ebd., 90. 78 Ebd., 92. 79 Ebd. 80 Ebd., 454. 72
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mit diesen »Vergemeinschaftungsformen« gesehen: »Das politische Ziel von Hirschs Schrift [sc. Schöpfung und Sünde] ist somit die ethischtheologische Gleichschaltung von Individuen, die sich gegenüber dem Nationalsozialismus distant verhalten […]«.81 Die Theologie Gogartens82 – ebenfalls mit der Aufgabe einer »theologischen Letztbegründung geschichtlicher Subjektivität und ihrer Selbstdurchsichtigkeit«83 befasst – weise demgegenüber bereits in die Richtung, die Karl Barth im Kontext der Weimarer Krisenintellektuellen einschlage: Indem der Begründungsvorgang von Glaube im Medium interpersonaler Kommunikation gedacht und diese unter die Ägide des Handlungsbegriffs gestellt wird, ist er gewissermaßen schon als »Sprechakt« gedeutet; und zwar als ein solcher Sprechakt, der eine konstitutive Veränderung an seinem Rezipientensubjekt vollbringen können soll. Damit ist Gogarten in der Reihe der hier bislang untersuchten Autoren der erste, bei dem die für alle Ansätze nachgewiesene theoriekonstitutive Bedeutung der Pragmatik eine eigene kategoriale Fassung im elementaren Begründungszusammenhang der Theorie selbst bekommt.84
Der intersubjektive Handlungszusammenhang, in dem die entsprechende Selbstauslegung des Subjekts seinen Ort hat, wird von Gogarten als die mit Autorität ausgestattete85 und sprechakttheoretisch als Geschehen des göttlichen Wortes86 bestimmte »Kirche« identifziert. Deren Konstitution werde von ihm in den 20er Jahren durch den »Sprechakt des Wortes Gottes« als »absoluter Handlung«87 ausgearbeitet.88 Die kirchliche Predigt solle als »Auf81
Ebd., 108f. »Die Radikalität, die Hirschs politische Theologie 1933/34 erreicht, zeigt am besten seine Rede von der ›Volkswerdung‹, die sich für ihn in der ›gegenwärtigen deutschen Stunde‹ ereignet. Im Vorgang der politischen Durchsetzung der nationalsozialistischen ›Führung‹ vollziehe sich im strikten Sinne die (Selbst-)Konstituierung des kollektiven souveränen Handlungssubjekts. Im Führer wird der verborgene Souverän zum offenbaren; der Führer ist der Souverän des Souveräns. Damit kann dann Hirschs Theorie endlich auch selbst einen Ort innerhalb der politischen Wirklichkeit einnehmen und braucht ihre damit verbundene Partikularisierung nicht mehr zu scheuen; sie wird intentional zur Parteidoktrin der Kirchenpartei der Deutschen Christen.« (ebd., 109). Bei Hirsch werde zudem versucht, die »Zuschauerposition« der geschichtlichen Identifikation des starken Handlungssubjekts gegenüber »auszuschalten«. Wer sich der »Parteidoktrin« nicht füge, so »dialektische Theologen, Juden etc. wird als ›lieblos‹ beiseite stehender ›Zuschauer‹ ethisch oder rassenbiologisch disqualifiziert und zumindest – wenn und soweit es nach Hirsch geht – aus jeder öffentlich einflußreichen Position ›entlassen‹« (ebd., 109). 82 S. ebd., 110–136. 83 Ebd., 119. 84 Ebd. (Hervorhebung von mir, S.H.). 85 Ebd., 120. 86 »Ob diese de facto sprach- und näherhin sprechakttheoretische Bestimmung des Kirchenbegriffs eine originale Leistung Gogartens ist, kann und muß hier nicht erforscht werden. Wahrscheinlich ist, daß es sich um eine unter Aufnahme reformatorischer Theologumena vollzogene funktionale Adhoc-Bildung handelt, die sich im Schnittpunkt von Handlungskategorialität und personaler Ich-Du-Konzeption ja nahezu von selbst aufdrängt.« (ebd., 118f). 87 Ebd., 121.
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forderung zur [entsprechenden] Selbstdeutung«89 zum intersubjektiven Aufbau von Beziehungen führen.90 In Gogartens Politischer Ethik werde vor diesem Hintergrund eine »ethisch-normative Theorie von Intersubjektivität«91 entworfen. Zudem trete der Begriff des Staates hervor: Der Lehre von den Schöpfungsordnungen als Theorie der Strukturen, innerhalb derer sich die Selbstauslegung des Geschichtssubjekts Kirche vollziehen soll, wird eine weitere Konkretion zuteil, indem als Trägersubjekt dieser Schöpfungsordnungen der Staat identifiziert wird.92
Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat werde von Gogarten im Rahmen einer »funktionalen Zuordnung« bestimmt, die letztlich im Kern eine gewisse Nähe zur fünften Barmer These erkennen lasse. Auch in seiner Staatstheorie bewege sich Gogarten keineswegs außerhalb »der modernen Theoriegeschichte der Freiheit«, der autoritäre Staat beinhalte »die Bedingung der Möglichkeit der Realisierung individueller sittlicher Freiheitsvollzüge«.93 Die Kirche halte das Wissen um dieses Wesen des Staates präsent: »[…] nur wenn im Bereich des Politischen selbst eine Instanz benannt werden kann, welche die von Gogarten aufgebaute Begründung des Staates präsent hält, kann verhindert werden, daß der Staat utopisch überfordert oder heteronomisch-konventionalistisch verbogen wird«.94 Der von Gogarten unzweifelhaft entworfene »tendenziell totalitäre Staat«95 enthalte mit dieser Bezogenheit auf die Kirche als »Instanz, die um sein Wesen weiß«,96 »zugleich ein – und zwar letztlich das einzige – Moment seiner institutionellen Begrenzung«.97 88 So lege Gogarten in seiner Schrift Ich glaube an den dreieinigen Gott (1926) den Versuch vor, »seine Autoritätstheologie als Offenbarungstheologie mit ontologischem Bezug so zu entwickeln, daß die metahistoristischen Ansprüche, die er mit ihr verknüpft, eingelöst werden können« (ebd.). 89 Ebd., 127. 90 »Darum funktioniert kirchliches Handeln/Reden so, daß es eodem actu nach innen die Individuen vergemeinschaftet, indem sein Vollzug als ›transzendentale‹ Bedingung der Möglichkeit ihrer adäquaten Selbstauslegung zu stehen kommen soll; zugleich treten Individuen in solcher Selbstauslegung immer schon als Elemente des Kollektivs verkündend nach außen.« (ebd.). Entsprechend kann Pfleiderer von einer »handlungstheoretisch-ethischen Durchbestimmung aller Gehalte der Dogmatik, die Gogarten in seiner Theologie vollzieht« (ebd., 128), sprechen. 91 Ebd., 129. 92 Ebd. 93 Ebd., 134. 94 Ebd. »Die Instanz, die allein um die rechte theologisch-philosophische Begründung des Staates weiß, ist die Kirche […]. Es ist die Erkenntnis des Staates als Staat, die tatsächlich seine ethische Begründung leistet und damit seine wahre Subjekthaftigkeit begründet und in dieser Begründung herstellt. Die Kirche ist im Sinne dieser Ethik im eminenten Sinne staatstragend.« (ebd., 134f). 95 Ebd., 135. 96 Ebd. 97 Ebd. »Die institutionelle Differenzierung und Begrenzung des Staates, die Gogarten hier anlegt, steht der fünften These der Barmer Theologischen Erklärung sachlich durchaus nicht nach.
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Gogartens »Theorie des starken Handlungssubjekts der Moderne« unterscheide sich somit dadurch von den zuvor diskutierten Entwürfen Lukács’, Schmitts und Hirschs, dass sie die erste Theorie sei, »die aus der Differenz von funktional transzendentaler Begründung des starken Handlungssubjekts der Moderne und seiner Handlungsvollzugslogik wenigstens ansatzweise institutionelle Folgerungen zieht«, die Gogarten selbst jedoch nicht hinreichend bewusst geworden seien. Als Konsequenz einer entsprechenden institutionellen Differenzierung werde »dem starken Agenten der Moderne praktisch eine empfindliche Schwächung« zugefügt: »genau das wird man jedoch als die theoretische Stärke von Gogartens Politischer Ethik ansehen können«.98 Als Ergebnis dieser Untersuchungen zum Kontext Barthscher Theologie sei daher eine Grunddisposition der unterschiedlichen Theorieentwürfe festzuhalten: »Das bestimmende Grundproblem und Grundthema dieser Theorien ist die Bewältigung der ihrer fundamentalen Antagonismen ansichtig gewordenen Moderne.«99 Es zeige sich vor diesem Hintergrund, »dass Karl Barths theozentrische Reproduktion der neoidealistischen Gesellschafts- und Geschichtstheorien das Paradigma dieser Zugangsweisen insgesamt am schärfsten herausgearbeitet und vielleicht auch am produktivsten umgesetzt hat«.100 Der Ertrag jener Kontextualisierung für das Verständnis der Theologie Barths liegt zunächst wie bereits bei Friedrich Wilhelm Graf darin, externe Evidenz im Blick auf Problembestände aufzuzeigen, die im zeitgeschichtlichen Horizont der Weimarer Republik gleichsam »in der Luft lagen«.
4. Die Entwicklung der Theologie Barths Das Proprium der Theologie Barths, welches die folgende Rekonstruktion herausstellen solle, sei darin zu sehen, dass es sich bei ihr um eine »prinzipialisierte invertierte praktische Transzendentaltheorie«101 handle. Das Gogarten hat nicht wahrgenommen, daß dieser Gedanke eine Sprengkraft für die Grundlagen seiner Politischen Ethik entfaltet: Wo erkannt ist, daß das ethisch-theologische Wissen als die Bedingung der Möglichkeit rechter Staatlichkeit selbst einer institutionellen Sicherung bedarf, da ist die Einsicht nicht weit, daß als primärer Träger solchen Wissens die individuellen Subjekte zu gelten haben; um deren rechtliche Sicherung hätte es Gogarten aus seinen eigenen Theorievoraussetzungen heraus selbst zu tun sein müssen. Für eine solche Sicherung ist Gogartens ethische Theologie nach ihren systematischen Voraussetzungen der Sache nach immerhin aufgeschlossen.« (ebd., 136). 98 Ebd., 136. 99 PFLEIDERER, Das prophetische Amt der Theologie, 118 Anm. 18. 100 Ebd. 101 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 141 (Hervorhebung von mir, S.H.).
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»Theoriemuster«, welches anhand der Weimarer Krisenintellektuellen aufgezeigt wurde, komme »in Barths Theologie sukzessive in besonders reiner Form zur Ausführung«,102 da er zunehmend »auf jegliche empirische Positivierung eines starken Handlungssubjekts«103 verzichte und »dessen Aufbau rein in das Bewußtsein der Rezipienten seiner Theologie«104 verlege. Die Differenz zwischen »starkem Geschichtssubjekt« und »elitärem Bewußtsein« werde bei Barth »eingezogen, bzw. einzuziehen versucht«, gerade diese Einziehung werde jedoch »selbst noch einmal zum Thema der Theorie«: »Darin ist Barths Theologie den anderen Entwürfen systematisch überlegen.«105 Die Entwicklung der Theologie Barths Barth erreiche diese Thematisierung der Einziehung durch eine »Prinzipialisierung« der Inversion. »Die Prinzipialisierung ist eine theologische; und sie wird signalisiert durch das den vier anderen Basissignaturen an Prinzipialität überlegene: ›Gott ist Gott‹.«106 Als Prozess einer in diesem Sinne zunehmenden Prinzipialisierung sei, so die These, die Entwicklung Barthscher Theologie zu rekonstruieren. Diese Entwicklung aber sei bis in die frühe »liberaltheologische« Phase seines Denkens hinein zu verfolgen. Insofern lasse sich eine Kontinuitätslinie entdecken, die durch die so genannte »Wende« des Jahres 1914 nicht unterbrochen werde. Diese könne als »dramatisch-aktualisierte Form der Logizität einer Gesamtentwicklung«107 beschrieben werden. Die Annahme einer hintergründigen »eigentlichen« Theorieebene der Theologie Barths kennzeichnet daher auch Pfleiderers Deutungsansatz. Es liegt ein Merkmal vor, das, wie oben gezeigt, bereits die früheren Barthdeutungen Rendtorffs und Wagners verband, dort jedoch als Verfahren zu einem »idealistischen Begriff« der Theologie Barths führte. Pfleiderer bemüht sich demgegenüber um einen historisierenden, minutiösen Nachweis jener Theorieebene als Kern Barthscher Theologie. Neben die Hinweise auf die externe Evidenz dieser »Theoriesignatur« im Verweis auf die Weimarer Krisenintellektuellen tritt – darin zeigt sich der Fortschritt durch die vorangegangenen Untersuchungen vor allem von Spieckermann, Anzinger, McCormack und Lohmann und durch das Fortschreiten der Karl BarthGesamtausgabe – eine Rekonstruktion der frühen liberaltheologischen Texte Barths.108 Pfleiderer hebt im Anschluss an diese Arbeiten insbesonde102
Ebd., 140. Ebd. 104 Ebd., 141. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Ebd., 142. 108 Vgl. ebd., 146–154 die Abgrenzung von Wagner, Korsch, Murrmann-Kahl und Dierken aufgrund der dort vernachlässigten pragmatischen Dimension des Barthschen Theologiebegriffs. 103
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re die Bedeutung der theoriegeschichtlichen Einflüsse des Marburger Neukantianismus (Cohen) auf Barths Denken hervor.109 Insofern Einigkeit darüber herrsche, »daß in Barths Marburger philosophisch-theologischem Liberalismus nicht nur die Rezeptionsbedingungen, sondern weitgehend auch die Motive für die Verarbeitung von sonstigen intellektuellen Einflüssen wie etwa H. Kutters, allgemein der religiösen Sozialisten, des Sozialismus insgesamt, der beiden Blumhardts, Kierkegaards, Overbecks etc. zu suchen seien«,110 sei die Beschränkung auf den Neukantianismus als entscheidenden Einfluss sachgemäß. Damit jedoch hätten sich jene Deutungsversuche, die in der Gegenwart ohnehin nicht mehr vertreten würden, erledigt, »die von einer einfachen Ablösung jenes liberaltheologischen Denkmusters durch einen ›ganz anderen‹ Denktyp ausgehen, bei dessen Ausbildung sich Barth an einen oder mehrere der oben genannten Autoren angelehnt hätte«.111 Gleiches gelte für die Deutung der Theologie Barths als Repristination eines ursprünglichen biblischen Denkens oder eines »Paulinismus«. Barths Wendung von einer »explizit bewußtseinstheoretischen Grundlegung der Theologie, mithin einem erkenntnistheoretischen Kritizismus, hin zu einem erkenntnistheoretischen Realismus« sei nicht als »Negation, sondern als kritische Aufhebung der früheren bewußtseinstheoretischen Fundierung der Theologie« zu verstehen.112 Damit sind bereits entscheidende Weichenstellungen im Blick auf die Deutung des Theologieverständnisses Barths vorgenommen. Diese zeigen sich nicht zuletzt in Pfleiderers, in den einleitenden Bemerkungen dieser Untersuchung bereits erwähnter, Auseinandersetzung mit der bisherigen Beurteilung des neukantianischen Einflusses auf Barths Denken. Jene Ebene »religiöser Barthdeutung«,113 auf der die theologische Sachgemäßheit (»Theologizität«) von Barths theozentrischer Wende herausgestellt wird, führe zur Verzerrung der weiterreichenden Bedeutung neukantianischer Einflüsse. Konsequenter als es bei Spieckermann, Anzinger und McCor109 »Für die hier vorgelegte Interpretation ist die erkenntnistheoretische, und darum vorrangig an Barths Verhältnis zum Marburger Neukantianismus orientierte Perspektive grundlegend; denn sie ist aus meiner Sicht die am weitesten vorangetriebene Linie der modernitätstheoretischen Barthforschung. Alle entsprechenden Interpretationen kommen darin überein, daß sie in der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der ›Gotteserkenntnis‹, der ›Erkennbarkeit Gottes‹, das zentrale Thema der Barthschen Theologie erblicken.« (ebd., 144f). Es sei im Lichte der neu publizierten Quellen »erkennbar, daß und inwiefern die Motive, die im Verlauf des Ersten Weltkriegs bei Barth zu einer Neuorientierung seiner Theologie führen, sich bis in die Anfänge seiner theologischen Entwicklung zurückverfolgen lassen« (ebd., 156f). 110 Ebd., 157. 111 Ebd., 157f. 112 Ebd., 158. 113 Ebd., 166 – dies wird nicht nur gegen den sog. »Barthianismus« gewendet, sondern zugleich gegen die liberal-theologische Kritik der Theologie Barths, die auf diese Weise ebenfalls den neuzeittheoretischen Zugriff verwehre.
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mack der Fall sei, müsse der Einfluss Cohens auf Barths Denken hervorgehoben werden.114 In der Rekonstruktion der neukantianisch beeinflussten hintergründigen Theoriekonzeption Barths unterscheidet Pfleiderer drei Phasen, die den Zeitraum der frühen »liberalen« und später durch den »Religiösen Sozialismus« geprägten Theologie Barths (1909–1915), sodann den, der die Ausarbeitung der Römerbriefkommentare und den Beginn der Göttinger Zeit einschließt (1917–1924), sowie schließlich den Zeitraum der Entfaltung des ersten dogmatischen Systems (1924/25), an welchen anschließend perspektivisch die Kirchliche Dogmatik in den Blick genommen wird, umfassen. Im Folgenden ist Pfleiderers Rekonstruktion der einzelnen Phasen im Blick auf ihre Grundentscheidungen knapp nachzuzeichnen. An anderer Stelle hat Pfleiderer einen weiteren, teilweise modifizierten Bogen der Entwicklung der Theologie Barths im Blick auf ihre »spezifische Performanz«115 gezeichnet, auf den hier knapp hinzuweisen ist: »Die phänotypische und funktionale Anpassungs- und Anschlussfähigkeit der Theologie Barths an kulturelle und politische Leitkonflikte und -fragestellungen ist oft bemerkt worden: Aus der [a] individualitätszentrierten liberalen Kulturtheologie der Vorkriegszeit des Ersten Weltkriegs mutiert die Barthsche Theologie während des Kriegs zu einer [b] theozentrischen Geschichtstheologie; sie wird in der Kulturkrise der Nachkriegszeit zur [c] dialektischen Krisentheologie, gewinnt ihre Version der [d] ›neuen Sachlichkeit‹ in den Konsolidierungsjahren der Weimarer Republik, verwandelt sich in der Zeit der Destruktion der demokratischen Institutionen in eine programmatisch [e] kirchliche Theologie, wird zur dezidiert [f] politischen Theologie in der militanten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, um schliesslich [g] in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zunächst noch unter der Zuordnungsfigur von ›Christengemeinde und Bürgergemeinde‹ eine eher statische und schliesslich in der weiteren Entwicklung [h] eine dynamischere Form der Selbstplazierung von Theologie und Kirche (›Kirche für die Welt‹) in der offenen demokratischen Gesellschaft anzustreben.«116 Demnach scheinen acht Phasen der Theologie Barths im Blick »auf die in sie eingelagerte und sie vorantreibende intentionale Wirkungsreflexivität«117 rekonstruiert werden zu können.
Zur ersten Phase: Der eigenständige Denkweg Barths nimmt seinen Ausgang im Kontext der liberalen Theologie und der hier aufgegebenen Problemstellung des Verhältnisses zwischen wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Praxis,118 die das Denken der liberalen Theologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewegte: 114
S. ebd., 168–174. PFLEIDERER, Das prophetische Amt der Theologie, 114. 116 Ebd., 114f (Hervorhebungen von mir, S.H.). 117 Ebd., 115. 118 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 175, mit Verweis auf den bereits von Rade erkannten Abbruch zwischen Theologie und Gemeindefrömmigkeit. »Mit diesem Bewußt115
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Für die systematische Theologie stellt sich unter diesen Bedingungen die Aufgabe einer Theorie religiöser (geschichtlicher) Individualität, die das Gewißheitsbedürfnis des Glaubens unter den Bedingungen moderner Vernunftbestimmungen ausarbeitet. Anzuvisieren ist eine Theorie der Religion bzw. des Christentums als Theorie der Selbsterfassung des ›individuellen Allgemeinen‹; darin sind sich die fortschrittlichsten theologischen Systematiker der Zeit einig, als welche um die Jahrhundertwende Wilhelm Herrmann und Ernst Troeltsch gelten können.119
So stelle »sich die Lage für den jungen Karl Barth dar, und darum sind es die zwischen diesen beiden Theologen und die jeweils mit ihren philosophischen, insbesondere neukantianischen Gewährsmännern geführten Debatten, die das Problemniveau bestimmen, auf dem Barth seine ersten eigenen Bemühungen um eine aufs Praktische zielende systematische Theologie unternimmt«.120 Das »Interesse am Aufbau einer normativen systematischen Theologie, die als solche praktische Interessen befriedigen können soll«,121 sei schon in Barths frühen Arbeiten charakteristisch. »Ab ovo« sei Barth darüber hinaus in der Entfaltung seines Denkens »Antihistorist«, »bei dem die Diastase von Genesis und Geltung gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangen ist«.122 seinsstand und den entsprechenden Lösungsversuchen tritt die moderne liberale Theologie der Jahrhundertwende in eine reflexive Phase ein. Unter dem Druck der vor allem durch die ›Religionsgeschichtliche Schule‹ vorangetriebenen Modernisierungen der Theologie als historischer Wissenschaft scheint die auf Schleiermacher zurückgehende klassisch moderne Bestimmung der Theologie als Funktion zur ›Leitung der christlichen Kirche‹ ein gesteigertes Maß an Vermittlungsleistungen zu verlangen.« (ebd.) 119 Ebd., 176. »Beide versuchen das Interesse an der Selbständigkeit der Religion und damit die Traditionslinie Schleiermachers mit dem Nachweis der Funktion der Religion für das allgemein-sittliche Selbstbewußtsein – und damit die Traditionslinie Kants – zu verbinden.« (ebd.). Vgl. dazu auch PFLEIDERER, Das prophetische Amt der Theologie, 120f: »Der junge Marburger Barth zeigt sich in besonderer Weise umgetrieben von der Funktionsbarriere zwischen wissenschaftlich-liberaler und kirchlich-positiver Theologie, die er als Kommunikations- und Praxisschwäche der liberalen Theologie im religiös-kirchlichen Bereich erlebt und deutet. […] Der Einsatzpunkt der liberalen Theologie K. Barths ist also die Kommunikations- (und darin die Explikations-)Problematik moderner, individualisierter Religion, mithin die Problematik der Predigt.« Ebd., 121 Anm. 29 weist Pfleiderer auf die Konsequenz, die »vielbeschworene ›Predigtnot‹« stehe »tatsächlich schon am Anfang seiner [Barths] ersten selbständigen Rezeption und Weiterführung der liberalen Theologie. Zu keinem Zeitpunkt handelt es sich dabei für ihn um ein bloss psychologisches oder bloss praktisch-technisches Problem, sondern es handelt sich für ihn um das strukturelle Grundproblem einer philosophischen Theologie, in welchem sich aber nichts anderes als das Kommunikationsproblem moderner individualisierter Religion selbst spiegelt.« 120 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 176. Etwa ebd., 182 mit Verweis auf VAN DER KOOI , Anfängliche Theologie, 24. 121 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 177. Spezifisch sei überdies: »Sobald Barth theologisch schreibt, schreibt der programmatisch-konstruktiv.« (ebd.). 122 Ebd., 178. »Rezeption wird von Barth – ungeachtet des jeweiligen zeitlichen Abstandes – als Auseinandersetzung unter intellektuell Anwesenden betrieben. Stets und von früh an sucht Barth die direkte, am besten mündliche Auseinandersetzung, gewissermaßen den offenen Schlagabtausch.« (ebd.).
