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German Pages 366 [367] Year 2011
Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie Begründet von Johannes Wirsching Herausgegeben von Bernd Oberdorfer
Volker Stolle Festhalten und Fortschreiten Karl Friedrich August Kahnis (1814–1888) als lutherischer Theologe
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
Mit 2 Abbildungen. Für die Umschlagabbildung wurde eine Postkarte des zerstörten Hauptgebäudes der Universität Leipzig verwendet – LOT 13411, no. 0966 im Bestand der Library of Congress in Washington/U.S.A.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/6513510377. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2011 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Volker Stolle Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: buch bücher.de GmbH, Birkach ISBN: 978-3-7675-7153-2
Inhaltsverzeichnis Vorwort ......................................................................................................... 9 1.
Einleitung.......................................................................................... 11
1.1
Die beiden Pole im Denken Kahnis’....................................................................11
1.2
Wie Kahnis wahrgenommen wurde .....................................................................15
1.3
Worum es hier gehen soll........................................................................................24
2.
Biographisches .................................................................................. 25
2.1
Halle und Berlin ........................................................................................................26
2.2
Breslau..........................................................................................................................31
2.3
Leipzig..........................................................................................................................36
3.
Kahnis’ theologischer Ansatz ............................................................ 50
3.1 Erste Schritte der theologischen Orientierung..................................................50 3.1.1 Streitschrift gegen Arnold Ruge (1838)...............................................................51 3.1.2 Kritische Würdigung der Dogmatik von David Friedrich Strauß (1842) ...............................................................................54 3.2 Die grundlegende Form in seiner Lehre vom heiligen Geiste (1847)...............................................................................................57 3.2.1 Der glaubende Mensch............................................................................................57 3.2.2 Offenbarungsgeschichte des Alten Testaments ................................................61 3.2.3 Offenbarung Gottes in Christus............................................................................62 3.2.4 Die Wahrheit des Glaubens im Christentum ....................................................63 3.2.5 Die kirchliche Verwirklichung der Wahrheit des Christentums ..................64 3.2.6 Menschlicher Glaube und das Wirken des heiligen Geistes..........................65 3.2.7 Die Beurteilung in den Gutachten von Dorner und Nitzsch.........................67 3.2.8 Das Wesen des Christentums.................................................................................69 3.3 Die ausgereifte Form................................................................................................71 3.3.1 Apologetik und Dogmatik ......................................................................................71 3.3.2 Die Lutherische Dogmatik, historisch-genetisch dargestellt..........................73 3.3.3 Die Verortung des Konfessionellen in diesem Ansatz ....................................76 3.3.4 Der sich in Kahnis’ späteren Werken durchhaltende Grundsansatz ..........81 3.4 Theologiegeschichtliche Einordnung ..................................................................84 3.4.1 Die Entdeckung der „Inweltlichkeit“ Gottes im heiligen Geist ....................84 3.4.2 Adolph Harleß ...........................................................................................................91
6
Inhaltsverzeichnis
3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.5
Friedrich Adolph Philippi.......................................................................................92 Johann Christian Konrad Hofmann ....................................................................93 Franz Delitzsch ..........................................................................................................93 Wege der Durchführung des Ansatzes ................................................................95
4.
Konfessionelle Positionierung........................................................... 99
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3
Kahnis und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen........................99 Annäherung an die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen ................99 Anschluss an die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen ...................105 Die Reaktion des preußischen Kultusministers ..............................................109 Kritische Begleitung des Weges der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen von Leipzig aus ....................................................................122 Kahnis’ Kritik der Union ......................................................................................131 Kahnis’ Argumentation gegen die preußische Union ...................................131 Auseinandersetzung mit Karl Immanuel Nitzsch ..........................................134 Die preußische Union und die wahre Union ...................................................150 Kahnis und die lutherische Einigung ................................................................155 Stellvertretender Vorsitzender des Leipziger Missionskollegiums ............155 Die allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenzen ..............................160 Die konfessionelle Frage angesichts der nationalen Einung .......................168 Konfessionell-lutherische Position und ökumenische Weite .......................177 Konfession unter ökumenischem Vorzeichen.................................................177 Gelebte christliche Gemeinschaft im protestantischen Rahmen................181 Kahnis’ persönlicher Weg und der Gang der Kirchengeschichte ..............183
5.
Kahnis’ Fortentwicklung der lutherischen Theologie ..................... 184
5.1
Entwicklungfähigkeit lutherischer Theologie..................................................184
5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6
Auf dem Weg zur Rezeption der lutherischen Theologie............................186 Abendmahlslehre ....................................................................................................187 Die Persönlichkeit des Heiligen Geistes............................................................188 Modifikationen an der Lehrgestalt der lutherischen Theologie.................191 Kritische Rezeption der Theologiegeschichte: Sünde und Gnade.............192 Trinitätslehre: Der Vater als göttliche Urpersönlichkeit ..............................196 Christologie: Relative Latenz der göttlichen Natur .......................................201 Abendmahlslehre: Präsenz des Gekreuzigten .................................................205 Reich Gottes und Kirche.......................................................................................214 Schriftlehre................................................................................................................221
Inhaltsverzeichnis
5.4
7
Kritik und Gegenkritik ..........................................................................................230
5.4.1 Ernst Wilhelm Hengstenberg und die rechte Haltung gegenüber der Schrift.............................................................................................232 5.4.2 Hermann Gustav Hölemann und die Schriftlehre.........................................238 5.4.3 Franz Delitzsch ........................................................................................................240 5.4.4 August Wilhelm Dieckhoff und der historisch-genetische Ansatz der Dogmatik .............................................................................................244 5.4.5 Carl Schwarz und der konfessionell-lutherische Anspruch .........................247 5.4.6 Adolf Stählin und die Konfessionsfrage............................................................249 5.5 Kahnis’ kurze Zusammenfassung seiner Theologie ......................................253 6.
Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung ......................... 255
6.1
Persönliche Wirkung..............................................................................................255
6.2 Anliegen und Fragestellung .................................................................................258 6.2.1 Neues Geschichtsbewusstsein ..............................................................................260 6.2.2 Kahnis’ Plädoyer für eine weitgehende Berücksichtigung der geschichtlichen Dimension...................................................................................267 6.3 Der hermeneutische Lösungsvorschlag.............................................................272 6.3.1 Der Ansatz bei der Phänomenologie des Lebens und Glaubens ...............274 6.3.2 Die Parameter der Stetigkeit in der geschichtlichen Entwicklung.............276 6.3.3 Prozessualität der Geschichte sowie der wahren Einheit der Kirche .................................................................................................................278 6.4 Anfragen an diesen Lösungsvorschlag ..............................................................283 6.4.1 Allgemeines und Einzelnes, Wesen und Wahrheit ........................................283 6.4.2 Leben und religiöses Erleben...............................................................................285 6.4.3 Lebenstatsache und Geschichtsdeutung ...........................................................293 6.4.4 Heiliger Geist ...........................................................................................................297 6.4.5 Persönlichkeit...........................................................................................................300 6.4.6 Die Rolle des Textes innerhalb des hermeneutischen Horizontes ............307 6.4.7 Die Kirche nach ihrer geistlichen und nach ihrer geschichtlichen Seite ..............................................................................................314 6.4.8 Symbolische Handlung statt Freier des Gedächtnisses.................................319 6.4.9 Das kirchliche Bekenntnis als Begründung des konfessionellen Standpunkts................................................................................323 6.5 Die Bedeutung des Lösungsvorschlags..............................................................330
8
Inhaltsverzeichnis
Zeittafel..................................................................................................... 337 Quellen- und Literaturverzeichnis............................................................. 338 1.
Archivalien................................................................................................................338
2.
Veröffentlichungen von Karl Friedrich August Kahnis................................340
3.
Weitere Literatur.....................................................................................................347
Personenregister ....................................................................................... 361
Vorwort Vor 150 Jahren löste das Erscheinen der „Lutherischen Dogmatik“ von Karl Friedrich August Kahnis eine leidenschaftliche Diskussion darüber aus, ob ihr lutherischer Anspruch gerechtfertigt sei. Denn Kahnis vertrat den konfessionellen Standpunkt, indem er zugleich Anschluss an den wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit suchte, der von der historisch-kritischen Fragestellung geprägt war. Die Aufregung hat sich gelegt, und heute ist seine Dogmatik vergessen. Doch stellt sich die Frage wieder neu, was denn lutherische Theologie und Kirche ausmacht. Dabei ist die Unsicherheit heute eher größer als damals. Und es ist die Frage, ob Kahnis nicht doch einen Beitrag zur Klärung dieser Frage geleistet hat. Im Alter habe ich einen Plan aus jungen Jahren ausgeführt und mich näher mit Kahnis beschäftigt. Meine Erwartung hat sich bestätigt, hier einen Ansatz zur kritischen Reflexion meines konfessionell-lutherischen Standortes zu finden, der zu eigenem Nachdenken unter veränderten Voraussetzungen anleiten kann, obwohl die Diskussion sich seit dem 19. Jahrhundert natürlich auch erheblich verschoben hat. Aber in dem Bereich lutherischer Theologie, in dem Kahnis sie einst forcierte, ist sie wohl mehr übergangen als ausdiskutiert und schon gar nicht, wie mir scheint, bewältigt. Und so irritiert sie noch heute. Wie die verpflichtende Bindung an die Heiligen Schrift und das lutherischen Bekenntnis sich angesichts der historisch-kritischen Betrachtung aller Quellen des Christentums konkret so handhaben lässt, dass sich gemeinsam getragene Richtlinien und Hilfestellungen bei der Bewältigung heute aufgegebener kirchlicher Entscheidungen daraus erschließen, bleibt eine ungeklärte Frage. Ein historisches Beispiel dient als Kristallisationspunkt. Im Rückgang zum Ausgangespunkt dieser Fragestellung und in kritischer Analyse des Lösungsversuchs, den in ihrem Frühstadium Kahnis unternommen hat, soll ein Beitrag zum Verständnis der damaligen Position und zu heutigen Möglichkeiten der Rezeption gegeben werden. Dabei wird außer der gedruckt vorliegenden Quellen auch aufschlussreiches handschriftliches Material herangezogen, das bisher unbeachtet in Archiven ruht. So versucht vorliegende Untersuchung die theologische Position, die von Kahnis entwickelt wurde, als kirchen- und theologiegeschichtliches Phänomen zu erfassen und zu würden. Die späte Bearbeitung des allzu vernachlässigten Themas macht Sinn, wenn sie zur heutigen theologischen Diskussion Klärendes beitragen kann. Diese Hoffnung habe ich durchaus. Mit dieser Einzeluntersuchung möchte ich an einem Punkt das Vermächtnis eines Stranges der Geschichte, die in der heutigen Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche aufgehoben ist, bewusst machen, der immer wieder die Anschlussfühigkeit an die jeweilige theologische Diskussion seiner Zeit suchte. Schon der Urvater dieser Bewegung, Johann Gottfried Scheibel, kämpfte nicht nur für das Recht der lutherischen Kirche in ihrer traditionellen Gestalt, sondern versuchte auch, ihre moderne Lebendigkeit in theologischem
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Vorwort
Weiterdenken im geistesgeschichtlichen Rahmen seiner Zeit zu erweisen. Ihm folgten weitere im gleichen Bemühen. Mein Dank gilt den Menschen, die mich auf irgendeine Weise in meiner Arbeit unterstützt haben. An erster Stelle ist Bibliothekar Helmut Fenske (Oberursel) zu nennen, der mir viele Literaturtitel beschafft hat. Weiter danke ich Professor Dr. Ernst Koch (Leipzig) für erhellende Informationen, Heidrun und Rudolf Mader (Heidelberg), Palm Kleinau (Berlin), Elke Bormann (Leipzig) und Manuela Rau (Greiz), nicht zuletzt meiner lieben Conny. Professor Dr. Jörg Lauster und Professor Dr. Bernd Oberdorfer danke ich für die Aufnahme der vorliegenden Untersuchung in die Reihe „Kontexte“. Kirchenrat Michael Schätzel danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses seitens der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Auch der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel vielen Dank für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung. Volker Stolle
1. Einleitung In Karl Friedrich August Kahnis begegnen wir einem lutherischen Theologen der konfessionellen Richtung im 19. Jahrhundert. Charakteristisch für ihn sind zwei Brennpunkte seiner christlichen Existenz. Einerseits bezog er eine sehr entschiedene Stellung in der kirchlichen Entwicklung seiner Zeit, indem er die in Preußen 1830 eingeführte Union zwischen Lutheranern und Reformierten verließ und sich der „Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen“ anschloss, die sich im Widerstand gegen diese kirchliche Vereinigung gebildet hatte und 1845 unter der Bezeichnung „die von der Gemeinschaft der evangelischen Landeskirche sich ge1 trennt haltenden Lutheraner“ staatliche Anerkennung erlangt hatte. Zu dieser Entscheidung gegen die Union stand er auch, nachdem er seine Lebensstellung als Professor in Leipzig und seine kirchliche Heimat damit in der Lutherischen Landeskirche in Sachsen gefunden hatte. Andererseits forderte er eine Freiheit des theologischen Denkens ein, in kritischer Auseinandersetzung mit der lutherischen Lehrtradition auch abweichende und neue Positionen zu vertreten. Das brachte ihm im Lager der Lutheraner viel Kritik ein.
1.1 Die beiden Pole im Denken Kahnis’ Die Erkenntnis der Wahrheit sah Kahnis als einen geschichtlichen Prozess, der mit festen Markierungen verbunden ist, die in der biblisch bezeugten Offenbarungsgeschichte und im Bekenntnis der Kirche liegen, der aber zugleich Schritte auf einem Weg in die Zukunft ermöglicht. „Ich kann innerhalb des Lutherthums nur den Standpunkt für den rechten halten, der vom ewigen Evangelium ausgeht, in der augsburgschen Konfession das schriftgemäße Zeugniß der evangelischen Wahrheit sieht und der Theologie das Recht zuerkennt, mit den Erfahrungen aller Jahrhunderte und den wissenschaftlichen Mitteln unserer Zeit auf dem gelegten 2 Grunde fortzubauen“ . Sein Anliegen brachte Kahnis mit wenigen Strichen in einer markanten Skizze zum Ausdruck, als er am 15. April 1861 vor dem Meißener Domkapitel, dem er seit dem Vorjahr als einer der beiden Repräsentanten der Theologischen Fakultät in Leipzig als Domherr angehörte, eine Predigt über Eph 2,19–22 hielt. Er verglich das im Mittelalter erbaute Gotteshaus, dessen Pflege dem Kapitel aufgetragen war, mit dem auf dem Fundament der Apostel und Propheten errichteten Bau der Kirche aus Juden und Heiden, der zu einem heiligen Tempel in dem Herrn 1
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„Im Lande steht eine Kirche, deren Glieder vom Staate Die von der Landeskirche sich getrennt haltenden Lutheraner genannt werden, vor Gott aber Die evangelisch-lutherische Kirche Preußens sind. Sie sind hervorgegangen zur rechten Stunde aus dem Proteste gegen die Union, haben das Siegel des Herrn in seinem Geiste und seinem Kreuze und halten fest die Krone des lutherischen Bekenntnisses“ (Die Sache der lutherischen Kirche [1854], 82). Christenthum und Lutherthum (1871), IX.
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Einleitung
wächst. Er kennzeichnete in zwei Teilen das Christentum als „die wahre Einheit“ von „Treue, welche in die Vergangenheit“, und „Streben, welches in die Zukunft 3 blickt“. Diese Einheit war für ihn zutiefst im christlichen Glauben begründet. So stellte er einerseits im Blick zurück fest: Ernst mit diesem Zuge zur Vergangenheit macht allein das Christenthum. Den Geist, welcher diesen erhabenen Dom erbaut hat; den Geist, welcher von Kanzel und Altar die Gemeinde erbaut hat; den Geist, in welchem die unter diesen Steinen ruhen den ewigen Frieden gefunden haben, – diesen Geist trägt nur Der als Leben und Kraft in sich, welcher an Jesum Christum glaubt. Wer lebendig glaubt an den Alten der Tage, der kann nicht anders als mit Liebe blicken auf die Wege, auf welchen er in seinem Reiche durch die Zeiten der Geschichte geht. Wer im Geiste Jesum Christum einen Herrn nennt, in dessen Herzen leben die Blutzeugen, die hocherleuchteten Väter, die Glaubenshelden, die treuen Lehrer des Wortes. Von diesem treuen Gedächtniß der Zeugen Christi ist auch dieser Dom ein Ausdruck, der nach dem Apostel Johannes genannt ist.4
Die Ausrichtung andererseits auf die Gegenwart und Zukunft verdeutlichte er zunächst an der Reformation: „So gottberechtigt das Streben war, das Glaubensleben der Kirche auf das Richtmaß des apostolischen Wortes zurückzuführen, so eitel wäre es gewesen, wenn die Reformatoren sich vorgesetzt hätten das apostolische Zeitalter wiederherzustellen. […] Zwischen dem apostolischen Zeitalter und ihnen lag ja die reiche Entwickelung von anderthalb Jahrtausenden. Wie schonend die Reformation sich zu dem Bestehenden verhielt, beweist abermals dieser 5 Dom.“ Von da aus lenkt Kahnis hinüber in seine eigene Zeit. „So sollen denn auch wir nicht absehen von dem Boden, auf welchen wir uns geschichtlich gestellt finden, von den eigenthümlichen Bedürfnissen und Interessen, von den besonde6 ren Zielen und Aufgaben unserer Zeit.“ Konkret benennt er dann die Bestrebungen der äußeren und inneren Mission, die sich damals im christlichen Vereinswesen rege entfalteten. Von den großen Vereinen zur Ausbreitung der Bibel, zur Predigt des Evangeliums unter den Heiden, zur Rettung der Verlorenen, zur Linderung des Druckes[,] der auf den niedern Klassen der Menschheit ruht, wußte die Reformation des 16. Jahrhunderts nichts. Das also wollen diese Blicke ins Einzelne veranschaulichen, daß das Christenthum mit der Treue, die an dem Grund hält, den Niemand anders legen kann, das Streben verbindet fortzubauen auf diesem Grunde, damit auf dem was wir gebaut die Zukunft weiter baue.7
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Predigt am 15. April im Dome zu Meißen gehalten, in: Zwei Predigten (1861), 3–14, dort: 5.10 (= Das Christenthum die wahre Einheit der Treue und des Strebens, in: Predigten [1866], 168–179, dort: 170.175). Ebd., 9f (= Predigten, 174f). Ebd., 12 (= Predigten, 177). Ebd., 13 (= Predigten, 177). Ebd., 13f (= Predigten, 178).
Die beiden Pole im Denken Kahnis’
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Kahnis machte sein großes Thema nicht nur zum Schlüssel für die Kirche in ihrer Geschichte, sondern auch für das Leben einzelner Christen, in diesem Fall in 8 Erinnerung an Graf Detlev von Einsiedel (1773–1861) , der dem Domkapitel angehört hatte: Diese Persönlichkeit wird zum Beispiel für eine „wunderbare Einheit im Christenleben zwischen Halten am Bestehenden und Streben nach Zielen der Zukunft, zwischen Gegründetsein auf Felsgrund und unermüdlichem Bauen, zwischen Stillstand und Fortschritt, Ruhe und Bewegung, die uns in seinem Leben 9 entgegentritt.“ Gerade in dieser Persönlichkeit lässt sich aber auch die tiefe Problematik zwischen konservativer Gesinnung, die politische Reformen entgegensteht, und avantgardistischem Einsatz für die Industrialisierung, verbunden mit sozia10 lem Engagement und erwecklicher Frömmigkeit erkennen. Hatte Kahnis auch in erster Linie die kirchliche Praxis im Blick, wenn er Treue zum Überlieferten mit Streben nach Erneuerung und Fortentwicklung verband, und sah er den theologischen Fortschritt in seiner eigenen Zeit noch nicht genügend ausgearbeitet und deshalb nicht so greifbar an wie die neuen Ansätze im aktiven christlichen Leben mit ihren neuen Gemeinschaftsformen, so setzte er doch seine eigene Kraft dafür ein, auch die lutherische Lehre tiefer zu begründen und vollständiger auszubauen. An dieser Stelle wollte gerade er seinen Beitrag leisten. „Wir Lutheraner stehen in einer Zeit, wo die Theologie den Bekenntnißglauben aus den letzten Gründen der Wahrheit entwickeln und beweisen muß, wenn sie seine Wahrheit würdig vertreten will. Hier also kann nicht das Alte, sondern allein das Wahre die Losung sein. In der evangelischen Wahrheit aber liegt 11 Treue für das Alte und Streben nach Vollendung zugleich.“ 12 Dieses Miteinander von „Festhalten und Fortschreiten“ ist für ihn durch die lutherische Verhältnisbestimmung von Schrift und Bekenntnis vorgegeben. „Wenn 8
Graf Detlev von Einsiedel (12. Oktober 1773 in Wolkenburg – 21. März 1861 in Dresden), 1813– 1830 sächsischer Kabinettsminister, Teilnahme am Wiener Kongress, seit 1828 Präsident des Sächsischen Missionsvereins, dann von 1847–1853 Vorsitzender des Kollegiums der evangelischlutherischen Mission zu Leipzig, förderte ebenfalls die Judenmission, war seit 1825 Vorsitzender der sächsischen Hauptbibelgesellschaft und seit 1833 Administrator des Freiherrlich von Fletcherschen Schullehrerseminars in Dresden, unterstützte die Diakonissenanstalt in Dresden, setzte sich als geschickter Unternehmer auch für soziale Maßnahmen in seinen Besitzungen und Eisenhüttenwerken (Lauchhammer, Gröditz, Berggießhübel und Riesa) ein. – Zu engerer Zusammenarbeit zwischen Kahnis und Graf von Einsiedel war es besonders 1854 bis 1856 beim Bau des Missionshauses in Leipzig gekommen. 9 Ebd., 4 (= Predigten, 169). – Kahnis charakterisiert in seinem Nachruf selbst Hengstenberg schließlich auf gleiche Weise: „Er war ein Reichstheologe. Im Reiche Gottes ist ein unumstößlicher Grund und ein rastloser Fortschritt“ (Zum Gedächtniß Hengstenberg’s, AELKZ 1869, 417– 425, dort 421), obwohl er ihm vorher im theologischen Schlagabtausch attestiert hatte, „keinen Begriff“ vom „Fortschreiten“ zu haben (Zeugniß von den Grundwahrheiten [1862], 7). 10 Vgl. Koch: Die Neuprofilierung der lutherischen Tradition in Sachsen, 209. 11 Christenthum und Lutherthum, 369. 12 Kahnis bezeichnet als das, „welches sich in mir sein Recht sucht“, die Überzeugung, „daß es im Reiche Gottes neben dem Festhalten am Alten ein Fortschreiten giebt zur Einheit des Glaubens und der Erkenntniß des Sohnes Gottes“ (Zeugniß von den Grundwahrheiten, 7). „Und so glaube
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Einleitung
der Protestantismus auf dem Grundsatze ruht, daß die Schrift die alleinige Norm der Glaubenswahrheit ist, so ist doch klar, daß er, der jede Auktorität der alten und mittelalterlichen Kirche der Schrift unterstellt hat, seine eigenen Bekenntniß13 lehren der Schrift nicht gleichstellen kann.“ Ist das Bekenntnis immer erneut an der Schrift zu prüfen, so erwartet Kahnis, dass bei solcher Prüfung laufend Weiterführendes in den Blick kommt, das bisher noch nicht wahrgenommen ist. Kahnis setzt bei der Beobachtung ein: „Die Richtung nun des Festhaltens am Positiven und die Richtung des Fortschreitens sind bisher getrennte sich feindlich gegenü14 berstehende Lager gewesen, Parteien.“ Aber er ist überzeugt, „daß weder Schrift noch Bekenntniß ein solches festes Ausruhen auf einer für alle Zeiten abgeschlos15 senen Lehre zulassen“. Und deshalb stellt er sich der Herausforderung, geschichtliche Entwicklungen als Prozesse des Wandels anzuerkennen und ihnen auch selbst Impulse zu geben, die auf ihren weiteren Verlauf einwirken. Solches Ausruhen verbietet sich nach Kahnis auch im persönlichen Glaubensleben jedes Einzelnen gerade aufgrund des Ausgangs der Reformation von der tiefen Anfechtung Luthers. „Es giebt wenig gereifte Theologen, die nicht durch die Schule der Anfechtung gegangen sind, und ich muß bekennen, kein starkes Zutrauen zu einem jüngern Geschlecht zu haben, das damit anfängt, womit man eigentlich aufhören soll, nämlich fertig zu sein. Diese Erde ist nun einmal nicht das Land des Schauens, sondern des Glaubens, nicht das Land des Seins, sondern 16 des Werdens.“ Das ewige Evangelium ist sowohl im persönlichen Lebensrahmen als auch in der Geschichte der Kirche nur in einem Erkenntnisprozess aufzunehmen. Kahnis verweist für diese seine Grundüberzeugung immer wieder auf den Satz aus dem Epheserbrief, der ein Wachstum „zum vollen Maß der Fülle Christi“ beschreibt 17 (Eph 4,13).
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ich doch, daß nur das Luthertum Zukunft hat, welches mit der Losung: Halte was du hast [Apk 3,11], die Losung: Nicht daß ich’s schon ergriffen hätte [Phil 3,12], verbindet“ (ebd., 55). Fast bis zum Überdruss erklärt er sich immer wieder: „Auch habe ich nun oft genug gesagt, daß ich neben dem Festhalten am Alten ein Strecken und Streben nach dem was vor uns liegt will“ (ebd., 134). Ebd., 53. Kahnis verweist auf die Definition der CA in der Konkordienformel „als dieser Zeit unserm Symbol“ [BSLK, 768,29f]. „Hier ist doch sonnenklar ausgesprochen, daß man weit entfernt war die Augsb. Konfession für den für immer erschöpfenden Ausdruck der Schriftwahrheit zu halten“ (ebd.). Vgl. ebd., 47. Vgl. auch: Dogmatik I (1861), 9. Zeugniß von den Grundwahrheiten, 131. Ebd., 132. Antrittsrede als Rektor (1864), in: Drei Vorträge, 11. „Wenn Niemand aus der Schrift die Stelle tilgen kann, daß die Kirche mehr und mehr hinankommen soll zur Einheit des Glaubens und der Erkenntniß des Sohnes Gottes (Eph. 4,13.), so liegt doch hier deutlich ausgesprochen, daß es einen Fortschritt im Reiche Gottes giebt, der, wenn man nicht die Stellung zum Bekenntniß frei faßt, nothwendig zum Bruch führt“ (Zeugniß von den Grundwahrheiten, 54). Vgl. ebd. – ohne Nennung der Schriftstelle –, 32. Vgl. schon: Die Lehre vom heiligen Geiste (1847), 58.150.158f („Nun ist die Kirche eine Individualität, ein Mann erfüllt mit dem h. Geiste [Eph. 4, 13.]“ [150]. Und „so besteht auch die Entwickelung der Kirche darin, daß das objektiv göttliche Leben, die Fülle des h. Geistes, welche Christus in die Kirche
Wie Kahnis wahrgenommen wurde
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Sein geschichtliches Denken ist geprägt von den Vorstellungen seiner Zeit. Romantische Gedanken sind darin ebenso aufgenommen wie ein Fortschrittsdenken. Der Stand der historisch-kritischen Bibelforschung geht in seine Arbeiten ein, und er wählt eine historische Arbeitsweise, die induktiv von den einzelnen Fakten der Geschichte ausgehen will, um nicht einer vorgefassten philosophischen Idee zu erliegen. Zugleich benennt er sich durchhaltende Prinzipien, die dem Geschichtsverlauf dann doch einen klaren Richtungssinn zuschreiben und auf eigene Frage18 stellungen des Forschers schließen lassen.
1.2 Wie Kahnis wahrgenommen wurde Seine Zeitgenossen haben Kahnis als einen in seinem Denken unsteten Mann wahrgenommen, der sich leicht in unausgereifte Ideen verrannte und seine Ansichten zwangsläufig wechselte. Unter diesem Vorwurf kündigt Ernst Wilhelm 19 Hengstenberg (1802–1869) ihm 1862 öffentlich die alte Freundschaft auf: „Der Herausgeber eines solchen Blattes [sc. der Evangelischen Kirchen-Zeitung] hat keine Wahl. Er muß, so lange er diesen schweren Dienst auf sich hat, zu seinem 20 Bruder sprechen: ‚ich kenne ihn nicht’.“ Nachdem „seine ‚Ueberzeugungen’ sich auch sonst schon als wandelbar erwiesen“ hätten, habe der erste Band seiner „Luhineinwirkt, mehr und mehr die menschliche Seite durchdringt“ [159]); Wort zur Übernahme der Redaktion, SKSB 3 (1854), 217; Vorwort, SKSB 5 (1855), 46; Der innere Gang des deutschen Protestantismus (²1860), 252; Predigt im Dom zu Meißen (Zwei Predigten, [1861], 13); Dogmatik I (1861), 11; Die Verhandlungen der Commission zur Erörterung der Principien der KirchenVerfassung (1862), 380; später dann: Dogmatik II (1864), XII (ohne Stellenangabe).7.618; Antrittsrede (1864), 10; Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien (o.J. [1865]), 25; Dogmatik III (1868), 171; Votum auf der allgemeinen lutherischen Konferenz 1868 in Hannover (Die allgemeine lutherische Conferenz in Hannover am 1. und 2. Juli 1868, 70); Predigt am Jahresfest des Leipziger Hauptvereins der Gustav-Adolphs-Stiftung zu Zwickau am 19. August 1868 über Apostelgeschichte 24, 14–16 (1868), 10; Blicke aus der Vergangenheit (1874), 367.375 (jeweils ohne Angabe der Schriftstelle); Der Gang der Kirche in Lebensbildern (1881), 382. 18 Friedrich Kirchner (1. Mai 1848 in Spandau – 6. März 1900 in Berlin) charakterisiert Kahnis als einen Theologen, „welcher Hegel’sche Philosophie mit strengem Confessionalismus, ernste Wissenschaftlichkeit mit dem Hauch der Romantik zu verbinden wußte“ (Friedrich August Kahnis, 22). 19 Ernst Wilhelm (Theodor Hermann) Hengstenberg (20. Oktober 1802 in Fröndenberg – 28. Mai 1869 in Berlin), 1824 Privatdozent, 1826 außerordentlicher, 1828 ordentlicher Professor in Berlin mit Schwerpunkt auf dem Alten Testament als Christusoffenbarung, seit 1827 bis zu seinem Tode Herausgeber der „Evangelischen Kirchenzeitung“, als Verfechter einer strengen Schriftautorität seinen Standpunkt vom pietistischen zum kirchlichen und vom reformierten zum lutherischen verändernd. Vgl. Kahnis: Zum Gedächtniß Hengstenberg’s. 20 Hengstenberg: Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp. 38. Diese Aufkündigung der Freundschaft bekommt besondere Schärfe dadurch, dass sie in die schroffen Worte des Herrn des Hochzeitshauses im Gleichnis Jesu gekleidet ist (Mt 25,12). Nicht Kahnis bricht mit Hengstenberg und damit ein ihm gegebenes Versprechen („Noch einmal die Versicherung meiner ewigen Treue!“, SSB Nl Hengstenberg, Kahnis 5, Brief vom 2. Juli 1844), wie Bigler den Vorgang deutet (The politics of German Protestantism, 82), sondern Hengstenberg vollzieht den Bruch.
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therischen Dogmatik“ von 1861 gezeigt, dass Kahnis „früher Zweifel hatte, jetzt 21 aber der Zweifel ihn hat“. 22 August Wilhelm Dieckhoff (1823–1894) meint, an eben dieser Veröffentlichung feststellen zu können, „daß die Theologie des Dr. Kahnis, die sich ja schon einmal von der Schrift über die Lehre vom heil. Geiste zu der Schrift über die lutherische Abendmahlslehre entwickelt hatte, einem schwankenden Rohre gleicht, das der Wind hin und her weht“, und meint sogar, „den Grund seiner theologischen Wandlungen in der Unsicherheit der Grundlagen und der Methode 23 seiner Theologie“ ausmachen zu können. 24 Carl Schwarz (1812–1885) beobachtet bei Kahnis die zwei Seiten einer romantischen Schwärmerei für das Alte und einer Aufgeschlossenheit für die neue Zeit, die in ihm unausgeglichen miteinander ringen: „Die wunderbaren, fast unbegreiflichen Selbsttäuschungen der Neo-Lutheraner über sich, ihre Rechtgläubigkeit, ihr echtes Lutherthum, bei innerer Auflösung und Zerrüttung aller alten Dogmen durch moderne Anschauungen stellen sich in keinem Theologen klarer 25 und lehrreicher vor Augen als in Kahnis.“ Unter diesem Gesichtspunkt schildert er dann den krummen theologischen Weg, den er Kahnis hat gehen sehen. 26 Rudolf Rocholl (1822–1905) notiert das Erscheinen desselben Bandes mit einem „leider“, kommentiert dann aber Thesen zu dem Vortrag, den Kahnis am 13. April 1880 vor der „Thüringer kirchlichen Konferenz“ in Eisenach gehalten 21 Hengstenberg: Vorwort, EKZ 70 (1862), Sp. 66. Hengstenberg nennt als Beispiele: Kahnis’ Angriff auf die Persönlichkeit des Heiligen Geistes, den er aufgegeben habe, seinen Übertritt zu den separierten Lutheranern, den er inzwischen doch als übereilt erkannt haben müsse, und einen Wechsel in seiner Abendmahlsauffassung. 22 August Wilhelm Dieckhoff (5. Februar 1823 in Göttingen – 12. September 1894 in Rostock), 1854 apl. Professor in Göttingen, 1860 Professor in Rostock, 1860–1864 mit Kliefoth zusammen „Theologische Zeitschrift“ herausgegeben; 1858–1886 Auseinandersetzung mit Hofmann über Schriftfrage. 23 August Wilhelm Dieckhoff: Buchbesprechung zu „Die Lutherische Dogmatik I“, Theologische Zeitschrift (Schwerin) 2 (1861), 901–954; 3 (1862), 124–158.270–340; Zitate dort 2,902.905. 24 Carl Heinrich Wilhelm Schwarz (19. November 1812 in Wiek auf Rügen – 25. März 1885 in Gotha), Studium in Halle, Bonn und Berlin, 1842 Habilitation in Halle, Mitarbeit an den „Hallischen Jahrbüchern“, 1845 bis 1848 Suspendierung, 1848 Mitglied der Nationalversammlung in Frankfurt, 1849 ao. Professor, 1856 Hofprediger, 1858 Oberhofprediger in Gotha, 1877 Generalsuperintendent der gothaischen Landeskirche (Einschränkung des Gebrauchs des Apostolikums im Gottesdienst), Mitbegründer des „Deutschen Protestantenvereins“ 1865. 25 Schwarz: Zur Geschichte der neuesten Theologie (41869), 313. 26 Rudolf Rocholl (27. September 1822 in Rhoden/Waldeck, heute Diemelstadt – 26. November 1905 in Düsseldorf), 1850 Pfarrer in Sachsenberg/Waldeck, verlässt 1861 die unierte Waldecker Landeskirche und wird Pfarrer in Brese bei Dannenberg, 1867 Superintendent und Pfarrer an St. Johannis in Göttingen, 1878 schließt er sich der Hannoverschen evangelisch-lutherischen Freikirche an und wird Pfarrer in Hannover, noch in demselben Jahr Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen in Radevormwald, 1881 Superintendent und Pfarrer in Breslau, zugleich Mitglied des Oberkirchenkollegiums, von 1886 bis 1891 dessen geschäftsführender Leiter, nach seiner Emeritierung 1891 lebt er in Düsseldorf, 1893 theologischer Ehrendoktor der Universität Erlangen, Verfasser bedeutender theologischer Publikationen.
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hat, mit dem Satz: „Er hatte den kirchlichen Standpunkt wieder eingenommen“. Dem Abfall folgte demnach eine späte Umkehr. 28 Indem Kahnis’ späterer Fakultätskollege Franz Delitzsch (1813–1890) allzu weitgehende Urteile über ihn entschieden zurückweist, sieht doch auch er nach Erscheinen des ersten Bandes der Dogmatik in ihm ein „auf- und niederwogendes Werden“: Daß Kahnis’ bisheriger theologischer Lebensgang ein Springen von Extrem zu Extrem gewesen, könnte nur ein schlecht Unterrichteter oder ungerecht Urtheilender sagen: es war ein mühseliger wechselvoller Weg stetig fortschreitender kampferrungener Entwickelung. Die Zweifelsfähigkeit aber, welche er vom Theologen fordert, ist sein eigentlicher theologischer Charakter: dieser ist durchaus historischkritisch und so zu sagen thomasartig, in einem unfertigen unruhigen Ringen unaufhörlichen Werdens begriffen.29
27 Rocholl: Geschichte der evangelischen Kirche in Deutschland (1897), 548.550. Wiederholt diagnostiziert Rocholl bei Kahnis eine innere Spannung: „Wo Kahnis’ Verstand abirrte, da hielt sein Herz fest zu ihr [sc. der lutherischen Kirche], aus deren Ur-Granit er gehauen war“ (Rocholl: Dr. Kahnis, Kirchen-Blatt für die Gemeinden des ev.-luth. Bekenntnisses in Preußen [1888], 253; = ders.: Einsame Wege NF [1898], 134), oder: „Er hatte sich spekulirend mit dem harten Kopf verirrt, während das Herz in der That auf dem alten Grunde blieb“ (ders.: Altiora quaero [1899], 61); Rocholl markiert dabei durchaus zustimmend den besonderen Akzent seiner theologischen Anschauung, indem er Kahnis sogar zitierend aufnimmt: „Der Entschlafene war ein echter Sohn der ganzen lutherischen Kirche. ‚Diese Kirche’ sagte er, ‚hat einen dauernden Charakter, der sich unter allem Wandel ihrer geschichtlichen Entwicklung behauptet hat. Diese Kirche hat eine noch unerschöpfte Entwicklungsfähigkeit’“ (ders.: Einsame Wege NF, 134). 28 Franz Julius Delitzsch (23. Februar 1813 in Leipzig – 4. März 1890 in Leipzig), studierte seit 1831 in Leipzig, wurde 1833 durch Karl Friedrich Becker (6. Februar 1803 in Güsten – 23. Januar 1874 in Ludwigslust) und Johann Peter Goldberg (28. September 1780 in Hotzenplotz/Oberschlesien – 15. Januar 1848 in Straßburg; 20. Mai 1820 Taufe in Esslingen, 1821 Missionar in Dienst der Londoner Gesellschaft zur Verbreitung des Christentums unter in den Juden in Dresden) zur Judenmission angeregt, 1835 Dr. phil., 1842 Habilitation, 1843/1844 Berufung nach Breslau ausgeschlagen, 1844 ao. Professor in Leipzig, 1846 als Nachfolger Hofmanns Professor in Rostock, 1850 in Erlangen, gründet 1863 den bayrischen Verein für Judenmission und die Zeitschrift „Saat auf Hoffnung“, 1867 Professor in Leipzig, gründet dort 1870/1871 den „Zentralverein für Mission unter Israel“, 1886 das Institutum Judaicum. 29 Delitzsch: Für und wider Kahnis. Kritik der Dogmatik von Kahnis mit Bezug auf dessen Vertheidigungschrift (1863), 27. Delitzsch spielt mit der Charakterisierung „thomasartig“ auf Kahnis’ Geburtstag an, denn Kahnis war zwar am 22. Dezember geboren, pflegte die Geburtstagsfeier aber bereits auf den 21. Dezember als dem Thomastag zu legen (Winter: D. Karl Friedrich August Kahnis [1896], 4) und dazu die Studenten sowohl des Theologischen Studentenvereins als auch der Philadelphia einzuladen. Diese Thomasfeier ist offensichtlich der Grund dafür, dass sowohl Chr. E. Luthardt in seiner Rede an Kahnis’ Sarg (Am Sarge von Dr. Karl Friedrich August Kahnis, AELKZ 21 [1888], 613–615, dort 613) als auch Wilhelm Friedrich Besser (Wie ich zur lutherischen Kirche heimgekehrt bin [1870], in: Gedenket an die vorigen Tage [Hebräer 10,32], hg. v. Bertold Schubert [1914], 5–36, dort 32f) den 21. Dezember als dessen Geburtstag angeben. – Vgl. die Predigt über Joh 20,24–29 (Quasimodogeniti 1865) „Der christliche Glaube ist der Glaube der Wahrheit“ (Predigten [1866], 79–88), in der Kahnis unausgesprochen und als „eine gewisse Regel“ in den Glaubenswegen „der Christen dieser Zeit“ typisiert (ebd., 79) seinen eigenen Glaubensweg beschreibt.
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In deutlicher Spannung dazu steht die Einschätzung eines anderen Freundes. 30 Sein Fakultätskollege Ernst Luthardt (1823–1902) beobachtet eine andere Struktur der Persönlichkeit bei Kahnis: „Aus voigtländischem Naturboden erwachsen, trug er eine ursprüngliche metallreiche Natur in sich, die beides in sich vereinigte, die Zurückgezogenheit in die stille Welt des Inneren und zugleich eine stete nie 31 ruhende Bewegung.“ Demnach leitete sich aus einer in sich ruhende Gewissheit die Freiheit ab, auf Anregungen und Eindrücke von außen einzugehen. Während Delitzsch den Freund einfühlsam und verständnisvoll zeichnet, lässt ihn Luthardt in einem möglichst harmonischen und ausgeglichenen Licht erscheinen. Es stellt sich die Frage, ob die Eindrücke seiner Zeitgenossen auch auf Verständnislosigkeit gegenüber seinem Denkansatz beruhen. Denn er selbst ging zunächst von der Erwartung aus: „Der eingehende Leser wird leicht finden, daß der dort [sc. in seinen Monographien über die Lehren vom heiligen Geist 1847 und vom Abendmahl 1851] natürlich nicht in erschöpfender Weise hingestellten Grundansicht in allem Wesentlichen der Standpunkt des vorliegenden Buches [des ersten Bandes seiner Dogmatik 1861] entspricht, nur daß ich hinzufügen muß, daß eingehendere Studien manches Dunkle abgeklärt, Einseitige ergänzt, Keimartige 32 zur Ausreifung gebracht haben.“ Dann aber wurde er mit dem Eindruck, den er gerade mit dieser Veröffentlichung erweckte, konfrontiert. „Was, höre ich sagen, 33 ist der Einheitspunkt dieses wandelbaren Proteus?“ Solcher Beurteilung widersprach er stets entschieden: „Ich wiederhole, daß ich mir nicht nur in meiner Stellung zum Christenthum, sondern auch in der theologischen Grundansicht treu 34 geblieben bin.“ Dazu gehört auch speziell seine Sicht über das Verhältnis des 35 Christentums zur klassischen Antike. Er sieht seine Theologie als Ergebnis einer Entwicklung an, die schon 1847 in seiner „Lehre vom heiligen Geiste“ ihren we-
30 Christoph Ernst Luthardt (22. März 1823 in Maroldsweisach in Unterfranken – 21. September 1902 in Leipzig), ab 1841 Studium der Theologie in Erlangen und Berlin, 1851 Repetent in Erlangen, 1852 Lic. theol. , 1854 Ordinarius für Dogmatik und Exegese in Marburg, Dr. phil h.c. von Erlangen, 1856 Dr. theol. von Erlangen und Marburg, Professor in Leipzig, 1895 Beendigung der Lehrtätigkeit aufgrund eines Schlaganfalls, 1857 Mitglied des Kollegiums der Leipziger Mission, Schriftleiter der von ihm 1868 gegründeten AELKZ. 31 Luthardt: Am Sarge von Dr. Karl Friedrich August Kahnis, AELKZ 21 (1888, Nr. 26), 613–615, dort 614. 32 Dogmatik I (1861), V. 33 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 9. 34 Ebd., 26. Er fährt fort: „Ein Vergleich der grundlegenden Gedanken meiner Lehre vom heiligen Geiste mit meiner Dogmatik gibt den Beleg. Nur habe ich Vieles voller, gründlicher, einheitlicher gefaßt. Soll ich denn in vierzehn Jahren nichts gelernt haben?“ (ebd.) 35 Im Alter nimmt er das Thema seiner Habilitationsschrift, nämlich „die Frage nach dem Christlichen der alten Philosophie“ als einem Weg, auf dem „Gott das Reich seines Sohnes vorbereitet hat“, noch einmal auf und stellt dabei fest: „Ich muß bei der Lösung, die ich vor vierzig Jahren versuchte, im allem Wesentlichen stehen bleiben. Nur versteht sich von selbst, was ich in einem so langen Zeitraum zu lernen gehabt habe“ (Ueber das Verhältniß der alten Philosophie zum Christenthum [1884], IV).
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sentlichen Abschluss gefunden habe. Seine Stellung zur Schrift sei sogar bereits 37 seit seiner Studienzeit (1835–1838) im Wesentlichen gleich geblieben. Andere Wandlungen in seiner Anschauung führt Kahnis auf die Schwierigkeit der Materie 38 zurück, die keine schnellen, klaren und einfachen Aussagen erlaube. Und tatsächlich lässt sich in seinem theologischen Denken ein Grundansatz erkennen, den er sehr konsequent durchhält. Auch seine späteren Anschauungen wurzeln schon in seinen frühen Untersuchungen. Auch bedeutet „seine kirchlich-dogmatische Ansicht“ mehr als nur „ein gewisses Schema, mittelst dessen die Masse lichtvoll gegliedert wurde“, um verbunden mit einer „lebensvollen Anschauung“ eine „geschmackvolle Darstellung“ zu er39 40 möglichen, wie Johannes Kunze (1865–1927) es analysiert. Auch Ernst Luthardt sieht das Beeindruckende an Kahnis in seiner Meisterschaft der Darbietung des Stoffes: „Seine Stärke lag auf dem Gebiet der Kirchengeschichte. Wenige haben es verstanden so wie er mit wenigen Strichen geschichtliche Persönlichkeiten und Zeiterscheinungen oder Richtungen und Perioden zu charakterisiren und anschaulich vor Augen zu stellen. Und darin lag auch die Kraft und Wirkung seiner 41 Lehrthätigkeit.“ Doch so gewiss Kahnis die Kunst der geschichtlichen Darstellung beherrscht, wie sich allein schon am Beispiel solch einer Miniatur wie „Stol42 berg und Voß“ überzeugend zeigt, so ist für ihn daneben bezeichnend, dass er seine Darlegungen durchgehend auf eine systematisierende Mitte von eigener 43 Bedeutung ausrichtet. Dies wird in der Feststellung eines Anonymus gewürdigt: „Seitdem [sc. 1838] stand als Ankergrund seines Lebens die oft von ihm ausgesprochene Überzeugung fest, daß der ewige Mittelpunkt des Christentums die Heilsgemeinschaft der ein-
36 Seine theologische Entwicklung schildert er selbst in seiner Vorrede zu dieser Monographie. 37 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 136. 38 „Melanchthon schrieb 1538 an Camerarius, daß seit zehn Jahren kein Tag und keine Nacht vergangen sei, da er nicht über die Abendmahlslehre nachgedacht habe. Ohne mich mit Melanchthon vergleichen zu wollen, darf ich doch sagen, daß ich seit mehr als zwanzig Jahren dieser Lehre mit besonderer Hingabe nachgegangen bin. Sieht man hierin ein unruhiges Suchen, welches nicht finden kann, so kann ich unter Berufung auf Melanchthon nur sagen, daß diese Lehre nicht so einfach ist, wie sie manchen Lutheranern vorkommt“ (Dogmatik III [1868], XII). 39 Johannes Wilhelm Kunze (31. August 1865 in Dittmannsdorf/Sachsen – 20. Juli 1927 in Greifswald), Schüler Ernst Luthardts, 1884 – 1887 Studium der Theologie in Leipzig und Erlangen, 1894 Habilitation und Privatdozent, 1899 ao. Professor in Leipzig, 1903 o. Professor für Systematische Theologie in Wien, 1905 in Greifswald (bis 1911 zugleich für Parktische Theologie). 40 Kunze: Art. Kahnis: Karl Friedrich August K., in: ADB 50 (1905), 749–751, dort 750. 41 Luthardt: Erinnerungen aus vergangenen Tagen (21891), 368; vgl. schon fast gleichlautend Luthardt: Professor Kahnis †, Daheim 24. (1888), 660–670, dort 670. 42 Stolberg und Voß (1876), wieder abgedruckt in: Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 391–410. 43 Holsten Fagerberg rechnet Kahnis zwar „dem konfessionellen Lager“ zu, erkennt bei ihm aber keinen eigenständigen Beitrag zu Diskussion der Thematik, sondern bezieht sich auf ihn lediglich als einen Zeitzeugen (Bekenntnis, Kirche und Amt, 26f).
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zelnen Seele mit Gott durch Jesum Christum im heiligen Geiste sei.“ Luthardt hebt eben dies am Sarge seines Kollegen und Freundes hervor: „Aber im Grunde blieb er doch stets derselbe gleiche. Und der letzte Grund aller Gewißheit ward ihm, seitdem er ihn gewonnen hatte, nie fraglich“, nämlich „das Kreuz Christi, das er im Glauben ergriff, und die Gewißheit der Vergebung der Sünden, rein aus Gnaden um Christi willen, was ihm zum Felsen wurde, auf dem er das Haus sei45 nes ganzen Lebens und seiner Gedanken unerschütterlich gründete.“ Kahnis macht gerade diese Glaubensüberzeugung zum Ansatz seiner Theologie; denn er ist überzeugt: „Die Wissenschaft kommt ohne kirchliche Erfahrung keinen Schritt 46 weiter.“ 47 Friedrich Julius Winter (1844–1922) , der die einzige größere Arbeit über Kahnis vorgelegt hat, auf der dann alle weiteren biographischen oder LexikonArtikel fußen, charakterisiert diese feste „Grundstellung“, die Kahnis entschieden 48 vertreten habe, näher in entscheidender Weise. „Kein Wort kommt in Kahnis’ Schriften öfter vor als ‚Leben’, und nichts bekennt er so oft und so nachdrücklich, als das daß ihm über alles die Wahrheit gehe. Leben und Wahrheit, das waren die beiden Größen, um die sich sein Suchen, Denken, Wollen bewegte, beide nicht 49 neben und außer, sondern in und mit einander.“ Allerdings ist ihm, wie Winter beobachtet, „die Wahrheit ein Gut, das immer von neuem erworben werden muß, 50 nur im Arbeiten und Ringen darum festgehalten werden kann“. „Das mochte seiner Entwickelung wohl, von außen angesehen, den Schein des Wechsels ge51 ben.“ Winter erinnert in diesem Zusammenhang an Kahnis’ eigene „Bitte mich 52 nicht nach dem Schein, sondern dem Wesen zu nehmen“. Wesentlich ist ihm eben die geschichtliche Entwicklung der Wahrheit.
44 Art. Kahnis, in: Kirchliches Handlexikon III (1891), 659–661, dort 659. Vgl. die undatierte, aber inhaltlich entsprechende Nachricht bei Chr. Ernst Luthardt: Erinnerungen aus vergangenen Tagen (21891), 367. 45 Luthardt: Am Sarge von Kahnis, 614. 46 Die Lehre vom heiligen Geiste (1847), 160. In Anspielung auf die Verklärung Jesu (Mk 9,2–10 parr.) erläutert er den Satz näher: „Die Geschichte der Kirche ist der Tabor, auf welchem der Christ in der Nacht der Gegenwart aus dem Munde der Säulen alter Zeit sich ein Zeugniß holen muß für den verklärten Christus, ein weissagend Wort über das, was geschehen muß, einen Anhauch von Kraft, nicht um dort Hütten zu bauen, sondern das himmlische Leben hineinzutragen in die Thäler des Lebens, wo der Ruf nach Hilfe schallt“ (ebd.). 47 Friedrich Julius Winter (15. November 1844 in Chemnitz – 19. Juni 1922 in Albersdorf b. Markranstädt), aber 1865 Studium der Theologie in Leipzig, 1870 Pfarrer in Deutschenbora, 1876 in Röhrsdorf b. Wilsdruff, 1884 an St. Afra in Meißen, 1898 in Bockwa, theologischer Schriftsteller und Herausgeber, ab 1913 Ruhestand erst in Dresden, dann in Meißen, 1883 Lic. theol ehrenhalber, 1917 Dr. theol. der Fakultät Leipzig. 48 Winter: Kahnis, 68; vgl. zur näheren Beschreibung, ebd., 81f. 49 Ebd., 67. 50 Ebd., 69. 51 Ebd., 69. 52 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 10.
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Dennoch lebt in der Forschungsgeschichte das Paradigma eines Bruchs in der 53 theologischen Entwicklung Kahnis’ fort. Emanuel Hirsch (1888–1972) etwa urteilt, Kahnis habe, nachdem er die Abendmahlslehre 1851 „mit äußerster Annäherung an die katholische Anschauung“ dargestellt habe, „freilich in späteren 54 55 Jahren seine Meinung erheblich gewandelt“. Martin Wittenberg (1911–2001) konstatiert einen Wechsel in seiner lutherischen Bekenntnishaltung mit dem Be56 ginn des Erscheinens der „Lutherischen Dogmatik“ 1861. Heute wirken Kahnis’ Schriften eher als intensiv nachdrückliches Plädoyer für seine christliche Überzeugung, die in vielen Wiederholungen eine bemerkenswerte Festigkeit aufweist, wenn seine Anschauungen im theologischen Diskurs auch im Einzelnen gewisse Modifikationen erfahren und in den sich wandelnden kirchengeschichtlichen Konstellationen unterschiedlich aktualisiert werden. Kahnis versteht seine Theologie als Exponenten der Entwicklung von der Reformation her über Pietismus und Erweckungsbewegung zur konfessionellen Richtung seiner Zeit hin, in der die christliche Persönlichkeit sich ihrer heilvollen Gottesgemeinschaft als einer Lebenstatsache bewusst geworden sei. Auf diese Grundüberzeugung führt er alle geschichtlichen Erscheinungen und alle theologischen Themen zu. Die Lehre vom heiligen Geist wählt Kahnis gerade deshalb als Schlüsselthema. „Dem Gang meiner Entwickelung gemäß zog mich in der Kirchenlehre die Seite der Inweltlichkeit Gottes, das Walten des göttlichen Lebens in Welt und Kirche, 57 die Lehre vom heiligen Geist an.“ An dieser Stelle erfolgte denn auch der für den Theologen Kahnis entscheidende Durchbruch: Nachdem er zunächst den heiligen Geist nicht voll als dritte Person der Gottheit zu würdigen vermocht hatte, gelangt 58 er bald doch zur Erkenntnis der Personalität des heiligen Geistes. Bei aller Fragwürdigkeit des konkreten Vorgehens, wie Kahnis seinen Grundansatz durchführt, erweist er sich als ein Schulbeispiel für die Problematik einer konfessionellen lutherischen Theologie. Mit Recht stellt er selbst fest, dass auch solche Theologen, die das lutherische Erbe nur bewahren wollen, gar nicht um die Aufnahme neuer Elemente in das Lehrganze herumkommen. Nicht die Verdrängung des Problems helfe weiter, sondern nur eine beherzte Annahme der Heraus53 Emanuel Hirsch (14. Juni 1888 in Bentwisch b. Wittenberge – 17. Juli 1972 in Göttingen), Studium in Berlin, 1915 Habilitation in Bonn, 1921 Prof. für Kirchengeschichte, 1936 für systematische Theologie in Göttingen, ein Wortführer der Deutschen Christen, 1945 pensioniert. 54 Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie V (1954), 191. 55 Martin Gotthilf Wittenberg (10. Dezember 1911 in Bochum-Hamme – 13. September 2001 in Gräfenberg), 10. Mai 1937 Ordination durch Otto Dibelius, Pfarrer der Bekennenden Kirche in Berlin, 1938 in München, 1942 in Linden bei Markt Erlbach, 1948 Dozent, später bis 1973 Professor für Altes Testament und Hymnologie an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. 56 Wittenberg: Franz Delitzsch (1813–1890) (1963), 47. 57 Die Lehre vom heiligen Geiste (1847), VI-VII. 58 Dies ist der Fortschritt von Kahnis’ Breslauer Antrittsdisputation „De spiritu sancti persona capp. II“ von 1845 zu seiner „Lehre vom heiligen Geist“ zwei Jahre später.
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forderung, die geschichtlich vorgezeichneten Positionen immer wieder neu zu durchdenken. Deutlich wird die Besonderheit Kahnis’ im Gegenüber zu dem späteren Bei59 spiel. Auch Werner Elert (1885–1954) knüpft in seiner „Lehre des Luthertums im Abriss“ daran an, dass die lutherischen Bekenntnisse der Reformationszeit „lediglich Zeugnis vom Glauben der ‚damals Lebenden’ sein“ wollten, und sieht es deshalb als seine Aufgabe an, „nunmehr auch in unserer Situation, mit den Ausdrucksmitteln unsrer Zeit das auszusprechen, was das Evangelium aus unsrer Seele gemacht hat“, unbeschadet der „festen Überzeugung, dass das Evangelium 60 […] rein für sich genommen keiner Veränderung unterworfen ist“. Während Elert sich auf die Annahme eines Wandels allein im Ausdruck zurückzieht, ohne die Problematik in ihrem vollen Umfang in den Blick zu nehmen, dass es nämlich keine Veränderung im Ausdruck gibt, die nicht auch eine Veränderung in der Fragestellung impliziert, in neuen Zusammenhängen aussagekräftig wird und damit auch die Sachaussage modifiziert, ist Kahnis der Überzeugung, dass Aufgabe der theologischen Wissenschaft „unmöglich eine bloße Uebersetzung der Theologie des 16. Jahrhunderts in die Sprache des 19. sein kann“. „Der Fortschritt des weltgeschichtlichen Lebens hat neue Geisteswege gefunden, neue Lebenskreise aufgethan, auf die einzugehen auch der Christ, welcher den Spuren Gottes in der 61 Entwickelung seines Geschlechtes nachgeht, angewiesen ist.“ Kahnis hat das Grundproblem einer Bekenntnishermeneutik thematisiert: Wie führt Treue zum Bekenntnis der Kirche nicht zur Erstarrung, sondern wird in neuen Kontexten neu lebendig? Und wie kann, wenn man sich auf gegenwärtige theologische Diskurse einlässt, verhindert werden, dass die kirchlichen Bekenntnisse zu weitgehender Bedeutungslosigkeit absinken und ein reiner Subjektivismus Einzug hält? Diese Fragen sind inzwischen keineswegs so klar beantwortet, wie es 62 Berthold Schmidt (1838–1925) bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts diagnostizieren zu können meinte: „Nicht vereinzelte Zeugen nur, sondern eine ganze Schar hervorragender akademischer Lehrer vertreten jetzt die konfessionelle Rich59 Werner August Friedrich Immanuel Elert (19. August 1885 in Heldrungen – 21. November 1954 in Erlangen), ab 1906 Studium der Theologie und Philosophie in Breslau, Erlangen und Leipzig, 1910 Dr. phil., 1911 Dr. theol. in Erlangen, 1912 Pastor in Seefeld/Pommern, 1919 Direktor des Theologischen Seminars der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen zu Breslau, 1923 Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte sowie Symbolik in Erlangen, 1932 Wechsel auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie und Historische Theologie. 60 Elert: Die Lehre des Luthertums im Abriss (1924), VII–VIII. – Vgl. weiter Elert: Die Kirche und ihre Dogmengeschichte (1950). 61 Beide Zitate aus: Zwei Predigten (1861), 13. 62 Berthold Schmidt (17. März 1838 in Greiz – 19. Februar 1925 in Greiz) studierte Theologie in Erlangen und in Leipzig, besonders bei Kahnis (sein letztes Semester 1859/60), 1863 1. Lehrer am Greizer Lehrerseminar, 1873 Direktor der Greizer Gesamtbürgerschule, 28. März 1880 Ernennung zum Schulrat, bei seiner Emeritierung am 7. April 1906 mit dem Titel „Geheimer Schulrat“ und der Ehrenbürgerwürde der Stadt ausgezeichnet. Vgl. Querfeld: Schulrat Bertold Schmidt (1838–1924) zum Gedenken.
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tung der Theologie in Beweisung des Geistes und der Kraft; festhaltend an der Substanz der reformatorischen Bekenntnisse und der in der Schrift geoffenbarten Wahrheit, gewinnen sie in ebenso freier als gewissenhafter Forschung, nicht zum wenigsten in der Auseinandersetzung mit der modernen Richtung, eine die theologischen Probleme immer tiefer erfassende Erkenntnis. […] Zu dieser Entwickelung hat Kahnis das Seine beigetragen. Sie ist teilweise die Frucht der Saat, die er 63 seiner Zeit durch Gottes Gnade hat ausstreuen dürfen.“ Die hier angesprochenen Bemühungen bedeuteten keinesfalls die Lösung, sondern haben vielmehr immer wieder diese Fragen neu aufbrechen lassen. Weiter gilt einerseits das, was Johannes Kunze schon 1901 feststellt: Kahnis hat „der konfessionellen Theologie das Gewissen geschärft, das Unrecht und die Unhaltbarkeit jeder bloßen Repristination ihr vorgehalten und falscher, schwächlicher Apologetik ein fröhliches Vertrauen auf die Macht der göttlichen Wahrheit 64 entgegengestellt. Dadurch ist er für seine Richtung ein Salz gewesen“. Andererseits hat Kahnis umgekehrt auch die sorgfältige Berücksichtung des Überkommenen bei den Gegenwartsentscheidungen im kirchlichen Leben nachdrücklich angemahnt, wie gerade seine Kritik an der Weise, wie zu seiner Zeit kirchliche Unionen betrieben wurden, deutlich macht. Man kann erheblich an Identität verlieren, wenn man den Anschluss an Prägungen aus der Vergangenheit aufgibt, statt sie zu aktualisieren. Und dies gilt umso mehr, als Gottes Offenbarung sich in der Geschichte ereignet hat und demzufolge auf Wegen geschichtlicher Erinnerung weitergegeben wird, echte Neuaufbrüche mithin immer reformatorisch sind, Fortschreiten und Festhalten miteinander verbinden. Und so kann man durchaus sagen, „daß er das Verständnis des christlichen Glaubens, sei es im Einzelnen, sei es durch systematische Zusammenfassung, wesentlich gefördert hat“, auch wenn 65 66 Franz Hermann Reinhold Frank (1827–1894) genau dies verneint und wohl nur 67 Martin Kähler (1835–1912) ihm einen bestimmten Platz in der Geschichte der 68 Dogmatik zuweist.
63 Schmidt: Zur Erinnerung an Kahnis, 3–24, dort 24. 64 RE³ 9, 698. 65 Franz Hermann Reinhold Frank (2. Mai 1827 in Altenburg – 7. Februar 1894 in Erlangen), ab 1845 Studium in Leipzig als einer der eifrigsten und treuesten Schüler von Adolph Harleß, 1850 Dr. phil und 1851 Lic. theol., 1851 Subrektor in Ratzeburg, 1853 Gymnasialprofessor in Altenburg, 1857 ao., 1858 o. Professor für Kirchengeschichte und Systematische Theologie in Erlangen, entwickelte von der Erfahrungen der Wiedergeburt aus die orthodoxe lutherische Lehre. 66 Frank: Geschichte und Kritik der neueren Theologie (1894), 247. 67 Martin Kähler (6. Januar 1835 in Neuhausen bei Königsberg – 7. September in Freudenstadt/Schwarzwald 1912), erfuhr seine theologische Prägung durch August Tholuck, 1860 Habilitation in Halle, 1864 ao. Professor in Bonn, 1867 in Halle, 1879 o. Professor, Vertreter der Biblischen Theologie. 68 Kähler: Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, 190–192.
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Einleitung
1.3 Worum es hier gehen soll Im Mittelpunkt vorliegender Untersuchung soll das theologische Anliegen stehen, von dem Kahnis sich leiten ließ, das er in seinem akademischen und kirchlichen Wirken vertrat und das er wissenschaftlich rechenschaftsfähig zu machen suchte. Da neuere Spezialuntersuchungen zu Kahnis nicht vorliegen, muss auch der Kontext, in dem er seine theologische Position bezieht, ausführlicher beleuchtet werden. Das gilt vor allem für seine Biographie, da der Bezug seiner Äußerungen auf seinen lebensgeschichtlichen Kontext für deren Verständnis von großer Bedeutung ist und er bewusst als Person für die von ihm vertretene Sache eintritt (Teil 2). Danach soll Kahnis’ theologischer Ansatz analysiert werden, um den Haftpunkt seiner jeweiligen Ausführungen zu erkennen und damit die systematische Konsistenz seiner Argumentation sowie die Struktur seines Gesamtwerkes wahrnehmen zu können (Teil 3). Von den beiden Polen seines theologischen Eros’ soll dann zunächst sein Festhalten am Überkommenen in seiner konfessionelle Positionierung als dezidierter Lutheraner dargestellt werden, und zwar sowohl hinsichtlich seiner persönlichen Betroffenheit als auch seiner reflektierenden Auseinandersetzung mit den Unionsprojekten seiner Zeit wie in seinem praktischen Einsatz für ein stärkeres Zusammenfinden der Lutheraner (Teil 4). Der andere Pol, die Freiheit zum Fortschreiten, soll danach an den hervorstechenden Punkten aufgezeigt werden, an denen er Vorschläge zur Fortentwicklung der lutherischen Theologie in den Diskurs seiner Zeit eingebracht und eine entsprechende Diskussion ausgelöst hat (Teil 5). Abschließend wird der Versuch unternommen, Kahnis’ theologischen Entwurf kritisch zu analysieren, seinen programmatischen Anspruch herauszuheben, aber auch seine Argumentation auf ihre Tragfähigkeit hin zu hinterfragen, schließlich sein theologisches Anliegen zu würdigen (Teil 6). Grundlage der Darstellung sind vor allem seine im Druck erschienenen Arbeiten. Daneben sind die auf ihn bezogenen Aktenvorgänge aus den Kultusministerien von Berlin und Dresden ausgewertet. Ferner ist Archivmaterial der Leipziger Mission aus der Zeit seiner leitenden Mitarbeit berücksichtigt. Eine wichtige Quelle sind Privatbriefe von Kahnis aus verschiedenen Sammlungen, in erster Linie 22 Briefe an Hengstenberg. Hinzukommen Zeugnisse darüber, wie Kahnis mit Zeitgenossen kooperierte und wie er in seinem Umfeld wahrgenommen wurde. Außerdem dienen Einzelauskünfte unterschiedlicher Stellen der Klärung mancher Details.
2. Biographisches Karl Friedrich August Kahnis wird am 22. Dezember 1814 in Greiz, Hauptstadt 1 des Fürstentums Reuß ältere Linie, als Sohn des Schneidermeisters Johann Friedrich Kanes und seiner Frau Christiane Karoline geb. Ludwig geboren und am 2 1. Januar 1815 getauft. Seine Mutter stirbt bereits am 5. Mai 1822 im 33. Lebens3 jahr, sein Vater am 28. Mai 1844 im 69. Lebensjahr. Kahnis fühlt sich zeitlebens seiner Heimat stark verbunden und sieht auch seinen Familiennamen in der Region verwurzelt. „Ich habe mich meines Namens nicht zu schämen. Ein geborner Voigtländer trage ich einen alten voigtländischen Familiennamen. […] Der Name ist, wie so viele ältere Namen der Länder diesseits der Saale und Elbe sorbischen Ursprungs, und wohl in dem böhmischen Kanecz (kancze: Eber) erhalten, woher innerhalb derselben Familie die Formen Kanes und 4 Kanz sich erklären.“ Der Junge wächst als Einzelgänger mit ausgeprägter Innerlichkeit auf, den es einerseits in die Natur zieht und der andererseits von einem starken Bildungswillen beseelt ist. Seine Lese- und Lernbegeisterung kann er vor allem durch Eigenstudium, das durch seine Tätigkeit als Hauslehrer der Familie Dr. Reiz gefördert 5 wird, befriedigen. 1835 besucht er noch ein halbes Jahr die Lateinschule der 1
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Seine Heimatverbundenheit zeigt sich an der Widmung seines Alterswerkes „Der Gang der Kirche in Lebensbildern“ (Leipzig 1881) „Dem Durchlauchtigsten Souveränen Fürsten Heinrich XXII Reuß Aeltere Linie zu Greiz“, der, 1846 geboren, von 1867 bis 1902 regiert. – Ein Landsmann schreibt über Kahnis: „Mit Stolz nennen wir Reußen ihn den Unseren. Er ist eine Zierde unseres Heimatlandes geworden. Er hat an seiner Reußischen Heimat mit warmer Liebe gehangen, sie oft und gern wieder aufgesucht und ihr dabei durch Predigt und Verkehr mit den Theologen fördersame Anregung gewährt. Dem Reußischen Fürstenhause ist er mit Liebe und Ehrerbietung treu ergeben geblieben“ (Schmidt: Zur Erinnerung an Kahnis, 4). Die Mutter war am 15. April 1790 in Greiz als Tochter eines Schneiders geboren; der Geburtstag des Vaters ließ sich nicht ermitteln. Personaldaten zur elterlichen Familie aufgrund der Kirchenbücher im Evangelischen Pfarramt Greiz. Die Schreibweise variiert zwischen Kanis, Kanes und Kahnis. – An seinem Geburtshaus Schlossberg/Brückenstraße findet sich eine Gedenktafel, die an ihn erinnert. Vgl. Kahnis’ Brief an Hengstenberg vom 2. Juli 1844, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 5. Zeugniß von den Grundwahrheiten, 7f. Kahnis weist in diesem Zusammenhang auf einen Gründer des Dominikaner-Klosters in Plauen 1266 gleichen Namens (Kanis) hin, sowie auf die Herkunft des Reformators Georg Raudt aus diesem Kloster (vgl. Luthers Brief an diesen vom 1. März 1524: WA.B 3, Nr. 715, S. 250). – Die Wendung „nicht zu schämen“ nimmt Bezug auf eine verunglimpfende Ableitung seines Namens vom lateinischen canis/Hund, die er etwa von Friedrich Lücke (24. Juli 1791 in Egeln bei Magdeburg – 14. Februar 1855 in Göttingen), Professor in Göttingen, kolportiert (Brief vom 11. Oktober 1854, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 20). Kahnis gebraucht im Hinblick auf sein auch im Alter schwarzes Haar auch das Wortspiel „Kahnis nunquam canus“ (Luthardt: Professor Kahnis †, 667; Winter: Kahnis, 5; Hübner: Jugenderinnerungen eines Altlutheraners [1934], 122). Schmidt: Zur Erinnerung, 5f. Vgl. die Widmung „Den Herrn W.G. und Dr. E.U. Reiz zu Greiz“ (Dr. Ruge und Hegel [1838]); Luthardt nennt wohl irrtümlich „eine edle Frau Dr. Kritz“ (Professor Kahnis †, 667). – Die irrtümliche Behauptung, Kahnis habe in Greiz das Gymnasium besucht (Kirchner: Kahnis, 22), ist zwar wiederholt worden (Die Professoren und Dozenten der Theologi-
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Franckeschen Stiftungen in Halle, ehe er im September desselben Jahres seine Reifeprüfung ablegt. Wirtschaftlich bleibt der junge Kahnis weitgehend auf sich 7 allein gestellt und lebt in äußerlich sehr eingeengten Verhältnissen.
2.1 Halle und Berlin In Halle beginnt er auch sein Studium, zunächst der Philologie unter dem Eindruck der Hegelschen Philosophie, wie sie dort durch Johann Eduard Erdmann 8 (1805–1892) vertreten wird. Seine innere Entwicklung während seines Studiums beschreibt er selbst so: Frühe mit dem Kirchenglauben zerfallen, ja nicht ohne schwere Zweifel an der Wahrheit aller Religion überhaupt, habe ich schon auf der Schule von der Philosophie die Lösung des großen Weltzwiespaltes zwischen Sein und Wissen erwartet. Auf der Universität Halle haben mich mehr philosophische, klassische und historische Studien als specifisch theologische hingenommen. […] Es ging mir aber im dritten Jahr meiner Universitätsstudien die klare Erkenntniß auf, daß diese [sc. die Hegelsche] Schule das Recht des unmittelbaren Lebens, der Persönlichkeit, der geschichtlichen Mächte, des christlichen Glaubens verkümmere.9 10
Er schließt sich an den Historiker Heinrich Leo (1799–1878) an. Förderung seitens seiner theologischen Lehrer erfährt er in stärkerem Maße allein durch August 11 Tholuck (1799–1877) ; nachdrücklich wirkt sich vor allem dessen Anstoß hinsichtschen Fakultät der Universität Leipzig, 219), ein Gymnasium wurde in Greiz aber erst 1872 eröffnet; vorher gab es nur die notdürftige Lösung einiger weiterführender Klassen an der Bürgerschule, in denen jeweils mehrere Jahrgänge zusammengefasst waren. 6 Aufnahmedatum: 4. Mai 1835, Schülerverzeichnis AFSt/S L8, S. 243, Aufnahmenummer 17286 (Matrikel der Lateinschule). 7 „Wohlwollende Aufnahme“ findet er „im Hause des Justizrats Wilke“ und „in der Familie von Röder“ (Luthardt: Kahnis †, 667). 8 Johann Eduard Erdmann (13. Juni 1805 in Wolmar/Lettland – 12. Juni 1892 in Halle), 1834 Promotion in Berlin, 1836 Honorar- und seit 1839 ordentlicher Professor der Philosophie in Halle, Hegelianer und bedeutender Philosophiehistoriker. 9 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 10. 10 Nach seiner Abwendung von der radikalen Burschenschaft und von Hegel war Heinrich Leo (19. März 1799 in Rudolstadt – 24. April 1878 in Halle) seit 1830 o. Professor der Geschichte in Halle; 1830 wandte er sich dem christlichen Glauben zu; in seiner konservativen Gesinnung hielt er das Königtum von Gottes Gnaden für etwas Natürliches und wandte sich gegen Rousseaus Contrat social; er sah eine geeinte Kirche, nicht aber eine staatliche Einheit, als Voraussetzung einer Wiedergeburt des deutschen Volkes nach idealisierten mittelalterlichen Vorstellungen an; Gegner der Judenemanzipation wegen angeblich negativer Folgen der Rassenmischung; in der historischen Arbeitsweise ein entschiedener Gegner Rankes, indem er die allgemeinen Zusammenhängen für bedeutend hielt, Geschichte mehr erzählte als wissenschaftlich darstellte. – Kahnis: Heinrich Leo, Daheim 11 (1875); Maltzahn: Heinrich Leo; Michael Behnen: Art. Leo, Heinrich. 11 Friedrich August Gottreu Tholuck (30. März 1799 in Breslau – 10. Juni 1877 in Halle), 1823 außerordentlicher Professor in Berlin, 1826 ordentliche Professor in Halle, akademisch-theo-
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lich der Historizität Jesu aus . Eine persönliche Beziehung zu ihm bleibt dauer13 haft bestehen. Luthardt berichtet von einer „entscheidenden inneren Wendung“ bei Kahnis, die in diese Zeit fällt, „deren Gedächtnis sich ihm besonders an eine schwere dunkle Nacht knüpfte, in welcher er mit den finsteren Mächten seiner Seele auf Tod und Leben rang, bis er den Sieg gewann und im Geiste das Kreuz Christi mit beiden Händen erfaßte und auf die Kniee hinsinkend ausrief: ‚Ich weiß, daß mein 14 Erlöser lebt.’“ Das Unendliche erschließt sich nicht etwa im eigenen Freiheitsstreben, sondern erst in der Begegnung mit dem Mensch gewordenen Gottessohn, um „im Glauben an den Unendlichen Jesus Christus nicht durch eigene Kraft, son15 dern durch die Gnade Gottes, des unendlichen Geistes theilhaftig zu werden“. Bestimmend für seine weitere Entwicklung wird ein Freundeskreis, der sich 16 Port Royal nennt. Zu dieser Studentengruppe gehört auch Wilhelm Friedrich
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logischer Vertreter der Erweckungsbewegung. – Kahnis liefert Beiträge für Tholucks „Literarischen Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft“, zeigt sich aber enttäuscht über dessen „ganz indifferente Stellung in dem Leo-Hegelschen Streite“ an der Universität Halle (Brief vom 1. November 1838, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 2). „Als ich die Universität Halle bezog, hob das Leben Jesu von Strauß die ganze theologische Welt aus den Fugen. Dr. Tholuck, der damals sein vortreffliches Buch gegen Strauß vorbereitete, hielt Vorlesungen darüber. Aus diesen Vorlesungen verbunden mit der Lektüre von Strauß habe ich das Resultat gewonnen, daß der historische Kern des Lebens Jesu unerschütterlich auf dem Felsen der apostolischen Zeugnisse ruhe, einzelne historische Schwierigkeiten aber unlösbar seien“ (Zeugniß von den Grundwahrheiten, 20). – David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet I+II (1835/36); August Tholuck: Die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte, zugleich eine Kritik des Lebens Jesu von Strauß (1837). Vgl. die Absage einer geplanten Urlaubsbegegnung in Goslar durch Kahnis (Brief vom 21. Juli 1872 an Tholuck, FStH Tholuck-Briefwechsel B III 4222); bei dieser Gelegenheit spricht er nicht nur seine augenblickliche theologische Arbeit an, sondern auch Familiäres. Vgl. Dörfler-Dierken: „Karfunkellicht“, 198. Luthardt: Professor Kahnis †, 668. Buchbesprechung: Hase, Lehrbuch der evangelischen Dogmatik, LACTW 1840, 433–438.443– 448, dort 448 Der Name spielt auf die beiden Zisterzienserinnenklöster bei Versailles und in Paris an, die als Zentrum des Jansenismus berühmt geworden sind (Schüler: Pascal, Racine). Die Studentengruppe versteht sich also als Zelle kirchlicher Erneuerung. Dies klingt bei Kahnis deutlich in einer späteren Äußerung nach: „Aber wie aus der Einsamkeit von Portroyal sich Adler erheben, welche das Geistesleben von Frankreich mit mächtigem Fluge bewegen, so fand auch der deutsche Pietismus aus den engen Stätten der Erbauung, die er suchte, den Weg zu Fürsten und Königen. Das Christenthum erhebt kein Geschrei auf den Gassen (Mt. 12,19.). Aber es geht der Bahn der Weltgeschichte nach und schlägt in den Vororten des Völkerlebens seine stillen Stätten auf“ (Die Lutherische Dogmatik I [1861], 673). „Kurz das Christenthum nimmt die Hülle aller Zeiten und Völker an, um ihnen das Heil zu bieten“ (ebd., 674). „Die jugendliche Begeisterung, welche nach Art der Jugend in genießlicher Weise überall nur Leben suchte, mußte die Kraft haben[,] zu Schrift, Geschichte, Kirchenglauben und kirchlichen Zielen ein bestimmtes Verhältniß zu gewinnen. Und so wich denn allmälig das erste Feuer subjektiver Neubelebung einem kirchlichen Streben, welches in der Rückkehr zu den Glaubensgrundlagen der Reformation das Heil suchte“ (ebd., 674). – Vgl. Luthardt: Professor Kahnis, 668.
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Besser (1816–1884) , der für seine innere und äußere Entwicklung nachhaltig 18 19 Bedeutung gewinnt, der Pädagoge Theodor Rumpel (1815–1885) und der Jurist 20 Karl Wilhelm Julius Bindewald (1814–1873) , der früher als Kahnis als Referendar 21 nach Berlin wechselt und dort persönlichen Kontakt zu Hengstenberg hält. Von Ostern bis Michaelis 1838 ist Kahnis als Hilfslehrer an der Lateinischen Hauptschule in Halle tätig. Die Entwicklung seiner Frömmigkeit ist eng mit der Ausbildung seiner Theologie verbunden. Zunächst bemüht er sich im Anschluss an Friedrich Schleiermacher (1768–1834), Religion als „Geschmack für das Unendliche“ zu begreifen: „In den Zweifeln und Schwankungen einer nach außen und innen schweren Jugend ist mir das Evangelium Johannis der erste Leitstern der Wahrheit geworden. Es war aber nicht der geschichtliche Christus, welchen ich suchte und fand, sondern die Logosidee[,] von der mir das Leben Jesu nur ein flüchtiger Abglanz, ein gemüthlicher Gegenschein war, auf dem das nach Anschauung und Genuß des Unendli22 chen trachtende Auge vorübergehend ausruhte.“ Entscheidend für seine weitere Entwicklung ist die Hinwendung zur Geschichte als konkretem Ausdruck des Lebens: „Ich sah, daß der Mensch von dem Verklärungsberge der Anschauung herabsteigen müsse in das Leben. Ich konnte aber kein Band der Einheit finden zwischen dem Zuge nach oben und den regen Lebensgeistern in der menschlichen Brust. Dieses Bedürfnis nach einem präsenten Gott, dieß Streben zu wissen, wie Gott allem Endlichen präsent sei, dieser Drang nach Einheit des Geistes in allen 23 seinen Lebensbeziehungen entschied mich für Hegel’s Philosophie.“ „Ich habe mich etwa zwei Jahre innerhalb derselben bewegt. Aber die Ruhe konnte ich dort 17 Wilhelm Friedrich Besser (27. September 1816 in Warnstedt am Harz [heute Ortsteil von Thale] – 26. September 1884 in Niederlößnitz [heute Stadtteil von Radebeul]); 1835 Studium in Halle, 1837 in Berlin, 1838 Amanuensis von Tholuck, seit 1839 Hauslehrer und Prädikant in Wulkow/Mark Brandenburg, 1841 ordiniert und Pfarrer in Wulkow; 1847 amtsentsetzt und Übertritt zu den Altlutheranern, 1848 Pastor der altlutherischen Gemeinde in Seefeld in Pommern, 1854 Kondirektor der Evangelisch-Lutherischen Mission in Leipzig, 1857 Pastor in Waldenburg in Schlesien, ab 1864 zugleich Kirchenrat in Breslau; Dr. h.c. von Rostock in Anerkennung seiner „Bibelstunden“ (14 Bände). 18 Vgl. Winter: Kahnis, 12f. 19 Theodor Rumpel (14. September 1851 in Kassel – 10. April 1885 in Kassel), Oberlehrer an der Lateinischen Hauptschule der Franckeschen Stiftungen in Halle, 1851 erster Leiter, seit 1855 Direktor des Evangelischen (heute: Evangelisch Stiftischen) Gymnasiums in Gütersloh, 1868 Provinzial-Schulrat in Kassel. Vgl. Stephan Grimm u. Heinrich Lakämper-Lührs: Gütersloher schreiben Geschichte (2005), 75f. 20 Karl Wilhelm Julius Bindewald (1814 in Barnewitz – 2. November 1873 in Berlin) tritt 1839 über Tholuck in Beziehung zu Ernst Ludwig von Gerlach (7. März 1795 in Berlin – 18. Februar 1877 in Berlin) und wird einer seiner getreusten Parteigänger, Geheimer Oberregierungsrat im preußischen Kultusministerium in Berlin, 1855–1858 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. 21 Brief von Kahnis an Hengstenberg vom 26. Juni 1841, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 4. 22 Die Lehre vom heiligen Geiste (1847), III–IV. 23 Ebd., IV-V. – Den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (27. August 1770 in Stuttgart – 14. November 1831 in Berlin) erlebte Kahnis freilich nicht mehr, sondern begegnet ihm in seinen Schülern.
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nicht finden.“ Die Hegelsche Lösung wurde ihm verdächtig: „Ich fand das Leben im Begriffe nicht erhalten und erhoben, sondern verdampft. Ich erkannte die Un25 möglichkeit, auf rein logischem Wege das Leben begreifen zu können.“ Den Abstand zwischen Gott und Mensch überwindet nur die Gnade: „Nur wer nie die Gnade erlebt hat, die bei der tiefsten Durchheiligung des sündigen Menschen, doch dem Menschen gerade in der Kluft zwischen Gott und Mensch, welche die Gnade als Gnade ausfüllt, die Quelle unaussprechlicher Seligkeit eröffnet, […] 26 kann auf logischem Wege zu Identitäten kommen, wo schreiender Gegensatz ist.“ Und diese Gnade begegnet unableitbar im geschichtlichen Leben; Kahnis verweist im selben Zusammenhang auf die „Persönlichkeit“ des Paulus, Augustins und Luthers. In der Geschichte entdeckt Kahnis nun eine fundamentale theologische Dimension; diese gehört zum „Wesen des Christentums“, denn im geschichtlichen Leben begegnet Gott. Diese Begegnung mit Gott in seiner geschichtlichen Zuwendung schafft bei Kahnis eine kritische Distanz zur idealistischen Weltbetrachtung. Es klingt wie ein Selbstzeugnis: Es ist unmöglich, daß wer in Furcht und Zittern den Herrn der Heerscharen, deß Name ist heilig, je erkannt und in seinem Namen ein- und ausgegangen ist, ‚den Menschen als offenbar gewordenen Gott’, menschliches Wesen für göttliches Selbstbewusstsein nehmen und vor den Genieen des Tages sich beugen könne; es ist unmöglich, daß, wer im lebendigen Glauben zu Christo gesprochen: Mein Herr und Gott, wer sein Kreuz ergriffen, seinen Geist empfunden hat, diesen Meister zur Fabelwelt der alten Götter schlagen könne, sich statt durch sittliche Erneuerung, durch eine That des Wissens erlöst achten und den fortschreitenden Geist der Zeiten für den gegenwärtigen und kommenden Christus halten; es ist unmöglich, daß, wer je als Träger der Substanz des Geistes Jesu in seiner Kirche sich gefühlt, und doch persönlich erhalten, berechtigt, vom Geiste durchdrungen, für die Ewigkeit geweiht, seine Kniee könnte beugen vor jenem blinden Ungeheuer, Weltgeist geheißen, das zu seiner Vollendung Persönlichkeiten bedarf und doch keine tragen und befriedigen kann.27
Sein religiöses Grunderleben ordnet sich für Kahnis beim Studium Luthers: Mein innerer Anschluß an die lutherische Kirche, in welcher ich geboren bin, hat seinen letzten Grund in meiner Grundauffassung des Christenthums. Der Einzelne, welcher nach langem Suchen endlich das Heil in dem Glauben findet an Jesum Christum den Gekreuzigten, steht ebensomit in dem Kraft- und Lebensquell, aus welchem die deutsche Reformation hervorgegangen ist. Nachdem Gott diesen Heilsgrund in mir gelegt hatte, ist mir Luther der Führer gewesen. Die Tage, wo mir das Verständniß dieses größten aller Kirchenlehrer seit der Apostel Tagen, der 24 25 26 27
Ebd., V. Ebd., V. Sammelbesprechung Fischer, Baader, Trahndorff, LACTW 1840, 612. Die moderne Wissenschaft des Dr. Strauß und der Glaube unserer Kirche (1842), 28f (die als Zitat ausgewiesene Wendung ist eine Formulierung von Strauß).
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zugleich der größte Deutsche ist, aufging, gehören zu den reichsten meines Lebens.28
Kahnis sieht sich damit geprägt durch die beiden Werte Christentum und 29 Deutschtum in einer engen Verknüpfung miteinander. Der Freundeskreis, dem Kahnis in Halle angehört, hat sich um Heinrich Leo gesammelt, für den neben dem religiösen eben der nationale Gesichtspunkt bezeichnend ist. Kahnis’ freundschaftlicher Mentor, der seine akademische Laufbahn begleitet und engagiert fördert, wird Ernst Wilhelm Hengstenberg in Berlin. Kontakte zu ihm ergeben sich über Besser durch Beiträge, die Kahnis für die von jenem redigierte „Evangelische Kirchenzeitung“ liefert. Der Freundeskreis sucht auf diese Weise für seine Parteinahme für Leo eine überregionale Plattform zur Erwiderung auf die Angriffe, die von Vertretern der Hegelschen Linke in Halle gegen diesen erhoben wurden. Mit Brief vom 1. November 1838 stellt Kahnis sich Hengstenberg durch Übersendung seiner Veröffentlichung über Dr. Ruge und 30 Hegel vor und bietet zugleich seine Dienste als Rezensent an. Auf Hengstenbergs Rat verlegt Kahnis seine Habilitationsbemühungen, die dieser ihm durch die Ver31 32 mittlung eines königlichen Stipendiums ermöglicht hat, von Halle nach Berlin. 33 Kahnis siedelt 1841 in die preußische Hauptstadt über. Die Freunde schlagen später in bezeichnender Weise jeweils ihren eigenen kirchlichen Weg ein. So bezieht der aus reformierter Tradition stammende Hengstenberg seinen Standort mehr und mehr als Lutheraner in der preußischen Union. Besser schließt sich den generalkonzessionierten Lutheranern in Preußen, 28 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 42. – Kahnis machte also eine ähnliche Erfahrung, wie sie Gottfried Thomasius wenige Jahre später für die konfessionell-lutherische Richtung überhaupt beschreibt: „Im praktischen Interesse, noch abgesehen von Kirche und Confession, hatten wir uns in den Geist derselben [sc. der Reformation] eingelebt. Wir standen mit unserem Glauben in dem Centrum derselben, weil in articulo justificationis. So waren wir Lutheraner noch bevor wir es wussten“ (Das Wiedererwachen des evangelischen Lebens in der lutherischen Kirche Bayerns [1867], 244). „Von diesem Centrum aus, in dem wir selbst das Heil gefunden, lasen und lebten wir uns nun an der Hand der Schrift tiefer in jenes Bekentniß ein und erkannten darin – oder wenn man will, in den Grundzügen desselben – mit Freuden den Ausdruck unserer eigenen Glaubensüberzeugung. Es werth zu halten, es mitzubekennen war uns fortan selbst eine Glaubens- und Gewissenssache; wir segneten die Kirche dafür, wir freuten uns ihr anzugehören. So sind wir Lutheraner geworden, frei, von Innen heraus“ (ebd., 245). 29 Vgl. schon: Die moderne Wissenschaft, 22.27f.34–38. 30 SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 2. 31 Vgl. sein Dankschreiben vom 25. März 1841, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 3. Zugleich erneuert Kahnis sein Angebot, Rezensionen für die Kirchenzeitung zu übernehmen. 32 Vgl. Kahnis’ Antwort vom 26. Juni 1841 auf das Angebot von Hengstenberg, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 4. Mit diesem Brief schickt Kahnis eine Rezension von Kratander: Anti-Strauss. Ernstes Zeugnis für die christliche Wahrheit wider die alte und neue Unglaubenslehre, Stuttgart 1841, die dann in EKZ 1841, 425–429, gedruckt vorliegt. Eine weitere Besprechung über ein Buch von Feuerbach kündigt er an. 33 Sein letzter Brief aus Halle an Hengstenberg, mit dem er diesem mitteilt, dessen Vorschlag, nach Berlin überzusiedeln, annehmen zu wollen, aber noch keine Schritte zur praktischen Durchführung getroffen zu haben, datiert vom 26. Juni 1841 (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 4).
Breslau
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den so genannten Altlutheranern, an. Kahnis’ Weg führt ihn in die Lutherische Landeskirche Sachsen. In Berlin habilitiert Kahnis sich 1842 als Lizenziat der Theologie mit einer lateinischen Abhandlung über das Verhältnis der antiken Philosophie zum Chris34 35 tentum und einer Disputation am 6. August . Hier kommt er in Kontakt mit vielen bedeutenden Leuten. Im Winter 1843 lernt er in einer Abendgesellschaft bei 36 Hengstenberg seine spätere Frau Elisabeth von Schenckendorff (1827–1899) kennen, die mit der Familie ihren Vater, den Landrat Friedrich Wilhelm von Schen37 ckendorff (1794–1861) , zu einer Sitzung des Landtags in die Hauptstadt begleitet. Über Weihnachten besucht Kahnis seinen Freund Besser, der als Lehrer im Hause von Schenckendorffs nach Wulkow (heute Ortsteil von Neuruppin) gekommen war und nun am Ort Pastor ist. Kahnis ist zu Gast im Hause von Schenckendorff und trifft wieder mit Elisabeth zusammen. Sie verloben sich am 1. Januar 1845.
2.2 Breslau Eine entscheidende Zwischenstation auf seinem Weg nach Leipzig ist seine Zeit in Breslau. Mit Schreiben vom 15. Mai 1844 ernennt Minister Johann Albrecht 38 Friedrich von Eichhorn (1779–1856) den Lizenziaten Dr. Kahnis aufgrund einer Kabinetts-Ordre vom 11. Mai zum außerordentlichen Professor an der Evangelisch-theologischen Universität Breslau für das Fach der historischen Theologie, 34 An diese Arbeit knüpft er später noch einmal ausdrücklich an: Ueber das Verhältniß der alten Philosophie zum Christenthum (1884), III. – Die Angabe, Kahnis habe sich bereits 1840 in Berlin habilitiert (Luthardt: Professor Kahnis †, 668), ist unzutreffend, er ist auch noch nicht 1840 nach Berlin übergesiedelt (Die Professoren und Dozenten der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, 219), sondern erst ein Jahr später. Die zutreffende Jahresangabe findet sich bei Elliger: 150 Jahre Theologische Fakultät Berlin (1960), 51. 35 Theses Theologicae quas summe reverendi ordinis theologorum in Universitate Literaria Friderica Guilelma auctoritate pro gradu licentiati in sacrosancta theologia rite obtinendo publica defendet die VI. m. Augusti a. MDCCCXLII. hora X. Carolus Augustus Kahnis Ruthenus, Berolini, Formis Nietackianis. Die Thesenreihe enthält an letzter (VII.) Stelle bereits den bezeichnenden Satz: „Ecclesia sine symbolis nulla.“ 36 Karoline Leopoldine Elisabeth von Schenckendorff (21. Juni 1821 in Berlin – 13. November 1899 in Leipzig). 37 Friedrich Wilhelm von Schenckendorff (21. Juni 1794 in Schönow – 18. Februar 1861 in Wulkow bei Neuruppin), Landrat des Kreises Neuruppin und Erbherr auf Wulkow bei Neuruppin, verheiratet mit Caroline Luise Elisabeth geb. von Kircheisen (14. April 1794 in Berlin – 15. Dezember 1850 in Wulkow), einer Tochter des Preußischen Justizministers Friedrich Leopold von Kircheisen (28. Juni 1749 in Berlin – 18. März 1825 in Berlin). – Vgl. Kahnis’ Widmung „Seinem theuren Schwiegervater Herrn Friedrich Wilhelm von Schenckendorff, Königl. Landrath, Major a.D., Ritter etc“ in: Der innere Gang (11854, 21860). 38 Johann Albrecht Friedrich von Eichhorn (2. März 1779 in Wertheim a. M. – 16. Januar 1856 in Berlin), Jurist, Teilnahme an den Freiheitskriegen, seit 1817 Mitglied im preußischen Staatsrat, 1831 Direktor der zweiten Abteilung im Außenamt, 1840–1848 preußischer Kultusminister. Unter ihm wird die Eigenständigkeit der kirchlichen Verwaltung eingeleitet.
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verbunden mit der Weisung, sich unverzüglich dorthin zu begeben, um schon im bereits begonnenen Sommersemester seine Vorlesungstätigkeit dort aufzuneh39 men. Seine Disputation „De spiritus sancti persona capita duo“, die dadurch Widerspruch auslöst, dass er die Personalität des Heiligen Geistes bestreitet, hält 40 er im Sommer des nächsten Jahres. Die Ernennung nötigt ihn aufgrund seiner immer noch höchst eingeschränkten wirtschaftlichen Verhältnisse um finanzielle Unterstützungen für den Umzug 41 nach Breslau zu bitten. Unter den neuen Lebensumständen, die sich dann aber ergeben, schließt er am 27. September 1845 die Ehe mit Elisabeth von Schencken42 dorff. Den Eheleuten werden fünf Kinder geschenkt, von denen zwei in frühster 43 Kindheit sterben; die Tochter Elisabeth sowie die Söhne Bernhard und Hein44 rich wachsen heran. 1850 nimmt Kahnis seine wesentlich jüngere Halbschwester 39 Kabinets-Ordre vom 11. Mai 1844 (GStA Kultusministerium, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 10 Bd. 9, Blatt 100); Bestallung vom 15. Mai 1844 (ebd., Blatt 101); Anschreiben dazu (ebd., Blatt 103 = ebd., Tit. IV Nr. 8 Bd. 12, Blatt 211) mit Informationsschreiben an andere Adressaten (ebd., Tit. IV Nr. 10 Bd. 9, Blatt 102f). Ihm wurde ein Gehalt von 400 Talern jährlich zugesagt. 40 Ankündigung im Brief vom 20. Juli 1845, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 10. Druck: De spiritus Sancti persona capita duo […] pro munere rite obtinendo D. XIV. M. Augusti A. MDCCCXLV […] publice defendet Carolus Augustus Kahnis, Vratislaviae, 30 Seiten. 41 Er bittet den Minister am 18. Mai um einen Gehaltsvorschuss, der ihm am 20. Mai bewilligt wird (GStA Kultusministerium, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 10 Bd. 9, Blatt 106f; Original des Bittgesuchs: SBB Sammlung Darmstädter 2 d 1854 Blatt 3f). Auch Hengstenberg gewährt Kahnis einen Kredit als Starthilfe, den dieser erst verspätet zurückerstatten kann (Briefe vom 3. Juni und 2. Juli1844; SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 5 u. 6). 42 Winter: Kahnis, 73f. 43 Die Tochter Karoline Elisabeth (4. Dezember 1852 in Leipzig – 9. Februar 1917 in Greiz) heiratet am 30. Juli 1873 Hermann Reinhold Carl Johann von Samson-Himmelstjerna (7. April 1845 in Pernau/Estland – 24. März 1913 in Zeulenroda), der 1866-1871 in Dorpat, Erlangen, Tübingen und Leipzig studiert hatte, derzeit Pastor am Diakonissenhaus in Mitau/Kurland (heute Lettland), 1875 Pastor in Lassahn bei Lauenburg, Oberpfarrer in Münchenbernsdorf/Thüringen, 1883 Pfarrer in Fraunreuth, 1900 Oberpfarrer in Zeulenroda. Vgl. Kahnis’ Widmung an den Schwiegervater seiner Tochter: „Sr. Excellenz Herrn Armin von Samson-Himmelstiern, Vicepräsidenten des Kaiserlichen Hofgerichts zu Riga“ in: Der innere Gang I (³1874); Georg Armin von SamsonHimmelstjerna (16. September 1808 in Reval – 3. März 1886 in Sepküll), hatte die Stellung des Vizepräsidenten des livländischen Hofgerichts von 1867 bis 1875 inne. Vgl. ebenfalls die Ansprache des Schwiegersohnes im Trauerhause am 21. Juni 1888 (Worte der Erinnerung und des Trostes am Sarge des am 20. Juni 1888 entschlafenen Domherrn Professor D. Kahnis [1888], 3-12). Von den fünf Kindern aus der Ehe der Tochter lebt später eine Tochter als Pfarrfrau im Reußischen, zu dem Fraunreuth damals gehörte, nämlich Veronica Adelheid Willms geb. von SamsonHimmelstjerna (2. Juli 1879 in Münchenbernsdorf – 24. November 1933 in Fraureuth); vgl. Schmidt: Zur Erinnerung, 4. Die Schreibweise des Namens wechselte von Himmelstiern zu Himmelstjerna, bzw. Himmelstjern. 44 Der Sohn Heinrich Kahnis (21. Februar 1855 in Leipzig – 17. Juni 1925 in Leipzig) besucht von Michaelis 1865 bis Ostern 1872 das Nikolaigymnasium in Leipzig und hierauf die Fürstenschule zu Meißen, wo er Ostern 1875 das Maturitätsexamen besteht. Er studiert hierauf in Leipzig (seit Sommersemester 1875 Mitglied im Theologischen Studenten-Verein) und Tübingen Theologie und legt Ostern 1879 in Leipzig die theologische Kandidatenprüfung ab. 1879/80 genügt er seiner Militärpflicht, danach Privatlehrer in Frankfurt a/M. und Leipzig, 1882 Lehrer, 1883 Oberlehrer, später Gymnasialprofessor am Nikolaigymnasium in Leipzig. Veröffentlichungen: Bibelkunde für
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Luise Kahnis (1838–1891) nach dem Tode ihrer Mutter in sein Haus auf, die er zusammen mit seiner Frau später zu Löhe nach Neuendettelsau begleitet, wo sie 45 Diakonisse wird. Für Kahnis ist die eigene Familie in ihrer gastfreundlichen Offenheit für Studierende und Freunde von großer Bedeutung. „So war das Kahnis’sche Haus eine Stätte glücklichsten, aus deutscher Gemütstiefe und evangelischer Frömmigkeit 46 erblühten Familienlebens“, wie Berthold Schmidt aus eigenem Erleben bezeugt. Kahnis’ Schwiegersohn zieht einen Vergleich mit dem Bild, das man von Luthers Familienleben hatte: „Ich habe als Student oft sinnend vor dem so ansprechenden Bilde im Leipziger Museum ‚Luther im Kreise der Seinen’ gestanden mit dem geheimen Wunsch im Herzen, daß mir auch einmal ein solches Stück christlichen Familienlebens zu Theil werde. Was ich mir damals wünschte, das ist mir im Hau47 se meiner lieben Schwiegereltern zu Theil geworden.“ Speziell weist er auf die Hausmusik hin. Kahnis’ Berufung nach Breslau steht im Zusammenhang von Bemühungen, dem dort noch herrschenden Rationalismus unter Führung von David Schulz 48 49 (1779–1854) ein kirchlich-positives Gegengewicht entgegenzustellen. So weist der Minister Kahnis ausdrücklich an den Vertreter der neuen Richtung, August 50 Hahn (1792–1863) : „Ueber die Auswahl dieser Vorlesungen wollen Sie Sich
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höhere Schulen (1893, 21900, 31908), Die natürliche Freiheit des Menschen (1895), Kurze Morgengebete in Bibelsprüchen und Liedversen (1904), David und Goliath (Schuldrama), Leipzig 1914, Beiträge in der Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht (1912f). Luise Kahnis (23. Mai 1838 in Greiz – 5. Juni 1891 in Neuendettelsau), Einsegnung als Diakonisse am 15. April 1859, 1861 in der Krankenpflege am städtischen Krankenaus in Dessau, 1878 Hausmutter im Feierabendhaus in Neuendetteslau, 1880 Hausmutter in der „Blödenanstalt“. Vgl. Correspondenzblatt der Diaconissen von Neuendettelsau 34 (1891), Nr. 8 August, 30f. Schmidt: Zur Erinnerung, 22. – Vgl. auch Luthardt: Professor Kahnis†, 670. Worte der Erinnerung und des Trostes (1888), 10. – Bei dem genannten Gemälde handelt es sich um das Werk von Gustav Adolf Spangenberg (18281891) aus dem Jahre 1866. David Schulz (29. November 1779 in Pürben bei Freystadt – 17. Februar 1854 in Breslau), Rationalist, seit 1803 Studium der Theologie und der Philosophie in Halle, 1806 Doktor der Philosophie, 1807 Habilitation in Leipzig, 1809 ordentlicher Professor der Theologie in Frankfurt/Oder, ab 1811 aufgrund der Verlegung der Universität in Breslau, 1819 Konsistorialrat, 1845 aus dem Konsistorium entfernt. In demselben Jahr wie Kahnis wurde Karl Friedrich Gaupp als praktischer Theologe und ein Jahr später Gustav Friedrich Öhler als Alttestamentler berufen, nachdem bereits 1833 August Hahn als Systematiker nach Breslau geholt worden war, alles lutherisch ausgerichtete Theologen der positiven Richtung. 1845 wurde demgegenüber Schulz das Amt eines Konsistorialrates entzogen. Eichhorn „bekämpfte die Extremen zur Linken, während er die Rechten schonte“ (Weinhardt: Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung in der altpreußischen Landeskirche des 19. Jahrhunderts, 307). August Heinrich Hahn (27. März 1792 in Großosterhausen bei Querfurth – 13. Mai 1863 in Breslau), Studium in Leipzig 1810–1814, Examen in Dresden, 1819 ao., 1821 o. Professor in Königsberg, 1826 o. Professor in Leipzig (1827 Habilitationsschrift gegen den Anspruch der Rationalisten, vertritt selbst eine vermittelnde biblische Richtung), 1833 Professor und Konsistorialrat in Breslau, sein heftigster Gegner Schulz, seine Aufgabe war, die Gemüter zu beruhigen angesichts der Lutheraner; sein Rat, den Gemeinden keinen Zwang anzutun, wurde nicht befolgt (zu seinem
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gleich nach Ihrer Ankunft in Breslau mit dem Herrn Ober-Consistorial-Rath und 51 Professor Dr. Hahn besprechen.“ So wird er denn auch von diesem kirchlichen Kreis willkommen geheißen: „Hahn hat mich außerordentlich freundlich aufgenommen. Die wenigen Gläubigen haben mich mit überraschender Liebe aufgenommen. Ein reicher Kaufmann hat mir auf einem Monat eine ganze Etage ein52 geräumt.“ Mit seiner Frau steht er in einem engen freundschaftlichen Kontakt 53 zur Familie des Grafen Ferdinand zu Stolberg-Wernigerode (1775–1854) und 54 dessen Ehefrau Marie Agnes Gräfin zu Stolberg-Stolberg (1785–1848) in Peterswaldau, hat also durchaus Rückhalt in den höheren gesellschaftlichen Kreisen. Kahnis’ Stellung gestaltet sich schwierig und bringt manche Kontroversen mit sich. Zunächst berichtet er von einer Störung seiner Vorlesung, die eine durch Mediziner verstärkte große Schar von Studenten gegen ihn zu veranstalten ver55 suchte, dann aber doch von einem recht günstigen Start seiner Lehrtätigkeit: „Bis jetzt ist Alles mit sichtbarem Segen gegangen. Bei 80 Theologen und so spätem Beginne ist ein Privatum von 11 immer etwas. Das Publicum ist bis jetzt noch sehr 56 gefüllt.“ Und er kann auch einen ansehnlichen Kreis von Geistlichen um sich sammeln, in dem kirchliche Fragen besprochen werden und zugleich eine mit der „Evangelischen Kirchenzeitung“ vernetzte, bewusst kirchliche Einstellung beför57 dert wird, die sich auch auf die Stimmung in der Regionalsynode auswirkt.
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Eintreten in Hönigern vgl. Kellner: Gottes Führen [31868], 136–150), seit 1843 Generalsuperintendent von Schlesien, 1854 heiratete seine jüngste Tochter Clara den lutherischen Pastor Theodor Rehm (11. Juli 1828 in Memmingen – 25. Mai 1903 in Thorn) in Brüssow bei Stettin, und er nahm an der Trauung, die nach ihrem Übertritt in die lutherische Kirche in der Katharinenkirche zu Breslau stattfand, in Amtsrock und Ordenszeichen teil (Kellner, ebd., 150). Vgl. Die geschichtlichen Wendepunkte (1883), 25–27. Schreiben vom 15. Mai 1844 an Kahnis, GStA Kultusministerium, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 10 Bd. 9, Bl. 103 (= Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 8 Bd. 12, Bl. 211). – Ein entsprechendes Schreiben geht unter demselben Datum an Hahn (Sekt. 4 Tit. IV Nr. 10 Bd. 9, Bl. 102). Brief vom 3. Juni 1844, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 6. Ferdinand zu Stolberg-Wernigerode (18. Oktober 1775 in Wernigerode – 20. Mai 1854 in Peterswaldau), Landrat und Regierungspräsident (1831–1844), auch Präsident des Konsistoriums. Marie Agnes zu Stolberg-Stolberg (4. Mai 1785 in Kopenhagen – 16. Oktober 1848 in Peterswaldau), Tochter des 1800 zum Katholizismus übergetretenen Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg (7. November 1750 in Bramstedt/Holstein – 5. Dezember 1819 auf Gut Sondermühlen bei Osnabrück). Kahnis berichtet von Gesprächen mit ihr in seinem Haus (Stolberg und Voß (1876), 24. Brief vom 2. Juli 1844, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 5. – Dieses studentische Verhalten hat nicht unbedingt tiefere sachliche oder persönliche Gründe. Im folgenden Jahr zeigen die Studenten ihren Widerstand auch gegen Öhler, wenn auch auf andere Weise: „Ich erfuhr später, daß die Taktik, deren man sich gegen mich hier bedienen wollte, nicht die der Spektakel, sondern die des Ignorirens sei“ (Öhler-Zitat bei Knapp: Gustav Friedrich Oehler, 97). Brief vom 2. Juli 1844, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 5. Die Wendung „Bei uns“ (Bonwetsch: Aus vierzig Jahren Deutscher Theologie I, 151) beruht auf einem Lesefehler. – Eine herausfordernde Provokation durch eine Gruppe von Medizinstudenten aufgrund antirömischer Ressentiments hatte er abwehren können. Schon unter dem 29. November 1844 (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 7) berichtet er Hengstenberg: „Sie können denken, daß unsere Versammlungen (vier Geistliche und etwa 10–12 Candidaten), deren beständiger Präses ich bin, jetzt sehr belebt sind. Es waren letzten Mittwoch über 30
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Schon ein Jahr später zeichnet sich Resignation ab: „Mit meiner Thätigkeit geht es hier, wie Sie wohl schon gehört haben, schlecht genug. Boshafte Feinde, matte Freunde. Durch eine Reihe sehr schwerer Schläge, die Sie, da die meisten rein innerlicher Art sind, wohl nur zum vierten Theile wissen können, bin ich ausgebrannt. Ich schreibe indeß sehr fleißig an einer Schrift, über die ich, bevor 59 der erste Theil vollendet ist, nicht gerne zuvor viel sprechen mag.“ Insgesamt aber ist es für ihn keine glückliche Zeit. In einem Brief an Hengstenberg vom 19. Juni 1847 schreibt er: Ich betrachte überhaupt meinen ganzen Aufenthalt in Schlesien als meinen Zuchtaufenthalt. Ich sollte mich hier verkühlen. Ich sollte gebrochen werden. Ich sollte meine Richtung durch ernste Einkehr und gründliche Studien mehr begründen. So habe ich es angesehen. Was ich gelitten habe, weiß nur Gott. Aber auch die kleinen Geister müssen eine Wüstenzeit, einen Aufenthalt in Arabien, eine Wartburgszeit durchmachen. Es wird schon besser werden.60
Dabei ist Schlesien keineswegs ein abgelegener Ort in den geistigen und kirchlichen Entwicklungen dieser Zeit. Nicht nur die Auseinandersetzungen um die Zukunft der evangelischen Kirche, die hier einerseits durch die Reklamierung des angestammten Rechtes des lutherischen Bekenntnisses und andererseits in der Behauptung einer radikalen Glaubensfreiheit besondere Schärfe erreichen, sondern auch die deutschkatholische Bewegung hat hier ihr Zentrum. Kahnis regist61 riert auch diese Vorgänge mit kritischer Wachheit.
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da. Es sind Persönlichkeiten da, über deren Geist u. Kraft ich nicht satt werden kann mich zu freuen. Ich will einige Namen nennen. Der Hauptredner ist Thiel. Der trug seinen Bericht (im Namen der Specialcommission verfasst) über die Presbyterienfrage bei uns vor. Die Majorität in der Commission war dafür, er selbst natürlich und alle, die da waren, dagegen. Es ist zu hoffen, daß die Presbyterien durchfallen in der Hauptsitzung.“ – Johann Carl Friedrich August Thiel (7. Mai 1804 in Sagan – 24. September 1886), 1828 Lektor an St. Elisabeth, 1828 Ekklesiast (Prediger) am Allerheiligenhospital, 1831 Pastor in Weigwitz Kreis. Ohlau. Öhler berichtet im November 1845 über die traurige Situation in Breslau insgesamt und dabei auch: „Kahnis hat nur ein einstündiges Publikum mit drei Studenten zu Stande gebracht“ (Knapp: Oehler, 100). Brief vom 3. Dezember 1845, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 9. – Kahnis hat also bereits mit der Arbeit an seiner Lehre vom heiligen Geist begonnen, deren erster Teil 1847 erscheint. Im Juli erfolgt der Druck (Brief vom 19. Juli 1847, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 11). SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 11. – Die Bezugnahme auf Jesus, Paulus und Luther zeigt die Grundsätzlichkeit dieser Äußerung. Allerdings meldet Kahnis am 28. Oktober 1847 (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 12) eine gewisse Verbesserung: „Ich erlaube mir noch die nachträgliche Bemerkung, daß es dießmal mit meiner Vorlesung verhältnißmäßig gut steht. Allmälig wird es doch besser werden.“ Hengstenberg nimmt eine Briefpassage als Anmerkung in seine Evangelische Kirchenzeitung auf: Brief von Kahnis an Hengstenberg vom 20. Februar 1845, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 8, mit einigen Änderungen als Anmerkung zu G(uericke): Die „freien Katholiken“ und die Lichtfreunde, EKZ 36 (1845), Sp. 163–165, dort 163f , eingeführt als „Urtheil eines unserer Correspondenten“, also ohne Namensnennung; auch die Namen innerhalb des Textes sind unkenntlich gemacht. Es handelt sich um ein Gespräch, das Kahnis mit Huschke über Johannes Ronge (16. Oktober 1813 in Bischofswerda – 20. Oktober 1887 in Wien) führte, der, bereits 1843 als
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Kahnis Überzeugungen nehmen unterdessen immer stärker ausgeprägt lutherisches Profil an, so dass er sich schließlich der lutherischen Kirche anschließt, die sich im Protest gegen die Union zu behaupten versucht. Damit wird seine Stellung als Professor immer schwieriger, so dass er zum Ende des Sommersemesters 1850 62 seine Bitte um Entlassung einreicht. Der Minister entspricht ihr ohne weiteres.
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Als der Leipziger Theologieprofessor Adolph Harleß (1806–1879) als Oberhofprediger nach Dresden berufen wird, legt die Fakultät aufgrund einer Aufforderung des Ministeriums, ihm Vorschläge für die Neubesetzung der Stelle eines ordentlichen Professors der Theologie „für die Dogmatik und zwar von der theologischen Richtung, welche der D. Harleß zeither an der Universität vertreten hat,“ 64 65 zu unterbreiten , eine Dreierliste vor. Diese nennt an erster Stelle Gottfried 66 67 Thomasius (1802–1875) , an zweiter Johann Tobias Beck (1804–1878) und an
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Kaplan in Grottkau in Schlesien amtsentsetzt, 1844 in einem offenen Brief anlässlich der Ausstellung des Heiligen Rocks in Trier zur Gründung einer deutsch-katholischen Nationalkirche aufgerufen hatte und am 4. Dezember 1844 exkommuniziert worden war, jedoch mit seiner „Rechtfertigung“ (1845) und weitere Broschüren rauschenden Beifall der Menge und Ehrungen durch das liberale Bürgertum fand; 1848 war er als Vertreter der äußersten Linken Mitglied des Frankfurter Parlaments, ging danach nach England und kehrte 1861 nach Deutschland zurück. Im Brief vom 25. Juli 1845, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 10, geht Kahnis auch auf Johann Anton Theiner (15. Dezember 1799 in Breslau – 15. Mai 1860 in Breslau), Exeget und Anhänger der Reformbewegung, ein, dessen Exkommunikationsverfahren gerade läuft; nachdem er bereits 1830 seine ao. Professur an der Universität Breslau hatte niederlegen müssen und Gemeindepfarrer geworden war, wird er im Oktober 1845 exkommuniziert, nachdem er den Deutschkatholiken beigetreten ist: „Das hiesige Capitel hat den Theiner noch nicht excommunicirt. Allgemein meint man, er habe zu gefährliche Dokumente in den Händen, vermutlich eine äußerst bedenkliche Correspondenz mit dem gegenwärtigen Fürstbischof.“ Zu diesen Vorgängen vgl. unten unter IV. 1. Gottlieb Christoph Adolph (von) Harleß (21. November 1806 in Nürnberg – 5. September 1879 in München),1833 Prof. in Erlangen, 1845 in Leipzig, 1850 Vizepräsident des Landeskonsistoriums Sachsen, 1852 Präsident des bayerischen Oberkonsistoriums, Begründer der Erlanger Theologie und der „Zeitschrift für Protestantismus und Kirche“, bemühte sich um Einigung der lutherischen Kirchen, 1854 geadelt. Vgl. seine Charakterisierung durch Kahnis (Die geschichtlichen Wendepunkte, 29). Schreiben an die theologische Fakultät vom 7. März 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93 Bl. 68. – Die Fakultät interpretiert in ihrer Antwort die angesprochene „theologische Richtung“ lang und breit im Sinne eines „positiven Christenthums“. – Zu dem gesamten Vorgang vgl. auch Kirn: Die Leipziger Theologische Fakultät in fünf Jahrhunderten (1909), 204f. Bericht der Theologischen Fakultät an das Ministerium vom 22. März 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 69–73. Gottfried Thomasius (26. Juli 1802 in Egenhausen in Mittelfranken – 24. Januar 1875 in Erlangen), 1821–1825 Studium in Erlangen, Halle und Berlin, 1829 Pfarrer in Nürnberg, 1842 o. Professor für Dogmatik und Universitätsprediger in Erlangen.
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dritter Albert Liebner (1806–1871) . Zunächst ergeht eine Berufung an Gottfried Thomasius, die Harleß persönlich überbringt. Obwohl der Ruf nach Leipzig in seinen Augen „sowohl von Seiten des Wirkungskreises, den er verhieß, als der äußeren Vortheile, die er bot, höchst lockend für mich gewesen wäre,“ meint Thomasius jedoch, sich von seinem Arbeitsfeld in Erlangen nicht trennen zu kön69 nen und lehnt ab. Die Fakultät hat sich also keineswegs generell einer Berufung eines konfessionell lutherischen Theologen widersetzt, wie man aus ihrem Widerstand gegen die Berufung von Kahnis schließen könnte. Und Harleß ging es in erster Linie wohl darum, einen Mann seines persönlichen Vertrauens nach Leipzig zu bekommen. Mit ihrem Dreiervorschlag hatte die Fakultät ein ausdrückliches Votum gegen Kahnis verbunden: Schließlich können wir nicht umhin, uns noch über den außerordentlichen Professor Lic. Kahnis in Breslau, den ein allgemein verbreitetes Gerücht als denjenigen bezeichnet, auf welchen das Königliche Ministerium besonders reflectire, in Kürze dahin auszusprechen, daß wir nach dem, was ein Mitglied unseres Collegiums aus persönlicher Bekanntschaft mit dem Genannten weiß, sowie nach genauen, von unparteiischen Männern eingezogenen Erkundigungen über denselben, kaum eine für unsere Universität ersprießliche Thätigkeit von Lic. Kahnis erwarten dürfen. Denn wie günstig auch einer über den Umfang und die Gründlichkeit seiner noch wenig documentirten Studien urtheilen möge, das können wir nicht übersehen, daß sich Lic. Kahnis bisher, mit Ausnahme eines einzigen Versuchs über Exegese des Neuen Testamentes, auf Kirchengeschichte, Dogmengeschichte, Patristik und Symbolik als academischer Lehrer beschränkt hat. Ueber Dogmatik hat er, wie wir verbürgen können, Vorlesungen noch nicht gehalten, wie denn auch seine Schrift über den heiligen Geist da abbricht, wo die dogmatische Erörterung beginnen soll. Bleibt sonach der wissenschaftliche Beruf zu einem Lehrer der Dogmatik mehr als zweifelhaft, so spricht auch die bisherige Wirksamkeit des Lic. Kahnis durchaus nicht zu seinen Gunsten, da die Zahl seiner Zuhörer selbst in seinen eigentlichsten Fächern stets nur eine sehr geringe gewesen ist. Endlich gibt die ganze Parteilichkeit des noch jungen Mannes keine Garantie für ein angemessenes collegialisches,
67 Johann Tobias Beck (22. Januar 1804 in Balingen – 28. Dezember 1878 in Tübingen), 1822–1826 Studium der Theologie in Tübingen, 1829 Stadtpfarrer in Mergentheim, 1836 ao. Professor in Basel, 1843 o. Professor für systematische Theologie in Tübingen. 68 Karl Theodor Albert Liebner (3. März 1806 in Schkölen/Naumburg – 24. Juni 1871 auf einer Reise in Meran), 1835 ao. Professor in Göttingen, 1844 o. Professor in Kiel, wurde 1851 nach Leipzig berufen. Kahnis berichtet: „In dem vergangenen Semester hat Liebner in einem solchen Grade gegen die Orthodoxie in seinen Vorlesungen geeifert, daß eine Anzahl ernster Studenten sich höchlich beschwert gefunden haben“ (Brief vom 11. Oktober 1854, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 20). 1855 wechselte Liebner nach Dresden als Oberhofprediger. 69 Schreiben von Thomasius an das Ministerium in Dresden vom 12. April 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93 Bl. 74.
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geschweige denn harmonisches Zusammenwirken, wie wir es eben als einzig wünschenswerth aussprechen.70
Die Fakultät versagt dann konsequent auch die von ihr mit Schreiben des Ministeriums vom 29. Juni erbetene Zustimmung zu einer Berufung Kahnis’, indem sie in 71 ihrer Antwort vom 6. Juli ihre Bedenken wiederholt. Das Ministerium berücksichtigt diesen deutlichen Vorbehalt der Fakultät nicht, da er seiner Meinung nach „auf mangelnder Kenntniß der speziell in Breslau obwaltenden Umstände ruht“ und „unter diesen Umständen kein Schluß auf 72 eine mangelnde Befähigung des Prof. Kahnis gezogen werden kann,“ und beruft 73 Kahnis am 4. Oktober 1850 zum Professor der Dogmatik in Leipzig. Dieser 74 nimmt die Berufung mit Schreiben am 19. Oktober an und wird daraufhin per Dekret vom 22. Oktober ernannt und – bei Offenhalten der fünften – in die sechs75 te Professur eingewiesen. Kahnis beginnt seine Tätigkeit sogleich im Wintersemester, und zwar in den 76 beiden Fächern Dogmatik und Kirchengeschichte, da Christian Wilhelm Nied77 78 ner (1797–1865) kurz zuvor am 30. August 1850 sein Amt niedergelegt hat. Erst am 11. Januar 1851 hält Kahnis seine Antrittsvorlesung über das Wesen der Kir70 Bericht der theologischen Fakultät an das Ministerium vom 22. März 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 72v–73. 71 Schreiben der Fakultät an das Ministerium vom 6. Juli 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 80–81. 72 Schreiben an die Fakultät vom 7. September 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 98. Das Ministerium konstatiert dabei einen Gegensatz des Vorgehens der Verwaltung zur Gesetzeslage in Preußen. Der Fakultät bleibt nichts, als sich nach erfolgter Berufung „diesem Beschluße zu unterwerfen“ (Schreiben vom 13. Oktober 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 101). 73 Schreiben an Kahnis vom 3. Oktober 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 96. Nähere Informationen über das Gehalt vom 1200 Talern jährlich zuzüglich zusätzlicher Vergütungen in einem Schreiben an Kahnis vom 22. Oktober 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 100 – Bereits aufgrund der Designation für Leipzig hatte August Vilmar (21. November 1800 in Solz bei Bebra – 30. Juli 1868 in Marburg)) Überlegungen fallen lassen, ihn nach Marburg zu berufen (Hopf: August Vilmar II, 205). 74 Kahnis’ Schreiben an den Minister vom 19. Oktober 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 102–103. Das Schreiben des Ministers hatte ihn erst verspätet über Breslau und Greiz in Leipzig erreicht. 75 Schreiben vom 22. Oktober. In diesem Verfahren liegt offensichtlich ein Zugeständnis an die Fakultät; denn ein Jahr später erhält der von ihr favorisierte Liebner eben diese fünfte Professur. 76 Anzeige an den Minister in Kahnis’ Schreiben vom 19. Oktober und im Schreiben des Ministers an die Fakultät mit Dekret vom 22. Oktober. 77 Christian Wilhelm Niedner (9. August 1797 in Oberwinkel nahe Glauchau – 13. August 1865 in Berlin), 1819 ao., 1836 o. Professor der Theologie in Leipzig, 1850 Amtsniederlegung aufgrund seiner demokratischen Haltung, 1859 o. Professor in Berlin. Im Schlusswort beim Ende der „Zeitschrift für historische Theologie“ würdigt Kahnis als letzter Herausgeber Niedner, seinen Vorgänger in der Redaktion dieser Zeitschrift (ZHTh 45, 1875, 622–624). 78 Schreiben von Niedner an den Staatsminister Friedrich Freiherrn von Beust (13. Januar 1809 in Dresden – 24. Oktober 1868 in Schloss Altenberg bei Wien) vom 30. August 1850, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 83.
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che. Am 27. Februar 1851 verleiht ihm die Erlanger Fakultät unter dem Dekanat 79 von Johann Christian Konrad Hofmann (1810–1877) den Doktor der Theologie 80 „h. c. wegen seiner Verdienste um die lutherische Kirche“. Kahnis tritt in mehrfacher Hinsicht in die Nachfolge von Harleß ein, dessen Weggang als sehr schmerzlich empfunden wird. So übernimmt er schon am 6. November das Präsidium im „Theologischen Studentenverein“, der nach der Verabschiedung von Harleß am 29. Januar in eine deutliche Krise geraten ist und 81 fast vor seiner Auflösung steht, und führt ihn über Jahrzehnte zu recht stetiger Entwicklung, wobei er sich durch Leitung der theologischen Gespräche intensiv 82 an den wöchentlichen Abenden in das Vereinsleben einbringt. Die „Philadelphia“, die eng mit dem Studentenverein zusammenarbeitet, begleitet er – ebenfalls 83 in der Nachfolge Harleß’ – beratend. Auch tritt er als Harleß’ Stellvertreter vor Ort in die Leitung der „Evangelisch-Lutherischen Mission zu Leipzig“ ein. „Mit wenig innerer Freudigkeit und sehr geringen Erwartungen“ übernimmt er 1865 auch die Leitung der „Historisch-theologischen Gesellschaft“, weil er sie in gewisser Weise für ein Pendant des Theologischen Studentenvereins und der Philadelphia und damit für entbehrlich hält, und damit verbunden 1866 die Redaktion der 84 85 „Zeitschrift für historische Theologie“ (Bd. 36–45) , bis beide 1875 ihr Ende 86 finden. 79 Johann Christian Konrad Hofmann (21. Dezember 1810 in Nürnberg – 20. Dezember 1877 in Erlangen), Studium in Erlangen und Berlin, 1835 Repetent, 1838 Privatdozent, 1841 ao. Professor in Erlangen, 1842 o. Professor in Rostock, 1845 in Erlangen, 1857 geadelt. 80 Verzeichnis der Erlanger Promotionen 1743–1885. Teil 1, 18. – Friedrich Tuch (17. Dezember 1806 in Quedlinburg – 12. April 1867 in Leipzig), damals Dekan (vgl. Die Professoren und Dozenten der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, 277), hatte Kahnis bei ihrer ersten Begegnung gelegentlich dessen Besuches in Leipzig, bei dem er auch von Kultusminister Freiherr von Beust sowie von den Geheimen Kirchenräten empfangen wurde, auf die Notwendigkeit der Promotion angesprochen; Brief vom 7. Oktober 1830, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 99. 81 Ahner[, Max]: Geschichte des Theologischen Studenten-Vereins zu Leipzig, in: Festschrift des Theologischen Studenten-Vereins (1875), 38f. Gegründet war der Theologische Studenten-Verein zu Leipzig am 17. Februar 1846 in enger Beziehung zu Harleß. 82 Die Festschrift verzeichnet die Themen, die Kahnis Semester für Semester in diesem Kreis verhandelt hat. Daraus geht hervor, dass stets aktuell die Gegenstände seiner jeweiligen Publikationen besprochen wurden. 83 Vgl. Festschrift des Theologischen Studenten-Vereins 1875; Winter: Kahnis, 91–94; Schmidt: Zur Erinnerung, 21f. 84 Christian Friedrich Illgen (16. September 1786 in Chemnitz – 4. Dezember 1844 in Leipzig), 1818 ao. Professor für Philosophie, 1823 ao., 1825 o. Professor für Theologie in Leipzig, hatte 1814 die „Historisch-theologische Gesellschaft zu Leipzig“ und 1832 die „Zeitschrift für die historische Theologie“ gegründet. Ab 1844 war diese von Christian Wilhelm Niedner herausgegeben worden. Nach dem Tode Niedners wird Kahnis am 19. August 1865 zum Präses der Gesellschaft und zum Redakteur der Zeitschrift gewählt. 85 Schon in seinem Vorwort zum 2. Heft des Jahrganges 1866 bekennt er: „Es ist eine mißliche Sache, das Steuerruder eines Schiffes von zweifelhafter Zukunft zu übernehmen, weil die öffentliche Meinung gewöhnlich nach dem Erfolge urtheilt“ (ZHTh 36 [1866], III–IV). Einziger Beitrag von Kahnis in dieser Zeit ist sein Vortrag über die heilige Elisabeth, ZHTh 38 (1868), 592–617,
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Vor allem übernimmt er von Harleß die schwierige Stellung zur übrigen Fakultät, die rein wissenschaftlich arbeitet und die ausgesprochen kirchliche Ausrich87 tung seines Dienstes nicht teilt. Bereits im kommenden Jahr (1851) erfolgt gleichsam zum Ausgleich für die Brüskierung der Fakultät durch die Berufung Kahnis’ nun die Berufung von Albert Liebner, den die Fakultät bereits zur Nachfolge Har88 leß` wärmstens empfohlen hatte, als weiterem Kirchengeschichtler. Im Beru89 fungsverfahren für Benno Brückner (1824–1905) vom außerordentlichen zum ordentlichen Professor legt Kahnis ein Separatvotum vor, in dem er die Notwendigkeit dieser Hausberufung und eine bereits erwiesene Eignung des Kandidaten infrage stellt und sich damit gegen eine Stärkung des alten Kerns der Fakultät zu 90 91 wehren versucht. Kahnis fühlt sich deutlich isoliert. Beachtenswert ist, dass das persönliche Verhältnis zu den Fakultätskollegen unbelastet ist. „Sonst sind meine 92 Verhältnisse zu den Herren Collegen nicht uneben“, urteilt er lapidar. Eine Wendung wird eingeleitet, als Liebner 1855 Leipzig wieder verlässt, als Oberhofprediger nach Dresden geht und gleichzeitig Kahnis eine für ihn durchaus
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auch als Separatdruck erschienen (Gotha 1868), sowie als eigenes Kapitel in: Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 277–300. „Zuletzt aber galt es nur noch, das was todt war, für todt zu erklären. Und dies geschah durch den Beschluß vom 4. Juni 1875, welcher die Gesellschaft für aufgelöst erklärt hat“ (Schlußwort, ZHTh 45 [1875], 617–628, dort 626). Ebd., 624, auch das im Text vorausgehende Zitat. In seinem Schlusswort bietet Kahnis einen kurzen Abriss der Geschichte des Vereins und der Zeitschrift, zugleich eine Würdigung seiner Vorgänger Illgen und Niedner. Bezeichnend ist seine Charakterisierung seines Fakultätskollegen Winer: „Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich Winer’n eine Art Liebe zu mir zuschreibe. In der Hauptsache ist freilich mit ihm kein Verständniß. Aber seine bewundernswürdige Gelehrsamkeit, seine originelle Schärfe in der Auffassung aller Verhältnisse, seine Gerechtigkeit für die Kirchenlehre, seine immer mehr dem Positiven zulenkende Exegese sind Seiten, welche mich anziehen“ (Brief vom 28. Oktober 1851, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 18). – Johann Georg Benedikt Winer (13. April 1789 in Leipzig – 12. Mai 1858 in Leipzig), 1819 ao., 1823 o. Professor in Erlangen, 1832 in Leipzig, 1845 Domherr in Meißen. Kahnis kommentiert diese Berufung sehr spitz: „Ich bezweifle sehr, ob Liebner hier viel machen wird. Ich habe Grund zu glauben, daß die Regierung ihn berufen hat, um der Fakultät dafür daß sie mich hat hineinschlucken müssen ein Abführungsmittel zu geben“ (Brief vom 28. Oktober 1851, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 18). Benno Bruno Brückner (9. Mai 1824 in Rosswein bei Dresden – 2. Mai 1905 in Berlin), Studium in Leipzig, 1848 Dr. theol., 1853 ao., 1855 o. Professor für Neues Testament in Leipzig, 1869 in Berlin als Propst und o. Honorarprofessor, 1873 zugleich Generalsuperintendent. Separat-Votum vom 20. April 1855, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/93, Bl. 189–191. Die Einschätzung von Kirn: „Kahnis wurde ernannt und wusste die ungünstige Stimmung, die ihm zunächst entgegenkam, durch seine vortrefflichen persönlichen Eigenschaften wie durch sein hervorragendes Lehrtalent in kurzer Frist zu überwinden“ (Die Leipziger Theologische Fakultät, 205), ist sicher zu euphemistisch und von späteren Eindrücken geprägt. Brief vom 28. Oktober 1851, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 18. – In sehr persönlicher Anteilnahme schreibt er über den rationalistischen Exegeten Karl Gottfried Wilhelm Theile (25. Februar 1799 in Groß-Korbetha – 8. Oktober 1854 in Leipzig), der in den letzten Jahren erblindet war, aber aufgrund seiner finanziellen Lage seinen Dienst weiter tun musste, am Tage seines Begräbnisses (Brief vom 11. Oktober 1854, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 20).
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verlockende Berufung nach Erlangen erhält. Da Kahnis empfindet: „Ich bin einer so isolirten Stellung nicht bloß um der Schwierigkeiten willen, die sie hat, sondern ganz besonders um der Gewissensbeschwerden, in die sie mich nicht selten ver94 setzt, auf die Länge nicht gewachsen“ , macht er sein Bleiben in Leipzig davon abhängig, dass ein Mann seiner eigenen Richtung berufen wird. Kultusminister 95 Johann Paul Freiherr von Falkenstein (1801–1882) schreibt ihm: „Ich fühle lebhaft, wie nahe die Wiederbesetzung dieser Stelle insbesondere Sie persönlich berührt und finde es sehr erklärlich, daß Sie Ihr Gehen oder Bleiben vornehmlich von der Ihnen hier bevorstehenden neuen Genossenschaft abhängig machen 96 möchten.“ Unterstützt auch durch eine studentische Bittschrift erhält Kahnis am 8. Februar 1856 die Zusicherung des Ministers, dass die frei gewordene Professur 97 mit einem Mann der Richtung besetzt wird, die Kahnis selbst vertritt. Daraufhin erklärt er mit Schreiben vom 13. Februar, in Leipzig bleiben zu wollen, obwohl ihn zwischenzeitlich noch eine eindringliche Bitte aus München erreicht hat, doch 98 unbedingt dem Ruf nach Erlangen zu folgen. Am 28. Februar findet ein Fest99 mahl in großem Freundeskreis aus Freude über diesen Ausgang statt. An demselben Tag ergeht der Ruf an Ernst Luthardt, den dieser mit Schreiben vom 93 Die Professur des Kirchengeschichtlers Johann Georg Veit Engelhardt (12. November 1791 in Neustadt/Aisch – 13. September 1855 in Erlangen), 1821 oa., seit 1822 o. Professor in Erlangen, war durch dessen Tod frei geworden. 94 Brief an den Kultusminister vom 1. Februar 1856, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/94, Bl. 20–21. 95 Johann Paul Freiherr von Falkenstein (15. Juni 1801 in Pegau – 14. Januar 1882 in Dresden), 1823 Habilitation als Jurist, Karriere im Verwaltungsdienst, 1853 Kultusminister, Ausbau der Universität Leipzig, führte die Berufungsverhandlungen meistens selbst, 1866–1871 Vorsitz im Gesamtministerium, danach Minister des königlichen Hauses, enges Verhältnis zu König Johann von Sachsen. 96 Schreiben an Kahnis vom 8. Februar 1856, ebd., Bl. 26–28. Der Minister weist freilich darauf hin, dass seine bisherigen Bemühungen um die Wiederbesetzung sich bisher als äußerst schwierig erwiesen hätten. Hofmann in Erlangen etwa hatte eine Berufung abgelehnt. 97 Der Minister gibt Kahnis zwei Zusicherungen, nämlich einerseits, „daß Sie bei der nächsten Vakanz einer höheren Stelle in der theologischen Facultät in derselben aufrücken u. bei dieser Gelegenheit eine Erhöhung Ihres dermaligen Einkommens von mindestens 300 Th. erhalten sollen,“ und andererseits, „daß ich nur einen solchen kirchlichen Theologen berufen werde, welcher mit seiner Ueberzeugung und mit seinem Herzen in unserer evangelisch-lutherischen Kirche steht u. den von unserer Landeskirche geforderten Eid mit gutem Gewissen leisten kann“ (ebd.). Vgl. Winter: Kahnis, 37f. 98 „Ich bin aber nach gründlicher Prüfung dieses Antrages unter Beistand bewährter Freunde in meinem Entschlusse auf Grund des von Euer Excellenz gnädigst Zugestandenen in meinem dermaligen Wirkungskreise zu bleiben nur bestärkt worden und will nicht unerwähnt lassen, daß ein gestern empfangenes Schreiben des Fürsten Heinrich XX von Reuß-Greiz, dessen geborner Unterthan ich bin, mir eine in hohem Grade erbauliche Bestätigung gewesen ist, daß ich das Rechte ergriffen habe. Ich werde unverzüglich ein Absageschreiben nach Erlangen abgehen lassen. Auf meinen Entschluß aber, mit neuer Liebe und Hingabe mich meinem seitherigen Wirkungskreis zu widmen, möge Gott seinen Segen legen“ (Brief Kahnis’ an den Kultusminister vom 13. Februar 1856, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10183/94, Bl. 32–33). 99 Nachrichten. Leipzig, den 29. Februar 1856, SKSB 6 (1856), 83f.
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6. März annimmt. Als Luthardt nach Leipzig kommt, entsteht zwischen ihnen beiden ein enges freundschaftliches Einvernehmen. Allerdings wandelt sich die Gesamtsituation erst allmählich; fünf Jahre später äußert sich Kahnis noch sehr 100 deprimiert. In einer Zeit, als die Universität Leipzig einen starken Aufschwung erlebt und 101 die theologische Fakultät sich zur meistbesuchten in Deutschland entwickelt, 102 entfaltet Kahnis damit über Jahrzehnte eine wirkungsvolle Lehrtätigkeit, wie sie 103 ihm in Breslau niemals beschieden gewesen wäre. Von der anfangs sechsten Professur steigt er 1853 auf die fünfte, 1855 auf die vierte, 1857 auf die dritte, 1858 auf die zweite und 1867 auf die erste Professur auf; diese Rangfolge bedeutet auch 104 jeweils Gehaltsverbesserungen. Mit seinem Aufrücken in die zweite Professur verbunden ist zudem, dass er 1860 Domherr des Hochstifts Meißen wird. Mehrmals bekleidet er das Amt des Dekans der Theologischen Fakultät (1855f, 1857f, 105 106 1865f, 1868f, 1875f, 1883f), 1864/1865 das des Rektors der Universität. In die-
100 „Als ich im Jahre 1850 nach Leipzig kam, war unser Bekenntniß zwar nur in wenigen Köpfen vertreten, aber sehr regsam und kräftig. Der Ministerpräsident Beust war kirchlich gesinnt, Harleß Oberhofprediger, ich war auf dem Katheder, als Redakteur des Kirchen- und Schulblattes und in der Mission wenigstens thätig, Ahlfeld, Besser, Luthardt, Zezschwitz kamen hinzu. Aber der Minister von Falkenstein hat im Stillen uns eine Position nach der andern genommen. Er machte Liebner zum Oberhofprediger, Lechler zum Superintendenten, brachte vor Allem Brückner in die Fakultät. Dieser hat als Prediger und Universitätslehrer eminenten Erfolg“ (Brief vom 9. Dezember 1861, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 22). Allerdings sieht sich Kahnis nicht in der Lage, den Unterschied präzise anzugeben: „Auch läßt sich der Gegensatz gegen diese Leute gar nicht formulieren. Gegen ihre Rechtgläubigkeit ist nichts einzuwenden. Sie haben die Worte der Kinder Gottes. Und doch --“ (ebd.). Offenbar empfindet er eine unterschiedliche Art der Frömmigkeit und Mentalität. Nicht zu übersehen ist auch, dass gerade von Falkenstein Kahnis’ Bleiben in Leipzig ermöglichte, indem er den konfessionellen Lutheraner Luthardt berief. 101 Die Zahl der Theologiestudenten in Leipzig erreicht 1854 ihren Tiefpunkt mit 155, steigt danach bis 1869 auf 389 und wird damit die stärkste in Deutschland (Halle 308; Berlin 274; Tübingen 250; Erlangen 183) (AELKZ 1870, 173f), 1884/85 ist sie sogar auf 700 gewachsen, soviel Theologen wie Anfang der 50er Jahre die ganze Universität an Studenten aufgewiesen hatte (Wagner: Delitzsch, 92). 102 Verzeichnis seiner Leipziger Lehrveranstaltungen (ohne sein erstes Semester, das WS 1850/51, aber mit den Ankündigungen für das Wintersemester 1885/86, in dem Kahnis nicht mehr gelesen hat) siehe: http://histvv.uni-leipzig.de/dozenten/kahnis_kfa.html. 103 In Breslau gibt es in der Zeit durchschnittlich 70 bis 80 Studenten der Theologie, Schulz findet stets ein namhaftes Auditorium, während die übrigen 10 Dozenten viele Vorlesungen kaum zustande bringen (Winter: Kahnis, 20). Diese Situation bessert sich auch in der Folgezeit nicht: 1853 sind nur 38, 1874/75 nur 37 Theologiestudenten eingeschrieben, in den Jahren 1858–1881 steigt ihre Zahl zeitweise bis auf über 100, sinkt aber zwischendurch unter diese Marke. 104 Die Professoren und Dozenten der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, 324–327. 105 Hehl: Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur, 525–528. 106 Vgl. seine „Antrittsrede über den innigen Zusammenhang der theologischen Wissenschaft mit den übrigen Universitätswissenschaften“, gehalten am 31. Oktober 1864, in: Drei Vorträge (1865), 1–17, sowie zum Ende seiner Amtszeit das Reformationsprogramm „Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien“ (Zur Feier des Reformationsfestes und des Uebergangs des Rektorats […], 1865). – Das Bild als Rektor zeigt Kahnis in dem Ornat, das König Johann von
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sen Ämtern verfasst er einem bis in das 17. Jahrhundert zurück reichenden Brauch der Leipziger Universität entsprechend zahlreiche Universitätsprogramme, wie sie zu den christlichen Festen, besonders zum Reformationsfest anlässlich des Rekto107 ratswechsels, ausgesandt werden.
Kahnis als Rektor im Ornat (1864–1865) (Bildarchiv des Evangelisch-Lutherischen Missionswerkes in Leipzig)
Bis Juli 1885 wirkt er 23 Jahre lang auch als Lehrer am Prediger-Kollegium zu St Pauli an der Leipziger Universitätskirche, nachdem dieses am 10. November 108 1862 eröffnet worden ist. Es steht unter dem Direktorat des ersten UniversitätsSachsen (1801–1873) 1855 der Leipziger Universität gestiftet hat, bestehend aus Kette und Hermelinumhang. 107 Als Dekan im Auftrag eines Rektors, der kein Theologe war, 1855 Reformationsprogramm „Vindiciae Pacis Religionis Augustanae“, Teil 1 (vgl. dazu: Die Feier des Augsburger Religionsfriedens an der Universität, SKSB 5 [1855], 585–587), 1856 Pfingstprogramm „Vindiciae Pacis Religionis Augustanae“, Teil 2 – aus Anlass des 300jährigen Gedächtnisses des Augsburger Religionsfriedens von 1555 –; 1857 sogar während des Rektorats seines Fakultätskollegen Friedrich Tuch Pfingstprogramm „Symbolae Apologeticae“, Teil 1, Reformationsprogramm „Symbolae Apologeticae“, Teil 2; 1858 Pfingstprogramm „De angelo Domini diatribe“; 1868 Reformationsprogramm „Zur Unionsfrage“; 1875 Reformationsprogramm „Ueber das Verhältniß der alten Philosophie zum Christenthum“, Teil 1; 1883 Reformationsprogramm „Ueber das Verhältniß der alten Philosophie zum Christenthum“, Teil 2; selbst als Rektor sowie als designierter Dekan 1865 Reformationsprogramm „Über die in Wesen des Protestantismus liegenden Principien“. 108 Vgl. das Regulativ über das Prediger-Collegium zu St. Pauli vom 21. August 1862, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10192/2.
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predigers und dient in ganzjährigen Kursen der abschließenden Vorbildung theologischer Kandidaten für die Praxis des Pfarramtes. Auf dem Lehrplan steht auch die Beschäftigung mit der Bekenntnistradition und mit dogmatischen 109 Fragen; die Betreuung dieser Bereiche deckt Kahnis ab. In das kirchliche Leben der Stadt wirkt er durch seine Predigten hinein, zumal auch, indem er Friedrich Ahlfeld (1810–1884), der wie er selbst als Nachfolger von 110 Harleß in die Stadt gekommen ist, in dessen Bemühen um eine Erneuerung lutherischer Frömmigkeit unterstützt. Bezeichnend ist, dass der aus der römischkatholischen Kirche exkommunizierte Priester Karl Freiherr von Richthofen 111 (1832–1876) im Hause Kahnis Aufnahme findet und von Kahnis im Kreise seiner Familie geistlich begleitet wird, als er sich am 12. Dezember 1875 durch Ahl112 feld in die lutherische Kirche aufnehmen lässt. Von April 1853 bis 1857 redigiert Kahnis das „Sächsische Kirchen- und Schulblatt (SKSB)“ (Bd. 3–6), das Organ der lutherisch-kirchlichen Richtung, das 1851 begründet und die ersten beiden Jahre 113 von Hermann Gustav Hölemann (1809–1886) betreut worden war. Bei Übernahme der Schriftleitung erklärt Kahnis: „Das Bekenntniß ist es, was die evangelisch-lutherischen Landeskirchen eint. Wird das confessionelle Bewußtsein erstarken, so wird auch die Einheit der lutherischen Landeskirchen mehr und mehr zu Erscheinung kommen. Diesem Ziele entgegenzuarbeiten, müssen sich die landeskirchlichen Organe um so mehr zur Pflicht machen, als bis jetzt ein entsprechen114 des allgemeines Organ noch nicht vorhanden ist.“ 115 Auch in das politische Leben wird er für einen Moment hineingezogen. 1866 nimmt er als Abgeordneter der Universität an dem außerordentlichen Landtag 109 Vgl. die ausführlichen, jährlich erstatteten Berichte der Fakultät an den Kultusminister, HStA Dresden Bestand 11125.2 Sign. 10185/6 und 10192/2. 110 Johann Friedrich Ahlfeld (1. November 1810 in Mehringen/Anhalt – 4. März 1884 in Leipzig), 1838 Pfarrer in Alsleben bei Aschersleben, 1847 an der Laurentiuskirche in Halle (Saale), 1851 an der St. Nikolaikirche in Leipzig verbunden mit vielfältigen weiteren kirchlichen Tätigkeiten. 111 Karl Ferdinand Wilhelm Freiherr von Richthofen (31. Januar 1832 auf Gut Hertigswalde bei Jauer/Schlesien – 7. März 1876 in Berlin), evangelisch getauft, aber katholisch erzogen, Theologiestudium in Breslau, 1862 Priesterweihe in Breslau, 1867 Pfarrer in Hohenfriedberg, 1872 Domkapitular in Breslau, 1873 exkommuniziert, weil er sich dem Vatikanum nicht unterwirft, 1873 altkatholischer Pfarrer in Gleiwitz, am 12. Dezember 1875 in Leipzig Übertritt zur lutherischen Kirche; er stirbt anlässlich eines Besuches bei seinem Bruder, dem bedeutenden Geologen und Geographen Ferdinand Freiherr von Richthofen (5. Mai 1833 in Karlsruhe/Oberschlesien – 6. Oktober 1905 in Berlin) und wird am 11. März in Hohenfriedberg durch Besser beerdigt. 112 Winter: Kahnis, 73f. 113 Hermann Gustav Hölemann (8. August 1809 in Bauda bei Großenhain – 28. September 1886 in Leipzig), 1853 ao., 1867 o. Honorarprofessor für Exegese in Leipzig), setzt sich für Latein als Gelehrtensprache ein. Vgl. (Tauberth:) Hermann Gustav Hölemann, AELKZ 1886, 1100–1104. 114 SKSB 3 (1853), 217. – Ein allgemeines Organ tritt erst mit der AELKZ 1868 ins Leben. 115 Grundsätzlich bekennt Kahnis: „Ich halte mich hier [sc. in Leipzig] von allen politischen Kundgebungen fern, welche nach meiner Meinung einem Theologen nicht ziemen. Aber meiner politischen Ueberzeugung nach bin ich wie einst in Preußen Royalist, der sich in die Konstitution nur deshalb findet, weil der König sich diese Schranke gesetzt hat“ (Zeugniß von den Grundwahrheiten, 25).
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(1. Kammer) teil. In einer Rede am 8. Juni erklärt er unter Beifall: „Wo Recht, Wahrheit, Treue heimisch sind, da ist das Lager von Deutschland, und wo das ist, da ist auch der Segen Deutschlands, da ist der, der noch immer die erste Macht 117 der Welt ist, Gott.“ Damit stellt er sich hinter die vom Königreich Sachsen verfolgte Linie, die sich dann freilich im Krieg nicht durchsetzt. Die Theologische Fakultät Leipzig entwickelt in dieser Periode ein stark konfessionell lutherisches Profil. Dies geschieht in enger Beziehung zu Erlangen, Kahnis tritt damit aus dem preußischen Umfeld in ein neues Netzwerk ein. Harleß bildet den eigentlichen Kristallisationspunkt dieser Verbindung. Er war 1845 von Erlangen nach Leipzig berufen worden und kehrt über Dresden 1853 nach Bayern zurück. Als Schüler von Harleß lehrt Franz Hermann Reinhold Frank bis Herbst 1851 in Leipzig und tritt dann 1857 als Professor in Erlangen an. 1850 scheitert die Berufung von Gottfried Thomasius von Erlangen nach Leipzig, und damit erübrigen sich zugleich erste Pläne einer Berufung von Kahnis nach Erlangen. 1851 erhält Kahnis den theologischen Ehrendoktor von Erlangen und versieht als Dank dafür 1851 seine „Lehre vom Abendmahle“ mit einer ausführlichen Widmung an die Erlanger Fakultät. 1855 erhält der Erlanger Hofmann eine Berufung nach Leipzig, die er jedoch nicht annimmt. Anfang 1856 bekommt, gleichsam im Gegenzug, Kahnis eine Berufung nach Erlangen, der nun wieder er nicht folgt. Im demselben Jahr kommt der Erlanger Ernst Luthardt, der kurze Zeit in Marburg gelehrt hat, nach Leipzig. Zu ihnen gesellt sich dann ein Jahrzehnt später Franz Delitzsch, der 1832 in Leipzig habilitiert worden war und über Rostock (1846; dort Nachfolger Hofmanns) und Erlangen (1850) 1867 wieder nach Leipzig zurückkehrt. Damit bildet sich das berühmte Leipziger Dreigestirn: Kahnis, Luthardt, Delitzsch. Luthardt bekennt: „Mit Kahnis und mir verband ihn [sc. Delitzsch] von vornherein die gleiche kirchliche Sinnesweise und gemeinsame Wirksamkeit zu enger persönlicher Freundschaft, so verschieden wir sonst wa118 ren.“ Zu den konfessionell-lutherischen Theologen, die eine Verbindung zwischen den beiden Fakultäten bildeten, gehört auch Gerhard von Zezschwitz 119 (1825–1886) , der Kahnis eng verbunden ist; er wirkt zunächst ab 1856 als 2. Universitätsprediger und von 1857 bis 1861 als außerordentlicher Professor für Neues Testament und Katechetik in Leipzig, nach einer Zwischenzeit in Neuendet-
116 In den Anwesenheitslisten unter Nr. 5: Domherr Dr. Kahnis. 117 Winter: Kahnis, 72. 118 Luthardt: Erinnerungen aus vergangenen Tagen, 371f. 119 Karl Adolf Gerhard von Zezschwitz (2. Juli 1825 in Bautzen – 20. Juli 1886 in Erlangen), ab 1846 Studium der Theologie in Leipzig, 1856 Lic. theol , 1857 Dr. theol. habil., 1858 ao. Prof. für Theologie in Leipzig, 1861 Beurlaubung aus gesundheitlichen Gründen, 1865 ao. Prof. in Gießen, in demselben Jahr Honorarprofessor in Erlangen, 1866 dort o. Prof. für Praktische Theologie. Vgl. Ambrosy: Gerhard von Zezschwitz (1998), der allerdings auf das Verhältnis von Zezschwitz’ zu Kahnis nicht eingeht.
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telsau, Frankfurt a. M. und Gießen findet er dann 1865 sein Wirkungsfeld als 120 Praktischer Theologe in Erlangen. Eine besondere Freundschaft verbindet Kahnis mit seinem voigtländischen 121 Landsmann und Kollegen Constantin (Freiherr von) Tischendorf (1815–1874) , der ihn die fortschreitende textkritische Arbeit im Neuen Testament aus nächster 122 Nähe genau miterleben lässt. Aufmerksam begleitet Kahnis den Werdegang einer neuen, bedeutenden Theologengeneration in Leipzig, ohne jedoch in ihr einen eigenen Schülerkreis aufzu123 bauen. Nähere Verbindung zur Familie Kahnis findet Oskar Leopold von Geb124 125 hardt (1844–1906) , dessen Forschungsarbeit Kahnis überaus wertschätzt. 120 Vgl. Luthardt: Erinnerungen aus vergangenen Tagen, 370. – Die Studienjahre von Zezschwitz’ in Leipzig fallen noch in Harleß` Zeit, durch den er nachhaltig geprägt wird. 121 Lobegott Friedrich Constantin Tischendorf (18. Januar 1815 in Lengenfeld – 7. Dezember 1874 in Leipzig), 1840 theologische Habilitation in Leipzig, 1844 dort ao. Professor, 1850 o. Honorarprofessor, 1860 o. Professor für Theologie, herausragender neutestamentlicher Textforscher, Entdecker des Codex Sinaiticus. 122 Worte am Sarge seines im Herrn entschlafenen Freundes, in: Am Sarge und Grabe des D. th. Constantin von Tischendorf, 9f; Rückblick auf das Leben des Entschlafenen, ebd., 19–27. Vgl. Kahnis’ späteres Urteil über Tischendorf: „Der glänzendste Name aber, der aus Winers Schule hervorging, war Tischendorf, der bis jetzt noch als der unerreichte Meister der neutestamentlichen Textkritik dasteht“ (Die geschichtlichen Wendepunkte, 28). 123 Außer Oskar Leopold von Gebhardt und Adolf Harnack, die noch besonders zu nennen sind, gehörten zu diesem Kreis junger Theologen: Julius Wilhelm Martin Kaftan (30. September 1848 in Loit bei Apenrade/Nordschleswig – 27. August 1926 in Berlin), mit Harnack befreundet, 1873 Privatdozent in Leipzig, im Herbst desselben Jahres in Basel, dort 1874 ao. und 1881 o. Professor, 1883 in Berlin, 1904–1925 Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats; Emil Schürer (2. Mai 1844 in Augsburg – 30. April 1910 in Göttingen), seit 1867 in Leipzig, 1868 Dr. phil., 1869 Lic. theol. und Habilitation, Privatdozent für Neutestamentliche Wissenschaft, 1873 ao., 1878 Professor in Gießen, 1890 in Kiel, 1985 in Göttingen; Wolf Graf von Baudissin (26. September 1847 auf Gut Sophienhof bei Kiel – 6. Februar 1926 in Berlin), 1870 Dr. phil. in Leipzig, 1874 Lic. theol. und Habilitation für alttestamentliche Wissenschaft, 1876 ao., 1880 o. Professor in Straßburg, 1881 in Marburg und 1900 in Berlin, Schüler von Franz Delitzsch; Caspar René Gregory (6. November 1846 in Philadelphia – 9. April 1917 in einem Feldlazarett bei Neuchâtel-sur-Aisne/Frankreich), 1873 Studium in Leipzig unter Constantin von Tischendorf, führte dessen Arbeit fort, 1884 Habilitation, 1889 ao. und 1891 o. Honorarprofessor in Leipzig; (Paul) Martin Rade (4. April 1857 in Rennersdorf bei Herrnhut – 9. April 1940 in Frankfurt am Main), 1875–1878 Studium in Leipzig, 1881 Lic. theol., 1886 Herausgeber der Zeitschrift „Die Christliche Welt“, 1900 Habilitation in Marburg, 1904 a.o., 1921 o. Professor in Marburg; Friedrich Loofs (19. Juni 1858 in Hildesheim – 13. Januar 1928 in Halle a. d. Saale), 1881 Dr. phil. In Leipzig, 1882 dort Lic. theol. und Habilitation für Kirchen- und Dogmengeschichte, 1886 ao. Professor in Leipzig, 1887 in Halle, ab 1888 Ordinarius; und William Wrede (10. Mai 1859 in Bücken bei Hannover – 23. November 1906 in Breslau), 1877– 1879 Studium in Leipzig bei Kahnis, 1879–1881 in Göttingen, 1893 ao., 1895 o. Professor in Breslau. 124 Oskar Leopold von Gebhardt (22. Juni 1844 in Wesenberg/Estland – 9. Mai 1906 in Leipzig), der Bruder des Malers Eduard von Gebhardt, Studium der Theologie 1862–1866 in Dorpat, 1867– 1870 in Tübingen, Erlangen, Göttingen und Leipzig, dort lernt er 1872 Adolf Harnack kennen,
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Adolf Harnack (1851–1930) , der Kahnis’ direkte Art liebt, schildert seine eigene Situation als junges Mitglied in der Fakultät folgendermaßen: „Das kam in Leipzig so, daß es wohl noch niemals einem jungen Mann, vielleicht Melanchthon ausgenommen, so glücklich ging wie mir. […] Die Situation, die ich vorfand, war, daß zwar ausgezeichnete Leute da waren – denn diesen Ruf hatten sie –, zugleich aber, daß sie schlechte Musikanten für die Studenten waren – das kann ich ruhig sagen – so daß ich mit 23 Jahren auf einmal eine Ernte einheimsen konnte, wie sie sonst nur auf der Höhe des Lebens beschert ist.“ Weiter: „Und dann kamen alle diese ausgezeichneten jungen Leute. Auf einmal war es mir also beschert, sodaß ich die deutliche Empfindung hatte: Du hast wirklich die besten Studenten, die da 128 sind.“ Die Fakultät vermag ihn allerdings nicht so zu fördern, wie sie es wohl 129 gerne möchte.
der sein enger Freund wird, 1875 Assistent an der Universitätsbibliothek Leipzig, 1876 Kustos in Halle, 1880 an die Universität Göttingen versetzt, 1884 an der Königliche Bibliothek Berlin, 1889 Titel Professor, 1893 Oberbibliothekar und Professor in Leipzig, 1901 Direktortitel, Edition bedeutender griechischer Handschriften der biblischen und der patristischen Literatur, zumal zusammen mit seinem Freund Adolf Harnack. – Vgl. vor allem seine Einladung zur Hochzeitsfeier von Kahnis’ Tochter Elisabeth am 30. Juli 1873 (SBB Sammlung Darmstädter 2 d 1854, Blatt 11), sowie andere Einladungen durch Frau Kahnis (ebd., Blatt 5, 7 und 9). 125 Von Gebhardt, damals bereits in Göttingen, berichtet 1880 zusammen mit Adolf Harnack über ihre Entdeckung: Evangeliorum codex Graecus purpureus Rossanensis. Kahnis rühmt die Auffindung dieses Codex in Italien in seinem Brief vom 12. Juli 1880 (SBB Sammlung Darmstädter 2 d 1854, Blatt 13 und 14): „Meinen wärmsten Dank für das kostbare opus aere perennius, das Sie und Freund Harnack mir bescheert haben. Ich habe es mit dem größten Interesse gelesen. Wenn Einen Gott auf dem Berufsweg solche ἕρμαια [Glücksfunde] finden läßt, da darf man wohl ein Wort des Lobes und Dankes sprechen vor dem Gott, der unsern Stand sichtbar gesegnet, der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet.“ 126 Carl Gustav Adolf (von) Harnack (7. Mai 1851 in Dorpat – 10. Juni 1930 in Heidelberg), 1874 Privatdozent, 1876 dort ao. Professor für Theologie in Leipzig, 1879 o. Professor in Gießen, 1886 in Marburg, 1888 in Berlin, 1914 geadelt, 1921 emeritiert, Verwaltung der Professur bis 1924. 127 „Mit Kahnis war es leichter [sc. als mit Luthardt] zu verkehren und zu fruchtbaren Gesprächen zu kommen. Er fragte gleich scharf, welches die leitenden Gedanken für Harnack wären. ‚Messer auf die Brust, aber es war doch etwas!’“ (Zahn-Harnack: Harnack, 39). 128 Friedrich Smend: Verzeichnis der Schriften Adolf von Harnacks, 1927, Nr. 1581, zitiert nach: Zahn-Harnack: Harnack, 49. 129 Vgl. die beiden Schreiben von Kahnis in seiner Eigenschaft als Dekan an Harnack vom 14. Dezember 1875 und vom 22. Mai 1876 (SBB Nl Adolf v. Harnack, Kasten 1, 42 und 50). – Später votiert die Mehrheit der Fakultät für die Berufung von Harnack als Nachfolger von Kahnis, scheitert aber am Widerstand von Luthardt und Delitzsch; vgl Rieske-Braun: Moderne Theologie, 89f.113–116.
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Kahnis, nach einem Foto aus dem Jahre 1881 gezeichnet (aus: Daheim 24. Jg., Leipzig 1888, 668)
Die hohe Achtung, die Kahnis und Luthardt genießen, kommt in besonderem Maße anlässlich der Pfingstkonferenz 1881 zum Ausdruck, als diesen beiden Lehrern das Kapital zu einer Kahnis-Luthardt-Stiftung überreicht wird, aus deren 130 Erträgnissen Studenten der Theologie Stipendien gewährt werden sollen. „Nicht Geistliche und ehemalige Schüler der beiden Männer nur hatten sich bei dieser Stiftung betheiligt, sie hatte auch in den Kreisen von Nichtgeistlichen und nament131 lich bei den Leipziger Freunden einen sehr freudigen Anklang gefunden.“ Kahnis erfährt auch die staatliche Auszeichnung als „Komtur Zweiter Klasse des Kö132 niglich Sächsischen Verdienstordens“. Als Krankheit zunehmend seine Wirkungskraft bricht, sieht sich Kahnis gezwungen, sich ganz aus seiner Lehrtätigkeit zurückzuziehen. In seinem letzten Semester, dem Sommersemester 1885, hatte er als Senior der Fakultät bei seiner Vorlesung über Kirchengeschichte I noch ein Auditorium von mehreren hundert 133 Studenten. Durch seinen gesundheitlichen Einbruch aufgrund eines schweren Gehirnleidens sehen sich Kultusministerium und Fakultät genötigt, sich bereits 134 Ende 1885 um die Berufung eines Kirchenhistorikers zu bemühen. 1886 kommt 130 Vgl. ein Schreiben vom 13. Juni 1881 an den Kauf- und Handelsherrn Ewald, mit dem Kahnis eine weitere Summe, die er vom Diaconus zu St. Thomas Dr. Suppe erhalten hat, an die Stiftung weiterreicht (SBB Sammlung Darmstädter 2 d 1854 Blatt 15). 131 Winter: Kahnis, 93f, Zitat 94. 132 Bio-bibliographisches Register zum Archiv der Franckeschen Stiftungen (unter: www.franckehalle.de) s.v. Kahnis. 133 Hübner: Jugenderinnerungen, 122f. 134 Im Bericht der Fakultät an das Ministerium vom 21. Dezember 1885 heißt es: „Die Hoffnung vorübergehender Besserung ist nicht ausgeschlossen. Aber sowohl ärztliches Urtheil als die Überzeugung der Familie lassen eine wesentliche und nachhaltige Erholung und Wiederaufnahme der Berufsarbeit leider nicht erhoffen. Deshalb kann es sich nach unserer Überzeugung auch nicht um vorgehende Aushülfe, sondern um endgültigen Ersatz handeln“ (zitiert nach: Rieske-Braun: Moderne Theologie, 113f).
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Theodor Brieger (1842–1915) nach Leipzig. Kahnis stirbt am 20. Juni 1888 und wird am 22. Juni auf dem neuen Johannisfriedhof bestattet. Die Trauerfeier hält 136 137 Pastor Wilhelm Hölscher (1845–1911) , Luthardt spricht zur Trauerversamm138 139 lung Worte der Erinnerung, und weitere Voten folgen. Der Rektor der Univer140 sität, der Altphilologe Otto Ribbeck (1827–1898) , gedenkt seiner in seinem 141 Jahresbericht.
135 Johann Friedrich Theodor Brieger (4. Juni 1842 in Greifswald – 9. Juni 1915 in Leipzig), 1870 Privatdozent, 1873 ao. Professor für Kirchengeschichte in Halle-Wittenberg, 1876 o. Professor in Marburg, 1886 in Leipzig. 136 Wilhelm Hölscher (22. April 1845 in Norden/Ostfriesland – 11. März 1911 in Leipzig), 1886 Ehrendoktor der theologischen Fakultät Leipzig, 1885 Pfarrer an St. Nikolai in Leipzig, Herausgeber der AELKZ und des ThLBl. 137 Worte der Erinnerung und des Trostes (1888), 13–22. 138 Luthardt: Am Sarge von Dr. Karl Friedrich August Kahnis, AELKZ 21 (1888), 613–615 (= Worte der Erinnerung und des Trostes, 1888, 22–28). 139 Stud. theol. Beyer für die Philadelphia, Hilfsgeistlicher Eckardt für den Theologischen StudentenVerein, cand. theol. Thiele als Mitglied des Prediger-Kollegiums zu St. Pauli, Gustav Adolf Fricke (23. August 1822 in Leipzig – 30. März 1908 in Leipzig) als derzeitiger Dekan der Theologischen Fakultät und Franz Delitzsch als Freund (Worte der Erinnerung und des Trostes, 1888, 28–35). 140 Johann Carl Otto Ribbeck (23.Juli 1827 in Erfurt – 18. Juli 1898 in Leipzig), 1849 Promotion, 1856 Professor für klassische Philologie in Bern, 1861 in Basel, 1862 in Kiel, 1872 in Heidelberg und 1877 in Leipzig, 1887/88 Rektor der Universität. 141 Ribbeck: Bericht über das Studienjahr 1887/88, dort 450.
3. Kahnis’ theologischer Ansatz Für Kahnis ist charakteristisch, dass ein theologischer Ansatz sein theologisches Werk wie ein roter Faden durchzieht. Dieser Ansatz verbindet eine von ihm angenommene Grundgegebenheit menschlicher Existenz, Religion oder Glaube, mit einer Zuwendung Gottes zu den Menschen in geschichtlicher Offenbarung. Die Begegnung des auf Gott hin ausgerichteten Menschen mit dem sich den Menschen zur Gemeinschaft erschließenden Gott wird von ihren Spuren in der Geschichte her erfasst und zugleich in ihrer Wahrheit gewiss. Damit ergibt sich ein komplexes Miteinander von geschichtlicher Prozessualität und Bekenntnis zu einer ewigen Erfüllung des Menschseins in der Gemeinschaft mit Gott. Kahnis meint damit, einen apologetischen Dienst zu leisten, indem er das christliche Glaubenszeugnis an einen allgemein menschlichen Ausgangspunkt anschlussfähig macht und in der historisch-genetischen Entwicklung eine auf der Breite wissenschaftlicher Arbeit anerkannte Methodik anwendet.
3.1 Erste Schritte der theologischen Orientierung Kahnis empfindet den Umbruch zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert sehr stark. Mit der Französischen Revolution, die in dezidierter Absage an Gott die menschliche Vernunft auf den Thron gehoben hatte, und mit den Freiheitskriegen als einem nicht nur nationalen, sondern auch religiösen Erlebnis stehen sich zwei Menschenbilder gegenüber, die sich nicht einfach zeitlich ablösen, sondern weiter 1 in erbitterter Auseinandersetzung begriffen sind. Kahnis sieht sich in diesen Streit gerufen, der nach seiner Überzeugung ein neues, radikaleres und tiefer greifendes Begründen der Wahrheit erfordert. „Der Zweifel aber, den das vorige Jahrhundert, das Jahrhundert der Aufklärung, geboren, hat in dem Grade, in welchem der Glaube sich neubelebt hat, auch an Kraft und Entschiedenheit gewonnen. […] Der Gott aber, welcher allezeit den Tod in den Sieg verschlingt, hat die Kraft des Zwei-
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„Es giebt auch in der Geschichte des Reiches Gottes auf Erden Zeiten geistlichen Todes und Zeiten geistlicher Auferstehung. So brach nach einer langen Zeit der Entfremdung vom Evangelium seit den siegreichen Kämpfen der Deutschen gegen Napoleon ein neues geistliches Leben an, aus dessen Fülle wir noch immer schöpfen. Aber diesem Geistesfrühling folgte ein schwüler Sommer, in dem das Unkraut aufging mit dem Waizen. Wie dieser Sommer mit dem Gewitter einer Revolution, der Julirevolution 1830, begonnen hatte, so endete er auch mit einer Revolution, der Februarrevolution von 1848. Seitdem geht durch die Völker ein Streben, die Bande zu zerreißen, welche sie an das Reich Gottes knüpfen. Wir stehen in einer Zeit der Scheidung und Auflösung. […] Aber die ewige Weisheit, die über den Sternen waltet, weiß auch aus Gift Arznei, aus dem Tode den Sieg zu bereiten. Und so sind denn die Zeiten, wo das Christenthum im Großen und Ganzen bekämpft wird, auch die Zeiten, wo sein Wesen im Großen und Ganzen tiefer erkannt wird“ (Predigt am ersten Osterfeiertag 1874 über I Kor 15,17–22 „Das Christenthum steht und fällt mit Christi Auferstehung“, in: Predigten III, 109f).
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fels dem Glauben zu Gute kommen lassen, indem er den vom Zweifel angefochte2 nen Glauben genöthigt hat, mit der Wahrheit größeren Ernst zu machen.“ Zunächst sucht Kahnis seine eigene Position im Rahmen des philosophischen Denkens und schaltet sich in die Diskussion zwischen Hegelscher Rechten und Hegelscher Linken ein. Geprägt von seinem philosophischen Lehrer Johann Eduard Erdmann, der zur Hegelschen Rechten gerechnet wird, sieht er sich veranlasst, gegen den gesellschaftspolitisch orientierten Arnold Ruge zu schreiben. In einem zweiten Schritt wählt er sich dann als Widerpart einen theologischen Vertreter der Hegelschen Linke, David Friedrich Strauß. Hat er damit seinen Blick von der philosophischen auf die theologische Seite hinüber gelenkt, so lässt er danach den innerhegelianischen Kontext ganz hinter sich und konzentriert sich auf die theologische Fragestellung. 3.1.1 Streitschrift gegen Arnold Ruge (1838) 3
Der Junghegelianer Arnold Ruge (1802–1880) hatte in der von ihm zusammen 4 mit Theodor Ernst Echtermeyer (1805–1844) begründeten Zeitschrift „Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst“ angesehene Lehrer an der Uni5 versität Halle wie Erdmann, Leo und Tholuck aufs schärfste angegriffen. Kahnis verfasst daraufhin seine Streitschrift „Dr. Ruge und Hegel. Ein Beitrag 6 zur Würdigung Hegelscher Tendenzen“ (1838). Er strebt damit sowohl eine Ehrenrettung der angegriffenen halleschen Gelehrten als auch Hegels an, auf den 2 3
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Der christliche Glaube ist der Glaube der Wahrheit. Predigt am Sonntage Quasimodogeniti 1865 über Joh. 20, 24–29, in: Predigten (1866), 79-88, dort 85. Arnold Ruge (13. September 1802 in Bergen auf Rügen – 31. Dezember 1880 in Brighton) habilitiert sich nach Begnadigung aus Festungshaft 1831 in Halle, wird dort 1836 Privatdozent, er vertritt einen radikalen demokratischen Reformismus, 1844 ist er in Paris Mitarbeiter am „Vorwärts!“, den Karl Marx herausgibt, 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, 1849 Flucht nach England, in einem bewegten Leben kämpft er für Pressefreiheit und Volkssouveränität, schließlich söhnt er sich mit der Politik Bismarcks aus. Theodor Ernst Echtermeyer (12. August 1805 in Liebenwerda/Sachsen – 6. Mai 1844 in Dresden), nach seiner Promotion 1831 bis 1838 am Paedagogicum der Halleschen Stiftungen tätig, publizistischer Vorkämpfer revolutionärer Bestrebungen, 1841 Übersiedelung nach Dresden, Herausgeber der Anthologie „Auswahl deutscher Gedichte für gelehrte Schulen (1836 mit weiteren Auflagen; 1981 u.ö. hg.v. Benno von Wiese unter dem Titel Echtermeyer: Deutsche Gedichte). Ruge: (Buchbesprechung:) Sendschreiben an J. Görres von Heinrich Leo, Hallische Jahrbücher 1 (1838), 1169–1173.1177–1204; ders.: Die Denunciation der hallischen Jahrbücher (Buchbesprechung der zweiten Auflage von Leos Sendschreiben), dort 1425–1440; ders.: Leo und die Evangelische Kirchenzeitung gegen die Philosophie (Buchbesprechung von Leo: Die Hegelingen, Halle 1838), dort 1881–1896. – Zu der Situation an der Universität Halle, die angesprochenen Vorgänge und Leos Kontakt zu Hengstenberg vgl. Maltzahn: Heinrich Leo (1979), 79–83.101–112. Erst kurz vor Abschluss seines Manuskripts bekommt Kahnis Kenntnis von dem Artikel: Gotthard Oswald Marbach (13. April 1810 in Jauer/Schlesien – 28. Juli 1890 in Leipzig): Aufruf an das protestantische Deutschland wider unprotestantische Umtriebe und Wahrung der Geistesfreiheit gegen Dr. H. Leo’s Verketzerungen (1. Teil 1838). In einem Exkurs geht er auch auf diese Angriffe noch ein (Dr. Ruge und Hegel, 92–96).
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sich Ruge, wie Kahnis zu erweisen sucht, zu Unrecht berufe. Ohne Verständnis für die politisch-gesellschaftliche Freiheitsprogrammatik seines Gegenübers wirft er diesem blutleere dialektische Abstraktheit vor, einen „in sich selbst verhimmelten Uebermuth“: „Und an der Zeit ist es, daß der Ernst vor Allem des geschichtli8 chen Lebens sich geltend mache gegen die selbstgenugsame Aufgeblasenheit.“ Geschichtliches Leben ist für ihn ohne die religiöse Dimension nicht denkbar: 9 „Des Lebens Blüthe ist ja doch das religiöse Leben.“ Die Freiheit des protestantischen Geistes liegt für ihn „in dem kräftigen Streben, für den in seiner Höllenpein erfahrenen Bruch des subjektiven Sündenbewußtseins sich aus den heiligen Schriften den Trost der Versöhnung selbst zu holen und die Seligkeit derselben, das erlebte Zeugniß des heiligen Geistes, zum Eckstein zu machen, auf und nach dem das ganze Gebäude des christlichen Lehrens und Lebens ruhen soll – und 10 ruhen wird“. Kahnis beansprucht mit seiner eigenen Sicht ein doppeltes Erbe zu wahren. Einerseits die Tradition Halles: „Seit Fran[c]ke ist unter den deutschen Universitäten diese vor allen der Heerd der Theologie wie des lebendig religiösen 11 Lebens gewesen.“ Andererseits das Vermächtnis der Freiheitskriege: „Gewiß! die deutsche Jugend, welche unter Leben und Kampf, Freiheitsruf, Vaterlandsjubel, Schlachtendonner und Glockenklang jung geworden ist, wird, im einmüthigen kräftigen Gegensatze, einen Geist geltend machen, der mehr Leben, Kraft, Ernst vertragen kann und doch demüthigerer Art ist, als der, welchen dieß ohnmächtige, 12 dürre und doch grauenhaft übermüthige Volk ausschreit.“ Kahnis schreibt getrieben von einer innerlichen Leidenschaftlichkeit „für die gute Sache, wie sie mir Leo zu vertreten scheint,“ und von einem Standpunkt aus, der „das Leben, das Sündenbewußtsein, die Paulinische Auffassung, den vollen 13 historischen Christus, das kirchliche Bewußtsein geltend“ macht. Während er 7
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„Ich glaube hinreichend nachgewiesen zu haben, wie oft und gerade in den wichtigsten Punkten er gänzlich mißverstanden worden ist“ (ebd., 98); denn es sei „Ehrensache der deutschen Nation, das große geistige Erbe ihres unsterblichen Meisters den Händen unmündiger, muthwilliger Buben zu entreißen, für ein Gut der allgemeinen deutschen Wissenschaft zu erklären, damit wenigstens des Meisters Name – denn er hat es um uns verdient –, nicht gebrandmarkt mit dem, was diese für seine und deutsche Wissenschaft ausschreien, bei uns in Ehren bleibe“ (ebd., 99). – „Es spricht in ihr ein jugendlicher Feuergeist, dem es eine Freude ist, einen Gang für die Wahrheit zu thun, die ihm das Herz getroffen hat, aber dem dabei auch Hegel noch immer der große Meister deutscher Wissenschaft ist“ (Winter: Kahnis, 14). Dr. Ruge und Hegel, 19. Ebd., 23. Ebd., 51. Ebd., 96. Ebd., 102. Brief an Hengstenberg vom 1. November 1838, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 2. – Sein jugendliches Engagement schlägt sich auch in deutlich moralisch abwertenden Verdächtigungen seiner Gegner nieder beim Anmelden seines „wissenschaftlichen Gegensatz(es)“ angesichts seines Erschreckens darüber, „wie sehr das absprecherische, profane Schwatzen über Dreieinigkeit, Gottmenschheit u.s.w. zumal durch [Johann Eduard] Erdmann unter der studierenden Jugend eingerissen ist“ (ebd.).
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sich als Verteidiger Hegels gibt, distanziert er sich doch zugleich deutlich von ihm. Daraus ergibt sich eine etwas unklare Stoßrichtung. Später urteilt er selber über diese Schrift: Es stießen mich die Exzesse der negativen Seite in dem Grade mehr zurück, als ich erkannte, daß sie, wenn auch nicht die Gesinnung, doch das Princip des Meisters [sc. Hegels] für sich hatte. Eine nun vergessene Streitschrift vom Jahre 1838 sollte das Recht des Lebens und des Positiven gegen den Muthwillen jener auflösenden Dialektik verwahren. Besonders aber ward es mir zur unumstößlichen Ueberzeugung, daß das sittliche Bedürfniß des einzelnen Menschen in jener Weltansicht nicht nur keine Befriedigung finde, sondern das stärkste Hinderniß seines Heilsstrebens.14
Kahnis kann also liberal-demokratischem Denken keinen zureichenden ethischen Wert zuerkennen; menschliche Geschichte scheint ihm nur unter der Voraussetzung göttlicher Einwirkung werthaltig und sinnvoll. „Es geht durch meine erste Schrift ein tiefbewegtes Suchen, das im dunklen Drange den Weg ahnt, von dem das Heil kommt. Es versteht sich, daß diese unreife Schrift ohne alle Bedeutung 15 für die Entwickelung des Geisteslebens geblieben ist.“ Aber er selbst vollzieht hier einen wichtigen Schritt. Er sieht sie als ein Symptom „des Uebergangs aus dem Nebellande der Theorie in das Grünland des geschichtlichen Lebens“ an und 16 benennt Heinrich Leo als seinen „Führer in die Welt der Geschichte“. Und Leo 17 verteidigt ihn gegen Angriffe. Auch in einer Sammelbesprechung dreier Bücher, die über Hegel hinausführen 18 wollen, nimmt Kahnis 1840 seine eigene Standortbestimmung innerhalb der Wirkungsgeschichte Hegels vor und benennt den für ihn entscheidenden Unter14 15 16 17
Die Lehre vom heiligen Geiste, V. Zeugniß von den Grundwahrheiten, 11. Ebd., 11. Heinrich Leo: Die Hegelingen (21839), 103f. – Ruge hat Kahnis’ Arbeit als „eine reine Studentenkraftäußerung“ hingenommen und zwar eine persönliche Begegnung gesucht (Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter I [1886], 147), sich aber zu dessen Bedauern auf eine öffentliche Entgegnung nicht eingelassen (Brief an Hengstenberg vom 1. November 1838, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 2). 18 Es handelt sich um: Carl Phil. Fischer: Die Idee der Gottheit. Ein Versuch den Theismus spekulativ zu begründen und zu entwickeln, Stuttgart 1839; Franz Baader: Revision der Philosopheme der Hegel’schen Schule bezüglich auf das Christenthum. Nebst zehn Thesen aus einer religiösen Philosophie, Stuttgart 1839; K. F. E. Trahndorff: Wie kann der Supernaturalismus sein Recht gegen Hegel’s Religionsphilosophie behaupten? Eine Lebens- und Gewissensfrage an unsre Zeit, Berlin 1840 (Kahnis schreibt irrtümlich: Supranaturalismus). Karl Philipp Fischer (5. März 1807 in Herrenberg – 25. Februar 1885 in der Heilanstalt Winnenthal), 1834 Privatdozent, 1837 ao. Professor in Tübingen, 1841 Professor der Philosophie in Erlangen. Franz Benedict von Baader (27. März 1765 in München – 23. Mai 1841 in München), Mediziner, Naturwissenschaftler und Philosoph, 1826 Honorarprofessor in München. Karl Friedrich Eusebius Trahndorff (18. Oktober 1782 in Berlin – 1863), 1801 Studium der Theologie und Philologie in Königsberg, Gymnasiallehrer, seit 1813 in Berlin.
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schied. Während bei Hegel das Christentum als ein Prinzip aufgefasst sei, das „nach dem Recht und der Nothwendigkeit menschlicher Entwickelung ans Tageslicht trat,“ meint er selbst, im Evangelium „die Offenbarung durch Christum als eine Mittheilung göttlicher Kraft“ anzutreffen, „die in gar keinem Entwickelungszusammenhange mit dem Menschlichen“ steht, „sondern nach einem der Vernunft unzugänglichen Rathschlusse als Gnadengabe göttlichen Lebens dem Gläubigen“ begegnet, „sofern er von Neuem geboren wird, sein ganzes geistiges Seyn nicht potenzirend, sondern zum demüthig empfangenden Organ des Glaubens 19 zusammenschließend, auf das himmlische Kräfte auf und nieder steigen“. Und 20 dabei sieht er sich in einer Front mit Leo und Hengstenberg. 3.1.2 Kritische Würdigung der Dogmatik von David Friedrich Strauß (1842) 21
David Friedrich Strauß (1808–1874) hatte seinem ersten Werk „Das Leben Jesu, 22 kritisch bearbeitet“ bald darauf „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft“ folgen lassen. Die geschichtliche wie die wissenschaftliche Betrachtung dienen ihm zur Demontage der kirchlichen Lehre. „Die wahre Kritik des Dogma ist seine 23 Geschichte.“ So will er den historischen Prozess einer Auflösung der kirchlichen Dogmen nachweisen mit dem Ziel, deren wahren Sinn als Anstoß zur menschlichen Selbsterkenntnis zu erschließen. „In der Offenbarung erkennt der Mensch die eigenen Gesetze – wo nicht durchaus seiner Vernunft, doch seines Gefühls und seiner Einbildungskraft, wieder; er reicht dem doppelgängerischen Ebenbilde die 24 Hand: und es verschwindet, indem es in ihn selbst zurückgeht.“ 19 Sammelbesprechung Fischer, Baader und Trahndorff, LACTW 1840, 630. 20 Ebd., 613. 21 David Friedrich Strauß (27. Januar 1808 in Ludwigsburg – 8. Februar 1874 ebendort), Studium in Tübingen mit abschließender Promotion, Berliner Reise im Winter 1831/32, entschiedener Anhänger der Philosophie Hegels (Hegelsche Linke), Zugang zum kirchlichen Lehramt versperrt er sich durch sein Werk „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ (1835/36), freier Schriftsteller. 22 Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde. (11835/36). Strauß vertritt darin die These, dass der Geist die Idee die Geschichte macht und nicht umgekehrt; die Idee des Christentums, nämlich die Vereinigung der menschlichen mit der göttlichen Natur in der Menschheit als Gattung (Gott entlässt die „Welt“, d.h. den „Sohn“ aus sich, um sie im Geist in sich zurückzunehmen), sei von der Gemeinde mythologisierend („Unsere neutstamentlichen Mythen [sind] nicht Andres, als geschichtartige Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage“ [I1, 75]) auf die Person Jesu übertragen worden. „Diess allein ist der absolute Inhalt der Christologie: dass derselbe an die Person und Geschichte eines Einzelnen geknüpft erscheint, hat nur den subjektiven Grund, dass dieses Individuum durch seine Persönlichkeit und seine Schicksale Anlass wurde, jenen Inhalt in das allgemeine Bewusstsein zu erheben“ (II1, 735). „Die Menschheit ist die Vereinigung der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der zur Endlichkeit entäusserte unendliche, und der seine Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist“ (ebd.). – Vgl. dazu Kahnis: Der innere Gang, 11854, 200 (= 21860, 187; = 31874, II, 179). 23 Strauß: Die christliche Glaubenslehre I, 71. 24 Ebd., I, 355. „Während die wissenschaftliche Betrachtung das Absolute im Endlichen zu fassen weiss, das Jenseits in das Diesseits hereinzuziehen versteht, und die Zeit als die sich verwirkli-
Erste Schritte der theologischen Orientierung
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Kahnis nimmt diese Veröffentlichung zum Anlass, um in einer monographischen Rezension nicht nur eine kritische Besprechung dieses Werkes vorzunehmen, sondern auch seine eigene theologische Orientierung und sein eigenes dogmatisches Anliegen deutlich zu machen: „Die moderne Wissenschaft des 25 Dr. Strauß und der Glaube unserer Kirche“ (1842). Ihm nun dienen die geschichtliche Entwicklung und die Wissenschaft gerade dazu, die kirchliche Lehre bestätigt zu finden. Seine eigene Analyse des Strauß’schen Werkes liegt damit auf einer anderen Ebene als die Zielrichtung der leidenschaftlichen Entgegnung, die 26 Karl Mann (1806–1869) unter dem Pseudonym „Kratander“ vorgelegt hatte und 27 die Kahnis gleichzeitig in der „Evangelischen Kirchenzeitung“ empfiehlt. Als leitende Begriffe sind damit Geist und Leben vorgegeben. Kahnis erkennt bei Strauß eine intellektualistische Verengung: „Denn da alles Seyns und Lebens Wahrheit der Gedanke sey, so habe, wer den Gedanken des Lebens denkt, das Leben in seiner Wahrheit. Zu demselben aber führte die dialektische Konstruktion, welche aus rein logischem Mittel alle konkreten Gedanken entwickele. Glaubt er [sc. Strauß] wirklich in der richtig bestimmten Kategorie des Lebens inne zu 28 seyn?“ Eine solche Lebensvorstellung mache zudem nicht Ernst mit den negativen Momenten wie Sünde und Schuld, Leiden, Grab und dämonischen Mächten, die sich nicht im eigenen Wissen bewältigen ließen. Für reine Willkür erklärt er die Straußsche Grundannahme, dass die Menschheit als Gattung eine menschliche und göttliche Natur verbinde und diese Erkenntnis, durch das Christentum vorbereitet und in Weiterführung der Hegelschen Philosophie, nun in seiner eigenen Philosophie zum Bewusstsein gekommen sei. Er wendet gegen die Behauptung bei Strauß: „die Persönlichkeit Gottes muß nicht als Einzelpersönlichkeit,
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chende Ewigkeit begreift: bleibt der nichtwissenschaftlichen Vorstellungsweise von der nicht in ihrer Göttlichkeit begriffenen Wirklichkeit, oder, was dasselbe ist, von der nicht in ihrer Wirklichkeit begriffenen Gottheit, ein Rest absoluten Inhalts übrig, den sie, weil sie ihn im Diesseits nicht unterzubringen weiss, in ein Jenseits hinüberstellt“ (ebd., 359). Vgl. auch die vorausgehende Besprechung in LACTW 1841. Karl Max Friedrich Mann (22. September 1806 in Königsbach bei Durlach – 1. Dezember 1869 in Eppingen), 1833 Pfarrer der Brüdergemeine in Korntal/Württ., seit 1842 Pfarrer in Baden, zunächst in Hochstetten, 1845 in Leutesheim, 1849 in Wössingen, 1854 in Brötzingen, 1859 Dekan und Bezirksschulvisitator in Eppingen, Hg. des Volksblattes „Das Reich Gottes“. Mann schreibt seinen Anti-Strauß wohl deshalb unter einem Pseudonym, weil er ein Mitschüler von Strauß im Seminar zu Blaubeuren und später auch sein Kommilitone in Tübingen war; vgl. Martin Schneider: Karl Mann (1806–1869). Reformation und Reich Gottes, 100. K(ahnis): Anti-Strauß. Ernstes Zeugniß für die christliche Wahrheit wieder die alte und neue Unglaubenslehre. Von Kratander. Stuttgart 1841, EKZ 1841, 425–429. – Kahnis erkennt zwar die Schwächen dieser Schrift in philosophischer und wissenschaftlicher Hinsicht (Brief am Hengstenberg vom 26. Juni 1841, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 4), konzentriert sich aber in seiner Besprechung auf „das erbauliche Element“: „Innerhalb dieser Beschränkung ist das Buch reich an treffenden Gedanken, schlagenden Bemerkungen, guten Reminiscenzen, so reich, daß man dem Verf. es zu einer Art Vorwurf machen könnte, seinen Reichthum nicht besser zusammengehalten, nicht taktischer vertheilt zu haben“ (EKZ 1841, 426). Die moderne Wissenschaft, 13.
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Kahnis’ theologischer Ansatz
sondern als Allpersönlichkeit gedacht werden“, ein: „Aber Gott muß doch hören, wenn ich bete, mich leiten, wenn ich strauchle, mich schützen, wenn ich in Noth bin, mich lieben, wenn ich sein Wort thue, mir seinen Geist geben, wenn ich nach 29 Heiligung ringe?“ Ausführlich stellt Kahnis heraus, wie tief greifend Strauß sich von seinem Lehrmeister Hegel unterscheidet. Die breite Aufspaltung des Hegelianismus bedeutet für Kahnis letztlich eine Relativierung jedes einzelnen, jeweils so gewiss vorgetragenen Konzepts. „Diese Schwankung in den Principien und Resultaten der Vernunfterkenntniß sollte doch billig jeden Anhänger eines solchen Princips, der in demselben das Monopol der Wahrheit zu haben meint, irre ma30 chen.“ Seine eigene Position bezieht Kahnis, indem er von der Faktizität seines eigenen Glaubens, bestätigt durch das Glaubenszeugnis vieler anderer, auf die Faktizität des göttlichen Ursprungs desselben schließt. Den Strauß’schen Satz: „Allein auf ein historisches Faktum alle Wahrheit basiren, heißt doch an den Faden einer Spinne die ganze Ewigkeit hängen wollen,“ konterkariert er: Die Ewigkeit, die absolute Wahrheit, die hast Du aus dem Glauben durch das Wort im Geiste, welcher sich selbst Zeugniß giebt, im Leben der Kirche seine Wirklichkeit hat, weil er aber nicht aus dem Staube Deines natürlichen Menschen, dessen, was Du aus eigner Vernunft und Kraft lebst, geschlagen ist, sondern gegeben ist, Gabe und Gnade ist durch das Wort vom Vater des Wortes, so weist ja der Geist so sicher auf den, der das Wort zuerst gesprochen, zurück, wie die Traube, die ich im Herbste sehe, von einer Frühlingssonne zeugt, mein Geist giebt seinem Geiste Zeugniß, und wenn zwei tausend Jahre zwischen mir und dem Erstlinge liegen, so geht der historische Rückweg von mir zu ihm nicht an dem Faden einer Spinne, sondern durch eine Welt des Geistes, der sein und mein ist, durch seine Kirche. Geist ist Geist, Reich ist Reich.31
Die unmittelbare Gewissheit des heiligen Geistes als Gnadenwiderfahrnis eröffnet den Zugang zu einer Wirklichkeit, die innerhalb der Geschichte präsent ist und zugleich alle Zeiten übergreift. Diese Gewissheit sieht Kahnis gestützt durch die Wirkfolgen, die mit dem Glauben kraft desselben Geistes verbunden sind. „Wir haben zwar den Glauben, aber aus dem Glauben ein Leben. Ein Leben ist. Ein Leben garantirt sich selber. Hat aber der Glaube an dies Faktum die Kraft Leben zu erzeugen, dies Leben füllt uns ganz aus, giebt uns volle Weide: nun dann zeugt 32 ja dies Leben – nun wofür? – für den Geist und die Kraft des Faktums.“ Letztlich aber stellt der Glaube kein Urteil dar, bei dem der Urteilende in unbeteiligter Distanz verharrt. „Der Glaube läßt das objektive göttliche Seyn nicht draußen stehen, sondern schließt sich mit ihm zusammen. Der Gläubige urtheilt nicht nur, alle 29 Ebd., 29f (Zitat aus Strauß: Glaubenslehre I, 1840, 524). 30 Die moderne Wissenschaft, 121. 31 Ebd., 86f (Bezug auf Strauß: Glaubenslehre I, 1840, 164: „Wann wird man aufhören – rief in dieser Hinsicht Lessing – an den Faden einer Spinne nichts Geringeres als die ganze Ewigkeit hängen zu wollen?“). 32 Die moderne Wissenschaft, 100.
Die grundlegende Form in seiner Lehre vom heiligen Geiste (1847)
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Wahrheit, alles Leben ist der Herr, sondern macht den Herrn zum alleinigen Leben des Ich, er verliert sein Leben, um im Herrn zu leben, er stirbt, auf daß fortan nur das in ihm sey und lebe, was der Herr lebt. Ohne diese sittliche Bewegung ist 33 der Glaube gar nicht zu denken, sie ist sein nothwendiges Correlat.“ Die Erfahrung der Wirklichkeit des heiligen Geistes wird damit zu der das eigene Selbstverständnis bestimmenden und tragenden Größe. Nicht in der Selbstmächtigkeit des eigenen menschlichen Geistes liegt der Schlüssel zum Selbst- und Weltverständnis, sondern in der Ergriffenheit von Gottes Geist. Dies wird zur Grundüberzeugung, die Kahnis’ theologisches Denken nachhaltig prägt.
3.2 Die grundlegende Form in seiner Lehre vom heiligen Geiste (1847) Die Grundkonzeption seines theologischen Ansatzes legt Kahnis dann im ersten Teil seiner „Lehre vom heiligen Geiste“, der 1847 in Halle erscheint, umfassend dar. 3.2.1 Der glaubende Mensch Kahnis setzt in einer „Grundlegung“ (3–12) bei seinem Verständnis des Wesens religiösen Lebens überhaupt ein. Den christlichen Glauben versteht er im Horizont einer allgemein vorhandenen Erscheinung menschlicher Existenz. Im Begriff des Lebens ist für ihn der Begriff des Glaubens mit gesetzt, der dann im christlichen Glauben seine Erfüllung findet. „Indem sich ergiebt, daß der Geist, welcher das Heidenthum auflöst, auf Christum vorbereitet, so erwächst aus dieser Parallele 34 ein weltgeschichtlicher Beweis für das Wesen und Wahrheit des Christenthums.“ Kahnis geht von einem sehr allgemeinen Lebensbegriff aus: „Leben überhaupt ist eine Kraft, welche sich von innen nach außen bestimmt, um aus dieser Entäu35 ßerung in sich zurückzukehren.“ Leben, als Kraft definiert, bedeutet zugleich Kommunikationsfähigkeit, die im Drang nach außen Selbstbehauptung ermöglicht. Diese allgemeine Natur des Lebens finde im Menschen zur Freiheit der Person als eines sich selbst wissenden Lebens: „Der menschliche Geist ist wesentlich 36 sich selbst verfassendes Leben, Selbstbewußtsein, Ich.“ Dann vollzieht Kahnis einen weiteren Schritt: „Wie die Natur im Namen der Freiheit, welche sie sucht, über sich hinaus an den Menschen weist, welcher als Ich freie Person ist, so weist das Ich im Namen der Freiheit, welche das Wesen des menschlichen Lebens ist, an einen letzten Grund und an ein letztes Ziel des Ich. 33 34 35 36
Ebd., 115. Die Lehre vom heiligen Geiste (1847), X. Ebd., 8. Ebd., 8.
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Grund und Ziel des Ich ist Gott. Ist Gott das Ziel des menschlichen Ich, so muß in 37 ihm die Idee des menschlichen Lebens in absoluter Verwirklichung gesetzt sein.“ Der Mensch weiß, dass eine letzte Erfüllung seines Lebens im Horizont seiner eigenen Bedingungen und Möglichkeiten nicht erreichbar ist, ist sich aber gewiss, dass sein Leben seine letzte Verwirklichung erfährt. Menschliches Leben weist, indem es sich nicht in sich selbst erschöpft, über sich hinaus auf Gott, seinen Schöpfer. Im Rahmen der idealistischen Philosophie seiner Zeit geht er davon aus, dass eine Idee zur Realisierung drängt. „Ich muß glauben, daß ein Gedanke, der mir auf dem heiligsten Boden erwachsen ist, den mir ein ernstes Studium bewährt hat, 38 nicht ohne Kraft des Lebens und der Wahrheit sein kann.“ Von der Idee, dass menschliches Leben nur in Relation zu Gott denkbar ist, gelangt Kahnis zur Tatsache: „Das göttliche Sein, welches die Vernunft aus der Idee erschließt, erweist 39 sich, weil als unendlicher Grund alles Sein, als Voraussetzung der Idee.“ Kahnis charakterisiert das Denken also als Reflexion des gelebten Lebens. Der Mensch kann nicht anders, als Leben in einer vollkommenen Kommunikation zu suchen. Und dieses Verhältnis des Menschen zu Gott wird als Glaube definiert: „Die Lebenswurzel aller Religion ist der Glaube. Der Glaube ist ein Setzen des Göttlichen 40 auf Grund des Lebens als Ziel des Lebens.“ Diesen somit beschrittenen Gedankenweg typisiert Kahnis nun als Struktur des Glaubens selbst: Drei Momente bilden das Wesen des Glaubens. Der Grund zuerst, welcher im Glauben ein Göttliches setzen heißt, ist der Zug des Ich als einer sittlichen Totalität nach seinem Urleben. Das Zweite im Glauben ist das Setzen dieses Urlebens als eines göttlichen Seins. Das Dritte ist der Zusammenschluß mit diesem göttlichen Sein in Hingabe des menschlichen, im Ergreifen des göttlichen Lebens. Nach diesen drei Momenten, in welche er sich gliedert, setzt der Glaube in die drei Grundkräfte des Geistes ein. Jener Zug ist eine sittliche Thatsache, jenes Setzen ein Akt des Wissens, jene Lebensgemeinschaft dem Wege nach ein sittliche That, dem Ziele nach für das Gefühl. 41
Damit hat Kahnis den Glauben der geistigen Grundstruktur des Menschen in Wille, Wissen und Fühlen zugeordnet und zugleich seine spezifische Eigenart im ganzheitlichen Sinne behauptet. „Der Mensch muß sich also in allen seinen Kräften auf Gott beziehen, somit lebend. Das von der Vernunft geforderte Verhältniß des Menschen zu Gott muß also von der Vernunft unabhängig als Thatsache des
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Ebd., 9. Ebd., VI. Ebd., 9. Ebd., 4. Ebd., 4; von ihm selbst zitiert in: Die Lehre vom Abendmahle (1851), 109, Fußnote 1.