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Vor diesem Hintergrund gewinne die Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch entscheidende Bedeutung für Barth:123 Von früh, ja von Anfang an und auch längst schon unter den liberalen Denkbedingungen ist es im Grunde ein alternativer Stil moderner wissenschaftlicher Theologie, auf dessen Herausbildung Barth zielt, ein Stil, der alternativ nämlich zu der durch den Namen Ernst Troeltsch definierten historisch-deskriptiv-analytischen Ausrichtung moderner wissenschaftlicher Theologie steht.124
Diese Theologie sei eine solche, »die auch ihre Rezeptionsleistungen als Konstruktionsleistungen bestimmt und die darin praktisch sein will, daß sie ihre Wirkungen mitzukonstruieren und mitzubestimmen sucht«: »›Erzeugung‹ als der logisch-kategoriale Grundbegriff des Marburger Neukantianismus wird bei Barth, das ist in einem Wort die These dieser Untersuchung, – in diesem prägnanten Sinne – praktisch gewendet.«125 In Barths ersten unveröffentlichten Skizzen Der kosmologische Beweis für das Dasein Gottes126 sowie Ideen und Einfälle zur Religionsphilosophie treten die Merkmale Barthschen Denkens im Gefolge seiner liberalen Lehrer hervor: »Exakt als Versuch der Lösung des Problems der zwischen Cohen und Herrmann strittigen Weise der Gegebenheit der Einheit des individuellen Bewußtseins für dieses selbst kann Barths frühe Religionsphilosophie theoriegeschichtlich eingeordnet werden.«127 In den Ideen und Einfällen zur Religionsphilosophie lasse sich erkennen: Religion, so läßt sich Barths Versuch theoriegeschichtlich einordnen, soll als die Weise gedacht werden, wie die Einheit von Erzeugung und Reflexion, die das Bewußtsein als Handlung bei H. Cohen ist, für das konkrete individuelle Bewußtsein faktisch ist. So versucht Barth W. Herrmanns Interesse an der Faktizität individueller Religion in die Koordinaten der Bewußtseinstheorie H. Cohens funktional einzuzeichnen.128
In La Réapparation de la Métaphysique dans la Théologie zeichne sich sodann jene Bewegung einer »Inversion« ab, die für die Folgeentwicklung von zentraler Bedeutung sei. Barth suche »nach einer Möglichkeit, die geltungstheoretisch-transzendentalphilosophische (Außen-)Begründung des religiösen Bewußtseins theologisch zu invertieren, sie in diesem Sinne als die aktuale Selbstentfaltung des religiösen Bewußtseins durchsichtig zu machen«.129
123
Dass diese Auseinandersetzung nur in relativ wenigen Texten explizit geführt wird, erklärt sich für Pfleiderer aus Barths Theologieverständnis (ebd.). 124 Ebd., 179. 125 Ebd. 126 Ebd., 190–196. 127 Ebd., 195; vgl. ebd., 196. 128 Ebd., 201. 129 Ebd., 203; vgl. ebd., 203f.
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Einen Fortschritt auf diesem Weg markiere Barths Aufsatz Der christliche Glaube und die Geschichte:130 In einer analytischen Perspektive besteht der Theoriefortschritt der ersten konstruktivsystematischen Publikation Barths, die der Aufsatz »Der christliche Glaube und die Geschichte« darstellt, somit darin, daß die implizit-geltungstheoretische Funktionalität der Theologie als prozessualer Selbstauslegung des religiösen Bewußtseins und darin die faktisch konstitutive Bedeutung theologischer Selbstauslegung für den Vollzug des religiösen Bewußtseins, dessen Eigen-Sinn kein anderer als die Realisierung solchen Geltungsbewußtseins sein soll, bereits hier klar erkennbar wird.131
Eine Schlüsselstellung für die Entwicklung des Theologiebegriffs kommt schließlich Texten zu, die zuvor eher eine Randstellung inne hatten, den Texten zu Tersteegen und John Mott:132 Ihre Bedeutung im Rahmen von Barths theologischer Entwicklung liegt […] darin, daß sie einen Theologiebegriff durchscheinen lassen, der im Modus der Beschreibung gelungener religiös-theologischer Individualisierung über diesen Beschreibungsduktus selbst hinausweist. Durch das Bild des geschichtlichen Individuums hindurch, über welches die theologisch-kommunikative Selbstauslegung des religiös-theologischen Ichs des Autors sich hier noch vermittelt, wird bereits die solche Vermittlungen abschüttelnde, sich unmittelbar auf den biblischen Ursprungstext beziehende Selbstauslegung erkennbar, als welche die spätere Theologie nach der Inversionswende zu lesen sein wird.133
Mit dem Übergang in das Safenwiler Pfarramt treten demgegenüber neue Herausforderungen in das Denken Barths. Die Jahre 1911–1913 werden entsprechend als »religiös-soziale« bzw. »sozialdemokratische« Phase gefasst, in der Barth sich in Vorträgen und Reden vor Safenwiler Gemeindegliedern und Arbeitern äußert. Pfleiderer kommt aber darin mit Falk Wagners Kritik an der Untersuchung Friedrich-Wilhelm Marquardts überein, dass »zumindest in einer systematischen Rekonstruktionsperspektive – die werkgeschichtliche Bedeutung dieser Vorträge weniger auf der Ebene ihrer materialethischen Urteile«134 zu suchen sei. Vielmehr seien die Vorträge als Ausdruck der »pragmatischen Dimension seines Theologiebegriffs« zu verstehen, dessen Frontstellung sich gegen »eine individualistische Engführung des Religionsbegriffs und eodem actu gegen eine szientistische Engführung des Theologiebegriffs«135 richte. Entsprechend formuliert Pfleiderer das eigentli130
Ebd., 205–213. Ebd., 212f. 132 Ebd., 213–224. 133 Ebd., 215. Hier im Blick auf Barths Texte zu Tersteegen. »Ähnliches« gelte in »potenzierter Form für die beiden Artikel Barths über John Mott« (ebd.). 134 Ebd., 225. 135 Ebd. Dass der Verbreitung seines Theologieverständnisses das eigentliche Interesse Barths gilt, wird ebd., 226 Anm. 349 betont. 131
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che Interesse Barths: »Die politische Agitation, die Barth in diesen ersten ›Sozialistischen Reden‹ betreibt, ist eigentlich theologische, näherhin religiös-moralisch-politische Bildungsarbeit.« Es gehe ihm um die Vermittlung der »Grundbegriffe seiner eigenen Theologie«.136 In Barths Verwendung des Politikbegriffs in dem Vortrag Menschenrecht und Bürgerpflicht – anknüpfend an Hermann Cohen – würden implizit entscheidende Weichenstellungen sichtbar: Der Politikbegriff gebe […] im Gang von Barths Theorieentwicklung das Signal der grundbegrifflichen Umstellung von Bewußtseins- auf Handlungskategorialität. […] Der in den fundamentalen Problemwahrnehmungen von Barths Theorieentwicklung angelegte, in den Mott-Aufsätzen erstmals greifbare ontologische Mehrwert der Handlung gegenüber der »Gesinnung« beginnt jetzt durchzuschlagen. Mit dem Signal dieser Umstellung zeichnet sich eine neue Problemlage insofern ab, als nun die Funktion des individuellen Bewußtseins und damit auch die Funktion der Religion neu bestimmt und auch sprachlich neu formuliert werden muß. Die »Realsetzungsfunktion«, welche Barth dem individuellen religiösen Bewußtsein vor dem Hintergrund seines früheren Grundbegriffs das allgemeinen »Kulturbewußtseins« zugesprochen hatte, scheint nun anderweitig besetzt. Religion kann nun offenbar nicht mehr als solche die praktische Realsetzung des Vernünftig-Allgemeinen leisten. Was liegt näher, als die Religion als die individuelle Form der Durchsichtigkeit solcher Realsetzungspraxis zu bestimmen?137
Der zunehmende »theologische Objektivismus«138 in dieser Phase finde seinen Grund in der »handlungstheoretischen Umkodierung« der Theologie Barths. In dem Vortrag Jesus Christus und die soziale Bewegung139 zeichne sich »eine tendenzielle Abwertung des Individuums als Realisierungsagent der Freiheit gegenüber kollektiv-geschichtlichen Agenten ab«, die allerdings verbunden sei mit »einer gegenläufigen Aufwertung des exemplarischindividuellen, christologischen Ursprungspunktes«.140 Die in dieser Phase entstandenen religionsphilosophischen Überlegungen, beeinflusst durch Karl Heim und vor allem durch Heinrich Barth, ließen sich als Ausarbeitung der Aufgabe einer »religionsphilosophischen Theologie« verstehen, 136 Ebd., 226. Vgl. PFLEIDERER, Das prophetische Amt der Theologie, 122. »Ziel dieser praktischen und theoretischen Arbeit ist die Beteiligung an der Erzeugung des Kollektivsubjekts eines religiösen Sozialismus, der die Spannung von Handlungs- und Deutungssubjekt überwinden soll.« 137 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 229. 138 Ebd., 230. 139 Ebd., 230–233. 140 Ebd., 230. Als Problem macht Pfleiderer in dieser Phase folgendes aus: »Der Vollzug des christlich-religiösen Bewußtseins scheint an sich selbst als theologischer Vollzug bestimmt zu sein. Nach der anderen Seite hin gesagt: unklar ist der Status derjenigen (Meta-)Reflexion, welche die dem Christentum zugeschriebene Reflexivität ihrerseits reflexiv macht: unklar ist der Status der theologischen Theorie K. Barths.« (ebd., 232).
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der »präzise[n] Explikation der notwendigerweise logisch-aporetischen Konstellation des religiösen Bewußtsein«.141 In Barths Vortrag Der Glaube an den persönlichen Gott (1913) werde eine »doppelseitige Steigerung seiner früheren religionsphilosophischen Grundlegung der Theologie« deutlich: Einerseits beinhaltet die Weiterentwicklung der philosophischen Referenztheorie zum Gedanken der Ungrundlegung [Cohen] in einem höheren Maß als in den früheren Entwürfen die Möglichkeit, die Abschlußfunktion des religiösen Bewußtseins für das Bewußtsein im allgemeinen durchsichtig zu machen. Andererseits wird diese Funktionalitätseinsicht verbunden mit dem Gedanken ihrer reflexiven Undurchsichtigkeit und theoretischen Aporetik. Auf diese Weise soll die gesteigerte Funktionalität der Religion alleine dem religiösen Vollzug selbst und nicht seiner theologischen Reflexion gutgeschrieben werden. Die theologische Explikation der Gehalte des religiösen Bewußtseins erfolgt zu dem Zweck, die Bestimmtheit der Vollzugsaktualität des religiösen Bewußtseins zu sichern, die als solche ganz allein die Selbstvergewisserung des absoluten Grundes individueller Subjektivität leisten können soll.142
Zugleich bricht hier ein weiterführender Theoriebedarf auf, insofern »die Funktion, die der Theologie hier zugeschrieben wird, nämlich die Bestimmtheit der religiösen Erfahrung zu sichern, ihrerseits in ihrer Bedeutung für den faktizitären Vollzug des religiösen Bewußtseins unreflektiert bleibt«143 – gesucht werde eine »Explikationsform von Theologie, die als eine dem aktualen Vollzugssinn der Religion unmittelbar inhärierende ›praktische‹ Theologie plausibel gemacht werden kann«.144 Die explizite Auseinandersetzung mit diesen Fragen trete indes in der Folgezeit zurück: Vom Frühsommer 1913 an bis in das Jahr 1915 hinein hat Barth die explizite Grundlagenreflexion nahezu vollständig eingestellt und sich überwiegend einer praktischpraktizierten Theologie gewidmet […]. Die Analyse wird zeigen, daß Barth hier ohne den Druck grundlagentheoretischer Begründung gewissermaßen experimentell auf jenen Theologiebegriff hingearbeitet hat, der in der Fluchtlinie seiner liberalen, religionsphilosophischen Theoriebildung liegt. Dabei werden die beiden um 1911/12 eher nebeneinander laufenden Linien ethisch-praktischer (»sozialistischer«) und explizit grundlagentheoretisch-dogmatischer Reflexion zusammengeführt.145
Für die Entwicklung der Theologie Barths sei jene Phase »prophetischappellativer Geschichtstheologie des ›Ganz Anderen‹«146 ein entscheidender Abschnitt, da sich hier die »Krise« des Jahres 1914 und deren theologische Deutung abzeichneten. Im Anschluss an Bruce McCormack hält Pfleiderer 141
Ebd., 234. Ebd., 238f. 143 Ebd., 239. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Ebd., 240. 142
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fest, dass Barths Predigten der Jahre 1913 und 1914 bereits wesentliche Elemente der späteren Theologie enthalten, sowohl im Blick auf sprachliche Wendungen als auch auf die Theoriesignatur: In den Predigten der Jahre 1913/14 ist erkennbar, wie die durch die Denkfigur der dialektischen »Ungrundlegung« angezeigte, aber schon früher vorbereitete erkenntnistheoretische Entwicklung zu einer realistisch-paradoxalen Theologie – unter der Signalmetapher des »ganz Anderen« – bei Barth eingebunden ist in den Umbau des Theologiebegriffs zu einer praktisch-geschichtstheologischen Theologie, die ihre paradoxalen erkenntnistheoretischen Grundstrukturen handlungspraktisch zu entparadoxalisieren sucht.147
Geradezu entscheidend sei die Predigtstruktur, in der das eigentliche Theorieinteresse weiterverfolgt würde. Die »prophetische« Rede ist derjenige Handlungsvollzug, in dem sich religiöses, reflexives und sittliches Bewußtsein als kommunikative sprachliche Handlung zusammenschließen; sie ist darum der kardinale Akt der Selbstkonstituierung des individuellen Subjekts, insofern ist sie ferner ein Akt, der als Akt eine spezifische Reflexivität hat; denn der Inhalt »prophetischer« Rede ist wiederum kein anderer als diese Vollzugslogik selbst. Allerdings, und das ist nun der systematisch entscheidende Punkt, impliziert gerade die Aktualität des Aktes, in dem das »prophetische« Bewußtsein zu sich selbst kommt, daß es seine theonome Selbstgewißheit gerade nicht als ruhende hat; es hat sie nur, indem es die Differenz, welche die Handlung auszeichnet, die Differenz zwischen Handlungsabsicht und deren tatsächlichem Erreichen, eodem actu mittransportiert, indem es einen appellativen Charakter annimmt. Der archimedische Punkt, in dem die Selbstgewißheit des prophetischen Bewußtseins zur Ruhe kommt, ist das allgemeine Bewußtsein, das Bewußtsein aller, für die die Angeredeten repräsentativ, aber eben auch nur repräsentativ sind.148
In der »prophetischen Rede« fielen damit »Religionstheorie, die wiederum eine ethische Theorie des Individuums ist, Theologiebegriff und Homiletik«149 zusammen. Die Krise der Barthschen Theologie, die zur Römerbrieftheologie führt, zeichnet sich bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs ab. Beispielhaft dafür verweist Pfleiderer auf die durch Ambivalenzen gekennzeichnete Geschichtsdeutung Barths in den Predigten des Jahres 1914 und die in der 147 Ebd., 241. »Die Metapher des Gott-Suchens bringt die theologische Botschaft des Predigers auf den Begriff; sie stellt die appellativ gewendete, praktisch-theologische Entsprechung zum philosophischen Begriff der ›Ungrundlegung‹ dar: das religiöse Bewußtsein bezieht sich auf seinen Grund, indem es sich ihn als einen abwesenden präsentiert.« (ebd., 242). 148 Ebd., 243. Die unvollständige Ausführung dieses Programms notiert Pfleiderer ebd., 244: »Es ist – dogmatisch gesprochen – der noch beibehaltene deskriptive Ausgangspunkt beim Bewußtsein Jesu, der das Auftreten der Differenz christologisch markiert; denn mit ihm ist die Differenz von Handlungsgrund, d.h. Handlungsgewißheit und Handlungsintention gegeben […]«. 149 Ebd., 243.
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Rezension der Hilfe 1913 geführte Auseinandersetzung mit Friedrich Naumann: Die hinter der Entwicklung der Barthschen Vorkriegstheologie zu einer metaphysischen Geschichtstheologie des Absoluten stehende Radikalisierung des Handlungsbegriffs treibt diese in ein systematisch prekäres Stadium. Barths Kulturtheologie der Vorkriegswochen schwankt zwischen kulturpessimistischen Tendenzen und -optimistischen Deutungen der Gegenwart als »Gnadenzeit«, ohne daß diese ambivalenten Urteile zu einem erkennbaren Ausgleich gebracht würden. Die moralische Menschheit überhaupt und Gott als der »ganz Andere« konkurrieren um die Rolle des absoluten Handlungssubjekts der Geschichte. In der Struktur dieser Entwicklung liegt, daß Religion als Selbstgewißheit des politisch Glaubenden und eodem actu politisch Handeln sich als solche nur hat im Vollzug theologisch-dialektischer Reflexion. Theologie soll aber wiederum vom unmittelbaren Vollzug des religiösen Bewußtseins verschieden sein. Wie die theologische Reflexion an der Stelle des religiösen Individuums und für dieses expliziert werden soll, ist vorderhand nicht zu sehen. Das ist die Struktur der Krise, in die Barths Theologie in den Wochen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gerät.150
Barths Reaktion auf diese Krise findet im Jahr 1914 als »theozentrische Wende« Ausdruck, die von Pfleiderer als – im eigentlichen Sinne – »handlungstheoretische[] Umkodierung der theologischen Grundbegrifflichkeit«151 gedeutet wird. In zwei Predigten zu Ps 130 vom Juli 1914 trete der damit entworfene neue Zusammenhang von theologischer Reflexion und religiösem Erlebnis hervor: Christlich-religiöses Bewußtsein wird […] als theologisch reflektiertes Bewußtsein bestimmt, das sich in seiner eigenen aporetischen Konsistenz reflektiert; in der theologischen Reflexion unterscheidet sich das religiöse Bewußtsein von sich selbst als theologisch unreflektiertem Bewußtsein, als »Sünde«. Die theologische Reflexion tritt aber zugleich wiederum zu sich selbst in ein kritisches Verhältnis, indem sie sich gewissermaßen stillstellt; dafür steht nun die Metapher des »Wartens«.152
Diese Theorieentwicklung, als »theologische Fundamentaldramatisierung«153, werde von den politischen Entwicklungen des Jahres 1914 begleitet: Es ist der in der Luft liegende Kriegsbeginn, der die von Barth eingeleitete theologische Fundamentaldramatisierung des Anscheins ihrer bloß individuell-psychologischen Bedingtheit überhebt. Die »confusio hominis« kann nun zwanglos als Ausdruck der allgemeinen »confusio hominum« interpretiert werden. Damit ergibt sich die Möglichkeit, die theologische Konstitution des religiösen Bewußtseins mit einer theologischen Weltdeutung zu harmonisieren.154
150
Ebd., 248. Ebd., 249. 152 Ebd., 250f. 153 Ebd., 251. 154 Ebd. 151
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Die »handlungstheoretische Durchkategorialisierung der Theologie«155 werde insbesondere in der Bestimmung Gottes als des absoluten Handlungssubjekts sichtbar. Die Auseinandersetzung mit Rade und Herrmann, den Marburger Lehrern, zeige indes auch ein Problem: »[…] die eingeleiteten theologischen Weichenstellungen Barths legen der theologischethischen Wertung des Krieges einen nachgerade ontologischen Stellenwert bei. Dass damit tatsächlich ein bestimmtes ethisches Urteil gefällt und verabsolutiert wird, kommt Barth zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht zu Bewußtsein.«156 Für Barth stelle sich nach der Abwendung von den Marburger Lehrern die Aufgabe, »die Positionen der geschichtlichen Deutungsund Handlungseliten neu zu besetzen«,157 und damit die Aufgabe der Neukonstitution einer theologischen Deutungselite. Entscheidend ist an dieser Stelle Pfleiderers Deutung der zu dieser Zeit festzustellenden Wende zur »Erkenntnis Gottes« als Begriff und Problem, damit der »realistische«, »ontologisierende« Grundzug Barthscher Theologie. Eine grundsätzliche Neuorientierung sei an diesem Punkt nicht festzustellen: »Der Bezug der Gotteserkenntnis, um die es Barth geht, auf ein erkennendes religiös-theologisches Deutungsbewußtsein bleibt trotz einer häufig ungeschützt ontologisierenden Redeweise präsent.«158 Die neuen Elemente lassen sich funktional vor dem Hintergrund der zuvor ermittelten Theoriekonzeption erhellen: Die ontologisierende »realistische« Rede vom kommenden Gottesreich dient offensichtlich dazu, auf einer dem Anspruch nach erkenntnistheoretisch gereinigten Basis der »Ungrundlegung« Theologie als Selbstauslegung von Religion zu präsentieren. Die gegenständlich-religiöse Sprache soll sichern, daß der Vollzug theologischer Urteilsbildung als meta-ethischer und meta-historischer identifizierbar ist. 159
Vor diesem Hintergrund komme es zur modifizierten Aufnahme der »›realistisch‹-eschatologische[n] Geschichtstheologie Chr. Blumhardts oder H. Kutters«160: »Barths eschatologische Geschichtstheologie von 1915 arbeitet demnach mit religiös-gegenständlichen, psychologischen, der funktionalen 155 Ebd., 252. Das Theologoumenon »Dei providentia – hominum confusio« impliziere eine Geschichtsdeutung »von der Art, daß sie sich aller materialen Geschichtsdeutung enthalten will. Das religiöse Bewußtsein stiftet Handlungsgewißheit gerade darin, daß es auf alle bestimmten geschichtlichen Deutungen von Handlungssinn verzichten will und Handlungsgewißheit im reinen Ursprung von Handlung überhaupt, in der Aktuosität der Wirklichkeit selbst sucht.« (ebd., 252). 156 Ebd., 253. 157 Ebd., 255. »Ende 1914 begibt sich Barth in eine Suchbewegung nach einer geschichtstheologischen Deutungselite, deren elitärer Anspruch darin besteht, prinzipiell unkorrumpierbar zu sein, weil sie sich auf eine absolute theologische Begründung der Ethik berufen will, die keine materialethische Entscheidung mehr beinhaltet.« (ebd., 256). 158 Ebd., 259. 159 Ebd. (Hervorhebungen von mir, S.H.). 160 Ebd.
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Absicht nach aber transzendentaltheoretischen Doppelkodierungen, die auf die aktuale theologische Konstruktion von Religion zielen.«161 Die Neuorientierung Barthscher Theologie ist somit auf »die prozessual-theologisch rekonstruierte Religion« ausgerichtet, die durch die »theologische WirGruppe appellativ-pragmatisch«162 aufgebaut werde. Zur zweiten Phase: Der Übergang zur zweiten Phase als Bewegung einer »impliziten Inversion«163 ist dadurch gekennzeichnet, dass das Theoriekonzept der frühen Theologie weiter verfolgt wird. An dieser Stelle hat darum der Widerspruch gegen jene Barthdeutungen seinen Ort, die von einer diskontinuierlichen Entwicklung als »Wende zur Objektivität«164 ausgehen. Kritisch macht Pfleiderer hier insbesondere die bereits von Rendtorff und Wagner vorgebrachte subjektivitätstheoretische Einsicht geltend, dass auch diese Wende sich der Konstruktionsleistung Barths verdanke: »Indem die Tätigkeit des theologischen Konstrukteurs mit der Tätigkeit der ›Sache selbst‹ verschränkt wird, indem sie sich selbst als Funktionsmoment der Selbsttätigkeit der ›Sache‹ zu verstehen geben will, wird es zur Aufgabe der Analyse, diesen Inversionsvorgang zu beobachten.«165 Auf die Spur jenes Inversionsvorgangs führe die »Publikationsstrategie« Barths, der sich gemeinsam mit Thurneysen mit dem Predigtband Suchet Gott, so werdet ihr leben (1917) an die Öffentlichkeit wende.166 Die theologische Programmatik sei in der »Aufhebung der neuzeitlichen Trennung von religiös-praktischer und theologisch-wissenschaftlicher Literatur«167 zu sehen: Erstmals hier praktiziert Barth eine systematisch-praktische Theologie, nämlich eine religiös-praktische Theologie mit konstitutionstheoretischem Anspruch, die sich in seiner bewußtseinstheoretischen Theoriephase mehr und mehr herausgeschält hatte. Zum ersten Mal wird hier die dort projektierte methodische Inversion, also die Aufhebung der Begründungsreflexion in die kommunizierte Selbstexplikation des religiösen Bewußtseins verbunden mit einer ganz bestimmten persuasiven Absichten folgenden
161
Ebd., 260. (Hervorhebung von mir, S.H.). Ebd., 261. 163 Ebd., 263. 164 Ebd., 264. 165 Ebd. 166 »Der Text, der für Barth selbst eine publizistische Initialfunktion erfüllt, in dem gewissermaßen das Gründungssignal der theologischen Deutungselite als theologischer Avantgarde gegeben wird, ist Barths eigenen Auskünften zufolge der – in enger zeitlicher und sachlicher Nähe zum ersten ›Römerbrief‹ entstandene – gemeinsam mit Eduard Thurneysen 1917 publizierte Predigtband ›Suchet Gott, so werdet ihr leben‹. […] Von einem intendierten Neuansatz der Theologie kann man in Bezug auf dieses nur scheinbar unscheinbare Bändchen aus dem Grund sprechen, weil mit ihm tatsächlich, wenn auch noch experimentell, ein neuer Theologiebegriff auf den Weg gebracht werden soll, für welche die Textgattung Predigt Signalcharakter hat.« (ebd., 264f). 167 Ebd., 266. 162
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Pragmatik, zwar ansatzweise, aber doch für das Erscheinungsbild des Ganzen konstitutiv durchgeführt.168
Rezeptionspragmatisch verfährt dieses Theologieprogramm darin, dass es auf »Teilnahme« im Sinne der selbständigen Reproduktion auf Seiten der Adressaten zielt, wobei der Produktionsgrund der so verfassten »religiöstheologischen Stellungnahme« nicht offengelegt werde. Obgleich daher bei den Adressaten keine »theologische Reflexionskompetenz«169 vorausgesetzt werden solle, sei die »religiöse Betroffenheitsempfindung«, die an deren Stelle trete, »implizit in hohem Maße theologisch-reflexiv verfaßt«.170 Theoriegeschichtlich durch das Cohensche – durch Heinrich Barth vermittelte – »Kulturbewußtsein« beeinflusst, sei die theozentrische Wende Barths als »reflexionspraktische Umsetzung« der bewusstseinstheoretischen Einsicht in »die unmittelbare Selbstexplikation eines an sich selbst schon kommunikativ verfaßten religiösen Bewußtseins, das über sich offensichtlich nur und gerade in dieser kommunizierten theologischen Explikation reflexiv zu verfügen vermag«,171 zu verstehen – als Theoriefigur soll diese Einsicht daher der Beobachtbarkeit entzogen werden. Im Medium »dramatisierter Geschichtstheologie«172 ausgeführt werde die besondere Pointe in dem Theologoumenon der »Erwählung« deutlich, welches die gesamte zweite Phase der Theologie Barths kennzeichne.173 In diesem Theologoumenon konzentriere sich »die homiletisch-systematische Therapie der krisenhaften Moderne als die dramatisch-theologische Rettung des theologisch-selbstdurchsichtigen religiösen Individuums«.174 Ein Problem bleibe jedoch festzuhalten, insofern die »theologische Rekonstruktion der Religion durch Predigt« zwar auf die »reflexive Selbstproduktion durch den Adressaten« ziele, jedoch durch das Gegenüber von Prediger und Predigthörer eine »imperativische, heternonome 168
Ebd. Ebd., 268. 170 Ebd., 269. 171 Ebd., 269. 172 Ebd., 271. 173 »Im Erwählungstheologumenon kommt die pragmatische Wendung der theologischen Konstitutionsthematik der Religion zur prägnanten Darstellung. Denn in ihm wird die Konstitution des individuellen religiösen Bewußtseins auf eine Handlung Gottes zurückgeführt, die als Selektionshandlung zugleich ein Urteilsmoment in sich schließt. Zudem geht in die Logizität von Erwählung die Differenz von religiöser Aktualerfahrung und theologischer Reflexionsdeutung ein, die ihrerseits – dem Handlungssinn von ›Erwählung‹ entsprechend – pragmatisch, nämlich appellativ aufgeschlossen werden kann.« (ebd., 273). 174 Ebd., 273. »Der (Nach-)Vollzug solcher theologischen Selbstdurchsichtigkeit religiöser Individualität wird dabei auf den theologischen Begründungsakt selbst konzentriert. Die ethische Selbstrealisierung des Individuums tritt demgegenüber zurück. […] Freilich wird, das entspricht der theologischen Logizität von ›Erwählung‹, ein bestimmter Handlungsvollzug aus dieser Abblendung materialer Handlungsvollzüge ausgenommen, nämlich die Tätigkeit der sprachlichtheologischen Kommunikation von Religion selbst, ›das Predigen‹.« (ebd.). 169
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Realisierungslogik«175 erkennen lasse. Dieses Problem bildet freilich ein Kontinuum auch in der folgenden Entwicklung Barthscher Theologie. Der im Jahr 1919 erschienene Römerbriefkommentar als »erste systematisch-prinzipielle Ausarbeitung seiner Theologie« wird vor dem bisher skizzierten Hintergrund einer genuin philosophischen Deutung unterzogen. In historischer Perspektive verweist Pfleiderer auf Barths »über mehrere Wochen betriebene[s] Vertiefungsstudium der kanonischen Werke I. Kants«176 während der Entstehungszeit des Kommentars. Kritisch abgegrenzt wird diese Deutung gegen den Versuch, in Barths Werk eine exegetische Auseinandersetzung mit dem Paulusbrief zu sehen.177 Barths Kommentar sei als »der Versuch einer sich gewissermaßen in den biblischen Text systematischpraktisch einschreibenden ›Kant- und Fichterepetition‹ zu lesen«, als dessen Ergebnis ein »religiös-gegenständlich und zugleich (dem impliziten Anspruch nach) transzendentalphilosophisch doppelkodierter Text [entstehe], der keine geringere Absicht verfolgt als die aktuale theologische Rekonstruktion selbstdurchsichtiger Subjektivität, die eodem actu (theoretische) Erkenntnis- und (praktische) Handlungssubjektivität ist«.178 Dass gerade der Römerbrief herangezogen wird, erklärt Pfleiderer damit, dass dieser, »wie wohl kein anderer Text des Neuen Testaments«, geeignet sei, »als Matrix für die fortlaufende Rekonstruktion theologischer Selbstdurchsichtigkeit christlich-religiösen Bewußtseins gelesen zu werden«.179 In Barths Schrift lasse sich nun, so Pfleiderers These, »eine progressiv-diskursive Logik des Gedankengangs«180 aufweisen.181 Der Einfluss Kants182 sei darin zu sehen, dass Barth durch die Beschäftigung mit den Kritiken die Aufgabe vermittelt werde, »daß er [sc. Barth] die theologische Reflexion als denjenigen Handlungsvollzug vollziehen solle, bei dem Inhalt und Form genau übereinstimmen (sollen); er solle, mit anderen Worten, den kategorischen Imperativ zur methodologischen Maxime der Theologie machen«:183 »Kurzum – ›Vater Kant‹ hat zu Barth geredet: invertiere die Methodenreflexion!«184 Die Vorläufigkeit dieses ersten An175
Ebd., 274. Ebd., 275. 177 Ebd. in Auseinandersetzung mit Spieckermann. Freilich lässt Pfleiderer sodann (ebd., 279) die Frage nach dem Verhältnis des Römerbriefkommentars zum paulinischen Brief doch offen. 178 Ebd. 179 Ebd., 275f. 180 Ebd., 276f. 181 Barths Methodik lasse sich als »Palimpsesttechnik« verstehen: »Der Text des paulinischen Römerbriefs wird überschrieben mit der Zeichnung des in der geschichtlichen Gegenwart plazierten theologischen Handlungssubjekts.« (ebd., 278). 182 Hier wird von Pfleiderer auf BARTH, Nachwort, 295 verwiesen. 183 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 278f. 184 Ebd., 279. Barth selbst habe sich die Inversion freilich erst a posteriori erschlossen. 176
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laufs der Römerbriefauslegung bringt Pfleiderer in der Charakterisierung als »experimentelles Avantgarde-Theater«185 zum Ausdruck. In methodischer Hinsicht kann sich der scheinbare »vormoderne Supranaturalismus« – im Blick auf Barths Wertschätzung der Inspirationslehre – in der Konsequenz nur als »Camouflage« erweisen. Die Hermeneutik Barths vollziehe sich als »Ineinsblendung von explicatio und applicatio«.186 »An die Stelle rational durchsichtiger Methodenbeherrschung tritt die Beschwörung eines intellektuellen Avantgarde-Heroismus, der freilich, sieht man auf die tatsächliche Konstruktion des Textes[,] seinerseits eine Camouflage der systematischen Methodik darstellt.«187 Die hier im Detail nicht nachzuzeichnende Auslegung des Römerbriefkommentars und seines gedanklichen Fortschritts basiert auf der grundlegenden Einsicht, es gehe Barth darum, die »individuell-freie, zugleich auf intersubjektives Einverständnis zielende Selbstexplikation des Glaubens, die hier – als Formalmoment des Textes – vorausgesetzt wird und vorausgesetzt werden muß, aus dem religiösen Grund des Glaubens – als dem Materialmoment des Textes – selbst herzuleiten«.188 In diesen Theorierahmen betten sich Barths augenscheinlich »materiale« Entfaltungen ein. So diene die »realistisch-eschatologische Präsentation der Ursprungsbewegung der Gottesgeschichte […] dem erkennbaren Zweck, den Vollzug theologisch-reflektierender Selbstdurchsicht des Glaubens, wie er hier vorgeführt wird, als Nach-Vollzug der Selbstbewegung des – religiösen – Glaubensgrundes zu explizieren«:189 »[…] im Akt des Lesens findet diejenige Überführung der fremden, der ›objektiven‹ Reflexion in die eigene statt, deren Aktualität Barth beschreibt. Die ›Mitarbeit‹ des Lesers ist das Analogat des Glaubens; in ihr ist das Eschaton präsent.«190 Die Kapitel 1–8 des Römerbriefs, darin entsprechen sich beide Auflagen des Barthschen Kommentars in Pfleiderers Deutung, zielen auf die »Konstitution des freien Subjekts«,191 die Kapitel 9–16 demgegenüber auf die »Realisierung des freien Subjekts«.192 185
Ebd. Ebd., 283. »Mit der so programmierten Hermeneutik geht nun freilich faktisch einher, daß die funktionale Ausdifferenzierung der modernen Hermeneutik, der die disziplinäre Ausdifferenzierung der modernen wissenschaftlichen Theologie in historische, systematische und praktische Theologie entspricht, revoziert wird; jedenfalls wird ihr eine entdifferenzierte, integrale Konzeption von Theologie gegenübergestellt.« (ebd., 282). 187 Ebd. 188 Ebd., 284f. 189 Ebd., 286. Vgl. ebd., 285 den Hinweis, Barth nehme »eine Umkehrung der modernen erkenntnistheoretischen Perspektive des Subjekts vor«. 190 Ebd., 287. 191 Ebd. – die Entfaltung wird ebd., 287–302 vorgenommen. 192 Ebd., 302 – die Entfaltung wird ebd., 302–315 vorgenommen. 186
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Pfleiderer bemüht sich um den Nachweis, dass Barth in Röm 1–8 im Gewande der Auslegung des paulinischen Textes die Ausarbeitung der »für ihn maßgeblich durch Kant bestimmten neuzeitlichen Freiheitstheorie« hinsichtlich deren »Begründungs- und Realisierungszusammenhang«193 anvisiert habe. Der Überbietungsanspruch Barths zeige sich an seiner Bestimmung der Überlegenheit der Ursprungstheologie gegenüber einer Ursprungsphilosophie, die darin bestehe, daß die »Ursprungstheologie […] ihren theologischphilosophischen Reflexionen eodem actu einen religiösen Realisierungsagenten zuzuschreiben vermag«.194 Die Kapitel 1–8 des Röm zielten daher auf die Konstitution des Glaubenssubjekts, daran anschließend werde in Röm 9ff die Konstitution der »Avantgarde« bzw. der »Avantgarde der Avantgarde«195 vorgenommen. Pragmatisch gehe es Barth um »die Zeichnung eines konkreten – pluriindividuellen – Handlungssubjekts als des Agenten geschichtlicher Freiheit, dessen Konturen so angelegt werden, daß der Leser sie selbst ausfüllen können soll«.196 Gemäß der für Barths Theologie nach ihrer »theo-zentrischen« Wende konstitutiven Ausblendung der Methodenreflexion kann der Aufbau des Erkenntnis- als Handlungsagenten nur ein indirekter sein. Er vollzieht sich im Medium einer theologischen Fundamentalkritik der theologischen »Wir-Gruppe« (von Autor und implizitem Leser) an der empirischen Kirche. […] Die Gleichsetzung von »Israel« und (empirischer) »Kirche« dient der Agentendifferenzierung von »faktischem« (d.h. theologisch inadäquat reflektiertem) Christentum einerseits und andererseits demjenigen Christentum, das 193
Ebd., 298. Die Gesamtintention sei in dem Versuch zu sehen, »die von ihm inszenierte ›Bewegung‹ theologischer Selbstdurchsichtigkeit von Ich und Welt als genuin theologisch verfaßte Lösung der modernen Freiheitsproblematik zu etablieren. Sowohl auf gesellschaftlich-kultureller Ebene, also gegenüber dem politischen Liberalismus, als auch auf theoretischer Ebene, also gegenüber der ›modernen Theologie‹ […], soll die theologische ›Bewegung‹ als derjenige theoretischpraktische Agent erkennbar werden, der die Freiheitsthematik der Moderne zugleich radikal kritisiert und realisiert: der sie in sich aufhebt und dabei ihre Antagonismen zum Verschwinden bringt.« (ebd., 298; vgl. dazu auch ebd., 300f). Bereits ebd., 287f macht Pfleiderer im Blick auf Barths Aufnahme der Kant-Kritik Hegels darauf aufmerksam, dass »hintergründig die Neuzeit als Referenzhorizont« im Sinne einer »Verfallsgeschichte« vorausgesetzt sei: »Aber schon der angespielte Rekurs auf die kritische Aufklärung Kants und Hegels zeigt, daß Barth mit seiner Antithese von göttlicher ›Realität‹ und ›subjektivem Vernünfteln‹ trotz der Verfallsperspektive keine Repristinierungsinteressen vorneuzeitlicher Reflexionskonstellationen verfolgt. Es ist eine theologische Selbstkritik der Neuzeit, die hier betrieben wird.« (ebd., 288). 194 Ebd., 290. 195 Ebd., 313. »Seit ihren Anfängen um 1910 ist der kritische Mehrwert, den Barths theologische Ursprungstheorie gegenüber philosophischen Ursprungstheorien reklamiert, ein Mehrwert an ›geschichtlichem‹ Realitäts- näherhin Realisierungspotential: die Selbstdurchsichtigkeit wahrheitsbewußten Denkens (›Kulturbewußtsein‹) soll eodem actu als die Verfaßtheit des Agenten selbstmächtigen Handelns, des freien Handlungssubjekts selbstdurchsichtig werden. Es ist eben dieser Mehrwert, um dessen Reklamierung es beim Übergang vom ›dogmatischen‹ (konstitutionstheoretischen) zum ›ethischen‹ (konstitutionspraktischen) Teil der Römerbriefauslegung geht.« (ebd., 302). 196 Ebd., 303.
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durch den Text und seine Lektüre hindurch im theologischen Reflexionsaufbau begriffen sein soll.197
En Detail sei die »Ethik« des Römerbriefs in Röm 9–11, »Außenabgrenzung des konkreten Handlungssubjekts der Freiheit«,198 und Röm 12–16, »Internbestimmungen jenes Agenten, bzw. […] einzelne Ausführungsbestimmungen seines Aufbaus«, zu gliedern: »Röm 9–11 bietet also gewissermaßen die ethische Grundlegung, Röm 12ff. eine Durchführung der Ethik innerhalb der Römerbrieftheologie Karl Barths.«199 Die Barthsche Ethik hat ein spezifisches Profil: »Das Ethos der Überlegenheit gründet in einem Absolutheitsbewußtsein, das sich konkurrierenden ethischen Eliten als ›Träger eines neuen Lebensprinzips‹ […] radikal überlegen weiß, ohne diese Überlegenheit durch materiale ethisch-politische Stellungnahmen im politischen Tagesstreit ausweisen zu müssen.«200 Ein zentrales Theologoumenon tritt insbesondere in Röm 9–11, an dieser Stelle nahegelegt durch den paulinischen Text, erneut hervor: »Die Logizität des Erwählungsgedankens bietet Barth […] die Möglichkeit zu einer systematischen Selbstreflexion, ohne dabei die Bedingungen einer inversiven Systematik zu verletzen.«201 Das entscheidende zur Überarbeitung und Neuauflage des Kommentars drängende Problem sei die noch unvollständige Inversionsbewegung in der ersten Fassung: Für den Theologiebegriff des ersten »Römerbriefs« ist die Spannung zwischen einem reflexiv-autopoietischen und einem deskriptiven Verständnis von Theologie kennzeichnend. So sehr – sowohl im Hinblick auf den Gesamtaufbau der Argumentation wie auch im Hinblick auf seine semantische wie rhetorisch-pragmatische Einzel197
Ebd. Vgl. etwa zu Röm 10: »In sublimen Mischungen aus Kulturkritik, Geschichtstheologie und performativen Selbstinszenierungen zeichnet Barth die theologische Avantgarde als das theologisch-selbstkritische und darum zukunftsmächtige Christentum, das als der legitime Erbe aller reformatorischen Potentiale der Kirchengeschichte gelten dürfe, und – das dokumentiert den religiös-theologischen Doppelcharakter der Avantgarde – zugleich in der neueren und neuesten Theologiegeschichte den entscheidenden Innovationsanspruch setze.« (ebd., 307). 199 Ebd., 304. Vgl. etwa zur Deutung von Röm 14–16: »An den drei Schlußkapiteln des Römerbriefs führt Barth vor, wie sich das in den bisherigen Kapiteln aufgebaute theologische Kollektivsubjekt der Freiheit intern so differenziert denken läßt, daß es die grundlegenden Differenzen, die in dessen Konstituierungs- und Realisierungsprozeß als negiert behauptet wurden, in sich selbst prozessual freisetzt und darum zu integrieren vermag: die Differenz von Avantgarde und ›Kirche‹, die Differenz von Avantgarde-Kollektiv und Individuum und schließlich und abschließend die für den Text als Text entscheidende Differenz von Autor und Rezipient. Ziel der Auslegung der Schlußkapitel ist es mithin, ›die Bewegung‹ […] an der Stelle des faktischen religiösen Bewußtseins als Inhalt von dessen wahrhafter theologischer Selbstdurchsicht zu explizieren.« (ebd., 312). 200 Ebd., 310. 201 Ebd., 304, vgl. ebd., 305.307 zum Charakter der Erwählung als »Selbstunterscheidung«. 198
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durchführung – die Absicht des Autors erkennbar ist, Theologie als Vollzug der Selbsterfassung der »Gottesbewegung« zu präsentieren, so sehr bleibt der Theologiebegriff doch wiederum deskriptiv bezogen auf einen »Begriff von Gott …«, der uns »… so unmittelbar gegeben (ist) wie unser eigenes Sein«, bleibt die Theologie anamnetischer Nachvollzug einer Erkenntnis, die auch vor und außerhalb dieses Vollzugs schon als gegeben gedacht ist, lediglich dazu angetan, »… damit ihr aufs neue Besitz von ihr ergreift« […]. Diese noch unvollständige Inversion abzubauen, ist das Ziel, das Barth in den Monaten und Jahren nach der Drucklegung des Buches immer klarer ins Auge faßt. Das Ergebnis wird der zweite »Römerbrief« sein.202
Wiederum sei »das eigentlich theoretisch treibende Potential in der erneuten und deutlich verstärkten Auseinandersetzung Barths mit dem Marburger Neukantianismus insbesondere in der Gestalt seines Bruders Heinrich Barth«203 zu sehen. Pfleiderer bezieht sich hier vor allem auf den Einfluss von Heinrich Barths Vortrag Gotteserkenntnis auf Karl Barths Tambacher Vortrag Der Christ in der Gesellschaft. Die Unterschiede zwischen beiden Texten bedürfen für Pfleiderer insbesondere im Lichte ihrer unterschiedlichen Wirkung der Klärung: Schließlich sei festzuhalten, daß die beiden […] in ihrer erkenntnistheoretischen Struktur nahe verwandten Texte eine völlig unterschiedliche wirkungsgeschichtliche Bedeutung erfahren haben. In Bezug auf Heinrich Barths Referat ist (abgesehen von den Einflüssen auf den Bruder) diesbezüglich nichts Auffälliges zu vermelden. Karl Barths Tambacher Vortrag aber macht seinen bis dato jenseits der Schweizer Grenzen fast unbekannten Autor über Nacht im theologischen Deutschland populär.204
Der Unterschied wird in der performativen Kraft des Tambacher Vortrags ausgemacht: »[…] während Heinrich Barth ›klassische‹ Bildungsinhalte und -traditionen […] im Stile eines Festredners bei der Abitursfeier eines humanistischen Gymnasiums nur aus der Vitrine holt, um sie gleich wieder (möglichst unbeschädigt) dorthin zurückzustellen, werden sie bei seinem Bruder rhetorisch-dramatisch funktionalisiert und aktualisiert«.205 202 Ebd., 315f. Zum historischen Ort vgl. ebd., 316: »Die Frage, ob Barths Theorie diese Entwicklung auch ohne jene Außeneinflüsse genommen hätte, ist schwer zu beantworten und im Grunde falsch gestellt. Bringt man nämlich – auf dem Weg analytischer Abstraktion – die radikalen kulturkritischen Diagnosegehalte, welche die Texte jener Jahre kennzeichnen, in Abzug, skelettiert sie gewissermaßen, dann wird man des enormen Plausibilitätsgehalts nicht mehr ansichtig, den diese Texte für viele Zeitgenossen gehabt haben; ihre reflexiv-autopoietische Gedankenstruktur als solche hätte ihn nicht zu erzeugen vermocht. Die äußeren Plausibilitätsbedingungen der Kulturkrise haben es ermöglicht, daß Barth jenen radikal-kritischen, autopoietischen Theologiebegriff entwickeln konnte, der sein deskriptives Potential im Gestus radikaler kultur- und religionskritischer Negation entfaltet.« 203 Ebd., 317. 204 Ebd., 319. »Karl Barths Tambacher Vortrag ist nach meinem Dafürhalten einer der rhetorisch fulminantesten Texte der neueren Theologiegeschichte. Verglichen damit und auch für sich selbst ist das Referat seines Bruders eine nüchterne Kathederrede.« (ebd., 320). 205 Ebd., 323.