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Lebens vorhanden sein.“ Daraus ergibt sich für Kahnis: „Es ist somit der Glaube 43 das der Vernunft entsprechende Organ des Lebens für die religiöse Idee.“ Kahnis versteht Glaube begrifflich als menschliche Aktivität aufgrund einer 44 spezifischen Disposition aller Menschen. Wie nachhaltig dieses Verständnis sich bei ihm durchhält, zeigt etwa seine spätere, oft ausgesprochene Definition des Glaubens als „das in unserer Person wurzelnde Gottesbewußtsein“, das dann in einem weiteren Schritt „zur Gemeinschaft mit Gott führen“ muss und es dann im „Streben nach Gemeinschaft mit Anderen“ zur „Religionsgesellschaft“ kommen 45 lässt. Diese Begriffsdefinition engt das christliche Glaubensverständnis allerdings einseitig ein; denn Glaube wird theologisch traditionell sowohl als Wirkung Gottes im Menschen als auch als Antwort des Menschen verstanden und impliziert als Christusglaube auch bereits Gemeinschaft mit anderen im Leib Christi. Bei Kah46 nis jedoch wird Glaube als ganzheitliche Äußerung eines Einzelnen definiert, der dann die Offenbarung des Lebens als göttliche Aktivität korrespondiert. Erst, wenn beide Aktivitäten sich begegnen, kommt es zur erfüllenden Versöhnung und zur vollkommenen Gemeinschaft. Zudem nivelliert Kahnis den Glauben, ein spe-
42 Die Lehre vom heiligen Geiste, 10. 43 Ebd., 10. 44 Wie Kahnis diese religiöse Anlage im Menschen konkret versteht, zeigt sich etwa in seiner Schilderung der heiligen Elisabeth: „In jedem Menschen ist ein angeborener Zug zu Gott, der bei christlichen Kindern die Weihe des Geistes Jesu Christi empfängt. Aber wohl nur selten ist bei Kindern der Zug zu Gott so der innerste Herzschlag gewesen, wie bei diesem wunderbaren Mädchen. Weder aus ihren Eltern noch aus ihren Schwiegereltern noch aus dem Einfluß anderer ihr nahe getretenen Persönlichkeiten läßt sich diese Macht des religiösen Lebens erklären. Wir stehen hier vor dem Geheimniß der göttlichen Gnade“ (Die heilige Elisabeth [1868], 14). In diesem Fall erfuhr diese ausgezeichnete Anlage allerdings nicht die wünschenswerte Förderung. „Elisabeth, auf Wartburg durch die Lebensverhältnisse, in denen sie stand, in den Schranken der Einfalt und Naturwahrheit gehalten, stürzte sich in Marburg, von diesen Verhältnissen abgelöst, unter Leitung eines fanatischen Priesters in ein krankhaftes Streben nach einer alles Menschliche auflösenden Heiligkeit, die ihrer Seele nicht Frieden, ihrem Leibe aber frühen Tod bringen mußte. Es fehlte ihrer unruhig bewegten Seele der Ankergrund des rechtfertigenden Glaubens“ (ebd., 44). 45 Z.B. Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 451f. 46 Dieses Glaubensverständnis ist bei Kahnis konstant. Noch in der zweiten Auflage seiner Dogmatik bietet er ein langes Zitat seines Lehrers Leo, um diese Definition zu stützen. Glauben bedeutet nach Leo von der etymologischen Analyse des deutschen Wortes aus „sich zu einer Ueberzeugung bekennen und seine ganze Person dafür einsetzen“ (Dogmatik² I [1874], 107). Kahnis schreibt ihm demnach die drei Elemente zu, nämlich „1. Die dem wissenden Geist angehörende Ueberzeugung (notitia und assensus). […] 2. Der dem Gefühle angehörende Lebensgrund. 3. Die Willenshingabe […] nach dem Urtheil der alten Dogmatik das Hauptstück im Glauben (fiducia). Im Glauben sind also Fühlen, Wissen, Wollen in eigenthümlicher Weise in eine concrete Einheit zusammengefasst“ (ebd., 106f). Dass dies bei einem personalen Glaubensbegriff die Verbundenheit mit einer anderen Person voraussetzt und damit an Gemeinschaftlichkeit gebunden ist, bleibt ausgeblendet und wird erst als zweite Wirklichkeit neben den Glauben gestellt.
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zifisches Charakteristikum des Christentums, auf ein landläufiges Verständnis im Sinne von: Jeder Mensch hat seinen Glauben. Die weitgehenden Folgerungen, die Kahnis aus seinem Glaubensverständnis zieht, verstehen sich unter der Voraussetzung seiner Grundannahme. Die drei Aspekte, die Kahnis dem Glauben zuschreibt, beziehen sich auf das Leben als einer die menschliche Existenz transzendierenden Wirklichkeit – als „Urleben“, „göttliches Leben“ und „Organ des Lebens“; er versteht diesen Glauben als „Lebenswurzel“ menschlicher Religion. Damit wird dem Glauben eine ganzheitliche Bedeutung für den Menschen zugesprochen und zugleich eine überindividuelle, kommunikative Erstreckung angenommen. In diesem Lebensbegriff verbindet sich damit zugleich eine geschichtliche, endliche Dimension mit einer objektiven, unendlichen Dimension. „Im Geiste des Lebens [, der nach Gen 6,3 ‚in allen Menschen waltet,] ist Gott als das absolute Leben der immanente Grund, wie jedes, so auch des menschlichen Lebens; im h. Geiste giebt Gott den Inhalt seines persönlichen Lebens dem Menschen als die höchste Erfüllung seiner Person. Im 48 Geiste des Lebens ist Gott Grund, im h. Geiste Ziel des Menschen.“ Leben ist überhaupt nicht denkbar ohne Gottes schöpferisches und erlösendes Tun, das eine wesentlich kommunikative Komponente hat, die Kahnis als Geist benennt. Und Glauben verwirklicht sich folgerichtig in einer Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott. Kahnis stellt das Leben als tatsächliche Wirklichkeit komplementär der Vernunft gegenüber, der er die Erkenntnis der Wahrheit als Idee zuschreibt. „Wenn also die Vernunft der religiösen Idee Wahrheit zuschreibt, so muß sie die Wirklichkeit derselben auf dem von ihr unabhängigen Gebiete des Lebens suchen. […] Bedarf die Idee des Lebens, um wirklich zu sein, so bedarf das Leben der Idee, 49 um wahr zu sein.“ Als zwei voneinander unabhängige Gebiete sieht er die geschichtliche Tatsachenwirklichkeit und theoretische Ideenwelt der Vernunft in Korrespondenz zueinander. Auf diese Weise meint er, die geschichtliche Dimension der göttlichen Offenbarung und des christlichen Glaubens zur Geltung bringen zu können.
47 Während das Christentum zutreffend als Glaube charakterisiert wird, gilt das für die anderen Religionen nur in einem abgeleiteten, unspezifischen Sinn. Vgl. van der Leeuw: Einführung in die Phänomenologie der Religion (21961): „Wir tun gut, den ‚Glauben’ phänomenologisch von religiöser Erfahrung, religiösem Leben usw. zu unterscheiden. Er ist eine besondere Erscheinung, die nur in bestimmten Religionen vorkommt und die wir in den primitiven und antiken Religionen insgesamt nicht finden“ (187). „Der Glaube ist nicht eines der Elemente des religiösen Lebens, er ist die Voraussetzung dieses Lebens. Darum kann er sich nicht vorzeigen, kann kein Phänomen sein. Denn das Leben gehört nicht uns, sondern Gott“ (ebd.). „Mit anderen Worten: Glaube ist eine Gabe. Das will natürlich nicht sagen, daß er mit dem Menschen nichts zu tun habe“ (ebd.). „Und im Christentum ist pistis ein neuer Begriff für eine neue Sache“ (ebd.). 48 Die Lehre von heiligen Geiste, 17. 49 Ebd., 10 (zitiert dann in: Das Wesen des Christenthums, 154).
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3.2.2 Offenbarungsgeschichte des Alten Testaments Zunächst nimmt Kahnis das Alte Testament in den Blick (13–38). Er findet hier sein Glaubensverständnis in einer spezifischen Ausprägung, nämlich in Verbindung mit dem Weg eines bestimmten Volkes. Das Besondere dieser Volksbildung sieht Kahnis darin, dass Gott dessen Lebensformen durch seinen Geist organisiert hat. „Alle Ausdrücke von dem Sein des Geistes Gottes im Menschen […] bezeichnen eine im Kraftbereiche des Menschen nicht gegebene, von Gott unmittelbar mitgetheilte, den Menschen beherrschende göttliche Lebenssubstanz. Wie das Eintreten des Geistes Gottes nicht vom menschlichen Willen abhängt, sondern unmittelbare That Gottes ist, so sind auch die Kräfte, welche der Geist Gottes 50 wirkt, nicht gesteigerte Naturkräfte, sondern Ausflüsse göttlichen Lebens.“ Da die nationale Konkretion des Glaubens im Leben Israels ganz von solcher Geistpräsenz geprägt war, nennt er sie „Reich Gottes“. Die drei Momente, die für ihn für den Glauben charakteristisch sind, bieten sich demnach in entsprechender Profilierung dar: „Der sittliche Grund, auf welchem der Glaube ruht, ist das Reich Gottes, vom h. Geiste geleitet, im h. Geistes verfasset. Die Erkenntniß dieses Glaubens weiß Gott, wie er im Reiche seinen Namen offenbart hat. Die Gemeinschaft besteht in der Form des Bundes. In allen seinen Momenten ist der Glaube 51 A. T. durch das Reich Gottes vermittelt. Dieses löst sich aber in Christum auf.“ Und diese Auflösung geschieht nach Kahnis nicht unvorbereitet, sondern ist in der prophetischen Dimension alttestamentlichen Glaubens angelegt, indem dieser 52 über sich hinausweist. Insofern ist „das neue Reich“, das in Jesus anbricht, „nicht die Auflösung, sondern die Erfüllung des alten“, und „der prophetische Fort53 schritt“ bildet „das organische Glied zwischen dem alten und dem neuen Reich“.
50 Die Lehre vom heiligen Geiste, 16f. 51 Ebd., 81. Der Gedanke der „Auflösung“ führt Kahnis zu sehr fragwürdigen Folgerungen hinsichtlich des nachbiblischen Judentums: „Dem alten Bunde gemäß trat Israel, weil sein Volksthum nicht ferner ein Volksthum Gottes war, aus der Reihe der Völker. Sonst weist der Geist der Weltgeschichte den Völkern, welche er abruft, Ruhe und neues Leben in der nachfolgenden Völkerentwickelung an. Das Römerthum nahm die griechische Welt in sich auf; die germanischen Völker die Römerwelt. Dieser Stamm aber, weil er nicht eingehen wollte in Gottes Sabbathsruhe in Christo, irrt unstät über die Erde, ohne sich auflösen zu können in die Völker. Aber auch als Träger des Strafgerichtes Gottes hat er noch eine Heilssendung: lebendig darzustellen den Völkern das Reich Gottes vor Christo und ohne Christum“ (ebd., 161). 52 „In der prophetischen Anschauung, welche das äußere Reich in Gesinnung, somit in das persönliche Leben, auflöst, in den treuen Einzelnen auch nach dem Untergange des äußeren Reiches und der unbeschnittenen Masse die Substanz des Volkes Gottes gerettet weiß, in der messianischen Zukunft auf alle Einzelne, selbst auf Knechte und Mägde, den Geist ausgegossen sieht, tritt mit besonderer Bedeutung die Person heraus. Trägt also der Geist Gottes nicht bloß die Substanz des Reiches, sondern auch das persönliche Leben in demselben, so mußte die Hoffnung aufgehen, dass an dem ewigen Leben des Reiches auch der Einzelne theilnehmen werde“ (ebd., 34; Kahnis verweist dazu auf Ez 37). 53 Ebd. 50.
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Kahnis’ theologischer Ansatz
3.2.3 Offenbarung Gottes in Christus So schließt sich an die Untersuchung über den Heiligen Geist im Alten Testament die Behandlung dieses Themas im Neuen an (39–93). „Geschichtlich bestimmt ist das Christenthum die Erfüllung des Judenthums. Die Erfüllung des Judenthums besteht aber darin, daß das Medium des Reiches Gottes, wodurch der Glaube A. T. vermittelt ist, sich selbst aufhebt in den alleinigen Mittler zwischen Gott und Menschen, Jesum Christum, durch welchen der Glaube N. T. an Gott nun vermit54 telt ist.“ Die Perspektive des Volkes erscheint auf eine einzige Zentralperson konzentriert, die eine neue Stufe des Glaubens anzeigt. Persönliches Leben aber ist ohne den heiligen Geist nicht denkbar; Kahnis verbindet die christologischen Aussagen eng mit pneumatologischen. „In Christo ist nicht nur der h. Geist, der in der Taufe die ganze Fülle seiner Amtskräfte über ihn ergießt, zugleich das innerste Lebensprincip seiner Person, sondern dieses persönliche Leben ist zugleich die Substanz des Reiches, welches der Inhalt seiner Amtsthätigkeit ist. In Christo sind 55 also Amt und Person identisch. “ Nach zwei Seiten weist die Lehre Jesu über sich selbst hinaus. Nach einer materialen: seiner Lehre Inhalt ist das Reich Gottes, desselben Wesen der h. Geist, dieser aber das Leben der Person Jesu; nach einer formalen: Jesus verweist selbst an eine höhere Offenbarung seines messianischen Geistes. Resultirt also auf beiden Seiten der h. Geist, als Princip des Lebens und des Amtes der Wahrheit, so ist die Person Jesu, von welcher beide Principe ausgehen, der Mittelpunkt des Evangeliums. Auf die Frage nun nach der Person Jesu ist uns die Antwort erwachsen: Als Messias der absolute Träger des h. Geistes.56
Seine eigene Art vermittelt Jesus an die, die er in seine Nachfolge ruft. „Persönliches Heil, Vergebung der Sünden und ewiges Leben, suchten die, welche der Zug 57 des Vaters zum Sohne führte. Der Weg des Heils ist Glauben an Jesum.“ „Leben ist der h. Geist als Wahrheit, Kraft und Ziel des persönlichen Lebens. Denen also, welche Christum zum Heile ihrer Seelen gläubig ergreifen, giebt derselbe den h. 58 Geist zum seligen Leben.“ Allerdings bleibt dies während der irdischen Zeit Jesu noch Verheißung. „Der h. Geist ist also die Substanz des neuen Reiches. Derselbe aber ist während Christus auf Erden lebt, noch nicht ausgegossen (Joh. 7, 39.). Er 59 ist nur vorhanden in Christo.“ Erst durch Pfingsten weitet sich diese Präsenz aus.
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Ebd., 94f. Ebd., 53. Ebd., 55f. Ebd., 50. Ebd., 51. – Die Aussage, die Kahnis selbst an Joh 20,31 anschießt und die in ihrer Formulierung an Joh 14,6 erinnert, führt im angesprochenen johanneischen Kontext nicht auf den heiligen Geist, sondern auf Jesus selbst („in meinem Namen“, „Ich bin“). Kahnis nimmt also eine deutliche Akzentverschiebung vor. 59 Ebd., 52.
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3.2.4 Die Wahrheit des Glaubens im Christentum Der christliche Glauben öffnet sich zu allen Menschen hin. Aufgrund jeweils unterschiedlicher Voraussetzungen sind allerdings die Konsequenzen grundsätzlich unterschiedlich. „Beide also, Juden und Heiden, treten als Einzelne in das Reich Christi, nur mit dem Unterschiede, daß der Jude die Blüthe seines Volksthums findet, der Heide eine neue Welt, in welcher seine ganze Vergangenheit erlischt 60 (Röm. 11, 16 ff.).“ Aber nicht nur für Israel, sondern auch für das Heidentum bringt der christliche Glaube eine Erfüllung, wie Kahnis im nächsten, apologetisch ausgerichteten Kapitel in einem Vergleich des Geistes des Christentums mit dem des Heidentums 61 (94–146) darlegt. Das Christentum führt nämlich zur ewigen Wahrheit des Glaubens. Und den letzten Grund dafür sieht Kahnis darin, „daß das Christenthum das Verhältniß zu Gott, welches die anderen Religionen nur anstreben, wirklich in 62 absoluter Vollendung bringt.“ Erläuternd fährt er fort: „Dafür kann es aber nur einen historischen Beweis geben, daß nämlich in ihm die Offenbarung, deren Bedürfniß alle Religionen aussprechen, wirklich erfolgt ist, und einen inneren Beweis, daß in ihm wirklich das göttliche Leben, das sich selbst als alte Wahrheit verbürgt, mitgetheilt wird: das Zeugniß des h. Geistes. Beide Beweise liegen jen63 seits der Grenzen der Philosophie.“ Der Glaube hat also eine Gewissheit, die auf seinem eigenen Gebiet liegt. Und diese Gewissheit ist nur in der gelebten Gemeinschaft gegeben, in der der Glaubende mit Gott steht. Des Glaubens letztes Ziel ist Gemeinschaft mit Gott. Diese ist aber im Glauben an sich noch nicht gegeben: der Glaube ist nur das Organ dafür. In dieser Gemeinschaft handelt nicht bloß der Mensch, indem er sein Ich opfernd sich zu Gott erhebt, sondern auch Gott, indem er sein Leben mittheilt. Das unmittelbare Handeln Gottes, um sein Verhältniß zur Menschheit zu bestimmen, ist Offenbarung. In welcher positiven Form nun sich dieß Verhältniß zwischen Gott und Menschheit verwirklicht, ist im allgemeinen Wesen der Religion nicht bestimmt, kann von der Vernunft a priori nicht erkannt werden. […] Jede Religion macht nun den Anspruch ein solches Verhältniß wirklich zu vermitteln. Die Gründe für ihre Wahrheit sind objektiv die Offenbarung, subjektiv die Erfahrung. Andere Gründe hat auch das Christenthum nicht.64
60 Ebd., 88. 61 Rocholl sieht hier die besondere Bedeutung des Kahnis’schen Ansatzes: „Seinem Grundgedanken nach, daß neben dem Judentum auch im Heidentum Züge seien, die eine deutliche Bewegung nach dem Logos hin zeigen, hatte er tief auf das Altertum einzugehen“ (Geschichte, 547). 62 Die Lehre vom heiligen Geiste, 101. 63 Ebd., 101. 64 Ebd., 99.
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Kahnis’ theologischer Ansatz
3.2.5 Die kirchliche Verwirklichung der Wahrheit des Christentums Mit der Gottesgemeinschaft des Einzelnen scheint nach der Struktur der von Kahnis vorgetragenen Konzeption bereits das Ziel erreicht. Die Glaubensgeschichte des Einzelnen in seiner Gottesgemeinschaft ist jedoch eingebunden in die Wirklichkeit der Kirche, wie Kahnis in einem weiteren Kapitel darstellt (149–160), das in der Gliederung seiner Untersuchung merkwürdig nachklappend an den Anfang des folgenden zweiten Buches, das dann im weiteren Verlauf die dogmengeschichtliche Darstellung bietet, gestellt ist. Dabei erreicht er offenbar aber erst damit, dass er die Wirklichkeit der Kirche zu erfassen versucht, das eigentliche Anliegen, dem sein ganzes theologisches Bemühen gilt. Der heilige Geist ist ihm der Schlüssel auch zum Verständnis der Kirche. In dieser frühen Form seiner theologischen Konzeption macht Kahnis jedoch einen deutlichen Schnitt zwischen der religiösen Grundanlage aller Menschen, die ihre Entsprechung im christlichen Glauben hat, und der Kirche als Besonderheit des Christentums: „Es muß im Christenthum das Moment der Religion und das Moment der Kirche unterschieden werden. Als Religion hat es das Christenthum seinem specifizischen Charakter gemäß nur mit den Einzelnen zu thun. Kirche ist 65 es, sofern es diese Einzelnen zu einer Gemeinschaft, zu einem Reiche verbindet.“ Später hat Kahnis auch diesen Aspekt der sozialen Verfasstheit dem Phänomen der Religion überhaupt zugeschrieben und damit seinen Ansatz stimmiger gemacht; denn einzelne Christen ohne geistliche Verbundenheit untereinander kennt das Neue Testament nicht; der Glaubende als Individuum für sich kann nicht schon Ziel der christlichen Botschaft sein. Christus als der Eine vereinigt in sich viele Einzelne. Als Herr der Kirche stellt er diese als eine übergeordnete Gesamtpersönlichkeit dar. Dabei wahrt die Kirche die Momente des Individuellen. Nun ist die Kirche eine Individualität, ein Mann erfüllt mit dem h. Geiste (Eph. 4, 13.). So hat sie denn erstens ein gemeinsam Bekenntniß, ein Gesammtbewußtsein, welches sich entwickelt nach dem Maße des Lebens, welches Christus in die Gemeine hineinlebt (Eph. 4, 13.). Der erste Beschluß auf der Apostelsynode zu Jerusalem wird dem h. Geiste zugeschrieben (Apostg. 15, 28.). Im Einzelnen das neue Gesetz, ist zweitens der h. Geist auch für die Kirche das Band sittlicher Gemeinschaft (Eph. 4, 3.), das Gesetz, in welchem die Gemeinde verfasst ist (2 Kor. 3, 3.). Die Gemeinde, welche einen Akt von Kirchenzucht übt, ist im h. Geiste versammelt (1 Kor. 5, 4.). Wenn drittens der Einzelne im h. Geiste sich zur Gemeinschaft mit Gott erhebt, so bringt die Gemeinde, ein heilig Priesterthum, Gott Opfer des Geistes (1 Petr. 2, 5.: πνευματικὰϛ θυσίαςß) dar, ist selbst ein Opfer, geheiligt im Geiste (Röm. 15, 16.). Es ist schon bemerkt, daß diesen Formen die Klassen der 66 Gaben, in welche der h. Geist sich besondert, entsprechen.
65 Ebd., 149f. 66 Ebd., 150.
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Bekenntnis, Verfassung und Kultus machen also die Personalität der Kirche aus, historisch greifbar wird dies aber nur in einzelnen Kirchen. Als Individualität eigener Art hebt die Kirche aber keineswegs die zuvor betonte Bedeutung des Einzelnen in seiner Gottesgemeinschaft auf. Vielmehr unterscheidet Kahnis in der kirchlichen Wirklichkeit den durch das Amt an den Einzelnen wirkenden Geist von dem das Gemeinschaftsleben tragenden Geist. „Nun ergiebt sich uns der volle Begriff der Kirche. Die Kirche ist das Reich des h. Geistes, in welchem derselbe als Geist des Amtes durch das apostolische Wort Glauben erweckt, als Geist des Lebens die Glaubenden zur Einheit zusammenschließt. Wir haben somit zwei Momente im Begriffe der Kirche. Nach dem einen ist sie die Mutter des Glaubens als Trägerin des apostolischen Wortes. Nach dem anderen ist 67 sie ein Gemeinleben im h. Geiste, gegliedert in Bekenntniß, Verfassung, Kultus.“ Wie der einzelne Christ in seinem Glaubensleben eine Entwicklung durchläuft, so gilt auch für die Kirche, dass sie in den Geschichtsablauf eingebunden ist: In den Lebensformen aber der kirchlichen Gemeinschaft, Lehre, Verfassung, Kultus, unterschieden wir eine göttliche Seite – den gottgelegten Grund und den Impuls des h. Geistes – und eine menschliche. Hier also ist innere Bewegung. Der entscheidende Ausspruch ist Eph. 4, 11 ff. [folgt griechisches Zitat V. 11–13]. In dieser Stelle sind die beiden Momente der Kirche, das Moment des Amtes und das Moment der Lebenseinheit, klar unterschieden. Nach dem ersten hat es die Kirche mit dem Werden der Einzelnen für die Kirche zu thun, nach dem zweiten mit dem Werden der Kirche als einer Individualität für ihr großes Ziel, Christus (V. 15.). Wie Jesus Christus auf Erden nur dadurch daß sein Logosbewußtsein, an sich keiner Entwickelung fähig, in die menschliche Natur mehr und mehr hineintrat, zunahm an göttlichem Leben, so besteht auch die Entwickelung der Kirche darin, daß das objektiv göttliche Leben, die Fülle des h. Geistes, welche Christus in die Kirche hineinwirkt, mehr und mehr die menschliche Seite durchdringt. Wir haben also in dem zweiten Momente der Kirche Entwickelung, in der Entwickelung, Fortschritt.68
Und das bedeutet auch, dass die konfessionell und regional getrennten Kirchen auf eine völligere Einheit zustreben, also ein ökumenische Ausrichtung. 3.2.6 Menschlicher Glaube und das Wirken des heiligen Geistes Damit ist der theologische Ansatz von Kahnis deutlich markiert. Auf die ihn existentiell bewegende und leitende Frage, wie der Mensch in seiner Endlichkeit den unendliche Gott als präsent erfahren kann, hat Kahnis seine Antwort gegeben, indem er die Wirksamkeit des heiligen Geistes in den Christen und in der Kirche bestimmt. Der im Menschen angelegte Glaube erfährt seine Erfüllung in der Gottesgemeinschaft, die ihm Christus im heiligen Geist vermittelt. 67 Ebd., 156. 68 Ebd., 158f.
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Und zugleich hat Kahnis – immer wieder gestützt auf Eph 4,11–13 – die geschichtliche Wirklichkeit in sein theologisches Denken aufgenommen. In dem Begriff der Gemeinschaft sind die göttliche Seite des heiligen Geistes und die menschliche Seite vorläufiger geschichtlicher Existenz miteinander verbunden. Das ewig Wahre ist nur in geschichtlich konkreten Gestaltungen zu erleben, die vorläufig sind und dennoch am ewigen Heil partizipieren: Die Kirche, als der Leib Christi, fordert Glieder, welche im Ganzen ihren letzten Zweck finden. Andererseits findet der Einzelne in der Kirche nicht die Wirklichkeit des ewigen, seligen Lebens, nach welchem er strebt. Die Lösung dieser Antinomie liegt darin, daß die Kirche, auf Erden eine werdende, erst in der Vollendung der Dinge ihrem Begriffe entsprechen wird. Dann, wenn das Bekenntniß der Kirche zum Schauen, die Einheit der Verfassung zur Einheit des Leibes Christi, der Kultus zur seligen Gemeinschaft mit Gott durch Christum im h. Geiste werden wird, wird der Einzelne das Erbe des ewigen Lebens im Reiche Gottes finden, die Kirche also der absolute Zweck, das Christenthum ganz Kirche sein. Die Kirche auf Erden ist nur eine Vorbereitung auf die himmlische Kirche. Auf Erden hat das Christenthum in der Erweckung, Pflege, Vollbereitung der Einzelnen seinen wesentlichen Zweck. Diesem schließt sich auch die Kirche an. Selbst werdend geht sie 69 auch auf das werdende Leben des Einzelnen ein.
Kahnis hat damit nicht nur die Basis dafür gelegt, um in seiner „Lehre vom heiligen Geist“ die dann folgende dogmengeschichtliche Einzeluntersuchung aufnehmen zu können (161–356), sondern auch für sein theologisches Denken überhaupt. In seinem gesamten späteren Werk greift Kahnis immer wieder auf diesen Grundansatz seiner Theologie zurück. Wie sich aber gerade aus diesem Ansatz seine markanten Positionierungen in Kirche und Theologie ableiten, bleibt selbst unter Berücksichtigung der Modifikationen, die Kahnis an dem Grundschema noch vornimmt, dunkel. Diese Basis weist ein Grundproblem auf, das er auch später nicht löst. Indem er den Ausgangspunkt von der individuellen persönlichen Gemeinschaft des Menschen mit Gott nimmt, wirkt die kirchliche Wirklichkeit als nachrangig. Damit aber fehlt auch den für Kahnis so grundlegenden Kommunikationsmedien Schrift und Bekenntnis eine konstitutive Verortung im Glaubensleben. Aus der Bedeutung des christlichen Zeugnisses wird die grundlegende Autorität der Schrift gefolgert. „Wenn aber die Offenbarung Gottes in Christo zur Versöhnung der Welt das apostolische Wort von der Versöhnung fordert und bestätigt, so bestätigt sie auch die vorbereitende Offenbarung Gottes in den prophetischen Schriften alten Bun70 des. Quell des christlichen Glaubens ist also die heil. Schrift.“ Der metaphorische 71 Begriff bleibt jedoch unreflektiert und ungeklärt. Die verpflichtende Bedeutung, 69 Ebd., 155. 70 Ebd., 11. 71 Kahnis markiert lediglich das Problem: „Wir haben also aus der Schrift den Begriff des h. Geistes zu schöpfen. Das Verfahren zeichnet die biblische Theologie vor. Sie, die wissenschaftliche Darstellung der in der h. Schrift sich entwickelnden Lehre, die sich zu der Geschichte des Reiches al-
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die er zumal der Bibel und dann auch dem lutherischen Bekenntnis für die kirchliche Verfasstheit und das kirchliche Leben zuschreibt, hängt gleichsam in der Luft und lässt sich theologisch von diesem Ansatz her nicht begründen, sondern erfordert eine andere Verankerung, nämlich im Wort Gottes. Dieses Defizit ist umso verwunderlicher, als man gerade beim Thema heiliger Geist auch Ausfüh72 rungen zur Inspiration erwartet. Kahnis hat den Offenbarungsbegriff so weit gefasst, dass er spezifische Kommunikationsweisen nicht plausibel machen kann. Die Unterscheidung zwischen dem Geist des Amtes und dem Geist der Gemeinschaft markiert mehr ein Problem, als dass sie es löst. Die Begriffe Leben, Individualität und Gemeinschaft stellen zwar eine sprachliche Brücke dar, verdecken aber zugleich die Unterschiede, die sich durch ihre jeweiligen Bezugsgrößen ergeben, ob es sich nun um ewige oder geschichtliche, personale oder soziale Beziehungen handelt. Die Lebensmetapher ist so weiträumig, dass sie klare Konturen und präzise Unterscheidungen nicht erlaubt. 3.2.7 Die Beurteilung in den Gutachten von Dorner und Nitzsch Der preußische Kultusminister von Eichhorn fordert am 13. September 1847 zwei Gutachten zu Kahnis’ erstem Teil seiner Lehre vom Heiligen Geiste an, eins von 73 dem damaligen Bonner Professor Isaak August Dorner (1809–1884) und eins von dem soeben aus Bonn nach Berlin gewechselten Professor und Oberkonsistorialrat 74 Karl Immanuel Nitzsch (1787–1868) , zugespitzt auf die Frage nach dem wissenschaftlichen Wert und dem dogmatischen Rang dieser Untersuchung. Diese Gutten und neuen Bundes verhält, wie die Dogmengeschichte zur Kirchengeschichte, fordert eine rein historische Stellung zu ihrem Gegenstande. Wenn diese Forderung aussagt, daß auf dem Wege grammatisch-historischer Auslegung alle Aussprüche auf den objektiven Geist der Schrift zurückgeführt werden müssen, ohne Rücksicht auf die Auffassung der Kirche oder eigene Meinung, so ist die vollkommen gerecht. Es ist aber eine Täuschung, zu meinen, daß ohne alle Lebensgemeinschaft mit dem die Schrift bewegenden Geiste ein Verständniß des Wortes möglich ist. Auch hierüber wird, wenn wir über das Verhältniß zwischen Wort und Geist sprechen werden, das Nähere erfolgen“ (ebd., 12). Gerade diese Spannungen einerseits zwischen geschehener Geschichte und reflektierter Geschichte und andererseits zwischen historisch-grammatischem und geistlichem Verständnis des „Geistes“ des Wortes bleiben ungeklärt. Die Ankündigung wird in dem einzig vorliegenden ersten Teil noch nicht eingelöst. 72 Den Inspirationsbegriff erörtert Kahnis hier nur dogmengeschichtlich in den ersten fünf Jahrhunderten (ebd., 201–220), nicht biblisch und auch nicht grundsätzlich theologisch. 73 Isaak August Dorner (20. Juni 1809 in Neuhausen in Württemberg – 8. Juli 1884 in Wiesbaden) 1839 Professor und Konsistorialrat in Kiel, 1843 in Königsberg, 1847 desgleichen in Bonn, 1853 in Göttingen, 1862 in Berlin, zugleich als Oberkonsistorialrat Mitglied des EOK, trat für die Union und für die Selbständigkeit der Kirche, d.h. eine alle Protestanten umfassende „deutsche Nationalkirche“, ein, beteiligte sich aktiv an den Kirchentagen, gilt als wichtigster Vertreter der Vermittlungstheologie. 74 Carl Immanuel Nitzsch (21. September 1787 in Borna – 21. August 1868 in Berlin), 1822 Professor in Bonn, 1847 in Berlin; 1848 Mitglied des Oberkonsistoriums, 1852 als Vertreter der Union Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats, 1855 Propst an St. Nikolai in Berlin.
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achten werden zum Jahreswechsel abgeliefert. Beide Verfasser betonen freilich, nur ein vorläufiges Urteil abgeben zu können, bevor das Werk nicht geschlossen vorliege. Irgendwelche Wirkung zeitigt diese ministerielle Initiative allerdings nicht; von Eichhorn erhält bald darauf angesichts der Berliner Märzrevolution seine Entlassung. Für Nitzsch hat sich „nach dem ersten empfangenen Eindrucke, der ein sehr ungünstiger war“, danach „durch tieferes unbefangenes Eingehen auf seinen Standpunct“ kein besseres Bild ergeben. Nitzsch kritisiert in seinem Gutachten vom 28. Dezember 1847 schon den methodischen Ansatz als solchen radikal, da Kahnis nicht zuerst „allgemeine philosophische Grundlagen zu gewinnen“ suche, sondern gleich mit den geschichtlichen Erscheinungen einsetze. Zudem vermisst er die Konzentration auf das spezielle Thema, ohne zu sehen, dass Kahnis die fundamentale Bedeutung der Wirklichkeit des heiligen Geistes für die Theologie aufzeigen will. Nitzsch hält den Ansatz und das Vorgehen von Kahnis für völlig unangemessen und ungeeignet, wie er breit ausführt. Die versöhnlichen Töne zum Schluss wirken keineswegs überzeugend. „Daß aber das Buch einen wissenschaftlichen Werth dennoch habe, will ich nicht in Abrede stellen.“ Nitzsch verweist dazu auf die „reichen Studien“, von denen die Untersuchung Zeugnis gebe, also auf den Fleiß des Verfassers. „Ebenfalls kann ich nicht läugnen, daß der Verf. sich an mehreren Orten – in Sachen der Lehre von den Sacramenten, in der Lehre von den beiden Naturen in Christus u.a. – als selbstständiger und productiver Dogmatiker in Hoffnung erkennen läßt.“ In seinem theologischen Urteil sei Kahnis allerdings „noch nicht ausgeglichen“. Eine Empfehlung stellt dieses Gutachten in keiner Weise dar. Weit einfühlsamer zeichnet Dorner sein Bild in seinem Gutachten vom 2. Januar 1848. Einleitend hebt er die Aktualität der Arbeit hervor. „Der Verfasser hat die Bearbeitung eines Thema’s unternommen, das seit längerer Zeit ungebührlich vernachlässigt, von großer Wichtigkeit für den Bau der Dogmatik, wie für das Leben der Kirche ist.“ Dorner hält den von Kahnis bei der Behandlung dieses Themas eingeschlagenen Weg für sachgemäß. „Dem Herrn Verf. ist nun vor Allem nachzurühmen, daß er die weitgreifende Wichtigkeit seines Gegenstandes wohl überschaut, und denselben nicht zu leicht nimmt. Er will nicht ein unreifes Produkt geben, wie schon die im Ganzen angemessene Anlage des Werkes zeigt. Er eröffnet es mit der biblischen Lehre vom h. Geistes; geht dann fort zur Geschichte, um das Ganze mit dem dogmatischen Theil zu schließen.“ Dorner geht dann referierend den Ausführungen im Einzelnen nach. Kritische Bemerkungen finden sich nach beiden Seiten, negativ etwa, dass die Darstellung an bestimmten „zu weitläufig angelegt“ sei oder den Fortschritt nicht klar genug erkennen lasse, positiv z.B.: „Besonders bey Darstellung der heidn. Religionen ist eine geistreiche Auffassung und eine oft zur Schönheit sich erhebende Darstellung, auch eine rei75 GStA Kultusministerium, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 32 Bd. 1 (ohne Paginierung), Nr. 30369 (Nitzsch), Nr. 913 (Dorner).
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che Belesenheit zu rühmen.“ Oder auch Anerkennendes und Kritisches miteinander verbindend: „Neues findet sich besonders in der Darstellung der Lehre des Origenes. […] Sein Urtheil ist meist gesund und schlagend in aller Bündigkeit. Nur die Form ist nicht selten herb und schroff, manchmal auch wünscht man mehr kritische Schärfe, und eine weniger schnelle Selbstberuhigung.“ Dorner sieht „mit Spannung und der wohlbegründeten Hoffnung auf eine bedeutendere Leistung dem Weiteren entgegen“ und schließt mit dem Urteil: „Der Standpunkt des Herrn Verf. ist biblisch und kirchlich, läßt aber eine lebendige Reproduction des Gehalts der Schrift und Kirchenlehre erwarten.“ Beide Gutachten stimmen in der Hinsicht überein, dass hier ein recht eigenständiger Entwurf vorliegt, der allerdings noch nicht völlig ausgereift ist. Sie erklären damit auf ihre Weise, dass das Werk nicht abgeschlossen wurde und Kahnis den geplanten zweiten Teil nicht folgen ließ. Offensichtlich hätte die Fortführung des Unternehmens einzelne konzeptionelle Korrekturen erfordert, die dann die Einheitlichkeit des Ganzen eingeschränkt hätten. Es handelte sich um einen ersten Versuch, das eigene theologische Thema zu definieren und in seinem ganzen Umfang zu behandeln. 3.2.8 Das Wesen des Christentums In einer Artikelfolge, die ein Jahr später in der „Evangelischen Kirchenzeitung“ erscheint, bietet Kahnis statt einer vom Herausgeber Hengstenberg erbetenen „summarische[n] Darlegung der Resultate seines Buches“ einem breiteren Publikum unter dem Titel „Das Wesen des Christenthums“ die „Grundansicht“ dieses 76 seines Buches dar. Das zeigt deutlich, wo Kahnis selbst den entscheidenden Punkt sieht. Bemerkenswert ist, dass er jetzt das „Wesen“ des Christentums thematisiert, während das zugrunde liegende Buch das Thema des heiligen Geistes behandelt hatte und in diesem Zusammenhang auch auf den „Geist“ des Chris77 tentums eingegangen war. Von der speziellen Untersuchung zur Pneumatologie leitet er in lockerer Anbindung daran Grundsätzliches ab. Folgerichtig ordnet er seine Untersuchung ausdrücklich dem Bereich der Apologetik zu: „Apologetik ist 76 Das Wesen des Christenthums. Mit besonderer Rücksicht auf: Kahnis, die Lehre vom heiligen Geistes. Erster Theil. Halle, 1847, EKZ 42 (1848), 128–131.137–142.145–155.201–205.213– 216.217–219, Zitate dort 129. – Vgl. die vorangehenden Briefe von Kahnis an Hengstenberg vom 28. Oktober mit seinen konzeptionellen Überlegungen sowie der Titelangabe (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 12), vom 12. November 1847 mit Übersendung des Manuskripts (ebd., Kahnis 13) und vom 13. Februar 1848 mit der Befürchtung angesichts des sich verzögernden Abdrucks, Hengstenberg halte diesen Beitrag überhaupt für ungeeignet (ebd., Kahnis 14). Der erste Teil des Aufsatzes erschien dann in der Ausgabe vom 19. Februar. 77 Das vierte Kapitel der „Lehre vom heiligen Geiste“ trägt die Titel „Der Geist des Christenthums und der Geist des Heidenthums“ (94–146). Allerdings ist auch hier bereits der Horizont „weltgeschichtlicher Beweis für das Wesen und die Wahrheit des Christenthums“ angerissen (X). Dies tritt in der Artikelserie jetzt ganz in den Vordergrund.
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die wissenschaftliche Rechtfertigung des Wesens des Christenthums, als der 78 Wahrheit alles religiösen Lebens.“ In einem ersten Artikel leitet er seine Bestimmung des Wesens des Christentums aus der bisherigen Diskussion ab. Hier entfaltet er den geistes- und theologiegeschichtlichen Hintergrund der sehr knapp gehaltenen Grundlegung in seiner Lehre vom heiligen Geist (3–12) in größerer Breite, indem er von den frühchristlichen Apologeten einen Bogen schlägt bis hin zu Kant, Fichte Schelling, Jacobi, 79 80 Schleiermacher und Hegel. Dabei geht es vor allem um das Wesen der Religion, als deren Erfüllung das Christentum angesehen wird. In einem zweiten Artikel (beginnend auf Spalte 201) erläutert Kahnis dann, wie sich das Wesen des Christentums in geschichtlicher Entwicklung erschließt, wie das Unzureichende und zugleich prophetisch über sich Hinausweisende des Alten Testaments über Johannes den Täufer zu Jesus Christus führt, dessen Erkenntnis sich im Neuen Testament durch den Glauben erschließt. Dabei wird das dritte Moment im Glauben eingehender betrachtet, „opfernde Hingabe und Lebensgemeinschaft mit Gott“, deren Einheit die Sakramente des Neuen Bundes, Taufe und Abendmahl, darstellen. Kahnis richtet dann den Blick besonders auf Paulus, ehe er mit einer summarischen Charakterisierung der Epochen der Kirchengeschichte schließt; denn „in keinem der Apostel stellt sich der specifische Charakter des Christenthums so klar 81 dar, als in Paulus“. Bezeichnend ist, dass diese Darstellung des Wesens des Christentums den Aspekt kirchlicher Gemeinschaft unter den Christen nicht eigens anspricht, sondern seine Spitze in der persönlichen Gottesgemeinschaft jedes Einzelnen hat, sich also auf den Inhalt des ersten Buches in seiner „Lehre vom heiligen Geiste“ beschränkt (1–146). 78 Das Wesen des Christenthums, 130. 79 Zu Kahnis über Schleiermacher vgl. schon: Die Lehre vom heiligen Geiste, 95–98. – Auf Kahnis’ neuerliche Äußerungen zu Schleiermacher reagiert Karl Friedrich Brenske (25. November 1808 in Berlin – 11. März 1858 in Berlin-Charlottenburg), deutsch-reformierter Pfarrer in Strasburg/Uckermark, mit einer Apologie Schleiermachers (Gegen Herrn Prof. Kahnis für Schleiermacher, EKZ 42 [1848], 219f) und veranlasst diesen zu einer Erwiderung (Erwiderung des Prof. Kahnis, EKZ 42 [1848], 220–223), auf die Kahnis später bei einer erneuten Analyse des Ansatzes Schleiermachers beim religiösen Gefühl verweist (Die Sache der lutherischen Kirche, 56–62, dort 57). In seinem Begleitbrief an Hengstenberg vom 13. März 1848 bei Übersendung des Manuskripts berichtet Kahnis von seiner intensiven Beschäftigung gerade mit Schleiermacher (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 15). Vgl. später anlässlich Schleiermachers 100. Geburtstags: Rede zum Gedächtniß Schleiermacher’s am 21. November 1868 in der Aula der Universität Leipzig. Dieser Vortrag gibt eine sehr warme Darstellung Schleiermachers mit nur vorsichtigen kritischen Hinweisen (Dieser Vortrag ist als eigenes Kapitel aufgenommen in: Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 426–450). 80 Diese Darstellung gibt Kahnis in Auseinandersetzung mit Ullmann: Ueber den unterscheidenden Charakter des Christenthums. – Carl Christian Ullmann (15. März 1796 in Epfenbach bei Heidelberg – 12. Januar 1865 in Karlsruhe), 1821 ao., 1826 o. Professor in Heidelberg, 1829 in Halle, 1836 Kirchenrat, 1856 Oberkirchenrat in Karlsruhe. 81 Das Wesen des Christenthums (1848), 217.
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3.3 Die ausgereifte Form 3.3.1 Apologetik und Dogmatik Wie die Gutachten von Nitzsch und Dorner hinreichend deutlich machen, besteht eine Verlegenheit, welcher Disziplin im herkömmlichen Fächerkanon der Theologie man Kahnis’ erste größere Untersuchung zuordnen soll. Wo ist sein theologischer Ansatz zu verorten? Dieser Schwierigkeit ist sich Kahnis selbst bewusst. Er selbst hat das Ergebnis seiner Behandlung des dogmatisch anmutenden Themas der „Lehre vom heiligen Geiste“ zusammenfassend unter der Überschrift „Das Wesen des Christenthums“ dargestellt und sie damit dem Bereich der theologischen Apologetik zugeschrieben. Um eine gründlichere Fundierung der Apologetik innerhalb des Gesamtrahmens der theologischen Wissenschaft ist er denn auch in der folgenden Zeit bemüht. In den beiden Universitätsprogrammen von 1857 unter dem gemeinsamen Titel „Symbolae Apologeticae“ fordert er für die Apologetik einen eigenen Platz neben den anderen theologischen Disziplinen. Im ersten Programm bietet er eine Geschichte der christlichen Apologetik, im zweiten diskutiert er dann die verschiedenen Möglichkeiten der Zuordnung der Apologetik zu den anderen Bereichen der Theologie und stellt ihre Eigenständigkeit heraus, und zwar neben der 82 Enzyklopädie innerhalb der Fundamentaltheologie. Ihre Aufgabe ist es, das Wesen und die Wahrheit des Christentums als Ganzem darzustellen und zu erweisen, was die Einzelwissenschaften der Exegese, Kirchengeschichte und Dogmatik für 83 sich nicht zu leisten vermögen. Das innere Wesen des Christentums bestimmt Kahnis als das Evangelium, dass der Mensch durch den Glauben an Jesus Chris84 tus mit Gott versöhnt wird. Der Erweis der Wahrheit soll in drei methodischen Schritten erfolgen, zunächst dem religionsphilosophischen, der die religiöse Grundanlage in jedem Menschen aufdeckt, dann dem historischen, der die Zuverlässigkeit der Evangelientradition von Jesus Christus im gesamtbiblischen Rah82 „Scientia, quae religionis christianae et indolem et veritatem exponit, haud dubie […] ad theologiam pertinet fundamentalem” (Symbolae Apologeticae, particula secunda, 18), der zwei Bereiche zugewiesen werden, „nempe ea, quae religionis christianae indolem et veritatem ostendit, quam apologeticam esse cognovimus, et ea, quae ex theologiae notione necessitudinem repetit, qua omnis disciplinae theologiae inter se continentur, quae encyclopaediae theologiae nomen fert“ (ebd., 18). 83 „Si igitur constat, disciplinas, quae in scripturae interpretatione, historiae ecclesiasticae enarratione dogmatumque expositione locatae sint, eorum, in quibus versantur, veritatem tum solum vindicare posse, quum quonam cum religionis christianae natura indoleque vinculo contineantur ostenderint, quae quidem explanatio ab iis ipsis praestari nequit, sequitur disciplinae, quae illud rei christianae fundamentum muniat, necessitas. Versatur theologia apologetica in ejus, quod religionis christianae intimam vim, naturam et quasi medullam efficit, et expositione et demonstratione“ (ebd., 12). 84 Mit Bezug auf von andern Theologen bereits Erarbeitetes stellt er fest „evangelium in eo verti, quod homo per fidem in Jesum Christum cum deo reconcilietur“ (ebd., 17).
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men erweist, und schließlich durch die christliche Erfahrung der mit Gott durch 85 Christus versöhnten Seele, die im geistlichen Frieden liegt. Ihm ist sehr an einer 86 höheren Gewichtung der Apologetik gelegen. Verfolgt Kahnis hier noch den Weg der apologetischen Verortung seines Ansatzes, so schwenkt er mit seiner Dogmatik dann doch auf den dogmatischen Weg ein. Im ersten Band seiner Dogmatik (1861) behandelt er die Apologetik in einem 87 Unterparagraphen des Abschnittes „Die Religion“. Hier übernimmt er den ersten Teil des Universitätsprogramms, in dem er den geschichtlichen Werdegang der Apologetik dargestellt hat, in einer deutschen Form, die sich eng an die lateinische 88 Vorlage anlehnt und weithin einfach eine Übersetzung darstellt. Der zweite Teil des Programms erfährt aber eine grundlegend neue Fassung. Kahnis bezeichnet die Apologetik als fundamentale Wissenschaft: „Ihren Gegenstand bilden nicht wie bei den theologischen Sonderwissenschaften einzelne Momente des Christenthums, sondern das Christenthum in seiner Gesammtheit, in seinem Wesen. Und das hat die Apologetik nicht bloß zu entwickeln, sondern auch in seiner Wahrheit 89 zu beweisen.“ „Der wissenschaftliche Weg zum Wesen geht nur durch die Erscheinung. Die Erscheinung des Christenthums ist das von Christo ausgegangene 90 religiöse Leben, dessen Rahmen die äußere Kirche ist.“ Da sich aber das Wesen nicht aus den unterschiedlichen Gestaltungen der Kirche ableiten lässt, kommt ihr Urgrund in den Blick. „Alle Sonderkirchen begründen das was sie für Wahrheit erklären mit dem Worte Jesu Christi, für dessen Quell alle die Schrift ansehen, 91 wenn auch nicht alle für den alleinigen.“ Zur Aufgabe der Apologetik wird damit die Darstellung der biblischen Theologie. „Die Darlegung der Schriftlehren (ist 85 „Qui igitur hujus cum deo per Christum factae reconciliationis veritatem ostendere vult, huic initio est probandum, eo spectare religionem pectori humano impressam in omnibusque positivis, quas vocant, religionibus expressam, quod ad philosophiam religionis pertinet, deinde certa esse, quae de Jesu Christi dictis factisque evangelium tradat, quod ad historiam pertinet, re vera denique per Jesum Christum credentibus pacem cum deo contingere, quod sola experientia potest confirmare” (ebd., 17). 86 „Quo felicius religionis christianae veritas defendetur, eo splendidior lux doctrinae reformatorum afferetur” (ebd., 19). 87 Dogmatik I (1861), 199–224. 88 Ebd., 207–219. Kahnis nimmt hier zunächst wörtlich seinen Aufsatz Apologetik, SKSB 7 (1857), 181–184.189–195.201–203, auf. Neben einigen Auslassungen und Erweiterungen fällt vor allem die Umstellung der Einleitung (Symbolae I, 5–6) auf, die nun am Ende als Ergebnis erscheint (Apologetik, 195): „Theologia apologetica ad eas pertinet disciplinas theologicas, quae huc usque in certam formam nondum sunt expressae“ (Symbolae I, 5). „Unstät wandert die Apologetik unter den theologischen Wissenschaften umher“ (Apologetik, 195). Dann aber ersetzt er den abschießenden Abschnitt aus dem Aufsatz (Apologetik, 201–203) durch den neuen Abschnitt (Dogmatik I, 220–224). Seine eigene Behauptung: „Ich habe in denselben das Resultat meiner beiden Programme Symbolae apologeticae niedergelegt“ (Dogmatik I, VI) trifft eigentlich nur für deren ersten Teil zu. 89 Dogmatik I, 220f. 90 Ebd., 221. 91 Ebd., 222.
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aber zugleich auch) ein selbständiger Zweck der Dogmatik.“ Auf diese Weise verbindet Kahnis die Apologetik nun mit der Dogmatik. Der erste Band widmet sich denn auch vor allem der Darstellung des Wortes Gottes und lässt diese in den 93 Paragraphen über „Das Wesen und die Wahrheit des Christenthums“ münden, der den Gegenstand der Apologetik behandelt, nun aber nicht als Voraussetzung der Dogmatik, sondern als deren eigenes Thema. In dritten Band seiner Dogmatik, dem System (1868), ordnet Kahnis, was er 1857 noch ausdrücklich abgelehnt hatte, die apologetischen Themen Wesen und Wahrheit des Christentums unter die Prolegomena der Dogmatik ein innerhalb 94 des Paragraphen „Das Christenthum“, der auf den Paragraphen „Die Religion“ 95 folgt. Die „Aufgabe der Apologetik“ wird nicht mehr selbständig thematisiert. Im ersten Band der zweiten Auflage der Dogmatik (1874) werden „Wesen und Wahrheit des Christenthums“ ebenfalls unter den Prolegomena behandelt, wobei der Apologetik hier erneut die Unterfunktion zugewiesen wird, die diese bereits 1868 96 erfüllt. Die Untersuchung „Symbolae Apologeticae“ markiert somit einen wichtigen Zwischenschritt hin zur endgültigen Klärung seiner Position. Kahnis versteht seine Dogmatik selbst als ein Werk, das nicht nur der theologischen Klärung im innerkirchlichen Horizont dienen, sondern auch eine apologetische Funktion in der allgemeinen Öffentlichkeit erfüllen soll. 3.3.2 Die Lutherische Dogmatik, historisch-genetisch dargestellt 97
Nach mehrjährigen Vorarbeiten baut „Die Lutherische Dogmatik“, deren erster Band 14 Jahre nach der „Lehre vom heiligen Geiste“ erscheint, auf dem bereits damals gelegten, inzwischen genauer justierten methodischen Fundament auf. Kahnis bietet den dogmatischen Stoff betont in einer historisch-genetischen Darstellungsweise. Die christlichen Lehren sollen nicht systematisch dargelegt, sondern im Nachzeichnen ihres Werdeganges entwickelt werden, wobei vorausgesetzt wird, dass die Geschichte des Dogmas nicht aus zufälligen historischen Einzelheiten besteht, sondern sich in einer inneren Folgerichtigkeit von einer Grundlegung her zu einem vollendenden Ziel hin entfaltet und gestaltet. Diese Darstellungsweise entspricht seinem „historisch-positiven Standpunkt“: Der historisch-positive Standpunkt giebt dem kritischen zu, daß nicht Alles, was die Schrift enthält, inspirirte Wahrheit ist, sieht aber in der Geschichte alten und 92 93 94 95 96 97
Ebd., 223. Ebd., 626–674. Dogmatik III (1868), 43–71. Ebd., 43.55–71. Dogmatik² I (1874), 136–208, mit dem apologetischen Unterteil, 141.195–208. Mehrere Aufsätze im „Sächsischen Kirchen- und Schulblatt“ dokumentieren den Klärungsprozess hinsichtlich der Grundfragen zur Erarbeitung der Dogmatik: Ueber Begriff, Geschichte und gegenwärtigen Zustand der Dogmatik; Der Glaube; Apologetik.
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neuen Bundes die Offenbarung des Heils sich entfalten. Der historisch-positive Standpunkt giebt dem kritischen zu, daß keine geschichtliche Gestalt des kirchlichen Bewußtseins der Abschluß der Wahrheit sei, sieht aber in einer von Offenbarung ausgehenden, vom heiligen Geist geleiteten, dem Ziele einer vollendeten Erkenntniß des Sohnes Gottes (Eph. 4, 17.) zuschreitenden Entwickelung die Wahrheit zur Erscheinung kommen.98
Das geschichtlich faktisch Gegebene und die unbedingte Wahrheit Gottes werden auch hier wieder – mit Hinweis auf die bewusste Stelle im Epheserbrief – durch den heiligen Geist in ein Verhältnis zueinander gesetzt. „Wer zwischen Positivem und Wahrem unterscheidet, setzt doch ein Verhältniß beider Faktoren zu einander 99 voraus, somit eine Einheit von beiden.“ Und so lässt er sich auch hier leiten von dem „Grundsatze, daß im Reiche Jesu Christi die Wahrheit Geschichte, die Ge100 schichte Wahrheit sei“. Wenn auch keine absolute Erkenntnis der Wahrheit möglich ist, so ist doch eine geschichtliche möglich, sofern man würdigt, dass diese geschichtliche Erkenntnis sich auf mehrere Elemente stützen kann, die in Korrespondenz zueinander die Wahrheit erkennbar machen. Konsequent versucht Kahnis auch in seiner Dogmatik das Christentum unter drei geschichtlich greifbaren Gesichtspunkten zu erfassen und damit seine Wahrheit zu erweisen: „Die Elemente, aus welchen es geworden ist, sind der allgemeine religiöse Geist, die in die heilige Schrift niedergelegte 101 Bundesoffenbarung, der Kirchenglaube.“ Auf eine menschliche Disposition trifft die Selbstmitteilung Gottes und wirkt sich im Leben der Kirche aus. Wahrheit und Wesen der Religion und des Christentums haben sich in der Geschichte niedergeschlagen im Glauben des Einzelnen, im Zeugnis der heiligen Schrift von der Heilsoffenbarung Gottes und in der Kirchengeschichte. In allen drei Aspekten sieht der Theologe den heiligen Geist geschichtlich am Werk. Und auf diesem 102 dreifachen Zeugnis des heiligen Geistes beruht die christliche Gewissheit. Kahnis stellt in einem ersten Abschnitt „Die Geschichte der lutherischen Dogmatik“ voran, ehe er dann die weiteren Abschnitte „Die Religion“, „Das Wort Gottes“ im Fortschritt vom alten zum neuen Bund (erster Band, 1861) und „Der Kirchenglauben“ (zweiter Band 1864) behandelt. Er lässt dann noch eine systematische Zusammenschau in dem Abschnitt „Das System“ (dritter Band 1868) folgen. Die mittleren Teile entsprechen formal der Gliederung seiner „Lehre vom heiligen Geiste“, indem Kahnis einer allgemein religionsphänomenologischen Grundlegung einen biblischen und einen dogmengeschichtlichen Teil folgen lässt, aller98 Dogmatik I (1861), 11. 99 Ebd., 10. 100 Ebd., 10. 101 Ebd., 14. 102 In einer Predigt, die er 1861 am Sonntag Exaudi in der Universitätskirche zu Leipzig über „das Zeugniß des heiligen Geistes von Christo“ gehalten hat, hat Kahnis bereits – in anderer Reihenfolge – diese drei Weisen dargelegt, indem er zuerst die heilige Schrift, dann die Kirche und schließlich die einzelnen Gläubigen nannte (Zwei Predigten [1861], 15–27).
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dings erscheint die Abfolge jetzt als Ausdruck einer tieferen systematischen Verortung der geschichtlichen Gestalt des christlichen Glaubens und einer bewussteren Wahrnehmung der in der Schrift kodifizierten Selbstmitteilung Gottes. Kahnis benennt auch hier drei Wesensmomente des Religiösen; die Dreizahl erreicht er diesmal jedoch, indem er die ersten beiden Punkte seines früheren Schemas zu einem zusammenfasst und dann einen weiteren hinzufügt: Als die Lebenswurzel aller Religion erscheint ein aus der Natur des menschlichen Geistes entspringendes Wissen von Gott verbunden mit Hingabe an denselben, welches wir Glauben nennen. Durch den Glauben wird die Gemeinschaft des Menschen mit Gott vermittelt, in welcher alle Kräfte ihrer Endlichkeit opfern, um sich mit göttlichem Leben zu erfüllen. In der Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott liegt der religiöse Lebensgrund der Hoffnung auf Unsterblichkeit. Die Gemeinschaft aber des einzelnen Menschen mit Gott hat zur Voraussetzung und zur Folge das religiöse Gemeinleben, im Unterschiede von der subjektiven des Einzelnen die objektive genannt, welche in den Lebensformen der Verfassung, der Lehre und des Kultus positive Gestalt hat.103
Diese veränderte Struktur, die nun auch eine soziologische Dimension aufweist, verändert das Gesamtbild. Die Religion als allgemein menschliches Phänomen enthält nach Kahnis bereits die grundsätzliche Erwartung, dass sich Gott auch konkret zu Wort meldet und direkt zu erkennen gibt. Im Wesen der Religion ist nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Nothwendigkeit einer besonderen Offenbarung gegeben. Der Glaube erheischt für seinen Inhalt eine göttliche Auktorität; die Gemeinschaft mit Gott kann, da sie durch die Sünde gestört ist, nur durch eine unmittelbare Gnadenerklärung Gottes zu Stande kommen; das religiöse Gemeinleben endlich fordert positive Formen, die nur Bestand und Leben haben, wenn sie auf dem Angelpunkte göttlicher Offenbarung 104 sich bewegen.
Diese Erwartungen erfüllen sich im Christentum. So betrachtet Kahnis dann unter der für die menschliche Geschichte grundsätzlichen Annahme die spezielle „Entwickelung des Reiches Gottes auf Erden“. Innerhalb dieser Entwicklung bezeichnet das Christentum den augenblicklichen Äon, „in welchem es gilt das be105 reitete Heil den Völkern zuzueignen“. Das Christentum weist in seinem Wesen die Struktur der Religion in einer spezieller Zuspitzung auf, indem es „zuerst Glaube an den dreieinigen Gott, zweitens Heilsgemeinschaft des Menschen mit Gott durch Jesum Christum im heiligen Geiste, drittens Gemeinleben der Gläubi106 gen unter Christo dem Haupte im heiligen Geiste“ ist. Der Angelpunkt der his-
103 Dogmatik I, 131. 104 Ebd., 199. 105 Ebd., 626. 106 Ebd., 626.
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torischen Beweisführung ist dabei „die Schrift, die authentische Urkunde der 107 Heilsoffenbarung“. Ist das Wesen des Christenthums, wie die Schrift lehrt, die Heilsgemeinschaft des Menschen mit Gott, so muß dieselbe eine Thatsache der Erfahrung in den einzelnen Christen sein. Dieß aber ist der praktische Beweis für die Wahrheit des Christenthums. Jeder wahre Christ weiß sich in einem realen Verhältniß mit Gott, versiegelt im Frieden Gottes, im neuen Leben, in der Heiligung, im Trachten nach dem was droben ist. Für die Objektivität dieser Erfahrung steht das Zeugniß der Kirche aller Jahrhunderte ein. 108
Die Dreigliederung, wie sie Kahnis in seiner Dogmatik darbietet, enthält als neues Element die soziologische Seite des Glaubens, dass der Einzelne in eine Religionsgemeinschaft eingegliedert ist und seinen Glauben gemeinschaftlich lebt. Während in der „Lehre vom heiligen Geist“ dieser Gedanke merkwürdig abgesetzt und isoliert erschien, ist er jetzt in die Grundstruktur aufgenommen. Und damit wird die geschichtliche Wirklichkeit des Glaubens im Leben der Kirche theologisch gewürdigt. Auch eröffnet sich die Möglichkeit, die konfessionellen Differenzierungen systematisch zu erfassen, die bei der Konzentration auf die Heilsgemeinschaft des Einzelnen mit Gott ohne theologische Bedeutung wären. An der in der ersten Auflage seiner Dogmatik modifizierten Einteilung hält Kahnis dann fest, so dass sich die zweite Auflage seiner Dogmatik fast wörtlich 109 daran anschließt. Schon vorher hatte er in seiner Verteidigung der Stellung, die er mit seiner Dogmatik bezogen hat und die heftigen Widerspruch auslöste, diesen 110 seinen Grundansatz wiederholt ausgesprochen, und auch in anderen Werken tritt diese Sicht deutlich hervor. 3.3.3 Die Verortung des Konfessionellen in diesem Ansatz Eigens thematisiert Kahnis, während er an seiner Dogmatik arbeitet, in seinem Reformationsprogramm am Ende seines Rektorats 1865 „Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien“ die Ausformung, die das Wesen der Religi111 on in seiner konfessionellen Ausprägung findet. Hier zeigt sich markant, wie Kahnis aus der allgemeinen Anschauung vom Religiösen als grundlegendem Phänomen aller Geschichte seine kirchliche Stellung als dezidierter Lutheraner ablei107 Ebd., 627. 108 Ebd., 628. 109 Dogmatik2 I (1874), 105–108 (entsprechend III1,22–24); 190–194 (entsprechend III1, 50–55); 228– 254 (entsprechend III1, 92–120). 110 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 60f.128–131. 111 Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien; textgleiche Ausgabe: Ueber die Principien des Protestantismus (1865). – Diese Darstellung erweitert die Ausführungen in der Dogmatik II (1864), 616–623, erheblich und wird dann in Band III (1868), 92–120, in wissenschaftlicher Form komprimiert. – Vgl. dazu die Kritik von Diedrich: Gegen die Kahnis’schen Prinzipien (1866).
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tet und auf diese Weise Fortschreiten im geschichtlichen Wandel mit Festhalten an geschichtlich Beständigem verbindet. Indem er vom Wesen des Protestantismus spricht, nimmt er nicht allein einzelne, bestimmte geschichtliche Erscheinungen des 16. Jahrhunderts in den Blick, sondern sieht diese als Ausprägung einer die Geschichte der Kirche begleitenden Strömung, die sich in viele Einzelrichtungen auffächert. Wenn wir gesagt haben, dass der Protestantismus ein durch alle Zeiten der Kirche hindurchgehendes Princip sei, dies Princip aber näher dahin bestimmten, dass es in dem Grundsatze bestehe, an die bestehende Kirche das Richtmass des Evangeliums zu legen, so scheint zur Wesenbestimmung des Protestantismus nicht die Beziehung auf die Reformation zu gehören. Aber die Reformation des 16. Jahrhunderts ist das grosse welt- und kirchengeschichtliche Strombette, in welches alle protestantischen Strömungen der alten und mittlern Zeit einmünden, von welchem alle protestantischen Strömungen der Folgezeit ausgehen. Die Reformation ist die Wasserscheide, zwischen der alten und neuen Zeit, von der ab die Flüsse kirchlichen Lebens entweder rückwärts oder vorwärts fliessen.112
Mit der Ausrichtung am Evangelium wird eine kritische Korrektur der menschlichen Seite der Kirche in ihrer „Organisation nach Lehre, Verfassung und Kultus“ von ihrer göttlichen Seite her, die „in dem unsichtbaren Haupte, in dem heiligen Geist, in Wort und Sakrament, in dem apostolischen Grund“ liegt, benannt. „Von keiner Entwicklung der Lehre, der Verfassung, des Kultus kann gesagt werden, dass sie göttlichen Rechts, dass sie die vollendete Wahrheit, dass sie der Abschluss aller Bewegung sei, weil sie eben wesentlich einen menschlichen Faktor in sich trägt. Und so geht denn durch alle Zeiten der Kirche eine Richtung, welche an die 113 menschliche Seite der Kirche das Richtmass des Evangeliums legt.“ Die Reformation als geschichtliche Epoche stellt deshalb den Gipfel des protestantischen Prinzips dar und in ihr wird deshalb das Wesen des Protestantismus deutlich greifbar: In diesem Wesen des Protestantismus aber liegen drei Principien. Das Evangelium nämlich, welches der Protestantismus zum Richtmass der Kirche macht, hat erstlich seinen lautern Quell in der Schrift (Schriftprincip), zweitens seinen Wesensinhalt in der Heilsgemeinschaft mit Gott durch Christum im Glauben (Heilsprincip), drittens seine Gemeinschaft in der Kirche des Geistes Jesu Christi (Kirchenprincip). Diese Dreiheit der Principien ist im Wesen des Christenthums 114 begründet.
Die heilige Schrift, selbst eine geschichtliche Erscheinung, indem sie, als die Kirche bereits bestand, aus der mündlichen Tradition des apostolischen Wortes hervorgegangen ist, wird im Protestantismus zum normativen Prinzip erhoben, an dem sich die anderen beiden geschichtlichen Faktoren, nämlich das in dem Be112 Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien, 19. 113 Ebd., 16. 114 Ebd., 20.
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kenntnis artikulierte kirchliche Glaubensbewusstsein in seiner bedingten Autorität und die theologische Lehre als Vermittlungsfaktor beider, auszurichten haben. „Der protestantische Grundsatz, dass der allein sichere Quell des apostolischen 115 Wortes die Schrift ist, ist unumstössliche Wahrheit“, auch wenn in ihrer Auslegung keine Einmütigkeit erlangt werden kann und selbst innerhalb des Protestantismus die lutherische und die reformierte Hermeneutik die Schwerpunkte jeweils unterschiedlich setzen. Das zweite Prinzip, die „Heilsgemeinschaft des Einzelnen mit Gott durch den 116 Glauben an Christum“, verbindet untrennbar die objektive göttliche Seite mit der subjektiven menschlichen Seite: „Die Hauptsache in diesem Bunde der einzel117 nen Seele mit Gott ist doch der himmlische Dritte, Jesus Christus.“ Nur vor diesem Hintergrund erschließt sich die Lehre von der Rechtfertigung, die Kahnis für ganz schriftgemäß hält. Aber: „Erst nachdem Luther die Rechtfertigung selbst erfahren hatte, verstand er auch die Bedeutung der Lehre von der Rechtferti118 gung.“ Schließlich ist der Protestantismus durch sein Kirchenprinzip charakterisiert. „Damit [sc. dass die Heilsgemeinschaft keine andere Bedingung als den Glauben an Jesus Christus habe] wollte sie [sc. die Reformation] aber nicht sagen, dass dieser Glaube der Gnadenmittel der Kirche nicht bedürfe und sich nicht in Werken des Gehorsams gegen Gott zu beweisen habe. […] Also Lebensbedingungen des Glaubens sind die Gnadenmittel auf der einen, die guten Werke auf der an119 dern Seite, aber nicht Heilsbedingungen.“ Die Kirche wird im reformatorischen Verständnis bestimmt „als Gemeinschaft der Gläubigen, die in einem äussern 120 Gläubige und Ungläubige umschliessenden Organismus erscheint“. Diese beiden Seiten der einen Kirche bringen manche Spannungen mit sich, die nicht aufzulösen, sondern geschichtlich immer neu zu bewältigen sind. „Alle Gemeinden unter dem Himmel, in denen der heilige Geist durch Wort und Sakrament Gläubige erzeugt und eint, gehören zur Einen Kirche Christi, sie mögen nun griechisch, römisch, lutherisch oder reformirt heißen. Diese so einfache als unumstössliche 121 Wahrheit sich gründlich zu sagen, wird endlich Zeit.“ Aber „es ist durchaus nicht nothwendig, dass die einzelnen Gemeinden verfassungsmässig unter einan122 der verbunden sind.“ Wenn auch keine organisatorische Zusammenfassung notwendig ist, so haben „die einzelnen Gemeinden der Erde“ doch „die Verpflichtung, die Einheit des Geistes, welche sie objektiv umschliesst subjektiv zu bethätigen (Eph. 4, 3.). Diese Bethätigung konnte das apostolische Zeitalter mit 115 Ebd., 27. 116 Ebd., 40. 117 Ebd., 41. 118 Ebd., 39. 119 Ebd., 51. 120 Ebd., 52. 121 Ebd., 61. 122 Ebd., 59.
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der Kraft und Fülle seines Glaubens und Lebens der christlichen Freiheit überlas123 sen.“ Insofern ergibt sich die relative, geschichtliche Notwendigkeit der Ausgestaltung konfessioneller Individualitäten. „Das Charakteristische des lutherischen Protestantismus liegt erstlich in der Anerkennung Luther’s, als des vor anderen berufenen Wahrheitszeugens der Reformation, zweitens in dem Festhalten an dem lutherischen Bekenntniss als dem im Wesentlichen schriftgemässen Zeugnisse der Wahrheit, und drittens in dem Grundsatz, sich nur innerhalb der Wege der ge124 schichtlichen Eigenthümlichkeit der lutherischen Konfession zu entwickeln.“ Ausführungen über die protestantischen Prinzipien und deren besondere Akzentuierung im Luthertum macht Kahnis danach zum festen Bestandteil seiner Dogmatik. Den Text aus dem dritten Band der ersten Auflage (1868) übernimmt 125 er fast gleich lautend in den ersten Band der zweiten Auflage (1874). Eine Änderung der Formulierung erfolgt nur bei der Darlegung des Heilsprinzips, insofern Kahnis den dogmatischen Rang der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glau126 ben inzwischen auf neue Weise bestimmt. Kahnis hat sich zu seiner Konzeption von den drei Prinzipien des Protestan127 tismus durch Karl Rudolf Hagenbach (1801–1874) anregen lassen. Dieser hatte die beiden traditionellen Prinzipien – Rechtfertigung als Material- und Schrift als Formalprinzip – mit dem Sozialprinzip verbunden, das erst Calvin „zur Ausführung brachte“, und so den Protestantismus als eine eigene Größe charakterisiert, welche die lutherische und die reformierte Konfession als eine besondere theologi128 sche Einheit erkennen lässt. „Eben der Glaube, der auf das Materialprincip als auf seinen Anker sich stützte“, fand seinen Kompass, „der ihm die Richtung wei129 sen sollte nach dem ihm vorgesteckten Ziele“, in dem „Formalprincip“. Und „die Kirche konnte nicht mehr gefunden werden in der unmittelbaren Sichtbarkeit, in den Formen der alten Kirche, und doch konnte bei aller Energie der religiösen 123 Ebd., 62. 124 Ebd., 64. 125 Dogmatik III (1868), 92–120, unter dem Titel „Die protestantischen Principien“; Dogmatik2 I (1874), 228–254, unter dem Titel „Protestantismus und Lutherthum“. 126 Neuformulierung der These zum Heilsprinzip (Dogmatik2 I, 229), dann ein Zusatz bei der Darlegung (ebd., 243f) und Kürzung und Umformulierung (ebd., 247): Die Lehre vom Heil bildet „einen materialen Maßstab für alle anderen Lehren“, gegenüber früher: „Das Heil ist das Materialprincip der lutherischen Glaubenslehre, aus welchem alle Dogmen zu entwickeln sind“ (Dogmatik III, 112). Eine Umformulierung erfährt auch der erste Absatz der Darlegung zum Kirchenprinzip (Dogmatik2 I, 247). 127 Karl Rudolf Hagenbach (4. März 1801 in Basel – 7. Juni 1874 in Basel), reformierter Theologe, 1824 ao. und 1829 o. Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte in Basel, 1842 zusammen mit Wilhelm Martin Leberecht De Wette (1780–1849) Gründung des protestantisch-kirchlichen Hilfsvereins der Schweiz, Mitglied der obersten Erziehungsbehörde und seit 1848 Vertreter im Großen Rat, 1845–1868 Herausgeber des neu gegründeten „Kirchenblattes für die reformierte Schweiz“. 128 Hagenbach: Zur Beantwortung der Frage über das Princip des Protestantismus, Zitat dort 31. 129 Ebd., 18.
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Subjectivität der Glaube des Einzelnen nicht ein vereinzelter bleiben; es mußten sich vielmehr die Gläubigen innerlich unter sich verbunden wissen unter ihrem unsichtbaren Oberhaupte Christus, und für die nach außen sich darstellende Organisation dieser Gemeinschaft der Gläubigen war nun auch ein Princip aufzustellen, das ich als Ergänzung zu den beiden schon genannten, das Socialprincip nen130 nen möchte.“ Diese drei Prinzipien, die nach Hagenbach den ganzen religiösen Menschen betreffen und sich auf dessen grundlegende Seiten beziehen, indem das Materialprinzip das religiöse Gefühl, das Formalprinzip das religiöse Wissen und das Sozialprinzip das religiöse Tun anspreche, fand er „auf historischgenetischem 131 Wege“ in den verschiedenen Traditionslinien der Reformation jeweils unterschiedlich ausgeprägt und akzentuiert, bedingt durch die psychologischen Eigenarten der Reformatoren, die nationalen Eigentümlichkeiten ihrer Stammländer, die Ausrichtungen ihrer Polemik und ihrer spezifischen theologischen Denkansätze. 132 Im Grunde liegt hier ein Unionsprogramm vor. Die Prinzipien verbinden den gesamten Protestantismus, so dass „doch bei der so wunderbaren Mischung der menschlichen Dinge auch hier wieder nur von einem Mehr oder Minder die Rede 133 seyn kann“ und „keine eigentliche principielle Verschiedenheit zwischen lutheri134 schem und reformirten Protestantismus“ besteht. Das Konstrukt der drei protestantischen Prinzipien hat seine Entsprechung später etwa in der Programmatik von „Faith and Order/Glaube und Kirchenverfassung“, einem Zweig der ökumenischen Bewegung, der ebenfalls lutherische, reformierte und anglikanische Traditionen unter der phänomenologischen Wahrnehmung unterschiedlicher Grundakzentuierungen in ein Gespräch miteinander brachte in der Hoffnung, das Verbindende klarer zu erkennen. Wenn Kahnis seinerseits den Protestantismus als kirchliche Gemeinschaft eigener Art ansieht, dann bedeutet dies demgegenüber, dass er zwar auch in diesem Rahmen bestimmte praktische Formen eines gelebten Miteinanders für möglich und sogar für erforderlich hält, dass er dadurch aber die konfessionelle Bindung an die lutherische Kirche als eine selbstständige Größe mit ausschließender Eigentümlichkeit nicht beeinträchtigen möchte. Er vertritt eine stärker gegliederte Vorstellung von kirchlicher Gemeinschaft und hält an einer speziellen Gemeinschaft unter den Lutheranern fest. Der Gedanke der Organisation der Kirche in Lehrbekenntnis, Verfassung und Kultus war im Kreis der preußischen Lutheraner entwickelt worden, definitorisch zusammengefasst in der Bitte um „Anerkennung der evangelisch-lutherischen 130 Ebd., 19. 131 Ebd., 46. 132 Hagenbach möchte „die in der Reformation selbst eingetretene Spaltung in die lutherische und reformirte Kirche“ erklären „aus dem theilweisen Uebergewicht des eines Principes über das andere“ (ebd., 23) und durch diese Einsicht „das Werk der Union“ fördern (ebd., 48). 133 Ebd., 36. 134 Ebd., 41.
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Kirche in den Königl. Preußischen Staaten auf Grund ihrer bekannten Confessionsschriften als einer in Gottesdienst und Verfassung selbstständigen und ei135 genthümlichen Kirche“. Der Protest gegen die Veränderung des Bekenntnisstandes durch die Einführung der Union hatte dazu geführt, dass sich die Lutheraner kirchenrechtlich neu definieren mussten, um als eigener Gemeindeverband selbstständig weiter zu bestehen. Das Festhalten am Bekenntnis verlangte eine ekklesiologische Formierung unter neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Offensichtlich verdankt sich die von Kahnis konsequent immer aufs Neue be136 nannte Trias seiner Verbindung mit den Breslauer Lutheranern, zumal er sonst auch auf die guten Werke und damit auf eine verbindende Ethik hinweist, die aber nicht systematisiert. Auch die Heraushebung des Bekenntnisses gegenüber den beiden andern Merkmalen verdankt sich der Selbstdefinition der staatsfreien lutherischen Kirche in Preußen, die für die lutherische Kirche als solche Selbstständigkeit reklamiert und diese im eigenen Lebensbereich des preußischen Staatswesens für das eigene Kirchenwesen einfordert. Allerdings nimmt Kahnis den Begriff „selbstständig“ nicht auf und bleibt auch 137 gegenüber dem Begriff „Kirche“ in diesem Zusammenhang durchaus skeptisch. Die sich im modernen Pluralisierungsprozess neu einbürgernde Rede von Kirchen im Plural bleibt theologisch problematisch. Kahnis müht sich um die Klärung der durch die geschichtlichen Veränderungen aufgebrochenen ekklesiologischen Fragen und kombiniert dazu die Hagenbachschen Prinzipien mit dem Selbstverständnis der „Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen“. 3.3.4 Der sich in Kahnis’ späteren Werken durchhaltende Grundsansatz Kahnis wird nicht müde, in weiteren Modulationen sein Grundschema immer wieder vorzuführen. Nachdem er schon 1867 am Anfang seines Vortrags „Die 135 Ganz gehorsamstes Promemoria vom 15. August 1841, in: Beschlüsse der von der evangelischlutherischen Kirche in Preußen […] 1841 zu Breslau gehaltenen Generalsynode (1842), 97–103, dort 98. – Diese Formulierung versteht sich als Zusammenfassung der vorausgehenden Bittschriften. Vgl. dazu Stolle: „Anerkennung der evangelisch-lutherischen Kirche als einer selbstständigen und eigenthümlichen Kirche“. 136 Die drei Aspekte Bekenntnis, Verfassung und Kultus finden sich bei Kahnis bereits in seiner „Lehre vom heiligen Geiste“, 150–154, also in seiner Breslauer Zeit vor seinem eigenen Ausscheiden aus der Landeskirche. 137 Kahnis nimmt nur den Begriff „eigentümlich“ auf. Zu der Verwendung des Begriffs „Kirche“ bemerkt er: „Wenn es nur Eine Kirche giebt, so sollte man eigentlich nicht mehr von einer morgenländischen, römischen, lutherischen, reformirten Kirche reden, da dieser Ausdruck nicht schriftgemäss ist und mindestens Verwirrung, oft Prätension einschliesst. So lange indess kein anderer Ausdruck allgemeine Währung gefunden hat, wird er vorerst fortgebraucht werden. Das Wort Sonderkirche, welches man wohl braucht, sieht etwas wie ein Fabrikat der Doctrin aus und führt leicht zu Verwirrungen, da die Alten unter ecclesia particularis eine einzelne Gemeinde verstehen“ (Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien, 61f).
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Entstehung der Kirche“, der sich mit der Apostelgeschichte beschäftigt, die drei Aspekte Glaube, Lebensgemeinschaft mit Gott und Religionsgesellschaft in das 138 Bild eines Baumes mit Wurzel, Stamm und Krone gefasst hat, nimmt er dieses Bild 1871 in seiner Monographie „Christenthum und Lutherthum“ wieder auf: „Schleiermacher hatte Recht, wenn er von der Lebensthatsache der Religion ausging“; er nennt diese „Lebenswurzel aller Religion“ freilich nicht wie Schleiermacher Gefühl, sondern „Glaube“, weil es „ein auf persönlicher Lebensbestimmtheit 139 ruhendes Wissen“ darstellt. Dieser Glaube muss nun „zur Gemeinschaft mit Gott führen. Weder nach dem religiösen Wissen noch nach dem religiösen Fühlen noch endlich nach dem religiösen Thun mißt man eines Menschen Religion, sondern nach dem Ernst mit welchem er Gott ergreift, um von ihm ergriffen zu wer140 den. Lebensgemeinschaft mit Gott, das ist das Herzblatt aller Religion.“ „Zu diesen beiden Wesenstheilen der Religion: Glaube an Gott und Gemeinschaft mit Gott kommt noch ein dritter, nämlich die Gemeinschaft der religiösen Menschen unter einander: Religionsgesellschaft. Der Glaube ist die Wurzel, die Gemeinschaft 141 mit Gott der Stamm, die Religionsgesellschaft die Krone.“ Auf diese Folie trägt Kahnis erneut das Wesen des Christentums auf. „Wie die allgemeine Religion ist auch die christliche zuerst Glaube, und zwar Glaube an 142 Vater, Sohn und Geist.“ „Der zweite Punkt der allgemeinen Religion, die Gemeinschaft des Frommen mit Gott, ist auch der zweite Wesenspunkt des Christenthums: Die Heilsgemeinschaft des Menschen mit Gott durch Jesum Christum im 143 heiligen Geiste.“ „Der dritte Punkt aber des allgemeinen Glaubens, die Religi144 onsgesellschaft, findet seine Wahrheit in der Kirche.“ Das Wesen des Protestantismus präzisiert diese drei Merkmale innerhalb der Christenheit noch weiter. Der Glaube an den dreieinigen Gott verbindet sich mit „dem Grundsatze, den Kirchenglauben nur insofern für wahr zu halten als er 145 schriftgemäß ist.“ Das Heil wird hier „als Rettung der Seele bestimmt“, kennt „keine andere Bedingung des Heils als den Glauben“ und hängt „nicht an priester146 licher Vermittelung.“ Und die Kirche, die in ihrer äußeren Erscheinung „nach Lehre, Verfassung und Kultus in Konfessionen zerspalten“ ist, „hat ihre Einheit in 147 Christo dem Haupte, in dem heiligen Geistes, in dem Wort, im Glauben“. Weitere Präzisierungen machen dann das Wesen des Luthertums innerhalb des protestantischen Lagers aus. Der Glaube ist hier mit der “Anerkennung der 138 Die Entstehung der Kirche (1867), 4–9. 139 Christenthum und Luthertum, 25. 140 Ebd., 26. 141 Ebd., 27. 142 Ebd., 35. 143 Ebd., 37. 144 Ebd., 40. 145 Ebd., 58. 146 Ebd., 59f. 147 Ebd., 61.
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augsburgschen Konfession als des Grundbekenntnisses“ und „als Norm der öffent148 lichen Lehre“ verbunden. Der „eigenthümlich lutherische Heilsbegriff“ besteht „erstlich in der Grundüberzeugung, daß in der Rettung des Einzelnen der ewige Mittelpunkt des Evangeliums liegt, zweitens daß die Rettung durch den rechtfertigenden Glauben bedingt ist, drittens daß die Lehre von der Rechtfertigung der 149 materiale Prüfstein aller anderen Lehren ist.“ Der dritte Punkt schließlich erfährt seine lutherische Ausprägung „in einer nach Lehre, Verfassung und Kirche 150 bekenntnißmäßig ausgestalteten Kirchenindividualität“ , so dass „einem Luthe151 raner die Zugehörigkeit zu einer lutherischen Gemeinde wesentlich“ ist. Seinen zunächst noch sehr allgemeinen Ansatz gestaltet Kahnis also konsequent konkret aus und lässt ihn für seine Theologie bestimmend werden. Das zeigt besonders deutlich sein Vortrag „Blicke aus der Vergangenheit in die Gegenwart 152 und Zukunft der Kirche“, den er am 14. April 1874 in Gnadau hält. Hier trägt er seinen ausgeführten Ansatz in knapper Weise und in kompakter Deutlichkeit vor. Auch 1881 erinnert er noch einmal an den allen Menschen gemeinsame religi153 ösen Zug anhand des Bildes eines Baumes , sowie daran, „daß die drei Grundlagen der allgemeinen Religion: Glaube, Gemeinschaft mit Gott und Religionsgesellschaft, im Christenthum eine dreifache Gestalt empfangen: erstlich Glaube an den dreieinigen Gott, zweitens Versöhnung des Menschen mit Gott durch den 154 Glauben an Jesum Christum, drittens Kirche.“ Diese Beispiele mögen genügen, 155 um die Stetigkeit, mit der Kahnis seinen Ansatz beibehält, aufzuzeigen. In der Geschichte findet Kahnis mithin den Beweis für die Wahrheit und Wirklichkeit der „Heilsgemeinschaft des Menschen mit Gott durch Jesum Christum im heiligen Geist“, welche die wesentliche Mitte des christlichen Glaubens bildet. Dieses Beweisverfahren beansprucht keine absolute Allgemeingültigkeit, sondern richtet sich an Christen, die es aus eigener Erfahrung bestätigen können. Die lebendige Heilsgemeinschaft des Menschen mit Gott durch Jesum Christum im heiligen Geiste ist der wunderbare Ring, in dem das Wesen und die Wahrheit des Christenthums liegt. Nicht auf die Inspiration und Authenthie der Schrift, nicht auf dogmatische Begriffe, nicht auf wissenschaftliche Vermittelung, sondern 148 Ebd., 73f. 149 Ebd., 76. 150 Ebd., 82. 151 Ebd., 79. 152 AELKZ 7 (1874), 355–376. 153 „Die Wurzel ist das jedem Menschen einwohnende, unmittelbare Bewußtsein von Gott: der Glaube; der Stamm ist die Erhebung des Menschen zu Gott, in welcher der Mensch sein opfernd verliert, um das wahre Leben aus Gott zu empfangen: die Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott; die Krone ist der Kreis, zu welchem die Religion ihre gläubigen Bekenner verbindet: die Religionsgesellschaft“ (Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 17f). Es folgt eine genauere Darstellung dieser drei Teile (ebd., 18–21); vgl. weiter 451f. 154 Ebd., 453f. 155 Vgl. weiter: Die deutsche Reformation I (1872), 47–50, mit ausdrücklichem Hinweis auf frühere Darlegungen dieser Gedanken; auch: Der innere Gang I (31874), 45–48.
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auf die Lebensthatsache seiner realen Gemeinschaft mit Gott durch Christum stellt der wahre Christ sein Christenthum. Und dieser unerschütterliche Wahrheitsgrund des Christenthums ist de Beweis, daß das Wesen des Christenthums darin liegt.156
Die apologetischen Vorüberlegungen über den religiösen Menschen erweitern und die konfessionellen Folgerungen über die Bindung an die lutherische Kirche vertiefen diese christliche Grunderfahrung. Kahnis geht von zwei Voraussetzungen aus, einerseits, dass des menschliche Selbstbewusstsein und damit auch das menschliche Leben des einzelnen und die Menschheitsgeschichte über sich hinausweisen, und andererseits, dass Gott durch seinen Geist in die Geschichte hineinwirkt, sich kraftvoll in der menschlichgeschichtlichen Wirklichkeit offenbart, wahrgenommen freilich nur von denen, die im Glauben ein Organ dafür haben, aber das sind potentiell alle Menschen. Die Geschichtsbetrachtung kann damit keine „induktive“ Beweisführung sein, wie Kahnis selbst es beansprucht, sondern enthält von vornherein Elemente „deduktiver“ Deutung.
3.4 Theologiegeschichtliche Einordnung Der religionsphänomenologisch und religionsgeschichtlich erweiterte Glaubensbegriff, wie Kahnis ihn zum Ansatz seines theologischen Denkens macht, stellt die Weiche dar, über die er über den Pietismus den Anschluss an die reformatorische Rechtfertigungslehre zu finden sucht. „Das 17. Jahrhundert war das Zeitalter des Glaubens, der sich an die Ueberlieferung hielt, das Zeitalter der Rechtgläubigkeit. Das 18. Jahrhundert war das Zeitalter des Zweifels, der Zersetzung der Revolution. Das 19. Jahrhundert aber ist das Zeitalter der Rückkehr zum Glauben, aber einer 157 geprüften, begründeten, vermittelten Rückkehr.“ Mit dieser Rückkehr ist, davon ist Kahnis überzeugt, zugleich ein Erkenntnisfortschritt verbunden. 3.4.1 Die Entdeckung der „Inweltlichkeit“ Gottes im heiligen Geist Auffallend ist, dass Kahnis rückblickend auf seine eigene Entwicklung als für sich entscheidend zwei unterschiedliche Punkte nennt, nämlich einerseits die Lehre vom heiligen Geist und andererseits die lutherische Rechtfertigungslehre. Die neue Erkenntnis aus der Erfahrung der unmittelbaren Geistwirkung ist mit der Gewinnung der traditionellen Kirchenlehre verbunden. Beides fügt sich freilich nicht nahtlos aneinander, sondern erfordert eine entsprechende Adaption.
156 Dogmatik I (1861), 674. 157 Predigt am Sonntag Quasimodogeniti 1865 über Joh 20, 24–29 „Der christliche Glaube ist der Glaube der Wahrheit“ (Predigten [1866], 79–88, dort 80).
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„Die Seite der Inweltlichkeit Gottes“ , Gottes gegenwärtiges Wirken, in dem er sich im heiligen Geist zur Gemeinschaft erschließt, ist ihm existentiell von besonderer Bedeutung. Indem er die Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott durch Christus im heiligen Geist zum Zentrum seines theologischen Ansatzes 159 macht, knüpft er bewusst an den Pietismus an. In einer Charakterisierung Hengstenbergs schreibt er: „Die letzte Grundlage seiner Theologie war die Ueberzeugung, daß des Christenthums Mittelpunkt das neue Leben der Gemeinschaft mit Gott durch Christum sei. Das nannte man in den ersten Jahrzehnten Pietis160 mus.“ Und diese Charakterisierung trifft ja auch auf ihn selbst zu. Den Fortschritt gegenüber dem Pietismus sieht er dann „in der Ueberzeugung, daß das Christenthum nicht boß das neue Leben des Einzelnen sei, sondern auch Gemein161 schaft, Kirche, Reich Gottes“. Die persönliche Gottesgemeinschaft erweitert sich also um die soziale Dimension zur gemeinschaftlichen, gemeindlichen, kirchlichen. Kahnis bezeichnet im Rückblick auf seinen theologischen Weg andererseits die Rechtfertigungslehre als die Grundlehre, die biografisch und systematisch den Ausgangspunkt sowie die bleibende Orientierung seiner Existenz als lutherischer Theologe markiert. „Die Rechtfertigung aus dem Glauben habe ich in allen meinen theologischen Schriften als die Grundlehre des deutschen Protestantismus mit besonderem Nachdruck hervorgehoben. Sie ist es besonders, die mich vom Evan162 gelium zum Lutherthum geführt hat.“ Damit sucht er den Anschluss an die Tradition. Allerdings betont er, dass diese Lehre in einem weiteren Rahmen gesehen werden müsse. „Ich glaube in der Lehre von der Rechtfertigung nach orthodoxem Maßstabe correkt zu stehen. Das aber behaupte ich, daß nicht in der Lehre von der Rechtfertigung, sondern in dem Lebensfaktum der Gemeinschaft des Gerechtfertigten mit Gott, in der Versöhnung, im Heil der Mittelpunkt des Christenthums 163 liegt.“ Er verbindet also gleichsam die reformatorische Option mit einer pietistischen Note. Indem er zwischen Lehre und Lebensfaktum unterscheidet, vollzieht er einen Paradigmenwechsel, den er näher als Wechsel von einer isoliert subjektiven zu einer ganzheitlichen Betrachtung bezeichnet und zugleich als Schritt auf dem Weg einer notwendigen Durchklärung der reformatorischen Erkenntnis versteht, die bisher noch nicht zur vollen theologischen Darstellung gekommen sei: 158 Die Lehre vom heiligen Geiste, VII. 159 „Das ewige Wesen des Christenthums liegt in der persönlichen Heilsgemeinschaft mit Gott durch Christum“ (Der Gang der Kirchengeschichte [1865], 118). 160 Der innere Gang II (31874), 208f. 161 Ebd., 209. 162 Christenthum und Lutherthum, V. – Unübersehbar ist in dieser Formulierung die Spannung zwischen „Rechtfertigung“ als Geschehen und dem Bezug darauf als „Grundlehre“. Er unterscheidet zwischen der Sache der Rechtfertigung und ihrer Lehrgestalt. 163 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 32.
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Die erste Einseitigkeit der deutschen Reformation ist Subjektivität. So gewiß es ist, daß das Eine[,] was dem Menschen noth ist[,] das Ergreifen des Heils im rechtfertigenden Glauben ist, so ist doch eine andere Frage, ob man das Wesen des Christenthums allein den rechtfertigenden Glauben setzen kann. Dieß halte ich für einseitig. Das Christenthum ist seinem ganzen Wesen nach der neue Bund d.h. die Heilsgemeinschaft des Menschen mit Gott durch Jesum Christum im heiligen Geiste. Zu dieser Heilsgemeinschaft, das ist ja unwidersprechlich, gehört ganz wesentlich das objektive Heil, welches wir ergreifen, d.h. Christus.164
Die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Heil wirkt wie eine Abstraktion. Kahnis teilt einen einzigen Vorgang in zwei Phasen auf: „Gerecht ist der Mensch, welcher im Bundesverhältnisse der göttlichen Forderung Genüge geleistet hat, welcher vor Gott bestehen kann und eben somit Anspruch hat auf die Verheißung des ewigen Lebens. Die rechtliche Einigung mit Gott soll zur lebendigen werden, zum ewigen Leben, welches uns der im Glauben ergriffene 165 Christus giebt.“ Die rechtliche Einigung mit Gott und die lebensgemeinschaftliche Einigung mit Gott lassen sich kaum trennen. Bei Gott ist ein Rechtsspruch, der Lebensrecht zuspricht und im Glauben entgegengenommen wird, auch eine Rechtstat, die in die Lebensgemeinschaft als Kind Gott mit dem Vater versetzt. Kahnis übersieht offenbar, dass bei Gott ein reiner Rechtsakt undenkbar ist. „Denn wenn er spricht, so geschieht’s; wenn er gebietet, so steht’s da“ (Ps 33,9). Auffallend ist, dass Kahnis die vermeintliche Subjektivität nicht erst in der pietistischen, sondern bereits in der reformatorischen Tradition verortet. Den reformatorischen Glaubensbegriff versteht er als isolierte Betrachtung des menschlichen Subjekts, das sein Heil ergreift. Er bezieht sich damit nicht eigentlich auf den reformatorischen Glaubensbegriff selbst, sondern auf die Entwicklung, die dieser Begriff in der Zwischenzeit genommen hatte. Während Luther Glaube und Gott 166 noch ganz eng zusammen gesehen hatte, hatte sich die Glaubensvorstellung immer mehr zu einer geistlichen und schließlich psychischen Bestimmtheit des Gläubigen in seiner Innerlichkeit gewandelt, war das Gottesbewusstsein im 167 menschlichen Selbstbewusstsein angesiedelt worden. Die unabdingbare Voraussetzung dieser menschlichen Seite der Rechtfertigung ist aber doch, dass Gott sein rechtfertigendes Urteil spricht, in dem er den Sünder freispricht und ihm Lebens-
164 Ebd., 44. 165 Die Lehre vom Abendmahle (1851), 268. 166 „Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott“ (GrKat, 1.Gebot; BSLK 560,21f). „Darümb ist nu die Meinung dieses Gepots, daß es fodert rechten Glauben und Zuversicht des Herzens, welche den rechten einigen Gott treffe und an ihm alleine hange“ (ebd., 560,30–34). „G(laube) ist also das Ereignis des Zusammenkommens und Zusammenseins von Gott (Christus) und Mensch“ (Jüngel: Glaube IV, 962). 167 Im Kampf gegen äußerlichen Autoritätsglauben hatte die Aufklärung den Glauben mit der Vernunft als mündiger und selbstverantwortlicher innerlicher Autorität in Einklang zu bringen versucht. Die idealistische Theologie hatte zwar den Akzent vom vernünftigen Wissen auf das Gefühl hin verschoben, dabei aber die subjektive Innerlichkeit gewahrt. Vgl. ebd., 966–968.