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Der in Barths Tambacher Vortrag erkennbare Fortschritt auf dem Weg zum zweiten Römerbriefkommentar sei in der »Intensität der Verknüpfung« der »erkenntnistheoretischen Systematik« und der »rhetorisch-pragmatischen Textgestaltung«206 zu sehen: »Karl Barths Theologie zur Zeit des Tambacher Vortrags ist der performative Akt einer Gemeindegründung unter Theologen. […] Der spezifischen Logik dieses performativen Aktes entspricht es, daß der theoretische Akt des Begreifens der Theorie eo ipso als praktischer Akt der ›Teilnahme‹ gedeutet wird.«207 Der zentrale »systematisch-konzeptionelle Grundgedanke«208 wird in Barths Auslegung »des im ersten Teil entwickelten spekulativ-erkenntnistheoretischen Grundgedankens« durch das »dogmatische Gliederungsschema« von regnum naturae, regnum gratiae und regnum gloriae gesehen: »Der Gewinn der Verbindung der spekulativ-theologischen Reflexionssprache mit der dogmatisch-traditionellen Metaphorik liegt darin, daß auf diese Weise das revolutionäre theologische Subjekt hintergründig […] als legitimer Erbe der Kirche und des geschichtlichen Christentums insgesamt eingeführt werden kann.«209 Daneben ist es erneut der dogmatische Topos der Erwählung, der eine zentrale Rolle in Barths Vortrag spielt und mit seinem Theologiebegriff dieser Phase in besonderer Zeit verknüpft ist: Der Theologiebegriff, der hier entfaltet wird, will den Vollzug theologischer Selbstreflexion des religiösen Bewußtseins darstellen, der seine Wahrheitsgewißheit nur in diesem Vollzug hat und darum einen Agenten konstituiert, der zugleich partikular und intentional allgemein ist. Der Tambacher Vortrag ist angewandte Erwählungslehre; er ist das Instrument einer theologischen Jüngerberufung.210
Einen weiteren Schritt auf dem Weg zum zweiten Römerbriefkommentar markiere Barths Vortrag Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke,211 der 206 Ebd., 319. »Die gesteigerte Verknüpfungsintensität der Textebenen ist nicht unwesentlich der kommunikativen Situation mit ihrer persuasiven Herausforderung geschuldet, die der Autor sofort gesehen bzw. in sie hineingelegt hat […]. Barth hat die theologiepolitische Multiplikationschance, welche sich seinem Programm des Aufbaus einer theologischen Avantgarde durch die unverhoffte Einladung zur Versammlung der Religiösen Sozialisten Deutschlands bot, erfaßt und sofort wahrgenommen. Sein Vortrag ist (formalistisch geurteilt) eine strategisch durchgeplante PR-Aktion, die das Forum der Religiös-Sozialen nutzen will, um mit einem Schlag die wichtigsten Multiplikatoren für die eigene Theologie zu gewinnen.« (ebd., 319f). 207 Ebd., 327f. »Die in der Erzeugung begriffene Theoretikergemeinde ist das intentionale revolutionäre Geschichtssubjekt.« (ebd., 328). 208 Ebd., 328f. 209 Ebd., 329. »Die Aufnahme der dogmatischen Trias dient dazu, das kulturelle Profil der theologischen Avantgarde als ein genuin theologisch erzeugtes Profil plausibel zu machen. Dies ist ein Verfahren, das für Barths theologische Entwicklung zukunftsweisend ist; es nimmt die dogmatische Wendung, welche Barth mit seinem Übergang ins akademische Pfarramt vollziehen wird, in gewisser Weise vorweg.« (ebd.). 210 Ebd., 330. 211 Erneut setzt sich Pfleiderer hier von der Bestimmung einer »Wende« in Barths Denken ab: »In der Tat verschärft sich hier gegenüber dem Tambacher Vortrag die diastatische Rede vom
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wiederum als die »sich verstärkende Konzentration auf die – ihn im Grunde seit 1910 beschäftigende – gedankliche Grundfigur, einen an H. Cohen abgelesenen Ursprungsbegriff und dessen theoretisch-praktische Doppelbestimmtheit zu entfalten«,212 zu verstehen sei. Entscheidend und weiterführend sei Barths Bemühen, »diese solchermaßen verfaßte Doppelbestimmtheit in eine konsequente, weil kohärente semantisch-performative Sprachform zu gießen«.213 Und erneut kehrt das zentrale Theologoumenon wieder: Signifikant ist, daß diese in ihrer Dialektik verschärfte theologische Indienstnahme eines neukantianisch-transzendentalphilosophischen Ursprungsgedankens wiederum mit dem »Erwählungsgedanke(n)« […] verbunden wird, der nun ausdrücklich ins argumentative Zentrum des Textes gerückt wird […].214
Der zweite Römerbriefkommentar, als das Ergebnis dieser zweiten Phase Barthscher Theologie, bringe den Weg der vorangegangenen Texte Barths durch eine weitere »Steigerung der reflexionsdialektischen Konsequenz«215 zu einem vorläufigen Höhepunkt. Das Novum im hermeneutischen Verfahren sei, »daß die programmatische geltungstheoretische Wendung der historischen Hermeneutik […] nun ihrerseits strikt als Implikat des ausgelegten Textes begriffen und durchgeführt werden soll, was dadurch ermöglicht sein soll, daß der ausgelegte Text selbst als derjenige Reflexionsvollzug gedeutet wird, der sich selbst als der progressive Handlungsvollzug geltungstheoretischer Reflexionslogik zu verstehen gibt«216 – es ist »Bezeugung des autopoietischen Aktes des – seinerseits vom Römerbriefautor bezeugten – Selbstsetzungsaktes des absoluten Autors«.217 Das Verfahren gleiche der Erstauflage darin, dass wiederum als »Fachwerkverfahren«218 das Theoriegerüst durch die Auslegung der paulinischtheologischen Sprachwelt und die Gegenwartsdiagnostik aufgefüllt werde. ›Ganz Anderen‹ des Reiches Gottes. Gleichwohl wird man von einer ›Wendung‹ im Sinne eines dominant diskontinuierlichen Umschlags im Hinblick auf diesen Vortrag und die Entwicklung insgesamt nicht sprechen können.« (ebd., 334). 212 Ebd. Auf den Zusammenhang mit dem »Begründungsproblem neuzeitlicher Autonomieinteressen« weist Pfleiderer ebd., 335 hin. 213 Ebd., 335. 214 Ebd., 336. 215 Ebd., 337. »Die Steigerung der reflexionsdialektischen Konsequenz geht mit einer ebenso konsequenten Bedeutungssteigerung der pragmatischen Absichten des Textes und seiner rezeptionsästhetischen Konzeptionalisierung einher. Die Reflexion des Autors auf den ›impliziten Leser‹ seines Textes wird nun geradezu zum treibenden Prinzip seiner prozessualen Reflexionsdialektik.« (ebd., 338). 216 Ebd., 339. 217 Ebd. Der »autoritäre« Gestus »im und gegen das Leserbewußtsein« bleibt Barth dabei durchaus bewusst: »Der Auslegungsvorgang in seiner sich autoritativ geltend machenden, weil prozessualen Reflexionslogik soll das Moment der hypothetischen Unterstellung hinwegarbeiten, dessen Existenz Barth zumindest am exklavischen Ort des Vorworts nicht leugnet.« (ebd., 340). 218 Ebd., 344.
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Die Konstitution der theologischen Avantgarde werde – im Vergleich zur Erstauflage – »im Medium konsequent entpositivierender Selbstreflexion betrieben«.219 Der gedankliche Aufbau der Auslegung entspricht weitgehend dem der Erstauflage. So ziele die Auslegung von Röm 1–8 entsprechend auf die »Konstituierung des freien Subjekts«.220 Röm 1–4 handle »von den Erkenntnisbedingungen der Freiheit, von ihrer Form und darin zugleich von der objektiven Realität der Freiheit«: »Der zweite Teil [Röm 5–8] thematisiert nun den Aufbau der Freiheit selbst, ihren Inhalt, und darin zugleich die subjektive Realisierung der Freiheit«.221 Für den in Röm 1,18–3,20 entworfenen Gedankengang ist die Einsicht zentral, dass der Glaubensbegriff als »das theologisch reflektierte und darin zu sich selbst gekommene religiöse Erleben«222 verstanden werde. Die »unverhohlen antiliberale Kritik der ›säkularen‹ Gegenwartskultur der Moderne«223 in diesem Abschnitt ziele auf die Aufhebung der »kulturellen Aporieerfahrungen der Gegenwart […] in eine theologische Kulturkritik ›überhaupt‹«.224 In Röm 3,21ff wird vermittelt durch das »Gott spricht« – »als theologische Entsprechung zum philosophischen Ursprungsbegriff«225 – eine »Selbstauslegungsstruktur des Offenbarungsbegriffs« eingeführt, welche sich der Leser »zu eigen, d.h. zur eigenen Religion«226 machen soll. Mit Röm 4 werde das »Abrahamskapitel als Nachweis« gelesen, »daß der offenbarungstheologisch rekonstruierte Glaube das wahre Wesen der Religion, und zwar geschichtlich individuierter Religion darstelle«.227 Der Umgang mit der Abrahamüberlieferung zeige deutlich, dass »›Geschichte‹ […] zur materialgebenden Projektionsfläche der aktualen Selbstrealisierung des theologischen Subjekts«228 werde. In Röm 5 werde sodann der »theologisch erkannte Aufbau der Freiheit«229 eingeleitet, der nunmehr nicht deskriptiv (wie in der Erstauflage) nachgezeichnet werde, sondern durch den »theologischen Reflexionsprozeß [selbst; S.H.], als welcher sich die Realisierung der Freiheit selbst voll-
219
Ebd., 345. Ebd., 343; entfaltet wird diese Deutung ebd., 343–365. 221 Ebd., 351. 222 Ebd., 346. 223 Ebd., 344. 224 Ebd. 225 Ebd., 347. 226 Ebd., 348. 227 Ebd., 349. Röm 4 sei darüber hinaus das »hermeneutische Methodenkapitel« (ebd.); es lasse »zugleich das Ziel der Römerbriefauslegung insgesamt […] erkennen: die theologische Selbstdurchsichtigkeit als den genetischen Vollzug geschichtlicher Individualität zu denken«. 228 Ebd., 351. Das gelte auch für den Römerbrief selbst: »Im ›Gespräch der Gleichzeitigen‹ […] verschaltet Barth Paulus auf einer Cohenschen Plattform mit Feuerbach und Nietzsche.« (ebd.). 229 Ebd. 220
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zieht«,230 initiiert werden solle.231 Röm 6 sei sodann der Abschnitt, »der das Verhältnis des in Röm 5 aufgebauten ›neuen Subjekts‹ zu dem empirischen Glaubens-, d.h. Lesersubjekt reflektiert«.232 Barth mache »den Leser zum Opfer und Mittäter des revolutionären Gewaltstreichs, den er gegen ihn und mit ihm führt«,233 denn die Identität »des Lesers als des Glaubenssubjekts« könne »nur erzeugt werden, indem sie in Anspruch genommen wird«, »indem sie sich als Vollzug von Freiheit auslegt«.234 In Röm 7 trete neben Barths Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Religionstheorien235 eine »Einschreibung« des »im Aufbau begriffene[n] theologische[n] Wissen[s] […] in eine empirisch-geschichtliche Traditionslinie«,236 die jedoch in Röm 8 wiederum reflexiv aufgelöst werde – die »Selbstgewißheit des Subjekts« sei nicht stillzustellen, »sondern kann nur als […] aktualiter zu vollziehende«237 beschrieben werden. Funktional werde auch hier der Begriff der »Erwählung« verwendet,238 und erneut zeige sich – im Blick auf Röm 8239 – 230
Ebd. Vgl. dazu die Bedeutung des Prädestinationsgedankens: »Das Denken des Prädestinationsgedankens soll implizieren, daß sich das Subjekt im Akt seiner Reflexion seiner Konstituiertheit gewiß wird und zwar so, daß es seine Konstituiertheit von diesem Reflexionsakt zugleich kritisch unterscheidet. […] Im Prädestinationsgedanken wird hier also die theologisch-reflexive Konstitution des Subjekts chiffreartig – und sieht man auf Barths bisherige theologische Entwicklung: so bündig wie bislang noch nie – zusammengefaßt.« (ebd., 353). Vgl. dazu auch unten zu Röm 9–11. 232 Ebd., 354. 233 Ebd., 358. 234 Ebd., 356. »Die Identität des empirischen Rezipientensubjekts mit dem theologischen Subjekt ist also nur im Prozeß des Nachvollzugs dieser identitätstheologischen Reflexion zu behaupten und in diesem wiederum nur so, daß sie ›vorausgesetzt (wird) als Sinn und Bedingung des ganzen Vorgangs (der kein ›Vorgang‹ ist)‹« (ebd.). 235 Vgl. ebd., 360 im Blick auf das Verhältnis zu Röm 4: »Die dort im allgemeinen behauptete Explizierbarkeit des theologischen Glaubens als wahrer Religion soll hier nun im theologischselbstdurchsichtigen Aufbau des Glaubenssubjekts selbst eingeholt werden. Barth will nun zeigen, daß die theologische Religiosität des Glaubenssubjekts sich als adäquate Selbstdurchsicht religiöser Subjektivität explizieren läßt. Darum führt er hier eine – ebenso (vergleichsweise) intensive wie zugleich wiederum aus dramaturgischen Gründen verdeckte – Auseinandersetzung mit klassisch-modernen und zeitgenössischen Religionstheorien.« 236 Ebd., 362. 237 Ebd., 363. 238 »Die in Barths theologischer Entwicklung nun schon öfter beobachtete Maßnahme, dieses Theologumenon [sc. der Erwählung] als Chiffre für den theologischen Reflexions- und damit notorisch aktualen Vergewisserungsvorgang selbst einzusetzen, wird hier gewissermaßen an ihrem systematischen Ort innerhalb der Römerbriefauslegung expliziert. Die nur als reflexiver ›actus purus‹, nur im ›Vollzug der Identität zwischen Christus und mir‹ […] einzuholende Gewißheit ist eben in dieser Vollzugsaktualität und aufgrund derselben ihrerseits als ›Erwählt- und eben darum in keinem Sinn Verworfensein‹ […] zu interpretieren und nicht in der Form einer statischen Rede von einer diesem theologischen Reflexionsvollzug äußerlich – religiös – vorgegebenen ›christliche(n) Gewißheit‹ […].« (ebd., 364f). 239 Ebd., 363f. Vgl. dazu auch ebd., 357 den Hinweis auf eine »bestimmte Deutung von I. Kants praktischer Philosophie« als Bezugsrahmen, auch für die »Rezeption des neukantianischen Ursprungstheorems«. 231
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Barths Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants und der Rekurs auf Hermann Cohen. Mit der Auslegung von Röm 9–16 – »Die Realisierung der freien Subjekts« – schließe sich Barths Auseinandersetzung mit dem »Problem der praktischen Realisierung der Freiheit«240 an, mithin erneut sein Versuch der Konstitution einer theologischen Avantgarde.241 Eine markante Weiterentwicklung sei Barths Bemühung, »den ontologischen Status der theologischen Avantgarde […] nun dezidiert von jeglicher geschichtstheologischen Positivierung freizumachen«.242 Die »prinzipielle Differenz der theologischen Avantgarde zur vorfindlichen Kirche« werde nunmehr »rein durch ihre Form, d.h. durch den praktisch ausgeübten theologischen Reflexionsvollzug – die Verkündigung – als solchen und nicht mehr durch inhaltliche Differenzen gedeckt«.243 Die Ethik stellt damit aber die Pointe der pragmatischen Abzweckung der Römerbriefauslegung dar: In den ethischen Kapiteln des »Römerbriefs« wird in der Tat keine an die »Theorie« angehängte »Praxis« beschrieben, sondern der zuvor geleistete konstruktive Aufbau des theologischen Subjekts wird schrittweise in die praktische Selbstauslegung des Adressaten zu überführen versucht. Als intentionales Handlungssubjekt der Römerbrieftheologie soll sich der Leser selbst erkennen.244
In ihr geht es um die Aneignung dessen, was in Röm 1–8 als Konstitution des Subjekts entfaltet wurde: Die Freiheit, die der »Römerbrief« freisetzt, ist die »Freiheit Gottes« […]. Sie wird zur Freiheit des handelnden Subjekts nur insofern, als dieses sich konsequent als theologischer Reflektant, als Rezipient, begreift, der seine Selbstauslegung als per240
Ebd., 365. Dabei nehmen Röm 9–11 eine Scharnierstellung ein: »Sie stehen gewissermaßen zwischen ›Dogmatik‹ als der Konstitutionstheorie des freien Subjekts überhaupt und der ›Ethik‹ als der Theorie seiner praktischen Selbstauslegung. Dem Ausleger kommt entgegen, daß sich Paulus in diesen Kapiteln bekanntlich intensiv mit der Erwählungsthematik beschäftigt, über die im Denken des Auslegers – wie sein Röm 8 in schöner Deutlichkeit zeigte – , die Reflexion der Reflexionstätigkeit und ihres Verhältnisses zu ihrer ›religiösen‹ und damit konstitutionellen Selbstgegebenheit verschlüsselt ist.« (ebd., 365). 242 Ebd., 366. Jedoch merkt Pfleiderer kritisch an, dass Barth dieses Ziel nicht erreiche: »Das in der Auslegung des paulinischen Römerbriefs selbst zugleich reflexiv durchsichtig gemachte und praktisch vorgeführte sprachliche Handeln ist die Matrix des kulturell identifizierbaren Profils der theologischen Avantgarde des zweiten ›Römerbriefs‹, die eine Avantgarde von Pfarrern sein soll. Im Blendschatten der Reflexionsscheinwerfer dieses theologischen Spähtrupps bleibt freilich der Sachverhalt, daß diese soziokulturelle Identifizierung der Avantgarde als theologische Reflexionselite in der Pfarrerschaft selbst schon vom Wort her ein empirisch-sozial geprägtes Berufsbild in Anspruch nimmt, das seinen Ort in eben jener ›empirischen‹ Kirche hat, welche der ›Römerbrief‹ erst im 9. Kapitel und auch da nur als seiner Autopoietik äußerliche, exoterisch-banale ›Israel‹Wirklichkeit ›entdeckt‹ hatte.« (ebd., 372). 243 Ebd., 366. 244 Ebd., 373. 241
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manente Rezeptionstätigkeit vollzieht, die dementsprechend nicht hinter sich gelassen, nicht resultathaft angeeignet werden kann.245
Das zentrale Merkmal der Barthschen Römerbrieftheologie lässt sich erneut mit dem Theologoumenon der »Erwählung« erfassen: Die theologische »Römerbrief«-Avantgarde soll nach dem Willen ihres Gründers eine Position beziehen, deren Anspruch auf Überpositionalität darin begründet ist, daß sie das von allen modernen Theologien thematisierte Verhältnis von Religion und Theologie als theologisches Verhältnis zu reflektieren vermag. Die sich im Theologumenon der Erwählung chiffreartig zusammenfassende Römerbrieftheologie K. Barths bestimmt das religiöse Bewußtsein als Reflexionsprodukt der Theologie, indem es den Vollzug der Theologie als kommunikativ-sprachlichen Vollzug reflexiver Selbstunterscheidung des religiösen Bewußtseins von sich selbst bestimmt. Treibende Kraft dieser Reflexionsbewegung ist die Reflexion auf das Leser-Bewußtsein als das religiöse Andere der theologischen Reflexion, das der Autor fortlaufend einzuholen sucht.246
Für die Weiterentwicklung Barthscher Theologie ist in Pfleiderers Darstellung ein Problem der Römerbrieftheologie grundlegend, welches Barth selbst in der Zeit nach dessen Abfassung vor Augen trat: Die mit der pragmatischen Strategie verbundene Invertiertheit ihrer methodischen Struktur führt dazu, daß die »Römerbrief«-Theologie zwar Anschlußerfolge zeitigen kann, sie kann aus Zuschauern Zustimmende machen, insofern kann sie ihr Publikum finden. Da diesen Zustimmenden jedoch die Durchsichtigkeit durch die Theoriestruktur fehlt, ist ihre Zustimmung in Wahrheit keine wissenschaftlich-reflektierte, sondern eigentlich eine religiös-positive, die sich in einer bestimmten theologischen Semantik artikuliert. Der »Römerbrief« erzeugt Jünger, keine Schüler.247
Die Frage nach dem Ort »dialektischer Theologie« im Kontext theologischer Wissenschaft an den Universitäten leite eine »Szientifizierungsphase«248 der Barthschen Theologie ein, von der die Texte im Vorfeld der ersten Dogmatikvorlesung in Göttingen zeugten. In Barths Vortrag des Jahres 1922 Das Problem der Ethik in der Gegenwart249 werde besonders deutlich, dass es ein »radikalisierte[r], ideengeschichtlich auf H. Cohen zurückgehende[r] Handlungsbegriff [sei], der Barths Theorieentwicklung von Anfang an und in allen ihren Phasen, auch gerade die ihr ›Theoriedesign‹ kennzeichnende eigentümliche Pragmatik, 245 Ebd., 374. Vgl. ebd., 358: »Der Autor macht den Leser zugleich zum Opfer und Mittäter des revolutionären Gewaltstreichs, den er gegen ihn und mit ihm führt.« 246 Ebd., 376. 247 Ebd., 377. 248 Ebd., 378. 249 Barth nutze hier »das ihm vom Veranstalter gestellte Thema, um den wissenschaftstheoretischen Ort der Theologie und damit ihren Allgemeinheitsanspruch zu klären« (ebd., 380).
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bestimmt« habe: »Im Ethikvortrag macht Barth damit gerade auch die tragenden Voraussetzungen seiner ›Römerbrief‹-Theologie durchsichtig.«250 Dieser Text zeige damit den Theoriehintergrund, der auch Barths Vortrag Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie kennzeichne.251 Die »Bestimmung der theologischen Aufgabe als ›Rede von Gott‹« sei als das entscheidende »Innovationsmoment« in Barths Vortrag zu ermitteln: »Denn mit dieser Bestimmung sucht Barth das von ihm seit dem Predigtband praktizierte Verständnis von Theologie in diese Praxis aufzuheben, die dadurch reflexiv höherstufig werden muß.«252 Der Weg zur ersten Dogmatik wird durch die neuen Herausforderungen in Gang gesetzt: »Der auf die Struktur des Theologiebegriffs bezogene Reflexionsdruck ist dem institutionellen Zwang geschuldet, eine wissenschaftlich lehrbare Theologie zu betreiben.«253 Erneut ist an einer Nahtstelle der Entwicklung Barthscher Theologie die »Pragmatik« das entscheidende Movens: »Die ›Wendung zur Analogie‹ ist demnach keineswegs die Folge einer abstrakt in sich selbst kreisenden erkenntnistheoretischen Reflexion, von einer ›erneuten Besinnung auf die biblische Botschaft‹ ganz zu schweigen.«254 Die Metaphorik der »Sache« weise zudem eher auf den geistesgeschichtlichen Kontext der »Neuen Sachlichkeit« hin. Den Einfluss Erik Petersons auf Barths Theologie schätzt Pfleiderer gegen Eberhard Jüngel und Barbara Nichtweiß als eher gering ein: Der Gedanke von der Selbstsetzung Gottes im Offenbarungsakt führt in der Tat ins erkenntnistheoretische Zentrum der neuen dogmatischen Theologie Barths; ist aber in der früheren Theologie bestens vorbereitet. Der participatio-Gedanke als solcher ist Barth mindestens seit 1913 aus der platonisierenden Wendung der neukantianischen Ursprungstheologie bei seinem Bruder Heinrich vertraut. Man wird demnach mit J.F. Lohmann dabei bleiben können, daß sich die Entwicklung der Barthschen Theologie zur dogmatischen Theologie auch in ihren grundlegenden erkenntnistheoretischen 250 Ebd., 381. »Die Denkdynamik, welche die Logizität dieses solchermaßen radikalisierten Handlungsbegriffs freisetzt, liegt im Ethikvortrag formaliter auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Selbsterfassung des so bestimmten Subjekts (praktische Ebene oder Deskriptionsebene) und zugleich auf der Ebene der reflexiven theoretischen Erfassung solcher Selbsterfassung (Theorieebene, Theologiebegriff). Es ist die Pointe der Argumentation, daß diese Ebenendifferenz einzuziehen ist.« (ebd., 381f). 251 »Macht man den im September 1922 gehaltenen Ethikvortrag in der Weise, wie das hier versucht worden ist, auf seinen zugleich erkenntnistheoretischen und methodologischen Sinn hin durchsichtig, dann erschließt sich der wenige Wochen später gehaltene Vortrag ›Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie‹ […] leicht als konstruktive Weiterarbeit an den dort angestellten Überlegungen. Dort wie hier geht es eigentlich um den reflexionspraktischen Sinn der Theologie, in dem für Barth zugleich die religiös-praktische und wissenschaftliche Doppelnatur der Theologie begründet ist.« (ebd., 385) 252 Ebd., 386. 253 Ebd., 390. 254 Ebd.
Die Entwicklung der Theologie Barths
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Weichenstellungen gut im Rahmen seiner nicht preisgegebenen neukantianischen Denkvoraussetzungen erklären läßt.255
Zur dritten Phase: Barths Weg zur ersten ausgearbeiteten Dogmatik geht für Pfleiderer mit Veränderungen einher, die – der pragmatischen Struktur entsprechend – nicht zuletzt durch seinen Wechsel in das universitäre Lehramt und die damit veränderte Situation der intendierten Rezipienten verursacht werden: Erkenntnistheoretisch erscheint die von Barth in der Göttinger Vorlesung eingeleitete Veränderung als »Wendung von der Dialektik zur Analogie« oder als Wendung von der Beschreibung der gesollten zur Beschreibung der gelingenden Rede von Gott. Phänotypologisch erscheint sie als Wendung von der philosophisch-theologischliterarischen zur dogmatischen-szientifischen Theologie. Institutionstheoretisch ereignet sich der Wechsel von der theologisch-kulturellen (latent pastoralen) Avantgarde zur (intendierten) kirchlichen Elite. Methodologisch-systematisch aber ist die Veränderung als Wendung von der impliziten systematischen Methodisierung der Avantgardephase zu einer – wenigstens dem Anspruch nach – expliziten systematischen Methodisierung zu beschreiben. An die Stelle der invertierten und indirekten – in der chiffrierten Form der Erwählungslehre – präsentierten Systematik tritt die direkte und explizite systematische Steuerung des theologischen Reflexionsprozesses durch Offenbarungsbegriff und Trinitätslehre.256
Explizit wird die Theologie nunmehr auf die Positivität der Kirche und deren Predigt als Autorität bezogen: »kurzum: es kommt nun der positive Bezug auf die unter die Ägide des Autoritätsbegriffs gestellte kirchliche und wissenschaftliche Institutionalität der Theologie hinzu«.257 Der Weg an die Universität berge für Barths Theologie jedoch nicht unerhebliche Gefahren: »Der Barthschen Theologie droht durch ihre Selbstverwissenschaftlichung nichts Geringeres als der Verlust ihrer das wissenschaftliche Reflexionssystem transzendierenden religiös-politischen, lebenspraktischen Realitäts- und Realisierungsansprüche.«258 Ein entscheidendes Kennzeichen der Barthschen Theologie bleibt aber, dass die spezifische Pragmatik beibehalten, allerdings weiterhin nicht selbst zum Gegenstand gemacht werde: »Die subjektkonstitutiven Leistungsansprüche der Theorie bleiben in beiden Phasen unausgesprochen; das Zuschauerverbot gilt nach wie vor.«259 In den geistesgeschichtli255
Ebd., 392. Ebd., 394. 257 Ebd., 395. 258 Ebd. »Wie eine Verwissenschaftlichung der Theologie möglich sein soll, ohne daß der in der Wissenschaft notorisch beheimatete ›Zuschauer‹ wieder aufersteht, auf dessen Abschaffung die Barthsche Theologie insgesamt zielt, ist das eigentliche Denk- und Gestaltungsproblem des Dogmatikers.« (ebd.). Vgl. ebd., 396: »So sucht Barth gewissermaßen den revolutionären OutcastGestus der Avantgarde auf dem Marsch durch die Institution zu bewahren.« 259 Ebd., 395. 256
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chen Kontext gliedere sich Barths in der Vorlesung intendierte »Bildung einer dogmatischen Funktionärselite«260 ein. Grundsätzlich funktional bleiben die verwendeten Gehalte dieser Theorieebene auch im Unterricht in der christlichen Religion nachgeordnet: Der Rückgriff auf die orthodox-protestantische Tradition in dieser kompendiarischen Form ist ein Indiz des antihistoristischen Formierungswillens des Dogmatikers, der sich hier eine dogmatische Semantik ausleiht, die durch ihre gleichsam rituelle Geprägtheit seinem Institutionalisierungsinteresse entgegenkommt und die aufgrund ihrer Formalität seinen eigenen konstruktiven Interessen kaum Widerstand bietet.261
Der Struktur nach sei der »theoretische Reflexionsvollzug […] als handlungspraktischer (Nach-)Vollzug der Logizität absoluter Subjektivität gedacht, die damit zur gültig-allgemeinen Matrix von Wirklichkeitswahrnehmung und zugleich zum praktischen Aufbauprogramm solcher Subjektivität avanciert«.262 Mit dem Offenbarungsbegriff mache sich »die theologische Reflexion […] eine Selbstvorgabe […], als deren Nachvollzug sie sich nun präsentiert«.263 Der Offenbarungsbegriff tritt damit funktional an die Stelle, die vorher der paulinische Text eingenommen hatte. Der mit Barths Denken scheinbar verwandte theologische Hegelianismus ist Pfleiderers Deutung zufolge jedoch »kategorial unterschieden, da die ›Spekulation‹ bei Barth eingebunden bleibt in den ethisch-pragmatischen, ihrem Anspruch nach ›transzendentalpragmatischen‹ Funktionssinn der Theologie, der systematisch durch die Dependenz des Offenbarungs- und Autoritätsbegriff repräsentiert wird und die praktische Kategorialität der Freiheit der theoretischen bestimmend vorordnet«.264 Explizit wendet Pfleiderer gegen Korsch (und damit implizit zugleich gegen Wagner), dass Barth kein spekulatives Denken um seiner selbst willen verfolge. Barths Theologie sei »nicht abschließend als neoschellingianische ›Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums‹ zu beschreiben«, denn »[e]ine solche Beschreibung mag zwar die operative Mechanik der Barthschen Theologie sehr genau erfassen, sie läßt aber den methodischen Funktionsrahmen, innerhalb dessen diese zu stehen kommt, unberücksichtigt«.265 Damit wird der religionsphilosophische Horizont – in Korschs Deutung wurde durch die Faktizität des Glaubens »Theologie« in zweifacher Gestalt erfordert – als inadäquater Deutungszugang herausgestellt. Die Pragmatik zielt gegenüber Korschs Deutung gerade auf die Erzeugung theologisch reflektierter Religion. 260
Ebd., 398. Ebd., 397. 262 Ebd., 398f. 263 Ebd., 399. 264 Ebd., 400. 265 Ebd. 261
Die Entwicklung der Theologie Barths
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Die Wende zur Sprache – in Gestalt der Vorordnung des »Es predigt …« – stellt sich für Pfleiderer als allgemeines Signum der Geisteswissenschaften der 20er Jahre dar: »Gleichwohl teilt Barths ›sprachtheologische‹ Grundlegung der Dogmatik mit den Varianten des ›linguistic turn‹ dessen Versuch, den ›Subjektivismus‹ einer Bewußtseinstheorie durch den Rekurs auf ›objektiv‹ gegebene Sachverhalte zu überbieten.«266 Gegenüber den früheren Publikationen wolle Barth jedoch nunmehr Dogmatik und Predigt voneinander unterschieden wissen: In dieser hier klar formulierten Absicht einer Differenzierung der theologischen Reflexionsaufgabe von den praktisch-theologischen Vollzügen und der Bewußtseinswirklichkeit der Religion liegt gegenüber der früheren avantgardistischen Phase ein deutlicher Fortschritt. Würde diese Absicht realisiert, dann wäre hierin der eigentliche Gewinn der mit der Dogmatikvorlesung eingeleiteten Szientifizierung der Theologie zu sehen, mit dem die programmatischen Differenzverwischungen gerade auch noch der Übergangsjahre – »die Aufgabe der Theologie ist eins mit der Aufgabe der Predigt« – überwunden wären. 267
Gleichwohl konzipiere Barth die Dogmatik strikt normativ; es werde deutlich, »daß der Predigtbegriff keine andere Funktion hat als diejenige, den Außenbezug der theologischen Reflexion auf religiöse Wirklichkeit in dieselbe einzuholen«:268 Der Predigtbegriff expliziert somit die handlungstheoretische und handlungsreflexive Umkodierung der Theologie, als welche sich Barths Theologie seit 1917 definitiv präsentiert. Dogmatik entfaltet die durch die Kennzeichnung der religiös-theologischen Kommunikation als Predigt in dieselbe eingelagerte Reflexivität. Der Prediger ist Theologe, d.h. er muß es immer schon sein; Dogmatik ist Ethik, ist normative Handlungswissenschaft.269
Die Vorordnung der Predigt als des »ursprungsgenetischen Handlungszusammenhangs«270 entfalte Barth als »Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes«. Der Verweis auf die Schrift lasse »den dogmatisch-theologischen Reflexionsdiskurs von dem praktisch-theologischen Predigtdiskurs methodisch unterscheidbar«271 werden. Die Funktion der Lehre von der Offenbarung lasse sich wie folgt bestimmen: »Das Ziel der dogmatischen Re266
Ebd., 402. Ebd., 403. 268 Ebd., 404. 269 Ebd. 270 Ebd., 405. 271 Ebd. »Indem die ursprungsgenetische Rekonstruktion von Handlungsreflexivität aus der engen Zweierbeziehung von Handlungsagent und Handlungsrezipient gelöst wird und sie um die Reflexion auf das Medium und damit den Inhalt solcher Logizität erweitert wird, soll ein Diskurs über diese Logizität stattfinden können, der mit deren handlungspraktischer Präsentation nicht mehr unmittelbar zusammenfällt.« (ebd., 405f). 267
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konstruktion der Logizität absoluter autoritärer Handlung ist, diese Logizität als Ursprungskonstituens von individuell-freier Selbstauslegung zu explizieren, also an der Stelle, die unter neuzeitlichen Theoriebedingungen als ›Religion‹ bestimmt ist.«272 Die religiöse Selbstauslegung soll auf diesem Wege als »Funktionsmoment des theologischen Handlungsgeschehens« erfasst werden. Diese Struktur der Zuordnung von Dogmatik und Ethik ist bereits aus den Römerbriefauslegungen bekannt. Sie wurde bereits zuvor pointiert von Trutz Rendtorff im Blick auf den ethischen Sinn der Tauflehre herausgearbeitet. Pfleiderer geht darüber hinaus, indem er dieser Struktur, die Rendtorff im Makrokosmos der Kirchlichen Dogmatik aufzuweisen suchte, minutiös bereits im Blick auf die früheren Arbeiten und dort im Mikrokosmos – als Pragmatik der Texte – nachspürt. Eine entsprechende Pointe kennzeichnet die Rekonstruktion der ersten Paragraphen des Unterrichts in der christlichen Religion. Zur Entfaltung des »Deus dixit« bedürfe Barth der funktional verwendeten Trinitätslehre273 (§ 5), denn so sehr der Offenbarungsbegriff Gott als absolutes Handlungssubjekt und die Logizität des absoluten Ursprungs von Handlung und deren Selbstentfaltung zum Inhalt hat, so wenig könnte der Offenbarungsbegriff für sich genommen garantieren, daß diese Handlungslogizität ihrerseits nicht als ein bloß Gedachtes gedacht wird. Um die Logizität von Handlung »an sich selbst zu denken«, muß sie einem Handlungssubjekt zugeschrieben werden; sie muß selbst noch einmal handlungslogisch gedacht werden, also als Funktion der kontingenten Hervorbringung eines Handlungssubjekts. Mit der Trinitätslehre soll darum die »Konstituierung (!) des Offenbarungsbegriffs« […] auf ein kontingentes Ereignis, ein kontingentes Faktum […] bezogen werden.274
Der »Pragmatik« Barthschen Denkens entsprechend liege das Ziel der in der Trinitätslehre zum Ausdruck gebrachten »Selbstzurücknahme der Reflexion gegenüber der als praktisch-konkretem Handlungsvollzug in Anschlag gebrachten Selbsttätigkeit des absoluten Handlungssubjekts« darin, die theologische Reflexion als »›transzendentale[n]‹ Akt«, »der seinerseits die Voraussetzung allen Reflektierens- und zugleich Handeln-Könnens in sich birgt«,275 zu konstruieren, der jedoch im Blick auf den Rezipienten dieser Theologie auf Reproduktion ziele:276 »Das Denken der Trinitätslehre soll den Leser 272
Ebd., 407. S. ebd., 409–412. 274 Ebd., 409f. Entsprechend kann Pfleiderer von einer »Funktionalisierung der Trinitätslehre« (ebd.) sprechen. Die damit implizierte »Wendung zur Analogie« diene in diesem Sinne der Funktion, »die theologische Reflexion selbst und als solche der Logizität von Handlungskategorialität zu unterwerfen« (ebd., 411). 275 Ebd., 411. 276 Die Einsicht in die theologische Reflexion als »transzendentalen Akt« sei nur möglich, »indem der Vollzug dieses Wissensaktes auch vom Rezipienten als kontingent-faktischer Handlungs273
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imperativisch zur Selbstidentifikation mit dem vom Autor konstruierten Glaubenssubjekt zwingen«.277 Entsprechend werde in § 7 die Einholung des »religiösen Vollzug[s] selbst als Funktionsmoment der Offenbarung«278 anvisiert. Die »absolute[] Autorität als Begründung selbsttätig-autoritativer Sprechhandlung«,279 die Barth an den Anfang stellt, sei indes immer schon mit dem Kirchenbegriff – »ein normativ-dogmatischer Kirchenbegriff natürlich« – verbunden: »Die Kirche ist der Träger von Autorität, um deren Aufbau und Selbstdurchsicht es dem Dogmatiker geht.«280 In die Selbstbewegung der absoluten Autorität werde die Kirche durch ihren Rekurs auf die Schrift gestellt, vermittels des Prädestinationsgedankens werde die »Aufhebung des Heteronomiemoments absolut-autoritären Handelns« reflektiert. Im Blick auf die »Differenz zwischen der dogmatisch aufgebauten Kirche und der empirisch-geschichtlichen« trete jedoch der Dogmatiker als der »in der Ursprungskonstruktion verborgene Reflexionsagent« auf den Plan. Obgleich er seine eigene Autorität in die Folgegeschichte des absoluten Handelns stellt (als Selbstzurücknahme), entstehe das »Abfallprodukt eines nachgerade heroischen theologisch-kirchenpolitischen Elitebewußtseins«.281 Die »Freiheit der Schriftauslegung« (§ 10) werde aus diesem Grund auch letztlich in eine dogmatische Heteronomie überführt: »Die Autorität theologischen Lehramts, das Barth empirischen Kirchenleitungen zubilligt, kann immer nur diejenige sein, die sich selbst gemäß der hier entworfenen Autoritätstheologie auszulegen gewillt ist.«282 Die Dogmatik als »Predigt für Prediger«283 trägt aus diesem Grund unverkennbar »normativ-praktischen« Charakter284 und wird der Predigt übergeordnet. Barth ziele ganz im Duktus der früheren Überlegungen auf eine Avantgarde und konzipiere das »Ethos einer intellektuellen Vordenkergruppe, das Ethos der dogmatischen Elite«.285 Mit dem Hinweis auf die strukturelle Kontinuität in dem Barthschen Theologieverständnis endet daher auch Pfleiderers Rekonstruktion: Wie die »Römerbrief«-Theologie enden nun auch die Prolegomena zur Dogmatik mit Verweisen auf eine praktisch-individuelle Selbstapplikation der Theologie, die durch den rigiden systematischen Normierungsversuch, den die Dogmatik unternimmt, nicht gedeckt ist; durchaus freilich durch die ihr eingelagerte Pragmatik, wonach das akt gedeutet und vollzogen wird, der als solcher durch seinen Entscheidungscharakter erkennbar ist« (ebd., 411). 277 Ebd., 412. 278 Ebd., 413. 279 Ebd., 414. 280 Ebd., 415. 281 Ebd., 416. 282 Ebd., 417. 283 Ebd., 419. 284 Ebd., 420. 285 Ebd. Vgl. ebd., 421 zur »dogmatischen Funktionärselite«.
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»(d)ogmatische … Denken und Reden …« ein »… Paradigma …« sei, wie man beim Predigen denken und reden soll. 286
Zur vierten Phase: Ein Ausblick auf die Kirchliche Dogmatik rundet Pfleiderers Rekonstruktion des Barthschen Denkweges ab: Zu zeigen versucht wurde, daß und inwiefern die applicatio der constructio nicht äußerlich, sondern immanent ist. Die Gotteserkenntnis, die der Glaube sein soll, und die Erkenntnis der Gotteserkenntnis, welche die Theologie Karl Barths sein will, liegen in dieser Theologie auf diffizil zu entwirrende Weise ineinander. Man kann »Barth« entweder nacherzählen oder rekonstruieren; man kann sich dem Zuschauerverbot fügen oder sich ihm entziehen. Letzteres ist hier versucht worden, was wie bei allen ähnlichen Unternehmungen die literarische Inkompatibilität von opulent narrativer Vorlage und abstrakter Rekonstruktion zur Folge hat und darum schon sprachlich wie Spielverderberei wirken mag.287
Dem »Zuschauerverbot« entzieht sich auch Pfleiderers Rekonstruktion der ausgeführten Kirchlichen Dogmatik, die sich in dieser Perspektive als Fortführung der bisherigen Theorieentwicklung darstellt. Dies gilt sowohl im Hinblick auf »die Inversion der Methodologie«288 durch den Versuch, auf den existentiellen Ausgangspunkt der ersten Versuche nunmehr zu verzichten, aber auch im Hinblick auf die »dogmatische Normierung kirchlichen Handelns«289 und die verfolgte »Professionalisierungsabsicht«.290 Und schließlich werde auch die »Funktionalisierung der dogmatischen Gehalte für den Selbstaufbau des Reflexions- als Handlungsagenten […] weiter vorangetrieben. Die Autoritätstheorie, als welche sich die Göttinger Dogmatik präsentierte, wird nun zur Autoritätskompetenztheorie präzisiert.«291 Eine »funktionale Analyse« kann Pfleiderer zufolge jedoch nicht darüber hinwegsehen, dass Barths Bestimmung, die Dogmatik sei Prüfung der jeweils aktuellen Predigt, nicht eingelöst werde, es »findet eine solche Prüfung in der Kirchlichen Dogmatik de facto nicht statt«.292 Vielmehr scheine das Niveau höher einzusetzen: »Die Aufgabe der dogmatischen Theologie auf dem Stand der Kirchlichen Dogmatik« sei »im Sinne ihres Selbstverständnisses die Aufgabe der Prüfung der Prüfung kirchlicher Rede von Gott. Das ihr eigentlich Gegebene sind in ihrem eigenen Sprachsinn gegebene Prüfungen, die sie auf ihre Prüfungskompetenz hin prüft.«293 Die Kirchliche Dogmatik als »Meta-Dogmatik« vermittle auf diesem Wege 286
Ebd., 422. Ebd., 423. 288 Ebd., 424. 289 Ebd., 425. 290 Ebd. 291 Ebd. 292 Ebd. 293 Ebd., 426. 287
Konstruktives Potential der Theologie Barths
403
»Kompetenz-Kompetenz«, sie »professionalisiert das per definitionem Nicht-Professionalisierbare, und das heißt unter modernen Bedingungen: sie professionalisiert das Private, die Individualität, die Religion. Die Kirchliche Dogmatik ist professionalisierte und das heißt öffentliche Religion; sie ist der professionalisierte ›Vorgang Karl Barth‹.«294 Die Stoßrichtung von Barths Dogmatik bleibe der Aufbau eines Handlungssubjekts; sie »vollzieht praktisch und darin exemplarisch den Aufbau des starken Handlungssubjekts der Moderne als selbstdurchsichtiges Handlungssubjekt, als praktischen Reflexionsagenten«.295 Die Interpretation der Kirchlichen Dogmatik wird nur knapp im Blick auf die Erwählungslehre skizziert, deren Ergebnis einen bemerkenswerten Bogen zum Beginn von Pfleiderers Untersuchung schlägt: Zugespitzt ließe sich von daher durchaus behaupten, daß Barths Kirchliche Dogmatik kein anderes Ziel verfolgt als dasjenige, die bei Max Weber als aporetisch beurteilte christliche Antriebsstruktur von Handlungsgewißheit und darin des »starken Agenten der Moderne« gewissermaßen an ihrem motorischen Kernaggregat zu reparieren.296
5. Kultursynthetische Aufgaben der Dogmatik – das konstruktive Potential Barthscher Theologie Abschließend zeigt Pfleiderer konstruktive Perspektiven auf, die sich im Anschluss an die vor dem Hintergrund der Moderne gedeutete Theologie Barths eröffnen. Diese Rezeption ist jedoch an Bedingungen geknüpft: sachkritisch wird vorab gegen die Theologie Barths eingewendet, dass es ihr an expliziter Selbstdurchsichtigkeit mangle. Der Versuch »[r]eligiöskulturelle Praxis […] als theologisches Bewußtsein durchsichtig werden« zu lassen, scheitere daran, dass sich dieses Programm »selbst nur bedingt durchsichtig« sei: Konstruktives Potential der Theologie Barths […] es setzt faktisch das religiöse Bewußtsein voraus, das es nur als theologisches Bewußtsein, nämlich als von ihm selbst erzeugtes theologisches Bewußtsein anzuerkennen bereit ist. An die Stelle der Anerkennung dieser Differenz tritt der Versuch, Theologie insgesamt als deren theoretisch-praktische Aus- und Abarbeitung zu konzipieren.297
294
Ebd. Ebd., 427. 296 Ebd., 436. 297 Ebd., 461. Die neuzeitliche Unterscheidung von Religion und Theologie dürfe darum nicht eingezogen werden: »Die differenzierende Selbstanwendung der Differenz von Theologie und Religion bietet der systematischen Theologie prinzipiell die Möglichkeit, der unhintergehbar individuellen Bestimmtheit theologischer Selbst- und Weltanschauung ansichtig zu werden, sie gelten zu 295
404
Karl Barths praktische Theologie (G. Pfleiderer)
Gleichwohl bleibe festzuhalten, dass sich das religiöse Bewusstsein nur als theologisches seiner selbst vergewissern könne. Eben diese Vergewisserungsaufgabe könne und dürfe nicht »abstrakt« vollzogen werden: »sie muß sich vollziehen als das Entwerfen konkreter theologischer Inkulturationsvorschläge und Inkulturationsangebote, als das Entwerfen von Matrizen gewissermaßen, welche Orientierungs-, nämlich Vorschlagscharakter für das praktisch gelebte protestantische Christenleben haben«.298 Theologie habe »nie nur analytisch-abstrakte, ›szientistische‹«, sondern »gewissermaßen kultursynthetische Aufgaben«, etwa »Anschlußangebote für konkret gelebte, also mit der Gegenwartskultur vermittelte, ›protestantische Identität‹«299 vorzulegen. Hier erscheint die Theologie Barths von unmittelbarer Bedeutung: Von Karl Barth kann eine ihrer kultursynthetischen Aufgaben bewußte systematische Theologie der Gegenwart m.E. vor allem lernen, daß es dabei auf die kreative Erzeugung einer in sich kohärenten Sprachwelt ankommt, die philosophisch-theologische Grundlagenreflexion, Schriftexegese, dogmengeschichtliche Tradition und vor allem kulturelle Gegenwartsorientierung in einen plausiblen integralen Sprachzusammenhang bringt.300
Ein zweiter sachkritischer Einwand schließt sich an diesem Punkt jedoch an. Vor dem Hintergrund größerer »Selbstdurchsichtigkeit« dürfe die Theologie in kultursynthetischer Hinsicht nicht auf »den Aufbau des einen homogenen Megasubjekts der Moderne«301 zielen. Sofern sich systematische Theologie aber »im klaren Licht methodischer Selbstaufklärung« darstellt, lässt sich für Pfleiderer ihr Selbstverständnis als Avantgarde durchaus rechtfertigen:302 Daß moderne systematische Theologie auf solche religiös-kulturelle Anschluß- und Deutungsfähigkeit ebensosehr zielen sollte, wie sie sich zugleich wiederum reflektiert und kritisch zu ihr zu verhalten hat, sollte in der vorliegenden Untersuchung am lassen und die Ausarbeitung ihrer Möglichkeits- und Vollzugsbedingungen als ihren kulturpraktischen Beitrag zur Humanisierung der Moderne reflektiert wahrzunehmen.« (ebd., 465). 298 Ebd. 299 Ebd. 300 Ebd., 462f. 301 Ebd., 463. 302 »Gegen die postmoderne Meinung H. Böhringers, daß Gründungsversuche von Avantgarden selber ein abzuschneidender Zopf der (vermeintlich) hinter uns liegenden Moderne seien, wird zu bedenken sein, daß anders als in ›Netzwerken‹, in ihrer Partikularität bewußten Reflexionsmilieus, die nicht Händchen halten und Stallwärme erzeugen, sondern die christlichen Wurzeln humaner Risiko- und Verantwortungsbereitschaft reflektieren und kulturpraktisch wachhalten wollen, sich das genuin kulturprotestantische Interesse an der Humanisierung des stahlharten Gehäuses, das die Moderne Welt ist, kaum realisieren lassen dürfte. Darum kann sich die wissenschaftliche Theologie gerade nicht nur in ein postmodern beruhigtes, ethisch indifferentes Nirvana reiner ›Wahrnehmung …‹ und ›… Beobachtung‹ zurückziehen.« (ebd., 464).