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recht zuerkennt und ihn damit in seine Gemeinschaft nimmt. Ohne dieses kommunikative Gegenüber ist Glaube in Phantom. Kahnis würdigt nicht, dass der Begriff Glaube ursprunghaft kommunikativ angelegt war, Vertrauen sich auf ein Gegenüber richtet und auf eine Gemeinschaft bezogen ist. Wer zum Glauben (an Christus) kommt, zu dem kommt der Glaube (Christus), wie Paulus formuliert (Gal 3,23–28). Diese integrale Seite will Kahnis erst durch die Begriffe Bund und Gemeinschaft ins Spiel bringen. Den Akzent, den er damit auf „das objektive Heil“ legt, versteht er im Hinblick auf ein personales Gegenüber, einen Heiland, mit dem der Glaubende gemeinschaftlich verbunden ist. Christus wird im Folgenden ausdrücklich als „Person“ charakterisiert. Die cartesianische Subjekt-Objekt-Spaltung erfährt damit eine geschichtlich-personale Interpretation als Begegnung zweier Subjekte. Neben der angeblich subjektiven Lehre entdeckt Kahnis die von ihm objektiv genannte Lebenswirklichkeit und sieht sich darin in Einklang mit der theologischen Diskussion seiner Zeit. „Es ist eine fast allen neueren Theologen gemeinsame Ueberzeugung, daß das Wesen des Christenthums in dem Worte Heil liege, worin doch das objektive Heil d.h. Jesus und das subjektive d.h. die Heilsaneig168 nung zu unterscheiden ist.“ „Zur vollen Heilsgemeinschaft gehört nicht bloß die Rechtfertigung (iustificatio), sondern auch die Lebenseinigung (unio mystica) und die Heiligung (sanctificatio). Man kann sich nicht verhehlen, daß im Zeitalter der Reformation und Orthodoxie die Rechtfertigung aus dem Glauben oft in einer 169 sehr bedenklichen Weise ist isolirt worden.“ Sein dogmatische Anliegen bei dieser Weise der Rezeption der traditionellen Rechtfertigungslehre ist, die lebensgeschichtliche Umsetzung in der Lebensgemeinschaft mit Gott in ihren Voraussetzungen, ihrem Werden und ihrer Zukunft nachdrücklich bewusst zu machen, ja sie zum eigentlichen Mittelpunkt zu erklären, d.h. eine geschichtliche Betrachtungsweise zu erschließen. Die geschichtliche und die kommunikative Dimension erfordern sich gegenseitig in einem personalen Wahrheitsverständnis. Kahnis positioniert seinen theologischen Ansatz programmatisch: „Nachdem die Gegensätze des römischen Petrinismus und des protestantischen Paulinismus zum Austrag gekommen sind, [hat] die evangelische Theologie der Gegenwart die johanneische Aufgabe, im treuen und doch freien Anschluß an den paulinischen Bekenntnißgrund der Reformation nach dem ewigen Geistesevangelium zu trachten, das auf dem Grunde der Apostel und Propheten ruht, durch die Geschichte des Reiches Gottes hindurch immer mehr im Bewußtsein des Glaubens Gestalt gewinnen will, bis es offenbar werden wird wenn Christus unser Leben wird of170 fenbar werden.“ Der dritte Artikel, Gottes Wirken im heiligen Geist, steht also auf der Grundlage der Rechtfertigung zu weiterer Vertiefung und Entfaltung an. 168 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 45. 169 Ebd., 49. 170 Dogmatik II (1864), 626
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Wie Kahnis der Rechtfertigungslehre eine fundamentale Rolle zuschreibt und diese zugleich doch relativiert, so ist auch seine systematische Verortung dieser Lehre schwankend. Zunächst stellt er sie als für ihn selbst und den christlichen Glauben überhaupt unverrückbare elementare Mitte dar: Ich habe in meiner Lehre von dem heiligen Geiste und in dem an dieselbe sich anschließenden Aufsatze: Das Wesen des Christenthums (Evangelische Kirchenzeitung 1848 Nro. 15ff.) den Gedanken durchzuführen gesucht, daß in der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben der Mittelpunkt des Christenthums liege. Ich darf sagen, daß diese Erkenntnis die erste wissenschaftliche Frucht der Gnadenführung ist, durch die mich der Herr in seine Gemeinschaft gezogen hat, und daß diese Ueberzeugung mich in unwandelbarer Kraft auf allen Wegen begleitet, welche Leben und Wissenschaft mich führen. Fragen Sie mich, was mich zum Lutheraner gemacht hat und was mich an das lutherische Bekenntniß mit himmlischen Ketten schließt, so muß ich sagen: die Ueberzeugung, daß die Rechtfertigung aus dem Glauben der Mittelpunkt des Christenthums ist. Und ich hoffe zu der ewigen Erbarmung, sie werde ihre Fittiche also über mich breiten, daß ich bis zum letzten Hauche meines Leben mit Luther sprechen kann: Von diesem Artikel kann man nicht weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erde oder was nicht bleiben mag.171
Während er auch am Anfang des ersten Bandes seiner Dogmatik in ihrer ersten Auflage (1861) noch erklärt, „die lutherische Dogmatik (habe) die Glaubenslehren 172 aus dem Materialprincip der Rechtfertigung aus dem Glauben zu entwickeln“, revidiert er bald darauf seine Auffassung: Man hat die Lehre von der Rechtfertigung das Materialprincip genannt. Ich habe dieß im ersten Paragraphen meiner Dogmatik vorerst so hingenommen, weil es zunächst darauf ankam den Begriff des Materialprincips zu bestimmen d.h. des Princips, aus welchem wie aus einem unentwickelten Keime alles Besondere und Einzelne hervorgeht. Allein im letzten Paragraphen habe ich gezeigt, wie es ganz unmöglich sein, aus der Rechtfertigung aus dem Glauben die Glaubenslehren zu entwickeln. Dieß vermag nur der Begriff des Heils zu leisten. Dieser muß als das 173 Materialprincip des Protestantismus angesehen werden.
Und diese Modifizierung versteht Kahnis als „erweiterte Fassung“ der Rechtferti174 gung. Erst in seinem Reformationsprogramm „Ueber das Wesen der im Protestantismus liegenden Principien“ von 1865 setzt sich Kahnis ausführlich mit dem Begriff Materialprinzip in seiner Anwendung auf die Lehre von der Rechtfertigung 171 Die Sache der lutherischen Kirche, 31. – Das angeführte Luther-Zitat: ASm II,1 (BSLK, 415,21f). 172 Dogmatik I (1861), 12. 173 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 50. 174 Ebd., 57. – Allerdings ist zu bemerken, dass Kahnis an der Stelle, die er als Ort der Klarstellung benennt (Dogmatik I [1861], 638), den Begriff Materialprinzip gar nicht verwendet, sondern bestreitet, dass die Rechtfertigung aus Glauben das „Wesen“, bzw. der „Mittelpunkt des Christenthums“ sei.
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auseinander. Dabei bemerkt er, dass diese Begriffsbildung erst nach Abschluss der Konkordienformel aufgekommen sei, und hält es für an der Zeit, „den ohnehin von keinem Reformator ausgesprochenen Satz aufzugeben, den wir auf die Länge nicht halten können, dass die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben das Materialprincip des Protestantismus ist, aus welchem alle Glaubenslehren zu entwickeln sind. Aber den Satz: Der Mittelpunkt des Evangeliums ist die Heilsgemeinschaft des Einzelnen mit Gott durch Jesum Christus im heiligen Geiste, wird 175 der Protestantismus für immer behaupten können.“ Bald führt Kahnis diese Korrektur noch einen Schritt weiter. 1871 erklärt er: Es ist „unrichtig zu sagen, daß die Rechtfertigung aus dem Glauben der Hauptartikel des christlichen Glaubens ist. Der Gegenstand des christlichen Glaubens ist der dreieinige Gott, wie die christliche Kirche zu allen Zeiten bekannt hat. Die Lehre von der Rechtfertigung gehört in den Kreis der Lehren von der Heilszueignung, der, so wahr und wichtig er ist, doch keineswegs der Hauptgegenstand des 176 christlichen Glaubens ist.“ Warum aber haben die deutschen Reformatoren diese Lehre so in den Mittelpunkt gestellt? Weil sie der Ueberzeugung lebten und starben […], daß das Christenthum seinem innersten Wesen nach eine Kraft Gottes sei[,] selig zu machen Alle die daran glauben, mit einem Worte: Heil, dieses Heiles schriftgemäßer Ausdruck aber die Lehre von der Rechtfertigung. […] Will man nun diesen materialen Prüfstein Materialprincip nennen, so muß es unter der ausdrücklichen Erklärung geschehen, daß man damit kein Princip meint, aus welchem alle Glaubenslehren entwickelt werden können, sondern nur den materialen Prüfstein aller Wahrheit.177 178
Ebenso wenig komme die Heilslehre als Materialprinzip in Frage. Und in der zweiten Auflage seiner Dogmatik heißt es dann: „Und so muß denn die Lehre von der Dreieinigkeit für die Fundamentallehre der Dogmatik angesehen werden. Sie
175 Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien (1865), 42, nach Ausführungen über die Unklarheit des Begriffs (ebd., 34–42). 176 Christenthum und Lutherthum, 75. – Auch früher schon kommt unter dem Gesichtspunkt des Heils der trinitarische Glaube in den Blick: „Es kann in keiner Weise gesagt werden, daß die Rechtfertigung aus dem Glauben der Hauptartikel unsers Glaubens ist. Das kann nur, das muß der dreieinige Gott sein. Das Wahre im Protestantismus ist nur, daß Vater, Sohn und Geist ihre subjektive Einheit haben im Heilsbegriff[,] d.h. daß der Gegenstand unsers Christenglaubens Vater, Sohn und Geist nicht sind, sofern sie die drei Personen der Gottheit sind an und für sich, sondern sofern der Vater sich durch den Sohn im heiligen Geiste offenbart hat, uns in seine Heilsgemeinschaft zu erheben“ (Zeugniß von den Grundwahrheiten, 50). 177 Christenthum und Lutherthum, 75f. Vgl. ebd., 149f. – Kahnis’ Unterscheidung zwischen materialem Prinzip und materialem Prüfstein wird von A. Stählin kritisiert, wobei er freilich das systematische Intresse, das Kahnis leitet, nicht erfasst (Die Theologie des Dr. Kahnis, 277–281). 178 „Da aber Niemand behaupten kann, daß aus dem Vater der Sohn und der Geist nur um des Heiles der Menschheit willen hervorgegangen sind, so läßt sich gerade das Grunddogma nicht aus dem Heilsbegriff ableiten“ (Dogmatik2 I [1874], 246f).
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ist die Summe des christlichen Glaubens; sie ist die Hauptlehre; sie ist die Grund179 lehre, aus welcher alle andern entwickelt werden müssen.“ Kahnis strukturiert denn auch konsequent die Dogmatik nach der Trinitätslehre, indem er das „System der Lutherischen Dogmatik“ nach den drei Artikeln des Apostolikums gliedert. „Ist es wahr, daß die Summe des christlichen Glaubens der dreieinige Gott ist, so ist in dieser Dreiheit auch die Dreitheilung der Dogma180 tik in die Lehren von Vater, Sohn und Geist gegeben.“ Kahnis hat damit einen ähnlichen Weg beschritten wie Melanchthon mit seinen Loci. Gehen diese in der ersten Auflage noch von der Rechtfertigungslehre aus, während sie die trinitarischen und christologischen Entscheidungen der kirchlichen Lehrentwicklung voraussetzen, nehmen diese später die erste Stelle in der dogmatischen Darlegung ein. Zugleich gewinnt sein lutherischer Ansatz damit ökumenisches Profil. Denn er verbindet den Heilsbegriff mit dem trinitarischen Bekenntnis der einen Kirche. „Nur d a s Lutherthum hat Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welches auf dem gelegten Grund fortbaut, um das eigenthümlich Lutherische mehr und mehr 181 zum Evangelischen und wahrhaft Katholischen zu erheben.“ Er signalisiert damit ein ähnliches Bestreben, wie Luther es mit den Schmalkaldischen Artikeln verfolgte, die er im Hinblick auf ein zu erwartendes Konzil verfasste und an deren Spitze er die „hohen Artikel der gottlichen Majestät“ stellte, die „in keinem Zank 182 und Streit“ sind, weil sie alle Christentümer miteinander verbinden. Eine bestimmte konfessionelle Ausprägung kann nur insofern Ziel der Darstellung sein, als sie den „allgemeinchristlichen“ Glauben möglichst klar erfasst. Der aber lässt sich in dem Satz zusammenfassen: „Der dreieinige Gott hat seinen Sohn Jesum Christum gesandt, das Werk des Heils zu vollbringen, auf daß der heilige Geist 183 durch seine Gnadenmittel in seinem Reiche es zueigne zum ewigen Leben.“ Den theologischen Gewinn seiner Weise, die Rechtfertigungslehre zu aktualisieren, markiert Kahnis im Gegenüber zu Hengstenberg. Indem dieser „eine stu184 fenweise sich durch Werke vollendende Rechtfertigung“ lehre, verfalle er der
179 Ebd., 311. Der Rechtfertigungslehre komme eine „praktische Bedeutung“ als kritisches Korrektiv zu (ebd., 245): „Da der Mittelpunkt des Christenthums die Heilsgemeinschaft des einzelnen Menschen mit Gott ist, diese Heilsgemeinschaft aber ihren Schwerpunkt in der Rechtfertigung hat, so bildet die Lehre von der Rechtfertigung einen Prüfstein für die Wahrheit der Glaubenslehren“ (ebd., 311). Auch die Heilslehre bilde zwar „einen materialen Maßstab für alle andern Lehren“ (ebd., 247), stelle aber nicht das Materialprinzip dar: „Da aber Niemand behaupten kann, daß aus dem Vater der Sohn und der Geist nur um des Heiles der Menschheit willen hervorgegangen sind, so läßt sich gerade das Grunddogma nicht aus dem Heilsbegriff ableiten“ (ebd., 246f). – Vgl. auch: Der innere Gang II (31874), 275. 180 Dogmatik III (1868), 113; vgl. Dogmatik2 I (1874), 311. 181 Dogmatik III, 12. 182 ASm I; BSLK, 414,10f; 415,1. 183 Der innere Gang II (31874), 275f. 184 Ebd., 277.
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katholischen Option. Die Aufnahme der Dimension des geschichtlichen Werdens führe so zum Verrat an der Reformation, während sein eigener Versuch das strikte reformatorische „allein“ wahre. Während man die Vernunft absolut und zeitlos verstanden hatte, unberührt von den geschichtlichen Zufälligkeiten, erfahren jetzt die Zeit, das Prozessuale und das Kommunikationsgeschehen eine Würdigung. Und Kahnis meint dies in einer Weise leisten zu können, die die Stetigkeit der Wahrheit, des bleibend Gültigen, nicht infrage stellt. Kahnis’ theologischer Ansatz berührt sich eng mit dem anderer lutherischer Theologen seiner Zeit. Das zeigt sich besonders in der sie verbindenden Grunddefinition des christlichen Glaubens als Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen in Christus. 3.4.2 Adolph Harleß Mit seiner Definition: „Religion ist die Wechselbeziehung zwischen einem höhern Wesen und dem Menschen; Religiosität die Wirklichkeit und Verwirklichung dieser Beziehung in dem Menschen und die aus ihr hervorgehende Stimmung oder 186 Gesinnung des ganzen menschlichen Wesens,“ spricht Adolph Harleß eine Grundüberzeugung aus, die eine große Nähe zu Kahnis vermuten lässt, zumal sie zu der Definition der christlichen Religion als „die Wiederherstellung der ursprünglichen Gemeinschaft zwischen dem einzig wahren Gott und den Menschen 187 durch Christus und seine Erscheinung in der Welt“ führt. Tatsächlich aber verzichtet Harleß darauf, menschliche Religiosität als einen theologischen Faktor zu werten. „Das einzig normale Zeugniß über das Wesen dieser Thatsache an sich, wie über ihre Beziehung zu andern Offenbarungen Gottes enthält die Schrift des 188 neuen und des, durch den neuen erfüllten, alten Bundes.“ Eine Anknüpfung findet sich bei Harleß nicht; er spricht in der besagten Definition denn auch nicht von „Glauben“, den er genauer analysieren würde, sondern von „Religiosität“, der 189 er nur geringes Interesse widmet . Signifikant ist jedoch die Bestimmung des Christentums als Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch in Christus.
185 „Während wir Lutheraner also in diesem Punkte [sc. der Rechtfertigungslehre] uns mit den Reformirten wohl verständigen könnten, sind wir in der seltsamen Lage, scharf protestiren zu müssen gegen die Theologen, welche uns mit ihnen vereinigen wollen, weil ihre Rechtfertigungslehre nicht für eine Union mit der reformirten, sondern mit der römischen Kirche brauchbar ist“ (Die Sache der lutherischen Kirche, 49f). 186 Harleß: Theologische Encyklopädie und Methodologie vom Standpunkte der protestantischen Kirche (1837), 23 (§ 2). 187 Ebd., 23f (§ 3). 188 Ebd., 24 (§ 3). 189 Vgl. ebd., 53 (§ 35).
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3.4.3 Friedrich Adolph Philippi 190
Friedrich Adolph Philippi (1805–1882) beginnt seine Dogmatik mit dem Satz: „Es läßt sich als einen der neueren Theologie, soweit sie noch den Namen der christlichen verdient, in ihren verschiedenen Formen und Richtungen so ziemlich gemeinsamen Satz bezeichnen, daß das Christenthum, die christliche Religion, zu definiren sei als die durch Christum vermittelte, näher die durch Christum wie191 derhergestellte Gemeinschaft des Menschen mit Gott.“ Als die „wahre Religion“ 192 spiegelt das Christentum darin die Eigenart von „Religion schlechthin“; er leitet 193 diese These aber nicht aus der Vorfindlichkeit des religiösen Menschen ab. Aus dem ersten Satz, der eine gemeinsame Überzeugung ausdrücken soll, entwickelt er 194 dann die Gliederung seiner eigenen Dogmatik. Kahnis beruft sich in seiner Reaktion auf Angriffe, denen er ausgesetzt ist, auf seine Übereinstimmung mit Philippi, die aus diesem Ansatz auf zwei bestimmte 195 Punkte hinführen. Erstens, dass der Offenbarungsinhalt nicht absolut zu fassen ist, sondern nur so, wie er „im gläubigen Menschengeist sich wiederspiegelt (sic),“ so dass gilt: „Die Quelle, aus der die Dogmatik zu schöpfen hat, ist also die durch 196 die Offenbarung erleuchtete Vernunft des dogmatisirenden Subjectes.“ Und zweitens hat dies zur Folge, dass eine kritische Haltung auch gegenüber der Schrift als der Offenbarungsurkunde einzunehmen ist. Wenn auch „das richtige Ziel der Evangelienforschung immer das apologetische, nicht das negativ kritische sein“ wird, so wird doch eingeräumt: „Dabei hat man sich nicht von vorneherein gegen die Anerkennung der Möglichkeit zu sträuben, daß manche untergeordnete 197 Differenzen wirklich vorhanden seien, und darum ungelöst zurückbleiben.“ Kahnis fragt: „Wenn man einmal die Thüre so weit aufläßt, daß untergeordnete
190 Friedrich Adolph Philippi (15. Oktober 1805 in Berlin – 29. August 1882 in Rostock), jüdischer Herkunft, trat 1829 als Student in Leipzig zum Christentum über, 1837 Privatdozent für Theologie in Berlin, 1842 Professor für Dogmatik und theologische Moral in Dorpat, 1852 für Neues Testament in Rostock, 1874 Konsistorialrat. 191 Philippi: Kirchliche Glaubenslehre I (1854), 1. Diese Dogmatik erlebte drei, jeweils veränderte Auflagen. 192 Ebd., 2. 193 „Denn das Wesen der Religion läßt sich nicht wie sonst ein abstracter Gattungsbegriff durch Aufsuchung des allen Religionen Gemeinsamen finden, sondern es besteht in dem allen Religionen mit dem Christenthume Gemeinsamen, weil es nur im Christenthume wahrhaftig und wirklich vorhanden ist“ (ebd., 2f). 194 Ebd., 71: 1. die ursprüngliche Gottesgemeinschaft, 2. ihre Störung, 3. ihre objektive Wiederherstellung durch Christus, 4. ihre subjektive Verwirklichung, 6. ihre zukünftige Vollendung. 195 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 91f. 196 Philippi: Kirchliche Glaubenslehre I, 86. Philippi selbst beruft sich dabei auf Harleß (Theologische Encyklopädie, 38f). – Vgl. die Erweiterung des Ausgangssatzes: „Die christliche Religion ist die objectiver Seits durch göttliche Erlösungsoffenbarung in Christo, subjectiver Seits durch gottgewirkten Herzensglauben des Menschen vermittelte Wiederherstellung der wechselseitigen Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen“ (Philippi: Kirchliche Glaubenslehre I, 69). 197 Ebd., 208.
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Differenzen eingehen, können da nicht auch größere einschlüpfen?“ Das Ergebnis einer kritischen Untersuchung lässt sich nicht im Vorhinein begrenzen. 3.4.4 Johann Christian Konrad Hofmann „Das Christenthum, auf seinen einfachsten Ausdruck gebracht, ist die in Jesu Christo vermittelte und zwar gegenwärtig vermittelte persönliche Gemeinschaft zwischen Gott und der sündigen Menschheit“, formuliert auch Johann Christian 199 Hofmann , ohne freilich auf eine vorgegebene anthropologische Disposition einzugehen. Diese Gemeinschaft ist damit der Gegenstand, mit dem der Theologe 200 sich zu beschäftigen hat. Und diesen Tatbestand findet er in drei Erscheinungsweisen, die in Einklang miteinander stehen. „Das Christenthum hat ein dreifaches von der wissenschaftlichen Tätigkeit des Theologen unabhängiges Dasein, in dem unmittelbar gewissen Thatbestande der Wiedergeburt des Christen, in der Geschichte und dem Bestande der Kirche und in der heiligen Schrift. Hierin hat dasselbe ein eben so vielfaches, das dreifach einige Zeugniß des heiligen Geistes für sich, dessen Einklang mit der wissenschaftlichen Aussage des Theologen erst 201 der volle Beweis für die Richtigkeit der letztern ist.“ Hofmann setzt systematisch also ebenso wie Kahnis beim heiligen Geist, dem dritten Artikel, ein und vergleicht die Felder des Persönlichen, der Schrift und der Kirche, in denen der göttliche Geist sich artikuliert. Diese drei Größen werden freilich im Einzelnen unterschiedlich bestimmt. Hofmann verbindet den geschichtlichen Aspekt speziell mit der Kirche, während er die heilige Schrift als „maßgebend für diese Selbstbethätigung der Kirche“ definiert und das Zeugnis des heiligen Geistes in sich als rein innerlich-geistliche Größe beschreibt: „Ich besitze es in dem thatsächlichen Verhältnisse zu Gott, welches mich zum Theologen, wie zum 202 Christen macht.“ Kahnis dagegen betrachtet auch die Schrift und sich selbst konsequent unter geschichtlicher Perspektive. 3.4.5 Franz Delitzsch Franz Delitzsch bezeichnet in seinem „System der christlichen Apologetik“ (1869) das Christentum als „Inbegriff von Thatsachen, welche zusammen das durch Christum hergestellte neue Gemeinschaftsverhältniß zwischen Gott und Men198 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 92. 199 Hofmann: Encyclopädie der Theologie (1879), 51. Bedeutsam ist die zusätzliche Erläuterung: „Die Entfaltung des Inhalts dieses Satzes ist etwas anderes als Schleiermacher’s Beschreibung des frommen Selbstbewußtseins, nemlich nicht ein Sosein des Christen kommt zur Aussage, sondern immer der Thatbestand, welcher objectiv bestehend in mir sich verwirklicht hat“ (ebd., 51). Vgl. Der Schriftbeweis I (21857), 7f. 200 Hofmann: Der Schriftbeweis, I (21857), 8. 201 Ebd., 23f. 202 Ebd., 24.
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schen constituiren.“ Diese Heilstatsachen haben Voraussetzungen, die nicht „spezifisch christlich“ sind, die vielmehr „durch das Christenthum mittelbar be204 kräftigt worden“. „Indem das Christenthum sich mit diesen religiösen Grundideen zusammenschließt, legitimirt sich das spezifisch Christliche zugleich als das 205 wahrhaft Menschliche in heilsgeschichtlicher Erfüllung.“ Die erste dieser Voraussetzungen „zerlegt sich in die drei Sätze, daß Gott persönlich, daß der Mensch 206 persönlich, daß das Verhältniß beider zu einander ein persönliches ist“. Weitere Voraussetzungen sind die Geschaffenheit und Endlichkeit der Welt, die Sünde als Schuld mit Todesfolge. Die Lösung des darin liegenden Problems bietet eine weitere Voraussetzung, nämlich die Versöhnung. Das Spezielle des Christentums in dieser Hinsicht ist die „Bezeugung eines von Christo thatsächlich vollzogenen Werkes und eines in der Person Christi selbst vorhandenen wirkungskräftigen Thatbestandes, durch welche die Gemeinschaft Gottes und der Menschheit ein für allemal grundleglich und principiell wiederhergestellt ist, so daß es für den Einzelnen nur der Aneignung des von Christo für alle Erwirkten und der Nacherle207 bung des in ihm principiell Angehobenen bedarf“. „Die Aneignung der durch die Versöhnung erworbenen Macht eines neuen Anfangs ist der Glaube; das Werk neuer Schöpfung, welches vollzogen wird an denen, die da glauben, ist die Wiedergeburt; die Gemeinschaft derer, welche des neuen Lebens der Wiedergeburt theilhaft und dadurch zu Erstlingen einer neuen Menschheit geworden sind, ist die Kirche. Deshalb gilt uns die Kirche als das fünfte Moment der Idee des Christenthums, welches sich in nothwendiger Folge an das vierte, das Moment der 208 Versöhnung, anschließt.“ Die Lebensgemeinschaft zwischen Gott und Mensch, die sich in Christus vollkommen und bleibend verwirklicht, ist also bei Delitzsch 209 wie bei Kahnis der Fokus des theologischen Denkens. Die von Kahnis so stark betonte geschichtliche Dimension ist bei Delitzsch in der Weise berücksichtigt, dass er allgemeinen religionsgeschichtlichen Fakten „die geschichtliche Wirklichkeit des werdenden Christenthums“ nach dem Zeugnis der 210 heiligen Schrift an die Seite stellt, und zwar periodisiert von der Schaffung des Menschen bis zur Entstehung Israels, von der Gesetzgebung bis zur Erscheinung Christi und als vom Neuen Testament bezeugter Verwirklichung in Jesus Christus. Danach kommt „die geschichtliche Wirklichkeit des gewordenen Christenthums“, 203 Delitzsch: System der christlichen Apologetik (1869), 12. 204 Ebd.,12. 205 Ebd., 61. 206 Ebd., 46. 207 Ebd., 154. 208 Ebd., 186. 209 Delitzsch erklärt ausdrücklich seine Zustimmung zur Definition der Apologetik, wie sie Kahnis in seiner Dogmatik vorgenommen hat (Dogmatik I [1861], § 11), zu, nur mit der Modifikation, dass er die Apologetik nicht in der fundamentalen, sondern in praktischen Theologie ansiedelt (Delitzsch: System, 32). 210 Ebd., 291.
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also die Kirche in ihrer Geschichte, unter dem Gesichtspunkt der „Bewährung“ in 211 den Blick. Geschichte stellt sich demnach als Verwirklichung einer Idee dar. Es gilt nachzuweisen, „daß die Idee des Christenthums in dieser [sc. geschichtlichen Gestalt der Kirche] zu fortwährender Verwirklichung kommt, obwohl Wesen und 212 Erscheinung sich nicht decken“. In seiner Grundüberzeugung berührt sich Delitzsch eng mit Kahnis. Ein deutlicher Unterschied zu Kahnis aber liegt darin, dass nach Delitzsch der Christenheit aufgegeben ist, sich zu bewähren, also festzuhalten, was ihr gegeben ist, während Kahnis daneben auch mit einem Wachsen und Fortschreiten rechnet, das gewordene Christentum weiter im Werden sieht, die Diskrepanz zwischen Wesen und Erscheinung also größer ansetzt und zugleich einen Fortschritt bei der Überwindung dieser Diskrepanz annimmt.
3.5 Wege der Durchführung des Ansatzes In der geschichtlichen Darstellung schreitet Kahnis den Weg durch die Zeiten in zwei Richtungen ab. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten setzt er ganz am Anfang ein und verfolgt die Entwicklung bis zur Gegenwart. In seinen allgemein verständlichen Schilderungen versucht er vorzugsweise die Gegenwart aus ihrer näheren Vergangenheit heraus verständlich zu machen und dehnt diese Vorgeschichte zunehmend weiter in die Vergangenheit zurück aus. Beide Perspektiven entsprechen sich darin, dass der eigene geschichtliche Ort des Betrachters – einmal als Fluchtpunkt und einmal als Ausgangspunkt – der Fokus ist, auf den alles ausgerichtet ist. Es geht Kahnis also darum, die Koordinaten seiner eigenen christlichen Existenz zu bestimmen. Dabei zeigt sich wiederholt, dass er die geschichtliche Vermessung zu weiträumig anlegt, als dass er sie vollständig durchführen könnte. Schon seine „Lehre vom heiligen Geiste“ (1847) ist so angelegt, dass auf die Grundlegung ein Abschreiten der geschichtlichen Entwicklung vom Alten über das Neue Testament zur Kirchengeschichte erfolgt; ihre Behandlung bricht allerdings nach der Beschäftigung mit der Alten Kirche ab, da der angekündigte zweite Band nicht erscheint. In seiner „Lehre vom Abendmahle“ (1851) geht Kahnis den Weg vom letzten Mahl Christi über die neutestamentlichen Zeugen und über die Entwicklung der kirchlichen Abendmahlslehre bis zur Gegenwart und lässt 213 ihn in einen dogmatischen Abschluss einmüden. 211 „Wie das Christenthum seine Begründung in der heiligen Trinität bewährt als Glaube und Bekenntniß des Sohnes Gottes“ (ebd., 459). „Wie das Christenthum seine sittliche Natur bewährt als Bethätigung persönlicher Verantwortlichkeit des Menschen gegen Gott (ebd., 473). „Wie das Christenthum seine Heilsnatur bewährt als Gemeinschaft der Sündenvergebung“ (ebd., 491). 212 Ebd., 518. 213 Die Lektüre dieser Abhandlung versteht Kahnis auch wieder als Bewegung. In Anspielung auf ein Erlebnis auf der Rückreise von seinem Sommerurlaub auf Norderney schreibt Kahnis bei Über-
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Die „historisch-genetische“ Darstellung der „Lutherischen Dogmatik“ greift mehrfach zurück. Zunächst behandelt sie die Geschichte der lutherischen Dogmatik von ihren Anfängen bei Melanchthons Loci an. Dann greift sie noch einmal viel weiter zurück und nimmt die Rolle des Religiösen in der Geschichte als ganzer in den Blick. Die geschichtliche Betrachtung des Wortes Gottes geht dann von Gott und der Schöpfung aus und mündet in eine Reflexion über Wesen und Wahrheit des Christentums; sie bietet damit eine Theologie des Alten und Neuen Testaments in einem systematischen Raster. Daran schließt sich im „Kirchenglauben“ eine Darstellung der Lehrentwicklung im Laufe der Kirchengeschichte an, die bis zur Reformation und zur lutherischen Lehrbildung führt und mit der Bestimmung der Prinzipien des Protestantismus endet. In seinem „System der Lutherischen Dogmatik“ entfaltet Kahnis dann die einzelnen dogmatischen Themen noch einmal in inhaltlicher Gliederung in ihrem Zusammenhang. Diese Vorgehensweise bringt naturgemäß mancherlei Wiederholungen mit sich. In der zweiten Auflage strafft Kahnis in der Weise, dass er den Stoff des ersten Bandes, der noch mit keinem eigenen Separattitel versehen war, in die Prolegomena stellt und dann die dogmengeschichtliche und die systematische Behandlung der Kirchenlehre ineinander arbeitet, so dass sich das ursprünglich dreibändige Werk auf zwei Bände komprimieren lässt. Eine andere Richtung verfolgt Kahnis in einem Teil seiner Darstellungen für ein breiteres Publikum. Nachdem er nach Übernahme der Redaktion des „Sächsischen Kirchen- und Schulblattes“ durch „eine übersichtliche Darstellung des Ent214 wickelungsganges“ das „Verständniß der kirchlichen Gegenwart“ in einer Artikelfolge zu vermitteln gesucht hatte, die allein das unmittelbar zurückliegende 215 Jahrhundert behandelt, gibt er diese Darstellung in fortschreitend überarbeiteter Form 1854 in erster und 1860 in zweiter Auflage als eigene Veröffentlichung heraus: „Der innere Gang des deutschen Protestantismus seit Mitte des vorigen Jahr216 hunderts“. Hier rekapituliert er den Weg der neueren kirchlichen Entwicklung sendung des Buches an Hengstenberg: „Mag Ihre Fahrt durch mein Buch Ihnen nicht die litterarische Seekrankheit zuziehen. An der kirchlichen leiden wir Alle, bis wir im Hafen sein werden. Lieb wird es mir sein, wenn Sie gelegentlich über dieß oder jenes in demselben Ihr Urtheil sagten. Ich kann nicht anders glauben, als daß Sie mit den Resultaten der Hauptsache nach einverstanden sind“ (Brief vom 28. Oktober 1851, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 18). 214 Der innere Gang (1854), III. 215 Die Aufklärung (erster Artikel), SKSB 3 (1853), 217–224.225–230.233–237; Die Aufklärung (zweiter Artikel, ebd., 291–297.299–304; Die Theologie der Aufklärung (erster Artikel), ebd., 371– 376.379–383.387–391; Die Theologie der Aufklärung (zweiter Artikel), ebd., 4 (1854), 73–76.81– 86.89–95.97–103.105–110.113–120; Die Erneuerung, ebd., 253–258.261–266.269–273.277–284; Die erneuerte Theologie, ebd., 337–342.247–356.357–363; Die kirchliche Theologie, ebd., 505– 509.513–517. 216 Die Veränderungen der ersten Auflage gegenüber der Artikelreihe betreffen vor allem einen neuen Abschnitt in dem Kapitel „Die sich erneuernde Kirche“ (1211–249), während sonst der Gang der Darstellung eingehalten wird, wenn auch neben kleineren Abweichungen zumal am Anfang viele Passagen neu formuliert sind und der Umfang erweitert ist. Die Veränderungen der zweiten gegenüber der ersten Auflage betreffen vor allem den letzten Abschnitt über „die konfes-
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zum kirchlichen Denken und zur Wertschätzung des kirchlichen Bekenntnisses hin, wie er auch selbst ihn gegangen ist. „Die Meisten [sc. der Theologen der konfessionellen Richtung] sind nach mancherlei Irrwegen des Strebens von dem positiven Zuge, der, wie die Vermittlungstheologie selbst beweist, nun einmal durch die Kirche der Gegenwart geht, zum Bekenntnisse der Väter zurückgeführt wor217 den.“ Und: „Der Zug zur Kirche hat, wie wir nachzuweisen gesucht, alle Zeichen 218 der Zeit für sich.“ Mit der dritten Auflage von 1874 erweitert er den Zeitraum zurück bis zur Reformation: „Der innere Gang des deutschen Protestantismus“ – ohne zeitliche Einschränkung jetzt; freilich behält er die thematische Konzentration auf den deutschen Protestantismus bei, wobei er deutsch im Sinne von lutherisch versteht und damit einen völkischen Aspekt in die Betrachtung des Konfessionellen einbezieht. Seine wissenschaftliche Untersuchung über „Die deutsche Reformation“ (1872) charakterisiert er selbst als ersten Versuch zu solch einer Erweiterung; allerdings „nahm die Darstellung der Reformationszeit eine Ausdehnung an, die mich 219 nöthigte, ihr die Gestalt einer selbständigen Schrift zu geben“ , die – auf drei 220 Bände geplant – dann jedoch ein Torso bleibt, da nur ihr erster Band erscheint, dessen Darstellung bis zur Verbrennung der Bannbulle zusammen mit anderen Schriften am 10. Dezember 1520 reicht. Umfassender hat Kahnis zuvor die Reformationsgeschichte bereits in seinen Universitätsprogrammen zum 300jährigen Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens (1555) in Erinnerung gerufen, in deren ersten Teil er den Geschichtsverlauf von der vorreformatorischen Zeit an verfolgt, um dann im zweiten eine Schilderung der Verhandlungen und eine Diskus221 sion des Ergebnisses zu bieten. Als „solche für weitere Kreise bestimmte Schrift“ lässt er 1881 auch seinen „Gang der Kirche in Lebensbildern“ erscheinen. Hier stellt er die Kirchengeschichte als „die Siegesgeschichte der Kirche“ jedoch umgekehrt von den Anfängen ausgehend bis an die Schwelle der eigenen Zeit dar mit dem Ziel, „die Ueberzeugung zu beleben, daß über allem Wandel der Zeiten das ewige Evangelium 222 steht, dessen Licht aus allen Verdunkelungen siegreich hervorbricht“. Dieses Vorgehen hat er zuvor bereits in seiner Vortragsreihe über den „Gang der Kirchengeschichte“ (1865) gewählt und nacheinander die drei Epochen der altkatholischen, mittelalterlichen und neueren Kirche behandelt, wie dies dann auch in sionelle Theologie“: 1249–253 ist ersetzt durch 2234–241; ausgelassen ist der letzte Absatz 1262; 1 253–262 findet sich zuweilen erweiternd oder auch kürzend in 2241–249; neu ist 2249–279. 217 Der innere Gang (1854), 251. 218 Ebd., 251. 219 Die deutsche Reformation, III. 220 Brief an Tholuck vom 21. Juli 1872, FStH Briefwechsel Tholuck B III, 4222. Bei Abfassung des Briefes war bereits die Hälfte des ersten Bandes gedruckt. 221 Vindiciae Pacis Religionis Augustanae, particula prima, Leipzig 1855; particula altera (1856). 222 Der Gang der Kirche in Lebensbildern, VI.
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seinem späteren Werk geschieht. In diesen Arbeiten fehlt allerdings der grundlegende Zeitraum der biblischen Offenbarung. Grundsätzlich anders angelegt ist seine Programmschrift „Christenthum und Lutherthum“ (1871). Hier findet sich ein systematischer Zugang, der phänomenologisch einzelne Ausprägungen des Christentums in konzentrischen Kreisen darstellt, von außen nach innen gehend, nicht aber der historischen Entwicklung folgend.
4. Konfessionelle Positionierung 4.1 Kahnis und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen 4.1.1 Annäherung an die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen Bei Kahnis bildet sich in der Zeit seiner akademischen Bildung mehr und mehr ein konfessionell-lutherisches Bewusstsein heraus. Besonders seine Freundschaft 1 mit Wilhelm Friedrich Besser fördert seinen Weg in diese Richtung. Besser selbst war auf Empfehlung Hengstenbergs 1839 als Hauslehrer und Prädikant beim Major von Schenckendorff nach Wulkow bei Neuruppin gekommen. Dort im 2 Haus macht er die Bekanntschaft von Friedrich Lasius (1806–1884) , der als Pastor der verfolgten Lutheraner auf der Flucht Anfang des Jahres für acht Wochen 3 hier Unterkunft findet . Besser wird 25. am Oktober 1841 ordiniert und dabei ausdrücklich auf die Augsburger Konfession verpflichtet, nachdem er den Unions4 revers mit einer Verwahrung unterschrieben hat. Er tritt seine Pfarrstelle in Wulkow an. In engem Austausch mit anderen bemüht er sich nun, seine konfessionelle Haltung immer weiter zu klären. Entscheidend wird der Eindruck, den ihm die 5 Berliner Generalsynode von 1846 über den Zustand der preußischen Union gibt. Seine Anträge an das Konsistorium hinsichtlich einer Sicherung seiner lutherischen Amtsausübung führen dazu, dass er am 17. Dezember 1847 seines Amtes 6 enthoben wird. Auf Anraten Delitzsch’s, damals Professor in Rostock, schließt er 7 sich den Altlutheranern an. Besser reist nach Breslau und findet, wie er selbst schreibt, „Herberge bei meinem geliebten Kahnis, der samt seiner teuren Frau durch brieflichen Zuspruch mich reichlich erquickt hatte in den letztdurchlebten Leidens- und Kampfeswo1 2
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Vgl. Besser: Predigten und Predigtauszüge, mit einem Lebensabriß (1885), 1–30. Friedrich Lasius (14. Oktober 1806 in Heisede bei Hildesheim – 28. Juni 1884 in Berlin), 1825– 1827 Studium in Halle, danach bis 1829 in Berlin, 1832 Pfarrer in Prittisch, 1834 abgesetzt, am 19. 12. 1834 im Gefängnis Übertritt in die lutherische Kirche, Verbannung nach Posen, vielerorts Tätigkeit auf der Fluch vor der Polizei, 1838 Pastor in Berlin, 1841 Kirchenrat und Superintendent. Kirchenrat Dr. D. W. Besser: Wie ich zur lutherischen Kirche heimgekehrt bin (1870), 13–15; Festbüchlein zur Erinnerung an das Doppel-Jubiläum, gefeiert in der lutherischen Gemeinde Berlin am 11. Oktober 1882 (21906), 20–22.31f. Besser: Kirche, 18f. Zu dieser Generalsynode vom 2. Juni bis 6. August 1846 in Berlin vgl. Nachtigall: Die Auseinandersetzungen um die Kirchenunion in Preußen von 1845 bis 1853 und die Kabinettsorder von 1852 (2005), 39–44. Besser: Kirche, 28f. Vgl. zum Weg dahin und die Trieglaffer, Neustadt-Eberswalder und Berliner Konferenzen, ebd., 19–28. Ebd., 31f.
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chen“; Kahnis bringt Besser zu Eduard Huschke (1801–1886) , den Präsidenten 9 des lutherischen Oberkirchenkollegiums. Am 21. Dezember stellt Besser sich dem Kolloquium zur Aufnahme in die „Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen“, d.h. in den Kreis der sich von der evangelischen Landeskirche getrennt haltenden 10 Lutheraner, vor den Kirchenräten Heinrich Wedemann (1808–1851) und Ludwig 11 12 Ehlers (1805–1877) . Am 8. Januar 1848 schreibt er an Hengstenberg, um seiner 13 weiteren Verbundenheit mit ihm, der in der Union bleibt, Ausdruck zu geben. Der Schritt, den Besser vollzieht, ist Teil einer Bewegung, die den preußischen Lutheranern acht Pastoren, zwei Kandidaten und etwa viertausend Gemeindeglie14 15 der zuführt. Auch Professor Heinrich Ernst Ferdinand Guericke (1803–1878) in 8
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Georg Philipp Eduard Huschke (26. Juni 1801 in Hannoversch-Münden – 7. Februar 1886 in Breslau), 1824 Professor der Rechte in Rostock, seit 1827 für römisches Recht in Breslau, 1828 philosophischer Ehrendoktor (Breslau), 1831/32 und 1845/6 Rektor, seit 1841 Präsident des Oberkirchenkollegium der Ev.-Luth. Kirche in Preußen, 1847 Geheimer Justizrat, 1850 theol. Ehrendoktor (Erlangen). – Vgl. Schöne: Kirche und Kirchenregiment im Wirken und Denken Georg Philipp Eduard Huschkes. Besser: Kirche, 32. Johann Heinrich Kaspar Wedemann (18. Oktober 1808 in Rockhausen/SchwarzburgSondershausen – 22. Juni 1851 in Breslau), Studium in Jena und Halle, Judenmissionar, 1835 Anschluss an die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen, Ausscheiden aus der Mission durch königliche Anordnung vom 13. August 1836, Gemeinde in Breslau wählt ihn zum Pastor, Ordination am 18. Mai 1837, unter polizeilicher Verfolgung, nach der Duldung der Lutheraner 1841 Kirchenrat und 1848 zugleich Superintendent. Ludwig Otto Ehlers (5. September 1805 in Sittensen – 3. August 1877 in Liegnitz), Judenmissionar zunächst in Preußen, dann in Polen, 1841 Pastor der lutherischen Gemeinde in Berlin, 1845 in Liegnitz, zugleich Kirchenrat und Superintendent. Besser: Kirche, 32f. „Dies möchte ich Ihnen bezeugen, daß zu dem letzten entscheidenden Schritt nicht VerstandesOperationen mich würden hingekriegt haben; er hängt vielmehr innigst zusammen mit meinem innersten Leben vor und in dem Herrn und seinem lebendigen Worte. Ich bin in die lutherische Kirche in der That vornämlich deßhalb eingetreten, um in ihr selig zu sterben. Mit einem Bann im Herzen hätte ich nicht gern sterben mögen und – es ist die letzte Stunde, alle Tage. Was dieser Brief aber eigentlich soll? – er soll Ihnen die Versicherung ausdrücken, daß meine Union mit Ihnen, meinem theuersten Lehrer und so langbewährten Freunde, unerschütterlich feststeht. Ja, ich muß Ihnen bekennen, daß eben, was ich durch Sie aus Gottes Wort und über Gottes Wort etwa gelernt habe und noch lerne, daß die tiefsten Wurzeln Ihrer vom Wort, vom Gesetz und Zeugniß gesäugten Theologie die Frucht getragen haben, welche Sie freilich auf anderm Baume erwachsen ansehen – und mir ein fortwährender Schmerz ist“ (zitiert bei Schmalenbach: Ernst Wilhelm Hengstenberg III [1892], 187f). Neueste Vergrößerung unsrer Kirche im Vaterlande, Kirchenblatt für die Gemeinden evangelisch-lutherischen Bekenntnisses in den Preuszischen Staaten (1848), 51–58. – Vgl. Klän: Die altlutherische Kirchenbildung in Preußen, in: Das deutsche Luthertum und die Unionsproblematik, 166–169. Heinrich Ernst Ferdinand Guericke (25. Februar 1803 in Wettin – 1. Februar 1878 in Halle),1825 in Halle habilitiert, seit 1829 dort ao. Professor, 1833 Ehrendoktor, von Scheibel am 19. November 1834 zum Pastor einer kleinen lutherischen Gemeinde in Halle und weit darüber hinaus ordiniert, also noch vor der kirchlichen Institutionalisierung der Lutheraner außerhalb der Union; zuvor schon am 5. November 1834 aus dem Staatsdienst entlassen (Übergabe der Entlassungsurkunde am 22. Januar 1835), nach dem Regierungswechsel jedoch 1840 wieder in seine Professur
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Halle tritt nach langjährigen Auseinandersetzungen, die er mit dem Ministerium geführt hat, zu diesem Zeitpunkt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen 16 bei. Schon bald nach seinem Eintreffen in Breslau kündigt Huschke, der auf Kahnis sofort großen Eindruck macht, diesem an, hier sei er unausweichlich vor eine Entscheidung gestellt, obwohl er sich damals noch nicht zu positionieren vermag. In einem Brief an Hengstenberg vom 2. Juli 1844 berichtet er: „Am meisten hat mir Huschke gefallen. Hätten wir doch einen solchen Charakter wieder in der Fakultät! Er bohrte an. Ich müsse mich hier entscheiden – die Consequenz liege, wie alle eingestünden, in der Lutheranischen Richtung – Hahn habe wenig gewirkt, weil er nicht entschieden gewesen sey in diesem Punkt. Ich bemerkte ihm, daß ich nicht für die faktische Einführung der Union, aber auch nicht für die Lu17 theraner sey.“ Kahnis befördert die lutherische Richtung denn auch vorerst noch innerhalb der Fakultät und der unierten Landeskirche. Dabei ergreift er im Streit um die Bekenntnisverpflichtung bei der Ordination Partei für den Generalsuperintendenten August Hahn. Dieser hält die Union noch für unentwickelt, indem sie sich nur auf Kultus und Verfassung stützt, hofft aber darauf, dass sie nun auch eine Be18 kenntnisgrundlage in der Augsburger Konfession erhält. Kahnis dagegen vertritt eine weiter gehende Position, nämlich die, „daß man innerhalb der Union Alles thun wolle, die Union rückgängig zu machen“; und dies bedeutet für ihn, dass man die Kirche statt auf die einende Organisation auf die Augsburger Konfession 19 als das einigende Bekenntnis gründet.
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eingesetzt (Mitteilung vom 23. Dezember 1839), allerdings blieb es bei einer außerordentlichen. Vgl. Cochlovius: Bekenntnis und Einheit der Kirche, 64–67; Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union I, 237–239 (Wolfgang Nixdorf); Engelbrecht: Heinrich Ernst Ferdinand Guericke. Vgl. seine Erklärung auf der Leipziger Konferenz 1848: „Prof. Guerike theilt das Factum mit, daß in einem Bescheid an Prof. Guerike vom preuß. Hrn. Cultusminister die lutherische Lehre als der der preuß. evang. Landeskirche widersprechend erklärt worden sey, und bemerkt in weiterer Folge, daß er unter den nun obwaltenden Umständen in die luth. Kirche Preußens eingetreten sey“ (Protocoll über die Verhandlungen der am 30. und 31. August 1848 zu Leipzig gehaltenen Conferenz, 7). Guericke sah sich freilich schon 1852 „zum erneuten Ausscheiden“ gedrungen (Engelbrecht: Guericke, 31). SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 5. Dr. A. Hahn, das Bekenntniß der Evangelischen Kirche und die ordinatorische Verpflichtung ihrer Diener. Leipzig 1847, EKZ 1847, 529–531.537–542. Verfasser dieser Buchanzeige, die ohne Namensnennung erscheint, ist Kahnis, wie sich aus seinem Brief vom 19. Juni 1847 an Hengstenberg ergibt (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 11) und sich durch Hinweise im Text bestätigt (Einsender ist kirchlich eingestellter Universitätslehrer). Kahnis stellt das Buch vor dem Hintergrund der kirchlichen Ereignisse in Schlesien dar. „Fest steht mir die Überzeugung, daß eine Sonderkirche, daß eine Landeskirche nur dann eine Kirche ist, wenn das Bekenntniß in ihr die Alles beherrschende Lebensmacht ist. Der Augsburgschen Confession halte ich für das Bekenntniß der Wahrheit und jede Ansicht in mir, die mit diesem Bekenntnisse nicht stimmt, halte ich für die Privatmeinung, die man einem sich noch entwickelnden jüngeren Theologen zu Gute halten mag. Daß aber die Union die Kirche des Bekennt-
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Er beteiligt sich auch am organisatorischen Zusammenschluss der Lutheraner innerhalb der Union zu Vereinen. Am 14. und 15. Juni 1848 nimmt er an der von etwa 200 Teilnehmern besuchten Versammlung in Gnadenberg, einer herrnhuti20 schen Siedlung bei Bunzlau, teil, die eine Adresse an den Staatsminister richtet, um eine Rechtswahrung des evangelisch-lutherischen Bekenntnisses bei der 21 Durchführung der geplanten Landessynode zu erreichen, und auf der sich der 22 schlesische evangelisch-lutherische Provinzialverein bildet. Den Vorsitz über23 nimmt Professor Gustav Friedrich Öhler (1812–1872) ; Kahnis wird mit in den
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nisses neutralisirt, das ganz Sekundäre, den landeskirchlichen Organismus zum Wesenspunkt gemacht hat, das scheint mir ein Faktum zu sein. Ich habe daher auf der letzten Breslauer Synode […] die Position geltend zu machen gesucht, daß man innerhalb der Union Alles thun wolle, die Union rückgängig zu machen. Dieß ist – glaube ich – auch Hahn’s Stellung. Nur ist er natürlich durch seine Stellung als Generalsuperintendent sehr gebunden (wohl auch durch seinen Charakter), mit energischen Bekenntnissen hervorzutreten“ (Brief vom 13. Februar 1848, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 14). Vgl. Kahnis’ eigenen Bericht: Die Gnadenberger Conferenz, EKZ 42 (1848), 542–544.549–557. Seine Verfasserschaft an dem anonym abgedruckten Bericht geht aus seinem Brief vom 22. Juni 1848 (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 16) hervor: „Ich habe im aufrichtigen Streben Jedem sein Recht widerfahren zu lassen mit Zugrundelegung des Protokolls, doch nicht ohne Urtheil und individuelle Auffassung geschrieben. Wenn man zu einer Konferenz so einen gewöhnlichen, protokollartigen Überblick des Ganges und der Resultate liest, so hat man gerade von der bedeutendsten Realität, von dem Geiste, der die Resultate erzeugt hat, welcher wichtiger ist als die Resultate, keinen Begriff. Man hat die Theile in der Hand, fehlt aber leider das geistige Band. Ich habe von mir wie von einem Dritten mit möglichster Vorsicht und Zurückhaltung gesprochen. Weglassen konnte ich mich aber nicht, weil dann einige wesentliche Punkte unverständlich wären. Ich habe mich möglichst an das Protokoll gehalten.“ Wortlaut des Schreibens: EKZ 1848, 554f. Winter: Kahnis, 28; Ness: Die kirchenpolitischen Gruppen der Kirchenprovinz Schlesien von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1933 (1980), 3–8; Cochlovius: Bekenntnis und Einheit, 119–121; Meyer: Zur Geschichte der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Breslau (1811–1945), 154; Nachtigall: Auseinandersetzungen, 99f. – Der Versammlung lag ein Schreiben von Harleß vor, der dazu riet, die Versammlung solle ihre Sache mit der der Altlutheraner vereinigen (Text bei Cochlovius: Bekenntnis und Einheit der Kirche, 275f). Ein so weitgehender Schritt aber wurde nicht beschlossen. Zur eigenen Standortbestimmung wurden aus einer Reihe von vorliegenden neun Thesen die ersten vier und die letzten drei angenommen (zu ihrem Wortlaut vgl. den Bericht von Kahnis). Vgl. ferner das Programm des Evangelisch-lutherischkirchlichen Provinzialvereines vom 31.5.1849, also bereits nach dem Ausscheiden Kahnis’, in: Quellenbuch zur Geschichte der evangelischen Kirche in Schlesien, 329–332. – Am 29. März 1848 hatten sich bereits in Naugard der lutherische Verein in Pommern und am 3. Mai 1848 der in der Provinz Sachsen gebildet, am 9. November kamen der Posener Verein und am 2. Oktober 1849 der lutherische Verein in Brandenburg hinzu. Am 9. und 10. September 1849 versammelten sich die Vertreter der Provinzialvereine in Wittenberg und einigten sich auf fünf Leitsätze (vgl. Reuter: Die geschichtliche Entwicklung der vereinslutherischen Bewegung, 3f; Cochlovius: Bekenntnis und Einheit, 129–131). Gustav Friedrich Öhler (10. Juni 1812 in Ebingen bei Balingen – 19. Februar 1872 in Tübingen), Alttestamentler, Pietist Bengelscher Prägung,, 1829-33 Studium in Tübingen, 1837 dort Repetent, 1840 Stadtvikar in Stuttgart, Professor am Seminar in Schönthal, 1845 o. Professor in Breslau, in dieser Zeit näherte er sich dem lutherischen Konfessionalismus (Vereinslutheraner) an, 1852 Ordinarius für Altes Testament und Stiftsephorus in Tübingen, 1861 Rektor. Kahnis bezeichnet ihn
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Vorstand gewählt. Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregt besonders die 24 Teilnahme der Konsistorialräte Professor Karl Friedrich Gaupp (1797–1863) und 25 Albrecht Wilhelm Jacob Carl Wachler (1807–1864) . Kahnis gehört in diesem Kreis zu einer Minorität, die eine „absolute Aufhebung der Union und entschiedene Anbahnung der Wiedervereinigung mit den Lutheranern“ anstrebt und da26 mit ein besonders radikales Ziel anstrebt. Kahnis wird allerdings durch ausdrücklichen Beschluss ermächtigt, dem Oberkirchenkollegium mündlich zu erklären, „daß die Verhandlungen noch nicht dahin gediehen seyen, um das Verhältniß der Conferenz zu den Altlutheranern bestimmen zu können, daß man aber denselben sich in Liebe, Hochachtung und Dankbarkeit für das, was sie für 27 die gute Sache gethan und gelitten, verbunden wisse“. Hengstenberg gegenüber gesteht er: „Vielleicht ist Ihnen meine Position etwas zu scharf. Ich bin einerseits von Selbstsucht und andererseits von feiger Nachgiebigkeit nicht frei. Aber in solchen Fällen habe ich eine stete Angst, ja so entschieden und fest wie möglich das, was mich mein Gewissen festzuhalten fordert, zu vertheidigen. Nur das ist in 28 Schlesien, wo Waschlappigkeit zu Hause ist, nicht ohne.“ Am 1. November desselben Jahres organisieren sich auch die liberal Gesonnenen, unter ihnen die Professoren David Schulz und Wilhelm Böhmer (1800– 29 1863) , zu einer Vereinigung, deren Vorsitzender Professor Julius Ferdinand Räbi30 31 ger (1811–1891) wird. Die Vorgänge machen also deutlich, dass die Fakultät in der Frage der zukünftigen Entwicklung der Union in zwei Lager zerfällt. Unter dem Eindruck der Ereignisse des Revolutionsjahres sieht sich Kahnis dann allerdings genötigt, seinen eigenen Standort eindeutig zu bestimmen. In einem Aufsatz in der „Evangelischen Kirchenzeitung“ vom 19. und 22. April 1848
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als seinen Freund und versucht später von Leipzig aus, Öhler als Exegeten dorthin zu holen (Knapp: Oehler, 95). Auch mit Delitzsch verband Oehler eine Freundschaft. Karl Friedrich Gaupp (1797 – 8. Oktober 1863), Praktischer Theologe, 1844–1863 Prediger, Professor der Theologie und Konsistorialrat in Breslau, vertrat die Meinung, die Union sei solange nicht durchgeführt, als es kein Symbol gibt, sein Vorschlag dazu: CA Variata (Die Union der deutschen Kirchen. Breslau [1843], 190–198). Albrecht Wilhelm Jacob Carl Wachler (1807–1864), 1846–1864 Konsistorialrat in Breslau, 1863 Gründer des Schlesischen Provinzialvereins für Innere Mission. EKZ 1848, 552; Ness: Gruppen, 7. Zitat aus dem Protokoll in Kahnis’ Bericht (EKZ 1848, 556). Brief vom 22. Juni 1848, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 16. – Kahnis stellt darin selbst fest, dass er selber nicht ohne gleich gesinnte Freunde dasteht, Öhlers Anhängerschaft aber größer ist. Wilhelm Böhmer (5. März 1800 in Burg bei Magdeburg – 25. November 1863 in Breslau) hatte in Berlin studiert und sich dort 1824 habilitiert, 1825 war er ao. Professor in Greifswald und 1828 in Halle gewesen, seit 1830 o. Professor in Greifswald und nun seit 1832 als Dogmatiker in Breslau. Julius Ferdinand Räbiger (20. April 1811 in Lohsa – 18. November 1891 in Breslau), 1829 Studium der Philosophie und Theologie in Leipzig, 1831 in Breslau, 1836 Promotion in Philosophie, 1838 in Theologie und Habilitation, 1847 ao., später o. Professor, 1849–1851 Herausgeber der „Schlesischen Zeitschrift für evangelische Kirchengemeinschaft“. Ness: Gruppen, 18–26; Meyer: Zur Geschichte der Fakultät Breslau, 155; Nachtigall: Auseinandersetzungen, 120–122.
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„Deutschland und die Revolution“ verarbeitet er seine große Erregung über die 32 Vorgänge und bekennt sich einerseits zu der bestehenden Ordnung: „Es weiß ja jeder Gymnasiast, daß die Demokratien die Heerde der Tyrannei sind. Es ist nicht bloß christlich, sondern wirklich politisch, das Ober-Tribunal der Fürsten einer 33 höhern Macht anzuvertrauen.“ Andererseits vertritt er ein Menschenbild, das den Menschen nicht aus sich selber heraus und damit auch nicht aus seiner gesellschaftlichen Einbindung heraus versteht. „Es findet aber einmal der Mensch auch in der Menschheit nicht sein Ziel, sondern nur in Gott. Der Mensch ist dieser wunderbare Widerspruch, endlich zu seyn aber zu seyn für die Unendlichkeit, für Gott. Im Geiste Gottes hat der Mensch das unendliche Leben[,] nach dem er 34 strebt[,] und darum auch die wahre Menschheit.“ Daraus folgert Kahnis: „Nicht im Staate: in der Kirche ist die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die ihr aus 35 euren Republiken vergeblich herausklaubet.“ Obwohl diese Sicht, wie man annehmen sollte, für die Freiheit der Kirche spricht, wirft Kahnis den Vertretern der Kirche ein schweres Versagen dahingehend vor, dass sie die Beisetzung der Märzgefallenen kirchlich begleitet haben, und zwar ungeachtet dessen, dass sich auch 36 der König selbst an der Ehrung der Gefallenen beteiligt hatte. Das Christenthum verwirft alle Revolution. Die Geistlichen, welche in den vergangenen Tagen die Weihe der Kirche ausgesprochen haben über die Rebellen in Berlin, die werden ihr Urtheil empfangen. Ja, ihr Völker, die Gemeinheit, mit welcher ihr die augenblickliche Bedrängniß eurer Fürsten ausgebeutet habt, die Frechheit, mit der ihr auf die Macht der Masse hingewiesen habt, um insolente Forderungen zu unterstützen, die Frevelworte, die ihr gesprochen, sie sind gekommen zu den Ohren des Herrn Zebaoth. Wißt ihr, ihr Wühler, ob das Volk, welches ihr gegen die Fürsten gehetzt habt, nicht einst über euch kommen wird? Hat nicht Gott eine ungeheure Ruthe im Osten ausgespannt? Ja, König der Könige, übernimm du die Strafe. Züchtige die Ungerechtigkeit der Fürsten, aber vergiß auch nicht die Frechheit der Völker!37
Und obwohl Kahnis zuvor tief greifende Kritik an der Faktizität der Verbindung von Staat und Kirche in Preußen übt, indem er „bedenkliche Consequenzen“ 32 „Man kann in der ungeheuren Aufregung nichts Besseres thun, als sich von den Gedanken, die auf Einem lasten, auf diese Art befreien“ schreibt er in dem Begleitbrief vom 9. April 1848, mit dem er sein Manuskript an Hengestenberg einschickt (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 1). 33 Deutschland und die Revolution, EKZ 1848, Nr. 32 (19. April), 289–293; Nr. 33 (22. April) 297– 307, dort 301. – Bezeichnend ist der Hinweis auf die gerade von der Schule transportierten Werte. 34 Ebd., 303. 35 Ebd., 303. 36 Am Nachmittag des 19. März hatte sich der König im Schlosshof vor den über 200 „Märzgefallenen“ verneigt und am 21. März war er mit einer schwarz-rot-goldenen Binde durch Berlin geritten. 37 Deutschland und die Revolution, 302. – Indem Kahnis diesen Passus später selbst zitiert, nennt er auch die Namen der beteiligten Theologen und hebt den Schleiermacherianer Karl Leopold Adolf Sydow (21. November 1800 in Berlin-Charlottenburg – 22. Oktober 1882), Hofprediger in Potsdam, besonders hervor (Die Sache der lutherischen Kirche, 64f).
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aufzeigt, darunter eine Union, die ihren Einheitspunkt „in dem landeskirchlichen 38 Organismus, der von dem Staate gegeben ist“, habe, schließt er mit der Bitte: „Gott schütze den König und vergelte ihm, was er einst im wahren Glauben für das Reich Gottes gethan hat, hier und dort. Gott bekenne sich zu ihm, darum daß 39 der König einst vor der Welt sich zu ihm bekannt hat.“ Offensichtlich gärt es in Kahnis. Gerade die Treue zum König, die er öffentlich anmahnt, ist verbunden mit einer sehr kritischen persönlichen Beurteilung dessen Verhaltens, wie der Brief zeigt, mit dem er sein Manuskript an den Herausgeber 40 der Kirchenzeitung schickt. In diesem Brief schreibt er auch: „Der einzige 41 Mensch, mit dem man hier ein vernünftiges Wort reden kann, ist Huschke.“ Huschke aber verhindert im Revolutionsjahr in Breslau geschickt Ausschreitungen 42 der akademischen Jugend; zugleich ist er der Führer der vom Staat unabhängigen Lutheraner in Preußen, vereinigt also in seiner Person politisch konsequent konservative und kirchlich konfessionell lutherische Haltung. So führt dieses enge Verhältnis zu ihm Kahnis zu einer zunehmend kritischen Bewertung der staatskirchlichen und zu einer zunehmenden Offenheit für eine selbständige Kirchenverfassung. 4.1.2 Anschluss an die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen Während der dritten Generalsynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche vom 21. September bis zum 11. Oktober 1848 in Breslau unternimmt Kahnis einen letzten Versuch, einen Schulterschluss zwischen den Lutheranern in der Union und den selbständigen Lutheranern herbeizuführen. Noch vertraulich berichtet er Hengstenberg: „Gleich am ersten Tage [21. Sept.] der Generalsynode fand bei uns ein Gespräch statt zwischen den Lutheranern (Huschke, Graf Wartensleben, Lasius, Barschall, Nagel, Besser, Wolf, Diedrich u. einigen Anderen) und unserem Comité (Öhler, Wachler, Weiß, Laffert), außerdem Pistorius, welches Harleß leitete. Am andern Tag kam es zwischen beiden Theilen zu einer neuen höchst interessanten Ver43 handlung im Sitzungslokal der Generalsynode, welche ebenfalls Harleß leitete.“ 38 Deutschland und die Revolution, 305–307. 39 Ebd., 307. 40 „Ich habe in Vorlesungen und derartiger Thätigkeit, soweit mein enger Kreis geht, Treue für den König zu erweisen und zu betätigen gedrängt. Aber im Herzen protestire ich fortwährend a rege male informato ad melius informandum. Auf diesem Wege geht er und der Staat zu Grunde und zum Ende“ (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 1). 41 Ebd., Kahnis 1. 42 Art. Huschke, in: Kirchliches Handlexikon III (1891), 400. 43 Brief vom 17. Oktober 1848, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 17. – Vgl. dazu: Cochlovius: Bekenntnis und Einheit der Kirche, 63f. – Bisher noch nicht Genannte: Graf Alexander Constantin Eduard Hermann von Wartensleben-Schwirsen (25. Februar 1807 in Rösnitz/Schlesien – 24. April 1883 in Schwirsen/Pommern), 1832 Besitzer des Gutes Grambow bei Kammin, 1841 auch des Rittergutes Schwirsen, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung 1848, schließt sich 1848 der lutherischen Kirche in Preußen an, bemüht sich von Frankfurt
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Kahnis tritt in Folge dieser Gespräche aus dem Komitee der Vereinslutheraner aus: „Ich zweifle nicht, daß diese lutherische Fraktionen in Schlesien, Pommern, Sachsen segensreich wirken können. Aber um das Ziel zu erreichen, welches sie sich gesteckt haben, nämlich Lossagung von der Union und eigenthümliche Organisation in Verfassung und Cultus, resp. Vereinigung mit den Altlutheranern, 44 fehlt es ihnen Allen an Klarheit, Kraft und Kreuzeslust in dem, was sie wollen.“ Da sich ihm trotz intensiver Bemühungen kein Wirkungskreis in seinem Heimatland, dem Fürstentum Reuß Ältere Linie, erschließt, wendet er sich den selbständigen Lutheranern zu und erklärt sogleich seinem Freund Hengstenberg gegenüber: Pistorius und H. v. Thadden sind übergetreten. Ich kenne, nachdem ich ein Jahr vor Gott erwogen habe, was meine Pflicht ist, keinen anderen Weg, als ihnen zu folgen. Das wird Ihnen wohl nicht unerwartet sein. Alle Gegenerinnerungen würden zu spät kommen. Seit mehr als einem Jahre habe ich auf das dringendste gewünscht, durch Rückkehr in mein Vaterland diesem Schritte auszuweichen. Aber es sollte so sein. Ich darf wohl gar nicht noch besonders hinzufügen, daß das Verhältniß der Liebe, Dankbarkeit und der aufrichtigsten Verehrung, welches ich zu Ihnen bis 45 jetzt treu bewahrt habe, davon unberührt bleibt.
Am 23. November 1848, also ein Jahr später als sein Freund Besser, legt Kahnis selbst – ebenfalls vor den Kirchenräten Wedemann und Ehlers – ein Kolloquium aus, Löhe als Pastor für den Pfarrbezirk Groß-Justin, zu dem die Gemeinde Schwirsen gehört, zu gewinnen (vgl. Blaufuß: Löhe auf dem dem Weg in die Separation?). Herrmann Philipp Barschall (1806 – 2. Dezember 1859), jüdischer Herkunft, am 6. Mai 1825 in Berlin getauft, verheiratet mit Franzika von Puttkamer, 1831 Garnisonauditeur (Militärstaatsanwalt) in Posen, 1834 in Cosel (Koźle), wegen seiner Zugehörigkeit zur lutherischen Gemeinde entlassen, danach Jurist, 1838 Auditeur (Kriegsgerichtsrat) in Berlin, juristischer Vertreter der Lutheraner in Berlin, 1841–1852 weltlicher Kirchenrat im Oberkirchenkollegium, 1844 Direktor der Strafanstalt Brandenburg, 1851 zunächst interimistisch, dann 1852 Landrat in Thorn/Westpreußen (vgl. Steffens: Was ich erlebte 10, 251f). Leopold Julius Nagel (17. September 1809 in Bahn/Pommern – 17. Januar 1884 in Breslau), 1842 Pastor in Trieglaff, 1851 in Breslau, 1852 Superintendent und Kirchenrat. Ernst Philipp Wolf (7. März 1812 in Zossen bei Berlin – 15. März 1864 in Magdeburg), 1844 Pastor in Heiligengrabe, 1848 in Magdeburg. Franz Wilhelm Julius Diedrich (15. Juli 1819 in Stettin – 9. März 1890 in Straßburg), 1845 Pastor der Parochie Maulbeerwalde, am 14. Dezember 1847 amtsentsetzt, am 21. Dezember Aufnahme in die Lutherische Kirche Preußens, 1848–1874 Pastor in Jabel, 1864 Mitbegründer der Immanuelsynode und deren Senior. Ernst Friedrich August Weiß (19. Februar 1806 in Breslau – 1888), 1836 Diakonus an Maria Magdalena in Breslau, 1854 Subsenior, 1862 Senior, 1874 Pastor primarius. Carl Friedrich Julius Laffert (geb. am 8. Oktober 1806 in Breslau), 1838 Prediger an St. Salvator (Kräuterkirche) in Breslau. Hermann Alexander Pistorius (27. August 1811 in Walbeck bei Eisleben – 24. April 1877 in Basedow/Mecklenburg), 1843 Pastor in Süpplingen/Prov. Sachsen, 1848 in Veckenstedt und Wenigerode, 1851 in Wollin, 1858 in Breslau, 1863 in Basedow bei Malchow. 44 Brief vom 17. Oktober 1848, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 17. 45 Brief vom 17. Oktober 1848, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 17.
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de orthodoxia ab und folgt damit dem Freund auf seinem Weg. Anschließend lässt er sich zusammen mit seiner Frau in die Evangelisch-Lutherische Kirche in 47 Preußen aufnehmen. Daraufhin predigt er längere Zeit jeden zweiten Sonntag in 48 der St. Katharinenkirche und wirkt in der Gemeindekatechese mit. Am 25. März 49 1849 beruft die lutherische Gemeinde in Breslau ihn zu ihrem zweiten Prediger. Jedoch versagt der Kultusminister ihm die Genehmigung zu einer solchen bezahl50 ten Nebentätigkeit, worüber noch genauer zu berichten sein wird. Kahnis ist sich der Folgen voll bewusst, die sein Schritt für seine akademische Laufbahn bedeutet. In seinem offenen Brief an Nitzsch von 1854 schreibt er: „Es ist Ihnen ohne Zweifel bekannt, daß ich im Jahre 1848 mich gedrungen gefühlt habe, die unirte Landeskirche zu verlassen und mich der Gemeinschaft anzuschließen, welche ich damals, welche ich jetzt noch für die lutherische Kirche Preußens halte. Ich that was ich meines Gewissens wegen nicht lassen konnte, und ich darf wohl hinzufügen: in dem klaren Bewusstsein, meine akademische Zukunft 51 in Preußen vernichtet zu haben.“ Anfang Oktober 1850 erreicht ihn die Berufung 46 Besser hatte bei seinem Besuch in Breslau bereits den Eindruck: „Daß beide [Kahnis und seine Ehefrau] zum Aufbruch gerüstet waren, daß wir in Kürze den 122. Psalm eines Sinnes und mit einem Munde zusammen singen würden – daran blieb mir kein Zweifel übrig“ (Besser: Kirche, 32). 47 Winter: Kahnis, 29. Vgl. Kirchliche Nachrichten, Kirchenblatt für die Gemeinen evangelischlutherischen Bekenntnisses in den Preußischen Staaten (1849), 28f (Februar). 48 Winter: Kahnis, 29. Vgl. Kahnis’ eigene Schilderung einer Episode aus der Zeit dieser Tätigkeit: Zeugniß von den Grundwahrheiten, 98. 49 Seine Ordination hätte noch erst erfolgen müssen, was aber auch später nicht geschah. „Da ich selbst diesem Amte [sc. dem Amt des Wortes und der Sakramente] nicht angehöre, darf ich wohl aussprechen, daß in den letzten Jahrzehnten in steigendem Grade das geistliche Amt Ernst und Eifer für die Sache des Herrn an den Tag gelegt hat“, bekennt er 1869 einmal (Predigten. Zweite Sammlung, 173). Seine Predigttätigkeit beruht auf seinem Recht als ordentlicher Professor der Theologie in Leipzig. „Aber den Beruf meines Lebens kann ich in der Predigt des Wortes nicht erkennen“ (Predigten [1866], Vorwort). An die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche weiß er sich durch sein akademisches Lehramt gebunden, weil er „von der Hochwürdigen Theologischen Fakultät zu Erlangen als Doktor, von der Hochwürdigen Theologischen Fakultät zu Leipzig als Professor der Theologie eidlich verpflichtet“ ist (Die Sache der lutherischen Kirche, 14). Auch andere kirchlich ausgerichtete Theologen wie etwa Franz Delitzsch waren nicht ordiniert. Sein anderer Mitstreiter in der Leipziger Zeit Ernst Luthardt dagegen war ordiniert. 50 Reiche: Die evangelisch-lutherische Gemeinde in und um Breslau, 157f. 51 Die Sache der lutherischen Kirche, 3. – Vgl. Rengstorf: Die Delitzsch’sche Sache, 80f, der diesen Vorgang in Verbindung setzt mit den früheren Bemühungen, Delitzsch nach Preußen zu berufen (Breslau 1843/44, Königsberg 1845/46), die an der konfessionellen Frage scheiterten; vgl. jedoch die Einschränkung dieses Urteils durch Wagner: Franz Delitzsch (21991), 67–73. Wagner berücksichtigt freilich nicht, dass in den betreffenden Jahren die Hoffnung noch nicht völlig ausgeschlossen war, dass ein theologischer Lehrstuhl in Preußen durch einen dezidierten Lutheraner besetzt werden könnte. Guericke in Halle gab seine bereits erwähnten Bemühungen um einen ordentlichen Lehrstuhl erst 1848 auf. Vor allem berücksichtigt Wagner nicht die ganz eindeutige Stellungnahme von Delitzsch selbst, die genau diesen Zusammenhang zu Kahnis’ Ergehen herausstellt: „[Kahnis] hat in Preußen seine akademische Laufbahn begonnen, und hat sich, ohne an die etwaigen Folgen seines Schrittes sich zu kehren, mit ganzem Herzen und mit der Glut erster Liebe an die preußisch-lutherische Kirche angeschlossen; und was mich betrifft, so sind es nun
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nach Leipzig. In vollem Einverständnis mit dem Oberkirchenkollegium der preu52 ßischen Lutheraner folgt Kahnis dem Ruf nach Leipzig. Mit seinem Beitritt zur selbständigen lutherischen Kirche in Preußen verbindet Kahnis zwei Anliegen. Einerseits sucht er gerade unter dem Eindruck des Revolutionsjahres festen Halt in der Tradition, während es ihm offenbar zugleich leicht wird, seine bisherige Überzeugung vom bleibenden Wert der staatskirchlichen 53 Verfasstheit der Kirche fallen zu lassen. Andererseits sieht er in dieser Bekenntnisbewegung, die ihre eigenen kirchlichen Formen noch sucht, eine zukunftsweisende Fortentwicklung der lutherischen Kirche. Später schildert er seine Beweggründe und Erfahrungen so: Ich will nicht leugnen, daß mich in den Stürmen des Jahres 1848 auch die Sehnsucht nach etwas Festem zu den preußischen Lutheranern geführt hat. Gerade so bewegte Naturen, wie ich wohl sein mag, sehnen sich nach festen Stützen. Das ist ja das letzte Motiv der Stellung, die Augustin zur altkatholischen Kirche einnahm. Aber hat denn, wer zu den Altlutheranern übergegangen ist, jetzt gar keine Bewegung? Gerade das bewegteste Leben wogt dort. Während die Landeskirchen, so trübe sie auch fließen, doch in ihrem historischen Bette bleiben, ergeht dort an viele der Sache durchaus unkundige Laien die Frage, welchem von beiden Lagern [sc. Breslau oder Immanuel] sie sich zuwenden wollen.54
Auch nach dem Bruch zwischen diesen beiden Lagern stellt Kahnis weiter fest: „Daß bei den separirten Lutheranern kein Leben ist, daß sie Ruinen sind etc., ist 55 eine verleumderische Versicherung unirter Zeitschriften.“ Bindung und Freiheit ergänzen sich für ihn. „Niemand wird mir vorhalten können, daß ich eine unfreie Stellung zum Bekenntniß einnehme. Aber es geht auf dem Boden des Protestan-
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nahezu schon 20 Jahre, daß ich nach Berlin kam, indem die preußischen Universitäten sich mir aufgethan hatten, und von dem damaligen Ministerium Eichhorn vielfach hierüber mit mir verhandelt war.“ Delitzsch spricht dann von seinem „bereits festen Entschluß, keine Professur an einer preußischen Universität anzunehmen, sofern mir nicht gestattet würde, in die Gemeinschaft mit Ihnen (sc. der preußischen Lutheraner unter dem Oberkirchenkollegium), und vor allem in Sakramentsgemeinschaft mit Ihnen zu treten“ (Die Verhandlungen der Commission zur Erörterung der Principien der Kirchen-Verfassung [1862], 94). „So sehr ich wünschte, der lutherischen Kirche Preußens oder wie Sie sich ausdrücken werden: den von der Landeskirche sich getrennt haltenden Lutheranern mit meiner Gabe zu dienen, so geschah es doch im Einverständnisse mit den Gliedern des Oberkirchenkollegiums in Breslau, daß ich einem an mich gerichteten Rufe nach Leipzig folgte“ (Die Sache der lutherischen Kirche, 3). In Berlin war Kahnis in enger Beziehung zu Ernst Ludwig von Gerlach gestanden, der dem Gedanken eines „christlichen Staates“ anhing (Winter: Kahnis, 17). Hier ergab sich auch eine tiefe Differenz zu seinem Freund Hengstenberg: „Von dieser theokratischen Grundüberzeugung aus hat Hengstenberg die Bedeutung der Landeskirche beurtheilt. Und so konnte denn zwischen ihm, dem die theokratische Stellung in der Landeskirche unterlag, und den s.g. separirten Lutheranern, die dem Recht des Bekenntnisses die Einheit der Landeskirche opfern zu müssen glaubten, von keiner Verständigung die Rede sein“ (Zum Gedächtniß Hengstenberg’s, AELKZ 1869, 424). Zeugniß von den Grundwahrheiten, 54. – Zu dem Richtungsstreit unter den Lutheranern vgl. Klän: Die evangelisch-lutherische Immanuelsynode in Preußen. Die Union (1868), 110.
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tismus schlechterdings nicht ohne ein einheitliches und darum einendes Bekennt56 niß.“ Daraus ergibt sich denn auch eine interessierte und engagierte Begleitung des weiteren Weges dieser kirchlichen Neugründung auch über seine Breslauer Zeit hinaus. 4.1.3 Die Reaktion des preußischen Kultusministers Der Vorgang, der hier aufgrund der Akten des preußischen Kultusministeriums zu betrachten ist, fällt in eine Zeit des politischen Übergangs. Das Amt des preu57 ßischen Kultusministers hat für kurze Zeit Adalbert von Ladenberg (1798–1855) inne, nachdem Friedrich von Eichhorn infolge der Märzrevolution 1848 dieses 58 Amt niedergelegt hatte. In dieser Phase erfährt das Kultusministerium eine grundlegende Umgestaltung. Als vorübergehende Maßnahme ist die „Abteilung für die inneren evangelischen Kirchensachen“ innerhalb dieses Ministeriums verselbständigt worden, um die Durchführung der Selbständigkeit und Selbstverwaltung der Kirchen vorzubereiten, die durch Artikel 12 der am 5. Dezember 1848 von König „oktroyierten“ Verfassung gefordert ist. Nachdem die Verfassung am 31. Januar 1850 in revidierter Form in Kraft getreten ist, wird am 29. Juni 1850 der „Evangelische Oberkirchenrat“ (EOK) als selbständige Kollegialbehörde gebildet – eine Lösung, die bis 1918 Bestand hat. Die Zuständigkeiten für den Unterrichtssektor und für den kirchlichen Bereich werden also gerade neu geregelt. Diese Entwicklung ist begleitet von einer breiteren Diskussion über das Verhältnis von Staat und Kirche, über eine eigenständige Organisation der Kirche, über ein einigendes Bekenntnis und über das Verhältnis von universitärer Theologie und kirchlicher Praxis. Diese Diskussion schlägt sich denn auch im konkreten Fall nieder. Nachdem die lutherische Gemeinde in Breslau am 25. März 1849 Kahnis zu ihrem zweiten Pastor berufen hatte, richtet dieser am 20. April ein Gesuch an den Kultusminister mit der Bitte, „mir die gesetzliche Genehmigung zur Übernahme 59 dieses mit Remuneration verbundenen Amtes bei meiner Professur zu ertheilen“ . Kahnis begründet seine Bitte an erster Stelle mit seinem bereits länger zurückreichenden Bestreben, die akademische Wirksamkeit mit kirchlichen Diensten in der Gemeindepraxis zu verbinden, wozu sich ihm jetzt größere Möglichkeiten eröffnet hätten: In einem gehorsamen Antrage an Euer Excellenz Vorgänger, Herrn Staatsminister Eichhorn, betreffend die Befugnis außerordentlicher Professoren zu predigen, im 56 Christenthum und Lutherthum, X. 57 Adalbert von Ladenberg (18. Februar 1798 in Ansbach – 15. Februar 1855) ist vom 8. Juli 1848 (bis zum 20. September nur provisorisch) bis 1850 Preußischer Kultusminister, danach wird er Chefpräsident der Oberrechnungskammer. 58 Zunächst verwaltete von Ladenberg das Ministerium unter den Ministern Maximilian von Schwerin-Putzar (1804–1872), 19. März bis 25. Juni, und Johann Karl Rodbertus (1805–1875), nur eine Woche, bis er selbst Minister wurde. 59 GStA Kultusministerium Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 32 Bd. 1 (ohne Paginierung) Nr. 9082
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Jahre 1847 habe ich, von dem Grundsatze geleitet, daß die theoretische Theologie nur im engen Anschlusse an die praktischen Interessen der Kirche gedeihe, die Absicht ausgesprochen, öfter zu predigen. Dazu ist mir nun nach meinem Anschlusse an die evangelisch-lutherische Kirche Preußens so innerlich als äußerlich reichliche Anregung geworden. Den thatsächlichen Beweis, daß es nicht ohne Segen geschehen ist, hat mir die hiesige evangelisch-lutherische Gemeine darin gegeben, dass sie mich zum zweiten Prediger der St. Katharinenkirche vocirt hat.
Kahnis verspricht sich von solch einer Tätigkeit auch eine Förderung seines akademischen Amtes: „Für dasselbe darf ich von dieser Stellung nicht nur keine Hemmung, sondern weit mehr Belebung erwarten. Die Erfahrungen, welche ich in diesem Amte zu machen habe, werden mich befähigen, später meine Vorlesungen auf das Gebiet der praktischen Theologie auszudehnen.“ Er fügt noch einen weiteren Grund an, nämlich, dass ihm auch eine Aufbesserung seines Gehaltes von nach wie vor 400 Talern jährlich sehr willkommen sei: „Noch darf ich ein äußeres Moment nicht unerwähnt lassen. Seit den fünf Jahren, in denen ich das Amt eines außerordentlichen Professors an hiesiger Universität bekleide, habe ich an ein hohes Ministerium nie eine Bitte gerichtet um Erhöhung meines Gehaltes oder Beförderung, so sehr meine Lage dazu auffordert.“ Es fällt auf, dass Kahnis zwar die Verbindung der beiden Ämter als solche problematisiert, die Tatsache aber, dass nicht an eine Tätigkeit innerhalb der unierten Landeskirche gedacht ist, nicht näher erörtert. Gerade auf diesen Punkt konzentrieren sich dann aber die Gutachten der Mitglieder der EvangelischTheologischen Fakultät, die der Minister am 23. Mai um ihre Stellungnahme bittet. Die angesprochene Fakultät leitet am 11. Juni anstelle des angeforderten Fakul60 tätsgutachtens die Einzelvoten der Fakultätsmitglieder weiter. Obwohl sich alle Kollegen übereinstimmend allein mit der Frage auseinandersetzen, ob sich ein kirchliches Amt in der selbständigen lutherischen Kirche mit einer Professur an 61 der als uniert geltenden Fakultät verbinden lasse, kommen sie doch alle zu unterschiedlichen Ergebnissen. Und deshalb verzichten sie auf eine gemeinsame Stellungnahme. „Die Erklärungen, von den einzelnen Fakultisten über das Gesuch abgegeben, weichen dermaßen von einander ab, daß es nicht gerathen sein dürfte, jene zu einer Einheit zu verschmelzen. Daher beehrt sich die Fakultät, Ew. Excel60 Ebd., (ohne Paginierung) Nr. 14162, 1 Blatt mit 6 Gutachten als Anlage, die nicht nummeriert sind und insgesamt 52 Seiten umfassen. 61 Auszugsweiser Abdruck des Reglements der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Breslau (Fassung 1840) in: Quellenbuch zur Geschichte der evangelischen Kirche in Schlesien, 298–302. In § 3 wird festgestellt: „Ihr Beruf ist es, vom Standpunkte der theologischen Wissenschaft auch das Interesse der evangelischen Kirche nach Außen und Innen zu wahren. Es wird von ihren Gliedern erwartet, dass sie etwaigen verkehrten Richtungen und Einseitigkeiten der Zeit nach Kräften entgegenarbeiten“ (299). Interpretationsspielraum ergibt sich hinsichtlich der Definition der „evangelischen Kirche“ und der Frage, was alles unter die „verkehrten Richtungen und Einseitigkeiten der Zeit“ zu rechnen ist.
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lenz die verschiedenen Erklärungen insgesammt anbei gehorsamst zu übersenden.“ Die Gutachten zeigen damit die Spannbreite auf, die dieses Gremium zu dieser Zeit in seinem Verständnis der Union aufweist. 62 Wilhelm Böhmer, damals Dekan, benennt zwei mögliche Betrachtungsweisen. Der eine Standpunkt ist gegenständlicher Art, ist der Standpunkt einer evangelisch-theologischen Fakultät, welche ihrer Natur nach unirt ist. Wenn ich auf diesem Standpunkte mich bewege, so muß ich dafür stimmen, daß die Bitte nicht erfüllt werde, denn falls der Professor Kahnis die fragliche Predigerstelle, die bei den strengen, unionsfeindlichen Lutheranern offen geworden, annehmen dürfte, so würde ihm damit die Erlaubniß ertheilt, für das strenge Luthertum und im Gegensatze gegen die Union als Prediger zu wirken. Ja von diesem Standpunkte muß ich den Wunsch aussprechen, daß mein Herr Kollege seine Professur niederlege.
Führt dieser rein formalrechtliche Beurteilungsansatz nicht allein zur Ablehnung des Gesuchs, sondern verschärfend zu der Forderung an Kahnis, seine Professur niederzulegen, so ergibt sich für Böhmer aus einer anderen Perspektive heraus eine ganz andere Schlussfolgerung. Von dem persönlichen Standpunkte aus muß ich es wünschenswerth finden, daß die Bitte des Professors Kahnis von Excellenz erfüllt werde. Was mein Glauben anlangt, so besteht die Union in einer solchen Vereinigung des streng lutherischen und des streng reformierten Elementes, bei welcher beide Elemente wenn auch nicht ihrer confessionellen Form, doch ihrem Wesen nach auf das eine Evangelium der heiligen Schrift zurückgeführt werden. Somit findet auch das strenge Lutherthum, sowahr es rein evangelischen Gehaltes ist, eine gewisse Berechtigung in der Union. Und es ergiebt sich für mich, der ich als Facultist von ganzem Herzen unirt bin, wie meine Wirksamkeit in Vorlesungen, Schriften und Vereinen sattsam erhärtet, die Möglichkeit, im collegialischen Zusammenhange zu stehen mit einem Manne, welcher ein strenger Lutheraner ist.
Böhmer setzt dabei voraus, dass sich Kahnis direkter Angriffe gegen die Union enthalten würde. Für sein Verständnis der Union beruft sich Böhmer ausdrücklich auf die Kabinettsordre Friedrich Wilhelms III., mit der die Unionsbildung angestoßen worden war. „Der Zusammenhang worin die Union mit der Liebe steht, ist dem erhabenen Stifter der ersteren nicht verborgen geblieben. Der Königliche ten Erlaß vom 27 September 1817 schließt mit den schönen Worten: ‚Möchte der verheißene Zeitpunkt nicht fern sein, wo unter einem gemeinsamen Hirten Alles in Einem Glauben, Alles in Einer Liebe und Einer Hoffnung sich zu Einer Heerde bilden wird’!“ Böhmer gibt deshalb der zweiten, von der christlichen Gesinnung ausgehenden Argumentation den Vorzug. Die radikalen Forderungen aufgrund des ersten Gesichtspunktes hat er allerdings sicherlich nicht absichtslos so scharf
62 Sein Gutachten umfasst 7 Seiten.
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ausgezogen, sondern hofft wohl auch bei ihnen auf eine bestimmte Wirkung. 63 Kahnis jedenfalls sieht ihn als einen Gegner an. In deutlichem Kontrast zu dieser schillernden Argumentation bezieht David 64 Schulz in seinem Gutachten einen konsequent staatsrechtlichen Standpunkt. Er moniert schon die von Kahnis gebrauchten Bezeichnungen „evangelischlutherische St. Katharinen-Kirche“ und „evangelisch-lutherische Kirche Preußens“ als unzulässig. In einer scharfen und sehr parteilichen Weise ruft er ausführlich die Geschichte der lutherischen Bewegung in Breslau in Erinnerung, auch das 65 Verfahren im Fall der Professur Scheibels. Die Gewaltmaßnahmen der Regierung bei ihrem Versuch, die lutherische Bewegung zu unterdrücken, übergeht er geflissentlich, obwohl er sich umfassend informiert gibt. „Die Staatsbehörde ihrerseits hat stets Alles versucht, um die hin und wieder über ihre Unionsbestrebungen aufgeregten Gemüther zu beruhigen, der Ueberzeugung Eingang zu schaffen, daß sie weit entfernt sei, damit eine Glaubensveränderung herbeiführen, geschweige irgend eine Art von Glaubenszwang ausüben, die Gewissen beschweren zu wollen.“ Er spart bei seiner Kritik an den Lutheranern nicht mit Unterstellungen. „Dann aber wird er [sc. Kahnis] sich auch verpflichtet halten, wahrscheinlich auch bei seiner projectirten Anstellung als Lehrer darauf verpflichtet werden, nach Kräften sowohl die Unionisten als Reformirte und andere abweichende Parteien zu bekämpfen.“ Entscheidend ist für ihn, dass die Union von Staats wegen gewollt ist. „Zweier Herren entgegengesetzter Bestrebungen treuer Diener zu sein, ist Niemand im Stande. Eben so wenig kann einer gleichzeitig in verschiedenen Glaubensgenossenschaften, wo nicht blos der Lehrtypus und was damit zusammenhängt, abweicht, sondern auch verschiedenes Kirchenregiment, Leitung, Beaufsichtigung p.p. obwaltet, getreuer und den Pflichten auf beiden Seiten genü63 Schon aufgrund seines ersten Eindrucks schreibt er am 2. Juli 1844 an Hengstenberg: „Böhmer ist eine reine Null an der Universität. […] Nach allgemeinem Urtheile ist bei ihm die Subjektivität Neanders bis zur grillenhaften Eigenthümlichkeit fortgegangen. Die Studenten mögen ihn nicht hören, weil er nie die Sache, sondern nur seine Eigenthümlichkeit geübt“ (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 5). Am 3. Dezember 1845 bekennt er das gestörte persönliche Verhältnis: „Der elende Böhmer will sogar eine Schrift gegen mich schreiben. Ich habe noch keinen Buchstaben gegen ihn geschrieben, habe ihn in keiner Weise verletzt, ja sogar einige Zeit in der Disputation einen Beweis vom Aufmerksamkeit gegeben, wonach er mich mit Liebesversicherungen überhäuft hat. Er ist aber ein Mensch, der, wie selbst der milde Gaupp sagt, Jesum Christum jeden Augenblick seinem Götzen, Eitelkeit, opfert. Ich antworte ihm nicht u. wenn er mir nachsagt, daß ich silberne Löffel einstecke. Man kann ihn nicht tiefer strafen, als mit Schweigen“ (ebd., Kahnis 9). 64 Sein Gutachten umfasst 8 Seiten. 65 Johann Gottfried Scheibel (16. September 1783 in Breslau – 21. März 1843 in Nürnberg), nach Theologiestudium seit 1801 in Halle und 1804 bestandenem Anstellungsexamen wechselnde Predigerstellen in Breslau, 1815 Diakonus an der Elisabethkirche, zugleich 1811 ao., 1818 o. Professor der Theologie an der neu gegründeten Universität, setzt sich energisch für den Erhalt der lutherischen Kirche ein und wird 1830 am Vorabend der Jubelfeier der Augsburger Konfession, bei der die Union eingeführt wird, suspendiert, 1833 bittet er um seine Entlassung aus seinen Ämter als Diakonus und als akademischer Lehrer, geht zunächst nach Sachsen und siedelt 1839 nach Nürnberg über, immer literarisch für die Sache der Lutheraner in Preußen tätig.
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gender Lehrer sein.“ Eine Klärung seiner Befürchtung erhofft er sich von weiteren Recherchen. „Jedenfalls wird es die Landesbehörde interessieren müssen, den vollständigen Inhalt der Vocation kennen zu lernen, welche der p.p. Kahnis von derselben empfängt oder schon empfangen hat.“ Eine gewisse Gehässigkeit ist bei 66 ihm unüberhörbar, wie sie für ihn auch früher schon bezeichnend war. Theologisch-christliche Gesichtspunkte werden nicht herangezogen. Schulz erwartet, dass „dieses m.E. gleich bedenkliche und verfängliche Bittgesuch“ abgelehnt wird. 67 Heinrich Middeldorpf (1788–1861) geht in seinem Gutachten von einer Unterscheidung zwischen persönlicher Neigung und rechtlicher Kirchgliedschaft aus. „Der Anschluß des Herrn Professors an jene Gemeinde läßt eine gedoppelte Deutung zu. Entweder hat er sich ihr in dem Sinne angeschlossen, daß er in Mitten derselben seine christliche Erbauung nur deshalb sucht und findet, weil ihre religiösen Ansichten seiner wissenschaftlich theologischen Ueberzeugung besonders entsprechen; oder aber er hat die wirkliche Mitgliedschaft jener Gemeinde erworben, indem er in ihren Gesellschaftsverband eingetreten ist.“ Die erste Option will er völlig freigestellt sehen: „Ich für meine Person habe die Freiheit jedes Mitgliedes unserer evangelischen und unirten Facultät, als Professor dem lutherischen und reformirten Lehrbegriffe anzuhängen und seiner Überzeugung gemäß zu lehren, niemals bezweifelt. Dieselbe Freiheit gebürt [sic] aber auch denen, welche einzelne Ansichten des Bekenntnisses der Schwesterkirche zu adoptieren oder im Geiste des protestantischen Christenthums von diesen oder jenen Bestimmungen der Symbole abzuweichen sich, auf Grund gewissenhafter Forschung, gedrungen fühlen.“ Freiheit bedeutet für ihn also relative Beliebigkeit. Dagegen sieht er in dem Schritt, aus der persönlichen Überzeugung kirchliche Konsequenzen zu ziehen, ein zweifaches Problem. Denn Kahnis würde dann „einerseits der Union offen entgegengetreten sein, muthmaßlich auch die Verpflichtung, sie nach Kräften zu bekämpfen, auf sich nehmen müssen; andererseits aber hätte er sich alsdann auch von dem Regimente der evangelischen Landeskirche losgesagt und sich unter den Vorstand der von ihm ‚evangelisch-lutherische Kirche Preußens’ genannten Kirchen-Gesellschaft gestellt.“ Der Anspruch einer staatlich verwalteten, unierten Kirche also ist berührt. Middeldorpf geht von der Voraussetzung aus, dass „nach meinem Dafürhalten jeder Protestant, welcher Confession er auch angehören möge, sich zu dieser Union bekennen kann“. Er führt die entsprechenden Passagen der Kabinettsordren an. Zwar räumt er Pannen auf dem Weg der Durchsetzung der Union ein, entschuldigt sie aber sogleich. „Die Ungebührlichkeiten, welche manche Mittelbehörden bei Einführung der Union sich zu Schulden kommen ließen, können freilich nicht gerechtfertigt werden; aber die Beschränktheit, der 66 Vgl. Hauptmann (Hg.): Johann Gottfried Scheibel. Vom innersten Wesen des Christentums, 56– 62. 67 Heinrich Middeldorpf (1788 in Hamburg – 1861), Orientalist, 1810 Privatdozent in Frankfurt/Oder, 1811 ao., 1816 o. Professor in Breslau, 1813 Feldprediger in den Freiheitskriegen, 1816 Dr. theol., 1828 Konsistorialrat, später Oberkonsistorialrat. – Sein Gutachten umfasst 16 Seiten.
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Starrsinn und Fanatismus, womit die Union von ihren Gegnern bekämpft wurde, verdient eben so gerechten Tadel.“ Für ihn ist vor allem klar: „Jeder aber, der Mitglied einer in diesem Sinne unirten evangelischen Facultät sein will, muß es“ – Angehöriger der unierten Landeskirche sein. „Unsere Facultät hat sich durch einen feierlichen Act 1817 für diese erklärt, sie ist deshalb eine evangelische genannt, und zwischen ihren lutherischen und reformirten Mitgliedern ist kein Unterschied gemacht.“ Er beruft sich auf das Reglement der Breslauer Fakultät, das ihren Dienst der „evangelischen Kirche“ zuordnet, ohne zu berücksichtigten, was zur Zeit der Abfassung unter „evangelisch“ zu verstehen war. Die Verbindung der theologischen Professuren mit geistlichen Ämtern, soweit dies ohne der wissenschaftlichen Fortbildung Eintrag zu thun möglich ist, halte ich für sehr vortheilhaft. Dagegen aber will mir die Wirksamkeit eines theologischen Professors in einer unirten Facultät, welche Staatsanstalt ist, als Geistlicher in einer Gemeinde, welche das Kirchenregiment des Staates verwirft, die Union bekämpft, dem System einer strengen Absonderung huldigt und ein unverbrüchliches Festhalten an einem partiellen Lehrbegriff bietet, nicht recht zulässig erscheinen.