Konstruktives Potential der Theologie Barths
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Beispiel Karl Barths und seiner Zeit – und (darum auch) gegen diese – herausgearbeitet werden.303
Zu lernen ist daher von der Funktionsweise Barthscher Theologie. Pfleiderers Darstellung entzieht sich aber vollkommen, ob und in welchem Sinne dem von Barth inszenierten bzw. besser durch Gott vorausgesetzten und in der Gestalt der Dogmatik nachvollzogenen »Drama« Realität zukommt. Die historische Kontextualisierung impliziert die Voraussetzung, dass Barths Theologie eine analoge Erscheinung zu den vergleichend hinzugezogenen Theorieentwürfen der Zeitgeschichte darstellt, und dass die von ihr selbst gesuchte Einbettung in die Gedankenbewegung christlicher Theologie (insbesondere der biblisch-reformatorischen Wirkungszusammenhänge) eine sekundäre und letztlich funktional zu erklärende Entscheidung Barths sei. Die Krise der Moderne ist das erste, der theologische Bewältigungsversuch dem nachgeordnet das zweite. Die historische Relativierung und Distanzierung ermöglicht es Pfleiderer freilich zugleich, sich dem der Barthschen Theologie inhärenten Widerspruch zu entziehen, dass ein solches Verfahren von der Zuschauerperspektive gegenüber einer diese Zuschauerperspektive nicht zulassenden Theologie zehrt – gerechtfertigt darin, dass es die Strategie dieser Abgrenzung enttarnt und das eigentlich darin verfolgte Interesse Barths zu Tage fördert.304
6. Ertrag Pfleiderers Barthdeutung stellt im Blick auf den Umfang der Studie und die Präzision ihrer Ausarbeitung den vorläufigen Höhepunkt der Linie »neuzeittheoretischer Barthdeutungen« dar. In ihr werden entscheidende Elemente der vorangegangenen Deutungen Rendtorffs, Wagners und Grafs aufgenommen und in einem ebenso anspruchsvollen wie detaillierten neuen Entwurf vereinigt. Wird von Rendtorff insbesondere die Strukturbeschreibung Barthscher Theologie, deren Ziel die Subjektivität des Menschen sei, aufgegriffen, so verdankt Pfleiderer Wagner den Ansatz einer handlungstheoretischen Rekonstruktion der Theologie Barths und weiterer zeitgenös303
Ebd., 465. Man vgl. hier die kritische Bezugnahme auf die Barthinterpretation von Pietz (ebd., 43 Anm. 69): »Pietz hat den Zusammenhang von ›dramatischer Denkform‹ und Theater […] erkannt und damit auch denjenigen mit der Polemik Barths gegen die ›»Zuschauertheologie«‹ […]. Ihm entgeht ferner auch nicht die besondere Bedeutung, welche der Erwählungslehre im ›Bundesdrama‹ […] zukommt. Freilich nimmt Pietz alle diese Zusammenhänge aus der dogmatischen Innenperspektive wahr: der Regisseur der dramatischen Inszenierung ist nicht der Theologe Karl Barth, sondern Gott. Der Theologe ist der Zuschauer; und es ist dieser Zuschauer, dem man beim (allerdings eben doch sehr aktiven!) Zuschauen offenbar nicht zuschauen darf.« 304
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sischer Theoriekonzepte. Es fällt jedoch auf, dass Pfleiderer die »idealistischen« Züge und den entsprechenden systematischen Anspruch dieser Barthdeutungen nicht teilt. Hier erweist sich die größte Nähe zum Programm der Historisierung bei Graf. Von Graf stammt schließlich neben der theologiegeschichtlichen Darstellung der »antihistoristischen Bewegung« der entscheidende Impuls, dass die Grundstruktur Barthscher Theologie als Elitetheorie adäquat zu beschreiben sei. Der Versuch, den Nachweis einer solchen Struktur aus der Innenperspektive Barthscher Theologie zu liefern, wird durch die – in der neueren Forschung u.a. von Spieckermann, Korsch und Lohmann aufgezeigten – Einflüsse des Marburger Neukantianismus inspiriert. Pfleiderer bemüht sich um den minutiösen Nachweis, dass Barths Theologie an den entscheidenden Schaltstellen durchaus als kontinuierliche Fortentwicklung an einem Theoriemodell zu verstehen ist, welches er in seiner frühen liberal-theologischen Phase – in der Auseinandersetzung zwischen Herrmann und Troeltsch und beeinflusst durch seine philosophischen Lehrer in Marburg – zu entfalten beginnt. Diese »Leiter«, die Barth auf dem Weg zur »dialektischen Theologie« besteigt, führt mit zunehmender Höhe zwar in den Nebel neuer semantischer Darstellungsformen, sie bleibt aber darin verborgen identisch und wird keineswegs »umgestoßen«. Entsprechend ist auf der Ebene »dogmatischer« Sprache das eigentliche Interesse Barths eher verborgen, wenngleich sie sich in Pfleiderers Deutung in ihrer funktionalen Verwendung erhellen lässt: Ertrag Nun billigt auch die vorliegende Untersuchung materialdogmatischen Topoi eine illustrative Bedeutung für die jeweilige Orientierung der Barthschen Theologie in ihren unterschiedlichen Phasen zu. Man kann, wie ich meine, die Entwicklung der Barthschen Theologie von ihren Anfängen bis zur Kirchlichen Dogmatik durchaus unter die Ägide materialdogmatischer Loci stellen. Diese Entwicklung wird in der vorliegenden Untersuchung als Entwicklung von der Providenz- über die Erwählungs- zur Trinitätslehre beschrieben werden. Aber mit diesen Beschreibungen sind nur Signale bezeichnet; die Gründe für die jeweilige Dominanz eines bestimmten materialdogmatischen Topos, die bestimmte Art ihrer Funktionalisierung, sind damit noch nicht geklärt.305
Pfleiderer stellt sich im Vergleich zu den vorangegangenen Deutungen – insbesondere zu Rendtorff und Wagner – erheblich größeren Herausforderungen, insofern jene auf den ›Begriff‹ des Beitrags zielten, den Barth in der neuzeitlichen Geistesgeschichte geleistet hat. Barths Selbstverständnis war hier vor dem Hintergrund der verfolgten genuin systematischen Interessen – die Theoriegeschichte hatte ihn ja faktisch bereits überholt – zu vernachlässigen. Die Tragfähigkeit von Pfleiderers Theorie beruht demgegenüber wesentlich darauf, dass sich die rekonstruierte (neukantianische) Theoriegestalt als 305
Ebd., 164.
Ertrag
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Barths eigentliches Interesse, das insofern seiner Selbstwahrnehmung nicht entgegenlaufen darf, herausstellen lässt. Gerade an diesem Punkt zeigt sich jedoch die Achillesverse des Rekonstruktionsversuchs. Pfleiderers Deutung lässt sich nur schwerlich mit dem in Einklang bringen, was die Briefwechsel zwischen Barth und Thurneysen hinsichtlich der Entwicklung ihres theologischen Denkens erkennen lassen. Als Beispiel sei die – gegenüber der Beschäftigung mit dem Neukantianismus – dominierende Auseinandersetzung mit Blumhardt und Kutter erwähnt. Lässt sich plausibel annehmen, dass Barth die Methodeninversion bis hinein in den geschützten Raum der privaten Korrespondenz fortführte? In der Entstehungsphase des ersten Römerbriefkommentars bedürfen neben dem Hinweis auf die »Kant- und Fichterepetition« Barths Entdeckung Johann Tobias Becks und seine Beschäftigung mit den Kollegheften seines Vaters und den Kommentaren der Reformatoren der sinnvollen Erklärung, zumal Barth selbst sein Verfahren durchaus als Exegese verstanden wissen wollte – und nicht als Eisegese, wie Pfleiderer annimmt. Wie lassen sich Äußerungen, wie jene vom 27. Juli 1916 in Pfleiderers Deutung erklären? Fundgrube entdeckt: J.T. Beck!! Als Bibelerklärer einfach turmhoch über der übrigen Gesellschaft, auch über Schlatter, und auch in seinen systematischen Wegen für uns z.T. ohne Weiteres wieder zugänglich und vorbildlich. Ich bin ihm durch den Römerbrief auf die Spur gekommen und will ihm da nachgehen im Zusammenhang mit den Andern von Calvin bis Tholuck bis auf Kutters »Gerechtigkeit«, eine ganze Wolke von Zeugen! […] Auch den verschiedenen Kantischen Tafeln gehe ich weiter nach, wenn auch mit weniger Freude und Ausbeute, mehr aus Pflichtgefühl!!306
Die konsequente Deutung eines jeglichen »objektiven« bzw. »realistischen« Elements Barthscher Theologie als funktional auf die neukantianische Theorieebene vollzogen, erhellt vor dem Hintergrund des auch von Pfleiderer geteilten – durch Historismus und neuzeitliche Subjektivität – bestimmten Neuzeitverständnisses. Bemerkenswert ist weiterhin, dass Pfleiderer in seiner Rekonstruktion die expliziten Auseinandersetzungen Barths mit der »liberalen Theologie«, also damit auch mit seiner eigenen Herkunft, ebenso ausblendet307 wie die Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus in Fides quaerens intellectum, die den »Glauben« als Voraussetzung der Theologie versteht, das Gebet als deren Rahmen. Lässt sich Barths schroffe Frontstellung damit vermitteln, dass er implizit genau jene Problembestände der liberalen Theologie aufheben wollte? Lässt sich überdies die Kritik der liberalen Theologen vor die306
Briefwechsel Barth-Thurneysen I, 148f. Dies gilt insbesondere im Blick auf die Auseinandersetzung mit Adolf von Harnack, die Göttinger Schleiermacher-Vorlesung wie Barths Vortrag Die dogmatische Prinzipienlehre Wilhelm Herrmanns. 307
408
Karl Barths praktische Theologie (G. Pfleiderer)
sem Hintergrund erklären? Hindert die durchzuhaltende Inversion Barth daran, auf der Ebene der eigentlichen Theorie eine Verständigung zu erzielen? Dessen unbeschadet sind die Beobachtungen Pfleiderers zur semantischen Gestalt und »Strategie« Barthscher Theologie in weiten Teilen ebenso innovativ wie erhellend. An dieser Stelle dürfte ohne Frage der bleibende unbestrittene Wert seiner Untersuchung liegen. Dass sich entsprechende Beobachtungen anstellen lassen, liegt schon vor dem Hintergrund der Barthschen Feststellung nahe, die Theologie spreche in »kerygmatischer Eindringlichkeit«.308 Inwiefern sich Pfleiderers Barthdeutung künftig als tragfähig erweisen wird, hängt abschließend vor allem davon ab, inwiefern sich die neukantianische Theorieebene in der Tat als angemessener Schlüssel zum Verständnis seines Denkens erweist. Dass es für Pfleiderer bereits aufgrund seines durch die früheren Barthdeutungen vermittelten Neuzeitverständnisses naheliegt, dass gerade hier der Kern Barthscher Theologie als modernitätsfähiger zu finden ist, dürfte im Horizont der vorangegangenen Untersuchungen einleuchten. Zu dieser meines Erachtens noch offenen Frage, kann hier kein eigenständiger Forschungsbeitrag geliefert werden. Dass auch für Pfleiderer diese Frage noch nicht abschließend beantwortet ist, zeigt sich wohl daran, dass er jüngst im Anschluss an Michael Moxter den Einfluss Cassirers hervorhob.309 Die Kernfrage, die sich im Blick auf Pfleiderers, aber auch auf die vorangegangenen Barthdeutungen stellt, lässt sich dahin zuspitzen, ob Barths Theologie sich lediglich neuzeittheoretisch rekonstruieren lässt, oder ob sie im Kern – im entsprechenden Sinne – neuzeittheoretisch entworfen wurde.310
308
BARTH, Philosophie und Theologie, 94. PFLEIDERER, Inkulturationsdialektik, 242f. 310 Diese Unterscheidung wäre auch im Hinblick auf Pfleiderers Klassifizierung beinahe aller gegenwärtig vertretener Barthdeutungen als »neuzeittheoretisch« vorzunehmen – vgl. dazu PFLEIDERER, Inkulturationsdialektik, 235–237. 309
Teil 6: Schluss
1. Ergebnisse der Untersuchung Als Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist festzuhalten, dass den Barthdeutungen Trutz Rendtorffs, Falk Wagners und Friedrich Wilhelm Grafs, sowie daran anschließend den Studien Dietrich Korschs und Georg Pfleiderers jeweils eigenständige Paradigmen dessen, was Theologie unter neuzeitlichen Bedingungen sei, zugrunde liegen. Insbesondere hinsichtlich der drei erstgenannten Autoren ist dieses Ergebnis insofern bemerkenswert, als die so genannte »Münchner Barthdeutung«1 aus der Außenperspektive häufig als homogene Erscheinung wahrgenommen wurde. Gerade das vorausgesetzte Verständnis neuzeitlicher Theologie – etwa als Theorie des Christentums oder Theorie des Absoluten bei Rendtorff und Wagner – führt jedoch im Blick auf die Deutung der Theologie Barths zu erheblichen Differenzen. Entscheidend ist hier insbesondere die zugrunde gelegte Problemmatrix neuzeitlicher Theologie, d.h. die Bestimmung derjenigen Herausforderungen, denen sich die Theologie unausweichlich zu stellen hat. Darüber, dass Barth die neuzeitliche Subjektivitätsproblematik aufnimmt, herrscht zwar weitestgehende Einigkeit, jedoch bleibt umstritten, ob er damit die Begründungsproblematik des Selbstbewusstseins auf Hegelschem Niveau zu lösen intendiert oder aber das Subjektivitätsproblem im Horizont der »Krise des Historismus« aufgreift und damit keinen »harten« Letztbegründungsanspruch verfolgt. In theologiegeschichtlicher Hinsicht bleibt insbesondere festzuhalten, dass die Einflüsse philosophischer Theoriekonzepte (J. Ritter/W. Cramer) von entscheidender Bedeutung für das von Rendtorff und Wagner verfolgte konstruktive Anliegen sind, dass vor diesem Hintergrund die Barthdeutung mit der Entfaltung der Theorie des Christentums oder Theorie des Absoluten untrennbar verbunden und nur in diesem Kontext eingebettet adäquat zu verstehen ist. Die Beiträge in dem Band Die Realisierung der Freiheit sind damit offenbar vor allem in der kritischen Pointe gegen die vorangegangene »etablierte« Barthdeutung verbunden, der die – recht unterschiedlich bestimmte – Aufgabe der Rekonstruktion der Theologie Barths entgegengesetzt wird. 1 Zum Begriff vgl. etwa KLAPPERT, Versöhnung und Befreiung, 338. Die »Münchener-BarthDeutung« umfasst hier »primär F. Wagner und F.W. Graf« und wird von einer »Berliner BarthDeutung« unterschieden.
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Schluss
Die Untersuchungen Friedrich Wilhelm Grafs verfolgen demgegenüber einen eigenständigen Schwerpunkt, der als konsequente »Historisierung« der Theologie Barths bezeichnet werden kann. Graf knüpft insbesondere an die diagnostischen Potentiale des Troeltschen Werkes sowie neuere geschichtswissenschaftliche Diskurse an, um die Genese der dialektischen Theologie und ihre Wirkung im politischen und kulturellen Kontext zu ermessen. Als Vergleichspunkt einer kritischen Beurteilung dient Graf der Hinweis auf die Leistungsfähigkeit der liberal-theologischen Entwürfe, die sich für ihn aufgrund ihrer Zeitgemäßheit der »dialektischen Theologie« gegenüber als überlegen erweisen. Indes wird das bei Rendtorff und Wagner herausgestellte Anliegen konstruktiver systematischer Überbietung, d.h. der »Aufhebung« dialektischer Theologie von Graf nicht verfolgt. Da sich Grafs Barthdeutung vor diesem Hintergrund historiographisch ausweisen muss, bleibt es problematisch, dass der Versuch einer Rekonstruktion der Theologie Barths aus einer Innenperspektive nicht unternommen wurde. Dietrich Korsch tritt in ein kritisches Gespräch mit den Barthdeutungen Rendtorffs, Wagners und Grafs ein und sucht die Fortführung »dialektischer Theologie nach Karl Barth« vor dem Hintergrund eines religionsphilosophischen Koordinatensystems neuzeitlicher Theologie, welches in der Zuordnung von »Barth« und »Schleiermacher« Beziehungen und markante Abweichungen insbesondere zum Denken Falk Wagners aufweist. Beide Ansätze sind nach Korsch komplementär, insofern sie – antinomisch aufeinander bezogen – dem Wesen des christlichen Glaubens entsprechen. Korschs Untersuchungen lassen sich als Vermittlungsversuch verstehen, welcher das erreichte Problemniveau der »neuzeittheoretischen Barthdeutungen«, etwa die Frage der Historisierung und die grundlegenden Einsichten neuzeitlicher Subjektivitätstheorie, nicht zu unterlaufen sucht, Barths Anliegen jedoch schärfer zur Geltung zu bringen intendiert, als dies von Rendtorff, Wagner und Graf geleistet wurde. Dieses Projekt ist noch nicht abgeschlossen,2 es stellt in der Gegenwart jedoch einen der Versuche dar, Barths Theologie produktiv aufzunehmen. Schließlich wurde mit Georg Pfleiderers Untersuchung Karl Barths praktische Theologie exemplarisch ein Entwurf der jüngsten Barthdeutung herangezogen, der sich als originelle Aufnahme unterschiedlicher Elemente der vorangegangenen Deutungen erwies. Entscheidende Fragen, die die gegenwärtige »exegetisch« vorgehende Barthdeutung bewegen, traten hier hervor, insbesondere nach der Bedeutung des Marburger Neukantianismus. Pfleiderers Untersuchung stellt den Versuch dar, das Hauptproblem der Barthdeutungen Rendtorffs, Wagners und Grafs, dass sie sich nämlich an einer Innenperspektive Barthscher Theologie nicht auswiesen bzw. bewähr2
Vgl. dazu jüngst KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube.
Ergebnisse
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ten, zu lösen. Ob Pfleiderer dieser Erweis gelungen ist, wird abschließend nur durch eine Verbreiterung der Quellenbasis entschieden werden können. Dass jedoch eine entsprechende Gewichtung der philosophischen Einflüsse auf Barths Denken vor dem Hintergrund der systematischen Interessen der Deutungen Rendtorffs, Wagners und Grafs zumindest nahe liegt, zeigt sich im Blick auf die vorangegangenen Untersuchungen. Pointiert steht die gegenwärtige Barthdeutung hier vor der Aufgabe, zu diskutieren, inwiefern Barths Theologie faktisch neuzeittheoretisch intendiert war, oder ob sie sich – auch dies mit unbestrittenem Erkenntnisgewinn – ›nur‹ neuzeittheoretisch rekonstruieren lässt. Ergebnisse Die wichtigsten Grundmerkmale der untersuchten Barthdeutungen sollen im Folgenden nochmals festgehalten werden: 1. Alle untersuchten Barthdeutungen zeigten sich bemüht, Barths Theologie kritisch von deren Wirkungsgeschichte im kirchlichen und wissenschaftlich-theologischen Kontext abzusetzen. Der so genannte Barthianismus ist ein Missverständnis,3 da das eigentliche Profil der Barthschen Theologie hier nicht erkannt wird. Damit verbunden wird die augenscheinlich konstitutive »Kirchlichkeit« der Barthschen Theologie mit dem Hinweis darauf in Frage gestellt, dass eine solche Bindung an eine partikulare Institution kaum in der Konsequenz des Barthschen Denkens liegen könne. Georg Pfleiderer kommt zudem mit Trutz Rendtorff darin überein, dass Barth diejenige Kirche allererst theologisch konstituiere, die er sodann als Voraussetzung der Theologie gelten lassen könne – die faktische Kirche sei also nicht im Blick. 2. Desweiteren stimmen die unterschiedlichen Deutungen darin überein, dass für Barth keineswegs an die Stelle der Auseinandersetzung mit den Problembeständen der »liberalen Theologie« die Orientierung an einer ursprünglichen, biblischen oder reformatorischen »Sache« getreten sei. Karl Barth als Theologe der Neuzeit breche nicht mit seiner eigenen liberaltheologischen Herkunft, sondern transformiere diese – vor dem Hintergrund genuin neuzeitlicher Herausforderungen – zwar radikal bzw. innovativ, jedoch beanspruche er gerade darin die »bessere« Lösung der Probleme, die die Generation seiner Lehrer bewegten. Vor diesem Hintergrund ist Barth freilich auch kritisch zu beurteilen, insofern er sich nunmehr an den Entwürfen liberaler Theologie (vor und nach Barth) messen lassen muss. 3. Als die zentralen Kennzeichen neuzeitlicher Theologie, die auch von Barth reflexiv verarbeitet werden, können in den untersuchten Deutungen die Einsichten der philosophischen Subjektivitätstheorie sowie die Heraus3 Auszunehmen von diesem Urteil ist allein Falk Wagners späte Barthkritik, die allerdings gerade unter dem Eindruck des verkirchlichten, modernitätstheoretischen Einsichten gegenüber renitenten »Barthianismus« vorgetragen wird.
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forderung des Historismus genannt werden. Deren Evidenz lässt es undenkbar scheinen, dass Theologie auf neuzeitlichem Niveau keinen konstitutiven Bezug auf diese Probleme nehmen könnte, und dass im Bezug auf diese Probleme nicht die eigentliche Begründung theologischen Denkens zu ermitteln sei. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Glaubensbegriff von Rendtorff, Wagner, Graf und Pfleiderer nicht verwendet wird, d.h. schon der Sache nach keinen positiven Ausgangspunkt des Barthschen Denkens bildet.4 4. Die untersuchten Barthdeutungen zeichnen sich durchgehend durch einen spezifischen Umgang mit dem Problem der »Dogmatik« als Explikationsform Barthscher Theologie aus. Die materialen Gehalte und Vorstellungen sind funktional zu interpretieren. Für ein Verständnis der Theologie Barths ist es entscheidend, die Konstruktionsprinzipien zu ermitteln, die seine kritische Revision der klassischen Theologoumena ermöglichen. Solche Konstruktionsprinzipien sind in höchstem Maße abstrakt verfasst und auf der Ebene von Subjektivitäts- bzw. Neuzeittheorie angesiedelt. Als eigentliche Prolegomena Barths ist die Aufstellung solcher Prinzipien als bewusste Entscheidung vorauszusetzen, d.h. es gibt – im Sinne der Gogartenschen Barthkritik – eine unausgeführte religionsphilosophische Ebene der Theologie Barths, die materialdogmatisch und in biblischer Gedankenwelt ›verkleidet‹ wird. Barths Kirchliche Dogmatik ist gewissermaßen Christentumstheorie, Absolutheitstheorie oder Antihistorismus im »RetroLook«, als »Modeerscheinung« der 20er und 30er Jahre damit freilich alsbald überholt. Es ist kaum zufällig, dass mit Ausnahme Korschs5 keiner der herangezogenen Barthinterpreten selbst mit dem »Projekt« der Dogmatik befasst ist, d.h. neuzeitliche Theologie scheint hier ohne Rekurs auf materiale dogmatische Gehalte entfaltet werden zu können. 5. Als Folgeerscheinung der rekonstruierten eigentlichen Theorieebene Barths, welche die theologische »Objektivität« nur als funktional verwendete Darstellungsform verständlich werden lässt, werden die theologiegeschichtlichen Einflüsse auf Barths Denken in spezifischer Weise gewichtet. Die von Barth an verschiedenen Orten benannten Traditionslinien theologiegeschichtlicher Außenseiter werden als Selbststilisierung gedeutet. Die entscheidenden Einflüsse auf Barths Denken entstammen der deutschen Universitätstheologie der ausgehenden Kaiserzeit, hingegen findet der Schweizer Kontext, besonders die Einflüsse Hermann Kutters6 und Leon4
Dies verweist auf eine weitere zentrale neuzeitliche Voraussetzung: die Unterscheidung von Religion und Theologie. 5 S. KORSCH, Dogmatik im Grundriß. Hier ist jedoch die religionsphilosophische Selbstreflexivität der Dogmatik als Deutung konstitutiv in die Entfaltung der Gehalte eingegangen. 6 Vgl. dazu BARTH, Gespräche 1964–1968, 149: »Wenn ich Kutter etwas verdanke, so könnte ich es einfach dahin zusammenfassen: Ich habe bei ihm gelernt, das Wort ›Gott‹ in einem ernsthaf-
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hard Ragaz’, ebenso wenig Beachtung, wie die prägende Begegnung mit Christoph Blumhardt oder die Inspirationen, die Barth aus der positiven Theologie Johann Tobias Becks empfing. Es handelt sich dabei durchweg um Traditionslinien, die auf die Spur eines »realistischen« bzw. »objektiven« Moments in der Theologie Barths führten, die zudem die konstitutive Bemühung, seine Theologie an der biblischen Überlieferung auszuweisen, erklären könnten. 6. Die Quellenbasis, auf die die unterschiedlichen Deutungen bezug nehmen, umfasst insbesondere die frühen programmatischen Vorträge Barths,7 die beiden Römerbriefkommentare, sowie schließlich die – jeweils zu dem entsprechenden Zeitpunkt edierten – Dogmatikentwürfe. Georg Pfleiderer legt in diesem Zusammenhang den ersten Entwurf vor, der konstitutiv darüber hinaus Predigten – vor dem Hintergrund des von ihm rekonstruierten Theologieverständnisses Barths – mit einbezieht. Auffällig ist allerdings, dass Barths Schriften mit exegetischem Anspruch nicht in die Deutung einbezogen werden,8 sowie weiterhin, dass die biographischen Dokumente, Briefwechsel und Gesprächsprotokolle nicht umfassend berücksichtigt werden. Schließlich werden nicht zuletzt diejenigen Schriften, in denen Barth sich explizit mit der Neuzeit und deren Theologiegeschichte auseinandersetzt – hier sind insbesondere die Schleiermacher-Vorlesung (nur im Blick auf die neueren Deutungen), die Geschichte der protestantischen Theologie und Fides quaerens intellectum zu nennen –, nur am Rande behandelt. 7. Die »dialektische Theologie« wird – sofern über Barth hinaus noch weitere Vertreter im Blick sind, handelt es sich um Gogarten und Bultmann9 – als im Kern ihres Anliegens und in der Pointe der »liberalen Theologie« gegenüber homogene Gruppe wahrgenommen. Insbesondere das Denken Gogartens kann auf diesem Wege den Einfluss spezifisch neuzeitlicher Fragestellungen (Geschichte und Subjektivität) innerhalb der dialektischen Theologie zeigen und diesen damit auch im Blick auf die Theologie Barths nahelegen, d.h. schließlich auf die Spur hintergründiger philosophischer Einflüsse führen. Darüber hinaus scheint Gogartens intensive Auseinandersetzung mit Troeltsch die Einschätzung einiger der hier behandelten Barthinterpreten zu bestätigen, dass Troeltsch die Probleme der gesamten ten Sinn auszusprechen: daß man, wenn man Gott sagt, nicht irgendwie sagt: erhöhte Menschlichkeit, sondern daß man dann von einem Anderen redet, der uns begegnet.« Insbesondere wird sich diese Beziehung im Blick auf KUTTER, Wir Pfarrer, und D ERS., Sie müssen, zeigen lassen. 7 Insbesondere diejenigen, die sich in der Sammlung MOLTMANN, Anfänge der dialektischen Theologie. 2 Bde., finden. 8 Die Römerbriefkommentare werden durchgehend als Kommentare zur »geistigen Lage der Zeit« und geschichtsphilosophische Entwürfe verstanden. 9 Thurneysen als kontinuierlicher Gesprächspartner Barths bleibt fast gänzlich unberücksichtigt.