Zunächst hätte seiner Meinung nach die Frage geklärt werden müssen, „ob der Herr Minister ihm als Mitglied der evangelischen und unirten Facultät gestatte, sich, unbeschadet dieses amtlichen Verhältnisses[,] der St. Katharinen-Gemeinde anzuschließen?“ Und diese Frage verbindet er mit der noch weiter gehenden, „in wiefern der Staat sich verpflichten wolle und könne in den, hoffentlich von der Volkssouveränität noch zu rettenden, theologischen Facultäten zu gleicher Zeit Bildungsanstalten für das Lehrerbedürfniß der vermutlich zahlreichen religiösen Fractionen, deren Entstehen sich erwarten läßt, zu begründen“. Gerade unter dieser Perspektive der Sorge um das staatskirchliche Prinzip empfiehlt Middeldorpf eine Ablehnung des Gesuchs. Nach Kenntnisnahme anderer Voten sieht er sich dann zu einer „Verwahrung gegen eine Entfernung des Herrn Professors Kahnis aus der Facultät“ veranlasst und erklärt ausdrücklich, „wie ich darüber mit den betreffenden Herren Collegen ganz einverstanden und in einer solchen Maaßnahme nur eine beklagenswerthe Beschränkung der academischen Lehrfreiheit sehen könnte, der ich niemals, weder direct noch indirect das Wort reden würde. Eben diese Lehrfreiheit scheint mir aber durch die Uebernahme eines geistlichen Amtes bei den von der Landeskirche getrennten Lutheranern formal gefährdet zu werden, und deshalb wünsche ich, daß in dem concreten Falle für diese letztere die Genehmigung der Staatsbehörde nicht ertheilt werden möge.“ Die Lehrfreiheit sieht er also durch Kahnis gefährdet. Meint er, man hätte mit der Forderung einer vorherigen ministeriellen Erlaubnis Kahnis davon abhalten können, sich der lutherischen Kirche anzuschließen, müsse sich jetzt aber mit der gegebenen Situation abfinden? In Middeldorpfs Argumentation zeigt sich jedenfalls, dass seine Prinzipien der Staatsverantwortung für die Kirche und der Freiheit der Religionsausübung sich nicht miteinander verbinden lassen.
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August Hahn sieht keinerlei Bedenken, Kahnis die Bitte zu erfüllen. Denn Zweifel an dessen Loyalität schließt er aus. „Schon dieses an die ihm vorgeordnete Hohe Behörde gerichtete Gesuch läßt voraussetzen, daß er das Verhältniß, in welchem er seither zu dieser Behörde gestanden hat, durch seinen Anschluß an die Gemeinschaft der getrennten Lutheraner nicht habe lösen wollen und der Meinung sei, die Pflichten seines akademischen Berufes nach wie vor erfüllen zu können, wenn die nachgesuchte Genehmigung ihm ertheilt werden sollte.“ Ebenso schließt er aus, dass die Professur rechtlich an die Union gebunden sei: So betrübend nun auch für mich der von dem p. Kahnis gethane Schritt gewesen ist, so muß ich doch wünschen, daß dem Gesuche desselben gewillfahrt werden möge, indem ich voraussetze, daß durch jenen Anschluß an die Gemeinschaft der getrennten Lutheraner die akademische Stellung des p. Kahnis nicht in Frage gestellt worden sei oder werden könne. Diese Voraussetzung ruht auf der Annahme, daß bei den stattgefundenen die Berufung desselben zum Professor der hiesigen Universität betreffenden amtlichen Verhandlungen der Zutritt zur Union wahrscheinlich eben so wenig als Bedingung gestellt worden sei, wie bei anderen früheren oder späteren Berufungen, in welchem Falle ihm wie jedem anderen evangelischen Christen und Lehrer, der Zutritt völlig frei gegeben worden ist, folglich auch eine amtliche Wirksamkeit nach Maßgabe seiner Stellung zur Union oder zu den Bekenntnissen der lutherischen oder reformirten Kirche.
Hahn versteht den Begriff „evangelisch“ also nicht im spezifischen Sinne der Union. Er begründet das näher und nennt Scheibel und Guericke als Präzedenzfälle. Als weiteres Argument führt er an, dass auch gegen extrem Liberale nicht vorgegangen werde. „Denn wenn schon eine einseitige kirchliche Richtung die amtliche Stellung und Wirksamkeit eines Professors gefährden oder gar den Verlust Amtes zur Folge haben könnte, wie vielmehr müsste eine unkirchliche mit den anerkannten Grundsätzen und Bekenntnissen unserer Kirche unvereinbare, philosophische oder unphilosophische Wirksamkeit eines Docenten den Verlust seines Amtes innerhalb der evangelischen Landeskirche nach sich ziehen.“ Aufgrund der bisherigen Erfahrungen sieht er auch negative Auswirkungen für die weitere Entwicklung der Union selbst, wenn restriktive Maßnahmen gegen die Separation ergriffen werden. „Durch Beschränkung der Lehrfreiheit innerhalb der weiten Grenzen, welche durch die anerkannten Grundsätze der evangelischen Kirche gezogen werden, wird nichts gewonnen, sondern nur geschadet werden; durch solche Bande wird man die sich lösenden, ausgerenkten Glieder nicht wieder anziehen und dem leidenden Körper einfügen, sie werden ganz abtrünnig werden und im Bunde mit den entschiedenen Feinden der Kirche ihr neue und größere Wunden schlagen.“ Die separierten Lutheraner seien „keine Sekte, sondern durch ihre kirchlich religiösen Grundsätze mit der allgemeinen evangelischen Kirche in wesentlicher Gemeinschaft und nach meiner Ansicht nur durch (nicht evangelische) Ueberschätzung der kirchlichen Gebräuche und Verfassungsformen von ihr getrennt“ und 68 Sein Gutachten umfasst 12 Seiten.
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gehörten deshalb „auch seit dem Jahre 1845 zu den gesetzlich zugelassenen Kirchen-Gesellschaften, welche öffentlich ihren Gottesdienst ausüben dürfen“. Deshalb fordert er ihre Gleichbehandlung ein. „Sollte die Genehmigung versagt werden, so würde sich wohl auch fragen, ob den nicht unirten, reformirten Theologen in Preußen eine ähnlich amtliche Wirksamkeit bei nicht unirten reformirten Gemeinden, welche ebenfalls die Annahme der erneuerten Agende von Anfang an verweigert haben, wie zu Königsberg, gestattet werden könnte.“ Abschließend erklärt Hahn, dass er sogar eine Ausbildung von Theologen für die dezidiert lutherische Kirche im Rahmen des universitären Bildungsauftrages sieht. „Der universalen Aufgabe der Universitäten dürfte es wohl auch entsprechen, wenn sie Lehrer für alle gesetzlich aufgenommenen oder zugelassenen Kirchen-Gemeinschaften bilden können.“ Für die Union möchte er allein „durch die freie Macht der evangelischen Wahrheit“ wirken. Er fürchtet, dass Beschränkungen, die den Lutheranern in Preußen auferlegt werden, diesen nur weitere Sympathien einbringen und dem Ansehen der Union schaden werden. 69 Gustav Friedrich Öhler äußert sich sehr nüchtern und pragmatisch. Nach Zitaten aus dem Reglement der Fakultät stellt er bündig fest: „Daß nun die Kirche der separirten Lutheraner ein Glied der evangelischen Kirche ist, wird ihr hoffentlich Niemand absprechen.“ Zwar hätten die Ordinarien Aufgaben in der Landeskirche. „Aber ein Extraordinarius als solcher hat meines Wissens niemals mit landeskirchlichen Angelegenheiten zu thun gehabt.“ Auch er verweist auf Scheibel und Guericke. Zwar will er es ganz Kahnis selbst überlassen, wie der beide Ämter miteinander verbinden will. „Ob die Grundsätze der separirten Lutheraner es zulassen, daß Herr Professor Kahnis in unserem Ordo bleibt, darüber wird die Entscheidung lediglich seinem eigenen Gewissen zu überlassen sein. Mich zum Richter seines Gewissens aufzuwerfen, dazu fühle ich mich nicht berufen. Im Gegentheil glaube ich dem Collegen die Voraussetzung schuldig zu sein, daß er solche Grundsätze hegt, welche mit den Statuten unserer Facultät vereinbar sind.“ Aber Öhler bittet dann doch darum, dass die Vokationsurkunde auch der Fakultät zur Kenntnis gebracht wird, „damit sich herausstelle, von welchem Gesichtspunkte aus das lutherische Oberkirchencollegium der Vereinigung einer Professur in unsrer Facultät mit der fraglichen Pfarrstelle für zuläßig erachte.“ Er möchte offenbar verhindern, vom Oberkirchenkollegium bei irgendwelchen kirchenpolitischen Manövern benutzt zu werden. „Denn ich bin weit entfernt, alle Ansprüche, welche das Oberkirchen-Collegium in neuester Zeit erhoben hat, für begründet zu halten, und will nicht in Abrede stellen, daß nach dieser Seite hin vielleicht Verwahrun70 gen nöthig werden könnten.“ In dieser Hinsicht bleibt ein gewisses Misstrauen. 69 Sein Gutachten umfasst 6 Seiten. 70 Zu dieser vorsichtigen Haltung Öhlers, in der er eine große Hochachtung gegenüber den selbständigen Lutheranern, eine deutliche Kritik an bestimmten schroffen Äußerungen aus ihren Reihen und ein entschiedenes vorläufiges Festhalten an der landeskirchlichen Option miteinander verbindet, vgl. Knapp: Oehler, 106–115.
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Aber seine Stellungnahme ist eindeutig: „Somit stimme ich dafür, daß auf Gewährung der Bitte des Herrn Professor Kahnis angetragen werde.“ 71 Karl Friedrich Gaupp nimmt in knapper Form Stellung. Die Frage, ob Kahnis nach seinem Austritt aus der unierten Landeskirche in der Fakultät verbleiben kann, sieht er nicht mehr als unbeantwortet an. „Vielmehr scheint dieselbe bei dieser obersten Stelle bereits zu Gunsten des p. Kahnis entschieden zu sein. Ich meinestheils vermag dies nicht anders als weise zu finden.“ Gaupp meint zwar, mit dem akademischen Lehramt sei unweigerlich eine gewisse Verbindung mit der unierten Landeskirche gegeben, und kann deshalb das Verhalten seines Kollegen nicht recht nachvollziehen. „Es mag sein, daß Herr Kahnis nicht durchaus folgerichtig handelt, wenn er in der Facultät bleibt. Dies aber scheint mir eine lediglich seiner eigenen Ueberzeugung anheimzugebende Angelegenheit.“ Sein Votum verbindet er als praktischer Theologe mit einer seelsorglichen Überlegung. „Daß ich bei dieser Ansicht kein Bedenken trage, die Hohe ministerielle Genehmigung, um welche Herr Kahnis gebeten, zu befürworten, ergiebt sich von selbst. Ich trage es umso weniger, als ich gerade von jenem theilweisen Verharren bei der Union der evangelischen Landeskirche für Herrn Kahnis hoffe, daß er von extremen Richtungen so am ehesten bewahrt bleiben werde.“ Die Gutachten der Fakultätskollegen weisen ein breites Meinungsspektrum auf. Die rechtlichen Gegebenheiten werden mehrfach in Erinnerung gebracht, aber durchaus unterschiedlich interpretiert, je nachdem wie eng die Verbindung zwischen Staat und Kirche gesehen wird. Wenn auch der Widerstand gegen die Union von allen in keiner Weise gebilligt wird, ergeben sich doch divergierende Ratschläge, wie im vorliegenden Fall zum Besten der Union zu reagieren sei. 72 Wenn auch keiner der Ordinarien die Freiheit der Lehre eingeschränkt wissen will, zeigen sich doch große Unterschiede, wie dem christlichen Glauben und der kirchlichen Lehre Rechnung getragen werden soll. So kommt es auch zu gegensätzlichen Antworten auf die Frage des Ministers. Vier befürwortende Voten stehen zwei ablehnenden gegenüber, und diese stammen von den älteren Fakultätskollegen, die durch eine bereits überholte Mentalität geprägt sind und einer stärkeren Selbständigkeit der Kirche sehr skeptisch gegenüberstehen. Die Vertreter des Luthertums innerhalb der Union, die in diesem Sinne eng mit Kahnis zusammengearbeitet hatten, geben ihre Voten zugunsten von Kahnis ab. Nur Böhmer, der der liberalen Richtung zuzurechnen ist, steht grundsätzlich auf der einen 71 Sein Gutachten umfasst 3 Seiten. 72 „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“ („oktroyierte“ Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 5. Dezember 1848, Artikel 17; Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, Artikel 20). – Während 1830 Hengstenberg im „halleschen Theologenstreit“ ein obrigkeitliches Eingreifen in die akademische Lehrfreiheit gefordert hatte, hatte sich Scheibel gerade in diesem Zusammenhang auf die sich „auch so eben in Bestimmung vollkommner Lehrfreiheit der Universitäten“ zeigende „Huld und Gerechtigkeit“ des Königs berufen, um auch für sich in seiner lutherische Position diesen Feiraum zu gewinnen (Schreiben Scheibels vom 10. Oktober 1830, in: Ders.: Actenmäßige Geschichte II, 125).
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und aus persönlichen Rücksichten auf der andern Seite. Ein ähnlich gespaltenes Bild zeigt das Fakultätsgutachten zu Fragen der kirchlichen Verfassung und der 73 Union vom 23. Februar 1849. Im Ministerium finden die Stellungnahmen der Fakultät offenbar kaum Beachtung. Neben der Fakultät wird in die Entscheidungsfindung natürlich auch die kirchliche Seite eingeschaltet. Ebenso wie schon Schulz und Öhler in ihren Voten erbittet auch die „Innere Abteilung für die evangelischen Kirchensachen“ am 27. Juli vom Minister die Möglichkeit, in die Berufungsurkunde Einsicht zu neh74 men. Am 5. August fordert der Minister daraufhin Kahnis zur Vorlage der Ur75 kunde auf, und dieser schickt am 11. August das Original zur Kenntnisnahme 76 ein. Im September äußern die Repräsentanten der Abteilung für die evangelischen 77 Kirchensachen, Bischof Daniel Amadeus Gottlieb Neander (1775–1869) und 78 Professor Ämilius Ludwig Richter (1808–1864) , dem Minister gegenüber „den 79 dringenden Wunsch“, das Gesuch abzulehnen. „Die von dem Bittsteller eingereichte Vocation enthält zwar nichts, was mit den Pflichten eines öffentlichen Lehrers der Theologie an der der Landeskirche verbundenen Facultät im Widerspruch stünde.“ Der Gegensatz, in dem diese lutherische Gemeinde zur unierten Landeskirche steht, „lässt freilich mit Gewißheit vorhersehen, daß es an Conflikten nicht fehlen werde. Durch diese würde der pp. Kahnis in eine unklare Stellung versetzt werden, welche seine akademische Wirksamkeit wesentlich zu beeinträchtigen geeignet sein würde.“ Der Grund für das ablehnende Plädoyer liegt demnach weder in dem Anliegen als solchem noch in der Person des Antragstellers, sondern in dem Bestreben, das Oberkirchenkollegium bei der Wahrnehmung der ihm aufgegebenen Interessen zu behindern. Das entscheidende Argument lautet denn auch, „daß nach den von uns gewonnenen Erfahrungen das Oberkirchenkollegium zu Breslau unabläßig bemüht ist, Präcedenzfälle herbeizuführen, um durch Berufung 73 Nachtigall: Auseinandersetzungen, 80. 74 GStA Kultusministerium, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 32 Bd. 1 (ohne Paginierung) Nr. 14162. – Diese Bitte ist von Neander, Strauß und Richter unterschrieben. – Gerhard Friedrich Abraham Strauß (24. September 1786 in Iserlohn – 19. Juli 1861 in Berlin), 1822 Hofprediger und Professor für Praktische Theologie in Berlin, Mitbegründer der Berliner Missionsgesellschaft, 1836 geistlicher Rat im Kultusministerium, 1850 Mitglied des EOK, 1856 Oberhofprediger. Zu Neander und Richter s.u. 75 Ebd., (ohne Paginierung) ad Nr. 14162. 76 Ebd., (ohne Paginierung) Nr. 17490. 77 Daniel Amadeus Gottlieb Neander (17. November 1775 in Lengefeld/Erzgebirge – 18. November 1869 in Berlin), 1817 Stiftssuperintendent und Konsistorialrat in Merseburg, 1823 Propst und Pfarrer an der Petrikirche in Berlin, zugleich Rat im Kultusministerium, 1829 Generalsuperintendent Provinz Brandenburg und Konsistorialdirektor, 1830 Bischof, 1831 Mitglied des Staatsrates, 1853 legte er die Generalsuperintendentur nieder. 78 Ämilius Ludwig Richter (15. Februar 1808 in Stolpen bei Dresden – 8. Mai 1864 in Berlin), Kirchenrechtler, 1838 Ordinarius in Marburg, 1846 in Berlin und Mitarbeiter im Kultusministerium, 1850 Mitglied des EOK mit dem Titel eines Oberkonsistorialrates. 79 GStA Kultusministerium, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 32 Bd. 1 (ohne Paginierung) Nr. 17490.
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auf dieselben der Landeskirche Terrain abgewinnen zu können.“ Den selbständi80 gen Lutheranern soll eine akademisch-theologische Vertretung versagt bleiben. Damit Kahnis persönlich nicht zu sehr unter der Verfolgung dieses kirchenpolitischen Ziels zu leiden hat, schließt diese sehr unfreundliche Stellungnahme mit einer unverbindlichen freundlichen Geste in Richtung auf den Antragsteller. „Wie es scheint ist der pp. Kahnis zu seinem Gesuche durch den Wunsch nach einer Verbeßerung seiner äußeren Lage bewogen worden. Inwiefern ihm nach dieser Richtung hin auf einem anderen Wege geholfen werden könnte, haben wir lediglich ganz ergebenst anheimzustellen.“ Minister von Ladenberg folgt der Bitte der Kirchenabteilung, ohne freilich auf die Anregung der Gehaltserhöhung einzugehen, und gibt Kahnis am 29. September den Bescheid, daß ich Ihrem Gesuche vom 20ten April d. J., die Stelle eines zweiten Predigers bei der Gemeinde der von der Landeskirche sich getrennt haltenden Lutheraner neben Ihrer Professur in der dortigen evangelisch-theologischen Fakultät annehmen zu dürfen, nicht entsprechen und Ihnen die gesetzliche Genehmigung zur Combi81 nation beider Ämter nicht ertheilen kann.
Am 21. November petitioniert daraufhin die „evangelisch-lutherische St. Katharinen-Gemeinde in und um Breslau“ beim Minister um Revision der Entschei82 dung. Ew. Excellenz wolle in huldreicher Erwägung der obwaltenden Noth unserer Gemeine, zu deren Wartung die Kraft unseres einzigen Predigers nicht mehr ausrei80 Schon im ihrem „Ganz gehorsamsten Promemoria” vom 15. August 1841 äußern die Altlutheraner die Bitte, „daß bei einer der inländischen Universitäten stets ein von ihnen auf die Bekenntnißschriften der lutherischen Kirche verpflichteter ordentlicher Lehrer, wenn auch (um gegenseitige störende Conflicte zu vermeiden) außerhalb der evangelisch-theologischen Facultät, vom Staate angestellt und besoldet werde, der sich den Studien der jungen Theologen lutherischen Bekenntnisses besonders widmet. Zugleich verbinden sie hiermit den Wunsch, daß der gegenwärtig in Nürnberg privatisirende Dr. Scheibel, welcher ehemals an der Universität zu Breslau dem Wesen nach schon die Stellung einnahm, welche vorstehend bezeichnet worden ist, als erster Lehrer dieser Art berufen, und somit in seine frühere, seitdem noch immer offen gebliebene Professur wieder eingesetzt werden möchte“ (Beschlüsse der von der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen […] 1841 zu Breslau gehaltenen Generalsynode, 103). Diese Bitte war seither unerfüllt geblieben. Der persönliche genannte Kandidat für einen solchen Lehrstuhl extra facultatem, Johann Gottfried Scheibel, ist zwar am 21. März 1843 in Nürnberg gestorben, das Anliegen aber besteht weiter, bis 1883 die Lutherische Kirche in Preußen ein eigenes theologisches Seminar in Breslau eröffnet. 81 GStA Kultusministerium, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 32 Bd. 1 (ohne Paginierung) Nr. 17490. 82 Ebd., (ohne Paginierung) Nr. 25803. – Das Schreiben umfasst 4 Seiten und weist auf der ersten Seite zusätzlich eine Stellungnahme seitens der evangelischen Kirchenabteilung des Ministeriums auf. Das Schreiben trägt die Unterschriften des Kirchen-Kollegiums: F. H. L. Wedemann, Kirchenrath und der Gemeinde in und um Breslau Pastor, wohnhaft Carlsstr. 46, W.G. Reiche, Gottlieb Schleicher, Adam Stache, Christoph Seidel, Gottlieb Seidel, W. A. Platz, F. Willisch, Wille, K. Bräuer, C. Fr. Schneider, Carl Köppen, A. A. Allgöbor, C. W. Platz, Karl Froböß und Adolph Grempler.
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chen will, und des Vertrauens, welche die genannte Gemeine in den von ihr Berufenen setzt, den erfolgten abschlägigen Bescheid in einen zusagenden hochgeneigtest umwandeln und durch solche Gewährung unserer unterthänigsten Bitte uns ein Weihnachts-Geschenk verleihen, welches Hochdemselben Gottes reichen Segen bringen, in unser aller Herzen aber das dankbare Andenken an Ew. Excellenz tolerante und wohlwollende Gesinnung nie verlöschen lassen würde.
Die Repräsentanten der Gemeinde versuchen, eine zu starke Arbeitsbelastung durch die Nebentätigkeit als möglichen Grund für eine Ablehnung auszuschließen, indem sie die Gemeindeverhältnisse schildern, sie verweisen zudem auf die wiederholt öffentlich geäußerte Überzeugung des Ministers, „dass die Grundvesten des Staates in der Religiosität der Staatsbürger wurzeln“, und erinnern schließlich an die besondere Staatstreue in ihren Kreisen: „Die lutherischen Gemeinen unseres geliebten Vaterlandes sind in der jüngst verfloßenen, an Beweisen der Untreue und des Ungehorsams leider so überreichen Zeit nie hinter den treuesten Unterthanen unseres Staates zurückgeblieben.“ Sie stellen diese Handlungsweise explizit als Folge ihrer lutherischen Bekenntnisstellung dar. „Namentlich haben wir, die Breslauer Gemeine, Gott dafür preisen gelernt, daß derselbe uns in dem Bekenntniße unseres allerheiligsten Glaubens auch für dieses Stück des Christen-Berufs einen sicheren Anker gegeben und durch Gnade uns in dem Festhalten an der Treue gegen unsere theure Obrigkeit bewahrt hat.“ Sie heben also ausschließlich auf ihr direktes Verhältnis zum Staat ab und übergehen das kirchli83 che Gegenüber. Nachdem Richter seitens der Kirchenabteilung am 28. November unter Hinweis „auf die feindlichen Verhältnisse, welche gegenwärtig zwischen den separirten Lutheranern und den Lutheranern in der Landeskirche bestehen, und auch die fanatischen Angriffe, welche die letzteren von den ersteren und den ihren Zwecken dienenden theol. Zeitschriften täglich zu erfahren haben“, und auf „das principiis obsta gerade gegenüber dem Bresl. O.Kirchencollegium, das mit allen Mitteln zu gewinnen bemüht ist“, mithin im gleichen Sinne wie früher, geraten hatte, unbe84 dingt bei der getroffenen Entscheidung zu bleiben, antwortet der Minister am 85 3. Dezember abschlägig. Im Sommer des folgenden Jahres reicht Kahnis seine Demission ein, und zwar mit einem undatierten und auch sonst von starker Erregung und großer Verbitte86 rung gekennzeichneten Schreiben. Er fühlt sich in seiner Wirksamkeit so sehr behindert, dass er um Entlassung aus seiner Professur bittet, obwohl er noch auf
83 Zu der Reaktion des Oberkirchenkollegiums in Breslau auf die Märzrevolution 1848 und die folgenden Entwicklungen, die zum Hintergrund dieser Ausführungen gehören, vgl. Klän: Um Kirche und Bekenntnis, 183–188. 84 GStA Kultusministerium, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 32 Bd. 1 (ohne Paginierung) Nr. 25803, Randvermerk auf der ersten Seite des Schreibens der St. Katharinen-Gemeine in und um Breslau. 85 Ebd., (ohne Paginierung) Nr. 25803. 86 Ebd., (ohne Paginierung) Nr. 16578. – Das Schreiben umfasst 3 Seiten.
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der Suche nach einer neuen Stellung ist, seine Zukunft also keineswegs gesichert weiß: Ich erhoffe, daß die Verhandlungen über eine Profeßur der Dogmatik, welche mit mir Seitens einer ausländischen Regierung sind gepflogen worden, bald zu einem für mich erfreulichen Resultate führen werden. Selbst aber wenn dies ausbliebe, bin ich unverrücklich entschlossen, meine gegenwärtige Stellung aufzugeben. Ich richte deswegen an Ew. Excellenz die gehorsame Bitte, mir die Entlaßung aus meinem Amte als außerordentlicher Profeßor der Theologie am Schluß der Vorlesungen dieses Halbjahres ertheilen zu wollen.
Als Begründung äußert er einerseits seine Enttäuschung über die Nichtgenehmigung einer Nebentätigkeit. „Ew. Excellenz haben meine Bitte um Bestätigung der von der hiesigen ev.-lutherischen Gemeinde gewordenen Vokation zum zweiten Prediger abgeschlagen, obwohl ich Grund hatte zu glauben, daß achtungswürdige Stimmen in der hiesigen Fakultät sich dahin ausgesprochen haben.“ Andererseits fühlt er sich inzwischen auch in seinem Recht, dogmatische Vorlesungen zu halten, beeinträchtigt. „Ew. Excellenz haben bei dieser Gelegenheit der Bedeutung der Vorlesungen der außerordentlichen Profeßoren in Schatten gestellt, obwohl ich seit Jahren der einzige Profeßor bin, welcher über Kirchengeschichte liest.“ Er schließt daraus, dass seine gegenwärtige Stellung „zukunftslos“ ist. Am 10. August 1850 nimmt Minister von Ladenberg Kahnis’ (undatierte) Bitte 87 um Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst an, freilich nicht ohne den zweiten von Kahnis angeführten Punkt auch aus seiner Sicht darzustellen. Er sei „weit entfernt gewesen […], die von Ihnen beabsichtigte Vorlesung in Frage, und überhaupt die Bedeutung der Vorlesungen der außerordentlichen Profeßoren in Schatten stellen zu wollen“. Vielmehr habe er auf schonende Weise den zuständigen Ordinarius an seine Pflicht erinnern wollen. Er habe nur „den Wunsch ausgedrückt […], es möge die Vorlesung über Dogmatik, die Sie angekündigt, gleichzeitig auch von einem ordentlichen Profeßor vertreten werden und insbesondere der Profeßor Dr. Hahn, der für das Fach der Dogmatik angestellt sei, endlich wieder den mit seinem Lehramte verbundenen Obliegenheiten nachkommen.“ Diese Antwort zeigt eine Gereiztheit auch aufseiten des Ministers, indem dieser überhaupt eine seiner Maßnahmen nachträglich zu rechtfertigen versucht und dies in der Weise tut, dass er den Generalsuperintendenten und Professor Hahn einer Vernachlässigung seiner Pflichten bezichtigt. Ein recht ungewöhnliches Verhalten. Die Leitung der unierten Landeskirche hatte mit Erfolg den weltlichen Arm dafür instrumentalisiert, ihr Hilfestellung in der Auseinandersetzung mit der lutherischen Bewegung zu leisten. Sie hatte ihre neu gewonnene Freiheit nicht angenommen, sondern weiter staatlichen Druck für angebracht gehalten, um die vom Staat anerkannte kirchliche Gruppierung der Lutheraner in ihrer Entwicklung zu 87 Ebd., (ohne Paginierung) Nr. 16578.
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hemmen, statt eine geistlich-theologische Auseinandersetzung auf eigenem kirchlichen Felde zu führen. 4.1.4 Kritische Begleitung des Weges der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen von Leipzig aus Auch von Leipzig aus bleibt Kahnis der „Evangelisch-Lutherischen Kirche in 88 Preußen“ eng verbunden. In den ersten Jahren seiner Leipziger Zeit stellt er ausdrücklich fest: Ich habe aber bis auf diese Stunde die Sache meiner lutherischen Brüder in Preußen als die meine angesehen und habe jede Gelegenheit wahrgenommen, mich zu ihnen zu bekennen und meine Kräfte, wie gering sie auch sind, ihnen zuzusagen. Ich glaube, daß mir alle Glieder der lutherischen Kirche Preußens, welche auf solche Verhältnisse einzugehen im Stande sind, das Zeugniß geben werden, daß ich im fremden Lande ihrer Sache treu geblieben bin. Und dieß Zeugniß, vor der Welt ohne Schande, ist mir eine Krone der Ehren.89
Und auch Jahre später ist seine Einstellung unverändert. Ende 1861 schreibt er: Ich habe das Verhältniß zu den preußischen Lutheranern aufrechterhalten, obwohl Einzelne es mir sehr schwer gemacht, und habe den Einfluß, den ich auf Einzelne wie Besser gehabt[,] benutzt, um den Geist der Milde und Liebe geltend zu machen. Aber auch in dieser freier gewordenen Stellung halte ich die Union nach wie vor für verwerflich.90
So nimmt Kahnis sowohl 1852 als auch 1856 als Gast an deren Generalsynoden in Breslau teil. 1852 predigt er bei dieser Gelegenheit in einem Abendgottesdienst wieder in der St. Katharinenkirche über Act 24,14 unter dem Thema Bekennen. Auch hier erklärt er: „Obwohl Eurer engern Gemeinschaft nicht mehr angehörig, hoffe ich zu dem HErrn, der mich durch sein Wort zu Euch geführt hat, daß er 91 mich Euch treu erhalten werde.“ Im Bericht über die Synode heißt es: „Seine 88 Vgl. etwa den Vertrieb einer Folio-Lithographie eines von Friedrich Gustav Schick (1804–1869), Maler in Leipzig, geschaffenen Portraits von Kahnis „zum Besten des Lutherischen Kirchenbaus in Berlin“ (ELMB [1853], 72). Und den Vortrag „Die Entstehung der Kirche“ (1867), den er auch wieder „zu Gunsten des Kirchbauvereins zu Berlin am 16. December 1867 gehalten“ hat. Die besondere Verbindung zur lutherischen Gemeinde in Berlin wird auf der Bekanntschaft mit deren Pfarrer Friedrich Lasius beruhen. 89 Die Sache der lutherischen Kirche, 3. 90 Brief vom 9. Dezember 1861, SBB PK Handschriftenabteilung IIIA Nl Hengstenberg, Kahnis 22. 91 Abendbetrachtung während der Generalsynode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preussen, am 30. September 1852 in der St. Katharinen-Kirche zu Breslau gehalten (1852), 9. – „Als ich vor einigen Tagen in diese Räume trat, da begrüßtet Ihr mich mit Blicken der Liebe, die mir zu unvergänglichen Blumen im Kranze meines Lebens geworden sind. Nicht der Vergangenheit verfallen sind Euch jene Stunden, in denen ich Euch das Wort verkündete, einem Diener des Worts zur Seite gestellt, den der Herr nun an die obere Gemeinde abgerufen hat“ (ebd., 5). Heinrich Wedemann war 1851 verstorben.
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Predigt machte einen so tiefen Eindruck auf die Zuhörer, daß ihr Druck verlangt 92 wurde.“ Und der Bericht über die Generalsynode 1856 notiert: „Endlich fühlen wir uns gedrungen, den Hrn. Professoren Lindner jun. und Kahnis aus Leipzig, so wie Herrn Dr. Besser daselbst öffentlich unsern Dank auszusprechen, daß sie unsere Synode besucht und an den Verhandlungen derselben lebhaften und thätigen Anteil genommen haben. Möge der HErr der Kirche ihre Liebe ihnen reichlich 93 lohnen!“ Kahnis wird 1855 Vorsitzender der von Oberkirchenkollegium beauftragten Kommission für die Prüfung der theologischen Kandidaten der EvangelischLutherischen Kirche in Preußen, der außer ihm selbst die Leipziger Professoren Lindner jun. und Hölemann sowie Kondirektor Besser angehören, und er wird in 94 dieser Funktion wiederholt aktiv. Aber auch sein Einsatz für den „Gotteskasten“, der lutherischen Diasporahilfe, die gerade auch den preußischen Lutheranern 95 zugute kommt, zeigt diese Verbundenheit. Besonders hervorzuheben ist, dass Kahnis mit „seiner sehr warmen Empfeh96 lung“ nicht unerheblich dazu beiträgt, dass die Generalsynode 1856 den Beschluss fasst, eine Fürbitte für das Oberkirchenkollegium in das allgemeine Kir97 chengebet aufzunehmen. Mit seiner Begründung, in der er einerseits „das 98 Kirchen-Regiment als Haupt der Kirche“ hinstellt und andererseits eine solche Fürbitte zwar als ein Novum in der Geschichte des Luthertums bezeichnet, sie aber mit dem Argument rechtfertigt, „durch die neueren Führungen Gottes mit Seiner Kirche habe das Kirchen-Regiment […] eine andere centralere, gewichtigere 99 100 Stellung bekommen“ , trägt er zugleich zur Verschärfung des Widerspruchs bei, der sich bald an diesem Beschluss entzündet und zum Bruch innerhalb des Ver92 Kirchenblatt für die evang.-lutherischen Gemeinen Preußen (1852), 247.257. Vgl. den Hinweis auf sein „treffliches Zeugniß“ in: Zusammenstellung der Beschlüsse der […] 1852 gehaltenen GeneralSynode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, 6 (fortlaufende Zählung, 208). 93 Kirchenblatt für die evang.-lutherischen Gemeinden in Preußen (1856, Nr. 20, 15. Oktober), 239. – Allerdings meldete sich auch bereits Kritik an ihm aus diesen Reihen: Diedrich (Klän: Immanuelsynode, 230). – Wilhelm Bruno Lindner (20. März 1814 in Leipzig – 18. Mai 1876 in Leipzig), 1846 ao. Professor für Kirchengeschichte in Leipzig, 1859 Entlassung. 94 Nachrichten. Leipzig den 24. October 1855, SKSB 5 (1855), 589–590; vgl. weiter SKSB 6 (1856), 240. 95 Vgl. die von ihm mit unterschriebenen Aufruf „Gotteskasten“, SKSB 6 (1856), 211f. 96 Bericht über die von der evang.-lutherischen Kirche in Preußen […] 1860 zu Breslau gehaltene General-Synode (1862), 150 (Schreiben von Julius Diedrich vom 20. Januar 1859). 97 Beschlüsse der […] 1856 gehaltenen General-Synode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, 30 (fortlaufende Zählung 296). Die vom Oberkirchenkollegium amtlich erlassene Formulierung vom 2. September 1858: Bericht über die General-Synode 1860, 142. – Vgl. Schöne: Kirche und Kirchenregiment, 166f. 98 Bericht über die General-Synode 1860, 151 (Schreiben von Julius Diedrich vom 20. Januar 1859) 99 Ebd., 147 (Ernst Wolf in seinem Schreiben vom 5. Januar 1859). 100 Das Oberkirchenkollegium wies in einem Zirkularschreiben vom 10. Februar 1848 zurück, dass die Frage der Fürbitte in irgendeiner Weise mit der Kahnis’schen Begründung verquickt sei (Bericht über die General-Synode 1860, 153).
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bandes der preußischen Lutheraner und zur Abspaltung der Immanuelsynode unter der Leitung von Julius Diedrich führt. Kahnis bringt sich in der Folgezeit in diese Auseinandersetzung aktiv ein. Vor allem aber ist er 1861 bei der Berliner Konferenz, die vom 26. September bis 3. Oktober stattfindet, als einer der vom Oberkirchenkollegium in Breslau gebete101 nen Sachverständigen zugegen. Seine Beiträge zu diesem Gespräch haben ihre Eigenart darin, dass sie den Verhandlungsablauf kritisch reflektieren und analysieren; von dieser Metaebene aus versucht Kahnis Konfliktpotential abzubauen, 102 ohne dass ihm dies freilich gelingt. Immer wieder fordert er eine präzise Bestimmung der eigentlichen Differenzen und damit des genauen Verhandlungsge103 104 genstandes ein. Ebenso bittet er um eine angemessene Streitkultur. So versucht Kahnis zunächst, die Debatte auf die Lösung der praktischkirchlichen Fragen zu beschränken und die theologischen Interpretationen auszuklammern, weil das Verhältnis von Heilsordnung und Kirchenordnung überhaupt noch nicht zureichend geklärt sei und die theologischen Kontroversen darüber die 105 grundsätzliche kirchliche Einigkeit nicht beträfen. Dann versucht er wiederholt, Klarheit in den Kirchenbegriff zu bringen, indem er die eine (unsichtbare) Kirche des Leibes Christi und die einzelnen (sichtbaren) Kirchenkörper in ihren unterschiedlichen Organisationsformen begrifflich streng 106 auseinander zu halten rät, wenn beide Größen natürlich auch zusammenhängen. Der Unterschied ist aber kein rein quantitativer, sondern ein kategorialer:
101 Verhandlungen der Commission zur Erörterung der Principien der Kirchen-Verfassung. Vgl. Rengstorf: Die Delitzsch’sche Sache, 56f; Klän: Immanuelsynode, 87–91.255. 102 Auf seinen Vorschlag, wie ein Ergebnis zu erzielen sei (Verhandlungen der Commission zur Erörterung der Principien der Kirchen-Verfassung, 320), geht zwar das Oberkirchenkollegium ein, dagegen die Gegenseite nicht (327–329). 103 Ebd., 101.130.261.327–329.333. 104 Ebd., 318–321.343–345. „Die Aufgabe kann doch nur sein, in dem Streit die Wahrheit zur ermitteln, der Alle gehorchen sollen. Ob sie es thun, ist eine andere Frage. Ich habe Streitschriften geschrieben, nie habe ich aber geglaubt, einen Eindruck auf den Mann zu machen, gegen den ich stritt. Deductionen gleiten vollkommen ab“ (319). „Alle werden Sie mir beistimmen, daß mit keinem Worte mehr Mißbrauch getrieben wird, als mit dem Worte ‚Gewissen’. Es ist eine subjective Ueberzeugung, und damit wird der stärkste Mißbrauch getrieben“ (320). „Meine theuern Brüder, es gehört zur Gewissenhaftigkeit eines Gewissens auch, leiden zu können“ (344). Diedrich habe „den Prozeß mit der Execution angefangen“ (363), und das sei „Revolution“ (ebd.). 105 Ebd., 8.22f.57f.75.78f. „Die Kirche ist zunächst die Gemeinschaft der Gläubigen, und die Heilsordnung ist der Weg, auf welchem die einzelnen Gläubigen zum Glauben kommen und im Glauben erhalten werden. Bei der Heilsordnung handelt es sich um den Einzelnen, bei der Kirchenordnung um die Gemeinschaft der Einzelnen. Dort sind Wort und Sakrament ein Mittel des Heils für den Einzelnen, hier die Faktoren der Kirchengemeinschaft“ (86), deren Ausübung an bestimmte Regeln gebunden sei, wobei die Funktion als solche de jure divino von der formalen Ausgestaltung de jure humano zu unterscheiden sei (86.89). 106 Ebd., 113f.116.122f.139–141. „Wenn die Alten sagen, die Kirche ist synekdochisch die Gemeinschaft der Gläubigen, so sagen sie eben aus, im Subjecte ist eine Zweiheit, eine sichtbare und eine unsichtbare Seite“ (123).
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Gehe ich auf die verfassungsmäßigen Zustände über, so ist die Gemeinschaft der Gläubigen unter Christo ihrem Haupte eine Abstraction, wenn ich absehe von dem Organismus, in dem sie lebt. Dieser ist nur vorhanden in einer Welt einzelner Gemeinden, wie diese einzelnen Gemeinden bestehen. Jetzt bilden sie vier große Kirchenkörper, die griechische, die römische, die lutherische und die reformirte. Nun werden Sie nicht in Abrede stellen, daß die lutherische Kirche, wenn ich den Weg von oben einschlage, ein Complex einzelner Gemeinden ist, die dasselbe lutherische Bekenntniß haben. Nun will ich zugeben – und ich nenne mich Lutheraner –, daß dieses das Bekenntniß der Wahrheit ist. Daraus folgt in keiner Weise, daß dieser Complex, welcher geeinigt ist in einem und demselben Bekenntnisse, die Kirche ist. Das ist unmöglich. Also den Anspruch auf den Namen Kirche in diesem weiteren Sinne kann ich den Reformirten und Römischen nicht absprechen.107
In der Amtsfrage weist er auf die geschichtliche Entwicklung hin, die den vorgegebenen Funktionen erst ihre konkrete Ausformung gegeben hat, nachdem das 108 Apostelamt selbst erloschen war. „Ich bitte dringend, festzuhalten, daß die Reformatoren Predigt des Worts und Verwaltung der Sakramente nicht als Amt, son109 dern als eine Function faßten.“ Abschließend richtet Kahnis einen eindringlichen Appell an die sich selbständig organisierenden preußischen Lutheraner angesichts ihrer kirchengeschichtlichen Sendung: Betrachten Sie den großen herrlichen Beruf, theure Freunde, den Sie haben in der evangelisch-lutherischen Kirche (in Preußen und überhaupt). Ihre Kirche ist die treue Bekenntnißkirche in Kampfe gegen die falsche Union, in der alle falschen Geister der Landeskirchen culminiren. Ihre Kirche ist die freie Kirche, die von keiner weltlichen Macht beherrscht wird. Und was ganz besonders ist, in Ihrer Kirche sind noch Gemeinden, in denen lebendiges Gemeindeleben ist. Sie haben zuerst den Kampf gegen die Union, zweitens vertreten Sie die Freiheit im Staate, drittens stellen Sie ein von lebendigem Glauben beherrschtes Gemeindeleben dar. Ich kann nicht anders sagen, als daß ihre Sache aus Gott ist. Ist sie aus Gott, so wird sie auch bleiben, und der Herr wird sich Ihrer Aller annehmen auch in diesen schweren Streitigkeiten. Der Herr, glaube ich, hat diesen schweren Kampf über Sie verhängt, um ihnen Lehren angedeihen zu lassen. Darf ich es wagen, es auszusprechen? – Sie kranken an Mangel an Autorität. Diese haben die Landeskirchen in höherem Grade. Ich weiß wohl, daß sie oft einen fleischlichen Grund hat. Es kann aber nur gut gehen, wenn mehr Autorität und deshalb mehr Pietät ist. Ich bitte Sie, haben Sie etwas mehr Vertrauen und Liebe zu Ihren Oberen. Darüber, daß Herr Geh.-Rath Huschke Ihnen von Gott gegeben ist, zum Halt Ihrer Gemeinschaft, kann unter allen Kennern und Bekennern der luth. Kirche nur eine Stimme sein. Und jetzt ist von seinen nächsten Brüdern gegen ihn gesprochen worden, daß er sich zum status politicus wenden und sagen muß: Herzog Alba, Ihr seid ein Mann, 107 Ebd., 140. 108 Ebd., 183–185 109 Ebd., 184. Kahnis schließt sich ausdrücklich der Position des Erlanger praktischen Theologen Friedrich Höfling (1802-1853) an (281–283).
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schützt mich vor diesem Priester. Ich bitte, lassen Sie diese Sprache weg. Sie sehen, daß unter denen, die auf einem Bekenntnißgrunde stehen, verschiedene Ansichten walten können. Lernen Sie daraus die Unmöglichkeit kennen, die Einheit der Kirche auf theologische Auslegungen der Bekenntnisse zu stellen. Haben Sie etwas Nachsicht, etwas Raum für verschiedene Meinung, und – wenn ich im Namen meines Br. Delitzsch sprechen darf – haben Sie etwas Achtung vor der Wissenschaft. Sie sehen, wie gerne wir uns an Ihnen stärken. Haben Sie Nachsicht, wenn unsere Wege etwas frei erscheinen. An einer Wissenschaft, die wie ein Pudel apportirt, kann gar nichts liegen. Soll die evangelische Kirche Preußens Zukunft haben, so muß sie freieren Bahnen Raum geben. Wir sollen nicht vergessen, daß wir mehr und mehr hinauskommen sollen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntniß Gottes. Aber, so trübe es auch sieht, meine Hoffnung steht fest, daß der Herr Ihr Licht wird hervorgehen lassen wie die Morgenröthe; Er sei und bleibe bei Ihnen! Ja.110
Für Kahnis ist es wichtig, Bekenntnis und Theologie sorgfältig zu unterscheiden und auseinander zu halten. Die Bindung an das Bekenntnis darf weder die weitere theologische Arbeit einschränken noch bestimmte theologische Interpretationen des Bekenntnisses verpflichtend machen. Die Spannungen, die damals in der sich neu formierenden „Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen“ auftreten, führt Kahnis gerade auf die Nichtbeachtung dieses Unterschiedes zurück. In einem Brief vom 9. Dezember desselben Jahres teilt Kahnis Hengstenberg mit, wie sich ihm die Lage bei den selbständigen preußischen Lutheranern auf der Berliner Konferenz darstellte: Ich habe allerdings aus Berlin den Eindruck mitgenommen rem ad triarios devenisse [die Sache sei zum Äußersten gekommen]. Diejenigen[,] welche, wie ich weiß, in den Stürmen des Jahres 1848[,] wo alle Grundlagen wankten[,] sich an dessen Balken klammerten[,] fühlen nun spitze Dornen in den Händen der Männer, welche für die reine Lehre Alles geopfert, werden nun als Ketzer von ihren nächsten Glaubensgenossen angeklagt. Ich bin fest überzeugt, daß die Mehrheit auf Seiten des Kirchenkollegiums, namentlich Huschke’s ist, will aber nicht verschweigen, daß der Wortlaut der Symbole nicht auf Seiten der Crome-Lohmann’schen Richtung ist.111 110 Ebd., 379f. In seinem „Zeugniß von den Grundwahrheiten“ weist Kahnis zweimal ausdrücklich auf diese Wortmeldung zurück: „Während ich mich von der Welt habe ausschelten lassen als starrer und in’s Alte verrannter Orthodoxer, habe ich gegenüber den preußischen Lutheranern immer den Standpunkt der Milde und Weite vertreten, und meine letzten Worte auf der Berliner Konferenz von vorigem Herbste an die Lutheraner waren Aufforderung zum Frieden“ (24; und 133 mit Hinweis auf den „Pudel“; vgl. auch Blanckmeister: Sächsische Kirchengeschichte, 437). Moritz Meurer nimmt diesen Vergleich in der Weise auf, dass er im Blick auf den Pudel in Goethes Faust nun auch umgekehrt davor warnt, dass der „Pudel“ der theologischen Wissenschaft sich als „Geist, der stets verneint,“ gebärde (SKSB 12, 1862, 164). – Die Anspielung auf Herzog Alba ist ein Zitat aus Schillers Drama „Don Carlos“: „Ihr seid ein Mann. Schützt mich vor diesem Priester“ (3. Akt, 4. Auftritt). 111 SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 22. – Karl Petrus Theodor Crome (22. Juli 1821 in Einbeck – 16. August 1874 in Kiel), bedeutender Hymnologe, Herausgeber des Christlichen Kirchen- und
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Zwei Grundgefahren, die nach Kahnis der lutherischen Reformation von Anfang an anhaften, sieht er auch in diesem aktuellen Fall wieder gegeben, nämlich 112 Subjektivität und Doktrinalismus. Subjektivität. Wie es eine Unmöglichkeit ist, den rechtfertigenden Glauben von dem lebendigen Inhalt zu trennen, so ist es auch eine Unmöglichkeit, eine Gemeinschaft der Gläubigen sich zu denken ohne das Haupt Jesum Christum und der Seele mit dem Leibe des Heiligen Geistes. Der heilige Geist aber erzeugt und eint die Gläubigen durch Wort und Sakrament, welche nicht in der Luft hängen, sondern einen Organismus voraussetzen. Das ist die Position, auf welcher Huschke steht. Und mit Recht. Diesen Hartköpfen war ja gar nicht beizubringen, daß zum Begriff der Kirche auch Wort und Sakrament gehören. Sie ist ihnen nur die Gemeinschaft der Gläubigen. Nur mit der größten Mühe gewann ich sie zur Anerkennung, daß diese Gemeinschaft nicht ohne eine äußere, Gläubige und Ungläubige umschließende Gemeinschaft sei, welche, wenn sie auch nicht das Wesen sei, doch zum Begriffe der Kirche gehöre. Sie dachten sich das Verhältniß der unsichtbaren und der sichtbaren Kirche wie das eines goldenen Ringes zu einer Schachtel.113
Das Bekenntnis ist auf die geschichtliche, irdisch-geistliche Wirklichkeit von Kirche bezogen. Und daneben: Doktrinalismus. Was die Kirche eint, ist Christus das Haupt und der heilige Geist, welcher aber nur durch Wort und Sakrament die Kirche leitet. Das Wort aber ist nicht bloß das Schriftwort, sondern auch das bekannte und bezeugte. Es ist der Fehler der deutschen Reformation von Anfang gewesen, das Einende zu sehr in die Lehre gesetzt zu haben. Ich und Delitzsch sind mit der Überzeugung, die wir freilich schon vorher sahen, gestärkt gefunden, daß die reine Lehre, wenn sie isolirt wird, nicht eint, sondern trennt.“114
Auch die Lehre ist auf diese Wirklichkeit von Kirche bezogen. In diesem Sinne, dass es keine abgeschlossene, alle jemals aufbrechenden Fragen lösende reine Lehre gibt, äußert Kahnis sich auch öffentlich kritisch gegenüber den Lutheranern, deren Weg er doch grundsätzlich teilt: Jede bedeutende theologische Frage stellte sogleich die ganze Kirche in Frage. Wer die Streitigkeiten des 16. Jahrhunderts kennt, weiß daß ich nicht zu viel sage. Ganz dieselbe Erscheinung haben wir jetzt im Lager der preußischen Lutheraner. Einige Kontroverspunkte von nichts weniger als centraler Bedeutung haben diese Kirche in zwei Lager getheilt, die nun schon angefangen haben nicht bloß sich zu trennen, Haus-Gesangbuch für evangelisch-lutherischen Gemeinen, damals Pastor in Radevormwald, und Rudolf Lohmann (28. Dezember 1825 in Winsen/Aller – 15. Dezember 1879 in Gröbersdorf/Schlesien), damals Pastor in Fürstenwalde, gehörten zu den Vertretern der Gegenseite. 112 Zu diesem Begriffspaar vgl. Zeugniß von den Grundwahrheiten, 44–52; Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien, 42f. Vgl. aber auch die Anwendung dieses Begriffspaares auf die Zeit des nachexilischen Judentums: Dogmatik I (1861), 316–319. 113 SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 22. 114 Ebd.
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sondern sich womöglich aufzureiben. Die reine Lehre, wenn sie in dieser Weise zum alleinigen Einheitspunkte gemacht wird, eint nicht sondern trennt. Diese Wahrheit wird man, wenn man sich nicht sagen läßt, noch spüren. Das ist der Grundschaden des Lutherthums, daß es von Anfang an zu sehr Theologenkirche 115 gewesen ist.
Trotz intensiver Bemühungen kann damals eine Einigung in der Auffassung, welcher theologische Rang der übergemeindlichen Kirchenstruktur zukommt, nicht erreicht werden. Vielmehr erfolgt der Bruch, als sich 1864 eine Reihe von Pastoren und Gemeinden vom Breslauer Oberkirchenkollegium lossagen und zur „evangelisch-lutherischen Immanuelsynode“ zusammenschließen. Das Oberkirchenkolle116 gium lässt daraufhin eine „Öffentliche Erklärung“ an die Gemeinden ergehen. Auch zu diesem Vorgang äußert Kahnis seine Meinung, und zwar in seinem Reformationsprogramm zum Ende seines Rektorats an der Universität Leipzig „Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien“ 1865: In dem Kampfe, der neuerdings im Lager der preussischen Lutheraner so heftig entbrannt ist, ist ein Hauptmoment des Gegensatzes, dass die eine Richtung welche in Diedrich ihr Haupt hat, die altlutherische Unterscheidung (sc. der unsichtbaren und der sichtbaren Kirche) in ihrem ganzen Dualismus festhält, während die andere, um Huschke gesammelte, deren Vertheidiger consequenter Weise Münchmeyer ist, das Streben hat, den Organismus der Kirche dem Wesen derselben näher zu rücken. Dieses Streben ist ein nicht nur berechtigtes, sondern ein gefordertes, nur dass es offen sich als Fortschritt bekennen sollte. Es ist dies einer von den Punkten, in denen die Nothwendigkeit einer Fortbildung der traditionellen Lehre ganz klar vorliegt. Darin beweist sich aber eben der wahre Lutheraner, dass er den Fortschritt nicht als Bruch, sondern als Entwickelung des Gegebenen fasst. 117
Das Recht dieser Forderung von Kahnis bestätigt sich, wenn man beachtet, dass 118 Huschke und August Friedrich Otto Münchmeyer (1807–1882) von im Wesentlichen gleichen theologischen Positionen aus ganz unterschiedliche kirchenpolitische Konsequenzen ziehen. Während Huschke die selbständige Form der Kirche 115 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 51. Der eigentliche Wortführer dieser Bewegung, Julius Diedrich, hatte sich bereits im Januar mit seinen Gemeinden aus dem Breslauer Synodalverband gelöst; vgl. Klän: Immanuelsynode, 74–82. 116 Oeffentliche Erklärung wegen der streitigen Lehren von der Kirche, dem Kirchenregiment und den Kirchenordnungen (1864). 117 Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien (1865), 55. Textgleich ist dieses Reformationsprogramm auch unter dem Titel: Ueber die Principien des Protestantismus (1865) erschienen. Kahnis bezieht sich allein auf Huschke: Die streitigen Lehren von der Kirche, dem Kirchenamt, dem Kirchenregiment und den Kirchenordnungen (1863), und auf Münchmeyer: Huschke und Mejer oder wie fassen beide die Fragen vom Kirchenregiment und wem ist Recht zu geben? (1864). Indem Kahnis sich zur Position von Huschke und Münchmeyer bekennt, stellt er sich auf die Seite seines Freundes Besser. – Rocholl (Geschichte, 511) verweist auf diese Stellungnahme Kahnis’. 118 August Friedrich Otto Münchmeyer (8. Dezember 1807 in Hannover – 7. November 1882 in Buer bei Melle), 1840 Pastor in Lamspringe bei Hildesheim, 1851 Superintendent in Katlenburg, 1855 Konsistorialrat in Buer bei Melle im Fürstentum Osnabrück, 1881 emeritiert.
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vertritt, plädiert Münchmeyer gegen eine Synodalverfassung für einen landesherrlichen Summepiskopat, den er durch eine strikte Trennung zwischen weltlicher 119 und geistlicher Macht für die Zukunft retten möchte. In diese Frage sind also in theologischer Verantwortung gesellschaftspolitische Entscheidungen zu treffen. Kahnis verbindet seine eindeutige Stellungnahme mit einer kritischen Analyse des Konflikts: Die Ueberzeugung, dass der Kirche nur der Bestand einzelner Gemeinden wesentlich ist, nicht ein so oder so organisirter Verfassungsverband, enthält den Schlüssel der Stellung, die im Lager der preussischen Lutheraner die an Diedrich sich anschliessende Richtung einnimmt. Ohne den Zusammenschluss einzelner Gemeinden zu freien Synoden auszuschliessen, verwirft sie mit dem grössten Nachdruck mit der Nothwendigkeit eines gesetzlich geregelten Synodalverbandes die Nothwendigkeit eines auf eine Gesammtheit von Gemeinden sich beziehenden Amtes der Kirchenleitung. Nur Ein Amt gebe es von göttlicher Nothwendigkeit, nämlich das Amt des Wortes und der Sacramente, um das sich die Einzelgemeinde sammle. Diese Ueberzeugung nun könnte sie haben, ohne das geschichtlich berechtigte Band der Gemeinschaft mit den unter Leitung des Oberkirchencollegiums stehenden Gemeinden aufzugeben, oder vielmehr gewaltsam zu zerreissen, zum grossen Nachtheil der lutherischen Sache in Preussen. Das Schlimme ist nun freilich, dass die massgebenden Persönlichkeiten der geschichtlich berechtigten Richtung mit einer tieferen Einsicht in das Wesen der Kirche, wie wir sie oben anerkannt haben, die Doctrin von der göttlichen Nothwendigkeit eines so oder so gestalteten Kirchenregimentes verbinden, wofür sich aus Schrift und Symbol kein Beweis führen lässt. Es ist, so sagen wir zu der einen Richtung, durchaus nicht geboten, dass die einzelnen lutherischen Gemeinden in Preussen einen verfassungsmässigen Organismus bilden. Aber, so sagen wir zu der anderen, es ist euch geboten[,] fleissig zu halten die Einheit im Geiste durch das Band des Friedens [Eph 4,3]. Es giebt in der Kirche neben dem göttlichen Recht noch ein geschichtliches, welches ein wahrer Christ nur dann zerreissen darf, wenn Gottes Wort es fordert. Dies ist aber hier nicht der Fall, da, soviel wir wissen, jene Doctrin nicht die öffentliche Lehre der geschichtlich berechtigten Kirchengemeinschaft ist.120
119 „Wir wünschen vielmehr das fürstliche Kirchenregiment selbst zu erhalten“ (Huschke und Mejer, 142). „Das sind aber schwerlich die rechten Hände, wenn das Kirchenregiment, wenigstens ein Theil desselben, einer Synode vertrauet wird, bei der nicht auf jede Menschen mögliche Art dafür gesorgt ist, daß sie nur aus solchen Gliedern bestehe, die treu am Bekenntniß der Schrift und Kirche festhalten. Noch haben unsre Fürsten unwidersprochen das volle Kirchenregiment in Händen“ (ebd., 143). Doch gerade diese Voraussetzung sollte schnell mehr und mehr dahinfallen. Und fraglich musste schon damals sein, ob tatsächlich alle Fürsten ihrerseits die für Synodale eingeforderte Bedingung erfüllten, die feste Bekenntnisstellung. 120 Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien, 60. – Das Oberkirchenkollegium der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen hatte zwar im Auftrag der Generalsynode die „Oeffentliche Erklärung“ herausgegeben; diese Erklärung wurde jedoch von der Generalsynode nicht zum Lehrdokument erhoben: Beschlüsse der General-Synoden der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen (1864), 379f; (1868), 434f, (1878), 552–557; (1898), 908.
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Diedrich, der sich in demselben Jahr wie Kahnis den preußischen Lutheranern unter dem Oberkirchenkollegium in Breslau angeschlossen hatte und jetzt die Abspaltung anführt, reagiert äußerst scharf auf die Stellungnahme Kahnis’ mit dem Traktat „Gegen die Kahnis’schen Prinzipien“. Darin geht er besonders ausführlich auf das dritte Prinzip, das Kirchenprinzip, ein. Während für Kahnis die einzelne Gemeinde „nicht eine unsichtbare Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen in derselben [ist], sondern die Gemeinde, etwa in Corinth, nach ihrer unsichtbaren und sichtbaren Seite, nach ihrem innern Glaubensleben und nach ihrem Bekenntniss, ihrer Verfassung, ihrem Kultus“ und das für ihn entsprechend auch für die 121 Kirche als ganze gilt, macht für Diedrich allein die innere Gemeinschaft des Glaubens das Wesen der Kirche aus. Die äußere Gesellschaft der Kirche, die Kahnis zum Gegenstand ihrer kirchengeschichtlichen Existenz macht, hat für Diedrich keinerlei theologische Relevanz; er hält sie für nichts anderes als „Staub, 122 Spinnenweben und dergleichen“ an einem wertvollen Gegenstand: Allerdings fordert auch er ein sich separierendes Bekennen, mit dem die Gläubigen sich im Leben bewähren, als auch eine staatliche Anerkennung für die einzelnen Gemeinden. Dem polemischen Ton, der hier angeschlagenen wird, entspricht es, dass 123 Kahnis keine Antwort gibt. Immer erneute Hinweise auf den Kirchenkampf der Lutheraner in Preußen, die Kahnis’ literarisches Schaffen durchziehen, zeugen davon, wie er bei aller kri124 tischen Distanz sich selbst mit ihrer Sache persönlich identifiziert. Das unter125 streicht auch sein Einsatz für die um Pastor Karl Eichhorn (1810–1890) geschar126 ten bedrängten Lutheraner in Baden. 121 Ueber die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien, 50. Gerade dieser Punkt ist freilich keine Besonderheit bei Kahnis, sondern entspricht bis in die Terminologie dem programmatischen Ansatz der selbständigen Kirchenbildung der preußischen Lutheraner. Schon in dem „Ganz gehorsamsten Promemoria. Die Bedingungen betreffend, unter denen der evangelischlutherischen Kirche im preußischen Staate gesetzliche Anerkennung werden soll, Breslau am 15. August 1841“ heißt es: „Anerkennung der evangelisch-lutherischen Kirche in den Königl. Preußischen Staaten auf Grund ihrer bekannten Confessionsschriften als einer in Gottesdienst und Verfassung selbstständigen und eigenthümlichen Kirche“ (Beschlüsse der von der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen im September und October 1841 zu Breslau gehaltenen Generalsynode, 97–103, dort 98). Diedrich reagiert entsprechend allergisch. 122 Diedrich: Gegen die Kahnis’schen Principien, 17. 123 Vgl. Winter: Kahnis, 56. 124 Der innere Gang (1854), 214–217 (= 21860, 200–203); Die Union (1868), 106–109; Christenthum und Lutherthum (1871), 325–330; Der innere Gang II (31874), 195–199. 125 Karl Eichhorn (11. Juni 1810 in Kembach – 8. Februar 1890 durch Unfall auf dem Weg zwischen Mehlen und Züschen in Waldeck), 1835 Pfarrer in Bofsheim, 1847 in Nußloch bei Heidelberg, 3. November 1850 Austritt aus der badischen Union, 1851 Gründung einer lutherischen Gemeinde in Ihringen am Kaiserstuhl, Gefängnisstrafen und Verbannung, 1857 Anschluss an das Oberkirchenkollegium in Breslau, 1867 Pastor der altlutherischen Parochie in Korbach. 126 Petition an das K. Ministerium des Cultus u. d. U., SKSB 3 (1853), 288f, mit einer Nachbemerkung von Kahnis als Herausgeber, ebd., 289; Aus einem Brief des Pastor Eichhorn an den Herausgeber, ebd., 401f; Die Sache der lutherischen Kirche, 7f. Dazu vgl. Brunn: Union oder Separation?, 117–133.
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Als ein Zeichen seiner bleibenden Verbundenheit mit den preußischen Lutheranern ist gewiss auch zu werten, dass Kahnis mit Delitzsch zusammen aus gege127 benem Anlass am 20. März 1874 Professor Guericke in Halle aufsucht. Rudolf Rocholl berichtet darüber in seinen Lebenserinnerungen: Im Frühling hatten wir den lieben, alten Dr. Guericke in Halle gefeiert. Kahnis und Delitzsch kamen herüber. Der Verfasser überreichte eine Adresse. Die Fakultät von Halle im Amtskleid erschien. Der Kurator der Universität war zugegen. Es war das fünfzigjährige Doktorjubiläum eines Veteranen der Kirche. Es war Abendrot auf ein absterbendes Leben. Und auf eine absterbende Anschauung vom Wesen der Kirche. Es war die des Spiritualismus, welche den Wert des Regiments für die Kirche also nicht würdigt. Guericke, mein ältester Gönner, vertrat sie mit Überzeugungstreue.128
4.2 Kahnis’ Kritik der Union Kahnis Ablehnung gilt der Union, wie sie in Preußen seit 1817 betrieben und 1830 grundsätzlich verwirklicht worden war. Allerdings unterlag diese einer sehr bewegten weiteren Geschichte und stellte damit keine feste, sondern eine sich ständig wandelnde Größe dar. Entsprechend boten die sich verändernden Situationen immer neuen Diskussionsstoff für die theologische Auseinandersetzung. Eine wichtige Rolle spielten dabei die kirchenpolitischen Entwicklungen, die den Problemhorizont im Laufe der Jahre erheblich modifizierten. 4.2.1 Kahnis’ Argumentation gegen die preußische Union Schon im April 1848 macht Kahnis, ehe er sich dann im November der lutherischen Kirche anschließt, seine Kritik an der Union vor einem breiteren Publikum öffentlich. Grundsätzlich hält er zu dieser Zeit noch an der Entwicklung fest, die für die Kirche durch die Konstantinische Wende eingetreten war, d.h. einer engen Kooperation zwischen Kirche und Staat. Nicht eine staatsunabhängige Organisation der Kirche, wie sie bei den preußischen Lutheranern ja zwangsläufig durchgeführt war, hält er für erstrebenswert, sondern ein Verhältnis, in dem beide Seiten 129 ihre spezifischen Aufgaben wahrnehmen. Seiner unionskritischen Sicht gibt er 127 Auf Guericke bezieht sich Kahnis’ Äußerung: „während ein lutherischer Theologe von anerkannter Gelehrsamkeit und seltenem schriftstellerischen Erfolge über ein Vierteljahrhundert vor Anker liegt“ (Die Sache der lutherischen Kirche, 53). 128 Rocholl: Einsame Wege I, 358. –Bei dieser Gelegenheit wurde Guericke das Komturkreuz des schwedischen Nordstern-Ordens verliehen; Delitzsch war Guericke besonders verbunden, besonders als Mitherausgeber der „Zeitschrift für die gesammte lutherische Theologie und Kirche“ (seit 1864) und hielt auch den Nachruf anlässlich der Bestattung; vgl. Engelbrecht: Guericke, 34. 129 Kahnis hält also noch an seiner schon früher geäußerten Position fest: „Das Kreuz, bis auf Konstantin das Zeichen der Schmach und des Todes, wird nun zum Siegeszeichen. Dieser Bund der Kir-
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praktischen Ausdruck durch seinen Einsatz für die Organisation der Lutheraner innerhalb der staatskirchlich organisierten Union. Bei dieser grundsätzlichen Bejahung der Idee eines christlichen Staates benennt er jedoch in einer Reihe von „bedenklichen Consequenzen“ als letzte die: „Eine traurige Frucht endlich einer unglücklichen Ehe der Kirche mit dem Staate 130 ist die Union.“ Er moniert, dass dieser die erforderliche Eindeutigkeit fehle: „Das Wesen der Union ist, daß eben kein Mensch weiß, was sie ist, die beste Apologie derselben ist die Versicherung, daß sie eigentlich nicht existiere. Aber in dieser 131 Nebulosität liegt ihre Kraft.“ Den Grund dieser Unklarheit findet er darin, dass das einigende Bekenntnis durch die territorialkirchliche Beschränkung auf einen begrenzten politischen Raum und damit durch ein der Kirche fremdes Element ersetzt ist: „Der Einheitspunkt der unirten Landeskirche liegt nicht in dem Bekenntnisse, sondern in dem 132 landeskirchlichen Organismus, der von dem Staate gegeben ist.“ Damit sieht er das Bekenntnis zur Einheit der Kirche verletzt. „Ein Bekenntniß ohne kirchlichen Organismus ist eine Wahrheit ohne Wirklichkeit, ein kirchlicher Organismus ohne 133 Bekenntniß eine Wirklichkeit ohne Wahrheit.“ Damit ist bereits hier der entscheidende Punkt genannt, den Kahnis dann immer wieder in seiner Kritik der Union geltend macht. Kahnis bezieht sich bei dieser Lagebeschreibung auf die „unglückliche Gene134 ral-Synode“ von 1846 , die durchaus die Überzeugung ausgesprochen hatte, „daß die evangelische Kirchenvereinigung allerdings nicht durch eine bloße Confirmirung des Kultus oder der Verfassung vollzogen werden könne, sondern daß es che mit dem Staate muß als ein Fortschritt angesehen werden. Die Kirche, wenn sie dem Kaiser geben will, was des Kaisers ist, und nicht den Kampf auf Tod und Leben übernehmen, muß dem Staate das Recht einräumen, über ihre rechtliche Existenz zu erkennen. Dieses Verhältniß aber inniger zu gestalten, hat die Kirche selbst eine innere Nöthigung nach ihren beiden Momenten. Sie ist nach dem einen Erziehungsanstalt der Völker zum Heile. Daß der Same des Wortes auf jeden Boden falle, muß sie streben. Ein Wort aber, das im natürlichen Menschen kein Zeugniß hat, kann nicht wie eine Sache des Tages der öffentlichen Meinung vertrauen. Es muß den Menschen erst erziehen, ehe es von ihm Zeugniß nehmen kann. Die Erziehung ist Sache des Staates. Die Kirche muß es dringend wünschen, daß der Glaube auf den Wegen der Erziehung an den Menschen komme. Solches kann nur in einem Staate geschehen, welcher seine sittlichen Zwecke an das Christenthum knüpft. In einem christlichen Staate tritt aus allen sittlichen Kreisen die Predigt des Wortes dem Menschen entgegen. Nach ihrem zweiten Momente ist die Kirche an eine Beziehung zu Wissenschaft, Staat, Kunst gewiesen. Sie hat ein Recht, an diesen Gestalten menschlichen Lebens ihr Leben in Lehre, Verfassung, Kultus zu bereichern, aber auch die Pflicht, gleich einem Sauerteige diese Lebenskreise mit christlichen Elementen zu durchdringen. Es versteht sich, daß dem Staate sein eigenthümliches Lebensgebiet bleibt. Es ist nur von einer Aufnahme christlicher Motive die Rede“ (Die Lehre vom heiligen Geiste, 172f). 130 Deutschland und die Revolution, EKZ 1848, 289–293.297–307, dort 306. 131 Ebd., 306. 132 Ebd., 306. 133 Ebd., 307. 134 Ebd., 306. – Zu den Vorgängen vgl. Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union I, 350– 361.364 (Wilhelm H. Neuser).
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dazu vornehmlich einer bestimmten Glaubens- und Bekenntnisgrundlage bedür135 fe“. Entsprechend hatte sie eine Grundsatzerklärung, eine Ordinationsverpflichtung und Möglichkeiten einer Bekenntnisverpflichtung bei der Vokation beschlossen. Auf die Geltung der traditionellen kirchlichen Bekenntnisse als „Zeugnisse von den Grundthatsachen und Grundwahrheiten des Heils und Vorbilder gesun136 der Lehre“ wurde auf diese Weise zwar ausdrücklich hingewiesen, als eigentliche Norm aber wurde der „evangelische Gemeindeglauben“ bezeichnet. Allerdings versagte Friedrich Wilhelm IV. diesen Beschlüssen, die der Union eine theologi137 sche Grundlage gegeben hätten, seine Bestätigung. So blieb es bei dem Ordinationsformular von 1829, und die Frage der Lehreinheit innerhalb der Union blieb offen. Der „unglücklichen General-Synode“ steht in Kahnis’ Wahrnehmung die tief beeindruckende Breslauer Generalsynode vom 20. September und 11. Oktober 138 1848 gegenüber, die kurz nach der lutherischen Konferenz in Leipzig am 30. und 31. August stattfand und als Gäste Professor Adolph Harleß aus Leipzig und 139 140 Pfarrer Wilhelm Löhe (1808–1872) aus Neuendettelsau in ihrer Mitte hatte. Sie 141 vermittelte den Eindruck, dass „wenigstens im Anbruch erfüllt“ sei , was bereits 1841 als Zielvorstellung formuliert worden war, nämlich „das Band der Bekenntnißeinheit“ mit den lutherischen Kirchen anderer Länder „auch äußerlich fester“ 142 zu knüpfen. Die Synode eröffnete aus gegebenem Anlass auch Gemeinden außerhalb Preußens die Möglichkeit, sich ihrem Verband anzuschließen. Der tages135 Verhandlungen der evangelischen General-Synode zu Berlin vom 2. Juni bis zum 29. August 1846, Berlin 1846, II. Abt., 100. (zitiert nach Neuser, 352f). 136 Verhandlungen 1846, 368f (zitiert nach Neuser, 357). 137 Was 1846 misslang, die behauptete Gemeinschaft im Glauben auch zu formulieren, gelang erst 1973 – dann freilich auf sowohl geographisch als auch konfessionell breiterer Basis – mit der „Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leubenberger Konkordie)“: „Die dieser Konkordie zustimmenden lutherischen, reformierten und aus ihnen hervorgegangenen unierten Kirchen sowie die ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder stellen aufgrund ihrer Lehrgespräche unter sich das gemeinsame Verständnis des Evangeliums fest, wie es nachstehend ausgeführt wird. Dieses ermöglicht ihnen, Kirchengemeinschaft zu erklären und zu verwirklichen“ (§ 1). 138 Vgl. Winter: Kahnis, 28f. 139 Johann Konrad Wilhelm Löhe (21. Februar 1808 in Fürth – 2. Januar 1872 in Neuendettelsau), 1837 Pfarrer in Neuendettelsau, Erneuerer lutherischer Kirchlichkeit, Begründer des dortigen Diakonissen-Mutterhauses, Förderer der Missions- und Diasporaarbeit in Nordamerika. 140 „Insbesondere werden die Tage der Anwesenheit des Professor Dr. Harleß aus Leipzig und des Pfarrer Löhe aus Baiern, als Tage der Erquickung vom Herrn durch die Gemeinschaft mit reich begabten Brüdern allen Theilnehmern der Synode unvergeßlich bleiben. Aber auch mehrere lutherisch-gesinnte Geistliche und Laien aus der Landeskirche verpflichteten uns durch das brüderliche Vertrauen, mit dem sie unserer Einladung gefolgt waren, zu herzlicher Dankbarkeit“ (Beschlüsse der evangelisch-lutherischen Generalsynode zu Breslau [1848], 146). 141 Ebd., 145. 142 Instruction für das Ober-Kirchen-Collegium der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen § 61, in: Beschlüsse der von der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen 1841 gehaltenen Generalsynode, 8–34, dort 31.
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politische Hintergrund darf dabei nicht übersehen werden. Kahnis erinnert sich später: „Auf der Generalsynode der Lutheraner von 1848, in jenen schrecklichen Septembertagen, wo das Geheimniß der Bosheit mehr und mehr sich enthüllte, da ist wörtlich Tag und Nacht kein Schweigen gewesen der Gebete für das Königs Heil. Und ich glaube, daß die Gebete, die damals aufgestiegen sind, niedergekehrt sind vom Himmel als helfende Engel beim Umschwung der Dinge, der bald genug 143 eintrat.“ In seiner Abendmahlsschrift von 1851 heißt es dann wieder: Der Gedanke der preußischen Union ist, Lutheraner und Reformirte mit Umgehung der Bekenntnißunterschiede zu einem landeskirchlichen Organismus zu verbinden. So entstand eine Kirchengemeinschaft, in der das, was die lutherische Kirche stets als untergeordnet betrachtet und den Sonderverhältnissen anheimgestellt hat, nämlich Organisation in Verfassung Kultus, zum Einigungsgrund gemacht ist, das Bekenntniß aber, worin nach Art. VII. der augsburgschen Konfession die Einheit der Kirche ruhen soll, zum Unwesentlichen und Individuellen. Das Abendmahl soll der Ausdruck der Kirchengemeinschaft sein. In der That ward der Altar die Stätte, auf welche die Union zur Bekümmerniß vieler Seelen ihre Bekenntnißlosigkeit und Unwahrheit niederlegte.144
4.2.2 Auseinandersetzung mit Karl Immanuel Nitzsch Bedeutsam ist, dass Kahnis die Unionsfrage in den theologischen Disput nach145 drücklicher erst einbringt, als er bereits im Raum einer von der Union nicht direkt betroffenen Kirche lebt. Die Frage hatte sich für ihn also keineswegs damit erledigt, dass er seinen Wirkungskreis von Breslau nach Leipzig verlegt hatte. Vielmehr sieht er sich einer Problematik gegenüber, die unbedingt eine grundsätzliche theologische Auseinandersetzung erfordert und das Luthertum als ganzes zur Stellungnahme herausfordert. Den Anstoß bietet die neue Situation, die sich durch die Kabinettsordre vom 6. März 1852 ergibt, mit der die konfessionellen Unterschiede innerhalb der Union eine stärkere Würdigung erfahren. Die Mitglieder des „Evangelischen Oberkirchenrats“ (EOK) sollen sich nach Konfessionszugehörigkeit positionieren; eine itio in partes wird vorgesehen: Wenn „eine vorliegende Angelegenheit der Art ist, daß die Entscheidung nur aus einem der beiden Bekenntnisse geschöpft werden kann, so soll die konfessionelle Vorfrage nicht nach den Stimmen sämtlicher Mitglieder, sondern allein nach den Stimmen der Mitglieder des betreffendes Bekenntnisses entschieden werden, und diese Entscheidung dem Gesamtbeschluß des Kollegi-
143 Die Sache der lutherischen Kirche, 62f. 144 Die Lehre vom Abendmahle, 425. 145 Zu seinem Schweigen in den ersten Jahren nach seinem Anschluss an die lutherische Kirche Preußens vgl. seine eigene Stellungnahme: Die Sache der lutherischen Kirche, 5.
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ums als Grundlage dienen“. Dies bringt gerade Karl Immanuel Nitzsch als konsequenten Vertreter der Union, der sich nicht einer der beiden Konfessionen zuordnen will, dazu, seine Position mit besonderem Nachdruck zu vertreten. Er erreicht, seinen Platz im evangelischen Oberkirchenrat als Unierter zu behalten, ohne sich lutherisch oder reformiert zu positionieren; andere Gleichgesinnte 147 schließen sich ihm an. Er gibt zudem ein Urkundenbuch der Union heraus, in das er auch die 21 Lehrartikel der Augsburgischen Konfession aufnimmt und 148 diese damit für die Union reklamiert. Mit den Gesinnungsgenossen August Ne149 150 ander (1789–1850) und Julius Müller (1801–1878) lässt er zur Propagierung seiner Position in diesen Jahren (1850–1861) die „Deutsche Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben (DZCW)“ herausgehen. Die Hoffnungen oder Befürchtungen, die sich mit einer möglichen Kehrtwendung in der Unionspolitik verbinden, werden allerdings gegenstandslos, als Friedrich Wilhelm IV. sich in einer weiteren Kabinettsordre vom 12. Juli 1853 gegen „unzulässige Deutungen“ seiner Regelung des Vorjahres verwehrt, wenn man daraus eine Schwächung 151 der Union abgelesen wolle. Kahnis greift diese Vorgänge, veranlasst durch Angriffe der DZCW auf die lu152 therische Seite innerhalb der preußischen Union, 1853 in einem Vortrag vor der Leipziger Konferenz auf und setzt sich kritisch mit den Versuchen auseinander, der Union ein eigenes theologisches Profil zu geben, das er als „moderne Unions-
146 Kirchenunionen im 19. Jahrhundert (1967), 41f, Zitat dort 42. 147 Vgl. Kahnis: Die moderne Unionsdoktrin, Separatdruck, 17; Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union II, 35–37 (Wilhelm H. Neuser). 148 Urkundenbuch der Evangelischen Union mit Erläuterungen (1853), 12–45; der zweite Teil der Augsburger Konfession, der in den Artikeln 22 bis 28 über abgeschaffte Missbräuche handelt, wird nicht mit aufgenommen. – Vgl. dazu die Replik von Kahnis: „Diejenigen, welche jetzt den deutschen Protestantismus auf Melanchthon stellen wollen, vergessen, daß wenn er allein gewaltet hätte es jetzt keinen deutschen Protestantismus gäbe. In seinen Unionsbestrebungen bedachte Melanchthon nicht, daß wenn die Reformation zu Gunsten unionistischer Ausgleichung der Gegensätze den Grundsatz verließ: Melius est ut scandalum fiat quam ut veritas relinquatur, sie über sich selbst das Todesurtheil aussprach“ (Rede zum Gedächtniß Melanchthon’s [1860], 34f). 149 August Johann Wilhelm Neander (17. Januar 1789 als David Mendel in Göttingen – 14. Juli 1850 in Berlin), jüdischer Abstammung, 1806 in Hamburg getauft, 1812 ao. Professor in Heidelberg, 1813 o. Professor für Kirchengeschichte in Berlin. 150 Julius Müller (10. April 1801 in Brieg – 27. September 1878 in Halle), 1834 ao. Professor in Göttingen, im selben Jahr o. Professor in Marburg, 1839 in Halle. 151 Kirchenunionen im 19. Jahrhundert, 42f, Zitat dort 43. Vgl. die Dokumentation bei Kahnis: Die moderne Unionsdoktrin, Separatdruck, 15f. – Vgl. weiter Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union II, 38f (Wilhelm H. Neuser), Nachtigall: Auseinandersetzungen. 152 Kahnis bezieht sich auf Nitzsch: Vorwort, 12, wo dieser sich mit der Konferenz der Lutherischen Kirchenvereine Ende September 1852 in Wittenberg auseinandersetzt, und auf Müller: Verwahrung der Ansprüche der Union in der evangelischen Landeskirche Preußens gegen Dr. Hengstenberg, wobei es um die Bewertung der Kabinettsordre von 1852 geht (Die moderne Unionsdoktrin [Separatdruck], 19–21; Die Sache der lutherischen Kirche, 95).
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doktrin“ charakterisiert. Seine Ausführungen konzentrieren sich dementsprechend ganz auf die Bekenntnisfrage. „Eine Kirche also war entstanden, deren Einheitspunkt nicht im Bekenntnisse, sondern in Verfassung und Kultus lag, welche also den Grundsatz der Augsburgschen Konfession, Art. VII, daß Einheit im 154 Bekenntnisse wesentlich, im Kultus unwesentlich sei, geradezu umkehrte.“ Hart 155 verurteilt er jetzt die Haltung der Vereinslutheraner. Er begrüßt dagegen ausdrücklich die Programmatik der Unionstheologen von deren Voraussetzungen aus. „Wer nun aufrichtig wünscht, daß die Unionssache in die Wege evangelischer Wahrheit geleitet werde, der muß es den Männern der Unionsdoktrin danken, daß sie den Satz vertreten: Nur Einheit der Lehre begründet die Union. Nur müssen 156 wir dieselben bitten, uns zu sagen, worin diese Einheit der Lehre besteht.“ Das 157 aber können sie nach Kahnis’ Überzeugung nicht. In deutlich überzogener Kritik findet Kahnis bei den Unionstheologen weder in der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes noch von der Rechtfertigung einen Konsens untereinander und mit der kirchlichen Tradition. Sie weichen von der Lehre 158 der Reformation ab und können die Differenzen zwischen den reformatorischen 159 Richtungen nicht ausgleichen. „Die Unionsdoktrinäre nun, welche sich zu dem lutherischen und reformirten Bekenntnisse zugleich bekennen, obgleich sie nicht 153 Kahnis: Die moderne Unionsdoktrin, in: Die Leipziger Konferenz am 31. August und 1. September 1853 (1853). Darin: Vortrag Kahnis, 1–38; Diskussion darüber, 38–42 (8 Thesen Kahnis’, 38f); Kahnis Schlussgebet, 77f. Der Vortrag ist auch als Separatdruck erschienen (ohne die Thesen): K. F. A. Kahnis: Die moderne Unionsdoktrin (1853). Folgende Zitate nach dem Separatdruck. 154 Die moderne Unionsdoktrin, 6. 155 „Eine lutherische Gemeinde, welche das Band mit der unirten Landeskirche festhält, dagegen die Gemeinschaft mit der unzweifelhaft lutherischen Kirche im Lande verschmäht, ist in einer unsittlichen und unkirchlichen Stellung“ (ebd., 17). Indem Kahnis die Diskussion innerhalb der preußischen Union zum Anlass seiner Ausführungen nimmt, distanziert er sich von allen ihren Richtungen, springt also nicht etwa der als angegriffen wahrgenommenen lutherischen Seite bei. 156 Ebd., 24. 157 Die Gegenposition bezieht Nitzsch, indem er die Frage, „ob sie [sc. die Union] ein Bekenntniß aufzuweisen habe“, mit dem entschiedenen Ja beantwortet, „daß die Evangelische Union in jeder wesentlichen Bedeutung des Wortes ein Bekenntniß habe, ja daß sie, wenn in der einen Hinsicht ein einfacheres, in anderer ein reicheres, oder wenn in einer Beziehung ein unbestimmteres, in der andern ein bestimmteres besitze, als die gesonderten evangelischen Parteien jede für sich“ (Urkundenbuch der Evangelischen Union [1853], I). Zum Erweis kann er für die Gegenwart allerdings nur den zwar verhandelten, aber eben nicht beschlossenen Evangelischen Konsensus der Preußischen Generalsynode von 1846 anführen (ebd., 127–132). 158 Vgl. etwa: „Eine gewissenhafte Prüfung seiner Rechtfertigungslehre bringt das Resultat, daß er [sc. Nitzsch] – dem Tridentinischen Dogma sehr nahe steht. In dieser Richtung weiß ich auch nicht einen Theologen zu nennen, welcher auf dem Boden der Rechtfertigung aus dem Glauben stände“ (Die moderne Unionsdoktrin, 27; mit ausführlicher, aber keineswegs stichhaltigen Begründung dieses Urteils über Nitzsch in einer Anm., 26f). 159 Vgl. zu den Unterschieden in der Abendmahlslehre ebd., 28–33, in den Lehren von der Geistmitteilung in der Taufe, der Person Christi und der Prädestination ebd., 34. – „Jedenfalls gehen beide Konfessionen in Wesenspunkten der Lehre auseinander. Wer zu dem einen Bekenntnisse sich mit Ueberzeugung bekennt, muß nothwendig ausschließen, was dieses ausschließt, kann sich also nicht zum andern halten“ (ebd., 34).
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nur in den Differenzlehren, sondern auch in den wesentlichsten Konsenslehren von beiden abweichen, müssen nothwendig den allerweitesten Begriff von dem normalen Ansehn eines Bekenntnisses haben, so weit, daß sie den Schritt zum Gegentheile thun könnten, ohne ihren Standpunkt im Wesentlichen aufzu160 geben.“ Damit könnten sie auch nicht dem ursprünglichen Programm der Union gerecht werden, wie es Friedrich Wilhelm III. in seinem Aufruf von 1817 formuliert hatte, nämlich „die Hauptsache im Christenthum, worin beide Confessionen 161 eins sind“, festzuhalten. Kahnis schließt mit dem Satz: „Die moderne Uni162 onsdoktrin ist ein schillernder Synkretismus.“ Er sieht die Bemühungen, für die Union eine verbindende Lehr- und Bekenntnisbasis zu reklamieren, also als gescheitert an. Für die Diskussion über seinen Vortrag legt Kahnis folgende Thesen vor: 1. Wer zu den lutherischen Symbolen sich bekennt, kann mit den Reformirten nicht in Kirchengemeinschaft stehen. 2. Eine Landeskirche, welche den lutherischen und reformirten Symbolen gleich viel Ansehn zuerkennt, erkennt beiden gleich wenig zu. 3. Die lutherischen und reformirten Symbole gehen in Wesenspunkten auseinander. 4. Die Unterscheidungslehren beider Bekenntnisse sind noch nicht ausgeglichen. 5. Die moderne Unionsdoktrin ist ein schillernder Synkretismus. 6. Wir bekennen uns zu der Abendmahlslehre Luther’s als der allein schriftgemäßen. 7. Wir halten die lutherische nicht für die Kirche, wohl aber für die Kirche schriftgemäßen Bekenntnisses. 8. Wir verwerfen die Union, es sei mit der reformirten, es sei mit der römischen Kirche, in welcher unser Bekenntniß nicht ist, was es nach Augsburgscher Konfession Art. VII. sein will, der Einheitspunkt der Kirchengemeinschaft.163
Das Gespräch darüber beschäftigt sich mehr mit den praktischen Folgerungen, die sich daraus für das kirchliche Leben ergeben, als mit der vorgetragenen theologischen Analyse. Das zeigt, dass die Brisanz in den konkreten Folgerungen für die kirchliche Praxis liegt. Wenig später erreicht Nitzsch einen zeitweiligen Erfolg in seinem Bestreben, die Union keineswegs als konfessionslos erscheinen zu lassen, und zwar auf ge160 Die moderne Unionsdoktrin, Separatdruck, 34. – Deshalb erklärt er diese Stellung „für völlig unhaltbar“ (ebd., 35). 161 Kirchenunionen im 19. Jahrhundert, 34f, Zitat dort 34. Vgl. Die moderne Unionsdoktrin, 1. 162 Ebd., 38. – Zuvor weist er den Anspruch der Unionstheologen, die Wissenschaft hinter sich zu haben, als anmaßend zurück: „Jedenfalls müssen wir den Anspruch der Unionstheologen auf das Monopol theologischer Wissenschaft als eine Selbsttäuschung bezeichnen“ (ebd., 38). 163 Die Leipziger Konferenz 1853, 38f. – Die Konferenz nimmt die 1. These nach Diskussion in der veränderten Formulierung an: „Wer zu den lutherischen Symbolen sich bekennt, darf nicht in Abendmahlsgemeinschaft mit den Reformirten stehen“ (ebd., 40). Die 5. These ging nach mehrfachem Widerspruch durch (ebd., 41). Schließlich wurden die Thesen 1–6 angekommen. Aus Zeitmangel zog Kahnis die Thesen 7 und 8 zurück (ebd., 42).
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samtdeutscher Ebene. Der Kirchentag , der im September in Berlin gehalten wird, erklärt sich „mit Herz und Mund“ für die Augsburger Konfession und bezeugt ihre „Übereinstimmung mit ihr als der ältesten, einfachsten, gemeinsamen 165 Urkunde öffentlich anerkannter evangelischer Lehre in Deutschland“, nachdem auch Nitzsch als Referent zwei eindringliche und persönlich gehaltene Plädoyers 166 für diesen Beschluss gehalten hat. Bald darauf protestieren in einer öffentlichen Erklärung Erlanger, Leipziger und Rostocker Professoren, unter ihnen auch Kahnis, gegen eine solche Vereinnahmung der Augsburger Konfession: Um nun unsere Kirche gegen solchen ihren Bestand gefährdenden Mißbrauch des augsburgischen Bekenntnisses, zu welchem der berliner Beschluß nur allzu leicht Anlaß und Handhabe darbieten möchte, im Voraus zu verwahren, achten wir, die wir Lehre und Recht der Kirche von Amts und Gewissens wegen vertreten, uns für verpflichtet, wieder jenen Beschluß selbst und sofort dieses öffentliche und gemeinsame Zeugniß abzulegen.167
Die Frage behält also noch einige Zeit ihre Brisanz. Gegen den von Kahnis gehaltenen Konferenzvortrag ergreift denn auch vonseiten der Unionstheologie Nitzsch – „das Haupt der Union in Person“, wie Kah168 nis ihn charakterisiert, das Wort und veröffentlicht noch im selben Jahr eine Replik in der Zeitschrift, die den Unionsgedanken zu befördern sucht, der „Deut169 schen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben“. Seine 164 Der erste deutsche evangelische Kirchentag war auf Betreiben von August von BethmannHollweg (1795–1877) am 20. September 1848 in Wittenberg zusammengetreten und in seinem Gefolge hatte sich 1851 die Eisenacher Konferenz. gebildet. Der Kirchentag fand zunächst jährlich statt (1849 wieder in Wittenberg, 1850 in Stuttgart, 1851 in Elberfeld, 1852 in Bremen, 1853 dann in Berlin). Der letzte dieser insgesamt 16 Kirchentage fand 1872 in Halle statt. Vgl. Geschichte der Evangelischen Kirche der Union II, 44–51 (Joachim Rogge). 165 Zitiert nach: DZCW 4 (1853), 369; SKSB 3 (1853), 680. 166 Die Verhandlungen des sechsen deutschen evangelischen Kirchentages zu Berlin im September 1853 (1853), 28–31.52f. – Vgl. Der Berliner Kirchentag, SKSB 3 (1853), .679–681.697–698.703– 704. 167 Das Bekenntniß der lutherischen Kirche gegen das Bekenntniß des berliner Kirchentages gewahrt von etlichen Lehrern der Theologie und des Kirchenrechts, Erlangen 1853. Die Erklärung mit Datum vom 18. Oktober 1853 ist unterschrieben von den Erlangern Thomasius, Hofmann, Delitzsch, Theodosius Harnack (1817–1897), Heinrich Schmid (1811–1885), den Leipzigern Kahnis, Friedrich Wilhelm Lindner (1779–1864), Bruno Lindner, Hölemann, den Rostockern Gustav Friedrich Wiggers (1777–1860), Otto Karsten Krabbe (1805–1873), Michael Baumgarten (1812– 1889), Philippi, sowie den Kirchenrechtlern Christoph Gottlieb Adolf Freiherr von Scheurl (1811–1893) und Otto Mejer (1818–1893). – Vgl. die kritische Anzeige „Gegen das Bekenntniß des Berliner Kirchentages“, DZCW 4 (1853), 365; als Repliken darauf Müller: Vorwort, DZCW 5 (1854), 3–5; Ritschl: Ueber das Verhältniß des Bekenntnisses zur Kirche, 5–11. 168 SKSB 1854, 1. 169 K. I. Nitzsch: Würdigung der vom Dr. Kahnis, ordentlichem Professor zu Leipzig, gegen die Evangelische Union und deren theologische Vertreter gerichteten Angriffe, in: DZCW 1853, hier zitiert nach dem Nachdruck als selbständiges Heft. – Später äußert sich an demselben Ort auch
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Antwort lässt an Schärfe der Polemik nichts zu wünschen übrig, indem er in Kahnis’ Vortrag „Beschimpfung der Personen“, „Denunciationen“, „Verdächtigungen“, 170 „leichtfertige Voreiligkeit“ usw. findet. Zugleich setzt er sich ausführlich mit den dogmatischen Defiziten auseinander, die Kahnis bei den Unionstheologen meinte, diagnostizieren zu können, und erweist klar den polemischen Charakter dieser 171 Passagen. Strukturell folgt Nitzsch jedoch derselben Geschichtsschau wie sein Gegenüber. „Die Ohnmacht und Unmacht versuchter Repristinationen hat sich schon sattsam in der Geschichte erwiesen, und ist nahe daran, sich noch mehr zu erweisen. […] Die jetzige Herstellung der Lehre der Reformation muß der Geschichte der Lehrart gerecht werden, demnach muß sie verhältnißmäßige Neubildung werden. Mit dem Cultusgebrauche, mit der Disciplin und Amtsverfassung ist es ein gleiches. Wir können die Fortbildung der Doctrin nicht absolut sistiren, noch von dem Punkte aus, auf welchem Calov, König oder Quenstedt standen, unmittelbar 172 fortsetzen.“ Er nimmt gar nicht wahr, dass er sich in dieser Grundüberzeugung in Übereinstimmung mit Kahnis befindet, unterstellt diesem vielmehr, er schiebe „von vorn herein dem Worte Bekenntniß ausschließlich die Bedeutung der formu173 lirten abgeschloßnen Sonder-Confession“ unter. Der eigentliche Gegensatz liegt in der Beurteilung der beiden Größen Bekenntnis und Union. Nitzsch sieht in der Kirchengeschichte einen ständigen Streit zwischen Union und Separation. Die Union sieht er somit nicht als Neuerung an, sondern erkennt ihre Vorläufer grundsätzlich in allen Einigungsbemühungen, die 174 bis in neutestamentliche Zeit zurückreichen. Dabei sei nie ein vollständiger Ausgleich der unterschiedlichen Meinungen erreicht worden, auch in den kirchlich 175 rezipierten Bekenntnissen nicht; sie hätten alle Unionscharakter. Zudem sei eine konfessionelle reine Gestalt historisch niemals erreicht worden, auch im Bereich des Luthertums nicht. „Union und Separation in der Evangelischen Kirche haben als Lehre und Ausübung eine reiche Geschichte. Sie nehmen ab und zu, die Union wird in sehr verschiedenen Graden und Arten der Kirchengemeinschaft vollzo-
noch Julius Müller und verteidigt sich gegen die Angriffe von Kahnis (Vorwort, DZCW 5 [1854], 9–11). 170 Nitzsch: Würdigung, 7.27f.43. 171 Zur Trinitätslehre vgl. ebd., 28–31, zur Rechtfertigungslehre vgl. ebd., 31–48, zur Abendmahlslehre vgl. ebd., 48–60. 172 Ebd., 10. 173 Ebd., 13. 174 Vgl. ebd., 2–4. Alle dogmengeschichtliche Entwicklung relativierend stellt er fest: „Sämmtliche reformatorische Meinungen [sc. in der Abendmahlsdiskussion] finden sich im Alterthume irgendwie vertreten und die katholische in der Form lebendiger Mystik nicht weniger. An diesem vereinigenden Elemente hat aber von jeher die evangelische Union Antheil genommen“ (ebd., 60). 175 Vgl. dazu auch sein Urkundenbuch der Evangelischen Union (1853), und seine Beiträge auf dem Kirchentag in Berlin 1853.
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gen.“ Faktisch habe die Union längst bestanden, als man daran ging, sie konkret 177 zu ordnen. Bei diesem Denkansatz fällt jedoch das starke Abgrenzungsbedürfnis gegenüber dem Katholizismus auf; Kahnis’ Vorwurf einer Annäherung an die tridentinische Rechtfertigungslehre wird als persönlich verletzend und nicht nur als sachlich unzutreffend empfunden. Hier separiert auch Nitzsch sich. Dies führt dazu, dass er seine Kriteriologie erweitern und zwischen unterschiedlichen Arten von Union und Separation differenzieren muss. „Mit selbstsüchtigen und eigensinnigen Separationen ist es nie besser bestellt gewesen als mit leichtsinnigen Unio178 nen.“ Und unter diese verwerflichen Separationen ordnet er auch den „modernen Confessionalismus“, den „nach der wieder aufgekommenen Separationslust“ 179 die „Eiferer für die Confession“ betreiben, denen er auch Kahnis zurechnet. Und 180 diese Erscheinung gilt ihm „für einen der betrübendsten Anachronismen“. Auch die Anhänger der Union einigt nach Nitzsch ein Bekenntnis. Er grenzt 181 sich allerdings entschieden von dem „unkritischen Begriffe von Bekenntniß“ ab, den er bei Kahnis zu finden meint. Er hält es nämlich für möglich, „daß eine innige Hingebung an das Bekenntniß der Kirche in seinen Grundlehren von entschiedenem Widerspruch oder doch in kritischem Conflikte mit wirklichem Inhalt 182 derselben zusammen besteht“. Den Grund dafür sieht Nitzsch in der „Erkennt183 niß der Undurchdringlichkeit des Geheimnisses“ des Glaubens, das keine letztgül184 tige Ausformulierung erlaubt. Mit diesem Zugang ist eine untergeordnete Wertung der konfessionellen Unterschiede verbunden. Aus der Union als solcher folgt nicht die Vergleichgültigung des Unterschiedes der dogmatischen Lehren in jeder Beziehung; ein Theolog, der den lutherischen Abendmahlsbegriff behauptet und den calvinischen verwirft, darf dem ungeachtet diese Differenz geringer achten, als das beiderseitig übereinstimmende, darf sie für eine solche ansehen, die zu überwiegend theologischer und speculativer Natur sei, als daß er nicht mit Reformirten sacramentliche Gemeinschaft unterhalten könn185 te.
Im Raum der Union sei Platz zur Entfaltung unterschiedlichen konfessionellen Ausgestaltungen. 176 Nitzsch: Würdigung, 4. 177 Vgl. ebd., 19f. 178 Ebd., 17. 179 Ebd., 49. 180 Ebd., 54. 181 Ebd., 8. 182 Ebd., 11. 183 Ebd., 50. Vgl. den Hinweis auf den „vereinigten Glauben an das vorliegende Mysterium“ (ebd., 56). 184 Vgl. aber Nitzsch’ Versuche, die Grundgehalte des Bekenntnisses zu formulieren: Kürzeste Darstellung der Union der lutherischen und reformirten Glaubenslehre (1845); Berliner Generalsynode 1846: Ordinationsformular. 185 Nitzsch: Würdigung, 14.
Kahnis’ Kritik der Union
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Wahr ist es, gerade die Union hat zu einer tieferen und freieren Erkenntniß der Differenz der lutherischen und reformirten Theologie gereizt und wirklich geführt, nur Gotte sei Dank nicht zu der Erfahrung, daß daraus sich eine Gütertheilung oder ein Zweifel an dem Bestande der evangelischen Gemeingüter ergeben müsse und solle. […] Im Gegentheil, wie dieß in Wissenschaft und Leben stets der Fall ist, daß eine wahre und tiefe Erkenntniß des Unterschiednen dazu gehört, wenn die Werthschätzung des Einigen recht gefördert werden soll, so hat sich das auch hier sehr offenbar ergeben.186
Nitzsch will die konfessionelle Bewusstwerdung mithin als ein Verdienst der Union ansehen, nicht als deren Infragestellung. Die Union ist ihm sogar ein wichtiges Korrektiv, die konfessionellen Richtungen vor dem Abgleiten in falsche Extreme zu bewahren, damit nicht etwa im Abendmahlsverständnis „aus Scheu mit den Reformirten zu sprechen die Lutherischen ins magische und römische ausschweifen, die Calvinisten aber aus Scheu lutherisch zu bekennen in die bloße Zeichen187 lehre fallen“. Eine Zukunft für die lutherischen Tradition im Rahmen der Union sieht Nitzsch besonders in Deutschland: „Das lutherische Element wird als das vorzüglich deutsche seine Macht in der deutschen Kirche nicht allein wieder er188 langen und behaupten, sondern noch weiter entwickeln.“ Genau wie bei Kahnis schlägt auch bei ihm hier ein Nationalismus durch. Was dieser Ansatz erbringt, lässt sich am Beispiel des Abendmahls verdeutlichen. Nitzsch formuliert das gemeinsame Bekenntnis: „Die eine lebendige Communionfeier tragenden Angelpuncte der Vorstellung, nämlich das verklärte Fleisch des Erlösers, die Gegenwart desselben im Abendmahl, der Genuß seines 189 Leibes und Blutes, gelten gemeinsam.“ Die lutherische Bindung dieser Realpräsenz an die Elemente Brot und Wein wird demzufolge offen gehalten, damit die manducatio oralis nicht als entscheidende Markierung aufgenommen. Vor allem wird das lutherische Kriterium der manducatio indignorum als „Schwäche“ dieser 190 Position gewertet und zurückgewiesen. Die kritischen Eckpunkte des lutherischen Abendmahlsverständnisses bezeichnet Nitzsch als „schwankende und zerbrechliche Theorien“, die für die Abendmahlsgemeinschaft in keiner Weise von 191 Belang seien. Kahnis reagiert sehr bald mit einem offenen Sendschreiben an seinen Heraus192 forderer Nitzsch. „Die Sache der lutherischen Kirche gegenüber der Union“ vertritt er in ausdrücklicher Solidarität mit der unter der Union leidenden lutherischen Kirche: „Die Lutheraner in Preußen, Baden, Nassau leiden unter dem Dru186 Ebd., 5. 187 Ebd., 54. 188 Ebd., 16f. 189 Ebd., 54. 190 Vgl. ebd., 56–59. 191 Ebd., 59. 192 Vgl. seine eigene Vorstellung seiner Veröffentlichung mit Abdruck der Schlusspassage (85–97): Bei Beginn des neuen Jahres, SKSB 1854, 1–5.9–13.
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cke der Union. Und ihr Leiden geht mir nahe, weil ich sie Glieder und Brüder 193 nenne.“ Diese innere Betroffenheit habe sich möglicherweise bis in den Stil ausgewirkt: „Sollte ich etwas zu lebhaft geschrieben haben, so mag es wohl daher gekommen sein, weil ich etwas zu lebhaft an die Lutheraner in Preußen, Baden 194 und Nassau gedacht habe.“ Kahnis verzichtet entsprechend darauf, seine eigene 195 theologische Position darzulegen. Vielmehr argumentiert er von einer grundsätzlichen theologischen Position, der „Sache“ des Luthertums, aus, wie er sie bei den 196 bekennenden Lutheranern findet und selbst teilt. Dabei behandelt er drei Punkte, nämlich erstens die Frage, „ob nach den Grundsätzen der evangelisch-lutherischen Kirche eine Union mit der reformirten zulässig sei“, zweitens die Frage, „ob die moderne Unionsdoktrin die Union zu 197 begründen vermöge“, und drittens „den Rechtsbestand der preußischen Union“. Eine weitere Frage zieht sich durch die ganze Sendschreiben, nämlich die: „Wa198 rum verwerfen Sie eine Union mit der römischen Kirche?“ Beim ersten Punkt geht Kahnis auf die unterschiedlichen Formen ein, in denen eine Union denkbar ist. Er erhofft sich zwar eine „absorptive Union in dem Sinne, daß die reformirte Kirche das lutherische Bekenntniß annimmt“, vorläufig hält er aber eine „konföderative Union“ für wünschenswert, schließt jedoch eine „mecha199 nische Union“ der Verbindung durch ein gemeinsames Kirchenregiment aus. „Wer das Bekenntniß der evangelisch-lutherischen Kirche für schriftgemäß hält, muß die Union mit der reformirten Kirche verwerfen, so lange dieselbe bei dem 200 schriftwidrigen Irrthume ihres Bekenntnisses verharrt.“ Diese Einseitigkeit in der Betonung der Lehre bezeichnet Kahnis als das „himmlisch Pfand“, das gerade der lutherischen Kirche gegeben sei. „Ihr himmlischer Beruf ist, Trägerin der reinen Lehre zu sein. Wenn Sie mir beweisen, daß die lutherische Kirche die reine 201 Lehre nicht hat und nicht haben kann, dann will ich – unirt werden.“ Dabei versteht Kahnis das Bekenntnis nicht als eine theoretische Größe: Glauben Sie, daß diese [sc. die preußischen Lutheraner] alle Wochen Konferenzen halten, um sich über Nothwendigkeit und Bedeutung der Bekenntnisse zu erei193 Die Sache der lutherischen Kirche gegenüber der Union. Sendscheiben an Herrn Ober-Konsistorial-Rath Professor D. K. J. Nitzsch, 8. – Zuvor ist Kahnis besonders auf das aktuelle Schicksal von Karl Eichhorn in Baden eingegangen (ebd., 7f). 194 Ebd., 9. 195 Auf die persönlichen Angriffe gegen ihn antwortet er nur beiläufig, vor allem in einer „Note“ ebd., 94f. 196 Vgl. die Hinweise auf Scheibel: Actenmäßige Geschichte der neuesten Unternehmung einer Union I (1834) ebd., 73 und (Eduard Huschke:) Theologisches Votum eines Juristen in Sachen der K. Preuß. Hof- und Dom-Agende (1832), ebd., 74. 197 Die Sache der lutherischen Kirche, 10. 198 Ebd., 12. Vgl. ebd., 17. „Handelt es sich um Union, dann muß auch von Union mit der römischen Kirche die Rede sein, wie es bei Melanchthon, Calixt und Leibnitz [sic] der Fall war“ (ebd., 92). 199 Ebd., 13. 200 Ebd., 18. 201 Ebd., 19.
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fern? Die Durchführung des Bekenntnisses im Leben ist der Punkt ihrer Arbeiten und Kämpfe. Das ist das Bedenkliche bei den Lutherischgesinnten innerhalb Ihrer Landeskirche, über welche ich aus Erfahrung urtheilen kann. Da kommen sie nun alle Augenblicke zusammen, erhitzen sich mit Ansprachen, klagen über die Behörden, wählen Ausschüsse, interpretiren Kabinetsordren und Erlasse, entwerfen Adressen, verlangen Audienzen, singen Eine feste Burg – – und lassen Alles beim Alten.202
Eine rein historische Beurteilung der Frage weist er zurück: „So ließe sich sowohl 203 Ihre Unionssympathie als meine Unionsantipathie geschichtlich erklären.“ Vielmehr legt er einen übergeordneten Maßstab an. „Ich lasse mir die Vergangenheit 204 nur durch das Wort Gottes deuten.“ Unter dem zweiten Punkt verteidigt er seine These, „daß die moderne Union 205 den Konsensus, auf welchen sie die Union gründet, nicht hat“, und konzentriert 206 sich dabei ganz auf die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben. Es fällt auf, dass er die forensische Rechtfertigung aufgrund der lutherischen Bekenntnisse reklamiert, ohne auf die vielfältigen biblischen Redeweisen oder auch seine eigenen weiter führenden Gedanken einzugehen. Er argumentiert mithin ungeschicht207 lich und wird seinen Kontrahenten nicht wirklich gerecht. Auf diese Weise meint er aber die Programmatik der Unionstheologen als nicht leistungsfähig hinstellen zu können. Wir Lutheraner sind in einer wahrhaft seltsamen Stellung zu den Theologen des Konsensus. Wir stehen nämlich im Punkte der Rechtfertigung so zu den Reformirten, daß eine Verständigung ohne große Schwierigkeiten zu erreichen ist. […] Während wir Lutheraner also in diesem Punkte uns mit den Reformirten wohl verstän-
202 Ebd., 20. 203 Ebd., 23. 204 Ebd., 25. 205 Ebd., 26. – „Mein Satz ist: Die moderne Unionsdoktrin kann eine Union des Konsensus nicht begründen“, da ihre Vordenker die Unterschiede zwischen den Konfessionen nicht überwinden, sondern „die Bekenntnisse neutralisiren“ (ebd., 51), „weil sie eben zwei Bekenntnisse d.h. ein Neutrum aus beiden zu vertreten haben“ (ebd., 54). 206 Ebd., 30–52; auch den Exkurs über Schleiermacher ebd, 55–62. 207 Kahnis behandelt nach seiner eigenen Position, die er im Bekenntnis findet (ebd., 30–38), nacheinander Nitzsch (ebd., 38–46), Johann Peter Lange (10. April 1802 in Sonnborn bei Elberfeld – 8. Juli 1884 in Bonn) aufgrund dessen Christlicher Dogmatik I-III, Heidelberg 1849–1852 (ebd., 46f), Johann Heinrich August Ebrard (18. Januar 1818 in Erlangen – 23. Juli 1888 in Erlangen) aufgrund des zweiten Bandes seiner Christlichen Dogmatik, Königsberg 1852 (ebd., 47f), sowie Daniel Schenkel (21. Dezember 1813 in Dörpelin/Kanton Zürich – 18. Mai 1885 in Heidelberg) aufgrund des zweiten Bandes von Das Wesen des Protestantismus aus den Quellen des Reformationszeitalters dargestellt, Schaffhausen 1847 (ebd., 48f; Kahnis schreibt irrtümlich „Das Wesen des Christenthums“). Wenn Kahnis etwa bemängelt, dass Nitzsch’ neutestamentlich begründeter theologischer Satz über den heiligen Geist den Personbegriff nicht enthalte (ebd., 29f), so berücksichtigt er nicht, dass dieser sich auch in den neutestamentlichen Schriften nicht findet, und übergeht hier die hermeneutische Frage.
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digen könnten, sind wir in der seltsamen Lage, scharf protestiren zu müssen gegen die Theologen, welche uns mit ihnen vereinigen wollen.208
In einer Nachbemerkung leitet er bereits zum dritten Fragenkomplex über, indem er der Richtung der Unionstheologen den Vorwurf macht, „daß sie die durch die 209 Union gebrochene Kraft des Bekenntnisses mit ihrer Theorie ergänzen wollen,“ damit aber den individualistischen Ansatz, wie ihn Kahnis in einem Exkurs über 210 Schleiermacher analysiert, nicht wirklich überwunden haben. Kahnis fügt an dieser Stelle auch „noch einige Bemerkungen über den Zusammenhang des religiösen und politischen Radikalismus“ mit aktuellem zeitgeschichtlichem Kolorit an, wobei er der reinen Lehre eine vor solchen Entgleisungen schützende Kraft zu211 schreibt. 208 Ebd., 49. 209 Ebd., 53. Voraus geht eine Verhältnisbestimmung zwischen kirchlichem Bekenntnis und theologischer Theoriebildung: „Sie können mir hundertmal nachweisen, daß diese oder jene lutherischen Theologen in ihrer Theorie nicht in allen Punkten mit den Bekenntnissen stimmen: das trifft mich oder vielmehr meine Sache gar nicht, weil ich Ihnen nämlich antworte: Keiner dieser Theologen giebt seine Theorie für ein Bekenntniß aus. In einer Kirche, welche ein festes Bekenntniß zur Regel ihres Gemeinlebens hat, wird, um mich kaufmännisch auszudrücken, was etwa dem einen Kirchenlehrer fehlt, durch die Kraft eines andern übertragen“ (ebd., 53). 210 Ebd., 55–62. „Schleiermacher’s Kraft und Schleiermacher’s Schwäche liegt in einem einzigen Punkte: Individualität“ (ebd., 56). „Das religiöse Gefühl ist der Natur der Sache nach etwas durchaus Individuelles: Gefühl ist eben der Ton, welchen eine Erscheinung oder Erfahrung auf den Saiten meines Gemüthes anschlägt. Jedes Gemüth ist aber anders gestimmt als das andere. Man setzt immer Jemanden in Verlegenheit, dem man weitläufig seine Gefühle beschreibt, wenn auch der Hörer vielleicht so höflich ist, zu versichern, er könne es nachfühlen“ (58). „Freilich ist auch mein Auge von Sonnennatur, aber es soll nicht sein Sehen sehen, sondern in Gottes Licht Gott das Licht. Jesum Christum aus dem Abhängigkeitsbewußtsein heraus fordern und gestalten, das heißt doch, mit Claudius zu reden, die Sonne nach der Hausuhr stellen“ (ebd., 60). „Nie hat die protestantische Kirche ihr Bewußtsein als solches für die Wahrheit angesehen. Nicht eine organische Entwickelung desselben im Zusammenhange, sondern eine Begründung aus der Schrift beweist die Wahrheit unseres Bekenntnisses. Als ein in sich organisches Leben läßt sich auch der Katholicismus darthun“ (60). 211 Ebd., 62–65, Zitat dort 62. – Kahnis bietet hier auch eine Apologie der preußischen Lutheraner: „Gewiß ist, daß ein Lutheraner, sofern er ein solcher ist, alle Revolution verwerfen muß, und zwar nicht mit Stuttgarter Randglossen, sondern ganz und von ganzem Herzen. Wären die preußischen Lutheraner, was allerdings von verworfenen Menschen ihnen nachgesagt worden ist, Revolutionäre, so wäre das kein Vorwurf gegen das Lutherthum, denn das braucht sich nicht deshalb zu rechtfertigen, sondern ein Beweis, daß sie schlechte Lutheraner wären, und ich wenigstens würde, wenn sie auf solchen schlechten Wegen wären, nichts mit ihnen zu thun haben. Ich kenne meines Wissens ausnahmslos die altlutherischen Geistlichen und fast alle bedeutenderen Glieder dieser Kirche. Da muß ich Ihnen nun sagen, daß, wenn alle Unterthanen des Königs von Preußen Majestät so denken wie die Lutheraner, er der glücklichste Fürst auf Erden ist“ (ebd., 62). Und er bietet dazu noch folgende Anekdote: „Von Scheibel bezeugt so eben ein höchst achtbarer sächsischer Geistlicher im Sächs. Kirchen- und Schulblatte ([1853] Nro. 97 S. 797): ‚Referent sah ihn zuletzt in seinem Asyl in Nürnberg - - und war da Zeuge der aufrichtigen Thränen, welche er bei der Nachricht von dem Tode Friedrich Wilhelm III. weinte. Trotzdem daß Scheibel Schweres unter dem Regimente dieses seines Königs erlitten hatte, wußte er ihn doch besser zu schätzen, als dieser, der durch die Brille seiner Unionstheologen sah, Scheibeln’“ (ebd., 67).
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Danach wendet Kahnis sich als letztem Punkt dem Rechtsbestand der Union in Preußen zu. Die Rechtsgrundlage erscheint als wesentliches Element, damit eine auf Dauer angelegte Institution ein tragfähiges Fundament besitzt. Hier stellt sich also die Frage nach dem Standbein der Stetigkeit neben dem Spielbein der geschichtlichen Bewegung. Zunächst betrachtet Kahnis die Entstehungsgeschichte. Er sieht die Einführung der Union als klaren Rechtsbruch, der mit Gewaltmaßnahmen einherging und der lutherischen Kirche den garantierten Bekenntnisstand und die Besitztümer nahm. Eine ordnungsgemäße Rechtsübertragung auf die neu gestiftete unier212 te Kirche ist auszuschließen. „Sagen Sie sich, Herr Oberkonsistorialrath, das recht gründlich, eine wie schlimme Sache es ist, wenn eine Kirche mit Illegitimität 213 und Gewaltsamkeiten auf die Welt kommt.“ 214 Dann nimmt er den Territorialismus mit seinen Folgen in den Blick. Die landeskirchliche Verfassung der lutherischen Kirche habe in den ersten Jahrhunderten noch gemeinsames Handeln aufgrund des Bekenntnisses ermöglicht. Aufgrund der Vernachlässigung des Bekenntnisses im Pietismus und Rationalismus habe sich dann ein Territorialismus durchsetzen können, der nun zu neuen Problemen geführt habe. An die Stelle der Verpflichtung auf das Bekenntnis ist die zur 215 Treue gegenüber dem Landesherrn getreten, die diese Union zusammenhält. Diese Unirten sind nicht lutherisch, sie sind nicht reformirt. Außerhalb Preußens sind aber die Protestanten entweder Reformirte oder Lutheraner. Denn mit Baden, Nassau, Deßau wird sich doch Preußen nicht trösten wollen. Ein Lutheraner steht nach Bekenntniß und Tradition der Väter nur mit Lutheranern in Kirchengemeinschaft. Er kann also die Unirten, welche, sofern sie unirt sind, den Lehrunterschied unserer Kirche für unwesentlich erklären, nicht zum Abendmahle zulassen, unirten Predigern nicht die Kanzel erlauben u.s.w.216 212 „Die mittelalterliche Kirche ist nicht die römische, sondern das Vaterhaus der römischen und der lutherischen. In das Erbe dieses Hauses ist die lutherische mit demselben Recht eingetreten wie die römische, und dieses Recht ist feierlich anerkannt und beschworen. Die Union ist aber nicht legal eingetreten, sondern kam, als die Leute schliefen, und ist überdem noch nicht durchgeführt“ (ebd., 71), ihr fehle ja noch eine verbindliche Formulierung des Konsenses, auf den sie sich berufe. 213 Ebd., 66–71, Zitat dort 68. – „Die Union aber fing damit an, Märtyrer zu machen, statt zu haben. Ich weiß aus guter Quelle, wie tief dieser Anfang das edle Herz des gegenwärtigen Königs von Preußen Majestät [sc. Friedrich Wilhelm IV.] betrübt hat. Man erzählt sich manches scharfe Wort, was er damals den Theologen, die da marschiren ließen, soll gesagt haben“ (ebd., 68). 214 Ebd., 71–74. 215 „Während in der Agende Alles, was vom Bekenntnisse und seinem Inhalt gesagt ist, dunkel und zweideutig ist […] ist dagegen die Verpflichtung zur Treue gegen den König, als den obersten Bischof, mit einer Ausführlichkeit und Unzweideutigkeit behandelt, welche eben unzweideutig genug sagt, worauf es in der Union besonders ankomme“ (ebd., 72f). Kahnis verweist zur Begründung auf Scheibel: Actenmäßige Geschichte I, 83–117, dort speziell 98–103. 216 Die Sache der lutherischen Kirche, 73. – Kahnis wagt einen Blick in die Zukunft: „Je mehr in den lutherischen Landeskirchen das konfessionelle Bewußtsein erstarken wird, desto mehr wird die preußische Landeskirche inne werden, daß sie mit ihrem Separatfrieden sich separirt hat – in eine
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Folglich ergebe sich aus der unierten Verfassungskonstruktion eine neuartige „Gewissensnoth“ im kirchlichen Miteinander. Schließlich geht Kahnis auf die Entwicklung ein, welche die Union in ihrer Un217 sicherheit über das eigene Selbstverständnis bis dahin genommen hatte. Es sei bisher nicht gelungen, der Union ein eindeutiges Profil zu geben. Er hält Nitzsch vor, man sehe sich inzwischen zwei Unionen gegenüber, „die Union, welche in dem landeskirchlichen Zusammenschlusse beider Konfessionen bestand, vertreten in den unionslutherischen und in den unionsreformirten Räthen, und nun noch 218 eine besondere Union, eine Union-Union, vertreten in Ihnen“. Und er entwirft einen praktischen Fall, der die Widersprüchlichkeit der Situation aufzeigt. Angesichts der mit der Union entstandenen Situation hegt Kahnis die tiefe Gewissheit: „Gott will die lutherische Kirche, weil die lutherische Kirche seinem Wort allein die Ehre giebt. Ich sage nicht, daß die lutherische Kirche die Kirche ist. Aber sie ist unter den Sonderkirchen die der Wahrheit. Und dem Geiste der Wahrheit muß 219 Alles dienen.“ Und deshalb erwartet er, dass die Verhältnisse sich noch einmal umkehren werden wie in Konstantinopel, als Gregor von Nazianz sich mit den Seinen vorübergehend in eine Winkelkirche zurückziehen musste, bis Theodosius der Große ihn in die Hauptkirche holte und seine Richtung doch noch siegte: „Vielleicht ist der Theodosius nicht so fern, welcher die St. Katharinenkirche zu Breslau zur Auferstehungskirche des evangelisch-lutherischen Preußens macht. Wohl wünschte ich, daß dieser Theodosius Ihr König und Herr wäre. Doch das 220 sind Menschengedanken.“ Kahnis rundet sein Sendschreiben mit einem ökumenischen Ausblick ab: „Die 221 ganze Kirche soll es sein.“ Er beobachtet Stärken und Schwächen an allen Konfessionen und richtet den Blick auf viele Gemeinsamkeiten, die sie verbinden, ohne die Dinge zu übergehen, die ihre Trennung bedingen. Deshalb spricht er sich dafür aus, eine konföderative Union der getrennten Sonderkirchen anzustreben. Für eine solche Union entwirft er im Hinblick auf die beiden reformatorischen Konfessionen folgendes Programm: Erstlich gemeinsame Unternehmungen auf Grund des gemeinsamen Lehr- und Lebensgrundes. Ich denke hier an Bibelverbreitung, Verbreitung evangelischer Schriften, Verständigung über Missionszwecke, Handreichung in Sachen innerer Mission, gemeinsames Zeugniß gegen den Unglauben, die Revolution u.s.w. Zweitens Zusammenschluß gegen Mächte, welche die Sache des Protestantismus ge-
Sackgasse gerathen ist, aus welcher nur Rückkehr helfen kann“ (ebd., 74). Tatsächlich fiel das Erstarken nicht so gewaltig aus, wie Kahnis erwartet hatte. 217 Ebd., 74–85. 218 Ebd., 77. 219 Ebd., 83. 220 Ebd., 82. 221 Ebd., 85–97; Zitat dort 95.
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fährden, sie mögen nun Rom, sie mögen Staat oder wie immer heißen. Drittens Konferenzen zu brüderlicher Verhandlung über die Lehre.222
Eine solche Union muss für ihn auch die römisch-katholische Kirche im Blick haben. Deshalb entwickelt Kahnis auch in diese Richtung konkrete Vorstellungen, die allerdings zunächst einmal auf eine Verbesserung der Atmosphäre abheben: „Da ist nun zuerst nöthig, daß wir uns diesen Konsensus [, der zwischen beiden Kirchen besteht,] recht vorhalten. Unser gemeinsames Vaterhaus, unser gemein223 sames Jugendland ist die altkatholische Kirche.“ „Zweitens sollten wir die grünprotestantische Polemik, welche noch immer unter uns so laut ist, endlich einmal 224 aufgeben.“ „Damit hängt drittens zusammen, daß wir endlich einmal aufhören 225 sollten, mit Freude zu begrüßen, was auf Roms Untergang hinarbeitet.“ Kahnis äußert die Überzeugung: „Ich glaube, wenn wir richtiger zu Rom uns stellen werden, wird Rom sich auch richtiger zu uns stellen. An eine Union freilich wird nie 226 zu denken sein, wenn nicht Unerhörtes geschieht.“ Da es ihm um die ganze Kirche geht, warnt er: „Kein Sonderbund mit der reformirten Kirche auf Kosten un227 seres Konsensus mit der römischen!“ Kahnis schließt mit dem Versprechen, die „Sache der lutherischen Kirche gegenüber der Union“ in einem, wie man heute sagen würde, ökumenischen Geist zu verfolgen: Wir Lutheraner wollen uns sagen: ‚Wir sind eine Kirche, schwach in der Organisation, stark in der reinen Lehre. Dieß Pfund wollen wir uns nicht nehmen lassen, auch nicht vergraben, sondern recht ausbeuten. Was die Kirche Jesu Christi auf Erden sein soll, eine Missionsanstalt für den Himmel, das sind wir. Aber wir sind es nicht allein. Auch die römische, auch die reformirte Kirche führt dem ewigen Hirten Lämmer zu. Wir müssen gegen ihre Lehre protestiren, aber wir wollen es in Liebe thun und mit Anerkennung, daß auch unter ihnen der Herr ist mit seinem Geiste, unter der Anerkennung des uns gemeinsamen Lehrschatzes. Wir wollen uns freuen, wenn das Evangelium in ihren mehr und mehr durchbricht, und uns betrüben, wenn sie mit den Mächten kämpfen, mit denen auch wir zu kämpfen haben, mit Welt, Fleisch, Sünde, Tod und Teufel, ja wenn es möglich ist, ihnen im Streite einen Becher kalten Wassers reichen. Wir wollen nicht vergessen, daß wo
222 Ebd., 90. 223 Ebd., 90. 224 Ebd., 91. – „O wenn doch dieß Geschlecht unberufener Vorkämpfer des Protestantismus gegen Rom aussterben wollte!“ (ebd., 92). 225 Ebd., 92. 226 Ebd., 95. 227 Ebd., 95. – Josef Edmund Jörg (23. Dezember 1819 in Immenstadt – 18. November 1901 auf Burg Trausnitz bei Landshut), katholischer bayrischer Politiker und Historiker, hebt Kahnis’ Behauptung einer besonderen Nähe der lutherischen Kirche zur römisch-katholischen Kirche hervor und setzt gerade hier seine Kritik an (Geschichte des Protestantismus, 45.345).
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der Herr Glieder hat wir Brüder haben, und es nicht fehlen lassen an dem, woran man des Herrn Jünger erkennen soll, nämlich an Liebe’.228
Die Antwort, die Nitzsch darauf in einem Nachtrag zum separaten Nachdruck 229 seiner „Würdigung“ gibt, trägt zur Diskussion keine neuen Aspekte bei. Schon die Tatsache, dass er seine erste Stellungnahme noch einmal veröffentlicht, lässt ja vermuten, dass der Nachtrag inhaltlich nicht darüber hinaus führt. Der Schlagabtausch vermag den Frontablauf zwischen beiden Positionen nicht zu modifizie230 ren. Nitzsch bemängelt zu Recht, dass Kahnis auf die Problematik des geschicht231 lichen Wandels nicht eingeht. Es verwundert in der Tat, dass Kahnis sich der hermeneutischen Frage nicht stellt, da er sich mit diesem Thema sonst ja intensiv beschäftigt. Umgekehrt geht aber auch Nitzsch auf die Frage des die Union tragenden Lehrkonsenses nicht ein. Er beschränkt sich auf die Feststellung: „Ob nach so langem Ineinanderleben der Evangelischen dieser und jener Bekenntnißart, ungeachtet des in der Theologie noch bestehenden Dissensus der Consensus mächtig genug eine Gemeinschaft des Gottesdienstes und Sacramentes zu begründen […], ist und bleibt die practische Hauptfrage bei der evangelischen Uni232 on.“ Damit weigert er sich, sich mit der Problematik der Konstanz in der kirchlichen Entwicklung auseinanderzusetzen, obwohl er sich sonst doch gerade darum bemüht hat, einen Lehrkonsens der Union zu definieren, sei es durch eine Ordina233 tionsformel oder die Verpflichtung auf die ungeänderte Augsburger Konfession. Nitzsch versucht vielmehr den theologischen Diskurs von der Union abzulösen und diese allein aus ihrem praktisch-kirchlichen Vollzug zu verstehen. Zudem wehrt er sich vehement gegen eine Erweiterung des Betrachtungshorizontes auf die ganze Kirche unter Einschluss zumindest auch der römisch-katholischen Sei234 te. Indem er die Union als eine rein protestantische Angelegenheit einstuft, blendet er automatisch die Frage nach ihrer ekklesiologischen Qualität im Rahmen der einen Kirche aus. 228 Die Sache der lutherischen Kirche, 96f. – Kahnis ist mit diesen Ausführungen offensichtlich Wilhelm Löhe verpflichtet, der 1845 seine „Drei Bücher von der Kirche“ veröffentlich hatte, in denen er den Gesichtpunkt der einen Kirche hervorhebt. 229 Nachtrag, in: Nitzsch: Würdigung, 61–73. 230 Vielmehr sieht sich Nitzsch danach „in dem Bewusstsein vom göttlichen Rechte der Union und vom Uebergewichte der evangelischen Religion über die streitigen Theologumena der Reformatoren“ nur bestätigt (ebd., 73). 231 Ebd., 63f.71f. 232 Ebd., 63. 233 Die Lehrordnung, die von der Berliner Generalsynode von 1846 beschlossen wurde, behauptete einen Consensus im „Lehrinhalt der ganzen evangelisch-protestantischen Reformation und ihrer Bekenntnisschriften“ (Geschichte der Evangelischen Kirche der Union I, 360). Der Berliner Kirchentag von 1853 hatte sich dann speziell zur Augsburger Konfession bekannt (ebd., II, 49). Die Augsburger Konfession aber definierte ihrerseits sehr dezidiert und spezifisch den magnus consensus in Aufnahme sowohl des Schriftzeugnisses als auch der kirchlichen Bekenntnistradition und im konkreten Bekennen. Der Begriff Konsens bleibt offensichtlich ungeklärt. 234 Nitzsch: Würdigung, 64.
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Beide Kontrahenten kämpfen also gleichsam bei geschlossenem Visier miteinander. Sie verfolgen derart gegensätzliche kirchenpolitische Interessen, dass sie 235 sich mit dem Anliegen des jeweils anderen nicht ernsthaft auseinandersetzen. Indiz dafür ist nicht allein der oft scharfe oder ironische Ton, der vor persönlichen 236 Verletzungen nicht zurückschreckt. Auch dass sich beide Gesprächspartner nicht auf eine gemeinsame Fragestellung einigen können, ist symptomatisch. Während Kahnis die Frage nach Union und Bekenntnis stellt, damit nach dem Verhältnis von Varianz und Konstanz in der geschichtlichen Entwicklung der Kirche als Kriterium der kirchlichen Identität im diachronen Horizont, behandelt Nitzsch die Frage von Union oder Separation, damit eine sich in den wechselnden geschichtlichen Situationen immer wieder neu ergebende Entscheidungsfrage ethischer Natur im augenblicklichen synchronen Horizont. Die Thematik verschiebt sich denn auch unter der Hand mehrfach von der Unionsfrage hin zu einer Polemik gegen persönliche theologische Positionen. So bietet Nitzsch in seinem Nachtrag denn auch hauptsächlich eine Apologie seiner eigenen Interpretation der Personalität 237 des heiligen Geistes sowie der Rechtfertigung. 238 Kahnis verzichtet auf einen weiteren direkten Wortwechsel, äußert sich aber acht Jahre später noch einmal: Ich habe Dr. Nitzsch’s Erwiderung auf mein Sendschreiben nicht beantwortet. Aufhören mußte doch der Streit einmal. Und dem Jüngeren geziemte es nachzugeben. Mein Schweigen ist namentlich bei Gelegenheit des Ehrenfestes des Dr. Nitzsch so dargestellt worden, daß es Dr. Nitzsch gelungen sei den Sturm zu beschwören. Ich bedaure aber erklären zu müssen, daß ich von dem, was ich über die Lehre von der Rechtfertigung geschrieben habe, keinen Satz zurückziehen kann […]. Ich habe mich auch zu überzeugen Gelegenheit gehabt, daß diese Controverse nicht ohne Frucht gewesen ist. Man hörte seitdem diesen Punkt mit mehr Nachdruck und Reinheit darstellen. Ich habe mich seitdem in der Konfessionsfrage vom Kampfplatze zurückgezogen. Und auch jenseits scheint man das Gefühl zu haben, daß auf diesem Wege nicht viel erzielt werde.239 235 Auch Winter urteilt: „Jedenfalls war bei dieser polemischen Behandlung der Sache die Betrachtung eine einseitige“ (Kahnis, 41). 236 Nitzsch hört aus Kahnis’ Antwort an ihn „die impotenteste Feindschaft gegen die evangelische Union“ (Würdigung, 61f) und urteilt: „Geistreiche Phrasen, allerlei Schlagworte, deutsche oder lateinische Verse, Gleichnisse und naive Ergießungen vermögen den Mangel der wissenschaftlichen Gedankenfolge nicht zu decken“ (ebd. 62). 237 Ebd., 64f.65–71 238 Vgl. aber sein Eingehen auf den weiteren Verlauf der Debatte vom 8. August desselben Jahres (SKSB 1854, 517–519). Ein Darstellung der Geschichte der Union findet sich in: Der innere Gang (1854), 211–218 (= 21860, 196–205); leicht gekürzt: Der innere Gang II (31874), 192–201, zugleich verbunden mit grundsätzlichen Ausführungen über kirchliche Einheit und Bedeutung des Bekenntnisses, 201–206. 239 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 31. Kahnis verweist an dieser Stelle ferner auf seine Ausführungen zur Rechtfertigungslehre in der Dogmatik I (1861), 592–603, bei denen er jedoch nicht direkt auf Nitzsch eingeht, vielmehr der Position von Nitzsch sehr nahe kommt, indem er Glauben als menschliches Tun bezeichnet, dem allerdings jedee Verdienstlichkeit fehlt (ebd., 598f), und
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Allerdings gesteht er bei dieser Gelegenheit auch ein, dass seine Polemik überzogen war. „Ich möchte glauben, daß die edlen Gestalten der gläubigen Theologie, wie Nitzsch und Müller, jetzt Manches nicht, Manches anders schreiben würden. Wie ich Jedem gern vergebe, was er mir Leides angethan, so bitte ich auch mir zu 240 vergeben.“ Die Vergeblichkeit dieses Disputes hinderte Kahnis nicht, unter veränderten Zeitverhältnissen auf diese Frage wieder zurückzukommen. Auf Seiten der preußischen Lutheraner war man dankbar für dieses Eintreten Kahnis’ gegen die Union; Rudolf Rocholl weist den Theologiestudenten Heinrich 241 Hübner (1864–1945) noch eine Generation später auf diese Streitschrift hin, und der urteilt noch 1934: „Die ganze Schrift ist eine glänzende Verteidigung unserer 242 kirchlichen Stellung. […] Sie ist zudem […] heute wieder aktuell und zeitgemäß“ – mithin angesichts der Gründung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK). Die begrenzte Argumentationskraft der Polemik bleibt hier unberücksichtigt. 4.2.3 Die preußische Union und die wahre Union Auch später äußert sich Kahnis an markanten Punkten ihrer weiteren Entwicklung und Ausgestaltung sehr dezidiert gegen die Union. Nachdem infolge des preußisch-österreichischen Krieges 1866 lutherische Länder dem preußischen Staat, nicht aber ihre Kirchen der unierten Landeskirche eingegliedert sind, meldet Kahnis sich mit einem Reformationsprogramm sowie einem Beitrag über die Union in der neu gegründeten „Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchen243 zeitung“ zu Wort. Deutlich markiert er die veränderte Situation: „Schwerlich würde man den neueinverleibten lutherischen Landeskirchen Preussens im Jahre 1840 die Zuge244 ständnisse gemacht haben, die man ihnen 1866 hat machen müssen.“ Nitzsch die Besonderheit der Rechtfertigungslehre des Paulus im Gegenüber zu den Redeweisen der anderen neutestamentlichen Schreiber betont. 240 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 31. 241 Heinrich Hübner (12. November 1864 in Berlin – 14. Juni 1945 in Waldenburg), Studium in Breslau, 1885f in Leipzig, 1890 Pastor in Korbach, seit 1930/31 als Superintendent, 1936 emeritiert, Verfasser einer Rocholl-Biographie. 242 Hübner: Jugenderinnerungen, 122. 243 Zur Unionsfrage, in: Zur Feier des Reformationsfestes und zum Rectorwechsel am 31. October 1968; Die Union, AELKZ 1 (1868); vgl. das Referat bei Uwe Rieske-Braun: Zwei Bereiche Lehre und christlicher Staat, 183f. – „Diese Artikel bieten einem weiteren Kreise die Summe dessen, was mein Reformationsprogramm von 1868 für einen engeren Kreis ausgeführt hat. Dr. Kahnis“ (Anm. zum Titel in AELKZ); abgesehen von einigen kürzeren Auslassungen fehlt vor allem der erste Abschnitt „Dermalige Bedeutung der Unionsfrage“ (Zur Unionsfrage, 1–7). Die Fassung in AELKZ findet sich leicht gekürzt wieder abgedruckt in: Christenthum und Lutherthum (1871), 301–339, ergänzt um einen Abschnitt „Deutschland und die Union“ (ebd., 339–363; = Die Idee der deutschen Nationalkirche, AELKZ 4 [1871], 389–401) und einen weiteren „Die wahre Union“ (ebd., 364–371). 244 Zur Unionsfrage, 28 (= AELKZ 1, 105, = Christenthum und Lutherthum, 323). Eine ausführliche Darstellung der gegenwärtigen Situation bietet Kahnis in: Zur Unionsfrage, 1–7.
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und seinen Mitstreitern für „einen evangelisch positiven Charakter“ der Union weist er eine vergangene „zeitalterliche Bedeutung“ zu; denn „ein eigenes Unionsbekenntniss aufzustellen, hat die Union nach dem verunglückten Versuch der 245 Generalsynode von 1846 aufgegeben“. Das Erstarken der konfessionellen Richtung habe zu einer Parteienbildung innerhalb der Union in eine linke Richtung, die „in der Union die Aufhebung aller Bekenntnisse sieht“, eine mittlere, die sich „an das übereinstimmende Wesen“ halte, und eine rechte, die „konfessionell ist“, 246 geführt. Damit werde die „Unbestimmtheit der Union in der preussischen Lan247 deskirche“ unterstrichen. Die Position von konfessionellen Lutheranern innerhalb dieser preußischen Landeskirche hält er für „etwas ganz Abnormes“, sieht darin einen „Widerspruch, der nicht auf die Länge bestehen kann“, da „die Union 248 ein allen Gemeinden der preussischen Landeskirche anhaftender Charakter ist“. „Denn wer auf dem Boden des lutherischen Bekenntnisses steht, muss gegen die Union protestiren, weil sie […] dem Bekenntnisse den eigentlichen Nerv durch249 schnitten hat, nämlich Einheitspunkt der Kirchengemeinschaft zu sein.“ Die gegenwärtige Situation der Union in Preußen stellt Kahnis vor den Hintergrund der ausführlich rekapitulierten Geschichte ihrer Einführung bis 1830 und ihrer 250 Konfrontation mit der Bekenntnisfrage von da ab. Kahnis passt seine kritische Analyse der gegenwärtigen Lage zudem in einen Rahmen grundsätzlicher ekklesiologischer Überlegungen ein. Schon seit der apostolischen Zeit begleiten die Geschichte der Kirche Versuche, „die kirchentrennenden Gegensätze zu Gunsten der Einheit der Kirche zu vermitteln“, ein „Unions251 streben“ also, wie Kahnis anhand entsprechender Beispiele aufzeigt. Anders verhielten sich die Reformatoren: Die Reformation hat die abendländische Kirche in die Gegensätze des Katholicismus und Protestantismus zerschlagen, die noch unversöhnt einander gegenüber245 Zur Unionsfrage, 28.40 (= AELKZ 1, 105.111, = Christenthum und Lutherthum, 334). – „Zu einer Bekenntnisseinheit“ hat die Union „es aber nicht gebracht, und wird sie es auch nicht bringen“ (Zur Unionsfrage, 43, = AELKZ 1, 113, = Christenthum und Lutherthum, 338). 246 Zur Unionsfrage, 38 (= AELKZ 1, 110, = Christenthum und Lutherthum, 332). 247 Zur Unionsfrage, 42 (= AELKZ 1, 112, = Christenthum und Lutherthum, 336). 248 Zur Unionsfrage, 43f (= AELKZ 1, 113, = Christenthum und Lutherthum, 338f). – „Wo aber die Abendmahlsgemeinschaft ordnungsgemäss besteht, da besteht auch Kirchengemeinschaft ordnungsgemäss“ (Zur Unionsfrage, 43, = AELKZ 1, 113, = Christenthum und Lutherthum, 338). 249 Zur Unionsfrage, 44 (= AELKZ 1, 113 (= Christenthum und Lutherthum, 338). – Dem lutherische Protest vieler innerhalb der Union fehle die nötige Konsequenz. Dies Urteil sieht Kahnis auch dadurch bestätigt, dass die konfessionelle Richtung ihre Chancen nicht zu nutzen versuchte: „Gestattete der König den neueinverleibten Ländern das Recht des von der Union unberührten Bestandes, so schien in der Consequenz dieses Verfahrens auch für die alten Länder der selbständige Bestand der luth. Kirche zu liegen. Allein diese Consequenz hat man nicht gezogen“ (AELKZ 1, 112, = Christenthum und Lutherthum, 336). 250 Zur Unionsfrage, 18–27.28–44 (=AELKZ 1, 87–91.105–113, = Christenthum und Lutherthum, 313–322.322–339). – Vgl. den Bezug darauf bei Nagel: Die Kämpfe der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen I, 68.115.119. 251 Zur Unionsfrage, 7 (= AELKZ 1, 81, = Christenthum und Lutherthum, 301).
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stehen. Ja so wenig haben die Häupter der deutschen Reformation die äußere Einheit der Kirche angesichts der evangelischen Wahrheit geachtet, dass sie zu einer Zeit, wo die Interessen des Protestantismus den Zusammenschluss der deutschen und der schweizerischen Reformation dringend forderten, um der Lehre vom Abendmahl willen, in der sie sich nicht vereinigen konnten, auf Trennung bestanden. Dies Verfahren der Reformation ist nur dann berechtigt, wenn sie die wahre Einheit der Kirche unabhängig gewusst hat von dem Gegensatz der Richtungen. Es ist ja der unumstössliche Grundsatz des Protestantismus, dass das Wesen der Kirche nicht in dem äusseren, in Lehre, Verfassung und Kultus gegliederten Organismus liegt, sondern in der göttlichen Grundlage, d.h. in dem unsichtbaren Haupte, in dem heiligen Geiste, in Wort und Sakrament, in der Gemeinschaft des seligmachenden Glaubens.252
Demnach trägt „der Protestantismus in seinem Wesen den Grundsatz: Keine Uni253 on auf Kosten der evangelischen Wahrheit“. Mit seinem Einsatz für das Leipziger Interim etwa habe Melanchthon klar gegen diesen Grundsatz verstoßen. Unionsversuche dienen, wie Kahnis beobachtet, oft der Einheit der Kirche gar nicht, sondern vermehren tatsächlich nur die Zerwürfnisse der Kirche und die Gruppenbildungen, führen statt in die Weite der einen Kirche zu Einengungen. 254 Derzeit versuche etwa der „Evangelische Bund (Evangelical Alliance)“ die Protestanten enger zu verbinden, indem er sie von den Römischen stärker trenne. „Toleranz, Weite und Milde“, die sich im 18. Jahrhundert im Verhältnis zwischen Lutheranern und Reformierten längst durchgesetzt hatten, würden durch die ge255 genwärtigen Unionsbemühungen eher gestört als gestärkt. „Es ist eine Thatsache, die kein Sachkundiger bestreiten wird, dass die Union es gewesen ist, die den 256 konfessionellen Hader in Flammen gerufen hat.“ Zugleich befördere sie auf bedenkliche Weise auch den Indifferentismus und eine Neutralisation der Gegensätze. Ebenso diene sie einer unguten Uniformitätssucht. Indem die preußische Union eine Verbindung nur dieser beiden Richtungen suche, schließe sie ein weites Spektrum der orthodoxen, römischen, anglikanischen und freikirchlichen Christenheit aus. Auch gehe es um eine nur territorialkirchliche Erscheinung, die im
252 Zur Unionsfrage, 10 (= AELKZ 1, 82f, = Christenthum und Lutherthum, 304). 253 Zur Unionsfrage, 15 (= AELKZ 1, 85, = Christenthum und Lutherthum, 309). 254 Zur Unionsfrage, 11 (= AELKZ 1, 83, = Christenthum und Lutherthum, 305). Kahnis meint hier nicht den erst 1886 in Halle gegründeten „Evangelischen Bund“, sondern die 1846 in London in Anwesenheit auch deutscher Teilnehmer gegründete „Evangelische Allianz“, die auf Einladung Friedrich Wilhelms IV. 1857 ihre Bundesversammlung in Berlin hielt. 255 Kahnis macht dies anschaulich: „Zwei Richtungen – ich wiederhole es – die zur Freundschaft bestimmt sind, treten in Gegensatz, wenn man sie in eine Ehe bringt“ (Zur Unionsfrage, 38, = AELKZ 1, 110, = Christenthum und Lutherthum, 332f). Schon früher hatte er diesen Vergleich gebraucht: „Die preußische Union kommt mir wie eine unglückliche Ehe vor, in welcher zwei Menschen, dir zur Freundschaft, aber nicht zur Ehe bestimmt waren, sich unaufhörlich zanken“ (Zeugniß von den Grundwahrheiten, 33). 256 Zur Unionsfrage, 38 (= AELKZ 1, 110, = Christenthum und Lutherthum, 332).
Kahnis’ Kritik der Union
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weltweiten Horizont der lutherischen und der reformierten Kirchen gar nicht an257 wendbar sei. Die Bedeutung der Union werde so erheblich eingeschränkt: Muss man also zugestehen, erstlich, dass zur Einheit der Kirche die Union ihrer Konfessionen nicht nothwendig ist, weil die Einheit der Kirche in solchem organisirten Zusammenschluss der kirchlichen Richtungen nicht besteht; zweitens, dass nicht nur gegenüber der morgenländischen und römischen Kirche, sondern auch manchen Gestalten des Protestantismus eine Union nicht erstrebt werden kann, ohne die eigentlichen Ziele der Reformation zu gefährden; drittens, dass selbst zwischen der lutherischen und reformirten Konfession eine allgemeine Union weder möglich noch wünschenswerth ist: so sind dies Zugeständnisse, welche die Bedeutung der Union wesentlich brechen.258
Das Nebeneinander verschiedener „Kirchenindividualitäten“ erscheint Kahnis unausweichlich, da die Geschichte auch der Kirche irreversibel verlaufe. Die Ideen von Calixt und Leibniz gingen von falschen Voraussetzungen aus. „Wenn sich aber aus einer gemeinsamen Grundlage die in ihr latenten (verborgen liegenden) Elemente und Kräfte zu Gegensätzen auseinander getrieben haben, so lassen sich dieselben nicht dadurch wieder vereinigen, dass man sie auf jenen unentfalteten 259 Zustand zurückführt.“ Eine Lösung sei nur in einer höheren Einheit zu finden. Kahnis bezieht seinen konfessionellen Standpunkt, sich dessen gewiss, auf diese Weise der Einheit der Kirche und damit auch einer späteren Lehrunion besser zu dienen als mit einem rein organisatorischen Aktionismus. Den erneuten Abdruck seiner Ausführungen in dem Band „Christenthum und Lutherthum“ (1871) verbindet er mit einer zusätzlichen, abschließenden Betrachtung über „Die wahre 260 Union“ . Schon im Vorwort zu dieser Schrift weist er pointiert auf diesen Abschnitt hin: „Man sollte aber über Union nicht reden, ohne sich ernstlich die Frage vorzulegen, was in ihr das Wahre sei. Ich kann sagen, daß ich aus Union gegen die 261 Union bin.“ „Was aber das Wahre an der Union ist, das bietet auch die Konfes262 sion.“ „Die Wahrheit der Union liegt“ für Kahnis erstlich in einer Gesinnung, die auf das ewige Wesen des Christenthums gegründet in den Gliedern und Gemeinden aller Konfessionen die Glieder und Theile der 257 „Aber nicht nur nicht förderlich, sondern hinderlich der Einheit musste die Union werden. Indem in Preussen die Lutheraner und Reformirten sich zu einer Unionskirche vereinten, thaten sie ja einen Schritt, der sie von den Lutheranern und Reformirten des Auslandes trennte“ (Zur Unionsfrage, 37, = AELKZ 1, 109, = Christenthum und Lutherthum, 331). 258 Zur Unionsfrage, 13 (= AELKZ 1, 84, = Christenthum und Lutherthum, 307). 259 Zur Unionsfrage, 16 (= AELKZ 1, 85, = Christenthum und Lutherthum, 310). – „Dieses Zurückgehen auf den altkatholischen Konsensus war und ist also im letzten Grunde nur eine Neutralisation der Gegensätze“ (Zur Unionsfrage, 16, = AELKZ 1, 86, = Christenthum und Lutherthum, 311). 260 Christenthum und Lutherthum (1871), 364–371. 261 Ebd., X. 262 Ebd., X.
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Konfessionelle Positionierung
Einen Kirche Christi sieht; zweitens in einer Lehrstellung, welche mit Bekenntnißtreue ein fortschreitendes Streben nach Wahrheit verbindet und daher auch in den getrennten Kirchengemeinschaften das Streben nach Wahrheit glaubt, hofft und liebt; drittens in freien Vereinen, in welchen Glieder der verschiedenen protestantischen Konfessionen die allgemeinevangelischen Rechtsangelegenheiten Gottes treiben.263
Kahnis unterscheidet damit den Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts von dem des 17. Jahrhunderts. Neu ist die ökumenische Perspektive, die alle Christen im Horizont einer wahren Union in den Blick nimmt. Zwischen beiden Zeiten „liegt eben eine Kette von Richtungen, deren Gemeinsames ist: Trachte zuerst darnach 264 ein Christ zu sein“. An anderer Stelle erkennt er hinter diesen christlichen Rich265 tungen als letztlich den Anstoß gebende Kraft den Humanismus. Dass die eine Kirche weiterhin nur in Konfessionskirchen besteht, hält er zwar für einen „Schaden“, zugleich aber für eine „geschichtliche Nothwendigkeit“, so dass die Christen „ihr Christenthum innerhalb einer Gemeinde, Landeskirche, Konfession zu bewei266 sen haben“. „Das Trachten eines Christen nach dem Reiche Gottes [muss dennoch] über die eigene Konfession hinaus auf die Einheit aller Christen hinge267 hen.“ Daraus ergibt sich eine eindeutige Nachrangigkeit des Konfessionellen. „Erst nach dem allgemeinchristlichen Glauben kommt der lutherische Bekenntnißglaube; erst nach der thatsächlichen Heilsgemeinschaft der Grundsatz vom rechtfertigenden Glauben; erst nach der einen, allgemeinen Kirche die lutherische. Das Christenthum hat nicht sein Richtmaß im Lutherthum, sondern das Lu268 therthum im Christenthum.“ Eine „Union des Strebens nach Wahrheit“ verbin269 det deshalb die lutherischen Theologen mit denen der anderen Konfessionen. Als gemeinsames Betätigungsfeld für alle Protestanten empfiehlt Kahnis das christliche Vereinswesen. In der praktischen Liebestätigkeit, sei es nun der Bibeloder Traktatverbreitung, der Diasporahilfe (Gustav-Adolf-Verein und Gotteskasten) oder der inneren Mission, sieht einen weiten Bereich zu ökumenischer Begeg263 Ebd., 370–371, statt „Rechtsangelegenheiten“ sind „Reichsangelegenheiten“ gemeint. 264 Ebd., 366. Zuvor hat er konkret Pietismus, Biblizismus, Supranaturalismus und Erweckungsbewegung genannt. 265 „Wo nur der Herr Glieder hat, da habe ich Brüder. Damit muß mehr Ernst gemacht werden, als bis jetzt ist gemacht worden. Der moderne Humanismus hat allerdings die Schranken, welche früher die Glieder verschiedener Konfessionen trennten, durchbrochen. Und ich will nicht verkennen, daß, als die Konfessionen den Christen vergaßen, der Nachdruck, welchen man auf den Menschen warf, einen heilsamen Gegendruck üben konnte. Hat der Humanismus es möglich gemacht, daß man in den Gliedern anderer Konfessionen die Menschen liebt, sollte es dem Geiste Christi nicht möglich sein, in diesen Gliedern die Christen zu lieben? Können die Römischen in uns Protestanten die Ketzer nicht vergessen, so ist das ihre Sache; unsere Sache ist es, nicht im Hintergrunde jedes Katholikenauges die Bluthochzeit lauern zu sehen“ (Die Sache der lutherischen Kirche, 85f). 266 Christenthum und Lutherthum, 364.366. 267 Ebd., 364. 268 Ebd., 366. 269 Ebd., 370.
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nung und gemeinsamen christlichen Leben unterhalb der Schwelle dezidierter Kirchlichkeit, Ausdruck vielmehr einer konföderativen Union, wie er es sonst 270 nennt. So bleibt die gesamtchristliche Perspektive nicht nur Gesinnung, sondern findet auch Ausdruck in konkretem Tun.
4.3 Kahnis und die lutherische Einigung Kahnis hält, als er in den Raum der sächsischen lutherischen Landeskirche wechselt, an der kirchlichen Grundposition, die von der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen vertreten wird, nicht nur fest, sondern bemüht sich auch darum, ihr breitere Geltung zu verschaffen. Schon früh richten sich Hoffnungen in dieser Hinsicht an seine Person. Bereits in seine Breslauer Zeit reicht der Plan zurück, ihn für eine neu zu gründende Kirchenzeitung, die sich an die gesamte lutherische 271 Kirche als Publikum wenden würde, als Redakteur zu gewinnen. Eine bestimm272 te Aufforderung dazu erreicht ihn dann 1852. Das Vorhaben kommt aber noch lange nicht zustande. 4.3.1 Stellvertretender Vorsitzender des Leipziger Missionskollegiums Harleß hat sich nicht nur dafür eingesetzt, Kahnis als seinen Nachfolger im aka273 demischen Lehramt zu bekommen, sondern er gewinnt ihn zugleich dafür, ihn selbst nach seinem Weggang nach Dresden in der Leitung des Leipziger Missionskollegiums vor Ort zu vertreten. Kahnis übernimmt dieses Amt bereits zum Janu274 ar 1851. 270 Vgl. etwa: Die Sache der lutherischen Kirche, 90. Auf dem Weg in diese Richtung sieht Kahnis den in Eisenach begründeten Kirchentag (ebd., 90; Christenthum und Lutherthum, 370). 271 In Harleß’ Aufruf zur Leipziger „Conferenz von Gliedern und Freunden der evangelischlutherischen Kirche“ 1848 wird als Punkt 6 der Agenda „Berathung über die Zweckmäßigkeit und Ausführbarkeit eines der lutherischen Kirche von ganz Deutschland für kirchliche Angelegenheiten dienenden Centralblattes“ (Protocoll über die Verhandlungen der am 30. und 31. August 1848 zu Leipzig gehaltenen Conferenz. II. Mittheilung, [1848], 32), ohne dass es bei dieser Gelegenheit schon zu bestimmten Beschlüssen kam, vielmehr wurde das Weiterverfolgen der Angelegenheit dem Ausschuss anheim gegeben (ebd., 18f). 272 Winter. Kahnis, 29f. 273 Kahnis berichtet nach am 22. Juni 1848, als er sich dessen Brief an die Gnadenberger Konferenz zu Eigen gemacht hat, dass er „mit Harleß sonst in keiner Verbindung“ stehe (SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 16). Zu einer intensiven persönlichen Begegnung zwischen beiden kommt es im Herbst 1848 anlässlich der Generalsynode der selbständigen Lutheraner in Breslau (Brief vom 17. Oktober 1848, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 17). 274 Aufgrund eines Beschlusses des Missionskollegiums vom 29. Oktober 1850: „Endlich vereinigten sich die anwesenden Glieder des Collegiums darin, Herrn Prof. Kahnis in Leipzig zum Eintritt in das Collegium zu vermögen, so daß dieser an des von Leipzig weggezogenen Dr. Harleß’s Stelle für die laufenden Geschäfte eintrete“ (Protokolle des Collegiums vom Jahre 1848–1851, ALMWDHM II.1.1.1). Öffentliche Bekanntgabe ELMB 1851, 1. Kahnis leitet dann ab 26. Januar 1851
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Die Leipziger Mission verfolgt nicht nur einen missionarischen Zweck, sondern tut dies unter der kirchenpolitischen Programmatik, die lutherischen Kirchen aller 275 Länder zu gemeinsamem Wirken zusammenzuführen. Kahnis unterstützt dieses Anliegen in der Weise, dass er der Leipziger Mission über den Zusammenschluss einzelner Christen und Vereine hinaus stärker kirchliches Profil zu geben sucht. Im Jahresbericht am Missionsfest 1851 erklärt er: „Wie im Großen und Ganzen das neue Leben, welches in Deutschland seit den Freiheitskriegen sich entfaltet hat, jetzt immer mehr zur Kirche strebt, so wird und muß auch die Mission, welche allerdings in ihrer ersten Zeit einen pietistischen Anhauch gehabt, jetzt immer 276 mehr der Kirche zufallen.“ Und wie Kahnis bei der Grundsteinlegung des Missionshauses in Leipzig feststellt: Unsere Missionsgesellschaft hat die hohe Bedeutung, das einzige äußere Band zu sein, welches die lutherischen Landeskirchen verbindet. Fragen wir aber, was ist es, das die Lutheraner entfernter Landeskirchen sich uns anschließen heißt, so können wir urkundlich nachweisen, daß es die Bekenntnißgrundlage ist, auf der wir stehen. Dieser Grund, der uns in den Augen der Welt enge macht, hat uns in der That weit gemacht. Auf ihm wollen wir, so der Herr Gnade giebt, bleiben. 277
Dank dieser die lutherischen Kirchen untereinander verbindenden Bekenntnisgrundlage schreibt sich die Leipziger Mission auch selbst ausgesprochen kirchlichen Charakter zu und den in ihrem Dienst arbeitenden Missionaren ein kirchli278 ches Amt. 279 Als Direktor Karl Graul (1814–1864) Ende 1852 von seiner indischen Visita280 tionsreise gesundheitlich geschwächt zurückkehrt und das Missionsseminar wieder eröffnet wird, setzt Kahnis sich für die Berufung von Besser zum Kondidie in der Regel monatlichen Sitzungen des Kollegiums. – Vgl. Handmann: Tamulen-Mission, 153–155. 275 Charakteristisch ist die Vorstellung, die Karl Graul am Jahresfest 1848 gibt: „Wir sind Kinder der evangelisch-lutherischen Kirche aller Lande, die zu gemeinsamen Wirken Herzen und Hände in einem Glauben, in einer Liebe und in einer Hoffnung zusammengethan haben, und bilden somit einen Körper, dessen Glieder sich auch über Deutschland hinweg nach Dänemark, Norwegen, Schweden, nach Polen und Ungarn, nach den Russischen Ostseeprovinzen und Süd-Rußland, nach dem Elsaß, ja auch nach Nord-Amerika hinüber ausbreiten. Diese Glieder regen sich aller Orten zu gemeinsamer Handreichung, jedes in seiner Weise, und greifen zu einem letzten Zwecke ineinander; hier in Leipzig aber ist das leitende Haupt des ganzen Körpers“ (Handmann: Tamulen-Mission, 152). 276 Jahresbericht, ELMB 1851,337–344, dort 339. 277 Eröffnungswort, ELMB 1855, 178–180, dort 180. Vgl. Grundsteinlegung des Missionshauses in Leipzig, SKSB 5 (1855), 331. 278 Zu dieser konzeptionellen Ausprägung hat Kahnis seinen Beitrag geleistet; vgl. Aagaard, Mission Konfession Kirche, 723 279 Karl Friedrich Leberecht Graul (6. Februar 1814 in Wörlitz/Anhalt – 10. November 1864 in Erlangen), –1844 Direktor der Dresdner, 1848 nach Leipzig übergesiedelten Mission bis 1860, ab 1861 in Erlangen, 1864 Habilitation. 280 So liest Kahnis auf der Leipziger Jahresfeier am 22. August 1854 den von Graul verfassten Jahresbericht vor (ELMB 1854, 289–294).
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rektor ein, die am 19. Oktober 1854 erfolgt. Im Zusammenhang mit der wieder 282 aufgenommenen Missionarsausbildung wird auch das Missionshaus gebaut. Die 283 Grundsteinlegung findet am 14. Mai 1855 statt; die festliche Einweihung voll284 zieht Kahnis am 24. Juni 1856, dem Tag vor der Jahresversammlung. Kahnis und Besser werden im Herbst 1854 beauftragt, den Ausgleich mit 285 286 Louis Harms (1808–1865) zu suchen, der 1849 in Hermannsburg ein eigenes lutherisches Missionswerk gegründet und damit den Weg lutherischer Gemeinsamkeit in der Missionsarbeit verlassen hat. Ihr Besuch in Hermannsburg Mitte Oktober führt zu einer freundschaftlichen Begegnung mit Harms und zu einer 287 gemeinsamen Abendmahlsfeier. Graul erneuert seine offene Kritik an Harms’ 288 Missionskonzeption in folgenden Jahr und trübt damit abermals das Verhältnis 289 zu Hermannsburg spürbar.
281 Am 19. August war beschlossen worden, „daß der erste Director hauptsächlich die auswärtigen, der zweite die heimischen Miss.-Angelegenheiten zu seinem Ressort haben soll. Das soll auch in Bezug auf die Redaction des Missionsbl. gelten, so daß der erste Director hauptsächl. für die vom äußeren Missionsfelde mitzutheilenden Nachrichten, der zweite für den übrigen Theil des Blattes verantwortlich sey. Als Hauptthätigkeit wird dem zweiten Director der theol. Unterricht am Seminar zugewiesen werden“ und sein Titel als „Condirector“ bestimmt (Protokolle des Collegiums II.1.1.2). Das Berufungsschreiben wird in der Sitzung des Kollegiums am 28. September beschlossen, am 19. Oktober wird Besser in der Kollegiumssitzung begrüßt. Vgl. den Bericht von der Jahresversammlung 1854, ELMB 1854, 297. 282 Der Plan lag bereits in der Sitzung am 15. Februar 1854 vor; der für nach Ostern vorgesehene Baubeginn verzögerte sich jedoch; der Bauvertrag wird schließlich am 30. Dezember geschlossen (Protokolle des Collegiums II.1.1.2). – Das Haus der Mission in Dresden wird in diesem Zusammenhang auf Beschluss vom 1. März am 28. Oktober 1855 verkauft (ebd.). 283 ELMB 1855, 177–192. 284 ELMB 1856, 209–232. Kahnis’ Weihegebet, ebd., 220f. Kahnis stellt einschränkend fest: „So zerrissen ist unsere Kirche, daß sie nicht einmal eine weihende Hand hat für ein solch gemeinsam Werk.“ Er fährt dann fort: „Und doch möchten wir Dich heute bitten: Komm herein in dies Haus und mache Wohnung bei uns.“ 285 Louis Harms (3. Mai 1808 in Walsrode – 14. November 1865 in Hermannsburg), 1853 erste Aussendung von Missionaren und Kolonisten nach Afrika, 1864 Aufnahme einer Arbeit auch in Indien (Telugu). 286 ELMB 1854, 300. Vgl. Brief vom 11. Oktober 1854, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 20, am Tag vor seiner Abreise. – Im Protokoll vom 2. November wird ein Bericht über die Hermannsburger Mission durch die beiden Besucher, Kahnis und Besser, für den 16. November angekündigt; er findet sich aber nicht auf der Tagesordnung dieser Sitzung (Protokolle des Collegiums II.1.1.2). – Ein früherer Beschluss der Generalversammlung vom 30. August 1853, Direktor Graul nach Hermannsburg zu senden und eine Verständigung zu suchen (Protokolle der Generalversammlung II.2.1), war offenbar nicht ausgeführt worden. 287 Louis Harms in: HMB 2 (1855), 5. Vgl. Haccius: Hannoversche Missionsgeschichte II, 608f; Grafe: Die Leipziger Kritik an der Missionspraxis von Louis Harms, 106. 288 Graul: Die Hermannsburger Mission. Graul druckt hier im Wesentlichen eine bereits im Dezember 1851 von ihm verfasste Stellungnahme ab (56–62), die er mit aktualisierenden Anmerkungen versieht. In sehr nüchterner Weise zeigt er die unrealistischen und illusorischen Züge der Missionsvision bei Harms auf. 289 Handmann: Tamulen-Mission, 161; Haccius: Missionsgeschichte II, 609f.
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Zusammen mit Besser reist Kahnis Ende August 1856 auch nach Höchst an 290 der Nidder, um Pastor Karl Ferdinand Bingmann (1822–1898) für das Amt eines 291 Missionspropstes in Indien zu gewinnen. Über das Ergebnis dieses Besuches verhandelt das Kollegium in seiner Sitzung am 9. Oktober. „Auf Grund des von den DD. Kahnis u. Besser erstatteten (beigelegten) Berichtes über ihre Reise zu P. Bingmann wird beschlossen: einstweilen soll kein Ruf an denselben gerichtet werden. Dagegen soll P. Fienemann in Lüneburg gebeten werden, uns hier einen Be292 such zu machen, damit wir ihn kennen lernen möchten.“ Überhaupt scheitern alle Versuche, einen Propst zu finden, so dass man 1857 die weitere Suche und damit diese Strategie, die Zusammenarbeit der Missionare zu verbessern, aufgibt 293 und stattdessen einen Missionskirchenrat einsetzt. Das Verhältnis zwischen den beiden Direktoren gestaltet sich schwierig, da Graul sehr bestimmte missionarische Überzeugungen zu verwirklichen sucht. Spannungen ergeben sich über die Frage der nötigen Anforderungen an Missiona-
290 Karl Ferdinand Bingmann (22. Februar 1822 in Oberroßbach/Oberhessen – 16. Februar 1898 in Höchst a.d. Nidder), 1849 Pfarrer in Höchst, 1851 Vorsitzender der „Lutherischen Einigung“, am 14. Juni 1875 als landeskirchlicher Pfarrer abgesetzt, 1877 erster Superintendent der neu entstandenen „Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen“. 291 Am 17. Februar war zunächst Graul gebeten worden, brieflichen Kontakt mit Bingmann in dieser Angelegenheit aufzunehmen. Bingmann hatte dann als Vertreter der „Lutherischen Einigung im Großherzogthum Hessen“ an der Jahresfeier teilgenommen (Protokolle der Generalversammlung, ALMW-DHM II.2.1), die Einladung zur Übernahme der Festpredigt allerdings abgelehnt (Einladung am 17. Mai beschlossen, Ablehnung am 5. Juni mitgeteilt; Protokolle des Collegiums, ALMW-DHM II.1.1.2). Am 31. Juli war an einen Aufschub der inzwischen vorgesehenen Reise gedacht: „Die Besuchsreise zu P. Bingmann kam zuerst zur Besprechung, und wurde beschlossen, daß dieselbe bis zur Rückkehr des Directors verschoben werden solle, weil es gerathen sey, daß dieser daran sich betheilige.“ In einer Nachbemerkung Bessers zum Protokoll heißt es dann aber: „Es sey mir erlaubt nachträglich zu bemerken, daß die Reise zu P. Bingmann nun doch in der Woche vom 13–14 p. Trin. gemacht werden soll“ (ebd.). Vgl. Mie: Die Geschichte der Gemeinde Höchst, 115. 292 Protokolle des Collegiums, ALMW-DHM II.1.1.2. – Die Entscheidung ist darin begründet, dass die offensichtlich aus familiären Schwierigkeiten resultierende Unentschlossenheit Bingmanns, der selbst um den Besuch gebeten hatte, die Besucher befremdet hatte, und sie auch erhebliche Bedenken hinsichtlich seiner Eignung für das Propstamt in Indien geäußert hatten: „Es fehlt ihm die Elasticität u. Schnellkraft des Geistes, bald in Sachen und Personen sich zu finden. Möchte er der tamulischen Sprache sich noch bemeistern […], so bleibt doch fraglich, ob er des tamul. Volks characters u. namentl. der Bahnen, in welchen die indischen religiösen Gedanken einhergehen, je in hinreichendem Grade mächtig werden würde. […] Zum andern fehlt seinem Wesen, dem tiefer Ernst aufgeprägt ist, die Fähigkeit aus sich herauszugehen, u. daneben jene gewinnende Freundlichkeit, jenes ‚Wandeln der Stimme’ [Gal 4,20], kurz das, was für den Umgang mit untergebenen Brüdern, neben der Würde, doch auch von Belang ist“ (Anlage zum Protokoll vom 9. Oktober 1856). – Friedrich August Fienemann (12. August 1818 in Bergen bei Celle – 4. Dezember 1886 in Peine), 1852 Hilfspfarrer in Hannover-Linden, 1855 Pfarrer an der Strafanstalt Lüneburg, später Superintendent in Sulingen, ab 1872 in Peine. 293 Vgl. Handmann: Tamulen-Mission, 353–357.
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re und ihrer Aufgabenstellung sowie in der Bewältigung des Streits darüber, wie eine Überwindung des indischen Kastenwesens in rechter Weise herbeizuführen 295 sei. Am 30. Juni 1857 kommt es zu einer Krisensitzung des Missionskollegiums von der Leitung von Harleß. Um Graul freiere Hand zu lassen, werden die Kompetenzen in der Missionsleitung neu bestimmt. Damit ist ein Personalwechsel im Oktober 1857 verbunden: Besser geht in das Gemeindepfarramt zurück, und zwar 296 nach Waldenburg/Schlesien; Kahnis übergibt seine Funktion an Luthardt. Den konzeptionellen Herausforderungen der missionarischen Arbeit wird gegenüber der kirchlich gestalterischen Perspektive Vorrang gegeben. Kahnis, der noch die Generalversammlung am 3. Juni geleitet hatte, auf der wichtige Beschlüsse zur 297 Kastenfrage gefasst wurden, war kein Mann, der Missionsarbeit zu strukturieren und zu organisieren wusste. Ernst Luthardt schildert ihn als einen unpraktischen 298 Menschen des Innenlebens. Bezeichnend ist jedoch, dass 1860, als das Verhältnis zwischen der „Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen“ und der „Evangelisch-Luthrischen Mission zu Leipzig“ eines langen Streites über Abendmahlsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft schwer belastet ist, der altlutherische Pfarrer Georg Wermelskirch 299 (1803–1872) , ehemaliger Direktor der Dresdner Mission, die 1848 nach Leipzig übergesiedelt war, ein ausführliches Gespräch mit Kahnis sucht, um über diese 300 Brücke eine versöhnende Klärung herbeizuführen. Und dieser Weg erweist sich als zielführend.
294 Zu Grauls grundsätzlichen Auffassungen vgl. G[raul]: Was für Leute braucht der Missionsdienst, MNOIM 6/3 (1854), 63–67; Graul: Erklärung den Missionsdienst in Ostindien und die Aufnahme von Missionszöglingen betreffend, ELMB 1854, 300–304. Vgl. Fleisch: Hundert Jahre, 45–47. 295 Vgl. Fleisch: Hundert Jahre, 57–62. 296 Im Protokoll vom 30. Juni heißt es: „Dr. Kahnis spricht nur noch die Bitte aus, daß er jedenfalls vom Amte des Vicepräses entlassen werden möchte; dies wird vom Präses gewährt, unter dem Vorbehalt, daß interimistisch Dr. Kahnis ihn noch vertreten möge, wozu sich derselbe bereit erklärt“ (Protokolle des Collegiums, ALMW-DHM II.1.1.3). Luthard war bereits am 19. Mai kooptiert worden, zögerte jedoch, neben der Übernahme der Redaktion des „Sächsischen Kirchen und Schulblattes“ von Kahnis jetzt auch schon dieses Amt zu übernehmen. Auf eine erneute Bitte am 30. Juni hin stellt er sich jedoch der Aufgabe. Kahnis leitet zum letzten Mal am 24. Oktober eine Sitzung des Kollegiums und kündigt seinen Austritt aus dem Gremium an, sobald die Nachfolge gesichert sei, in der folgenden am 8. November führt Luthardt den Vorsitz (ebd.). Vgl. Fleisch: Hundert Jahre, 44f. 297 Die Generalversammlung, ELMB 1857,199–204. 298 Luthardt: Erinnerungen aus vergangenen Tagen, 365f; zu Graul, ebd. 370f. – Zu Kahnis’ späteren Einsatz für die Leipziger Mission vgl. seine Predigt auf dem Missionsfest des thüringischen Vereins, der von Georg Wermelskirch ins Leben gerufen war, am Johannistag 1870 in Meiningen über Mt 28,16–20 (Predigten. Zweite Sammlung, 151–163). 299 Johann Georg Gottfried Wermelskirch (22. Februar 1803 in Bremen – 20. Dezember 1872 in Erfurt), 1824 Judenmissionar in Warschau, 1825 in Posen, 1834 Übertritt zur EvangelischLutherischen Kirche in Preußen, 1836 Leiter der Dresdner Mission, 1842 altlutherischer Pfarrer in Berlin, 1844 in Erfurt. 300 Ziemer: Die Missionstätigkeit der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, 122.
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4.3.2 Die allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenzen Weitere Gelegenheit, seine kirchliche Anschauung in weitere Kreise zu vermitteln, bietet sich Kahnis in der Mitarbeit an den allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenzen. Die erste „Allgemeine Konferenz von Gliedern der evangelisch-lutherischen 301 Kirche“ hatte auf Einladung von Andreas Gottlob Rudelbach (1792–1862) und 302 unter seinem Vorsitz in Leipzig vom 7./8. September 1843 stattgefunden; daran 303 hatte sich eine zweite in Leipzig am 5./6. September 1844 angeschlossen. 304 Dann hatten sich auf Einladung von Harleß am 30./31. August 1848 in Leipzig 256 Teilnehmer aus allen Ländern Deutschlands zu einer weiteren Konferenz 305 zusammengefunden. Das in einer Thesenreihe angesprochene weit reichende Ziel der „Herstellung einer autonomen deutschen lutherischen Kirche unter einer 306 den Principien der Kirche gemäß zu bildenden gemeinsamen Oberleitung“ , das 307 im Hinblick auf die Absichten des Frankfurter Parlaments diskutiert wurde , wurde nicht beschlossen. Man begnügte sich mit der Erklärung, dass die Konferenz, „ohne den zu Recht bestehenden Behörden lutherischer Landeskirchen in das Amt zu greifen oder gar Spaltungen innerhalb der lutherischen Landeskirchen hervorrufen zu wollen, nur die freie Berathung und Vorbereitung solcher Maß301 Andreas Gottlob Rudelbach (29. September 1792 in Kopenhagen – 3. März 1862 in Slagelse auf Seeland), 1829 Superintendent in Glauchau, 1839 Begründer der Muldentaler Pastoralkonferenz, seit 1839 mit Guericke Hg. der ZLThK, 1848 Pfarrer in Slagelse. 302 Bericht darüber: ZLThK 1843 IV, 28–120. – Rudelbach hoffte, dass die Nöte der Zeit „die einzelnen Staatskirchen in ihrer jetzigen Gestalt zerschlagen und dann zunächst die lutherischen Kirchen aller Orten unter der Religionsfreiheit sich zusammenschließen würden“ (zitiert nach. Art. Rudelbach, in: Kirchliches Handlexikon 5, 683). – Vgl. zu diesen Konferenzen bis 1849: Cochlovius: Bekenntnis und Einheit, 108–113. 303 Bericht darüber: ZLThK 1844 IV, 1–130. 304 Rudelbach hatte am 1. September 1845 sein Amt als Superintendent in Glauchau niedergelegt und war nach Kopenhagen zurückgekehrt. 305 Protocoll über die Verhandlungen der am 30. und 31. August 1848 zu Leipzig gehaltenen Conferenz (1848). 306 Ebd., 36. 307 Der Nationalversammlung in Frankfurt verhandelte über einen Entwurf einer Reichsverfassung, in dem die Religionsfreiheit und zugleich die Loslösung der Kirchen vom Staat erklärt wurden. In der durch die Nationalversammlung in Frankfurt dann am 28. März 1849 beschlossenen „Verfassung des deutschen Reiches“ (Paulskirchen-Verfassung) lautet der § 147: „[1] Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig, bleibt aber den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen. [2] Keine Religionsgesellschaft genießt vor andern Vorrechte durch den Staat; es besteht fernerhin keine Staatskirche. [3] Neue Religionsgesellschaften dürfen sich bilden; einer Anerkennung ihres Bekenntnisses durch den Staat bedarf es nicht.“ – Den Überlegungen der Leipziger Konferenz zur Bildung einer gesamtdeutschen lutherischen Kirche steht die Idee einer evangelischen „deutschen Nationalkirche“ gegenüber, die Isaak August Dorner 1848 in seinem „Sendschreiben an Nitzsch und Müller über die Reform der deutschen evangelischen Landeskirchen“ entwickelt und die der Kirchentag, der vom 21. bis 23. September in Wittenberg stattfindet, aufnimmt und propagiert. Beide Konzeptionen erledigen sich dadurch, dass die Paulskirchen-Verfassung nicht umgesetzt werden kann.
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nahmen beabsichtigt, welche, angesichts der bevorstehenden Umgestaltung, das gute Recht der lutherischen Kirche zu wahren und ihren gedeihlichen Fortgang zu 308 fördern geeignet sind.“ Alle Teilnehmer hatten sich durch Namensunterschrift dazu verpflichtet, „die Aufrechterhaltung der evangelisch-lutherischen Kirche auf 309 Grund ihres bestehenden Bekenntnisses (zu) begehren“. Es entwickelte sich aber eine sehr lebhafte Diskussion über die Anforderungen, die sich an den Anspruch der Zugehörigkeit zur lutherischen Kirche knüpfen. Grundsätzlich wurde beschlossen: „Ihren einhelligen Verstand christlicher Lehre hat die lutherische Kirche offenkundig ausgesprochen in den Bekenntnissen; sie ist also da, wo der in diesen Bekenntnissen ausgesprochene Glaube den Grund und das eigentliche Band der kirchlichen Gemeinschaft ausmacht und wo der Inhalt dieses Bekennt310 nisse als öffentliche Lehre (publica doctrina) der Kirche gilt.“ Faktisch wurde die Anerkennung der selbständigen Lutheraner in Preußen dadurch hervorgehoben, dass Eduard Huschke (Preußen) neben Adolf Harleß (Sachsen), Ludwig Adolf 311 312 Petri (1803–1873) (Hannover), Theodor Kliefoth (1810–1895) (Mecklenburg), 313 Gottfried Thomasius (Bayern) und Christian Friedrich Elvers (1797–1858) (Kurhessen) in das neu gebildete Komitee berufen wurde. Die Wertungen fallen entsprechend der jeweiligen Stellung unterschiedlich aus. „Von jetzt ab galt es derselben [sc. der ‚Conferenz von Gliedern und Freunden der evangelisch-lutherischen Kirche’] als ausgemachte Sache, dass die Gemeinschaft der schlesischen Lutheraner allein als die in Preußen zur Recht bestehende lutherische Kirche anzusehen sei“, stellt Wangemann als Vertreter der Vereinsluthera314 ner innerhalb der preußischen Union mit einem Ton von Bitterkeit fest. Dankbar äußert sich Huschke von der andern Seite her und nennt drei Punkte von besonderer Bedeutung: Zuerst hat sie [sc. die Konferenz] als Pflicht wahrer Lutheraner anerkannt, an dem ganzen Bekenntniß unserer Kirche festzuhalten, d.h. an allen den symbolischen Schriften, in welchen dasselbe allmählich ausgesprochen und vor Irrthümern gewahrt worden ist Hierdurch hat sie sich ganz auf denselben Bekenntnißgrund mit uns gestellt. Ferner hat sie erklärt, daß die lutherische Kirche da vorhanden sei, wo der in diesen Bekenntnissen ausgesprochene Glaube den Grund und das eigentliche Band der kirchlichen Gemeinschaft ausmacht und wo der Inhalt dieser Be308 Ebd., 4.33. 309 Ebd., 26 zu Beginn der Präsenzliste (26–32). 310 Ebd., 6.33f. 311 Ludwig Adolf Petri (16. November 1803 in Lüthorst/Solling – 8. Januar 1873 in Hannover), 1829 zweiter, 1851 erster Pfarrer an der Kreuzkirche in Hannover. 312 Theodor Friedrich Dethlof Kliefoth (18. Januar 1810 in Körchow – 26. Januar 1895 in Schwerin), 1840 Pfarrer in Ludwigslust, 1844 Superintendent der Diözese Schwerin, 1850 Mitglied im Oberkirchenrat, 1866 dessen Präsident. 313 Christian Friedrich Elvers (16. Juli 1797 in Flensburg – 2. Oktober 1858 in Kassel), Jurist, 1828 o. Professor in Rostock, 1841 Oberappellationsrat in Kassel. 314 Wangemann: Sieben Bücher Preußischer Kirchengeschichte, 7. Buch, 407f, bei seiner Darstellung der Leipziger Konferenzen bis 1849, ebd., 404–409.
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kenntnisse als öffentliche Lehre der Kirche gilt. Damit hat sie ein gutes Zeugniß abgelegt, um diejenigen aus ihrem Irrthum zu reißen, welche meinen, auch in den unirten evangelischen Landeskirchen, in welchen Ungewißheit oder ein Gemisch von verschiedenen Bekenntnissen als öffentliche Lehre gilt, Glieder der lutherischen Kirche seyn können. Sie hat aber bei dieser Gelegenheit auch ein gutes Zeugniß für uns abgelegt, indem sie den Anmaßungen der uns bedrückenden Landeskirche gegenüber uns und nur uns in diesem Lande als ebenbürtige Schwesterkirche der übrigen lutherischen Kirchen Deutschlands anerkannte.315
Dieses Bild bestätigte sich noch einmal auf der Konferenz am 29. und 30. Au316 gust des nächsten Jahres. Die nächstfolgende Konferenz findet am 27./28. August 1851 wieder im Anschluss an das Leipziger Missionsfest und mit etwa gleich starker Beteiligung (nahezu 260 Teilnehmer) unter dem Vorsitz von Petri statt. Hier wird Kahnis an Har317 leß’ Stelle in den Vorstand der Leipziger Konferenz gewählt. Die Konferenz verhandelt die Themen des kirchlichen Amtes (anhand von zwölf Thesen, die Münchmeyer vorstellt) und der Kirchenzucht (anhand eines Vortrags von Besser), kürzer auch über das landesherrliche Kirchenregiment (anhand eines Schreibens 318 von Karl Friedrich Wilhelm Catenhusen [1792–1853] ). In der Diskussion über das Amt der Kirche bezieht Kahnis die Stellung, „das Amt empfange die Person 319 von Gott durch die Kirche“. Nachdem Kahnis am 20. Juni 1853 die Einladung dazu hatte herausgehen las320 sen, findet eine weitere Konferenz am 30. August und 1. September 1853 in der 321 Aula der Universität mit 190 Teilnehmern statt. Kahnis eröffnet und schließt die Versammlung, hält zudem den ersten Vortrag mit dem Thema „Die moderne 322 Unionsdoktrin“. Er erreicht damit eine weitgehende Verständigung über die Haltung gegenüber dem allgemeinen Unionstrend und zu einem Schulterschluss mit den in einem eigenen Kirchenkörper zusammengeschlossenen Lutheranern in 315 Beschlüsse der evangelisch-lutherischen Generalsynode zu Breslau (1849), 144. 316 Einladungsschreiben von Harleß, datiert vom 20. Juli 1849: Die Conferenz von Gliedern und Freunden der Evangelisch-Lutherischen Kirche, abgedruckt im Kirchenblatt für die Gemeinen evangelisch-lutherischen Bekenntnisses in den Preußischen Staaten (1849), 148. Bericht darüber: ZLThK 1850 I, 1–29. 317 Mehlhorn: Darstellung der Verhandlungen, 93. Vgl. Missionsfest und Conferenz in Leipzig am 26.–28. August 1851. – Der Ausschuss bestand damit aus Thomasius/Erlangen, Huschke/Breslau, Elvers/Kassel, Kliefoth/Schwerin, Petri/Hannover und Kahnis/Leipzig. 318 Karl Friedrich Wilhelm Catenhusen (24. August 1792 in Ratzeburg – 24. April 1853 in Ratzeburg), 1817 Pfarrer in Lauenburg, 1831 in Ütersen, 1834 Superintendent des Herzogtums Lauenburg in Ratzeburg, 1845 Gründung der Gelehrtenschule in Ratzeburg. 319 Mehlhorn: Darstellung der Verhandlungen, 110. 320 SKSB 3 (1853), 410; Mitteilung der Tagesordnung ebd., 558. 321 Die Leipziger Konferenz am 31. August und 1. September 1853 (1853). Der Ausschuss weist dieselbe Zusammensetzung aus wie 1851 beschlossen. – Vgl. auch den Bericht: Das Missionsfest und die sich anschließende Konferenz in Leipzig, am 30.31. August und 1. Septbr. 1853, SKSB 3 (1853), 643–649.651–658.659–662. 322 Vgl. dazu oben den Abschnitt über die Auseinandersetzung mit Nitzsch in der Unionsfrage.
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Preußen. Weitere Verhandlungspunkte sind ein Vortrag von Münchmeyer über die römische Frage und die Anliegen der Buffalosynode in Nordamerika, die Jo324 325 hann Grabau (1804–1879) und Heinrich von Rohr (1797–1874) als ihre Abgesandten geschickt hat. Den ökumenischen Horizont, innerhalb dessen die lutherische Selbstvergewisserung und Geschlossenheit gesucht wird, zeigt Kahnis’ Schlussgebet deutlich auf: Zeuge bist Du mir, Herr Himmels und der Erde, daß die Zerrissenheit Deiner Kirche mein steter Schmerz ist. Mein Herz sehnt sich nach der Union, von welcher Dein ewiger Sohn auf seinem Todesgange in seinem hohenpriesterlichen Gebete gesprochen hat: Ich bitte nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden, daß sie eins seien, gleich wie Du Vater in mir und ich in Dir; daß auch sie in uns eins seien, auf daß die Welt glaube, Du habest mich gesandt [Joh 17,20f]. Aber wir dürfen nicht menschlich einen, was Dein Wort trennt. Und ich kenne keinen andern Weg zur Einheit, als fortzuwandeln auf dem engen Pfade Deines Wortes, wie unsere Väter es bekannt haben. Eng ist unser Pfad, aber Du bist mit uns. Jehovah, mein Panier! ist unser Wort. Wollte ich menschlich reden, ich würde sagen: Mit der Sache unseres Bekenntnisses, die einst die Welt erschüttert hat, wollen wir untergehen, untergehen, wie es dieser Sache würdig ist, im letzten Waffenglanze. Aber sie kann nicht untergehen, weil sie Deine Sache ist. Himmel und Erde vergehen, aber nicht das Wort der Wahrheit. Wir halten zum Bekenntnisse der Väter, weil wir zu Deinem Wort halten. Erhalte uns Herr bei Deinem Wort! Und wenn ich spreche: Herr, wir wollen bei Luther’s Lehre bleiben, so spreche Jeder. Amen!326
Im Auftrag der Konferenz richtet ein Dreierausschuss, bestehend aus Münchmeyer, Kahnis und Besser, am 18. Oktober 1853 ein Schreiben „An die ehrwürdige Synode von Missouri, Ohio und andern Staaten – und von Buffalo“, um sie dazu zu ermahnen, den zwischen ihnen bestehenden Lehrstreit mit weniger Härte in größerer geistlicher Gelassenheit zu führen. „Die Oerter von der Kirche, vom kirchlichen Amte und was damit zusammenhängt, sind ja ohne Zweifel solche, welche unsere Symbole, wenn sie auch die Grundlagen zu deren Ausführung richtig und vollständig enthalten, doch nicht bis zur vollen theologischen Durcharbeitung und Abschließung geführt haben. Diese letzte scheint vielmehr die Aufgabe 323 In der Diskussion wurden die ersten sechs Thesen von den Konferenzteilnehmern angenommen, die erste freilich mit einer gewissen Abschwächung von „kann nicht“ zu „darf nicht“: „Wer zu den lutherischen Symbolen sich bekennt, darf nicht in Abendmahlsgemeinschaft mit den Reformirten stehen“ (Die Leipziger Konferenz 1853, 4). 324 Johann Andreas August Grabau (18. März 1804 in Olvenstädt bei Magdeburg – 2. Juni 1879 in Buffalo/New York), 1834 Pfarrer in Erfurt, 1836 abgesetzt, 1838/39 Auswanderung nach Nordamerika, Pastor in Buffalo am Eriesee, 1845 Bildung der Buffalosynode. 325 Heinrich Karl Georg von Rohr (15. Mai 1797 in Billerbeck – Juli 1874), militärische Laufbahn in Preußen, 1839 Auswanderung nach Nordamerika, Ausbildung zum Pastor bei Grabau, 1846 Pastor an verschiedenen Orten. 326 Die Leipziger Konferenz 1853, 77f. Zitiert bei Hermann Sasse: In Statu Confessionis II (1976), 169.
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unserer Tage auszumachen.“ Und eine Beantwortung „auf eine für die ganze lutherische Kirche verpflichtende Weise“ sei nicht von einer einzelnen lutherischen 328 Kirche allein zu treffen. Die ausführliche Antwort der „Deutschen EvangelischLutherischen Synode von Missouri, Ohio und andern Staaten“ vom 1. Juli 1854 329 zeigt die Erfolglosigkeit dieser Initiative. 330 Für die nächste Konferenz, die im August 1855 stattfindet, formuliert Kahnis sechs „Thesen über Kirche“, die zur Strukturierung der weiter gehenden Diskus331 sion helfen sollen. Sie stecken, wie die angefügten Erläuterungen deutlich machen, gleichsam als Leitfaden für das gemeinsame Gespräch die beiden Fragenkreise des Verhältnisses zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche sowie des Verhältnisses der lutherischen Kirche zu der einen Kirche ab, ohne schon einen 332 Lösungsvorschlag anbieten zu wollen. Diese Leipziger Konferenzen, die im Anschluss an die Jahresversammlungen 333 der Leipziger Mission gehalten werden, verlieren bald eher an Bedeutung, als dass sie größere Wirkung erzielen können. 327 An die ehrwürdige Synode von Missouri, Ohio und andern Staaten – und von Bufallo, SKSB 3 (1853), 693; Abdruck in: Der Lutheraner 10 (1853/54), 76. 328 Ebd., 76. – Vgl. Klän: Immanuelsynode, 39f.218. 329 Antwort auf die von der Leipziger Conferenz an die Synode von Missouri, Ohio u. a. St. ergangene Ermahnung vom 1. Juli 1854, verfasst von Präses Friedrich Wyneken (13. Mai 1810 in Verden – 4. Mai 1876 in San Francisco). Darin heißt es: „Wir sind der Ueberzeugung, daß die Fragen von Kirche und Amt, was beide seien und wie sie zusammenhangen, keine offenen mehr sind, sondern längst schon im 16. und 17. Jahrhundert ihre gründliche Beantwortung und Erledigung gefunden haben“ (ebd., 190). Dementsprechend „hat ja die Kirche schon gesprochen, und es ist nur an den Symbolen der Nachweis zu führen, welche Lehre die bekenntnißmäßige sei“ (ebd., 191). 330 Auf dieser Konferenz am 22. und 23. August 1855 in Leipzig werden nicht nur Kahnis’ Thesen diskutiert, sondern Vorträge von Theodosius Harnack (Die lutherische Kirche im Lichte der Geschichte) und Carl Wilhelm David Plaß (1824–1900) (Das richtige Verhalten des Geistlichen zu pietistischen Bestrebungen in der Gemeinde) gehalten. 331 Einen Zwischenschritt im Gang der Diskussion bildet die Konferenz in Rothenmoor in Mecklenburg am 14. und 15. Juni 1854, auf der vor allem die Ekklesiologie verhandelt wird. 332 Thesen über Kirche, SKSB 5 (1855), Abdruck (Erläuterungen auszugsweise) in: LuW 1 (1855). „Um der Discussion eine Grundlage zugeben, hat Ref. Im Einverständniß mit den Leipziger Freunden sich erlaubt, Thesen zu stellen. Von der Mangelhaftigkeit derselben kann Niemand mehr überzeugt sein, wie er selbst. Er bittet darum dringend, nicht mehr in denselben zu sehen als einen Faden für die Discussion. Sie sollen den Dienst einer Schnur thun, um welche die Konferenz ihre Perlen reihen mag“ (SKSB 5, 508). – Zur Vorgeschichte vgl. Münchmeyer: Das Dogma von der sichtbaren und unsichtbaren Kirche. „Da aber auf der letzten Leipziger Conferenz von dem verehrten Präsidenten derselben [sc. Kahnis] ausgesprochen wurde, er werde dahin wirken, daß auf der nächsten Conferenz das Wesen der Kirche, d.h. namentlich die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit desselben, zur Erörterung komme, da hatte ich keine Wahl mehr, da war für mich die Durcharbeitung des hochwichtigen Gegenstandes eine innere Nothwendigkeit geworden“ (ebd., IV). 333 Kahnis’ Einladung zur nächsten Konferenz am 4. Juni 1857, SKSB 7 (1857), 164. Thema ist die Amtstätigkeit des Pfarrers grundsätzlich und die Stärkung des Gemeindegesangs. Bericht: Die Leipziger Pastoralconferenz am 4. Juni 1857. – Weitere Konferenzen finden z. B. unter Luthardts Leitung am 12. Juni 1862 (SKSB 1862, 209–211) und am 28. Mai 1863 (SKSB 1863, 203– 206.209–215), am 19. Mai 1864 mit über 100 Teilnehmern, am 24. Mai 1866 und am 13. Juni
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Wiederholt nimmt Kahnis auch an den seit 1850 fast jährlich auf Gut Rothenmoor in Mecklenburg stattfindenden freien Pastoralkonferenzen teil, die Landrat 334 Friedrich von Maltzan (1783–1864) , ein bewusster, mit Huschke, Löhe und Delitzsch befreundeter Lutheraner, veranstaltet, um landeskirchliche und freikirchli335 che Lutheraner miteinander ins Gespräch zu bringen. Ein neuer Impuls, eine lutherische Einigung über die Grenzen der einzelnen Landeskirchen hinaus anzustreben, geht von den Folgen des Krieges von 1866 aus. Der preußische Staat erweitert sich um überwiegend lutherische Gebiete (Hannover, Schleswig-Holstein, Lauenburg, Frankfurt und Kurhessen). Damit stellt sich die Frage, ob die kirchliche Union sich jetzt auch auf diese neuen Gebiete ausweiten würde. Um gemeinsamen Widerstand gegen eine solche Entwicklung der Förderung der Union durch die Ausweitung der Macht Preußens zu organisieren, 336 bildet sich die „Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz“ in neuer Form. Ein Vorgespräch am 30. und 31. Oktober 1867 in Hannover offenbart „das lebhafte Bedürfnis nach einem näheren Zusammenschluß der Lutheraner Deutschlands, welches – längst vorhanden und öffentlich anerkannt – in Folge der Einverleibung mehrerer lutherischer Kirchengebiete in die preußische Monarchie besonders 337 fühlbar geworden war“. Ihre erste Tagung findet am 1. und 2. Juli 1868 in Hannover statt. Auf dieser Konferenz schließt Kahnis die Aussprache über vier Thesen, die Kliefoth zum Thema „Was fordert Art. 7 der Augsburgischen Confession hinsichtlich des Kir338 chenregiments der lutherischen Kirche“ vorgelegt hat, mit einem Votum ab, das 1867 (Resolution zur Stellung der lutherischen Kirchen in den neu erworbenen preußischen Ländern) statt. – Da die Jahresversammlungen der Leipziger Mission seit 1856 regelmäßig am Mittwoch nach Pfingsten stattfinden, ergibt sich daraus die Terminierung der daran anschließenden Konferenzen. 334 Friedrich Rudolph Nikolaus von Maltzan (4. August 1783 auf Gut Werder bei Penzlin – 12. August 1864 auf Rothenmoor), Freiherr zu Wartenberg und Penzlin, Geschichtstheologe und Vorkämpfer einer unionsfreien lutherischen Kirche in Mecklenburg, seit 1822 auf Rothenmoor (heute Ortsteil von Dahmen), 6. Dezember 1837 bis 6. Dezember 1862 Landrat. Er verwendet sich mehrfach bei Friedrich Wilhelm IV. für die selbständigen preußischen Lutheraner. Als überzeugter Lutheraner warnt er ihn, als 1857 eine große internationale Allianzkonferenz 1857 in der Berliner Garnisonkirche stattfinden soll, die kirchliche Union zwischen lutherischen und reformierten Gemeinden zu fördern, weil dies dem Christentum Schaden bringen würde. Doch Friedrich Wilhelm IV. übernimmt die Schirmherrschaft über diese Konferenz, nimmt selbst an ihr teil und lädt die Teilnehmer auf sein Schloss nach Potsdam ein. 335 Vgl. Rocholl: Friedrich von Maltzan, 969–978; ders.: Geschichte, 497f; Schmidt: Zur Erinnerung, 13; Schmaltz: Kirchengeschichte Mecklenburgs III, 434f. – Kahnis nahm jedenfalls an den Konferenzen 1853 und 1855 teil. 336 Vgl. Fleisch: Für Kirche und Bekenntnis, 5–23. 337 Die allgemeine lutherische Conferenz in Hannover am 1. und 2. Juli 1868 (1868), 3. 338 Der Vortrag Kliefoths ebd., 28–61; die vier Thesen ebd., 60f. Die vierte These besagt, dass „einem Landesherrn nicht das Recht beigemessen werden darf, ihm zufallende Kirchengebiete ohne Rücksicht auf ihre Lehre und Sacramentsverwaltung in das Ganze einer Landeskirche so aufzulösen, daß solche Kirchen darin nur als einzelne Gemeinden mir ihrer privaten Lehre und Sacramentsverwaltung fortbeständen“ (ebd., 61).