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»liberalen Theologie« – und damit die grundsätzlichen Herausforderungen neuzeitlicher Theologie – in besonderer Klarheit bestimmt habe. 8. Schließlich bleibt festzuhalten, dass die Auseinandersetzung mit der Theologie Barths bei keinem der genannten Autoren allein um der Klärung theologiegeschichtlicher Fragen willen stattfindet. Sie ist unlösbar mit dem Bemühen um ein Theologieverständnis verknüpft, das den Herausforderungen des neuzeitlichen Christentums gerecht wird. Deswegen spiegeln sich in den unterschiedlichen Weichenstellungen der Barthdeutung zentrale Fragen, die gegenwärtig die deutschsprachige10 systematische Theologie bewegen.
2. Konsequenzen: Die Aufgabe fundamentaltheologischer Reflexion als Prolegomenon der Barthdeutung Die Problematik, vor die eine Deutung der Theologie Barths unausweichlich gestellt ist, lässt sich mit einem längeren Zitat aus einem Brief Barths an Theodor Siegfried vom 6. März 1930 beleuchten: Es ist an der Zeit, dass ich Ihnen für Ihren Brief und für Ihr mir freundlich überreichtes Buch »Das Wort und die Existenz« Dank sage. Ich kann dem Worte »Dank« in diesem Falle doch nur einen wenig qualifizierten Sinn beilegen. […] Ich brachte es offen gestanden nicht fertig, es ganz zu lesen. Denn um mich für eine mich betreffende Polemik zu interessieren, habe ich nötig, zu wissen, von woher man zu mir redet und was man eigentlich von mir will. Beides bleibt mir in Ihrem Buche unerquicklich dunkel. Stünden Sie mit mir an der theologischen Arbeit, dann konnten Sie (und warum sollte das nicht angebracht sein?) meinen Weg zu dem gemeinsamen Ziel kritisieren und ihm gegenüber einen bessern Weg aufzeigen. Unmöglich konnten Sie sich dann aber stellen, als ob Sie von diesem Ziel überhaupt nichts wüssten und unmöglich konnten Sie mich dann, wie Sie es getan haben, 300 Seiten lang als einen entsprungenen Irrenhäusler hinstellen, weil ich es nun einmal mit jenem Ziel zu tun habe.
Die von Siegfried vorgelegte Interpretation und Kritik führt Barth schließlich zu folgendem Urteil: Konsequenzen […] ich komme mir unter Ihren Händen vor wie einer, der, erklärterweise unterwegs nach Moskau, anhand unzähliger zweifellos richtiger Nachweise darüber belehrt würde, dass dies der gute Weg nach Paris nimmermehr sein könnte.11
10 Es dürfte kaum überraschen, dass sich eine Entsprechung zu den hier untersuchten Rekonstruktionen der Theologie Barths, die diese vor dem weiten Horizont der neuzeitlichen durch Aufklärung, Idealismus und deren Verarbeitung in der liberalen Theologie geprägten Geistesgeschichte interpretieren, zumindest im angelsächsischen Bereich nicht findet. 11 Barth an Siegfried, 6.3.1930 (Original im KBA).
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Das grundlegende Dilemma, vor das jeder Versuch einer Deutung der Theologie Karl Barths gestellt ist, liegt im Wesen des Barthschen Theologiebegriffs selbst. Dieser Theologiebegriff lässt Barths Verständnis zufolge keine Beobachterperspektive zu, er basiert demnach auf Voraussetzungen, die sich nicht auf ein »neutrales« Erörterungsfeld übertragen und dort diskutieren lassen. Vielmehr, so ist es Barths Überzeugung, zehrt jede Beobachterperspektive von Voraussetzungen, die ein wirkliches Verstehen seiner Theologie systematisch ausschließen. Theologische Arbeit vollzieht sich für Barth als Nachdenken der biblischen Überlieferung und damit des Weges Gottes zu den Menschen. Die gegenwärtig zu leistende theologische Arbeit wäre dann keineswegs das Nachdenken dessen, was Barth dachte, sondern das Mitdenken in sachlicher Verbundenheit, d.h. in der gemeinsamen Ausrichtung auf die biblische Überlieferung, an der die Theologie Barths dann auch kritisch zu messen wäre. Das Grundproblem einer Barthdeutung besteht vor diesem Hintergrund darin, dass es keine theologiegeschichtliche Darstellung geben kann, die sich nicht immer schon dem Anspruch des gehaltvollen Theologiebegriffs Barth stellt oder entzieht. Es ist keine neutrale Darstellung der etwa in Fides quaerens intellectum ausgeführten »Prolegomena« als Voraussetzung der Kirchlichen Dogmatik möglich. Wenn Barth – zumindest seiner Bestimmung zufolge – die Prolegomena in die (reale) Begegnung des Menschen als Gott gegenüber verschlossenen Sünders mit dem frei machenden Wort Gottes verlagert – eigentliches ProLegomenon ist daher das ›Wort Gottes‹ –, das Gebet und die vorherige Ansprache durch kirchliche bzw. biblische Predigt (Bekenntnis) als Grundakt der Dogmatik bezeichnet, an deren Ende der Mensch seiner durchaus »neuzeitlichen« Situation im Gegenüber des begegnenden Gottes gewisser als seiner selbst ist,12 so kann eine Studie, deren Ziel eine Auskunft über die Genese der Barthschen Theologie ist, nicht ohne Stellungnahme dazu bleiben, ob solche Begründung von Dogmatik überhaupt denkbar ist. Dass diesbezüglich implizit eine Entscheidung immer schon gefallen ist, zeigten die vorangegangenen Untersuchungen. Als Beispiel kann an dieser Stelle auf Barths Rekurs auf die »Bibel« verwiesen werden. Barths Selbstverständnis zufolge ist die Beschäftigung mit der biblischen Überlieferung zentral für die Entwicklung seines theologischen Denkens gewesen. Richard E. Burnett stellt diese Bedeutung heraus: 12 Zur Formulierung vgl. BARTH, Die Theologie und der moderne Mensch, 171: Gegenüber dem cartesischen Wissenschaftsverständnis und dem katholischen Missverständnis kann Barth über den Theologen im Angesicht des Wortes Gottes beides, eine souveräne Unabhängigkeit und eine radikale ungesicherte Offenheit, feststellen: »[…] kein Nachweis steht ihm zu Gebot, mittelst dessen er es sich selbst oder anderen vorrechnen könnte, daß er wirklich mit Gottes Wort rechnet. Er kann dessen nur gewiß sein, notabene – den Katholiken ein Ärgernis und den Cartesianern eine Torheit [vgl. 1Kor 1,23] – gewisser als seiner selbst.«
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[…] no theologian since John Calvin has been more committed to biblical exegesis than Karl Barth. There are over fifteen thousand biblical references throughout the Church Dogmatics and more than two thousand examples of detailed exegesis of biblical passages. In addition to his other books, commentaries, articles, sermons and publications, there is still a great deal of unpublished materials that demonstrate the seriousness of Barth’s commitment to biblical exegesis.13
Die Kritik Gogartens, dass Barths philosophische Theorie »biblisch verkleidet« werde, lässt die Frage nach der Bedeutung von Barths biblischem Rekurs bereits innerhalb der »dialektischen Theologie« aufbrechen. Den Anspruch der dialektischen Theologen, dass ihr theologisches Denken in der Exegese der biblischen Schriften grundgelegt sei – was Gogarten gegen Barth für seine Theologie reklamierte –, haben »neuprotestantische« Kritiker wie Adolf Jülicher bereits in der Frühzeit bestritten: Für Paulus gewinnen wird er [sc. Barth] durch sein Werk nur Seelen, die er vorher für sich gewonnen hat. […] Der Barthsche Paulinismus ist ein Merkzeichen auf dem Weg der Kirchengeschichte, der Wert dieser Erörterungen durchaus kirchengeschichtlich […]. Viel, möglicherweise sehr viel wird man einst aus diesem Buch für das Verständnis unsrer Zeit gewinnen, für das Verständnis des »geschichtlichen« Paulus kaum irgend etwas Neues.14
Eisegese und nicht Exegese, so scheint es, ist das Kennzeichen der Theologie Barths. In den hier untersuchten Deutungen indes wird seine Exegese nicht vor dem Hintergrund besserer exegetischer Einsicht kritisiert – Barths Rekurs auf die Bibel wird vielmehr ganz auf der Linie der Kritik Gogartens als Verkleidung für nachrangig erklärt und spielt für die Deutung seiner Theologie keine Rolle. Dies zeigte sich im Blick auf die Barthdeutungen Trutz Rendtorffs, Falk Wagners, Friedrich Wilhelm Grafs und Georg Pfleiderers. Jeder dieser Interpreten setzt zwar eigenständige Schwerpunkte, jedoch teilen sie die Voraussetzung, dass in der konstruktiven Entfaltung ihres eigenen theologischen Ansatzes der Rekurs auf die Bibel keine entscheidende Rolle hat. Für die theologiegeschichtliche Entfaltung muss dieser Sachverhalt weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. 13
BURNETT, Karl Barth’s Theological Exegesis, 9. Burnett hebt die Brisanz, die in einer grundsätzlichen Infragestellung der exegetischen Grundlegung der Theologie Barths liegt, hervor: »If Barth’s exegesis was essentially a ›virtuoso performance,‹ something having more to do with his own creativity and genius than with what Scripture actually says, then his theology – on the basis of its own presuppositions and standards – will not stand. Barth insisted throughout his career that his move had been first to the Bible then to dogma, but if this first move began with exegesis which was essentially ill-founded or merely the product of his own idiosyncratic insights, then his entire theology – again by ist own presuppositions and standards – can hardly be judged as anything else but a ›false start.‹« (ebd., 10). 14 JÜLICHER, Ein moderner Paulusausleger, 97.
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Die Konturen des jeweils eigenen theologischen Ansatzes, sowie die Konsequenzen für die Barthdeutungen seien hier nochmals knapp in Erinnerung gerufen. So ist die Rolle, die der historischen Bibelwissenschaft von Trutz Rendtorff im Rahmen seiner Studien zur »Theorie des Christentums« zugewiesen wird, dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht in ihren Ergebnissen, sondern in ihrem Verfahren selbst theologisch relevant ist. Sie ist als Emanzipation dem Geltungsanspruch der Überlieferung gegenüber legitimer Ausdruck christlicher Freiheit, und damit freilich in einem tieferen Sinne der Erbe jener paulinisch-reformatorischen Freiheit eines Christenmenschen, wie sie sich dem idealistischen Bild der Geistesgeschichte erschließt. Die Bibel ist damit aber nicht als Gegenüber der Theologie, als Medium des verbum dei, von Bedeutung, sondern in ihrer sublimen Wirkung innerhalb der neuzeitlichen Geistesgeschichte. Insofern es sich bei Barths Ansatz in der Perspektive Rendtorffs um »Theologie auf der Höhe der Zeit« (Ch. Link) handelt, und damit um Theologie auf der Höhe des Problembewusstseins des »Historismus«, kann Barth ein derartiger Denkfehler kaum unterstellt werden, der genau dann entstünde, wenn vormoderne Überlieferungsbestände mit dem Anspruch unmittelbarer Geltung und Normierung gegenwärtiger Theologie beladen würden. Vielmehr ist Barths Theologie, sofern sie in begriffener Perspektive dargestellt wird, in eine sublime subjektivitätstheoretische Auseinandersetzung mit dem Historismus verstrickt. Falk Wagner hingegen, als zweiter Vertreter, blendet den Rekurs auf die Bibel aus seinem konstruktiven Denken aus anderen Gründen aus. Wagner bemüht sich – zumindest bis zur so genannten »empirisch-historischen Wende« seines Denkens – um den Entwurf einer spekulativen Theo-Logie, welche auf dem Niveau der Hegelschen Logik den Gottesgedanken im Sinne des philosophischen »Absoluten« zu denken erlaubt. Dieser faszinierende Versuch zielt darauf, den Gottesgedanken der neuzeitlichen Religionskritik gegenüber zu behaupten, und dies im Medium einer – wiederum an Hegel geschulten – trinitarischen Entfaltung. Es wundert kaum, dass Wagner sich auf diesem Wege zur scharfen Auseinandersetzung mit Barth, dem großen Denker des Gottesgedankens und der Trinität im 20. Jahrhundert, herausgefordert sah. Freilich teilt Wagner die aufklärerische Polemik gegen den »biblischen Theologen« und zeigt sich überzeugt, dass nicht die viva vox evangelii dem Glauben zur Gewissheit angesichts des in der neuzeitlichen Religionskritik kultivierten Phänomens des Zweifels und des Misstrauens gegenüber Gottes Wort verhilft, sondern das in der Logik entfaltete Argument. Um mit der Theologie Barths auf Augenhöhe zu streiten und deren Anliegen auf höherer Ebene aufzuheben, muss diese darum auf ihren begrifflich-vernünftigen Kern hin interpretiert werden. Was also bei Gogarten die scharfe Kritik der Theologie Barths begründet, die sublime
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idealistische Theoriefigur, ermöglicht Wagner einen konstruktiven Zugang zu dieser. Die Frage, ob die »Bibel« in der Theologie Barths eine Rolle spielt, blendet Wagner darum in dieser Phase seines Denkens aus. Erst in seinem späteren Denken, nach dem Abbruch der spekulativen Begründungsversuche, »würdigt« Wagner Barths Rekurs auf die Bibel, um festzustellen, Barths Werk als Ursache einer »Retheologisierung des kirchlichen Protestantismus«15 verschreibe sich »der faktischen Rekatholisierung eines bibel- und dogmengläubigen Fundamentalismus«.16 Friedrich Wilhelm Graf und Georg Pfleiderer rücken gegenüber den deutlich idealistisch inspirierten und auf das »Begreifen« der Theologie Barths zielenden Versuchen Rendtorffs und Wagners die historiographische Dimension der Barthdeutung stärker ins Zentrum ihrer Arbeiten. Barths Theologie wird vor dem Hintergrund der allgemeinen Krisenstimmung innerhalb der Geisteswissenschaften der Weimarer Zeit interpretiert. Während dieser Zeit komme es zu einer Suche nach Autorität angesichts der Problematik des Historismus und des damit verknüpften Relativismus der Werte. Der jüngeren Generation der Geisteswissenschaftler ist daran gelegen, den eigenen Standort diesem Relativismus, der sich aus der Selbsthistorisierung ergibt, zu entheben, und im Rekurs auf »Unmittelbarkeit« einen Standort jenseits der Geschichtlichkeit einzunehmen. Es ist nun, so Graf, eine einigermaßen kontingente Entscheidung, ob die »geistige Revolution« der jüngeren Gelehrten die Antike, die Romantik, Paulus, Luther oder wen sonst im Zuge dieser Unmittelbarkeit repristiniert. Dieser Rekurs ist dem eigentlichen Interesse in der Krise des Historismus funktional nachgeordnet. Jüngst hat Georg Pfleiderer die Konsequenzen dieses Interpretationszugangs – mit dem Anspruch theologiegeschichtlicher Stichhaltigkeit – pointiert zum Ausdruck gebracht: »Als überholt können grundsätzlich solche, gegenwärtig, so weit ich sehe, allerdings auch gar nicht mehr vertretene Barthdeutungen angesehen werden, die Barths Theologie als unmittelbare Repristinierung eines ursprünglichen ›biblischen‹ Denkens, ›Paulinismus‹ etc. betrachten.«17 Zumindest für einen bestimmten Strang gegenwärtig vertretener Barthdeutungen gilt somit, dass der Rekurs auf die Bibel für das Verständnis des Barthschen Denkens vollkommen bedeutungslos geworden zu sein scheint. Barth als neuzeitlicher Denker kann auf keine anderen Gründe theologischen Denkens verweisen, als dies dem eigenen Verständnis neuzeitlicher Theologie zugänglich erscheint. Und wo dies schließlich doch zugestanden wird, erscheint Barths Denken als vormoderner Theologietypus, der nichts weniger 15
WAGNER, Theologiepolitik, 496. Ebd. 17 PFLEIDERER, Karl Barths praktische Theologie, 157. 16
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als einen »Störfall« (Ch. Kock) innerhalb der Theologie des 20. Jahrhunderts darstellt. Indes führen diese Deutungen einen entscheidenden Wandel gegenüber der früheren neuprotestantischen Barthkritik herauf: das mittels der Eisegese in die biblischen Schriften hineingelesene philosophische Programm Barths – sei es neukantianisch, absolutheitstheoretisch oder christentumstheoretisch – bedarf der konstruktiven Fortführung. Insbesondere bei Trutz Rendtorff und Falk Wagner wird deutlich, dass das recht verstandene bzw. »begriffene« implizite Theoriemodell Barths im jeweils eigenen Denken »aufgehoben« werde. Sofern sich ein Theologiegeschichtsschreiber jenen in der Tradition Hegels entwickelten metatheoretischen Status zuschreibt, welcher die Theologiegeschichte zur »begriffenen« Geschichte werden lässt, dürfte der Rang seiner Untersuchung vor allem in den konstruktiven Leistungen liegen. Er entfaltet im Medium der vorangegangenen Gedankengebäude sein eigenes System. Wo sich sein Gegenstand augenscheinlich dem begreifenden Zugriff sperrt, rechnet er mit der »List der Vernunft«, also damit, dass sich das eigentliche Thema der Geistesgeschichte auch im Widerspruch durchhält. Die Grundzüge der Deutung hängen damit von der Vorentscheidung darüber ab, was der Konstrukteur der Darstellung vorab als das Barth beschäftigende Problem ausgemacht hat, welche Fluchtpunkte er in seiner Darstellung setzt. Gerade dort, wo das idealistische Rekonstruktionsniveau (Graf/Pfleiderer) verlassen wird, ist jedoch die Frage aufzuwerfen, ob ein theologiegeschichtlich zutreffendes Bild der Theologie Barths ohne Berücksichtigung ihres Rekurses auf die Bibel gezeichnet werden kann. Notabene: Selbst dort, wo zugestanden wird, dass Barth in seiner Beschäftigung mit der biblischen Überlieferung entscheidende Impulse empfangen hat, ist noch nicht gesagt, dass er den ursprünglichen Paulinismus wieder zu Ehren gebracht habe. Über die Angemessenheit seiner Schriftauslegung ist schließlich erst in einem weiteren Schritt zu befinden. Im Blick auf Barths Rekurs auf die Bibel ist die »Wegerklärung« jener nicht nur in der Frühzeit das Barthsche Œuvre ungemein prägenden Referenz innerhalb der hier untersuchten Deutungen evident. Neben dem schlichten Faktum, dass Barths erstes Buch als Römerbriefkommentar auftritt, ist vor allem auf die frühen Aufsätze Die neue Welt in der Bibel, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke, die umfangreiche Sammlung von Predigten aber auch die exegetischen Schriften zum 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes und zum Philipperbrief hinzuweisen, denen die veröffentlichte Vorlesung zum Johannesevangelium sowie weitere unveröffentlichte exegetische Vorlesungen an die Seite zu stellen wären, und schließlich nicht zuletzt auf die Exkurse der Kirchlichen Dogmatik. Dass Barth in der Tat »sachliche Orientierung« aus seiner Beschäftigung mit der Bibel empfangen hat, liegt aus theologiegeschichtlichen Gründen
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nahe. Den Ausgangspunkt bildet hier ein Hinweis Eberhard Jüngels. Jüngel stellt fest, dass Barths Theologie in der Kritik der liberalen Theologie von einer Position ihren Ausgang nehme: Der Grund für diese nicht nur negative Einstellung Barths zur theologischen Aufgabe, und das heißt: zur Aufgabe einer Neubegründung der Theologie angesichts des Versagens, das man der liberalen Theologie attestieren zu müssen meinte, ist sicherlich in der elementaren Beschäftigung Barths mit der Bibel zu suchen. Aber dieser sachliche Grund ist doch zugleich theologie-geschichtlich vermittelt.18
Jüngel verweist hier insbesondere auf den Einfluss Friedrich Zündels und der beiden Blumhardts. Es begegne Barth insbesondere mit Blumhardt ein »praktiziertes Christentum«,19 welches entscheidend sein theologisches Denken geprägt habe. Die von Jüngel benannte theologiegeschichtliche Vermittlung eines positiven Zugriffs auf die biblische Überlieferung, die freilich nicht einer Barths späteren Schriften vergleichbaren Systematik entgegenführte, ist noch um einige Vertreter zu erweitern. So benennt Barth selbst den Einfluss der Römerbriefauslegungen Johann Tobias Becks und Hermann Kutters,20 und Otto Merk macht in seiner Studie zur Barthschen Exegese auf den Einfluss der Vorlesungsmanuskripte Fritz Barths aufmerksam, aus denen der Sohn schöpfte.21 Dass nun diese »Wolke von Zeugen«22 in der Tat einen entscheidenden Einfluss auf dem Weg der theologischen Entwicklung Barths darstellt, lässt sich exemplarisch mit einem Seitenblick auf Zündel erhärten.23 In seiner Darstellung des »Apostolischen Zeitalters« beginnt Zündel den systematisierenden Teil über die Theologie des Paulus mit dem Abschnitt »Die Objektivität«.24 Zündel wehrt hier das Missverständnis ab, es hätte Paulus »an dem, was er verkündigt, irgend einen Anteil durch eigene schöpferische Denktätigkeit«.25 Paulus stehe wie die übrigen Apostel ganz unter dem Einfluss der »Selbstbezeugungen Gottes«. Die Objektivität als Voraussetzung des Paulus bedeute, »daß das Heil auf Tatsachen beruht, und daß unser Erkennen nur das Organ ist, durch welches wir dieselben inne werden«.26 Der Realismus, in welchem Zündel hier die Vorgegebenheit der Gnade Gottes – die Realität, 18
JÜNGEL, Barth-Studien, 74. Ebd., 77. 20 Briefwechsel Barth-Thurneysen I, 148. 21 MERK, Karl Barths Beitrag zur Erforschung des Neuen Testaments. 22 Briefwechsel Barth-Thurneysen I, 148. 23 Kaum zufällig dürfte es sein, dass Barths erster Römerbriefkommentar mit einem Zitat Zündels beginnt. BARTH, Der Römerbrief (1919), 11: »›Nicht die für eigenes Schaffen begeisterte Genialität‹ (Zündel), sondern ein an Händen und Füßen gebundener Mann ist es, der hier das Wort ergreift.« 24 ZÜNDEL, Aus der Apostelzeit, 248–266. 25 Ebd., 248. 26 Ebd., 255. 19
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die hinter Paulus steht – dem menschlichen Erkenntnisvermögen gegenüber zum Ausdruck zu bringen sucht, lässt aber eine deutliche Berührung mit Barths Schriftauslegung und deren Ergebnissen erkennen.27 Kaum zufällig verweist Barth Paul Wernle gegenüber auf die im wissenschaftlichen Diskurs ignorierten »Bücher[] von F. Zündel, denen ich das meine [sc. Röm1] am liebsten anreihen möchte«.28 Der Kern Barthscher Schriftauslegung ist in dem Bemühen zu sehen, den Verweischarakter der biblischen Zeugnisse im Blick auf die Realität in ihrem Hintergrund, die »Objektivität«, herauszustellen. Durchgängig dient ihm der Hinweis auf Grünewalds Darstellung des Täufers dazu, jenen Grundzug der biblischen Überlieferung hervorzuheben: »Diese Hand ist’s, die in der Bibel dokumentiert ist.«29 Ganz und gar »weltlich« sei jenes Heer von biblischen Zeugen, welches Barth anführt, in jener »Weltlichkeit« jedoch ganz und gar an Gott gebunden: »Gott hat die Aufmerksamkeit dieser Menschen auf sich gezogen. Gott verlangt ihr volles Gehör, ihren ganzen Gehorsam.«30 Barths Schriftauslegung lässt sich daher als Versuch verstehen, das, was ihm von Blumhardt, Zündel und den anderen Vermittlern biblisch verkündigt wurde, systematisch reflektiert als Grundlage seiner Theologie zur Geltung zu bringen.31 Nun wird freilich etwa von Trutz Rendtorff eingewendet, Barth habe sich mit seinem Verfahren der Exegese außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses bewegt.32 Demgegenüber bleibt jedoch festzuhalten, dass Barth an der wissenschaftlichen Ausweisbarkeit seiner Exegese festgehalten hat. In der Auseinandersetzung mit Adolf von Harnack hat Barth sein Verständnis der Bibel als von Zeugen verfasstem ganz und gar menschlichem Dokument ausgeführt. Für die exegetische Arbeit ist es von entscheidender Bedeutung, dass er hier an der historisch-kritischen Erforschung der Bibel weiterhin als 27 Vgl. dazu BARTH, Biblische Fragen, 77: »Mir persönlich ist es zuerst an Paulus aufgegangen: dieser Mensch sieht und hört ja offenbar etwas, was aus allen Vergleichen herausfällt, was sich meinen Beobachtungsmöglichkeiten und Denkmaßstäben zunächst ganz und gar entzieht.« 28 Barth an Wernle, 646. 29 BARTH, Biblische Fragen, 79. Vgl. ebd., 85: »Neben der gewaltig zeigenden Gestalt seines Johannes stehen die Worte: Illum oportet crescere, me autem minui. Das ist des Propheten, des Gottesmannes, des Sehers und Hörers Einstellung gegenüber dem, dem sein mächtiges Zeigen gilt. Der Gegenstand, die Sache, das Göttliche selbst und als solches in wachsender, die Funktion, die Frömmigkeit, die Kirche als solche in abnehmender Bedeutung! Das ist’s was man biblische Linie, biblische Einsicht nennen kann.« 30 Ebd., 84. 31 Vgl. dazu Barths Rede von seiner »Anwendung der Blumhardtschen Erkenntnisse auf die Exegese« (Barth an Wernle, 640). Zu Blumhardt s.a. RAGAZ, Der Kampf um das Reich Gottes, 215: »Gottesgeschichte kennt keine Vergangenheit. Die Weltgeschichte die geht vorüber; eine Gottesgeschichte geht nie, niemals vorüber. Was tun zweitausend Jahre! Sie haben gar keine Bedeutung. Wir sind heute gerade dort im Geist, mit Leib und Seele dort, wo Gott seinen Befehl gegeben hat, daß er hineindringe in alles Volk.« 32 RENDTORFF, Theorie des Christentums, 180.