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er ganz im Sinne früherer Äußerungen in den Satz münden lässt: „Gott ist unsere Zuversicht und die Conjunction der lutherischen Kirche bleibt ‚dennoch’,“ nachdem er sich gegen die Vorwürfe von außen, in den eigenen Reihen herrsche Uneinigkeit, es fehle Verständnis für die Union, man mache das Heil von der Lehre abhängig und fröne einer Exklusivität, verwahrt und den eigenen Kreis davor 339 gewarnt hat, die Konfessionsfrage zu einem Politikum zu machen. Bei allem eigenen Einsatz für die Eigenständigkeit der lutherischen Kirche sieht sich Kahnis also mit einer deutlich anderen Zeitströmung konfrontiert. Dies empfindet auch das Oberkirchenkollegium der „Evangelisch-Lutherischen in Preußen“; es erkennt eine Aufweichung der Stellung zur Union und trägt deshalb „erhebliche Bedenken“ gegenüber „einer activen Betheiligung an dieser Conferenz“, so lange auch Glieder der Preußischen Landeskirche als berechtigte active Mitglieder zu derselben zugelassen würden. Indem nämlich diese Conferenz nur ‚die Glieder der verschiedenen lutherischen Kirchengebiete Deutschlands’ zur Pflege ihrer Gemeinschaft einander nähern und zur activen Theilnahme an ihren Verhandlungen nur ‚Lutheraner’ zulassen zu wollen in ihren Statuten öffentlich erklärt hat, wird mit der gleichzeitigen Zulassung von Gliedern der Preußischen Landeskirche thatsächlich ausgesprochen und anerkannt, daß diese gleichfalls lutherische Kirche sei oder enthalte, was auch unsererseits anzuerkennen wir uns ohne Verläugnung der Wahrheit und ohne Verurtheilung unsers ganzen gegen die Union geführten Kampfes nicht herbeilassen können.340
339 Die allgemeine lutherische Conferenz in Hannover 1868, 70f, Zitat dort 71. Vgl. Rocholl: Dr. Kahnis, 253; ders.: Einsame Wege NF, 135. – Die Hervorhebung der Konjunktion „dennoch“ bezieht sich auf Ps 46,5f: „Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben; Gott hilft ihr früh am Morgen.“ Das belegt schon die Widmung seines Abendmahlsbuches an die theologische Fakultät in Erlangen: „Doch wer weiß, ob nicht bald die treuen Glieder der lutherischen Kirche das Abendmahl halten müssen, wie Israel sein Vorbild, im Aufbruch. Dennoch, dennoch muß unser Bekenntniß siegen“ (Die Lehre vom Abendmahle, Widmung), wie der Bezug auf die „feste Burg“ und das Zitat: „Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie wohl bleiben, er hilft ihr frühe“, zeigen. Neben das gemeinschaftliche tritt dann das persönliche Dennoch (Ps 73,1.23). In diesem Sinne spricht Kahnis von „dem großen Dennoch“ (Der innere Gang [21860], 252), und zwar als seiner persönlichen Überzeugung: „Aber meine Losung bleibt ein freudiges Dennoch“ (Der innere Gang I [31874], VII). Vgl. als weitere Äußerung: „So lange ich noch Glauben habe an die Gerechtigkeit des Zeitalters, darf ich muthig die Frage aufwerfen, wer eigentlich geschichtlich und positiv ist: Derjenige, welcher sagt: Entweder Schrift und Bekenntniß ist bis auf den letzten Buchstaben oder Unglaube und Abfall, – oder Derjenige, welcher bei klarem Blick in alle Schwierigkeiten sagt: Dennoch – dennoch bekenne ich mich zur Schrift als zur gottgegebenen Urkunde des alten und neuen Bundes und zum Wesensinhalt des lutherischen Bekenntnisses“ (Zeugniß von den Grundwahrheiten, 132). Vgl. weiter das „dennoch, dennoch“ in dem Schlussgebet der Leipziger Konferenz 1853 (Die Leipziger Konferenz 1853, 77). 340 Beschlüsse der im September 1868 gehaltenen General-Synode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, Baden und Waldeck (1869), 462f. – Zu den Verbindungen der evangelischlutherischen Kirche in Preußen zu den lutherischen Konferenzen vgl. Schöne: Kirche und Kirchenregiment, 196–200.
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Trotz der offeneren Haltung gegenüber der Preußischen Landeskirche wird der 341 weitere Weg dieser Bewegung durch Widerstände aus Berlin erheblich behindert. Die Engere Konferenz am 7. April 1869 in Braunschweig, der Kahnis nicht angehört, fasst den Beschluss, auch Vereinslutheraner sowohl als einfache Mitglieder 342 als auch im Komitee zuzulassen. Dementsprechend ergeht die Bitte an Huschke 343 in Breslau und an Superintendent Julius Karl Arndt (1820–1888) in Wernigerode, dem weiteren Komitee beizutreten, der beide sich jedoch verweigern. 344 Die zweite Konferenz folgt am 9. und 10. Juni 1870 in Leipzig , die dritte in Nürnberg 1879, die vierte in Schwerin 1882. Auf einer Leipziger Versammlung von 43 Vertrauensmännern im engeren 345 Kreise vom 24. bis 26. September 1872 protestiert Kahnis zusammen mit Besser und Rocholl, damals noch Superintendent in Göttingen, gegen die sechste der Thesen, die Thomasius zu der Frage: „Ob und wie weit kann die lutherische Kirche den Gliedern anderer Konfessionen, die Unirten eingeschlossen, die Abendmahlsgemeinschaft gewähren?“ aufgestellt hat und die in veränderter Formulierung von der Konferenz angenommen werden: Dagegen kann die lutherische Kirche ohne Gefährdung ihres Bekenntnißstandes zu ihrem Abendmahl einzelne Glieder der unirten Kirche, die vorübergehend in ihrer Mitte weilen, zulassen, falls dieselben das lutherische Bekenntniß vom Abendmahl theilen und darauf hin um Zulassung zum lutherischen Abendmahl bitten. – Besondere Gründe können es jedoch zur Selbsterhaltungspflicht der Kirche machen, Unirte nur unter der Bedingung des Austritts aus der Union zuzulassen.346
Kahnis steht also weiterhin auf dem strengen konfessionell-kirchlichen Standpunkt, der an Breitenwirkung immer mehr verliert. Die Entwicklung läuft letztlich auf eine Spaltung der Bewegung hinaus. Schließlich bildet sich am 28. April 1908 in Leipzig eine „Vereinigung zur Erhal341 Rocholl: Geschichte, 516. 342 In Angelegenheiten der allgemeinen lutherischen Conferenz, AELKZ 2 (1869), 322. Obwohl „die lutherischen Brüder in der preußischen Landeskirche einem ‚lutherischen Kirchengebiete’ nicht angehören, so können dieselben doch um ihres persönlichen Bekenntnisses willen nach §. 2 der Bestimmungen Mitglieder der Conferenz sein, und wird auch wegen dieses ihres lutherischen Bekenntnisses für zulässig erkannt, jemand von ihnen in das weitere Comité aufzunehmen“ (ebd.). 343 Julius Karl Arndt (26. März 1820 in Alsleben/Saale – 12. Juni 1888 in Wernigerode), 1849 Pfarrer in Walternienburg bei Schönebeck, 1856 Superintendent, 1861 in Wernigerode, 1874 Verlust der geistlichen Aufsichtsämter wegen seiner Ablehnung der Maigesetze. 344 Einladung: AELKZ 1870, 329f.353f. 345 Die Versammlung war so zusammengesetzt, dass sie die verschiedenen Provinzen und Richtungen innerhalb des deutschen Luthertums repräsentierte; die Verhandlungen wurde vertraulich geführt (vgl. Die leipziger Konferenz vom 24.–26. Sept. I). 346 Wortlaut der These: Die leipziger Konferenz vom 24.–26. Sept. II, 788. Dazu wird vermerkt: „Diesen Zusatz glaubte man nicht blos den schlesischen Brüdern schuldig zu sein, sondern hielt ihn auch im Blick auf ähnliche schon vorhandene oder mögliche Situationen für gefordert“ (ebd., 788). Zum Protest dagegen vgl. Rocholl: Geschichte, 516 (Rocholl datiert die Konferenz irrtümlich in den Oktober).
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tung und Stärkung der evangelisch-lutherischen Kirche“, in der sich unter dem Namen „Lutherischer Bund“ die konsequent konfessionellen Lutheraner sowohl aus den lutherischen Landeskirchen als auch aus den lutherischen Freikirchen in einem eigenen Verband neben der „Allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenz“ sammeln, nachdem sie infolge eines Beschlusses der „Engeren Konferenz“ vom 17. Oktober des Vorjahres, der die gleichberechtigte Mitgliedschaft der Ver347 einslutheraner brachte, ihrerseits den Austritt erklärt hatten. Auch der Lutherische Bund stellt keinen kirchlichen Zusammenschluss dar, sondern eine freie Vereinigung gleich gesinnter Einzelpersonen. Er weist damit dieselbe Schwäche auf wie der Zusammenschluss, gegen den er protestiert. 4.3.3 Die konfessionelle Frage angesichts der nationalen Einung Von besonderer Bedeutung ist die Auseinandersetzung mit der nationalen Einung Deutschlands unter preußischer Führung in der so genannten kleindeutschen Lösung unter Ausschluss Österreichs. Kahnis ist von einem starken Patriotismus bestimmt. In seiner Typenschau der 348 Völker nimmt er Gedanken seines Lehrers Heinrich Leo auf. Schon unter dem Eindruck der Ereignisse von 1848 ruft er aus: „Luther war ein Deutscher Mann. Selbst aus dem ungeweihten Munde derer, die sich jetzt auf Wartburg vernehmen lassen, schallt das unwillkührliche Bekenntniß, daß er Deutschlands größter Sohn war und seine Sache Deutschlands Schwerpunkt. In Frankfurt, ihr Deutschen, werdet ihr nie eins werden. Ich rathe euch, nach Augsburg zu gehen. Der Herr der 349 Kirche wird ohne euch fertig; aber ihr nicht ohne ihn.“ Die Einheit des deutschen Volkes ist ihm also nur unter Einschluss einer religiösen Einigung denkbar. Diese Gesinnung findet durchgehend in seinen Schriften Ausdruck. So stellt er in seiner Abendmahlsschrift fest: „Der deutschen Völker innerste Kraft liegt im Gemüthe. Diesem tief persönlichen Bewußtsein mußte ein Glaube zusagen, welcher zuerst nach der Seelen Seligkeit zu trachten lehrt. Das deutsche Gemüth hat
347 Lutherischer Bund, Kirchenblatt für die Evang.-lutherischen Gemeinden in Preußen 63 (1908), 375–378 (Gründungsbericht und Satzungen); Der Lutherische Bund, ebd., 708–710 (Aufruf des Vorstands zum Beitritt); Lutherischer Bund, ebd., 757–759 (Satzungen). 348 Vgl. die ausdrücklichen Hinweise auf ihn: Die Sache der lutherischen Kirche, 66 („Was Leo, mein theurer Lehrer, von der Schlacht von Jena geurtheilt hat, dass sie nämlich ein Segen für die preußische Monarchie gewesen ist“, sc. religiöse Deutung des Geschehens); Der Gang der Kirchengeschichte (1865), 101; speziell auf dessen Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Volkes und Reiches II, 86f („Zwischen Deutschen und Wenden ist die Urverwandtschaft so nahe, daß sie nothwendig aus gleichem Urstamme entsproßen sein müßen; aber bei dieser großen äußeren Verwandtschaft ist die bis in das kleinste gehende verschiedene Art wider [sic] so bedeutend, daß sie nicht allein aus langer Trennung erklärt werden kann, sondern eine früh eingetretene, vielleicht ursprünglich vorhandene Verschiedenheit der inneren Geistesform, der Auffaßung Gottes und der Welt voraussetzt.“): Die deutsche Reformation, 8. 349 Die Gnadenberger Conferenz, 556f.
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ein unbefriedigt Streben in die Ferne. Dem war ein Glaube befreundet, welcher 350 nach dem Ewigen trachten lehrte.“ Dies Streben erfüllt sich für ihn in Luther: Die deutsche Reformation ruht bis auf den Tag von Worms allein, seitdem wesentlich auf Luther. Seine Abstammung aus einer thüringer Bauernfamilie mit dem dem deutschen Bauer eigenthümlichen Rechtssinn war bedeutend für das, was ihm der Mittelpunkt seines Glaubens und Lebens werden sollte, die Rechtsstellung des Menschen zu Gott, und für den Kraftboden, auf den er ihn pflanzen sollte, das Volksherz. Er schöpfte aus dem Zauberbrunnen, aus dem von jeher alle wahrhaft großen Geister getrunken haben, aus dem Volksgeiste.351
Dieselben Auffassungen finden sich im Vorfeld der Ereignisse von 1866. „Das Charakteristische der deutschen Völker aber liegt in der Macht des persönlichen 352 Lebens, in der Herrschaft des Individualität, in dem was wir Gemüth nennen.“ Und so verbinden sich für ihn deutscher und christlicher Geist. „Wenn es wahr ist, daß das ewige Wesen des Christenthums in der Gemeinschaft des Einzelnen mit Gott durch den Glauben an Christum ruht, das Wesen des deutschen Geistes aber in dem Gemüthe, so müssen wir bekennen, daß nie in einem Mann der christliche Geist und der deutsche Geist sich so wunderbar durchdrungen haben als in Luther. Nur wer das Wesen des christlichen und des deutschen Geistes erfaßt hat, 353 versteht die großartigen Gegensätze, die dieser Mann in sich vereint.“ „Die protestantische Richtung hatte den weltgeschichtlichen Fortschritt für sich, ihre Kraft 354 im Evangelium, ihre volksthümliche Grundlage in den germanischen Völkern.“ 355 Auch in seinen Predigten spricht Kahnis immer wieder nationale Themen an. 350 Die Lehre vom Abendmahle, 285. 351 Ebd., 294. – Zu dieser These vgl. Elert: Deutschrechtliche Züge in Luthers Rechtfertigungslehre. 352 Der Gang der Kirchengeschichte (1865), 98. „In den Deutschen wie in den Slaven waltet das Gemüth. Wenn dieß aber bei den Deutschen Ausdruck einer freien, selbstthätigen, entwicklungsfähigen Persönlichkeit ist, hat das Gemüth der Slaven mehr den Charakter der Empfänglichkeit für das was die Außenwelt bringt, kindlicher Hingabe an die das Leben bestimmenden Mächte, stillen Fleißes und zäher Ausdauer, klaren Blickes für das Nächste“ (ebd., 101). „Seine reichste Nahrung aber fand auf solchen Kreuzzügen der deutsche Sinn für das Geheimnißvolle, der abenteuerliche Trieb der deutschen Stämme, die ritterliche Liebe zu glänzenden Waffenthaten, das poetische Streben einer phantasiereichen Jugend nach Idealen im blauen Dufte des geheimnißvollen Ostens“ (ebd., 108). 353 Ebd., 125. 354 Ebd., 130. „Wenn Luther eine durch und durch deutsche Natur war, war Calvin ein durch und durch romanischer, man kann wohl sagen römischer Charakter. In ihm ist nichts von der Gemüthstiefe, von der Fülle des Menschlichen, von der genialen Ursprünglichkeit Luther’s. Er war ein Charakter, der mit eminenter Geisteskraft aus der Schrift feste Lehren zog, zum Bekenntniß formulierte und mit systematischem Geistes durcharbeitete; der mit dem Ernste eines dem Willen Gottes unbeugsam unterstellten Willens die Gesetze des evangelischen Gemeindelebens entwickelte und durchführte. Verstand, Wille, Charakter, Consequenz, das sind die Grundszüge seines Wesens“ (ebd., 133f). 355 Etwa die Schillerfeier (Predigten [1866], 1. Advent 1859, 24–36, dort 30f), den Krieg von 1866 (Rogate 1866, ebd., 89–99, dort 99), die Gründung des Deutschen Reiches (Invokavit 1871, Predigten. Zweite Sammlung, 212–222, dort 212–215).
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In seiner Kriegspredigt „Der Kampf des Christen“, die er am 7. August 1870, am Tag nach der Schlacht bei Wörth, in der Leipziger Universitätskirche hält, konstatiert er: „Die Kämpfe der Völker hängen enger zusammen mit den Kämpfen 356 des Reiches Gottes, als manche Christen meinen“, und folgert für Deutschland: „Ist der Kirche aus dem Kämpfen gegen den ersten Napoleon eine Segensfrucht erwachsen, so dürfen wir hoffen, dass auch die Kämpfe unseres Volkes gegen den 357 dritten Napoleon der Kirche zum Heils sein werden“, wobei er den Krieg selbst 358 als Verteidigungskrieg und als ehrenhafte Pflicht rechtfertigt. Den Gegner 359 perhorresziert der Prediger als Versucher zum Bösen. Sein eigenes Land verklärt er religiös: „Alle Deutschen sollten von Luther, dem größten Deutschen, lernen, was deutsche Art ist und wie herrlich sie sich mit evangelischer Art verbindet“, dass „wir dastehen als das Volk des Reiches Gottes, was unser höchster Beruf 360 ist“ – als gelte diese Berufung nicht auch dem französischen Volk. Die deutsche Sache wird zur Sache Christi: Möge Gott mit ihnen sein, diesen Jünglingen, die so erhobenen Geistes in den Kampf gegangen sind, daß sie sprechen: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, darum ob wir leben oder sterben, sind wir des Herrn [Röm 14,8]. […] Hat das blutige Testament, welches die Jugend der Freiheitskriege dem deutschen Volke hinterlassen hat, so herrliche Frucht getragen, so wird unter Gottes Segen auch aus der Todessaat derer die in diesem Kriege fallen werden eine Ernte des Lebens erblühen.361
Die Gemeinde in der Heimat ruft er zum Gebet auf, „Hände und Herzen zu Gott 362 erhoben, daß er der Sache des Rechts auch den Sieg gebe.“ Nationale Begeisterung steigert sich in religiöse Fantasien. Dieser von vielen geteilte ausgeprägte Patriotismus regt mit seinen religiösen Implikationen auch Pläne zur kirchlichen Neugestaltung an. Im Gegenüber zu dem sich in internationalem Rahmen neu formierenden römischen Katholizismus scheint allerdings nur eine deutsche Nationalkirche protestantischer Provenienz denkbar. Kahnis schaltet sich in diese Diskussion mit einem Vortrag auf der Leipziger Pfingstkonferenz am 1. Juni 1871 „Die Idee der deutschen Nationalkirche“ ein. Er schließt ihn mit dem Wunsch, „daß der auf der deutschen Reformation 356 Der Kampf des Christen (Text: Röm 8, 12–17), 3. (= Predigten. Zweite Sammlung, 201) 357 Der Kampf des Christen, 4 (= Predigten. Zweite Sammlung, 202). 358 Der Kampf des Christen, 5f (= Predigten. Zweite Sammlung, 203f). 359 „Wir haben abermals die Waffen gegen Frankreich erhoben. Aber lasset uns, indem wir Frankreich mit den Waffen des Todes bekämpfen, in uns mit den Waffen des Geistes das Fleisch bekämpfen, das uns zu Frankreich zieht. […] Lasset uns abthun die Liebe zu weltlichem Glanz, geziertem und gemachtem Reden, leichtsinnigem Raisonnement, frivolem Geistesspiel: wer dieß in sich hegt, trägt die Ketten Frankreichs“ (Der Kampf des Christen, 7; = Predigten. Zweite Sammlung, 205). 360 Der Kampf des Christen, 8 (= Predigten. Zweite Sammlung, 205). 361 Der Kampf des Christen, 12 (= Predigten. Zweite Sammlung, 209f). 362 Der Kampf des Christen, 12 (= Predigten. Zweite Sammlung, 210).
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ruhende Bund zwischen dem Evangelium und dem deutschen Volk in Kraft blei363 ben möge“, und zeigt sich damit dem nationalen Gedanken stark verpflichtet. Allerdings fallen seine praktischen Vorschläge eher dürftig aus. Kahnis versteht die deutsche Nation als eine im Werden begriffene Größe, deren bisherigen geschichtlichen Prozess er nachzeichnet und deren Unabgeschlossenheit er deutlich markiert. Dabei sieht er die Eigentümlichkeit des deutschen Volkes ebenso durch „die ewigen Grundlagen alles Völkerlebens“ wie durch diese 364 geschichtliche Entwicklung geprägt. Als geschichtliche Eckpunkte der Einheitsbildung nennt er die Germanenmission, die Gründung des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation, die Reformation, die Freiheitskriege und den deutsch365 französischen Krieg. In diesem Prozess habe die geografische Lage zu klärenden und bereichernden Begegnungen mit den romanischen und slavischen Nachbarvölkern und damit „zu höherer Harmonie“ geführt: „Ein Land aber, in dem sich die Blutströme aller Stammeseigenthümlichkeiten Europas begegnen, wird mit 366 Recht das Herz von Europa genannt“. Gegenwärtig habe „sich in Deutschland ein protestantisches Kaiserthum erhoben, das eine kraftvolle Gegenwart und nach 367 allen Zeichen der Zeit Zukunft hat“. Kahnis meint auch eine spezifische Art deutscher Frömmigkeit erkennen zu können. „In den deutschen Völkern ist es das im Gemüth wurzelnde persönliche Leben, welches allem was die Deutschen fühlen, denken, wollen, thun, den Charakter gibt. […] Ist es nun gewiß, daß das innerste Wesen des Christenthums in der Gemeinschaft des einzelnen Menschen mit Gott durch Christum liegt, so entsprach diesem ewigen Mittelpunkt des Evangeliums die Herrschaft des persönli368 chen, des Gemüthslebens im deutschen Volke.“ Dennoch hält er unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Bildung einer Nationalkirche nicht für möglich. „Die centrale Stellung Preußens in Deutschland scheint auch der Union eine centrale Stellung in Deutschland zu bringen“; aber das „Prinzip der Union, daß die Einheit der Kirche die Aufhebung der konfessionellen Scheidewände fordere,“ stellt nach Kahnis’ Urteil „eine geschichtliche Un369 möglichkeit“ dar. Überhaupt gilt ihm: „Weder die römische noch die lutherische noch die unirte Kirche können den Anspruch erheben, die jenseits ihres Lagers liegenden Gemeinden und Landeskirchen Deutschlands mit sich zu einer deut363 AELKZ 4 (1871), 389–401, Zitat dort 401. – Erneuter Abdruck dieses Vortrags in: Christenthum und Lutherthum, 339–363. – Vgl. das Kurzreferat bei Rieske-Braun: Zwei-Bereiche-Lehre, 220 Anm. 160. 364 AELKZ 4, 390 (= Christenthum und Lutherthum, 341). 365 „Wie in den Freiheitskriegen die Einigung Deutschlands in Gesinnung und That die Grundlage der Bundeseinheit wurde, so ging denn auch aus dem Geiste, der auf den Schlachtfeldern Frankreichs sich als eine unbesiegbare Macht erwiesen hatte, eine neue Gestalt der Reichseinheit Deutschlands hervor“ (AELKZ 4, 393, = Christenthum und Lutherthum, 345). 366 AELKZ 4, 397 (= Christenthum und Lutherthum, 354). 367 AELKZ 4, 394 (= Christenthum und Lutherthum, 347f). 368 AELKZ 4, 396 (= Christenthum und Lutherthum, 353). 369 AELKZ 4, 399 (= Christenthum und Lutherthum, 359f).
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schen Nationalkirche zu verbinden. Eine deutsche Nationalkirche im Sinne einer alle deutschen Stämme umfassenden, in Lehre, Verfassung und Kultus einheitlich 370 gestalteten deutschen Kirche ist eine Unmöglichkeit.“ Zwar meint er: „Nimmt man Nationalkirche […] im qualitativen [Sinne] als eine mit dem Volksgeist auf das Innigste verwachsene Kirchengemeinschaft, so wird niemand bestreiten können, daß die lutherische Kirche unter allen Konfessionen Deutschlands diesem Begriff am nächsten kommt“, aber unter den gegebenen politischen Voraussetzungen lasse sich nicht einmal „der organisirte Zusammenschluß aller lutherischen Landeskirchen in Eine deutsch-lutherische Kirche“ verwirklichen; allein „Konferenzen 371 im größern Stil“ könnten gegenwärtig diesen Mangel ersetzen. Diese nüchterne Einschätzung der kirchenpolitischen Möglichkeiten ist bei ihm mit der gleichsam tröstenden Beobachtung verbunden, dass es „im innersten Wesen des deutschen Volks“ liege, dass „die deutschen Stämme […] nicht leicht ihre Selbständigkeit, am wenigsten aber ihre Eigenthümlichkeit der Centralmacht opfern“; und so sei auch das religiöse Leben in den einzelnen deutschen Ländern 372 verwurzelt. „Und die lutherische Kirche, die von Anfang in den Territorien ihren Sitz hatte, hat sich in der Art und Weise, wie sie, ohne die Einheit ihres Bekenntnisses aufzugeben, den Stammeseigenthümlichkeiten das Recht einer gesonderten Organisation in Gestalt von Landeskirchen eingeräumt hat, als eine wahre 373 Volkskirche bewiesen.“ Es ergibt sich ein spannungsreiches Bild, indem die Wesensbestimmung der Kirche einerseits von der Mitte des christlichen Glaubens und damit vom Bekenntnis her erfolgt, andererseits die geschichtlichen Ausgestaltungen dieses Wesens eng mit dem nationalen Gedanken verwoben sind. Die völkische Perspektive führt dann dazu, die deutsche Kontextualisierung des Evangeliums am ausgeprägtesten im Luthertum zu sehen und dieses dem innersten Wesen des Christentums am nächsten einzuordnen. Der Vorrang, den Kahnis bei jeder Kirchenbildung dem Bekenntnis zuspricht, nötigt ihn dazu, den Gedanken der Volkseinheit, die er 374 in einem charakteristischen Zug deutscher Frömmigkeit zu erkennen meint, 370 AELKZ 4, 400 (= Christenthum und Lutherthum, 362). – Mit dieser Sicht unterscheidet sich Kahnis deutlich von der Position seines Lehrers Leo, der eine kirchliche Einigung Deutschlands zur Voraussetzung seiner staatlichen Einheit erklärte. Vgl. Maltzahn: Leo, 202.324–329. 371 AELKZ 4, 401 (= Christenthum und Lutherthum, 362f). – Für die nationale Bedeutung des Luthertums verweist Kahnis wiederholt auf die Bibelübersetzung, den Katechismus, die Kirchenlieder, den Gottesdienst, die Augsburger Konfession, die lutherische Theologie und den Einfluss auf Kunst und Wissenschaft (AELKZ 4, 397.401, = Christenthum und Lutherthum, 355.362f). 372 AELKZ 4, 400 (= Christenthum und Lutherthum, 361). 373 AELKZ 4, 400 (= Christenthum und Lutherthum, 361f). 374 Das eigentlich Verbindende ist auch für Kahnis nicht die gemeinsame deutsche Eigenart der Frömmigkeit, sondern ihre Christlichkeit. So stellt er im Hinblick auf das Gegenüber zur römisch-katholischen Kirche fest: „Wir müssen, solange wir Protestanten sind, unsern bekenntnißmäßigen Protest gegen das unevangelische Wesen der römischen Kirche aufrechterhalten. Aber die Apostel, die in den apostolischen Gemeinden in Lehre und Leben so Vieles zu tadeln hatten, sprechen doch deshalb den irrenden Einzelnen nicht die Gliedschaft der Kirche, den irrenden
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konkret wieder aufzuheben und eine deutsche Nationalkirche abzulehnen. 376 Kirchlich soll es bei der Kleinstaaterei bleiben. Die Zugeständnisse an nationale Gemeinsamkeit bleiben gering. „In den kirchenregimentlichen Konferenzen in Eisenach, im Gustav-Adolphverein, in den Bestrebungen der inneren Mission, in Vereinen zur Verbreitung der Bibel, evangelischer Schriften, vor allem in der Theologie begegnen sich die verschiedenen Konfessionen des deutschen Protestantismus. Aber auf diese Grundlagen läßt sich 377 keine deutsch-evangelische Kirche erbauen.“ Und die genannten Begegnungsfelder fordern an sich nicht einmal eine Beschränkung auf den Protestantismus, erst recht nicht auf Deutschland. Ihnen fehlt jeder spezifische Bezug zum Nationalen und deshalb erfüllen sie höchstens eine Alibifunktion. Die religiöse Deutung der Berufung der deutschen Nation steht aber auch im Widerspruch zu den politischen Realitäten. Denn unübersehbar ist, dass die deutsche Einigung unter der eindeutigen Führung Preußens erfolgt und Preußen kirchlich eben die Union befördert und die lutherische Option für eine evangelische Einigung damit gerade ausscheidet. Weit plausibler klingt die religiöse Überhöhung der politischen Entwicklung beim preußischen Oberhofprediger Wilhelm 378 Hoffmann (1806–1873) , der bereits 1868 erklärt, das „neue“ Deutschland habe „eine durch göttliche Wahl bestimmte, nothwendige (Stellung) im Reiche GotGemeinden ihr Recht im Reiche Christi auf Erden nicht ab. Die römischen Christen sind jedenfalls zuerst Christen und dann erst Katholiken. Wie in den einzelnen katholischen Christen der Herr, ist in den einzelnen katholischen Gemeinden auch der Geist des Herrn in Wort und Sakrament wirksam. Und wo der Geist des Herrn ist, da ist die Kirche, wie da wo die Kirche der Geist des Herrn ist. Und nicht Alles was römisch, ist unevangelisch“ (AELKZ 4, 395; diese Passage fehlt in: Christenthum und Lutherthum). 375 Klarer ist die Position von Harleß: „National- und Territorial-Kirchenthum ist, als kirchenthumbildendes Princip gefaßt, eine der wesentlichen Beziehung alles Kirchenthums zu Christi Reich und Kirche widersprechende Deformation des Kirchenthums“ (Staat und Kirche, 1870, 65). „Denn keine territoriale Begrenzung und keine nationale Eigenthümlichkeit hat für das christliche Kirchenthum maßgebende Bedeutung“ (ebd., 65f; zitiert bei Rocholl: Geschichte, 515). 376 Unbeschadet der politischen Veränderungen soll die kirchliche Landschaft unverändert bleiben. Dagegen hatte Kahnis 1854 von einem Entsprechungsverhältnis zwischen politischer und kirchlicher Ordnung gesprochen: „Ich komme […] auf das Verwandtschaftsverhältniß der deutschen Völker mit der Kirche. Wie Deutschland nur in Sonderstaaten besteht, so besteht auch die Kirche nur in Sonderkirchen. Wie zwischen den deutschen Sonderstaaten nur ein deutscher Bund möglich ist, so ist auch zwischen den Sonderkirche nur ein freies Bundesverhältniß möglich. Kein Sonderbund mit der reformirten Kirche auf Kosten unseres Konsensus mit der römischen!“ (Die Sache der lutherischen Kirche, 95) Tatsächlich war mehr als der Deutsche Bund möglich geworden, nämlich das Deutsche Reich und damit auch ein deutsches Volk. Kahnis hält dennoch für den kirchlichen Bereich die landeskirchliche Verfasstheit für den Deutschen wesensmäßig als Krücke zur Begründung des Rechts der konfessionellen Auffaltung. 377 AELKZ 4, 401 (Dieser Satz fehlt in: Christenthum und Lutherthum). 378 Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann (30. Oktober 1806 in Leonberg – 28. August 1873 in Berlin), 1839 Missionsinspektor in Basel, seit 1843 zugleich ao. Professor der Theologie, 1850 Professor für Altes Testament in Tübingen, 1852 Hof- und Domprediger in Berlin, 1853 Generalsuperintendent der Kurmark und Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats, 1854 Staatsrat, 1871 Oberhofprediger, begründet 1859 die „Neue Evangelische Kirchenzeitung“.
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tes“. Indem er die Union als „die nothwendige Frucht der deutschen Reformation“ erklärt, fordert er die Überwindung des „Landeskirchen-Princips“ und ein Fortschreiten hin zu einer „deutschen Kirche“ nach dem „Nationalkirchen380 Princip“. Kahnis’ Rückgriff auf den Gedanken kirchlicher Kleinstaaterei wirkt im Horizont nationaler Einigung allzu durchsichtig als Versuch, von den tatsächlichen politischen Verhältnissen abzulenken, als dass er stimmig erscheinen könnte. Mit seiner Grundanschauung, die nur wenig Spielraum für nationale Ideen im kirchlichen Bereich lässt, beteiligt sich Kahnis allerdings engagiert an der Diskussion über nationale Einigung im Religiösen. 1869 erscheint er auf dem Stuttgarter 381 Kirchentag und legt „im Namen der anwesenden Lutheraner gegen lautwerden382 de unionistische Tendenzen Verwahrung“ ein: In Bezug auf die Frage nach den Principien des Protestantismus müsse Redner bemerken, daß der Protestantismus drei Principien habe: 1) das Princip der alleinigen Autorität des göttlichen Wortes, 2) das Heilsprincip des Glaubens, 3) das Kirchenprincip von der unsichtbaren Kirche, aber diese Wahrheiten und Grundsätze bedeuten nichts, wenn sie nicht confessionell ausgeprägt werden. Das Lutherthum will diesen Principien Wirklichkeit verschaffen und festhalten an dem Rechte seiner Individualität. Das Eigenthümliche des Lutherthums liegt 1) in seinem Anschlusse an Luther, 2) in seinem Anschlusse an die Augustana und 3) in seiner eigenthümlichen Gestaltung der Verfassung und des Cultus. Darin ist es fest und entwicklungsfähig zugleich.383
Seine Haltung ist klar, vermag aber beim Kirchentag keine neue Diskussion aus384 zulösen. Dennoch wird seine Anwesenheit ausgesprochen begrüßt.
379 Hoffmann: Deutschland Einst und Jetzt, 516.519. „Das evangelische Christenthum, wie wir es als das deutsche kennen gelernt haben, entzieht sich keinem wahren Fortschritte der intellectuellen und sittlichen Cultur, und es ist nicht nöthig, erst in seiner Lehre wesentliche Aenderungen zu schaffen, damit das gebildete Bewußtsein der Zeit mit ihr nicht im Widerspruche stehe. Allerdings wird die Reformation nicht als eine vollendete betrachtet und angenommen werden dürfen“ (ebd., 521f). Freilich dürfe der Blick nicht bei der Bedeutung der eigenen Nation im Kreise der Nationen hängen bleiben. „Ja über sie hinaus, in der Civilisation und Christianisirung der Welt muß unser Blick gehen, auf die gewaltige Mission der Christenheit an die Völker der Erde“ (ebd., 529). 380 Ebd., 494. – Gegen den Aufruf Hoffmanns an „die gesammte evangelische Kirche Deutschlands, durch den Mund ihrer kirchenregimentlichen Organe das einmüthige Bekenntniß zur Augsburgischen Confession feierlich vor Gott und Menschen“ zu erneuern, vgl. die Stellungnahme in AELKZ 1 (1868), 91f. 381 Die Kirchentage waren in dieser Zeit zu großen Pastoralkonferenzen geworden, auf denen rein theologische Fachreferate diskutiert wurden und nur selten noch aktuelle kirchliche Fragen verhandelt wurden; vgl. Die Geschichte der Evangelischen Union II, 50. 382 Winter: Kahnis, 44. 383 Die Verhandlungen des fünfzehnten deutschen evangelischen Kirchentages und Congresses für die innere Mission zu Stuttgart vom 31. August bis 3. September 1869, 37–38, dort 38. 384 Vgl. den Bericht von Johann Hinrich Wichern (21. April 1808 in Hamburg – 7. April 1881 in Hamburg), FBRH 26 (1869), 265f.312.327.
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Kahnis gehört auch zu den Eingeladenen zu der unter den Lutheranern nicht unumstrittenen freien kirchlichen Oktoberversammlung 1871 in Berlin, die ein breites evangelisches Spektrum repräsentiert und die sich einer zweistündigen 385 Anwesenheit des Kaisers erfreut. Mit Kahnis nimmt auch von Hofmann daran 386 teil. In einem Votum widersetzt sich Kahnis entschieden dem von seinem früheren Leipziger Kollegen Benno Brückner, inzwischen Mitglied des „Evangelischen Oberkirchenrats“ in Berlin, vorgetragenen Vorschlag, der christlichen Gemein387 schaft einen organisatorischen Ausdruck zu geben. In seinem Zeitschriftenbeitrag „Union und Konfession in Preußen“ begründet er im Nachgang zu der Versammlung ebenfalls seine Ablehnung des zweiten Vorschlags von Brückner, eine 388 allgemeine Abendmahlsgemeinschaft einzuführen. Die Versammlung vermag keinen weitergehenden Anstoß hin zu kirchlicher Einigung zu geben. Zu dieser Wirkungslosigkeit trägt sicherlich auch bei, dass die 389 Reichsverfassung vom 16. April 1871 – entgegen andersgerichteter Bestrebungen – keine Bestimmungen über die Kulturpolitik und kirchliche Fragen enthält, diese also voll in der Zuständigkeit der Teilstaaten belässt. Die nationale Färbung verändert nichts an Kahnis’ grundsätzlicher Stellung in der konfessionellen Frage. Das zeigt sich später noch deutlich. Entscheidend ist für ihn das Verständnis der Abendmahlsgemeinschaft als Kirchengemeinschaft und der Verbindung von lutherischem Abendmahlsbekenntnis mit einer lutherischkirchlichen Abendmahlspraxis: [Die lutherische Kirche] hat also jeden Lutheraner, der ihr Abendmahl begehrt, nach dem Grundsatze: Ecclesia de internis non judicat für einen Bekenner ihres Abendmahlsglaubens zu halten. Aber eben nach diesem Maßstabe kann sie es nicht für ordnungsgemäß halten, daß ein Reformirter an ihrem Abendmahl theilnimmt, weil dieser, sofern er reformirt ist, zu dem Bekenntniß, mit dem sie spendet, nicht Amen sagen kann. Es ist ja gewiß, daß in dem Wesen der Kirche, die da Ein Leib und Ein Geist ist, allgemeine Abendmahlsgemeinschaft liegt. Allein weil eben die Eine allgemeine Kirche in Konfessionen sich zerlegt hat, die gerade in der
385 Vgl. Die Geschichte der Evangelischen Union II, 181–196 (Gerhard Besier); Rieske-Braun: ZweiBereiche-Lehre, 218–224. 386 Baur: Art. Kirchentag, 479,19. 387 Die Verhandlungen der kirchlichen October-Versammlung in Berlin vom 10. bis 12. October 1871, 78–80. „Ich glaube, daß zu einem organisirten Zusammenschluß die Zeit noch nicht gekommen ist. Und so lassen Sie uns das Organ unserer Gemeinschaft in solchen freien Vereinen [sc. Gustav-Adolf-Werk und innere Mission] finden, wie die gegenwärtige Versammlung ist. Da mögen sich Lutheraner, Reformirte, Unirte begegnen. Die wahre Union wird doch nur kommen, wenn Christus kommen wird“ (ebd., 80). 388 Union und Konfession in Preußen. Ein Nachwort zur Oktoberversammlung, AELKZ 1871, 901– 909, dort 909. 389 Harleß hatte z.B. als Vorsitzender der „Allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenz“ eine Eingabe an Bismarck gerichtet, der lutherischen Kirche in der Verfassung ihren öffentlichen Rechtsstand neu zu bestätigen; vgl. Fleisch: Für Kirche und Bekenntnis, 12–14.
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Abendmahlslehre sich unterscheiden, ist allgemeine Abendmahlsgemeinschaft dermalen nicht möglich.390
Indem Kahnis die „Naturgrundlage“ der konkreten Kirchenbildungen aus der Eigenart der jeweiligen Völker zu charakterisieren versucht, bleibt er einerseits bei einer geschichtlichen Betrachtungsweise, aus der heraus er die nationalstaatliche 391 Bewegung geradezu unter die „Geisteskrankheiten unserer Zeit“ rechnen kann, und andererseits bleibt ihm das Verhältnis von Staat und Kirche eine so problematische Größe, dass er die Alternative Freikirche oder Landeskirche durchaus 392 für diskussionswürdig hält. Kahnis möchte offensichtlich an einer Geschichtsschau festhalten, wie er sie von Leo übernommen hat, es gelingt ihm aber immer weniger, sie mit seiner theologischen Anschauung von Kirche auf plausible Weise zu verbinden. In seinem Vortrag zum 400. Geburtstag des Reformators in der Aula der Leipziger Universität über „Die Bedeutung der Persönlichkeit Luther’s für die Entstehung und die Entwickelung des deutschen Protestantismus“ ist ihm der nationale Gedanke gleichsam die Brücke zu Luthers Theologie. „Das Evangelium, das unaufhörlich seine Stimme wandelt, um zu jeder Zeit in ihrer Sprache zu reden, nahte sich dem deutschen Volke in Gestalt eines deutschen Mannes, um demsel393 ben auf deutsch zu sagen, wo der Weg des Heils sei.“ Die mit dem Reformationsgedächtnis 1817 zusammentreffende nationale Begeisterung habe Luther zunächst in seiner deutschen Art wahrgenommen. „Aber der deutsche Mann ist 394 Vielen der Führer in das Allerheiligste des Evangeliums geworden.“ Und daran schließt er die Erwartung für die Zukunft der Kirche, dass wenn auch nicht die konfessionskirchlichen Ausprägungen, so doch die Grundsätze des Protestantismus weiter ihre Geistesmacht erweisen werden. „In jenem Schriftprincip und in diesem Heilsprincip haben wir einen Wahrheitsgrund, den die Pforten der Hölle 395 nicht überwältigen sollen [Mt 16,18].“ Der nationale Gedanke fällt, nachdem er seine geistesgeschichtliche Brückenfunktion erfüllt hat, dahin unter der klaren Einsicht: „Niemand als der Herr der Kirche vermag zu sagen, welche Wandlungen 396 der sichtbaren Kirche noch beschieden sind.“
390 Dogmatik2 II (1875), 443f. 391 Die geschichtlichen Wendepunkte, 4. 392 Ebd., 1–3. – „Der Gott, welcher Kirche und Staat gegründet hat, will, dass Kirche und Staat ohne sich einerseits zu vermischen andererseits zu absorbieren sich die Hände reichen zur wechselseitigen Förderung ihrer Interessen“ (ebd., 2). „Freikirche oder Landeskirche: das ist die die Kirche der Gegenwart mächtig bewegende Lebensfrage“ (ebd., 1). 1876/77 hat sich auf dem Boden der lutherischen Landeskirche die „Synode der evangelisch-lutherischen Freikirche in Sachsen und anderen Staaten“ gebildet. 393 Festrede am 10. November 1883, 23. 394 Ebd., 24. 395 Ebd., 28. 396 Ebd., 25.
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4.4 Konfessionell-lutherische Position und ökumenische Weite 4.4.1 Konfession unter ökumenischem Vorzeichen „Vereint können Katholiken und Nichtkatholiken nur durch Wahrheit werden. Es giebt aber nur Eine Wahrheit. Diese ist aber nicht die katholische Lehre, sondern das untrügliche Wort Gottes. Das ist allein Wahrheit. Auf diesem Grunde aber 397 steht der Protestantismus.“ Diese Sätze klingen sehr dezidiert und kompromisslos. Sie besagen aber eben nicht, dass der real existierende Protestantismus selbst diesen Grundsatz bereits erfüllt und umsetzt. Kahnis formuliert sie gerade zum Abschluss eines Vortrags, in dem er den Übertritt des Protestanten Friedrich Leo398 pold Graf zu Stolberg-Stolberg (1750–1819) am 1. Juni 1800 zur römisch-katholischen Kirche zwar nicht rechtfertigen, aber doch erklären will – erklären eben mit dem tatsächlich schwachen Erscheinungsbild, das die evangelische Kirche zur Zeit der Aufklärung bot. Insofern liegt in dem eindeutigen Grundsatz durchaus eine geschichtliche Offenheit; denn der Grundsatz, dass die Wahrheit im Wort Gottes liegt, verlangt ja eine Umsetzung, die sich nicht von selbst ergibt. Bezüglich dieser geschichtlichen Umsetzung schreibt Kahnis der lutherischen Kirche ein besonderes Verdienst zu. „Die Kraft und Bedeutung der lutherischen Kirche liegt in dem Zeugnisse der Wahrheit, welches ihr anvertraut ist. Sie ist der 399 Wächter der evangelischen Lehre.“ Diese Aufgabe hat sie allerdings als einen Dienst an der gesamten Kirche zu verstehen. Das bedeutet, dass lutherische Theologie nicht in parteilicher Rechthaberei bei historisch Ererbtem stehen bleiben kann, sondern noch einmal ganz grundsätzlich ansetzen muss. Gerade weil sie „in der Wahrheit kein[en] Kompromiß“ kennt und „sich das Bekenntniß selbst dem Richtmaße der Schrift unterstellt“, darf man das lutherische Bekenntnis nicht der theologischen Prüfung entziehen, sondern hat „nach immer tieferer Vermittelung 400 des Kirchenglaubens“ zu streben. „Hat die lutherische Theologie des 16. Jahrhunderts die Grundlehren der augsburgschen Konfession in der Apologie, den schmalkaldischen Artikeln und der Concordienformel näher begründet, ausgebildet und angewendet, so ist nicht abzusehen, daß mit dem 16. Jahrhundert dieser
397 Stolberg und Voß, 1876, 26 (= Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 410, unter Auslassung der Textsegmente „Diese ist aber nicht die katholische Lehre, sondern“ und „Das ist allein Wahrheit“). 398 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg (7. November 1750 in Bramstedt/Holstein – 5. Dezember 1819 in Sondermühlen bei Osnabrück), 1770 Studium der Rechtswissenschaften in Halle, 1772 in Göttingen, 1775 Bildungsreise in die Schweiz, 1776 Gesandter des Fürstbischofs von Lübeck in Kopenhagen, 1781 Hofamt in Eutin, 1786 Amtmann in Neuenburg bei Oldenburg, 1789 dänischer Gesandter in Berlin, 1793 Kammerpräsident in Eutin, 1800 Entlassung aufgrund seiner Konversion zur römisch-katholischen Kirche, vielfältig literarisch tätig. 399 Christenthum und Lutherthum, 367. 400 Ebd., 368.369.
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theologische Fortschritt sein Ziel erreicht habe.“ Kahnis nennt eine Reihe von 402 Lehren, die einer weiteren Durcharbeitung bedürften. Dieser weiteren theologischen Durchklärung setzt Kahnis freilich enge Grenzen. „Wenn man die zeitalterliche Bedeutung und die relative Wahrheit theologischer Richtungen anerkennt, gesteht man ihnen nicht das Recht zu, die Kirche nach ihren Resultaten zu reformiren. Es stände traurig um die Kirche, wenn sie alle Decennien von den sich ablösenden Richtungen neue Symbole empfangen 403 hätte.“ „Dagegen hat die Ueberzeugung, daß das augsburgsche Bekenntniß im 404 Wesentlichen schriftgemäß ist, alle Zeichen der Zeit für sich.“ Die Gegensätze auch innerhalb des Lagers der lutherischen Theologie sprechen so gesehen nicht gegen die grundlegende Bedeutung der Bekenntnisbindung. „Diese Lehrdifferenzen beweisen, daß dort mit dem Festhalten des Bekenntnißgrundes ein lebendiges Streben nach wissenschaftlicher Vermittelung sich verbindet. Und dieses Streben hat seinen objectiven Grund in der Ueberzeugung, daß die Substanz des Bekennt405 nißglaubens entwicklungsfähig ist.“ Kahnis folgert: „Wie eine Kirche, welche eine freie nach Wahrheit strebende Theologie nicht tragen kann, ohnmächtig ist, so ist eine Theologie, welche sich an den Glaubensgrund der Kirche nicht bindet, bodenlos und verderblich. Kein Fortschritt in der lutherischen Theologie hat die 406 Lehreigenthümlichkeit der lutherischen Kirche überschritten.“ Als typische Merkmale nennt er die Rechtfertigungslehre, die Abendmahlslehre und die Lehre von der communicatio idiomatum. Die geschichtliche Betrachtungsweise erlaubt Kahnis auch die Anerkennung des wahren Kerns in den Unionsbestrebungen seiner Zeit. Ende 1861 schreibt er an Hengstenberg: Ich verwerfe, wie Sie wissen, die Union. Aber ich glaube, daß wir ihrer nur Meister werden werden, wenn wir ihre Wahrheit in uns werden aufgenommen haben. Das Wesen in der Union ist ein Zweifaches. Erstlich die rechte Erkenntniß, daß nicht in der Lehre, sondern im Leben, in der lebendigen Gemeinschaft mit Christo, die über die Gegensätze der Confessionen hinausgreift, das wahre Christenthum liegt. Zweitens, daß ein Lutherthum ohne wahrhaft katholischen Sinn Sektengeist ist. Die altkatholische Kirche hat Gegensätze von Justin und Irenäus, Origenes und Tertullian, Alexandrinern, Antiochenern und Abendländern in sich vertragen können. In einer Übergangszeit aber wie der gegenwärtigen erklärt sich die Kirche bankerott, wenn sie jede freie Bewegung, jede Prüfung, jede Eigenthümlichkeit ausschließen will. Es ist eine vollendete Unmöglichkeit, die Stellung des 16. Jahrhunderts zu Schrift und Bekenntniß zu restauriren.407 401 Ebd., 368f. 402 Ebd., 368. 403 Zur Unionsfrage, 17 (= AELKZ 1, 86, = Christenthum und Lutherthum, 312). 404 Zur Unionsfrage, 18 (= AELKZ 1, 86, = Christenthum und Lutherthum, 312). 405 Zur Unionsfrage, 18 (= AELKZ 1, 86, = Christenthum und Lutherthum, 312f). 406 Zur Unionsfrage, 18 (= AELKZ 1, 87, = Christenthum und Lutherthum, 313). 407 Brief vom 9. Dezember 1861, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 22.
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In dieser Äußerung klingt wider, was Kahnis kurz zuvor öffentlich dargelegt hatte: „Und diese Anknüpfung der protestantischen Wahrheit an das[,] was immer, überall und von Allen ist bekannt worden, an das ökumenische Wesen des Christenthums, an das geschichtliche Leben der Kirche ist es, welche der Protestantismus, wenn er sich nicht zur Sekte herabsetzen will, festhalten muß. Eine kirchliche Richtung, die in der Vergangenheit nicht zu suchen hat, hat auch in der 408 Zukunft nichts zu suchen.“ Alle Wahrnehmung der Wahrheit ist nicht vollkommen, und die Wahrheit lässt sich nicht von ihrer Verwirklichung im Leben ablösen, die immer die beiden Elemente des die ganze Christenheit verbindenden Christuslebens und der geschichtlichen Begrenztheiten enthält. Gerade diese ökumenische Sicht impliziert für Kahnis aber die Überzeugung, dass „an dem organisirten Zusammenschluss der kirchlichen Richtungen die Einheit der Kirche gar 409 nicht hängt“. Vielmehr wendet er das Modell der konzentrischen Kreise zur Darstellung der Kirche in ihrer Einheit und ihrer Verschiedenheit an, und zwar in grundsätzlicher Breite und auf allgemein verständliche Weise in seinem Buch „Christenthum und Lutherthum“ (1871). Im umfassenden Horizont der ganzen Christenheit zieht er zunächst den engeren Kreis des Protestantismus als gesamtreformatorische Größe, um dann die Besonderheit und Eigenständigkeit des Luthertums darin wiederum als engeren Kreis zu markieren, der dem Christuszentrum am nächsten steht. Dies dient einerseits der Schärfung des konfessionellen Bewusstseins: Die lutherische und die reformirte Konfession wenden die protestantischen Principien in verschiedener Weise an, indem die Lutheraner den Grundsatz von dem normativen Ansehn der Schrift mit dem kirchlichen Ansehn der Tradition und Bekenntnisses vereinbar halten, deren Bedeutung bei den Reformirten zurücktritt; die Lutheraner den schriftgemäßen Ausdruck des Heilsprincipes in der Rechtfertigung aus dem Glauben finden, während die Reformirten für das Grunddogma die Prädestination halten; die Lutheraner endlich in der Organisation der Kirche von dem Grundsatze geleitet werden, stehen zu lassen was nicht gegen das Evangelium ist, die Reformirten aber einen Neubau auf Grund des Evangeliums versucht haben. So sehr beide Konfessionen durch ihre gemeinsamen Principien und ihre gemeinsamen Gegensätze an ein inniges Zusammenwirken gewiesen sind, so wenig erscheint die Verschmelzung beider in eine unirte Kirchengemeinschaft berechtigt, da ja nach protestantischen Grundsätzen zur Einheit im Geiste organisierte Gemeinschaft nicht nothwendig ist, jede der beiden Konfessionen aber das Recht wie die Pflicht hat, ihre geschichtliche Eigenthümlichkeit aufrechtzuhalten.410
Andererseits soll ein ökumenisches Bewusstsein gefördert werden. Zwar sind die Zeiten vorüber, wo das Lutherthum sich für das Christenthum, für die Kirche überhaupt halten konnte. Aber das Zeugniß von der evangelischen 408 Rede zum Gedächtniß Melanchthon’s (1860), 32. 409 Zur Unionsfrage, 11 (= AELKZ 1, 83, = Christenthum und Lutherthum, 305). 410 Dogmatik III (1868), 94 (= Dogmatik2 I [1874], 229f).
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Wahrheit ist seine Gabe und sein Dienst in der allgemeinen Kirche. Zum Zeugniß von der Wahrheit gehört aber nicht bloß die Treue, die an dem gelegten Grunde hält, sondern auch die Beweisung des Geistes und der Kraft in Begründung, Vermittelung und Wachsthum in der Erkenntniß der bezeugten Glaubenswahrheit. Prüfung und Wachsthum in der Erkenntniß sind die unveräußerlichen Regalien des Protestantismus.411
Diese Ausrichtung ergibt sich aus seiner biblischen Verankerung. „Ist demnach nur die Lehre lutherisch, welche sich kraft der Schrift zuvor als christlich ausgewiesen hat, so darf auch was wahrhaft lutherisch ist den Anspruch der Allgemein412 gültigkeit in der Kirche, der Katholicität, erheben.“ Kahnis spitzt seine Theologie unter einem ökumenischen Anspruch konfessionell zu. Seine Erwartungen an gegenwärtige Konsequenzen sind pragmatisch: Nicht Union, sondern Eintracht unter den getrennten Kirchen ist die Loosung in diesem Aeon der kirchlichen Entwickelung. Möge bald der Tag kommen, wo jede der getrennten Sonderkirchen den unevangelischen Anspruch aufgiebt, allein oder doch vorzugsweise die Kirche zu sein. In allen Sonderkirchen hat das Haupt der Kirche Glieder seines Leibes. Wir, die wir uns um das Banner der Augsburgischen Konfession gesammelt haben, wollen unter ihm verbleiben, weil seine Loosung ist: 413 Evangelische Wahrheit.
Man müsse sich zwar von dem Gedanken trennen, „daß die Einheit der Kirche 414 Gottes auf Erden die Einheit des kirchlichen Organismus fordere“. Das schließe aber eben nicht dies mit ein, dass der klare Blick auf die eine Kirche verloren gehe. „Die Neuzeit, deren Morgenröthe ein neues Leben war in christlicher Katholicität, muß auch mit einer Abendröthe neuen Lebens in christlicher Katholicität 415 enden.“ Es bleibt Kahnis nichts anderes übrig, als sich mit der geschichtlichen Situation abzufinden, dass das lutherische Bekenntnis nur zu wahren war auf Kosten der Aufspaltung der abendländischen Kirche. Hinsichtlich des Augsburger Religionsfriedens, der nur zur Anerkennung eines status quo zwischen den beiden Lagern mit theologisch nicht zu vereinbarenden Positionen führte, einen Kompromiss darstellte und die eigentliche Lösung des Konflikts aufschieben musste, stellt Kahnis fest, dass zwar mehr wünschenswert gewesen wäre und auch weiterhin ständig im Gebet von Gott zu erflehen sei, man das bestehende Dilemma aber ertragen müsse in der Überzeugung, dass die wahre Einheit der Kirche grundsätz416 lich nicht an einer einheitlichen äußeren Organisation hänge. Die durch die 411 Christenthum und Lutherthum, VIII. 412 Dogmatik2 I (1874), 5. 413 Rede zum Gedächtniß Melanchthon’s, 36. 414 Ebd., 35. 415 Dogmatik III (1868), XIV. 416 „Majora beneficia tulisset haec pax, si partes distantes ad unam ecclesiam evangelicam consociasset. Sed quot qualesve in partes ecclesia externa sit divisa, unum confitemur Jesu Christi corpus unumque ecclesiae spiritum. Ut autem omnes, qui unius Jesu Christi spiritus sunt consortes, ad
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Reformation bedingte äußere Aufteilung des corpus Christianorum stellt damit eindeutig das geringere Übel dar gegenüber einer Vereinigung, die auf Kosten der 417 Wahrheit des Evangeliums geht. Aber gerade deshalb signalisiert die Kirchenspaltung auch keineswegs nur ein organisatorisches Problem. 4.4.2 Gelebte christliche Gemeinschaft im protestantischen Rahmen Unbeschadet seiner bekenntnismäßig strikten kirchlichen Positionierung setzt 418 Kahnis sich in vielfältiger Weise für das christliche Vereinswesen ein, auch über die engen konfessionellen Begrenzungen hinweg. In der praktischen Liebestätigkeit sieht er ein besonderes Kennzeichen der Entwicklung seiner Zeit. Die erweckliche Note ist unüberhörbar: „Christen, die gerettet worden sind, haben gegen den furchtbaren Bund der Sünde und des Todes einen Bund der Liebe 419 geschlossen zur Rettung des armen Volkes aus dem ewigen Tode.“ „Die Kirche Christi, welche eine göttliche Rettungsanstalt für alle Verlorenen ist, muß für Ziele, die ihr der Herr geboten hat, Mittel haben, die im Geiste des Herrn sind. Und 420 sie hat sie gefunden in den Vereinen für innere Mission.“ Ausdrücklich rechtfertigt er solche Aktivitäten neben dem Wirkungskreis der Kirchenbehörden. Wenn die Gemeinden wären wie sie sein sollten und wie sie im apostolischen Zeitalter waren, nämlich lebendigen Glaubens und brennender Liebe, müßte eigentlich jeder gläubige Christ nach der ihm gewordenen Gabe einen Dienst zur Erbauung der Gemeinden haben. So aber ist es nicht und kann es bei unseren Massenkirchen nicht sein. Naturgemäß aber und nothwendig ist es, daß die lebendigen Christen einer Gemeinde sich aufgefordert finden, mit vereinten Kräften zu leisten, was der Kirche Pflicht ist. Daß dieß aber geschehen kann, ohne dem Bekennt-
unam ecclesiam externam revocentur, it exoptare debet, quicunque unitatem spiritus tenendi divinam agnoscit necessitatem“ (Vindiciae pacis religionis Augustanae, particular altera [1856], 26). 417 „Majori autem gentis nostrae unitati ii optime consulunt, qui veritatem tenent evangelicam, ad quam omnes dei promissiones sunt referendae“ (ebd., 26). 418 Vgl. etwa auch seine Predigt am Tage der Einweihung des Rettungshauses in Hohenleuben „Die Einkehr des Herrn“ über Lukas 18,1–10, in: Predigten (1866), 180–189. 419 Die innere Mission. Predigt am Jahresfeste des Hauptvereins für innere Mission zu Dresden 1869 über 1 Kor. 15,55–58, in: Predigten. Zweite Sammlung (1871), 164–176, dort 165. – „Nichts Anderes ist der Verein für innere Mission, der hier sein Jahresfest feiert, als ein Zusammenschluß geretteter Hände, das Ihre zu thun, aufdaß das Rettungswerk des Herrn an dem armen, verlorenen Volke vollbracht werde“ (ebd., 166). 420 Ebd., 173. – „Sie gründet Vereine für die Unterstützung der Armen, für Ueberwachung und Versorgung entlassener Strafgefangenen. Sie errichtet Rettungshäuser, Jünglingsvereine, Gesellenherbergen, Mägdeherbergen, Magdalenenhäuser, Siechenhäuser; sie sendet Diakonissen aus zur Pflege von Kranken, Leitung von Kinderbewahranstalten, Ueberwachung Geisteskranker; sie verbreitet die Schrift, Erbauungsbücher und andere heilsame Schriften. Alle diese Mittel aber gehen aus Glauben aus und erzielen des Glaubens Ende, nämlich der Seelen Seligkeit“ (ebd., 174).
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niß, ohne dem geistlichen Amte, ohne der Einheit der Kirche sich zu entfremden, haben wohl die meisten dieser Vereine bewiesen.421
Was er in diesem Fall in besonderem Hinblick auf die evangelische Bibelgesell422 schaft sagt, versteht er ebenso hinsichtlich des Gustav-Adolf-Vereins, der ebenfalls eine solche gesamtprotestantische Prägung aufweist. In einer Predigt, die Kahnis am 19. August 1868 in Zwickau anlässlich des Jahresfestes des Leipziger Hauptvereins der Gustav-Adolf-Stiftung über das Bekenntnis des Paulus vor Felix (Act 24, 14–16) gehalten hat, betrachtet er das Bekenntnis des Gustav-Adolf-Vereins als ein Bekenntnis des Protestantismus bzw. der Evangelischen, sieht also im Gegenüber zum römischen Katholizismus von einer innerprotestantischen Differenzierung ab, wenn er auch unter Bezug auf die Lokalgeschichte die engen Vertrauten Luthers Friedrich Mykonius (1490–1546) und Nikolaus Hausmann (ca. 1479–1538) ehrend als Vorbilder nennt und Auswüchse der reformatorischen Bewegung wie Thomas Müntzer (ca. 1489–1525) ausdrück423 lich verurteilt. Unüberhörbar stärkt Kahnis jedoch die Strategie des GustavAdolf-Vereins, der zwar seinen Ausgangs- und Mittelpunkt im lutherischen Sachsen hatte, aber ausdrücklich kein konfessionell lutherisches Profil ausbildete, sondern den Protestanten in der Diaspora insgesamt dienen wollte. Zu dieser weiten Gemeinschaft des Protestantismus im Gegenüber zum römischen Katholizismus bekennt sich Kahnis in einer weiteren Predigt ein Jahr später: „Dieser Verein beweist doch, daß trotz aller Mannigfaltigkeit der Richtungen und Standpunkte noch ein einheitliches protestantisches Bewußtsein vorhanden ist, das sich nicht 424 bloß in Worten, sondern auch in Werken beweist.“ „Steht der Gustav-AdolphVerein auf dem Worte Gottes, so hat er eine Einheit, die mächtiger ist, als der 425 Zwiespalt der Richtungen und Standpunkte seiner Glieder.“
421 Predigt am Jahresfeste der Leipziger Bibelgesellschaft den 23. Juni 1872 über 2 Tim. 3,15 „Die heilige Schrift das wahre Volksbuch“, Predigten. Dritte Sammlung (1877), 167–177, dort 168f. 422 Dass in den Bibelgesellschaften in ihren Anfangsjahren auch Katholiken mitarbeiteten, kommt bei Kahnis nicht mehr in den Blick. 423 Predigt zum Jahresfeste des Leipziger Hauptvereins der Gustav-Adolphs-Stiftung zu Zwickau am 19. August 1868 (= Predigten. Zweite Sammlung, 177–188). – Die Verbindung der Genannten mit Zwickau: Friedrich Mykonius (26. Dezember 1490 in Lichtenfels – 7. April 1546 in Gotha) predigte 1524 in Zwickau und wurde dann Prediger in Gotha. Nikolaus Hausmann (um 1479 in Freiberg/Sachsen – 6. November ebenda) wirkte seit 1521 in Zwickau, wo er sich mit den Zwickauer Propheten auseinandersetzen musste, bis er 1532 nach Dessau wechselte. Thomas Müntzer (um 1489 in Stolberg/Harz – 27. Mai 1525 bei Mühlhausen) kam 1520 als Prediger nach Zwickau, wo er engen Kontakt zu Nikolaus Storch aus dem Kreis der Zwickauer Propheten hielt, bis er 1521 vertrieben wurde. 424 Predigt auf der 24. Hauptversammlung des Gustav-Adolf-Vereines zu Bayreuth am 7. August 1869, in: Predigten. Zweite Sammlung (1871), 189–200, dort 190. 425 Ebd., 196.
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4.4.3 Kahnis’ persönlicher Weg und der Gang der Kirchengeschichte Kahnis sieht seinen eigenen Weg, der ihn dazu führt, sich dem lutherischen Bekenntnis in kirchlicher Verbindlichkeit zu verpflichten, als Ausdruck einer geschichtlichen Entwicklung, die seine Zeit überhaupt als ein Zeitalter der Rückkehr zum Bekenntnis erkennen lässt. Seine persönlichen Entscheidungen erhalten so typischen und exemplarischen Charakter für die Entwicklung des Protestantismus in seiner Zeit, so wie er sie wahrnimmt. Er schreibt seine eigene Position in den Gang der neueren Kirchengeschichte ein und sieht so seine persönliche Stellung als Symptom der nachreformatorischen Entwicklung in ihrem gegenwärtigen Stadium. Drei Zeiträume unterscheiden sich uns: der der Orthodoxie, welche auf der Ueberzeugung von der unbedingten Uebereinstimmung des Bekenntnisses und der Schrift ruht, der der Subjektivität, in welchem jener dritte subjektive Faktor zuerst die Kirchenlehre, dann die Schrift, endlich das Christenthum selbst absorbirt, bis nach Verlauf der Fluthen der Revolution dieser subjektive Geist zum christlichen Leben, dann zur Schrift, endlich zum Bekenntniß zurückkehrt. In diesem Zeitalter der Rückkehr stehen wir dermalen. Aber es ist an der Zeit ernstlich darauf hinzuweisen, daß diese Rückkehr nicht zur Repristination eines für immer vergangenen Zeitalters der Orthodoxie führen darf. So unmöglich die Stellung diese Zeitalters zur Schrift, so unmöglich ist die Stellung desselben zum Bekenntnisse zu erneuern. Im Kampfe gegen Hofmann ist ausgesprochen worden, daß ein lutherischer Theologe an die Bekenntnißsubstanz gebunden sei (Thomasius, Das Bekenntniß u.s.w. S. 2). Was nun Substanz und was Accidens ist, das kann nicht formulirt werden, weil jede Formel den Widerspruch in sich tragen würde sich zum Richter des Richters zu machen. Aber der Geist der Kirche Jesu Christi, der so viele Glieder der lutherischen Kirche zum lebendigen Glauben an das Evangelium, durch dasselbe aber zur Erkenntniß geführt hat, daß das Zeugniß der deutschen Reformation das Zeugniß der evangelischen Wahrheit ist, der ist es auch, welcher mit der Liebe zum Bekenntniß das Streben nach immer reinerer und tieferer Erfassung seines Inhalts verbinden heißt.426
Was er an seinem Erlanger Kollegen Hofmann verdeutlicht beansprucht er auch für sich selbst.
426 Dogmatik II (1864), 618f. Kahnis verweist für diese Gedanken auf den ersten Band seiner Dogmatik (1861), 8–11, zurück; vgl. auch III (1868), 4–12. – Und er bezieht sich auf Gottfried Thomasius: Das Bekenntniß der lutherischen Kirche von der Versöhnung und die Versöhnungslehre D. Chr. K. v. Hofmann’s, mit einem Nachwort von Th. Harnack (1857). Dort heißt es: „Ihm [sc. dem Bekenntniß der Kirche] unterstellen wir lutherische Theologen unsere wissenschaftlichen Leistungen“ (ebd., 2). „Es darf nicht sofort von einer Abweichung in der Form auf eine Differenz in der Sache geschlossen werden, er darf auch keineswegs Alles was die Bekenntißschriften als doktrinelle Erörterung eines Glaubensartikels enthalten, ohne weiteres, als wäre es Inhalt des Bekenntnisses, geltend gemacht, es muß vielmehr genau ermittelt werden, was eigentliche Bekenntnißsubstanz ist, und erst wenn dieß geschehen, kann geurtheilt werden, ob eine theologische Darstellung ihm entspreche oder nicht“ (ebd., 2).
5. Kahnis’ Fortentwicklung der lutherischen Theologie 5.1 Entwicklungfähigkeit lutherischer Theologie Kahnis hat sich mit seiner historisch-genetischen Betrachtungsweise der Tatsache geöffnet, dass alle geschichtlichen Gestaltungen und damit auch die Gestaltung der kirchlichen Lehre und Verkündigung einem Wandel unterworfen sind. Und dieser Wandel impliziert, dass sich historisch ein sich unverändert durchhaltender Glaubensinhalt nicht erweisen lässt. Vielmehr ist von fortwährenden Bemühungen auszugehen, jeweils für sich und die eigene Zeit den Glauben aufgrund der Tradition der Schrift und ihrer kirchlichen Wirkungsgeschichte neu zu erfassen und ihm Ausdruck zu verleihen. Die Bindung an die Tradition bedeutet für Kahnis andererseits auch, dass dieser Betrachtungsweise bestimmte Grenzen gesetzt sind. Diejenigen, welche dem Luthertum keine Entwickelungsfähigkeit zuschreiben, stellen ihm einen Todtenschein aus. Und was streiten wir uns über Möglichkeit und Nothwendigkeit, wo eine dreihundertjährige Wirklichkeit vorliegt. Das Luthertum hat sich entwickelt und entwickelt sich noch. Worin aber der Grund dieser Entwickelung liegt, nämlich in dem Lehrbewußtsein, welches immer tiefer in die Schrift eindringen, immer gründlicher den Glaubensinhalt des Bekenntnisses vermitteln will, darin liegen auch die Schranken. Die Lehrentwickelung des deutschen Protestantismus darf die Schrift, das durch die Geschichte der Kirche gehende Wahrheitszeugniß des heiligen Geistes und den Glaubensgrund der Reformation nicht überschreiten. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen diese Schranken einzuhalten gesucht.1
In der historischen Entwicklung erschließt sich für Kahnis eine göttlich bezeugte Wahrheit; der geschichtliche Prozess weist eine Tiefenschicht auf, die der Zufälligkeit enthoben ist und kraft des heiligen Geistes erkennbar wird. In dem Begriff „historisch-genetisch“ liegt für Kahnis ein Doppeltes: „Weder rein historisch noch rein systematisch will unsere Dogmatik ihren Inhalt darstellen, sondern historischgenetisch. Sie sieht die Kirchenlehre als ein geschichtlich Gewordenes an, welches in sich die Kraft der Fortentwickelung trägt. Indem sie aber das geschichtliche Werden der Glaubenslehren darstellt, sucht sie in demselben das Werden der Wahrheit nachzuweisen. Sie hat also die Geschichte zur Voraussetzung und das System zum 2 Ziel.“ Dieses Vorgehen ist von vielen seiner zeitgenössischen lutherischen Kollegen nicht verstanden worden, sondern als das lutherisches Bekenntnis zersetzende Kritik gewertet worden, obwohl Kahnis selbst weit bescheidener von seinen theo-
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Dogmatik III (1868), IX. Dogmatik2 I (1874), 313.
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logischen Explorationen dachte und keineswegs irgendwelche die Autorität des Bekenntnisses angreifende Konsequenzen daraus ableiten wollte. Der theologischen Wissenschaft aber muß zu bedenken gegeben werden, daß erstlich nicht jede singuläre Aufstellung der Theorie sich den Namen und das Recht der wissenschaftlichen Wahrheit beimessen darf; zweitens daß selbst erprobte Resultate der theologischen Wissenschaft für eine große Anzahl von Christen, welche sich an das was feststeht in Schrift und Bekenntniß, weil es feststeht, halten, nicht zugänglich sind; endlich aber daß die theologische Wissenschaft, wie sie dermalen steht, durchaus unfähig ist, ein neues Bekenntniß zu bilden. Sonach kann die lutherische Theologie nur die Aufgabe haben, die Ergebnisse, welche sie in Wahrheit als Fortentwickelungen der lutherischen Glaubenssubstanz ansieht, als Lehrtradition dem Bekenntnisse anzuschließen.3
Solcher Versuch der Fortentwicklung lutherischer Lehre ist freilich auch als Abfall von ihr interpretiert worden, und zwar sowohl von streng lutherischer als auch von liberaler Seite aus. So erklärt August Wilhelm Dieckhoff: „Es ist ein schweres Aergerniß, wenn ein Theologe, der eine Zeitlang und zwar in hervortretender Weise das Bekenntniß unserer Kirche und seine Rechte vertreten hat, nun, in der Zeit, da die Sache des lutherischen Bekenntnisses und der lutherischen Kirche von Neuem eine schwer bedrängte ist, von dem abfällt und das als falsch verurtheilt, was 4 er früher verteidigt hat.“ Und der liberale Carl Schwarz fragt sich: „Wie war es möglich, daß Kahnis bis dahin als eine Säule der lutherischen Kirche angesehen wurde und sich selbst als solche geberdete, dessen Rechtgläubigkeit so wurmsti5 chig, daß sie nur eine Auflage des Tholuck’schen geistreichen Eklekticismus ist?“ Ein entsprechendes Urteil trifft dann natürlich nicht Kahnis allein, sondern auch Thomasius, Hofmann und diese ganze „Partei“. „Dies Lutherthum ist, wie es scheint, etwas schlechthin Unberechenbares und Vereinzeltes, von dem sonstigen 6 theologischen Bildungsgange ganz Unabhängiges.“ Kahnis selbst meint dagegen, gerade in seinem Vorgehen konsequent den reformatorischen Ansatz zu verfolgen. Im unmittelbaren Vorfeld der beginnenden Publikation seiner Dogmatik, die dann die scharfe Kritik an ihm auf den Plan ruft, bekennt er anlässlich der Melanchthon-Feier zu dessen 300. Todestag (gest. 15. April 1560): Der Protestantismus, entstanden aus dem Protest gegen das unevangelische Wesen der mittelalterlichen Kirche, hat dem Hause kirchlicher Gemeinschaft, welches er erbaut hat, die Aufschrift: Evangelische Wahrheit gegeben. Darin liegt sowohl ein Streben als ein Ziel, ein fester Grund wie ein Bauen auf dem Grunde. So wenig als 3 4 5 6
Dogmatik2 I (1874), 243 (= Dogmatik III [1868], 109). Dieckhoff: Besprechung von: Kahnis, Die Lutherische Dogmatik I (1861), Theologische Zeitschrift 2, 901. Schwarz: Zur Geschichte der neuesten Theologie (41869), 239 (Der Druckfehler „Elekticismus“ in der 3. Aufl. 1864, ist korrigiert). Ebd., 239f.
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ein bloß kritisches Verhalten zur Religion, welches es nicht zum positiven Glauben bringt, Protestantismus ist, so wenig ist Protestantismus ein starres Festhalten des Positiven, welches die Reproduction aus der Schrift scheut. Mögen die Gegner des Protestantismus in diesem Ineinander von Prüfen und Festhalten, von Freiheit und Gebundenheit den großen Widerspruch des Protestantismus finden: wir sehen hierin seine Kraft, seine unerschöpfliche Lebensfülle, seine Zukunft. Eine Kirchengemeinschaft aber, deren Symbol die evangelische Wahrheit ist, darf die wissenschaftliche Rechenschaft, den wissenschaftlichen Beweis des Geistes und der Kraft nicht schuldig bleiben.7
Er ruft den Praeceptor Germaniae gleichsam zu seinem eigenen Gewährsmann auf. „Und so darf denn der deutsche Protestantismus die Erinnerung an den Lehrer Deutschlands nicht scheuen. Sein wissenschaftlicher Geist lebt noch fort unter 8 uns.
5.2 Auf dem Weg zur Rezeption der lutherischen Theologie Kahnis’ kirchliche Heimat ist die lutherische Landeskirche im Fürstentum Reuß ältere Linie, dessen Hauptstadt seine Geburtsstadt Greiz ist. Dieses Land gilt im 19. Jahrhundert als besonders konservativ und als eine Hochburg des orthodoxen Luthertums. Kahnis selbst berichtet von seinem Vater, dass dieser den Dresdner 9 Oberhofprediger Franz Volkmar Reinhard (1753–1812) , einen Anhänger des Supranaturalismus, verehrte und sich intensiv mit ihm und seinen Predigten beschäf10 tigt hat; von dieser Liebe hat der Sohn sicherlich nicht nur gewusst, sondern diese religiöse Atmosphäre auch auf sich selbst wirken lassen. Jedenfalls findet er die Wurzeln seiner eigenen theologischen Grundüberzeugung – später rückblickend – 11 bei Reinhard. Dass bei dem jungen Kahnis sich tief greifende Fragen und Zweifel einstellten, setzt eine religiöse Sozialisation gerade voraus. Und so markiert er dann auch seinen wesentlichen Fortschritt gegenüber der Sicht von Reinhard: „In der That war es dem Supranaturalismus von Haus aus mehr um die übernatürli-
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Rede zum Gedächtniß Melanchthon’s (1860), 24. Ebd., 25. Franz Volkmar Reinhard (12. März 1753 in Vohenstrauß/Oberpfalz – 6. September 1812 in Dresden), gilt als hervorragender Vertreter des Supranaturalismus, 1777 Privatdozent der Philosophie und Philologie, 1780 ao. Professor der Philosophie, 1782 o. Professor der Theologie in Wittenberg, 1792 Oberhofprediger in Dresden, wo er eine große Zahl von Hörern anzog, von 1800 an stärkere Aufnahme der Theologie Luthers und Bezeugung von Glaubenserfahrungen. Kahnis hebt seine Bedeutung als biblischer Theologe stark hervor (Der innere Gang [1854], 145f = ebd. [21860], 135f; Dogmatik2 I [1874], 52f, = Dogmatik I [1861], 71; eine ausführliche Würdigung in: Vorwort, SKSB 5 [1855], 18–21.25–27.33–38.41–46). 10 Winter: Kahnis, 5. 11 Der Gang der Kirche in Lebensbildern (1881), 450f.453.
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che Form der Mittheilung, als um den übernatürlichen Inhalt zu thun“. Korrigierend hält er dagegen: „Ein einziger Blick in die heilige Geschichte sagt uns, daß Gott nie sich geoffenbart hat, um den Menschen über sein Daseyn, seine Eigen13 schaften, die Dreieinigkeit u.s.w. zu belehren.“ Der Mensch werde nicht bloß belehrt, sondern persönlich betroffen; es gehe folglich um „mein thatsächlich Verhältniß zu Gott“: „Gott hat sich geoffenbart, um einen Bund mit der Mensch14 heit zu schließen.“ An zwei Punkten bekennt Kahnis selbst, spät in die Lehrpositionen der klassischen lutherischen Theologie hineingefunden zu haben, nämlich in die Lehre vom Abendmahl und vom heiligen Geist. Die Klärung des zweiten Punktes fällt in seine Breslauer, die des ersten wohl bereits in seine Berliner Zeit. 5.2.1 Abendmahlslehre Hinsichtlich der lutherischen Abendmahlsauffassung berichtet Kahnis: „Ich selbst habe eine Zeit gehabt, und eine Zeit, da ich schon Lehrer der Theologie war, in der ich zur lutherischen Abendmahlslehre mich nicht entschließen konnte. Gottes Erbarmung hat mich die Wahrheit finden lassen. Daß ich sie lange nicht fand, das beweist nicht das Dunkel der Schrift in diesem hochheiligen Punkte, sondern das 15 Dunkel des Auges in mir.“ Nähere Auskünfte über diese Entwicklung finden sich nicht. Nur ein weiteres Mal geht er kurz darauf ein. Zu der Aussage des Paulus: „Darum sind auch viele Schwache und Kranke unter euch, und nicht wenige sind entschlafen“ (I Kor 11,30) bemerkt er: Wie kann ein bloßes Symbol solche Dinge thun! Wir können nicht sagen, daß solche Wirkungen unter uns nicht mehr sich zeigen, weil unsere Ärzte nichts davon wissen. Es fehlt uns nur das Auge dafür. Wenn es mir vergönnt ist, auf meine eigene Erfahrung mich zu berufen, so kann ich der Wahrheit gemäß bezeugen, daß eine Frau, welche zur Beschönigung eines Unrechts sich auf das Abendmahl berief, welches sie am folgenden Tage genießen wollte, ohnmächtig aus der Kirche nach Hause gebracht ward und 10 Tage darauf starb. Ich hatte damals zwar nicht die reformirte Ansicht, aber auch nicht die lutherische. Ich ahnete, daß das Abendmahl mysterium tremendum sei und diese Ahnung hat mich weiter geführt im Verständnisse der Schrift.16
Auch hier also nennt er jedenfalls die drei Faktoren Erfahrung, Kirchenlehre und Schriftzeugnis, die bei ihm zusammengewirkt haben. 12 Das Wesen des Christenthums, 140. Kahnis fährt fort: „Er begründete die Autorität der Schrift, wie die Socinianer, nicht mit dem Zeugnisse des heiligen Geistes, sondern mit dem Hinweis auf Wunder und Weissagung.“ 13 Ebd., 154. 14 Ebd., 155. 15 Abendbetrachtung (1852), 8. 16 Die Lehre vom Abendmahle, 168.
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5.2.2 Die Persönlichkeit des Heiligen Geistes Während die Bedeutung des heiligen Geistes für Kahnis „in der Hauptsache“ feststeht, sieht er lange Zeit keinen ausreichenden Grund für „die Lehre von der Persönlichkeit des h. Geistes“ und setzt sich intensiv mit dieser Frage auseinander, z.B. auf einer Predigerkonferenz in Greiz. Schließlich beschließt er, „meine Zweifel 17 zum Gegenstande meiner Disputation pro loco zu machen“. Am 14. August 1845 hält er seine Antrittsdisputation in Breslau „De spiritus 18 sancti persona capita duo“ . Darin geht er so vor, dass er die exegetische Begründung für die Bezeichnung des heiligen Geistes als Person prüft, im ersten Kapitel die gemeinhin dafür ins Feld geführten Schriftstellen als nicht stichhaltig zu er19 weisen versucht und dann im folgenden solche Schriftstellen benennt, die dage20 gen sprechen, sowie die exegetische Argumentation für seine eigene Position 21 vorführt. Charakteristisch dabei ist, dass er den Personbegriff in seiner Anwendung auf die Trinität anders als herkömmlich verwendet. Während traditionell 22 Person als „quod proprie subsistit – das selbs bestehet“ definiert und allein in der spiratio begründet gesehen wird, versteht Kahnis Person im modernen Sinn des Selbstbewusstseins als „Persönlichkeit“: „Persona est natura individua, sui cons23 cia.“ Und den so gefassten Begriff meint er nur auf den Vater als „persona abso17 Die Lehre vom heiligen Geiste, VII–IX. 18 De spiritus sancti persona capita duo […] pro munere rite obtinendo d. XIV. m. Augusti a. MDCCCXLV […] publice defendet Carolus Augustus Kahnis, Vratislaviae, 30 Seiten. 19 Ebd., 3–15. Hinsichtlich des Parakleten (Joh 14,16) hält er eine personale Deutung für möglich, aber nicht für zwingend, wenn man die Bezeichnung des Gesetzes als Pädagogen (Gal 2,24) vergleiche; hinter dem Parakleten stehe Jesus selbst als Person (Joh 14,26; 15,26; 16,8.13). Rhetorisch bedingte Personifikationen liegen für ihn auch dann vor, wenn vom Geist als Redendem gesprochen werde, sei es in den Jünger Jesu (Mt 10,20parr; Act 2,4; 8,29 usw.), sei es in den Propheten (Act 1,16 u.ö.). Solche Hypostasierungen weisen nach Kahnis, wie die der Weisheit (Prov 8,22–26) zeigt, nicht auf eine innergöttliche Personalität, sondern auf das irdische Wirken der Kräfte Gottes (Ps 104,30; Jes 11,2; Joh 7,39) oder Christi (Joh 7,39; 16,7), die Gemeinschaft stiftende Kraft. „Procedit igitur nobis vis divina, et a patris et a filii persona discreta, quae omnia in terris in dei cogit communionem“ (ebd., 8). Als Subjekt solcher Geistwirksamkeit könnten auch Menschen benannt werden (Act 1,16; II Petr 1,21) oder die Schrift (Gal 3,8) und das Wort Gottes (Hebr 4,12). Bilder, die auf eine Personalität hinweisen, wie die Taube bei der Taufe Jesu (Lk 2,22) oder Wind und Feuer bezeichnen nur die wirksam werdende Kraft (Lk 1,35; Mt 12,28/Lk 11,20). Die trinitarischen Wendungen II Kor 13,13 und Mt 28,19 will Kahnis, wenig überzeugend, nur teilweise auf Personen, insgesamt aber auf die Kraft beziehen (ebd., 13–15). 20 Ebd., 16–22. Im Geist liege Gottes eigene Personalität (Jes 40,7; Ps 139,7; I Kor 2,10–12). Geist sei auch das Leben, das der Glaube mitteilt (Gal 3,2 u.ö.). Christus könne sich keine andere Person nennen (II Kor 3,17). Die personale Einheit der Kirche unter einem Haupt (Eph 2,22; 4,3f.15f) könne nicht auf zwei Personen gegründet sein, sondern nur auf Christus allein. 21 Ebd., 22–30. 22 „Et nomine personae utuntur ea significatione, qua usi sunt hac causa scriptores ecclesiastici, ut significet non partem aut qualitatem in alio, sed quod proprie subsistit“ (CA 1 § 4; BSLK 50, 14– 18). 23 De spiritus sancti persona, 7. Vgl.: „Personae vis in conscientia est posita“ (ebd., 16). „Constat autem, omnes motus animi habere et originem et finem in persona. Dei persona necessario cogitando, expetendo, sentiendo se exserit“ (ebd., 17f).
Auf dem Weg zur Rezeption der lutherischen Theologie
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luta“ und den Sohn, der sich selbst vom Vater unterscheidet, sich ihm zugleich 25 aber unterordnet, anwenden zu können, nicht aber auf den Geist, den er als „in 26 divino numine singularis vis ac ratio“ bezeichnet . Den heiligen Geist versteht er als „principium unitatis“ zwischen Vater und Sohn, als „vis, quae utramque personam in unam eamque absolutam vitam connecteret,“ als „Vinculum enim vitae, quod in patris persona subjectum et objectum continent, et patrem filiumque 27 conglutinat.“ Daraus ergibt sich folgende Struktur der Trinität: „Intueri vult pater in filio se, quamobrem par est utriusque natura; diligere vult alium, qua28 mobrem dispar est utriusque persona.“ Und dann weiter: „duae in una divina natura personae, quae per vitae principium, cui tertius debetur locus, sunt con29 junctae.“ Zugleich wird damit systematisch erfasst, dass auch die Glaubenden als Kinder Gottes den Geist haben, der Geist also die Gemeinschaft nicht nur in Gott, sondern auch mit Gott stiftet; auch in dieser Hinsicht gilt, „principium sit unitatis 30 spiritus s.“ . Kahnis verfolgt mit seiner Pneumatologie keineswegs das dogmatische Anliegen, die Bedeutung des heiligen Geistes zu ermäßigen, indem er ihm die Persönlichkeit abspricht. Vielmehr geht es ihm darum, dessen Bedeutung als Gemeinschaft stiftende Kraft hervorzuheben und so die Vermittlung zwischen Gott und Menschen in seinem theologischen Ansatz zu verankern. Insofern stellen diese Ausführungen eine Vorarbeit zu der Monographie „Die Lehre vom heiligen Geiste“ (1847) dar. Kahnis will die dogmatische Frage zwar allein auf die Autorität der heiligen 31 Schrift gegründet lösen, verwendet aber weiter den zentralen Begriff der Person, der durch die dogmatische Tradition und nicht durch die Bibel vorgegeben ist, und zwar unter modernen philosophischen Voraussetzungen, die keineswegs die dogmengeschichtlichen sind. Indem Kahnis einerseits hinter die kirchliche Lehrentwicklung auf die biblischen Vorgaben zurückgeht, argumentiert er andererseits mit einer erst seiner eigenen Zeit eigentümlichen Begrifflichkeit. Die vermeintlich biblische Lehre stellt mithin eine Aktualisierung biblischer Traditionen unter 24 „Deus [sc. persona patris] est persona absoluta. […] Deus, qui se ipsum scit, est sapiens, qui se ipsum vult, est sanctus, se ipsum sentit, est beatus“ (ebd., 16). 25 Durch viele Schriftstellen sieht er belegt: „Est autem divina Christi natura […] persona, quae se a patre secernit“ (ebd., 22). Allerdings schreibt er „personae filii imparem, a patre pendentem (Joh. 5, 26) dignitatem“ (ebd., 23), die ganz einzigartig ist (Kol 1,15), zu. 26 Ebd., 22 27 Ebd., 24f. 28 Ebd., 26. Bestätigt sieht Kahnis seine Beschränkung auf zwei Personen durch Schriftstellen wie Mt 11,27; I Kor 15,28; Apk 21f (ebd., 29). 29 Ebd., 27. Im Heiligen Geist liegt, dass nicht zwei Götter im heidnischen Sinne gegeben sind und dass von der einen göttlichen Substanz nicht eine begrenzte Natur abgeteilt ist (ebd., 26f). 30 Ebd., 25. „Omnes qui credunt, connexi sunt cum patre spiritus s. communione. Docet Paulus, esse dei filios, quicunque spiritus s. agantur (Rom 8, 14)“ (ebd., 25). 31 „Sed ecclesia nostra, quae annorum sanctimoniam non curat, ubi biblia sacra adversantur, num ex iis firmari possit dogma illud, quaestionem propulsare nequit“ (ebd., 2).
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neuem Problembewusstsein dar. Das Problem, das Kahnis behandelt, entsteht überhaupt erst, wenn persona als Persönlichkeit verstanden wird, „cum autem 32 persona sine facultatum suarum motibus statui nequeat“ . Bald danach bekennt Kahnis: „Was ich aber nicht gut gemacht habe [sc. die Persönlichkeit des heiligen Geistes infrage zu stellen], hat Gott gut gemacht. Er hat mich auch in diesem Punkte zur Klarheit geführt. Die Kirchenlehre hat sich 33 mir auch hier bewährt.“ Konkret revidiert er vor allem seine Auslegung des Reichsbefehls Christi mit der Anweisung zur Taufe (Mt 28,18–20), wodurch dann auch andere Stellen in einem neuen Licht erscheinen. „Ich will, der Sache wegen, persönlich sprechen. Ich habe einst Zweifel ausgesprochen an der Persönlichkeit des heil. Geistes. Was mich aber immer von Neuem an meinen eigenen Zweifeln irre machte, was mich zur Wahrheit gebracht hat, war die Auktorität der Einsetzungsworte der Taufe: Im Namen des Vaters, des Sohnes, des heiligen Geistes, die 34 ich mir von jenem Standpunkt aus doch nur künstlich zurecht legen konnte.“ An dieser Sicht hält Kahnis künftig fest. „Die Grundstelle Mt. 28, 19 (giebt) den zahlreichen Stellen, in welchen dem heiligen Geist persönliche Namen, Kräfte und Funktionen beigelegt werden, die Bedeutung der Persönlichkeit. Von der vor35 weltlichen Entstehung des heiligen Geistes aus Gott spricht die Schrift nie.“ Den Begriff der Persönlichkeit gibt Kahnis also nicht auf, sondern spricht jetzt auch da von Persönlichkeit, wo er vorher gemeint hatte, von Kraft und Prinzip sprechen zu müssen. „Zwischen der Person des Vaters und der Person des Sohnes aber steht der Geist, die Persönlichkeit der Lebens- und Liebesgemeinschaft, welche was des 36 Vaters ist dem Sohne, was des Sohnes ist dem Vater vermittelt.“ Eine Diskussion über die Angemessenheit des Begriffes Persönlichkeit in diesem Zusammenhang 37 findet sich nicht mehr; Kahnis begründet allein den klassischen Personbegriff. Das dogmatische Anliegen, das ihn leitet, bleibt weiterhin, die Pneumatologie in eine Breite zu stellen, die seine Wirksamkeit schon in der Schöpfung als „Geist des Lebens“, dann als „Geist des Heils“ speziell in den wiedergeborenen Menschen und immer wieder als „Geist der Gaben“ in besonderen Beauftragungen klar im Blick hat. „Nun erst, nachdem wir die Funktionen des heiligen Geistes 32 Ebd., 27. 33 Die Lehre vom heiligen Geiste, IX. 34 Die Lehre vom Abendmahle, 55. – Zur Einschätzung dieser Taufformel äußert er sich anschließend: „Was soll feststehen aus dem Evangelium, wenn solch fundamentales, von der Tradition so mächtig bezeugtes, an einem von Christo selbst eingesetzten Gebrauch geknüpftes, vom scheidenden Christo ausgesprochenes Wort nicht sicher ist? Solch ein Wort muß ganz streng genommen werden“ (ebd., 55). 35 Dogmatik2 I (1874), 348. 36 Ebd., 351. 37 Vgl. die exegetischen und dogmatischen Ausführungen ebd., 365–367. – „Ist die Entstehung des heiligen Geistes aus dem Vater eine Forderung, die in dem Begriff desselben als göttlicher Persönlichkeit liegt, so wird man den Gebrauch dieses Ausdrucks (ἐκπόρευσις, processio, Ausgang), der auf einem Rückschluß aus dem ökonomischen auf das innergöttliche Hervorgehen ruht, nur für gerechtfertigt erklären können“ (ebd., 367).
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erkannt haben, lässt sich die Frage beantworten, ob der heilige Geist eine göttliche 38 Persönlichkeit ist.“ Nicht nur die zwischen Vater und Sohn, sondern auch die zwischen Gott und Welt vermittelnde und verbindende Kraft soll bewusst sein, die göttliche Dimension in der Weltgeschichte also. Deshalb behält in Kahnis’ späterem Denken auch der Begriff Leben, dem er in seiner kommunikativ-personalen Konzeption eine entscheidende Rolle zugewiesen hat, diese grundlegende Bedeutung. „In dem Aeon von seiner Himmelfahrt bis zu seiner Wiederkunft ist Christus nicht sichtbar gegenwärtig in seiner Kirche. Das Amt, welches er einst auf Erden an seinen Jüngern ausrichtete, hat er dem heiligen Geiste übergeben. Jesus, das Haupt, leitet seine Kirche durch den heiligen Geist. Der heilige Geist ist das 39 die Kirche erfüllende göttliche Leben.“
5.3 Modifikationen an der Lehrgestalt der lutherischen Theologie Im Vorwort seines Buches „Christenthum und Lutherthum“ (1871), das er zwischen der ersten und der zweiten Auflage seiner Dogmatik veröffentlicht und mit dem er einer breiteren Leserschaft Rechenschaft über seine theologische und kirchliche Stellung geben will, bekennt Kahnis als seine grundlegende Stellung: „Die Rechtfertigung aus dem Glauben habe ich in allen meinen theologischen Schriften als die Grundlehre des deutschen Protestantismus mit besonderem Nachdruck hervorgehoben. Sie ist es besonders, die mich vom Evangelium zum Lutherthum 40 geführt hat.“ Dieser Grundfeststellung lässt er eine Aufzählung der Lehrpunkte folgen, bei denen er meint, an der traditionellen Lehrgestalt aufgrund seiner eigenen Prüfung nach Schrift, Geschichte und Wissenschaft Modifikationen vornehmen zu sollen. Er nennt die Sünden- bzw. Rechtfertigungslehre, die Abendmahlslehre, die Artikel von Christi Person und Werk, die Lehre von der Dreieinigkeit 41 und die Lehren von Sakrament und Kirche. Dabei ist die Unterscheidung, die er zwischen Rechtfertigung als erfahrenes Geschehen und als formulierte Lehre vornimmt, zu beachten.
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Ebd., 362–365, Zitat dort 365. Dogmatik II (1864), 7. Christenthum und Lutherthum, V. Ebd., V–VIII. – Vgl. schon Dogmatik III (1868): „Die christlichen Lehren von der Dreieinigkeit, Christi Person und Werk, Gnade u.s.w. sind ihrer Substanz nach über allen Wechsel und Wandel erhaben, fordern aber dermalen eine exegetische, dogmenhistorische und philosophische Begründung und Vermittelung, welche nothwendig in die Lehrfassung Modifikationen bringt. Was aber endlich die konfessionellen Lehren vom Abendmahl, Kirche u.s.w. betrifft, so glaube ich mit der größten Bestimmtheit sagen zu können, daß diejenigen, welche das Alte nur in der alten Form wollen, den Bruch mit dem Alten herbeiführen werden“ (X). Im Folgenden geht er auf die Trinitätslehre, die Christologie und die Abendmahlslehre näher ein (X–XIII).
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5.3.1 Kritische Rezeption der Theologiegeschichte: Sünde und Gnade So klar Kahnis die zentrale Bedeutung der Rechtfertigung herausstellt, so differenziert sieht er doch die Ausformulierung der Rechtfertigungslehre, wie sie in der Tradition Augustins in der lutherischen Reformation und dann in der Fortentwicklung der lutherischen Theologie erfolgte. Die Lehren von der Sünde und Gnade glaube ich in Uebereinstimmung mit der augsburgschen Konfession dargestellt zu haben, kann aber nicht umhin immer von Neuem hervorzuheben, daß ihre theologische Fassung freier werden muß von den augustinischen Spitzen, die gegen Schrift, wahre Tradition und Erfahrung sind. Augustin, der größte Lehrer der alten Kirche, hat zu dem Lichte, welches er der Kirche gebracht, bedenkliche Schatten gefügt, die zum Theil noch nicht überwunden sind. In dieser Beziehung ist die Bedeutung Melanchthon’s, der die Ausschreitungen Augustin’s unter allen Reformatoren am gründlichsten erkannte, noch nicht hinreichend gewürdigt.42
In der biblischen Grundlegung, die er im ersten Band seiner Dogmatik (1861) bietet, stellt er dar, wie in der heiligen Schrift die Darstellung der Sache, um die es geht, breiter gefächert ist, als es die spätere Konzentration auf den Vorstellungsrahmen des Gerichtsverfahrens vermuten lässt. Diese Engführung betrifft nach seinem Verständnis nicht nur die Ausdrucksweise, sondern auch das Erfassen des bezeichneten Gegenstandes. Paulus, Petrus, Johannes stellen die Gemeinschaft des Menschen mit Gott durch Christum dar: Paulus als Versöhnung, Petrus als heiligende Vollbereitung zum ewigen Leben, Johannes als Lebensgemeinschaft. Paulus, welcher das Wort von der Versöhnung predigt, somit von der Trennung des Menschen von Gott durch die Sünde ausgeht, war der Apostel der Heiden, weil die den Menschen als Sünder allein durch den Glauben mit sich versöhnende Gnade die Prärogative des Judenthums niederschlägt (Gal. 2,15ff.). Petrus, seiner Natur nach der Mann gesetzlichen Wandels, seiner Gabe nach der Seelenleitung, wandte, wie der Herr es ihm in den Worten: Wenn du dermaleinst dich bekehrest, stärke deine Brüder (Lc. 22,32.), geboten hatte, sein geistliches Auge dem heiligen Wandel der Christen nach dem himmlischen Vaterland zu. Johannes aber, der Jünger der Lebens- und Liebesgemeinschaft mit Jesu, vereinigt den rettenden Glauben (das Wort Rechtfertigung hat er nicht) und den heiligen Wandel im Centrum der Lebensgemeinschaft des Gläubigen mit Gott durch Jesum Christum, der das Leben ist.43
Unterschiedliche Situationen in der Kommunikation des Evangeliums bringen demnach unterschiedliche Akzentsetzungen mit sich, die jeweils besondere Aspekte hervorheben, aber nur gemeinsam den ganzen Inhalt erfassen. Kahnis betont deshalb die Bedeutung des engen Zusammenhanges zwischen Rechtfertigung, Lebensgemeinschaft und Heiligung, wenn man das prozessual auf das Endziel 42 Ebd., V–VI. 43 Dogmatik I (1861) 547f.