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Schluss
des unumgänglichen methodischen Vorgehens im Dienste wissenschaftlicher Genauigkeit festhält.33 Die Alternative, die im Vorwort des ersten Römerbriefkommentars zwischen Inspirationslehre und historischer Schriftforschung scheinbar eröffnet wird, darf vor diesem Hintergrund nicht überbewertet werden. Für Barth stellen theologische Sachlichkeit und historischkritische Forschung gerade keinen Widerspruch dar, solange und sofern die Exegese grenzbewusst bleibt. Dass die biblischen Zeugen in der Sprache ihrer Zeit sprechen, steht für Barth außer Frage – seine theologische Kritik trifft die Exegese erst dort, wo diese auch den Verweis der Zeugen (des Täufers) bis ins letzte im Gefolge eines Psychologismus zu erklären sucht. An diesem Punkt schwingt sie sich selbst zum Herrn über den Text auf, sie spricht dem Zeugen von vornherein jegliche Glaubwürdigkeit ab, indem sie ihn besser zu verstehen glaubt, als er es selbst vermag. Andererseits kann die historisch-kritische Schriftforschung gegenüber dem Missverständnis »positiver« Theologie festhalten, dass jene Realität hinter dem biblischen Wort keineswegs einleuchtend und unproblematisch ist, dass zudem nicht das biblisch Überlieferte selbst diese Realität ist: »Uns a posteriori klar zu machen, daß es so nicht geht, daß wir es in der Bibel mit Zeugnissen und immer wieder nur mit Zeugnissen zu tun haben, darin sehe ich die theologische Funktion der historischen Kritik.«34 Gerade diese Ausführungen zeigen, dass Barth an der Kontrollierbarkeit seines methodischen Vorgehens in der Schriftauslegung gelegen ist. Ohne die »Bibelkritik«, so hält er in einem Brief aus dem Jahr 1929 fest, würde der Leser »allzu oft die Stimme des heil[igen] Geistes mit der seiner eigenen Phantasie verwechseln«.35 Die Frage, ob Barth nicht seine eigene Philosophie in den Römerbrief und die biblische Überlieferung hineingelesen hat, ob seine Schriftauslegung dem Text gerecht wird, ist auch vor diesem Hintergrund noch nicht zu entscheiden. Es ist aber festzuhalten, dass Barth den Anspruch vorbrachte, Schriftauslegung zu betreiben und sich daran messen zu lassen. An Paul Wernle schreibt Barth im Bezug auf dessen Kritik der Auslegung von Röm 13,1ff: Sie dürften mir nicht so rasch die Eintragung meiner persönlichen Ansicht in die des Paulus vorwerfen, wie Sie es tun. Als ich mit der Arbeit an dieser Stelle durch war, kam ich mir in meiner persönlichen Stellung vor wie gebrochen an allen Gliedern.36 33
Vgl. dazu insbesondere: Barth-Harnack Briefwechsel, 74f. Ebd., 80. Vgl. ebd., 82f: »[…] an dem Zeugnischarakter alles dessen, was hier wie dort in der Zeit und vom Menschen aus geschieht, lasse ich mir nun allerdings genügen und negiere ausdrücklich die Möglichkeit, irgendwo und irgendwie, sei es in der Geschichte, sei es in uns selbst, ein Relatives als absolut zu setzen, Kierkegaardisch geredet: vom Zeugnis zur ›direkten Mitteilung‹ überzugehen, die, wenn ich die Bibel und die Reformation nicht gänzlich mißverstehe, im exklusivsten Sinne Gottes Sache sein und bleiben muß.« 35 Barth an Großkortenhaus, 9.1.1929 (Original im KBA). 36 Barth an Wernle, 640. 34
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Nimmt man Barth an dieser Stelle beim Wort, dürfte der Einfluss seiner Schriftauslegung doch von erheblicher Bedeutung für das Verständnis seiner Theologie sein. Dass Barth sich in der formativen Phase seines Denkens intensiv mit der Bibel auseinandersetzte, dass er die Ergebnisse dieser Beschäftigung an den Quellen selbst messen lassen wollte, dürfte daher außer Frage stehen. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass dieser Rekurs auf die Bibel selbst historisch zu kontextualisieren ist. Barth bewegt sich in einer Traditionslinie positiver Theologie, die er in seinem – in der Folgezeit dann eigenständige Ziele verfolgenden – systematischen Denken integriert. Diese Traditionslinie zu Beck, Blumhardt, Kutter und Zündel kann in keiner der hier untersuchten Barthdeutungen sinnvoll integriert werden, es sei denn als funktional eingesetzte Verkleidung eines eigentlichen Anliegens. Damit aber wird der theologiegeschichtliche Befund des zeitgleichen Nebeneinanders positiver und liberaler Theologietypen und deren Schnittmengen auf problematische Weise verkürzt. Nun spiegelt sich, dies war der Ausgangspunkt der Überlegungen, in der Bedeutung, die Barths Auseinandersetzung mit der Bibel in der Darstellung seiner Theologie zugemessen wird, das grundlegende Verständnis von Aufgabe und Wesen theologischen Denkens überhaupt. Ist die Rede von Gott und vom Glauben etwa prinzipiell ein Versuch der Bewältigung der krisenhaft zugespitzten Situation des historischen Denkens, eine Flucht aus dem Relativismus? Ist theologisches Denken jenseits der gegenwärtigen Geistesgeschichte mit fremden Stimmen aus der Vergangenheit konfrontiert, die ihr die Gegenwart neu erschließen können? Barth hätte diese Frage vermutlich mit »Ja« beantwortet: die neue, fremde Welt der Bibel »imponiert« sich, indem sie zur Predigt anstiftet in unserer Zeit. Sie vermittelt sich etwa für Barth in den Büchern Zündels, Kutters und der Reformatoren oder in der persönlichen Begegnung mit Blumhardt. Von dort ausgehend wäre zu überlegen, inwiefern sich Barths Rede von Gott als »Subjekt« als philosophischspekulativ oder als biblisch-konkret und theologisch sachgemäß erweisen würde. Dieser Ansatz einer Deutung seiner Theologie würde zu der Frage führen, inwiefern er philosophische Theoriemodelle und Gedankengänge heranzieht und zur Darstellung der in der Begegnung mit der Bibel erschlossenen Wahrheit funktional verwendet. Die Begegnung von Philosophie und Theologie stellte sich für Barth durchaus unbefangen als fruchtbar dar: Mit meinem Bruder, der jetzt sein Plato-Buch herausgibt, stehe ich […] im besten sachlichen Einvernehmen. Die recht verstandene Bibel und das recht verstandene moderne Bewußtsein können ja so weit nicht auseinanderliegen, müssen sich irgendwo schneiden. Mag der Punkt im Unendlichen liegen, in magnis et voluisse sat est.37
37
Barth an Wernle, 644.
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Schluss
Es kann nun von demjenigen Barthinterpreten, für den ein solcher fundamentaler Rekurs auf die Bibel als Grundlage der Theologie schlechterdings undenkbar ist, nicht erwartet werden, dass er emphatisch jene »Position« nachzuvollziehen vermag. Es muss jedoch erwartet werden, dass dieser den dem eigenen Ansatz fremden Grundzug Barthschen Denkens benennt, und dass er, sofern er ein philosophisches Theoriemodell im Hintergrund Barthscher Theologie sieht, aufzeigt, wo dessen Grenzen erreicht sind. Diese sind dort erreicht, wo die Deutung mit dem, was der Autor selbst als Charakteristikum seines Denkens erkennt, offensichtlich nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist. Es ist darum der theologiegeschichtlichen Rekonstruktion eine fundamentaltheologische Besinnung, also gleichsam »Prolegomena der Theologiegeschichte«, voranzustellen. Eine Deutung kann dann ihren Ausgang von einem sachkritischen Widerspruch gegen die Prämissen theologischen Denkens nach Karl Barths Darstellung nehmen. Im Blick auf das Verhältnis rein philosophischer Deutungen der Theologie Barths zu solchen, die seinem Rekurs auf die Bibel überhaupt Bedeutung beimessen, mag daher an das Ende dieser Überlegungen gestellt sein, was Barth im Blick auf das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Jahre 1960 in der Festschrift für seinen Bruder Heinrich Barth feststellte. Die Philosophie vom Menschen ausgehend, die Theologie von Gott ausgehend – und Gott biblisch konkret in Jesus Christus begegnend: Und so wird der Eine, von dem der Andere etwas zu lernen scheint, nicht erwarten dürfen, von diesem in seiner eigenen Intention »verstanden« zu sein; er wird sich nicht daran ärgern dürfen, den Anderen – offenbar in einem für ihn fruchtbaren Missverständnis begriffen – einen eigenen Weg fortsetzen zu sehen. Das ist die Grenze, die dem hier in Frage kommenden Lernen gesetzt ist.38
3. Ausblick: Kriterien einer angemessenen Deutung der Theologie Karl Barths Es kann von einer theologiegeschichtlichen Rekonstruktion, die dem Anspruch wissenschaftlicher Genauigkeit verpflichtet und um Verständigung bemüht ist, keinesfalls erwartet werden, dass sie sich fraglos einem vorgefundenen Theologiebegriff als alleiniger Interpretationsnorm anschließt. Solcher theologischer Monismus zielte schon an der faktischen Pluralität und Kontextualität der Barthdeutungen vorbei und wäre durch eine hermetisch in sich verschlossene Positionalität gekennzeichnet. Es muss vor die38
BARTH, Philosophie und Theologie, 103.
Ausblick
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sem Hintergrund möglich sein, bestimmte Mindestanforderungen an eine sachgemäße Deutung der Theologie Barths zu stellen. Eine kritische Darstellung der Geschichte der Deutung der Theologie Karl Barths bedarf handhabbarer Kriterien für die Beurteilung der unterschiedlichen Deutungen. Sie muss dazu in der Lage sein, ein bestimmtes Mindestmaß an Bedingungen zu formulieren, die es künftigen Barthdeutungen ermöglichen, in einen um Verständigung bemühten Diskurs einzutreten. Die Aufstellung solcher Kriterien sollte auch dazu führen, dass unterschiedliche Grade der Nähe von Deutungen zu ihrem Gegenstand, etwa aufgrund der herangezogenen Quellenbasis, benannt werden können. Im Blick auf das in jeder Deutung bereits vorausgesetzte Verständnis von Theologie und den Bedingungen, denen diese im Horizont der Neuzeit unterliegt, bedarf es einer größtmöglichen Transparenz, sowie konstitutiv eines »Grenzbewusstseins«,39 d.h. des Bewusstseins der begrenzten Reichweite des vorausgesetzten Theologieverständnisses, sowie des expliziten Hinweises auf diejenigen Elemente theologischen Denkens, die sich dem eigenen Ansatz nicht bzw. nur über eine eigentliche Intention vermittelt erschließen. Es können daher im Folgenden einige formal gehaltene Kriterien einer angemessenen – »grenzbewussten« – Deutung der Theologie Karl Barths vorgeschlagen werden: Ausblick 1) Kriterium der Transparenz Von jeder theologiehistorischen Rekonstruktion ist die Darlegung der eigenen Prämissen zu verlangen. Perspektivität ist eine unumgängliche Einschränkung jedes Beobachterstandortes, zunächst durch die gewählte thematische Fokussierung, sodann auch durch konstruktive theologische Interessen – ein bestimmtes Theologieverständnis –, welche in einer durch die Wirkungsgeschichte der Barthschen Theologie maßgeblich geprägten Situation die Rekonstruktion beeinflussen. Die Voraussetzungslast der eigenen Position ist in »reflektierte Positionalität« zu überführen – nur so wird sie kontrollierbar. 2) Kriterium der größtmöglichen Quellenintegration Insbesondere durch das Erscheinen der Karl Barth-Gesamtausgabe hat sich die Quellenbasis seit den ersten Studien Rendtorffs und Wagners erheblich erweitert. Eine angemessene Barthdeutung hat daher eine größtmögliche Integration der zur Verfügung stehenden Quellen (im Rahmen ihrer erforderlichen thematischen Fokussierung) anzustreben. Dies gilt – im Hinblick auf die oben genannten Beobachtungen – insbesondere hinsichtlich der Briefwechsel sowie der exegetischen Werke Barths. 39
Den Begriff entnehme ich BEINTKER, Grenzbewußtsein.
426
Schluss
3) Kriterium der vermittelnden Differenzierung von Innen- und Außenperspektive Die Darlegung der eigenen Anfänge in der Theologie, die Benennung von Motivationen und äußeren Bedingungsfaktoren des Denkens hat eine (formgeschichtliche) Wirkungslinie, die bis hinein in die Gegenwart reicht. Diese Äußerungen eines Autors über die Genese seines theologischen Denkens müssen im Rahmen einer Interpretation berücksichtigt werden. Im Falle Barths hat sich die Quellenbasis an dieser Stelle durch die Briefwechsel deutlich erweitert, sodass sich der Verdacht einer durchgehenden Selbststilisierung im Blick auf seine theologische Entwicklung kaum als haltbar erweist. Wenn sich also nachträglich Bedingungsfaktoren des theologischen Denkens ermitteln lassen, die in der Selbstwahrnehmung des Autors nur schwach auftreten, so wird die festgestellte Differenz zwischen »Innen- und Außenperspektive« vermittelnd aufeinander zu beziehen sein. Dies kann gegebenenfalls zur Feststellung von Selbstwidersprüchen führen. 4) Kriterium eines dem Gegenstand angemessenen methodischen Pluralismus Insofern der theologiehistorischen Darstellung keine spezifischen Methoden an die Hand gegeben sind, ist ihr die Integration der größtmöglichen Methodenvielfalt angeraten. Dies bedeutet insbesondere sowohl die Berücksichtigung gesellschaftlicher Zusammenhänge (sozialgeschichtliche Perspektive) aber auch der ideengeschichtlichen Zusammenhänge, innerhalb derer sich Menschen über Epochengrenzen hinweg bewegen. Wer historisch arbeitet, wird sich, zumindest sofern er theologiehistorisch arbeitet, zudem durch ein Grenzbewusstsein auszeichnen. Es gibt einen Bereich der Entscheidungsfindung, Bereiche in denen das Denken seinen Ausgang nimmt, die sich der Historisierung sperren, bzw. deren Aufklärung aus einer Außenperspektive nur auf der Grundlage eigener und als allgemein gesetzter anthropologischer Voraussetzungen vorgenommen werden kann, d.h. notwendig hypothetisch bleibt. Mit diesen Mindestkriterien lässt es sich gewährleisten, dass – obgleich eine Interpretation stets auch ihren eigenen Vorgaben folgt – sie dem Gegenstand der Untersuchung zumindest hinsichtlich seines Wirklichkeitsanspruchs gerecht wird. Im Bild des Barthschen Rekurses auf die Kreuzigungsdarstellung des Isenheimer Altars führte eine solche Deutung bis an den ausgestreckten Finger des Täufers, ohne – grenzbewusst – über die Wirklichkeit, auf die verwiesen wird, Letztes sagen zu können.40 40 Das Bild ließe sich freilich noch weiter ausdeuten, als der Täufer des Isenheimer Altars auf den Gekreuzigten weist – sinnbildlich bleibt der Verweis daher die kreuzestheologische Torheit vor der Welt.
Ausblick
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Darüber hinaus möchte ich ein fünftes Kriterium benennen, welches einen Mehrwert gegenüber den bisherigen Mindestkriterien darstellt. 5) Kriterium der neuzeittheoretischen Lernfähigkeit Dieses Kriterium ist insbesondere gegenüber denjenigen theologiegeschichtlichen Entwürfen geltend zu machen, die Barths Theologie als dezidiert neuzeitliche Theologie interpretieren, d.h. die den theologiegeschichtlichen Ort vor dem Hintergrund spezifischer Merkmale und Herausforderungen dieser Epoche bestimmen. Soll dies geleistet werden, so ist ihnen die Aufgabe zu stellen, dass nicht ohne den zu rekonstruierenden Autor ermittelt werden kann, was die Neuzeit eigentlich ist. Die Neuzeittheorie könnte an dem entsprechenden Autor ihre Grenze finden, sie könnte Neues über die Neuzeit lernen.41 Deutungen der Theologie Karl Barths, die ein von dieser abweichendes Verständnis der Neuzeit voraussetzen und auch als deren Hintergrund geltend machen, werden jedoch in jedem Falle dazu beitragen, diese Theologie schärfer sehen zu lernen. Sollte sich zeigen lassen, dass Barth die grundlegenden Einsichten der »Neuzeit« kritisch infrage stellte und für die Theologie gänzlich andere Voraussetzungen reklamierte, so bliebe ihr Charakter als »provozierende Theologie«42 gerade im Horizont des Versuchs ihrer neuzeitlichen Relativierung und Bewältigung präsent.
41 Dass diese Auffassung einer unabgeschlossenen Neuzeit bzw. Moderne denjenigen Analysen der Epoche korrespondiert, die sie als ›Postmoderne‹ bezeichnen, sei herausgestellt. 42 So JÜNGEL, Provozierende Theologie.
Literatur
Die verwendeten Abkürzungen richten sich nach: S.M. Schwertner, Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin/New York 21994. Als zusätzliche Abkürzung wurde verwendet: KBA – Karl Barth-Archiv.
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Gollwitzer, H., 311, 318f, 350 Graf, F.W., 14f, 18, 21, 106, 150, 259–329, 331–333, 338f, 344, 352f, 355, 357, 361– 364, 371, 405f, 409–412, 416, 418f Grimm, M., 291 Groll, W., 105 Gundlach, Th., 316f, 356 Harnack, A. von, 12f, 59, 100, 251–254, 287, 407, 421f Hegel, G.W.F., 33, 44, 46, 51f, 63–65, 76–81, 85f, 89, 93f, 140, 155f, 173f, 176, 178, 196, 204, 207, 213, 222, 224, 239–241, 264, 275, 332, 366, 387, 409, 417, 419 Heidegger, M., 175, 290f, 364, 366 Henrich, D., 175, 262, 335 Herms, E., 191 Herrmann, W., 12, 16, 107, 150, 286, 344–348, 353, 375f, 382, 406 Hirsch, E., 46–48, 89, 242, 279, 298, 314f, 364f, 371 Huber, W., 123 Inacker, M., 301 Iwand, H.J., 26 Jacob, G., 165f, 168f Jülicher, A., 69, 416 Jüngel, E., 129, 132, 154, 173, 316f, 321, 338, 396, 420, 427 Kant, I., 11, 14, 88, 133f, 176f, 187, 238, 250, 254, 257, 286f, 348, 362, 385–387, 394, 407f Kierkegaard, S., 14, 70f, 89, 170, 368, 373 Klappert, B., 409 Kock, Ch., 174, 219, 244f, 251f, 419 Koepp, W., 12 Kooi, C. van der, 13, 375 Korsch, D., 18, 150, 157, 331–356, 372, 398, 406, 409f, 412 Krockow, Ch. Graf von, 54, 290, 364f Krötke, W., 191, 232f, 255 Kutter, H., 289, 307, 373, 385, 407, 412f, 420, 423 Laube, M., 21, 47 Lessing, E., 289 Lienemann, W., 302, 306, 316f Link, Ch., 12, 156, 417
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Register
Lohmann, J.F., 17, 372, 396, 406 Lukács, G., 292, 364, 367f, 371 Luhmann, N., 196, 201–207, 217, 236 Luther, M., 13, 88, 151, 159, 165, 170, 253, 257, 418 Marquard, O., 76 Marquardt, F.-W., 13, 21, 210–212, 217, 350, 377 Matthes, J., 66 McCormack, B.L., 14–16, 372, 379 Mehnert, G., 281, 289, 293 Merk, O., 420 Moltmann, J., 29, 53, 71, 122, 149, 184 Mott, J., 377f Moxter, M., 363, 408 Murrmann-Kahl, M., 15, 372 Nietzsche, F., 125, 236, 368, 392 Nigg, W., 219, 246, 251 Norden, G. van, 297 Nüssel, F., 17 Overbeck, F., 11, 282, 368, 373 Pannenberg, W., 21, 38, 43, 80, 219, 242, 255 Peterson, E., 364f, 396 Pfleiderer, G., 15–18, 354, 357–408, 409–413, 416, 418f Nowak, K., 150, 281, 285, 290, 296, 322 Rade, M., 307f, 314 Reisinger, P., 238 Rendtorff, T., 12–15, 18, 21–157, 159, 170– 172, 174, 183, 185, 193, 210, 220, 232– 236, 243, 246, 249, 251, 254f, 259, 275, 282, 285, 287, 301, 323, 326, 331–336, 338, 344, 348f, 353, 355f, 363f, 372, 383, 400, 405f, 409–412, 417–421, 425 Ritter, J., 76–81, 85, 91, 155f, 174, 409 Rössler, D., 90, 183 Ruddies, H., 150 Schleiermacher, F.D.E., 11, 16, 19, 40, 44, 46, 51f, 63–65, 89, 116, 122, 135f, 174, 182, 187–192, 208, 219, 221, 239, 241, 244f, 311, 344–348, 353–356, 360, 375, 410
Schlemmer, H., 311f Schmitt, C., 270, 290f, 295, 300, 364–368, 371 Scholder, K., 54, 281, 290–293, 310, 321 Schwan, A., 288, 290–292 Schweitzer, A., 193f Siegfried, Th., 414 Sölle, D., 219 Sontheimer, K., 290, 310 Spieckermann, I., 13, 15–17, 372f, 385, 406 Strohm, Th., 290 Stapel, W., 316 Tanner, K., 292, 300, 329 Tersteegen, G., 377 Thielicke, H., 165, 172, 294 Thurneysen, E., 319, 383, 407, 413 Thyssen, K.-W., 159 Tillich, P., 25, 142, 192, 266, 269, 292 Tödt, H.E., 297–301, 308, 317, 322 Trillhaas, W., 294, 315 Troeltsch, E., 28f, 37, 40, 43, 53, 58, 65, 70– 73, 75f, 84f, 93, 96–101, 104–108, 124– 127, 131–133, 144, 151, 153, 156f, 160, 170, 236, 272, 275–282, 286–291, 297, 306, 308, 310, 322, 326, 344, 349, 351f, 365, 367, 375f, 406, 410, 413 Voigt, F.A., 320 Wagner, F., 13–15, 18, 21, 86, 157, 173–257, 259, 263–267, 274f, 283–285, 287, 297, 299, 301, 326f, 331–341, 348, 353–358, 362–366, 372, 377, 383, 398, 405f, 409– 412, 417–419, 425 Weber, M., 98, 151, 153, 271, 291, 305, 349, 367f, 403 Weber, O., 24–26, 28, 38, 46, 69 Wendland, H.-D., 22–28, 30, 33, 76 Weth, R., 143 Winkler, H.A., 305 Wittekind, F., 15, 363 Wolf, E., 28, 46, 52, 69 Zeidler, K.W., 175 Zündel, F., 420f, 423