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ausgerichtete Christsein recht erfassen will. „Wie mit dem rechtfertigenden Glauben die Hoffnung auf die Endgerechtigkeit, mit der Lebensgemeinschaft die Bürgschaft der Auferstehung zum ewigen Leben, so ist mit der Heiligung die Aussicht auf die Vollendung der Ewigkeit verbunden (Phil. 3,12ff. 1 Joh. 3,2ff. 1 Petr. 1,3ff.5,10.). Die Rechtfertigung aus dem Glauben hat ihr Ziel in dem Gerichte, die Lebensgemeinschaft in der Auferstehung zum ewigen Leben, die Heiligung in der 44 Vollendung des ewigen Lebens.“ Im Einzelnen stellt Kahnis die paulinische Rechtfertigungslehre ganz in ihrer 45 lutherischen Interpretation dar, setzt sie aber eben nicht absolut. Er sieht sie vielmehr an als „die bestimmtere Ausprägung dessen, was die übrigen Apostel bald Heil, bald Vergebung der Sünden, bald Sühne, bald Gemeinschaft mit Gott, 46 bald Recht der Kindschaft nennen.“ Auch sei es „nicht ganz richtig, wenn man die Rechtfertigung aus dem Glauben den Centralpunkt der paulinischen Lehre 47 nennt“. Denn: Paulus lehrt ebenso nachdrücklich das objektive Heilswerk als die Aneignung desselben im rechtfertigenden Glauben, nur daß ihn seine Entwickelung und seine Stellung gegenüber dem Judenchristenthum anwiesen[,] diese Lehre immer von Neuem geltend zu machen. Es ist das Heil in Christo der Eine Punkt, den alle Apostel treiben. Paulus aber sah das Heil besonders in der Rechtsgemeinschaft mit Gott, in welche der Sünder durch den Glauben an Jesum Christum tritt, wofür er selbst das Wort Versöhnung hat, welches er 2 Kor. 5,18ff. deutlich als die Summa seiner Lehre bezeichnet.48
Die Rechtfertigung als Rechtsakt ist für Kahnis zwar unabdingbare Voraussetzung dafür, dass das zugesagte Recht dann im Leben umgesetzt werden kann, hat aber 49 ihren Wert nicht in sich selbst, sondern in den Möglichkeiten, die sie erschließt, so dass „die Rechtfertigung aus dem Glauben nur die Thüre zum Heiligthume ist, welches die Lebengemeinschaft des Gläubigen mit Gott durch Christum im heili50 gen Geiste ist“. Dies zeigt er in einem zweiten Punkt, den er zwar programmatisch mit Johannes verbindet, dann aber in enger Bezugnahme auch auf Paulus entwickelt, und zwar in zwei Richtungen. „Gehen wir von der Rechtfertigung aus 44 Ebd., 612. 45 Ebd., 592-602.- Vgl. dazu Kahnis eigenes Urteil: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die lutherische Rechtfertigungslehre schriftgemäß ist. Alle Einsprüche gegen dieselbe treffen nicht das lutherische Bekenntniß, sondern die Schrift“ (Dogmatik II [1864], 535). 46 Dogmatik I (1861), 603. 47 Ebd., 603. 48 Ebd., 603. 49 Kahnis erinnert an die Worte des Paulus Gal 5,5: „Wir harren im Geiste aus dem Glauben der Hoffnung der Gerechtigkeit, worin deutlich ausgesprochen ist, daß der rechtfertigende Glaube nur im Zusammenhange mit dem Leben im Geistes besteht und nur die Hoffnung der einstigen Freisprechung vor Gericht in sich trägt“ (ebd., 604). Zudem ergreife der rechtfertigende Glaube das Werk Christi „als ein Faktum der Vergangenheit“, nicht schon seine Person zu gegenwärtiger Gemeinschaft (ebd., 604). 50 Ebd., 604f.
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dem Glauben aus, so haben wir die Lebenswirkung des heiligen Geistes in der Wiedergeburt zur Voraussetzung, die Lebensgemeinschaft mit Gott durch Jesum 51 Christum im heiligen Geiste zur Folge.“ Der rechtfertigende Glaube ist also eingebettet in den Rahmen der Neukonstituierung des Menschen zum Kind Gottes und des neuen Lebens. Mit Petrus verbindet Kahnis dann einen dritten Punkt, in dem er sich allerdings wieder vor allem auf paulinische Aussagen stützt, dass nämlich das neue Leben sich im Kampf mit den fortdauernden Kräften des alten Lebens zu bewähren hat, und zwar „nicht aus eigener Kraft, sondern mit der Waffenrüstung des 52 heiligen Geistes“ , also die Heiligung. Kahnis sieht zutreffend, dass Paulus die Rechtfertigungslehre als eine durch eine situative Problemstellung bedingte Ausprägung des Evangeliums entwickelt. Wenn er allerdings das Spektrum der verschiedenen Ausdrucksweisen nach den drei Gestalten Paulus, Johannes und Petrus sortieren will, so kann dies Unternehmen nicht gelingen. Schon in seiner biblischen Grundlegung rezipiert Kahnis die Rechtfertigungsbotschaft also nach ihrem traditionellen lutherischen Verständnis, bestimmt jedoch ihren Stellenwert neu. Die eigentliche Modifikation nimmt er dann innerhalb des Rahmens, der durch die traditionelle Lehrgestalt gezogen ist. Im zweiten Band seiner Dogmatik, dem „Kirchenglauben“ (1864), knüpft Kahnis an seine biblische Sicht wieder an, indem er die Rechtfertigung in einen breiteren Zusammenhang stellt. Unter Berufung auf die Konkordienformel betont er einerseits: „Obwohl nun der Glaube ein bloßes Ergreifen ist, so kann er doch im Menschen nicht entstehen ohne vorhergehende Buße und bestehen ohne sich in guten Werken thätig zu erweisen“, und stellt andererseits absichernd daneben: „Allein die vorangehende Buße und die nachfolgende Liebe sind nicht die Bedingung der Rechtfertigung. Denn nicht Alles[,] was zur wahren Bekehrung gehört, 53 gehört zur Rechtfertigung“. In der Konkordienformel nimmt er nun allerdings eine ungelöste Spannung wahr, die er aus der augustinischen Tradition ableitet. „Die Concordienformel verwirft die Prädestinationslehre, welche Luther in der stärksten Gestalt einst vertreten hatte. Allein wer aus dem strengen Augustinismus ein Glied herausbricht, kann dabei nicht stehen bleiben. Wenn Gott aller Menschen Heil will, und, da dieser Wille ohne ein entsprechendes Thun eine Abstraktion ist, Allen das Heil bietet, der Grund aber, warum Viele das Heil verschmähen, lediglich in ihnen liegt, dann sind die, welche das Heil ergreifen, nicht durch einen göttlichen Wil54 lensbeschluß auserwählt.“ Denn „der Satz, daß das Verschmähen des Heils sei51 Ebd., 605. 52 Ebd., 608. Als Beleg zitiert Kahnis FC.SD 3 §§ 26–27 (BSLK, 922,40–923,2) und verweist dann weiter auf § 30 (BSLK, 924,21–29): „Zur Rechtfertigung gehören nur Gottes Gnade, Christi Verdienst und unser Glaube“ (ebd., 535). 53 Dogmatik II (1864), 534f. 54 Ebd., 543. Kahnis bezieht sich für die Aussage, dass bei denen, die das Heil verschmähen, der Grund in ihrem eigenen Nichtwollen liegt, auf FC.SD 2 § 58 (BSLK, 894,25–34).
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nen Grund im Menschen habe, neutralisirt nicht bloß den Prädestinationsbegriff, sondern auch den Gnadenbegriff der Concordienformel. Dieser Satz nämlich fordert nach unwidersprechlicher Logik, daß der Mensch, der das Heil zurückweisen 55 kann, beim Ergreifen desselben nicht willenlos ist.“ Mit dieser Kritik will Kahnis 56 das Anliegen Melanchthons aufnehmen, ohne sich zugleich dessen synergistische Lehrweise zu Eigen zu machen. Im Interesse, die Wiedergeburt als einen „sittlichen Vorgang“ zu begreifen, lehnt Kahnis eine rein passive Haltung dessen, der den rechtfertigenden Glauben 57 ergreift, ab. Die Lösung sieht er in einer Unterscheidung zwischen der Kraft des Glaubens und dem Akt des Glaubens. „Wenn es allein das Verdienst Christi ist, welches uns gerecht macht, so darf der Glaube, welcher es ergreift, kein Verdienst einschließen. Daraus folgt aber nicht, daß im Glauben der Mensch ein Automat ist, welchen nur der heilige Geist regiert. Es giebt ein Thun, welches kein Ver58 dienst einschließt.“ „Solch ein verdienstloses Handeln ist der Glaube. Was vom heiligen Geist ist, ist die Kraft zu glauben. Was aber vom Menschen ist, ist der Akt 59 des Glaubens.“ In dem dogmatischen Anliegen, das Kahnis bewegt, liegt zugleich das Problem. Er geht davon aus, dass sich im Vorgang der Bekehrung ein sich seiner selbst bewusstes Subjekt durchhält, ohne durch die radikale Krise des Sterbens unter dem Zorn Gottes und der neuen Geburt aus der Gnade Gottes hindurchzugehen. Die Diskontinuität zwischen dem alten und dem neuen Menschen, zwischen dem alten Ich und dem Ich in Christus (Röm 6,6–8; Gal 2,19f) wird gleichsam übergangen. „Wie der Wille, welcher wiedergeboren wird, dasselbe Subjekt ist, welches im natürlichen Zustande zwischen Gutem und Bösem wählen kann, so ist auch der Glaube, welcher Christum ergreift, dasselbe Subjekt, welches im natürlichen Zustande an Gott glaubt. Diese Subjekte ergreifen in Kraft des heiligen Geistes 60 einen Inhalt, der nicht vom Menschen ist, sondern göttliche Gnade.“ Kahnis versäumt es, die Identität trotz der fundamentalen existentialen Diskontinuität zu bestimmen. Das Axiom von der Selbigkeit des Subjekts ist auch der Ausgangspunkt, den Kahnis im dritten Band seiner Dogmatik, dem „System“ (1868), wählt. „Vermag aber auch das Gute, dessen der unwiedergeborene Mensch fähig ist, nicht den Menschen zu erlösen, so darf man es doch nicht für ein glänzendes Laster ansehen, sondern für einen Beweis, daß der Mensch, obwohl von Natur aus der Ge55 Ebd., 543. 56 „Man darf wohl sagen, daß Melanchthon’s Standpunkt die Fahne der Wahrheit ist, welche der Lehrbewegung, die seitdem in diesen Dogmen eingetreten ist, vorangeht“ (ebd., 546). 57 „Nicht ein rein passiver (actus mere passivus), sondern ein verdienstloser Akt ist der Glaube. Ist das Verdienst abgeschnitten, so fällt auch das Interesse weg, welches der lutherische Augustinismus hatte, gegen ein thätiges Verhalten zu protestiren“ (Dogmatik III [1868], 422). 58 Dogmatik II (1864), 544. 59 Ebd., 545. 60 Ebd., 545.
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meinschaft mit Gott gefallen und zum Fleische gezogen, doch auch einen Zug nach oben hat, der ihn zwar nicht zur wahren Gottesgemeinschaft führt, aber doch eine Anknüpfung bildet, in welche der Zug des Vaters zum Sohne einsetzen 61 kann.“ Und entsprechend kehrt auch die Formel wieder: „Aber von der Kraft des Glaubens muß der Akt des Glaubens unterschieden werden, dessen Subjekt der Mensch ist. Nicht anders aber kann der heilige Geist die Kraft zu glauben dem Menschen mittheilen, als vermittelst dessen freier Zustimmung, welche die Concordienformel trotz ihres Protestes gegen den Synergismus in der Lehre von der 62 Prädestination thatsächlich voraussetzt.“ Kahnis versucht also, seine eigene Position implizit dem Bekenntnis zuzuschreiben. Die Unterscheidung zwischen Kraft und Akt des Glaubens besagt: Niemand kommt zum Glauben, den nicht der Vater durch den Geist zieht (Joh. 6, 44.), aber diesem Zuge folgen oder widerstehen ist Sache der menschlichen Freiheit. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Mensch nach seinem Glauben gerichtet werden. Dieses thätige Verhalten der Freiheit in der Erzeugung des Glaubens schließt aber kein Verdienst ein, weil es nur die Verwirklichung einer aus Gnaden mitgetheilten Kraft ist, gerade wie Niemand es einem Ertrinkenden zum Verdienst rechnet, wenn er dem rettenden Arm nicht widerstrebt, einem Erben, wenn er die Erbschaft acceptirt, einem Verschuldeten, der die Zahlung eines Andern annimmt.63
Ein bestimmter anthropologischer Zugriff, wie er schon in seinem theologischen Ansatz begründet ist, wirkt sich damit auf sein Verständnis der Heilsaneignung in kritischer Korrektur der Lehrtradition aus. 5.3.2 Trinitätslehre: Der Vater als göttliche Urpersönlichkeit Das Bekenntnis zu dem dreieinigen Gott tritt bei Kahnis immer stärker ins Zentrum seines theologischen Denkens – so gliedert er sein dogmatisches System trini64 tarisch –, freilich hält er es für nötig, an der traditionellen Lehrgestalt eine Korrektur vorzunehmen. Seine Position benennt er in seiner Schrift Christenthum und Lutherthum von 1871: Was ferner die Lehre von der Dreieinigkeit betrifft, so steht und fällt mit ihr das Christenthum. Und doch ist sie ein so überaus schwieriger Punkt, in dessen wissenschaftlicher Vermittelung man so leicht ausgleiten kann. Ich halte dafür, daß auch dieser Lehre Augustin eine unrichtige Wendung gegeben hat. Die Schrift und 61 62 63 64
Dogmatik III (1868), 303–312, Zitat dort 310f (= Dogmatik2 I, 1874, 510–518, Zitat dort 517). Dogmatik III (1868), 410 (= Dogmatik2 II [1875], 184). Dogmatik III (1868), 419–422, Zitat dort 421 (= Dogmatik2 II [1875], 248–253, Zitat dort 251). Dogmatik III (1868): Der Vater, 172–312; Der Sohn, 313-408; Der Geist, 489–576. Dann Dogmatik2 I (1874): Die Lehren vom Vater, 315–518; II (1875): Die Lehren vom Sohne, 1–175; Die Lehren vom Geiste, 177–530.
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der zu Nicäa und Konstantinopel festgestellte Kirchenglaube lehren drei göttliche Persönlichkeiten, die, weil sie eben göttlich sind, auch wesensgleich sind. In der Einen Gottheit bestehen drei Personen. Wenn aber das Nicänum Einen Gott, allmächtigen Vater, Einen Herrn Jesum Christum und den heiligen Geist bekennt, so spricht es ja sonnenklar aus, was mit verschwindenden Ausnahmen alle voraugustinischen Väter einstimmig gelehrt haben, daß der Vater Gott in des Wortes ureigenem Sinne ist. Und dieß ist unstreitig Schriftlehre. Wenn ich also mit dem Bekenntniß, daß Sohn und Geist wesensgleich sind, das Bekenntniß verbinde, daß der Vater die göttliche Urpersönlichkeit ist, weiche ich zwar von der traditionellen Dogmatik, aber nicht von der schriftgemäßen Kirchenlehre ab.65
Den Akzent legt Kahnis dabei nicht auf die Subordination des Sohnes, sondern auf der Heraushebung der Urpersönlichkeit des Vaters, aus der dann die Unter66 ordnung sowohl des Sohnes als auch des Geistes folgt. Dabei verfolgt er das 67 dogmatische Anliegen, „die Einheit der Gottheit“ zu wahren. Kahnis bestätigt hier thesenhaft, was er schon früher dargelegt hat. Im ersten Band seiner Dogmatik in der ersten Auflage von 1861 war er mit eingehender Erörterung der einschlägigen Aussagen der Heiligen Schrift zunächst zu drei Feststellungen gelangt, erstens: Nach dem Evangelium ist also Jesus Christus eine vor der Welt aus Gott in geheimnißvoller Weise originirte Persönlichkeit, welche beim Vater seiend an der Herrlichkeit desselben Theil hatte, dieses Herrlichkeitsstandes aber sich begab, um in der Knechtsgestalt eines Menschen, doch ohne Sünde und beglaubigt durch Gotteswerke in Kraft des ihn mit Gott einenden Geistes, durch Gehorsam bis in den Tod das gefallene Geschlecht zu erlösen, nachdem er solches vollbracht aber in den Stand der Erhöhung überzugehen, in welchem er die Fülle der Gottheit in
65 Christenthum und Lutherthum, VIII. 66 Hermann Mulert (1879–1950) erfasst das eigentliche Anliegen nicht, wenn er allein auf die christologische Komponente abhebt, indem er als wichtigsten Punkt der Abweichung von der Lehre des lutherischen Bekenntnisses „seine Christologie, die Jesus Christus dem Vater untergeordnet sein läßt“, benennt (Art. Kahnis, Karl Friedrich August, in: RGG² III [1929], 584). 67 Vgl. dazu die seine späteren Ausführungen: „ Die Einheit der Gottheit. Diese liegt erstlich im Vater, aus dem Sohn und Geist entsprungen sind, und der darum die göttliche Urpersönlichkeit ist. Sie liegt zweitens in der Homousie der drei Persönlichen, welche göttlicher Art sind, weil sie unerschaffen sind und die Eigenschaften der Gottheit haben. Nur liegt es im Begriffe jeder Person, daß sie, die ein eigenes Ich ist mit den Kräften des Denkens, Wollens Fühlens, die göttlichen Eigenschaften in eigenthümlicher Weise hat. Dieß verkannt zu haben, ist ein großer Mangel der älteren Theologen. […] Drittens liegt die Einheit darin, daß Vater und Sohn, durch den heiligen Geist verbunden, mit ihm Einen göttlichen Lebensproceß bilden (immanentia). Ohne diese Einheit des Lebensprocesses, die auf dem heiligen Geist ruht, würde der Tritheismus nicht überwunden sein.“ So aber bildet sich „eine dreieinige Gesammtpersönlichkeit“ (Dogmatik2 I [1874], 404). Sein Person- und Lebensverständnis nötigt Kahnis also, die Einheit Gottes durch zusätzliche Argumente zu stützen.
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sich trägt, bis er nach Ueberwindung aller Gegensätze seine Mittlerstelle aufgiebt, damit Gott unmittelbar Alles in Allem sei.68
Dann zweitens: Entscheidend für „die Persönlichkeit des Heiligen Geistes […] spricht nur die Taufe auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes (Mt. 28,19.) in Verbindung mit den Stellen, welche drei göttliche Personen 69 aussagen.“ Und schließlich zusammenfassend: Unzweifelhaft liegt die Glaubenssumme des Christenthums im Bekenntnisse zu dem dreieinigen Gott, wie es der Herr selbst in der Einsetzung der Taufe ausgesprochen hat (Mt.28,19.). Wer aber sagt, daß das Wesen des Christenthums im Glauben an den dreieinigen Gott liegt, reducirt dasselbe auf Ein, auf das Erste Moment. Wohl sind in Gott dem Vater vor aller Zeit die Persönlichkeiten des Logos und des Geistes, aber der Sohn ist Mensch geworden und der Geist ist von dem Sohne gesandt worden, nicht damit die Menschheit wisse, daß in Gott drei Personen sind, sondern damit sie der verlorenen Welt das Heil erwürben und zueigneten.70
An diese biblisch-exegetischen Erkundungen schließt er dann seine kritische Stellungnahme zur traditionellen Kirchenlehre an, die er 1862 in seiner Kampfschrift „Zeugniß von den Grundwahrheiten“ vorträgt: „Worin ich nun abweiche, ist die Unterordnung des Sohnes unter den Vater, die ich lehre. Mir ist Gott in des Wor71 tes ursprünglichem, einzigem Sinne, die göttliche Urpersönlichkeit, der Vater.“ Dabei ist er überzeugt, „daß mit der nicänischen Lehre von der Wesensgleichheit 72 d.h. Göttlichkeit des Sohnes sich die Unterordnung desselben vereinen läßt.“ Den Beweis für die Unterordnung sowohl des Sohnes als auch des Geistes führt er im 73 zweiten Band seiner Dogmatik von 1864. Den Paragraphen über die Dreieinig68 Dogmatik I (1861), 469. – Von ihm selbst zitiert: Zeugniß von den Grundwahrheiten, 34f. Und Kahnis schließt an diese Aussage später die zunächst ungenannt gebliebene Folgerung an: „Was aber die Schrift von diesen göttlichen Persönlichkeiten lehrt, sagt weder aus, daß von Anfang an drei einander völlig gleichstehende Persönlichkeiten waren, noch daß die göttliche Urpersönlichkeit um solche zu sein der Persönlichkeiten des Sohnes und Geistes bedürfe, sondern daß der Vater, die göttliche Urpersönlichkeit, vor Grundlegung der Welt Sohn und Geist aus sich habe hervorgehen lassen, um sich durch sie zu offenbaren.“ (Dogmatik II [1864], 572). Die Unterordnung des Sohnes ist bei Kahnis also mit der Ablehnung einer ewigen Zeugung des Sohnes und eines ewigen Hervorgehens des Geistes verbunden. 69 Dogmatik I (1861), 471f. 70 Ebd., 633. 71 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 35. – Kahnis grenzt sich dabei gegen die Einordnung unter die Arianer ab, beruft sich vielmehr auf die rechtgläubige Alte Kirche: „Alle Väter der ersten drei Jahrhunderte waren Subordinatianer“. Und er kündigt an: „Ich werde im zweiten Theile den Beweis führen.“ (ebd., 35). 72 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 38. – Vgl. seine Argumentation: „Wenn das Chalcedonense sagt, daß Jesus Christus auch nach seiner menschlichen Natur uns wesensgleich war, Niemand aber leugnen wird, daß er als Mensch graduell über uns stand, so erhellt, daß auch die Homousie nach der Gottheit den Grundunterschied nicht ausschließt“ (Dogmatik2 I [1874], 400f). 73 Dogmatik II (1864), 69–73.
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keit im dritten Band von 1868 übernimmt Kahnis in etwas erweiterter Form auch in die zweite Auflage seiner Dogmatik von 1874, die im Folgenden näher 75 referiert wird. Kahnis bietet die Trinitätslehre in einer gleichsam archaischen Form, indem er auf die biblischen Grundlagen dieser später ausgebildeten Lehre zurückgeht und dann direkt an die frühe Lehrentwicklung anknüpft. Mit dieser bibeltheologischen Akzentsetzung verbindet er das Anliegen einer Aktualisierung im zeitgenössischen Kontext. In seiner stark biblisch gefärbten Form der Trinitätslehre hebt er die erste Person der Gottheit besonders hervor, „sofern Jhvh, der Gott und Vater Jesu Christi, sowohl im Alten als im Neuen Testamente als die göttliche Urpersönlichkeit da76 steht“. „Ist der Vater die göttliche Urpersönlichkeit, der Sohn aber aus der göttlichen Urpersönlichkeit in geheimnißvoller Weise hervorgegangen, so liegt schon hier unzweifelhaft ausgesprochen, daß der Sohn nur in des Wortes zweitem Sinne 77 Gott ist.“ Von diesem Ausgangspunkt spannt sich der Bogen bis zum Zielpunkt, „wie er denn auch einst, wenn jeder Gegensatz überwunden sei[n] wird, dem Vater 78 wird unterthan sein, damit Gott Alles in Allem sei.“ Die biblische Differenzierung, mit Akzentuierung von I Kor 15,28, ist für Kahnis entscheidend. In der biblischen Überlieferung findet er ferner von Gottes Wirken im heiligen Geiste, „welcher näher ein Geist des Lebens, des Heils, der Gaben und Gnaden ist“, so gesprochen, dass „die Grundstelle Mt. 28, 19 den zahlreichen Stellen, in welchem [sic] dem heiligen Geiste persönliche Namen, Kräfte und Funktionen beigelegt 79 werden, die Bedeutung einer Persönlichkeit“ gibt. Freilich bleibt das Problem, dass das innertrinitarische Verhältnis selbst biblisch nicht bedacht wird. „Die 80 Schrift spricht an keiner Stelle von der Entstehung des heiligen Geistes aus Gott.“ Das persönliche Wirken Gottes zeigt sich in dieser Weise trinitarisch strukturiert, unbeschadet der „Urpersönlichkeit“ des Vaters. „Die Hinweise auf eine Dreiheit in Gott, welche im Alten Testamente liegen, finden ihre Erfüllung in den neutestamentlichen Stellen, welche Vater, Sohn und Geist als den Inhalt des Taufbekenntnisses (Mt. 28, 19.), als die höchsten Heilsgüter (2 Kor. 13, 13.), als die 74 Dogmatik III (1868), 203–229. 75 Dogmatik2 I (1874), 347–408. – Im Vorwort stellt er bereits fest: „Ich glaube aber, daß aus dem Begriffe Gottes, welcher nach Schrift und Offenbarung absolute Person ist, und aus dem was Schrift und Kirche von Sohn und Geist lehren, daß sie nämlich aus dem Vater entstehen und sein Verhältniß zur Welt vermitteln, mit Nothwendigkeit folge, daß der Vater die göttliche Urpersönlichkeit ist. Es ist allgemein zugestanden, daß die Väter der drei ersten Jahrhunderte so gelehrt haben. Und daß auch die nicänischen Väter einem gewissen Subordinatianismus huldigen, haben die anerkanntesten Forscher der Neuzeit ausgesprochen“ (ebd., X–XI). 76 Dogmatik2 I (1874), 347. 77 Ebd., 361. 78 Ebd., 348. 79 Ebd., 348. 80 Ebd., 380. – „Die Kirchenlehrer brauchten, wie wir sehen, dafür den Ausdruck: hervorgehen […]. Den Schriftbeweis fand man in der Stelle Joh. 15, 26“ (ebd.).
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Quellen der Gnadengaben nach ihrer dreifachen Bedeutung (1 Kor. 12, 5.6.) und 81 als die himmlischen Einheitsgründe der Kirche (Eph. 4, 4–6) darstellen.“ Von dieser biblischen Grundlage aus revidiert Kahnis die dogmengeschichtliche Entwicklung: „Während bei Athanasius, den kappadocischen Vätern und Hilarius die Homousie die Unterordnung von Sohn und Geist nicht ausschließt, ist es besonders Augustin, welcher Vater, Sohn und Geist als die drei einander völlig gleich geordneten Personen des Einen Gottes bestimmt, die sich verhalten wie 82 Gedächtniß, Erkenntniß und Wille.“ Kahnis sieht zwar das Recht einer dogmatischen Ausgestaltung der biblischen Tradition, will diese aber stärker in den biblisch vorgegebenen Rahmen zurückbinden. Neben dem Bemühen um einen möglichst engen Anschluss an die biblische Tradition verfolgt Kahnis zugleich weitere Interessen. Sein apologetisches Anliegen ist, eine bessere Anbindung an das allgemeine Denken herzustellen. „Was die Vernunft fordert: Ein Gott, das lehrt auch die Offenbarung. Dieser Eine Gott, lehrt die Vernunft, ist unendliche Person. Die Offenbarung bestätigt dieß, wenn 83 sie lehrt: Gott der Vater ist die göttliche Urpersönlichkeit.“ Dadurch, dass die drei Personen aufgrund ihrer Verwurzelung in der Urpersönlichkeit „gewissermaßen Eine göttliche Gesammtpersönlichkeit bilden“, sieht Kahnis die Einheit Gottes auch philosophisch besser vermittelbar. Und auch christliche Frömmigkeit soll auf diese Weise angemessenen Ausdruck finden. „Der Weg des Christen geht 84 durch den Geist zum Sohne, durch den Sohn zum Vater.“ Theologisch systematisiert Kahnis das eine göttliche Ich in seiner personalen Struktur von seinem Wesen als Liebe her: Die göttliche Urpersönlichkeit, welche sich denkt, will, liebt, ist der Vater. Im Vater aber ist das Selbstobjekt der Grund des Sohnes, der Lebensproceß der Objektion (διαστολή) und Rückkehr (συστολή) der Grund des Geistes. Gott liebt sich selbst. Hier ist der Liebende, der Geliebte, die Liebe. Gott ist seinem Wesen nach Liebe. Ist er das, so muß er seine Person einer anderen Person geben, um diese andere Person in seine Person aufzunehmen. Aber keine geschaffene Person, sondern nur die göttliche kann des Vaters Person in sich aufnehmen und dem Vater 85 geben was ihm entspricht.
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Ebd., 348. Ebd., 349. Ebd., 398. Ebd., 400. – Kahnis verweist auf den Liedvers von Bartholomäus Crasselius (12. Februar 1667 in Wernsdorf – 10. November 1724 in Düsseldorf): „Zieh mich, o Vater, zu dem Sohne, Damit dein Sohn mich wieder zieh zu dir, Dein Geist in meinem Herzen wohne Und meine Sinne und Verstand regier.“ (ebd., 400). 85 Ebd., 406. – Früher hatte Kahnis eine solche Erwägung abgelehnt: „Nicht um sich zu erkennen, nicht um sich zu wollen, nicht um sich zu lieben, sondern um sich zu offenbaren hat der Vater den Sohn erzeugt, welcher das Wort heißt d.h. der Ausdruck Gottes für die Welt, und den Geist aus sich hervorgehen lassen, welcher das sich der Welt mittheilende Leben Gottes ist“ (Dogmatik II [1864], 572).
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5.3.3 Christologie: Relative Latenz der göttlichen Natur In der Zeit der Spätreformation hatten sich im Rahmen der Abendmahlsdiskussion weiterführende Überlegungen zur Christologie ergeben, die zur Lehre von der communicatio idiomatum führten, die dann in die Konkordienformel aufgenom86 men wurde (FC.SD 8 § 31.35–52). Kahnis sieht in dieser reformatorischen Ausgestaltung der Christologie einen echten Fortschritt, will aber eine von ihm mit anderen lutherischen Theologen seiner Zeit darin diagnostizierte, verbleibende Schwäche ausgleichen und dadurch zu weiterem Fortschreiten beitragen. Die Schwäche sieht er in einer unzureichenden exegetischen Begründung. Die Korrektur versteht er als neues Anknüpfen an eine Tradition der Alten Kirche bei Ire87 näus , mithin an eine relativ frühe, noch nicht so stark theologisch ausgearbeitete Position. Im Rückgriff auf neutestamentliche und altkirchliche Aussagen soll sich also eine fortschrittliche Perspektive ergeben. In die Artikel von Christi Person und Werk haben die lutherischen Lehren von der Mittheilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur (communicatio idiomatum) und vom thätigen Gehorsam einen Fortschritt gebracht, der nie aufgegeben werden darf. Darin bin ich aber mit den meisten neueren Theologen lutherischen Bekenntnisses einverstanden, daß der Stand der Erniedrigung anders gefaßt werden muß als die alte Dogmatik lehrte. Wir müssen den reformirten Theologen zugestehen, daß sie Phil 2,6 richtiger ausgelegt haben. Ich glaube aber den Nichtgebrauch der göttlichen Eigenschaften und Funktionen im Stande der Erniedrigung nach dem Vorgang des Irenäus nicht als Entäußerung, sondern als Latenz fassen zu müssen. Jedenfalls sind wir in diesem Punkt zu einen Fortschritt genöthigt, von dem freilich manche Konfessionstheologen nicht gern hören.88
Charakteristischerweise finden sich Kahnis’ erste Äußerungen zur Latenz im neutestamentlich-theologischen Abschnitt seiner Lehre vom heiligen Geiste (1847), indem er „die schwierige Frage, wie sich in Christo das Verhältniß des göttlichen 89 Bewußtseins zu dem menschlichen denke lasse,“ aufwirft. Die menschliche Natur kann er nicht unpersönlich denken, weil ohne ein menschliches Selbstbewusstsein menschliches Denken, Wollen und Fühlen nicht möglich sei. Hier zeigt sich bereits, welche grundlegende Bedeutung auch in dieser Frage die Vorstellung der Persönlichkeit in dem von Kahnis vorausgesetzten Sinne hat. Da die menschliche Natur ebenso wie die göttliche jeweils eine Person fordert, Jesus Christus aber nur eine einzige Person sein kann, wenn man nicht seine Besessenheit annehmen wol86 BSLK, 1027–1033. Vgl. FC.Epit 8 § 18, BSLK, 808f. Dabei wird ausführlich auf Ausführungen Luthers zurückgegriffen. 87 Immer wieder verweist Kahnis auf die eine Wendung ἡσυχάζοντος τοῦ λόγου (Irenäus: Gegen die Häresien III. 19, 3). 88 Christenthum und Lutherthum, VII. – Vgl. dazu Breidert: Die kenotische Christologie, 248–250. Breidert berücksichtigt weder den exegetischen noch auf den anthropologischen Aspekt ein, obwohl diese für Kahnis besonders wichtig sind. 89 Die Lehre vom heiligen Geiste, 57.
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le, folgt daraus „die Annahme eines Selbstbewußseins in Christo, welches beiden 90 Naturen zugleich angehört“. Dies kann nur so zustande kommen, „daß das un91 endliche Logosbewußtsein ein endlich menschliches geworden ist.“ Damit aber wird es schwierig, die beiden Naturen in Christus zu unterscheiden. „Man darf sich also das Logosbewußtsein in der Kindheit Jesu latent denken im menschlich endlichen, mit der fortschreitenden menschlichen Entwickelung aus dem religiösen Verhältnisse heraustretend als Bewußtsein einer besonderen Kindschaft (Luc. 3, 49.), bis im vollendeten Mannesalter (Eph. 4, 14.) Jesus das göttliche Le92 ben, welches das menschliche Ich als Gnade hat, als Natur seines Ich aufnahm.“ In der ersten Auflage seiner Dogmatik setzt Kahnis nicht bei der Jesusschilderung der Evangelien ein, sondern mit einer Exegese von Phil 2,5–11. „Das Subjekt 93 des ganzen Satzes ist Jesus Christus.“ Daraus habe man geschlossen, nicht der präexistente, sondern der im Fleisch erschienene Christus habe sich entäußert. Jedoch „kann eine Person, deren Entäußerung darin bestand daß sie Mensch 94 ward, nach der Logik nur eine übermenschliche sein.“ Subjekt ist demnach der λόγοϛ ἄσαρκος. „Die Knechtsgestalt des Sohnes Gottes ist die Menschengestalt, die Erscheinung im Fleisch, der menschliche Charakter des Sohnes Gottes von 95 seiner Geburt bis zum Stande seiner Erhöhung.“ Die Entäußerung des Sohnes habe darin bestanden, „daß seine Person die Gestalt Gottes aufgab um Knechtsgestalt anzunehmen. Was Christus nicht aufgeben konnte, war seine Persönlich96 keit. Die blieb unter dem Wandel der Gestalten dieselbe.“ Während unter der „Gestalt Gottes“ (μορφὴ θεοῦ) die „Theilnahme an göttlichen Eigenschaften, Funktionen, Rechten“ aufgrund der Herrlichkeit in unmittelbarer Nähe des Vaters zu verstehen sei, sei er „als Mensch in ein Knechtsverhältniß zu Gott“ getreten, um wie ein Knecht den Willen Gottes zu erfüllen, und zwar sowohl in tätigem wie 97 in leidenden Gehorsam. Auch in dieser Knechtsgestalt (μορφὴ δούλου) Christi offenbart sich göttliche Herrlichkeit, wie Kahnis mit Bezug auf Joh 1,14 feststellt, und zwar durch das Medium des heiligen Geistes, „welches den Menschgeworde98 nen und Entäußerten mit den Kräften Gottes erfüllte“. Entscheidend für Kahnis ist der soteriologische Gesichtspunkt: Jesus Christus nun, der sich seiner vormenschlichen Herrlichkeit entäußerte um für die gefallenen Menschen Mensch zu werden, ist von Gott hoch erhöhet worden zu einem Herrn, in dessen Namen sich alle Kreaturen im Himmel, auf Erden und unter der Erde beugen. Er ist also nicht bloß zurückgekehrt zu der verlassenen 90 91 92 93 94 95 96 97 98
Ebd., 58. Ebd., 58. Ebd., 58. Dogmatik I (1861), 458–465.580f, Zitat dort 458. Ebd., 460. Ebd., 460. Ebd., 461f. Ebd., 462. Ebd., 463.
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Herrlichkeit (Joh. 17, 5.), sondern hat kraft des im Stande seiner Erniedrigung als Mensch um die Menschheit erworbenen Verdienstes eine gerettete Welt sich nachgezogen, so daß alle Creaturen ihn als ihren Herrn anbeten. Die drei großen Stände, welche Christus durchschritten hat, der der vormenschlichen Herrlichkeit, der der Erniedrigung, der der Erhöhung, entsprechen also den drei großen Ständen der Menschheit, dem Stande der Unschuld, der Sünde, der Erlösung. Ist nun der Stand des zur Rechten Gottes Sitzenden der Höhepunkt der Stadien, die er durchschritten hat (Phil. 2, 9–11. Hebr. 1, 3ff. Eph. 1, 20ff. 1 Petr. 3, 22. u.a.), so kann die menschliche Natur, welche der verklärte Christus auf ewig an sich trägt, auch nicht als eine bloße Erniedrigung gefaßt werden, sondern als ein nothwendiger Faktor seines himmlischen Personlebens. Mit andern Worten: Besteht die vollendete Persönlichkeit Christi aus einer göttlichen und einer menschlichen Natur, die sich in persönlicher Einheit innigst durchdringen, so folgt zwar nicht daraus, daß die vorweltliche Persönlichkeit Jesu der Ergänzung der menschlichen Natur bedurfte um vollkommene Person und um vollkommen herrlich zu werden, man wird doch aber auch sagen müssen, daß wie die erlöste Menschheit höher steht als die paradiesische, auch der Sohn Gottes durch seine Menschwerdung in einen vollkomme99 neren Stande eingetreten ist als der war, welchen er verließ.
Für Kahnis kommt also alles auf den Geschehenscharakter tatsächlicher Geschichte an. Die Heilsgemeinschaft mit Gott wird den Menschen durch Christus erwirkt. Diese soteriologische Perspektive impliziert eine Anthropologie, die in der Christologie liegt. Jede autonome Betrachtung des Menschen ist ausgeschlossen. Menschsein ruht niemals in sich selbst, sondern ist immer auf die Kommunikation mit Gott als Schöpfer und Erlöser angelegt. Die menschliche Persönlichkeit ruht nicht im eigenen Selbstbewusstsein der menschlichen Natur, sondern erschließt sich erst in der Gemeinschaft mit Gott. Wahrer Mensch ist Jesus Christus nicht nur darin, dass er menschliche Endlichkeit und Hinfälligkeit teilte, sondern auch 100 darin, dass er sich im Gehorsam als Gottes Gegenüber annahm. Menschsein erreicht, theologisch betrachtet, seine Erfüllung gerade bei eigener Unselbständigkeit im Einbezogensein in „die vollendete Persönlichkeit Christi“. Insofern hat diese Anthropologie ein antiemanzipatorisches Fundament, auf dem eine echt menschliche Emanzipation erst möglich erscheint. Zur dogmatischen Erfassung des neutestamentlichen Befundes arbeitet Kahnis wieder mit dem Begriff der Persönlichkeit, und zwar in seiner „Tiefe und Elastici101 tät“ . In den unterschiedlichen Gestalten (μορφή, Phil 2,6f [Vulgata: forma], sta102 tus, Stand) hielt sich die eine Logospersönlichkeit durch. Zwar konnte „die Lo99 Ebd., 463f. Zur Bestätigung verweist Kahnis auf Kol 1,14–20: „Gott und Welt in Einheit bringen kann nur ein Mittler, in welchem Gott und Welt persönlich geeint ist“ (ebd., 464f, Zitat dort 465). 100 Im Unterschied zum „paradiesischen Adam, der, sich nicht begnügend mit dem Bilde Gottes in ihm, Gott gleich sein wollte“ (ebd., 461). 101 Dogmatik II (1864), 80–83.597–602, Zitat dort 83. 102 „Vor der Zeit aus Gott geboren in göttlicher Gestalt, ist sie [sc. die Logospersönlichkeit] in der Zeit kreatürlich geworden, sofern sie eben durch Empfängniß und Geburt zu einem kreatürlichen Menschen geworden ist. Die Logospersönlichkeit aber bleibt[,] indem sie menschliche Natur an-
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gospersönlichkeit sich des Besitzes ihrer Logosnatur nicht entäußern“, wohl aber 103 „konnte sie sich des Gebrauchs derselben begeben“. Kahnis hält es durchaus für „denkbar, daß, als der Logos Mensch ward, das was er ward d.h. das menschliche Bewußtsein den Vordergrund seines Lebens bildete, sich rein menschlich entwickelnd, in dieser Entwickelung aber mehr und mehr die in ihm latente Logosnatur menschliche Gestalt gewinnen ließ, wie im Christen der in ihn gelegte Geist Got104 tes mehr und mehr zu persönlicher Ausprägung kommt“. Kahnis spricht also „dem aus den Vater erzeugten Logos die Möglichkeit des Werdens“ zu und nimmt „einen relativen Nichtgebrauch“ der göttlichen Eigenschaften, „einen relativen Zustand der Latenz“ an; damit meint er die Einwände gegen die eigentliche Keno105 sislehre abfangen zu können. Dabei ist stets im Blick, wie Christologie und Anthropologie über den Begriff der Latenz aufeinander bezogen sind. Die systematische Darstellung in zusammenfassender These wie in begründender Entfaltung, wie Kahnis sie im dritten Band seiner Dogmatik vorlegt, hält 106 sich dann ganz im Rahmen des bereits Ausgeführten. Und sie wird später wort107 wörtlich in die zweite Auflage der Dogmatik übernommen. Er stellt seine Erwä108 gungen an „im Lichte des wahren Fortschritts der Theologie“. In der irdischgeschichtliche Gestalt Jesu weist die Logospersönlichkeit bei aller relativen Latenz des Gebrauchs der göttlichen Eigenschaften und Funktionen doch ein doppeltes Bewusstsein auf, wie Kahnis besonders im Blick auf das Zeugnis des Johannesevangeliums herausstellt: „Das Ich, das sich als Mensch denkt, darf sich auch als göttliche Persönlichkeit denken. Vater verkläre mich mit der Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war (Joh. 17, 5.). Wer mich siehet, der siehet den Vater 109 (Joh. 14, 9.).“ Ebenso sieht Kahnis seine Auffassung für berechtigt an, „daß die göttliche Natur in der menschlichen latent war, wie ja auch in dem durch die Taufe Widergeborenen der Geist der Kindschaft ein in der Menschheit latenter Keim
nimmt, eine göttliche Natur, nur daß sie ihres göttlichen Herrlichkeitszustandes sich entäußerte. Es muß also zwischen göttlicher Natur und göttlicher Gestalt (μορφὴ θεοῦ und δόξα) unterschieden werden. Die göttliche Natur konnte das Logosich nicht ablegen. Ebenso muß aber auch zwischen menschlicher Natur und Knechtsgestalt geschieden werden. Die Logospersönlichkeit ist auf ewig Mensch geworden, hat also auf ewig eine Menschennatur, nur daß sie im Stande der Erhöhung die Knechtsgestalt ausgezogen hat. Die Logospersönlichkeit also trägt seit ihrer Fleischwerdung in der Einheit ihres Ich auf ewig eine göttliche und menschliche Natur“ (ebd., 82f). Der Begriff δόξα als Äquivalent für Gestalt verdankt sich Joh 17,5. An anderer Stelle fügt Kahnis aufgrund von II Kor 8,6 noch den Begriff Reichtum hinzu (Dogmatik III [1868], 345 = Dogmatik2 II [1875], 83). 103 Dogmatik II (1864), 601. 104 Ebd., 601. 105 Ebd., 601f. 106 Dogmatik III (1868), 314–316 (These), 340–346 (Ausführung). 107 Dogmatik2 II (1875), 8–10 (These = 1868), 81–84 (= 1868 mit einer 11 Zeilen umfassenden Kürzung, die eine dogmengeschichtliche Passage betrifft). 108 Dogmatik III (1868), 343 (= Dogmatik2 II [1875], 81). 109 Dogmatik III (1868), 346 (= Dogmatik2 II [1875], 84).
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ist“. Insofern ließe sich auch „eine nicht durch die göttliche Natur durchsetzte Entwickelung der Menschheit Christi denken und doch auch das in Christo unzweifelhaft vorhandene göttliche Selbstbewußtsein mit seinen Eigenschaften und 111 Kräften erklären“. Kahnis sieht also eine Entsprechung der christologischen Frage zur Situation eines jeden Christenmenschen. Eine schizophrene Persönlichkeit ließe sich daraus ebenso wenig ableiten wie aus dem simul iustus ac peccator. Und mit dieser Auffassung meint Kahnis der Schriftlehre mehr gerecht zu werden, als andere frühere und neuere Versuche. „Der innere Grund“ für die christologische Debatte, die sich im 19. Jahrhundert unter lutherischen Theologen in Anknüpfung an Phil 2,5–8 über die Frage der Kenosis ergab, lag, wie Werner Elert analysiert, „in der Notwendigkeit, die Lehre von der communicatio idiomatum mit dem Geschichtsbilde der Evangelien in Einklang zu setzen“, d.h. in „der Frage nach der Einheit der historischen Person“ 112 Christi. Im Grunde war diese Debatte nach Elert allerdings überflüssig, weil „die Lehre von der Erniedrigung im alten Luthertum doch genau dieselbe Absicht verfolgt wie die Kenosislehre des 19. Jahrhunderts. Denn diese wie jene sollte Raum schaffen für das Geschichtsbild des Menschen Christus, das mit der Lehre 113 von der communicatio idiomatum im Widerspruche zu stehen scheint.“ Eine einseitige Interpretation dogmatischer Sätze habe zum Missverständnis der über114 kommenen Lehre geführt. Ohne hier diesem Problem nachgehen zu müssen, bleibt die Zuspitzung bedeutsam, mit der Kahnis das Anliegen aufnimmt, den „historischen Jesus“ dogmatisch zur Geltung zu bringen, indem er die historische Seite seiner irdischen Geschichte eng mit der göttlichen Seite verbindet und zugleich die christliche Anthropologie in der Christologie verankert. 5.3.4 Abendmahlslehre: Präsenz des Gekreuzigten Mit seiner „Lehre vom Abendmahle“ (1851) will Kahnis einen Beitrag zur Begründung der Schriftgemäßheit des lutherischen Bekenntnisses leisten, um auf diese Weise seine Kritik an der Union zu untermauern: „Allein das Wort Gottes ist es, welche uns sagen heißt, daß wir von dem Bekenntnisse unserer Kirche nicht 115 lassen können, wenn uns nicht Gott verlassen soll.“ Allerdings modifiziert er die
110 Dogmatik III (1868), 315 (= Dogmatik2 II [1875], 10). 111 Dogmatik III (1868), 315f (= Dogmatik2 II [1875], 10). 112 Elert: Morphologie des Luthertums I, 208f. 113 Ebd., 212. 114 Elert beseitigt „die irdische Chronologie“ im „Nacheinander eines zeitlichen Prozesses“ im Grunde wieder, indem er sie an Ludwig Schöberlein (1813–1881) anknüpfend in die Perspektive der Gottheit transponiert, so dass sie „nur ein Moment der Ewigkeit ist“ (ebd., 211), hier also im Sinne des schleiermacherschen Augenblicks die zeitliche Geschichte transzendiert. 115 Die Lehre vom Abendmahle, 427.
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klassische Ausgestaltung der lutherischen Abendmahlslehre in drei Punkten, die 116 er als Weiterentwicklung auf dem Weg zu ihrer Vollgestalt hin versteht. Erstens bestimmt er das Verhältnis zwischen dem Heilstod Jesu am Kreuz und der Spendung von Leib und Blut Christi im Abendmahl phänomenologisch als das zwischen Opfertod und Opfermahl. Ist nun der Tod Christi ein Opfertod, Leib und Blut Christi die für unsere Sünden in den Tod gegebenen, also Opferfleisch und Opferblut, so ist der Genuß des Leibes und Blutes Christi auch Opfergenuß. Das Abendmahl ist ein Opfermahl, die Erfüllung und Verklärung der Opfermahlzeiten, der Friedensopfer des alten Bundes. Das ist das Wahre in dem Irrthum der katholischen Kirche. Nur mit dieser Auffassung des Abendmahles bleiben wir in Einheit mit der alten Kirche, welche einstimmig das Abendmahl als Opfer gefaßt hat.117
Exegetisch setzt er damit voraus, dass das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern ein 118 119 Passamahl und dieses ein Opfermahl war. Zweitens sieht er Luthers Betonung, das Abendmahl diene zur Vergebung der 120 Sünden, als zu einseitig an und macht den Aspekt „auch Leben“, wie er bei Lu121 ther in der Erklärung zum Fünften Hauptstück angedeutet ist, nachdrücklich stark. „Wir genießen im Abendmahle den verklärten Leib Christi, in und mit ihm Christi Geist und Leben. Welchen anderen Zweck kann das Abendmahl haben als 122 Vereinigung mit Christi Leib und Leben?“ Exegetisch erhebt er dazu eine dop116 „Wir werden, wie wir es oben thaten, offen sagen, wo wir ihm [sc. Luther] nicht folgen können. Denn er ist nicht der Mann, der geschont zu werden braucht. Und seine Sache hat nur die Flachheit und Halbheit, nicht das Schwert des Geistes zu fürchten, welches ist das Wort Gottes“ (ebd., 344). – Vgl. Leipziger: Die Lehre vom Heiligen Abendmahl, 124–129. 117 Die Lehre von Abendmahle, 34. – Kahnis schließt sich mit dieser Auffassung ausdrücklich an Johann Gottfried Scheibel, den Vorkämpfer der selbständigen lutherischen Kirche in Preußen, an (ebd., 29). 118 Dem Einwurf der abweichenden Johanneschronologie begegnet er mit dem Argument der Hoheit Jesu: „Der Menschensohn, der da war ein Herr des Sabbaths, konnte das Fest, zu dessen Feier am legitimen Tage ihn die Eile seiner Feinde nicht kommen ließ, einen Tag vorher feiern, um das Passahopfer selbst zu sein am Tage, wo die Juden das Passahlamm schlachteten, wie Johannes und Paulus deutlich lehren“ (ebd., 14). 119 Kahnis erkennt die Problematik: „Es [sc. Passah] ist ein Fest der Verschonung, der Rettung des Lebens“ (ebd., 17). Aus der sprachlichen Gleichsetzung von schlachten mit opfern folgert er dann für das Blut: „Es sühnt mit Gott und bringt vom vorher versöhnten Gott Rettung“ (ebd., 18), konstruiert also einen ersten, vorausliegenden Akt der Sühne. Gleichwohl räumt er ein: „Daraus folgt aber nicht, daß das Passah ein Sühnopfer in des Wortes engerem Sinne ist. Als Opfermahl kann es nur in die Klasse der Friedensopfer gehören“ (ebd., 18). Die religionsphänomenologische Einordnung gelingt also nur sehr bedingt. 120 „Indem Luther dieß Princip [sc. Glaube allein rechtfertigt] unvermittelt an das Abendmahl anlegte, reducirte er dieß Sakrament auf die Aneignung des Wortes von der Vergebung der Sünden im Glauben“ (ebd., 326). Vgl. ebd., 470. 121 Luther: Der kleine Katechismus, Das Sakrament des Altars § 6; BSLK, 520,(27.)29f. Vgl. dagegen die starke Betonung von Vergebung der Sünden: §§ 4.6.8.10; BSLK, 520,19.25f.26f.29.35f.40. 521,7. 122 Die Lehre vom Abendmahle, 470.
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pelte Akzentsetzung bei den beiden Gaben des Abendmahls, bestimmt nämlich den gebrochenen Leib als Zeichen des Todes und damit der gegenwärtigen Vergangenheitsbewältigung in seiner Sühnkraft, das vergossene Blut darüber hinaus als Zeichen der Lebenszukunft aus dem Tode heraus. Wenn das Abendmahl nur Genuß des Leibes Christi wäre, so würde, weil der Leib Christi eben der für uns gebrochene ist, immer das Sühnopfer eingeschlossen sein. Das Blut aber ist im Opfer nicht bloß Objekt des Todes, sondern Subjekt des Lebens. Nur im Blute, welches als Leben sühnt, liegt jenes wunderbare Verschlingen des Todes in den Sieg, der negativen Gemeinschaft der Versöhnung und der positiven des Lebensbundes mit Gott, jener geheimnißvolle Uebergang aus dem Sühnopfer in das Friedensopfer. Nur durch das Blut ist das Opfermahl die Weihe des neuen Bundes.123
Kahnis würdigt damit die exegetische Beobachtung, dass die Bestimmung „zur Vergebung von Sünden“ sich allein bei Matthäus, und dort einzig bei der Darreichung des Kelches findet (Mt 26,28), während die Abendmahlsüberlieferung dieses Motiv sonst nicht kennt. Der dritte Punkt betrifft eine exegetische Einzelfrage. Kahnis versteht den Abschnitt Joh 6,51b–58, anders als die klassische lutherische Auslegungstradition, als Aussage über das sakramentale Essen und Trinken des Leibes und Blutes Chris124 ti. Er schließt sich damit einem neuen Textverständnis an, wie es im Bereich des wiedererwachten konfessionellen Luthertums schon von Scheibel entwickelt wor125 den war. Wichtig wird dieser Text für Kahnis dadurch, weil er hier die für seine spezielle Ausformung der Abendmahlslehre wichtigen Begriffe Geist (Joh 6,63) 126 und Leben (Joh 6,51.53f.57f) findet. Kahnis folgt zu dieser Zeit noch darin der lutherischen Auslegungstradition, dass er die Worte Jesu bei der Darreichung von Brot und Wein an seine Jünger im Sinne der Realpräsenz von Leib und Blut des auferstandenen und erhöhten Herrn versteht. Es scheint ihm „auf der Hand zu liegen, daß Christus sagen will: Essen sollt ihr meinen Leib, aber nicht meinen Leib als äußeres Fleisch, sondern als 123 Ebd., 97. 124 Ebd., 104–126. Kahnis unterzieht die Auslegung später einer „Revision“, wie er es nennt, die sich jedoch eng an das Kapitel seiner Lehre vom Abendmahle anlehnt (Johannes 6, SKSB 6 [1856], 365–368.373–378.417–422.425–429), ohne auch in der Sache zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. „So kann denn dem Abendmahle die Kraft des ewigen Lebens zugeschrieben werden, weil der, welcher vom Glauben nicht zum Genusse des Leibes Christi im Abendmahle fortgeht, den Weg des ewigen Lebens verschmäht“ (Die Lehre vom Abendmahle, 126). „Der Weg vom Glauben in das ewige Leben geht durch die Lebensgemeinschaft mit Christo, die nothwendig zur Leibesgemeinschaft fortgehen muß. Wer im Glauben die Lebensgemeinschaft mit Christo erworben hat, der verschmäht den Weg zur vollen Gemeinschaft mit Christo, in der das ewige Leben ist, wenn er den ihm im Abendmahle gebotenen Leib des Herrn verschmäht“ (Johannes 6, 428). 125 Vgl. Stolle: Scheibels Schriftauslegung und Schriftverständnis. 126 „Der Sinn ist also: Wenn ich meinem Fleische die Kraft zugesprochen habe, lebendig zu machen, so ist das, was demselben diese Kraft giebt, nicht die Leiblichkeit als solche, sondern der Geist, dessen Trägerin dieselbe ist“ (Die Lehre vom Abendmahle, 122; = Johannes 6, 377).
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Träger meines Geistes, nicht meinen irdischen, sondern meinen im Geist verklär127 ten, meinen himmlischen Leib“ . Entsprechendes gilt vom Blut. Dabei setzt Kahnis voraus, dass bereits den Jüngern ein Genuss des Leibes Jesu in seiner verklärten Wirklichkeit möglich war. „Beim ersten Abendmahle war der Leib Christi noch nicht in den Tod gegeben. Haben aber […] die Jünger den Leib genossen, so muß doch die Qualität der Opferung nicht das Wesentliche sein. Sie war nur der Kraft nach gegenwärtig […]. Die Identität des verklärten Leibes Christi und des in 128 den Tod gegebenen zeigen die Wundenmahle des Auferstandenen (Joh. 20, 27.).“ Die irdisch-geschichtliche, dem Tode ausgelieferte Seite Christi tritt also deutlich hinter der zeitlos geistlichen zurück, und damit die menschliche gegenüber der göttlichen. Das aber sieht Kahnis später nicht mehr für haltbar an. Nachdem er sich in der Monographie von 1851 bereits eingehend mit diesem theologischen und kirchlichen Thema beschäftigt hatte, gerät er Jahre später noch einmal in tiefes Nachdenken über eine angemessene Interpretation der neutestamentlichen Abendmahlstexte. Ende 1861 vertraut er Hengstenberg in einem Brief an: Hier will ich Ihnen etwas Persönliches mittheilen, was ich noch keinem meiner Freunde gesagt habe. Vor etwa drei Jahren fragte mich Hr. von Zezschwitz, wie ich zu den verschiedenen Theorien stehe, welche das Verhältniß des Kreuzesblutes zum Abendmahlsblut zu erklären suchen. Da fuhr es mir wie ein Blitz durch meine Seele, daß meine Auslegung der Einsetzungsworte unhaltbar sei. Ich bin eine Woche in meiner Studierstube stumm auf Einer Stelle gesessen, so daß die Meinigen glaubten, ich sei nicht recht bei Troste.129
Obwohl es Kahnis nicht leicht fällt, sieht er sich jetzt umso mehr genötigt, zwischen der exegetischen Argumentation und dem symbolischen Lehrgehalt zu unterscheiden. „Daß ich eine Auslegung, welche die lutherischen Väter für sich hat, für die ich so viel Schonung getragen, nicht gern aufgebe, das darf ich wohl nicht ausführen. Es hat anderthalb Jahre gedauert, ehe ich mich wieder zurechtgefunden habe. Das Resultat ist die Auseinandersetzung [in der Lutherischen Dogma130 tik I, Leipzig 1861,] S. 616ff.“ In diesem persönlichen Bekenntnis wird der entscheidende Paradigmenwechsel in der Abendmahlsdiskussion deutlich. Hatte die lutherische Lehrtradition im 127 Die Lehre vom Abendmahle, 121 (= Johannes 6, 376f). 128 Die Lehre vom Abendmahle, 454. 129 Brief vom 9. Dezember 1861, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 22. 130 Ebd. – Vgl. das spätere Zeugnis: „Wir haben in der Auslegung der Einsetzungsworte die exegetische Bahn der lutherischen Theologie, der wir früher (Lehre v. Abendmahle 1851) folgten, verlassen müssen, weil uns erneute Prüfung die Ueberzeugung brachte, daß die lutherische Theologie, wenn sie sich weigert im einseitigen Gegensatz zur reformirten Auslegung die symbolische Grundlage des Abendmahles anzuerkennen, nicht bloß mit der ganzen altkatholischen Kirche, welche die Elemente für Symbole des Leibes und Blutes Christi gehalten hat, sondern mit den Grundgesetzen grammatisch-historischer Auslegung in Widerspruch kommt, und ebensomit der lutherischen Abendmahlslehre die größte Gefahr bereitet“ (Dogmatik III [1868], 496).
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Anschluss an die reformatorischen Lehrauseinandersetzungen die Frage nach den Eigenschaften der menschlichen Natur Christi im Stand seiner Erhöhung zur Rechten des Vaters in den Mittelpunkt gestellt und von daher darüber gestritten, wie der ganze erhöhte Christi einschließlich seiner verklärten menschlichen Natur im Abendmahl gegenwärtig sein kann, so stellt sich nun zusätzlich die Frage, wie sich die sakramentale Gegenwart der Menschheit Jesu im Abendmahl zu seiner geschichtlichen Wirklichkeit während seiner Erdenzeit verhält, also in der Formulierung seines Kollegen Gerhard von Zezschwitz „das Verhältniß des Kreuzesblutes zum Abendmahlsblut“. Kahnis bietet als Lösung für diese Frage in dem angesprochenen Abschnitt seiner Dogmatik folgende Argumentation an. Er geht von der von ihm für unbestreitbar gehaltenen exegetischen Einsicht aus, „daß der Leib Christi hier in Be131 tracht kommt[,] sofern er der in den Tod zu gebende war“. „Der zu tödtende, 132 welcher vor den Jüngern stand, konnte nicht Gegenstand des Genusses sein.“ Die Identität des auferstandenen Christus mit dem gekreuzigten vorausgesetzt, „bezeichnen doch die Einsetzungsworte den Leib Christi nicht als den verklärten, sondern als den getödteten. […] Das Blut, welches einen neuen Bund vermittelt hat, ist das am Kreuze vergossene d.h. Christi Opfertod. Stehen diese Sätze fest, so 133 haben wir für die Auslegung eine sichere Grundlage“. Damit ist zugleich ausgeschlossen, dass die Einsetzungsworte nicht auf das, was ausgeteilt wird, bezogen 134 sind. Indem Kahnis sich auf das wörtliche Verständnis des Schriftzeugnisses beruft, verabschiedet er sich zugleich von der herkömmlichen Interpretation dieser Texte in der lutherischen Tradition. Im Fortgang seiner Interpretation lehnt er ein syekdochisches sowie ein metonymisches Verständnis der Spendeworte ab und entscheidet sich dafür, hier einen Tropus vor sich zu haben: „Zur Annahme eines 135 Symbols aber berechtigt das offenbar Symbolische der ganzen Handlung.“ Damit gibt Kahnis zwar Zwingli Recht; zugleich will er aber über Zwingli, und auch über Calvin, hinausführen. 131 Dogmatik I (1861), 617. 132 Ebd., 619. 133 Ebd., 617. 134 „Die Bestimmung des Leibes als des für uns gegebenen oder gebrochenen kann, wie der Parallelausdruck vom Blute als dem für uns vergossenen beweist, nicht von der Austheilung im Abendmahle verstanden werden, wie Luther auslegte, sondern nur von dem Kreuzestode“ (Dogmatik II [1864], 407, mit Rückverweis auf I, 622).Vgl. auch: Zeugniß von den Grundwahrheiten, 26–28. Die Darreichungsworte sind demzufolge als den Tod Christi zueignende Worte zu verstehen. „Brot und Wein also, Zeichen des Leibes und Blutes Christi, sind kraft der Einsetzung Christi das sakramentale Wort vom Leib und Blut Christi, welches von Christo geboten den Tod Christi zueignet“ (Dogmatik I [1861], 622). 135 Ebd., 619. – Pointiert dann später: „Ich glaube, daß die von Luther geltend gemachte synekdochische Auslegung der Einsetzungsworte aufzugeben ist. Die Lutheraner sollten sich entschließen, freiwillig und bei Zeiten zu thun, wozu sie die fortschreitende Wissenschaft früher oder später zwingen wird, nämlich die Worte: Dieß ist mein Leib symbolisch nehmen. Die in der Natur eines Sakramentes liegende symbolische Seite im Abendmahle verkannt zu haben, ist ein offenbarer Mangel in Luther’s Lehre“ (Dogmatik III [1868], XII).
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Dafür verweist er auf den Wiederholungsbefehl. „In den Worten: Dieß thut zu meinem Gedächtniß, gebietet Jesus, daß man zur Erinnerung an ihn für immer dieß Mahl feiere, wie es denn auch geschehen ist bis auf diesen Tag. So oft es nun gefeiert wird, bietet Jesus durch die Hand des Spendenden Brot und Wein als von ihm geordnete Zeichen seines Leibes und Blutes. Zeichen aber von Gott durch Christum geordnet und dargeboten, sind nicht Symbole, bei welchen es überlassen bleibt, wie viel oder wie wenig man in sie legen will, sondern ein sichtbares Gottes136 wort“. Es handelt sich also um durch verbindliche Worte qualifizierte Zeichen von wirkmächtiger, Heil zueignender Kraft. „Der Opfertod Christi ist ein Faktum der Vergangenheit, welches nur fortlebt in seiner Kraft d.h. in der Versöhnung mit Gott, welche es wirkt. Wer also das Abendmahl würdig genießt d.h. im Glauben, der empfängt die Kraft des Todes Christi d.h. Vergebung der Sünden. Hier tritt die Abendmahlslehre Luther’s in ihr Recht, nach welcher Vergebung der Sünde 137 die eigentliche Frucht des gläubigen Abendmahlsgenusses ist.“ Die Brücke über den zeitlichen Abstand zwischen Heilsgeschehen am Kreuz und Heilszueignung heute bildet also das „sichtbare Gotteswort“. Zur weiteren Charakterisierung der Abendmahlsfeier zieht Kahnis wiederum die Vorstellung vom Opfermahl heran, die er aus der Verbindung mit dem Kreuzesgeschehen erschließt. „Geopfert worden ist Christus, das Paschalamm, zur Zeit, da die Paschalämmer im Tempel dargebracht wurden, auf Golgatha. Dieß Opfer, welches Christus in seinem eigenen Leibe Gott darbrachte, ist die Erfüllung aller Opfer und eben darum das letzte, welches für alle Menschen und für immer objektive Sühnkraft hat. Nachdem dieß Opfer gebracht ist, ist bis zur Wiederkunft 138 Christi die Zueignung desselben das Wesen des Abendmahles.“ Obwohl Kahnis selbst feststellt, dass das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern kein Passamahl 139 war , und außerdem zu berücksichtigen wäre, dass die Passalämmer zwar im Tempel geschlachtet wurden, deshalb aber keineswegs ein Opfer darstellten, trägt er den Opfergedanken über die Passavorstellung in seine Interpretation des Abendmahls ein. Damit nimmt er den für ihn wichtigen Gedanken wieder auf: „Das Paschamahl war nicht bloß Aneignung der Sühnkraft des Paschaopfers. Es war ein Mahl 140 der Lebensgemeinschaft des Volkes als einer Einheit der Familien mit Gott.“ So 136 Dogmatik I (1861), 619f. – Vgl. bestätigend: Zeugniß von den Grundwahrheiten, 28. 137 Dogmatik I (1861), 622. – Kahnis vermerkt ausdrücklich: „Dieß Wort von der Vergebung der Sünden, nicht der Genuß des verklärten Leibes ist ihm [sc. Luther] das Hauptstück im Sakramente. Von dem Worte ist der Leib Christi ihm nur ein Pfand“ (ebd.). Auf seiner Kritik an Luther hinsichtlich der Art der Gegenwart Christi insistiert Kahnis: „Es ist in allen Stellen, die wir bis jetzt betrachtet haben, nicht vom verklärten, sondern vom gebrochenen oder gegebenen, d.h. geopferten Leibe die Rede“ (ebd.). 138 Ebd., 623. 139 Ebd., 616. – Kahnis hält die Datierung nach Johannes für historisch wahrscheinlicher als die sich von der Synoptikern her ergebende. 140 Ebd., 623.
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tritt auch im Abendmahl die Lebenskraft neben die Sühnkraft. „So ist denn auch im N.T. das Blut Christi nicht bloß ein concreter Ausdruck für Tod, sondern das Leben dieses Todes d.h. die Sühnkraft desselben, welche der durch den Tod hin141 durchgegangenen Leiblichkeit Jesu für immer einwohnt“ . Auf seine frühere unterschiedliche Akzentsetzung zwischen Leib und Blut verzichtet er. Zugleich gelangt Kahnis über den Opfergedanken hier nun weiter zu der Gemeinschaft mit dem verklärten Christus, die er zuvor von den Elementen des Abendmahls (Brot und Wein) gelöst hatte. „Die Substanz des Abendmahles ist also Christi Tod als Kraft der Sühne. Wer aber diese Kraft der verklärten Leiblichkeit Christi empfängt, nimmt die Leiblichkeit Christi selbst in sich auf, in und 142 mit ihr den ganzen lebendigen Christus.“ Insofern nimmt Kahnis dann auch einen leiblichen Genuss des Leibes und Blutes des verklärten Christus an. Neben die Brücke zwischen damals und heute im „sichtbaren Gotteswort“ tritt die Brücke zwischen dem verklärten Christus und den Abendmahlsgästen im Glauben. „Das ist die Wahrheit der lutherischen Auslegung der Einsetzungsworte. Wir können den getödteten Leib nicht im Glauben ergreifen[,] ohne den verklärten in uns aufzunehmen, weil die Kraft des getödteten im verklärten liegt. Dieses Aufnehmen ist freilich kein Essen und Trinken, sondern ein geistliches Empfangen durch das 143 Medium des Glaubens.“ Als weiteres bedeutendes Moment seiner Abendmahlsauffassung kommt hinzu, dass Kahnis das Abendmahl dogmatisch im dritten Artikel verortet und damit 144 – ohne Rückhalt in den Schrifttexten – der Wirksamkeit des Heiligen Geistes zuordnet. „Sonach sind die Sakramente Gnadenmittel des Geistes, Realitäten des Geistes, die für Christum zeugen, Werkzeuge des Geistes zur Fortpflanzung und 145 Einigung der Gemeinde Gottes.“ Während dieser Zusammenhang bei der Taufe offensichtlich ist, fehlt doch in den Einsetzungsberichten des Abendmahls jeder Hinweis auf den Geist; vielmehr ist für sie die christologische Zuspitzung charakteristisch, d.h. die Gegenwart des Herrn bei den Seinen über seinen Tod hinaus. 146 Kahnis konstatiert demgegenüber eine Vermittlung durch den Heiligen Geist. 141 Ebd., 623. 142 Ebd. 623f. – Dies ist für Kahnis „der geheimnißvolle Sinn der Rede Jesu Joh. 6“ (ebd., 624). 143 Ebd., 625. 144 Es ließe sich höchstens auf die Entgegensetzung von τὸ πνεῦμα und ἡ σάρξ in Joh 6,63 verweisen; allerdings markiert V. 59 deutlich den Abschluss des Abendmahlstextes, an den sich die darauf folgenden Logien, die den Tod Jesu thematisieren, nur locker anschließen. Es geht da auch speziell um τὰ ῥήματα ἃ ἐγὼ λελάληκα ὑμῖν, die als Geist bezeichnet werden. – Kahnis reklamiert in dieser Stelle nur Joh 6,53–59 als Abendmahlstext (ebd., 624), früher hat er allerdings auch die folgenden Verse für seine Abendmahlslehre in Anspruch genommen: Die Lehre von Abendmahle, 121–123; Johannes 6, 377f. 145 Dogmatik I (1861), 516. – Vgl. schon: Die Lehre vom heiligen Geiste, 154. 146 Vgl. die Kritik schon von Stählin: „Wir können uns aber nicht verbergen, dass ein Hereinziehen des h. Geistes ausser in dem Sinne, dass durch denselben die irdische Gabe für ihren heiligen Zweck ausgesondert und geweiht und die Gemeinde selbst für die Feier zubereitet werde, weil ohne allen Schriftanhalt unzulässig und verwirrend erscheint. Die Gegenwart Christi in der Welt
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Im dritten Band seiner Lutherischen Dogmatik, dem „System der Lutherischen Dogmatik“ (1868), kündigt Kahnis dann aber schon im Vorwort an, erneut eine engere Verbindung zwischen Brot und Wein und Leib und Blut Christi zu vertreten, indem er freilich nicht die Zusage Jesu selbst zur Begründung anführt, sondern den Heiligen Geist, in dem Jesus Christus seine Gemeinschaft schenke. „So sind im Abendmahle Brot und Wein, diese gottgeordneten und gottgespendeten Worte von Christi Leib und Blut, kraft des heiligen Geistes Medien des Leibes und Blutes Christi selbst. Lehren wir so, so bekennen wir die Substanz der lutherischen Abendmahlslehre, nämlich die Mittheilung des Leibes und Blutes Christi durch die Elemente und mit den Elementen, und vermeiden doch die Klippe der 147 Consubstanziation, die Melanchthon mit Recht fürchtete.“ Das führt Kahnis im Kapitel über den Geist im Paragraphen über die Gnadenmittel hinsichtlich der Schrift- und Kirchenlehre (altkatholische Kirche, Scholastik und Reformation) 148 sowie der Lehrentwicklung (Wesen, Zweck und Form) im Einzelnen aus. Die Personalpräsenz Christi im Heiligen Geist bringt die Realpräsenz von Leib und Blut des verklärten Christus mit sich. Obwohl die Worte Jesu von seinem sterbend am Kreuze gebrochenen Leib und seinem dort vergossenen Blut sprechen, implizieren sie doch auf diese Weise aufgrund der Identität der Person des Sprechenden die Mitteilung des Leibes und Blutes Christi bei der Darreichung 149 von Brot und Wein, und zwar „für alle Genießenden, würdige und unwürdige.“ Allerdings geht es ihm darum, dies als ein geistliches Geschehen, nicht als einen mechanischen Vorgang, aufzufassen. „Das Medium des Leibes ist das Brot nicht in dem Sinne, daß es in sich den Leib Christi trägt, sondern daß es als Wort den 150 Geist, kraft des Geistes aber den Leib Christi vermittelt.“ Freilich hängt diese Argumentation in der Luft, da ein Anhaltspunkt dafür, dass im Abendmahl Leib und Blut des verklärten Christus genossen werden, völlig fehlt, nachdem Leib und Blut in den Einsetzungsworten auf den Tod Jesu am Kreuz bezogen sind. Kahnis meint allerdings, mit seiner dogmatischen Darlegung einen deutlicheren Akzent auf Leib und Blut Christi legen, als Luther es von seinen exegetischen Vorgaben her vermochte. Denn die Worte „für euch gegeben zur Vergebung der Sünden“ beziehen sich nun ja auf den Kreuzestod, nicht aber unmittelbar auf die Austeilung beim Abendmahl, da geht es jetzt primär um die Darreichung von Leib und Blut Christi: „Brot und Wein, das sichtbare Gotteswort, vermitteln in und in der Gemeinde ist im Allgemeinen vermittelt durch den h. Geist […]; im h. Abendmahl findet aber eine spezifische, sonst nicht gegebene Gegenwart Christi zum Zweck der Darreichung seines Leibes und Blutes mittelst sinnlicher Medien statt“ (Die Theologie des Dr. Kahnis, 492f). 147 Dogmatik III (1868), XIII. 148 § 14.3 (thetisch ebd., 457–460, ausgeführt ebd., 485–491.491–495.495–513). 149 Ebd., 459. – I Kor 11,27ff setze „eine objektive Mittheilung des Leibes Christi an Würdige und Unwürdige voraus“. Denn „Schuld am Leibe und Blute Christi und ein Gericht, das sich in Krankheit und Tod beweist, sind Wirkungen, die eine mehr als nur symbolische und verbale Gegenwart des Leibes Christi voraussetzen“ (ebd., 489). 150 Ebd., 489.
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Kraft des heiligen Geistes Leib und Blut Christi, deren Empfang unstreitig das 151 Wesen des Abendmahls sind.“ Und „so kann der Zweck desselben nur sein, uns in die innigste Gemeinschaft mit Christo zu setzen. Was uns aber mit Christo so 152 innig eint, das ist uns auch gegeben, unser Heilsleben zu nähren“. Aber, so fragt man sich, Leib und Blut weisen doch nach Kahnis’ Interpretation ebenso auf den Kreuzestod zurück wie die Wendung „zur Vergebung der Sünden“? In der folgenden Zeit verstärkt Kahnis das aus der dogmatischen Systematisierung abgeleitete pneumatologische Argument noch. 1871 schreibt er: „Was meiner theologischen Begründung eigenthümlich ist, ist daß ich die Vermittelung zwischen den Elementen und dem himmlischen Inhalt, Leib und Blut Christi, im heiligen Geiste suche, den die Elemente, ein sichtbares Gotteswort, in sich tra153 gen.“ Bei keiner Lehre sei ihm „so klar die Nothwendigkeit entgegengetreten, in 154 dem Bekenntniß Glaubensinhalt und theologische Form zu unterscheiden“, und so habe sich ihm „nicht Luther’s theologische Begründung der Abendmahlslehre, 155 sondern das lutherische Abendmahlsbekenntniß“ bewährt. Noch deutlicher dann in der zweiten Auflage seiner Dogmatik: Die durch Christum in der Einsetzung des Abendmahles gebotenen Elemente sind selbst ein Wort Christi, welches in sich den Geist trägt, durch den Geist aber den Leib Christi. Der heilige Geist, welcher was Christus auf Erden einst war und wirkte und jetzt im Himmel ist und wirkt uns vermittelt, der ist es auch, welcher den verklärten Leib Christi uns mittheilt. Daher die Anrufung des heiligen Geistes in der alten Kirche, die in der morgenländischen Kirche sich erhalten hat. Wird der heilige Geist als das Mittelglied zwischen dem Elemente und dem Leibe Christi gefaßt, so fallen auch die Schwierigkeiten, welche der bei Luther zuweilen sehr materiell gefaßte Sakramentsgenuß hat.156
Die Berufung auf kirchliche Traditionen muss die fehlende Schriftgrundlage ersetzen. Kahnis’ Abendmahlsanschauung weist deutlich ökumenische Züge auf, indem er neben den lutherischen Elementen auch die symbolische Deutung der Brot- und Kelchworte aus der altkirchlichen und in der reformierten Auffassung fortlebenden, sowie den Opfergedanken und die Geistepiklese aus der altkirchlichen, in der orthodoxen und in der römisch-katholischen Lehrgestalt nachwirkenden Tradition aufnimmt. Doch will er gerade auf diese Weise das spezifisch lutherische dogmatische Anliegen geltend machen. Kahnis weist gegenteilige Mutmaßungen ausdrücklich ab. „Ich höre nun schon das Hohnwort, daß ich also auch meine ganze seitherige Stellung zur Union aufgebe. Nach seiner Art Konsequenzen zu ziehen, 151 Ebd., 502. 152 Ebd., 503. 153 Christenthum und Lutherthum, VI–VII. 154 Ebd., VII. 155 Ebd., VI. 156 Dogmatik2 II (1875), 441f.
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wird es mir Dr. Hengstenberg zur Pflicht machen, mich nun der Union anzu157 schließen.“ Seine theologischen Bemühungen sieht er demgegenüber gerade in der Konsequenz des lutherischen Bekenntnisses in seiner ökumenischen Perspektive. „Vermag die lutherische Theologie nicht diesen Bekenntnißinhalt frei als das Ziel aller Entwickelung des Reiches Gottes zu reproduciren, so ist ihre Sache verloren. Dieß zu leisten habe ich in meiner Lutherischen Dogmatik angestrebt und 158 weiß bis jetzt noch nicht, wo ein Cardinalfehler liegen soll.“ 5.3.5 Reich Gottes und Kirche Kahnis zieht in seiner kurzen Zusammenstellung der Lehren, bei denen er meint, zu einer Weiterbildung lutherischer Theologie beitragen zu können, Abendmahlslehre und Ekklesiologie unter dem Gesichtspunkt spezifischer lutherischer Identität zusammen: „In den Lehren von Sakrament und Kirche haben die angesehensten Theologen die Nothwendigkeit eines Fortbaues auf dem gelegten Grunde wenigs159 tens thatsächlich ausgesprochen.“ An diesen beiden Punkten geht er also von einem grundsätzlichen Einverständnis darüber aus, dass weitere Schritte der dogmatischen Klärung unumgänglich seien. Das bedeutet freilich nicht, dass auch bereits eine gemeinsame Lösung, in Umrissen wenigstens, in Sicht wäre. Das dogmatische Anliegen, das ihn dabei leitet, ist letztlich nicht, das Verständnis der Kirche als solcher zu systematisch besser zu erfassen, sondern speziell das Bemühen, den besonderen Ort der lutherischen Kirche innerhalb der Christenheit als ganzer genauer zu bestimmen. In der ausgereiften Form des von Kahnis verfolgten Ansatzes gehört, wie wir bereits sahen, zu aller Religion als drittes Kennzeichen, dass sie sich soziologisch als Gemeinleben organisiert. Von diesem Punkt aus legt er im ersten und zweiten Band seiner Dogmatik die Grundlagen für sein Kirchenverständnis. In der offenbarungsgeschichtliche Entwicklung führte dieses allgemeine Kennzeichen von Religion zunächst zum israelitischen Volkstum, in dem dann infolge der Krisen der Reichsteilung und der assyrischen und babylonischen Gefangenschaften eine immer stärkere Trennung zwischen der politischen und der geistlichen Seite erfolgte und die „Ahnung eines Weltreiches des Geistes Gottes unter dem Messias“ geweckt wurde. Unter dieser Vorgeschichte betrachtet Kahnis das Auftreten Jesu. „Was Jesus Christus verkündete war das Reich Gottes. Das Reich Gottes aber ist ihm das Gemeinleben des Heils, welches er bei seiner ersten Ankunft aufrichtete um es bei seiner zweiten zu vollenden. Er ist der König eines Reiches im heiligen Geist, welches hienieden Glaubende erzeugt und eint, dort Gerettete mit der Herr160 lichkeit des ewigen Lebens erfüllt.“ 157 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 30. 158 Ebd., 30. 159 Christenthum und Lutherthum, VIII. 160 Dogmatik I (1861), 633.
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Kahnis unterscheidet demzufolge drei Äonen des Reiches Gottes: Der erste Aeon ist der der Heilsoffenbarung, der Zeitraum von Abraham bis zum Erlöschen der Apostel, also der Zeitraum der Schrift, die ja die Urkunde der Heilsoffenbarung ist. Hier ist die Zeit bis auf Christus die Zeit des Vaters, das Leben Jesu die Zeit des Sohnes, die Geschichte seit der Ausgießung des Geistes die Zeit des heiligen Geistes. Der zweite Aeon ist der Zeitraum vom Erlöschen der Apostel bis zur Wiederkunft Christi, also der Zeitraum in dem wir noch stehen. Hier gilt es das geoffenbarte Heil zuzueignen. Das Reich Christi dieser Zeit, die Kirche, hat daher in der Erzeugung, Erziehung und Einigung der Gläubigen ihr Wesen. Mit der Wiederkunft Christi beginnt der letzte Aeon, welcher nachdem die Früchte der Saatzeit geerntet sind in die Ewigkeit ausgeht. Dann wird das Christenthum ganz Reich sein. Ebendeshalb aber kann man diese Endzeit nicht unter den Gesichtspunkt des Christenthums bringen. Aber auch die Zeit der Offenbarung nennt man nicht Christenthum. Handelt es sich also um das Wesen des Christenthums, so kann eben nur jene Zwischenzeit vom Abschluß der Offenbarung bis zur Wiederkunft Christi in Betracht kommen.161
Schriftstellen wie I Kor 3,11 und Eph 2,20 führt Kahnis als Stütze dieser seiner 162 Periodisierung an. 163 Kahnis ordnet also den Begriff Christentum oder Kirche in den größeren Rahmen des Reiches Gottes ein. Und damit geht er einen deutlich anderen Weg als vor ihm die Reformation. Während Kahnis erklärt: „Der Tag der Ausgießung 164 des heiligen Geistes ist der Stiftungstag der Kirche,“ datierte Luther die Kirche von Adam und Eva an, unterschied nur die Phase des Glaubens an den noch erst kommenden Christus von der Phase des Glaubens an den bereits gekommenen 165 Christus und ließ die Kirche über die irdische Zeit der kämpfenden bis in die himmlische Zeit der triumphierenden Kirche dauern. Das lutherische Bekenntnis setzt deshalb in der von Melanchthon verfassten Apologie das Reich Gottes und Christi mit der Kirche gleich – im Gegenüber zum Reich des Teufels: „Ecclesia, quae vere est regnum Christi, distinguitur a regno diaboli“, „sive sit revelatum, sive sit tectum cruce“, also unabhängig davon, ob die irdische Weltzeit oder die 166 himmlische Vollkommenheit im Blick ist. 161 Ebd., 634. Streng genommen ist „die Zeit der Schrift“ nicht ganz dem zweiten Äon zuzuordnen, da mit dem Pfingstgeschehen bereits der dritte der Heilszueignung beginnt, die Schrift also auch Urkunde der ersten Phase der Zeit der Kirche ist. 162 Vgl. Dogmatik II (1864), 6. 163 Diese beiden Bezeichnungen differenziert Kahnis allerdings noch einmal begrifflich: „Christenthum aber und Kirche sind nicht identisch. Christenthum ist ein weiterer Begriff, welcher […] drei Momente: Glaube, Gemeinschaft mit Gott und Kirche umschließt. Das Christenthum ist Kirche, sofern es die Christen in eine Gemeinschaft zusammenschließt, also Reich ist“ (Dogmatik III [1868], 530). 164 Dogmatik III (1868), 519 (= Dogmatik2 II [1875], 461). – „So lange Jesus Christus auf Erden war, konnte er sein Reich nur verkündigen, lehren, vorbereiten. Kommen aber konnte es nicht eher als der heilige Geist ausgegossen war“ (ebd., 518, bzw. 461). 165 Vgl. zum ausführlichen Nachweis Stolle: Luther und Paulus, 239–253. 166 Apologie 7, § 17f, BSLK, 237,41f.51f, vgl. § 16, ebd., 34–36.
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Kahnis’ Fortentwicklung der lutherischen Theologie
Diese Periodisierung eröffnet die Möglichkeit, dem Judentum eine gewisse Eigenständigkeit zuzugestehen, zumal Kahnis offenbar Gen 3,15 nicht als messiani167 sche Weissagung ansieht und sich damit von Luthers Auffassung eines alle Weltgeschichte umgreifenden christlichen Glaubens trennt. Freilich dringt Kahnis nicht zu einem Verständnis des Judentums von dessen eigenen Voraussetzungen her vor, sondern betrachtet es rein von seiner Ausrichtung auf das Christentum her, die sich mit der Entstehung des Christentums erfüllt hat und dem späteren und heutigen Judentum seinen theologischen Sinn entzieht. Kahnis kann „den Zeugen des alten Bundes, die doch auf dem Boden der Offenbarung standen, nur 168 uneigentlich den Namen von Christen beilegen“. Nicht zu übersehen ist dabei freilich, dass diese Periodisierung neben einer geschichtlichen Relativierung des Christentums eben auch eine Negierung des heutigen Judentums im Sinne einer theologisch relevanten Größe mit sich bringt. Schon in seiner frühen Monographie über den heiligen Geist schreibt Kahnis: „Die Erfüllung des Judenthums besteht aber darin, dass das Medium des Reiches Gottes, wodurch der Glaube A. T. vermittelt ist, sich selbst aufhebt in den alleinigen Mittler zwischen Gott und den Menschen, Jesum Christum, durch welchen der Glaube N. T. an Gott nun vermit169 telt ist.“ Kahnis verfolgt mit seiner Unterscheidung zwischen dem Reich Gottes im heiligen Geist und der Kirche das dogmatische Anliegen, die Prozessualität der Kirche stärker zur Geltung zu bringen. Die Kirche ist ein geschichtliches, im Werden begriffenes Geschehen, und auch ihre einzelnen Glieder sind auf dem Wege zur Vollendung ihres Glaubens hin. Deshalb unterscheidet Kahnis nicht nur die verschiedenen Äonen des Reiches, sondern auch innerhalb des Äons der Kirche aufgrund seiner zwischenzeitlichen Vorläufigkeit das innere Wesen von der äußeren Erscheinung, ohne aber beide Seiten auseinanderfallen zu lassen. Während die alte und die römisch-katholische Kirche zu einseitig den äußeren Organismus 170 betone, habe die Reformation zu einseitig den inneren Kern des Wesens heraus171 gestellt. Es komme alles darauf an, beide Seiten der Kirche recht zu würdigen.
167 Kahnis nimmt damit die entsprechende Aussage des Bekenntnisses (FC.SD 5 § 23; BSLK, 960,11–13) nicht auf. 168 Ueber das Verhältniß der alten Philosophie (1884), 50. 169 Die Lehre vom heiligen Geiste, 94f. 170 „Es ist der Grundfehler des altkatholischen Kirchenbegriffs, daß er die auf das Wesen der Kirche gehenden Prädikate der Apostolicität, Katholicität, Einheit, Heiligkeit dem Organismus der altkatholischen Kirche überträgt und an die Zugehörigkeit zu demselben in dem Sinne das Heil knüpft, daß zwar nicht Jeder, welcher zur äußern Kirche gehört, selig wird, wohl aber Niemand selig werden kann außer dem Verband derselben“ (Dogmatik II [1864], 154). „Während der Protestantismus das Wesen der Kirche in den göttlichen Lebensgrund derselben setzt: in die Gemeinschaft der Gläubigen im Geiste unter Christo dem Haupte, sieht der Katholicismus in der Kirche wesentlich einen in Lehre, Kultus und Verfassung festgegliederten Organismus, dessen Spitze der römische Stuhl ist. Während der Protestantismus den Einzelnen das Heil in seinem unmittelbaren Verhältnisse zu Christo finden lässt, kennt der Katholicismus in der legalen Glied-
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„Das dritte Princip des Protestantismus ist der Grundsatz, daß die Substanz der Kirche die unsichtbare Gemeinschaft der Gläubigen im heiligen Geiste unter Christo dem Haupte, der Einheitspunkt aber der sichtbaren Kirche das Wort 172 ist.“ „Wenn die Kirche sonach zwei Seiten hat, eine Seite des Wesens und eine Seite der Erscheinung, so ist es ungenau eine von beiden Seiten allein Kirche zu 173 nennen.“ Ist dem aber also, dann stehen beide Seiten der Kirche in viel engerer Verbindung als es nach herrschender Lehre erscheint. Wohl kann die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen bestimmt werden. Das aber ist sie nicht in dem Sinne, daß nur innerlich Gläubige ihre Glieder sind. So Viele ihrer getauft sind, die sind in den Kreis der Gnadenwirkungen des heiligen Geistes eingetreten und also vom Glauben berührt worden. Die Gemeinschaft der lebendigen Kinder Gottes ist eine Frucht der Kirchengemeinschaft, nicht diese selbst.174
Jeder anfänglichen Gnadenwirkung durch Wort und Sakrament muss Zeit gelassen werden, sich in der Lebensgeschichte eines Menschen zu entfalten und zur vollen Glaubensstärkung zu führen. Und dies kann nur im Raum der Kirche geschehen. Kahnis will auf seine Weise die Bemühungen seiner Zeit, ein der Sache angemesseneres Kirchenverständnis zu entwickeln, unterstützen. „Man darf wohl sagen, daß das gemeinsame Ziel der neueren Bewegungen auf dem Gebiete der Kirchenfrage ist, die unsichtbare und die sichtbare Kirche einander näher zu 175 bringen.“ Dieses Urteil zum Stand der ekklesiologischen Debatte wiederholt Kahnis im dritten Band seiner Dogmatik. „Die unsichtbare Seite nämlich der Kirche, die Gemeinschaft im heiligen Geist unter Christo dem Haupte, hängt durch das Wort, welches seinen Zweck, Gläubige zu erzeugen und zu einen, nicht anders als durch Gemeindeorganisation vollziehen kann, mit der äußeren Gemeinschaft inniger 176 zusammen, als es nach der theologischen Darlegung der Apologie erscheint.“ Neuerdings nun „fanden Löhe, Delitzsch, Kliefoth, Stahl, Huschke im geflissentlichen Streben, dem lutherischen Kirchenbegriff mehr Boden in der sichtbaren Kirche zu gewinnen, die Sonderkirche schriftgemäßen Bekenntnisses im Lutherschaft der organisirten Kirche zwar nicht den nothwendigen, aber doch den unumgänglichen Grund des Heils“ (ebd., 475). 171 „Man muß zugestehen, daß der Protestantismus dem mittelalterlich-römischen Kirchenbegriff, der das Wesen der Kirche in den äußeren Leib derselben setzt, nicht ohne Einseitigkeit die Seele der Gemeinschaft der Gläubigen entgegengesetzt hat“ (ebd., 622). 172 Ebd., 620. 173 Ebd., 621. 174 Ebd., 622. 175 Ebd., 622f. 176 Dogmatik III (1868), 113f. Allerdings vermerkt Kahnis: „Allein schon Melanchthon fühlte später die große Schwierigkeit eines Kirchenbegriffs, der die im Wesen der Kirche liegende Wirksamkeit der Gnadenmittel und den organisirten Verband der Gläubigen auf die Peripherie stellte, um eine unsichtbare Einheit der Heiligen in’s Centrum zu stellen, die kein Leib ist und keinen Leib hat“ (ebd., 514; vgl. weiter 628; = Dogmatik2 II [1875], 458.476).
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thum“. An dieser Stelle trägt er seinen eigenen Beitrag zu einer Fortentwicklung 178 der Ekklesiologie nun systematisch vor. Er unterscheidet auch hier die drei Äonen des Reiches Gottes. „In dem weiten Kreise der Schöpfung bildet einen engern Kreis das Reich Gottes. Darunter verstehen wir die Gemeinschaft des Heils, welche Gott im alten Bunde gegründet, im 179 neuen Bunde erfüllt hat, um sie in der künftigen Welt zu vollenden.“ Die Zeit der Kirche ordnet sich als spezielle Größe in diesen größeren Bogen des Reiches ein: „Wohl hat die Kirche in der allgemeinen Religion, welche nach ihrer dritten Seite Religionsgesellschaft ist, ihren Naturgrund und im Reiche alten Bundes ihren Offenbarungsgrund, aber man kann weder von einer heidnischen noch von einer alttestamentlichen Kirche reden. Kirche ist das Reich Jesu Christi im heiligen Geistes, welches in den Aeon zwischen Himmelfahrt und Christi Wiederkunft 180 fällt.“ „Nach der Schrift ist also Kirche das diesseitige Reich Jesu Christi im 181 heiligen Geiste.“ Damit aber ist ihr ein geschichtlich-prozessualer Charakter eigen. „Die Kirche, welche als Verwalterin der Gnadenmittel die Mutter ist, ohne die Niemand Gott zum Vater haben kann, macht den Einzelnen, den sie zum Heil geführt hat, zum Gliede ihrer Heilsgemeinschaft, welche der gottgeordnete Weg ist, auf dem der 182 Gläubige zur himmlischen Kirche pilgert.“ Daraus folgt für Kahnis: „Das Maß des Glaubens kann nicht das Maß der Gliedschaft der Kirche sein. Alle die getauft sind haben die Kraft des Glaubens in sich aufgenommen. Auch in dem Ungläubigsten und Verworfensten schlummert noch ein Samenkorn, das sich entfalten 183 kann. Anderseits giebt es keinen Heiligen, der nicht fallen könnte.“ Ihr inneres Wesen, das in den der Kirche zugelegten Prädikaten der Einheit, Heiligkeit, Apostolizität und Katholizität zum Ausdruck gebracht wird, kommt in sich entwickelnden Gestaltungen zum Ausdruck, die auf ihre letzte und vollkommene Verwirklichung erst hinführen. „Sofern nun die Kirche alle Getauften unter dem Himmel zusammenschließt und die Bestimmung hat die ganze Menschheit
177 Dogmatik III (1868), 515; vgl. dazu 530 Anm. 1 (= Dogmatik2 II [1875], 458, vgl. dazu 478 Anm. 1). 178 Dogmatik III (1868), 513–539 (§ 15). In die zweite Auflage seiner Dogmatik übernimmt er diesen Abschnitt auf weite Strecken (Dogmatik2 II, [1875], 456–485 [§ 22]), formuliert einige Passagen aber um. So ersetzt er den kurzen Abschnitt über die Lehrentwicklung in der alten Kirche (Dogmatik III [1868], 521f) durch den ausführlicheren aus dem zweiten Band (1864), 149–155 (= Dogmatik2 [1875], 463–470). 179 Dogmatik III (1868), 406 (= Dogmatik2 II [1875], 173). 180 Dogmatik III (1868), 513 (= Dogmatik2 II [1875], 456). 181 Dogmatik III (1868), 514 (= Dogmatik2 II [1875], 457). 182 Dogmatik III (1868), 517 (= Dogmatik2 II [1875], 459f). – Nicht ganz konsequent wendet Kahnis hier auch auf den himmlischen Äon des Reiches Gottes den Begriff Kirche an. Er selbst stellt fest, dass die Unterscheidung zwischen streitender und triumphierender Kirche „auf einem erweiterten Kirchenbegriffe, der im Leben, aber nicht in der Wissenschaft sein Recht hat,“ beruhe (Dogmatik2 II [1875], 479). 183 Dogmatik III (1868), 531.
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in sich aufzunehmen, heißt sie katholisch.“ „Was nun die vielen Christen zu Einem Organismus, welcher der Leib Christi ist, vereint, ist der heiligen Geist. Die 185 Kirche ist Eine, weil Ein Geist und Ein Leib (Eph. 4, 4.).“ „Als Organismus, der auf dem Grunde der Apostel und Propheten ruht (Eph. 2, 20.) und im apostolischen Wort das Richtmaß seines Lehrens, Lebens und Strebens hat, heißt die Kirche apostolisch. Der heilige Geist, welcher durch die Gnadenmittel Heilige 186 erzeugt und erhält und Heilige zu Einem Leibe einigt, macht die Kirche heilig.“ Diese Kennzeichen ihrer göttlichen Grundlage implizieren „die Lebensformen der Lehre, der Verfassung, des Kultus als solche“ und verbinden sich mit der konkreten Gestalt der menschlichen Organisation, nämlich „die Verbindung einzelner Gemeinden zu Diöcesen, Landeskirchen, Konfessionen, die theologische Ausprägung des Glaubens, die Ausgestaltung der Verfassung, die Formen des Kultus, das 187 Verhältniß zu Staat, Kunst, Wissenschaft, Bildung“. „Ein Leib also ist die Kirche, in welchem wir eine göttliche und eine menschliche Organisation unterscheiden. Diese beiden Seiten verhalten sich nicht wie unsichtbare und sichtbare Kir188 che.“ Wenn in der Kirche nur eine göttliche Grundlage wäre und nicht menschliche Organisation, so würde die Kirche keine Geschichte haben. Denn Christus, der heilige Geist, die Gnadenmittel entwickeln sich nicht. Was Gegenstand der Entwickelung und somit der Geschichte ist, ist die Ausbreitung des Christenthums, die Entfaltung der Lehre, der Verfassung, des Kultus, die Verhältnisse, in welchen die Kirche zu Staat, Wissenschaft, Kunst, Bildung steht, das Wechselverhältniß des kirchlichen und des welthistorischen Fortschrittes.189
Kahnis referiert die klassische lutherische Position: „Die der Kirche zustehenden Prädikate: Einheit, Katholicität, Apostolicität, Säule der Wahrheit, Bedingung des 190 Heils, kommen der Kirche nur synekdochisch zu“ , d.h. in klarer Unterscheidung zwischen eigentlichem Wesen und äußerer Gestalt. Dem hält er einerseits den biblischen Sprachgebrauch entgegen: „Wie in den Briefen die Bezeichnung der Christen als Auserwählte und Heilige nicht in Widerspruch steht mit den Irrthümern und Fehlern, die ihren vorgehalten werden, so bestehen auch die Namen des Leibes, des Weibes Christi, des Hauses Gottes u.s.w., welche der Kirche beigelegt
184 Ebd., 532. 185 Ebd., 532. 186 Ebd., 533. 187 Ebd., 533. 188 Ebd., 533. 189 Ebd., 535. 190 Ebd., 524 (= Dogmatik2 II [1875], 472). Kahnis führt die Definition von Johann Gerhard (17. Oktober 1582 in Quedlinburg – 17. August 1637 in Jena) an: „Ecclesia populariter accipitur pro toto coetu vocatorum, cui honorifica illa praeconia, quae ecclesiae in scripturis tribuuntur, nonnisi per synecdochen competunt“ (ebd.). Zur begrifflichen Parallele zur Abendmahlslehre vgl. ebd., 526 bzw. 474: Die sichtbare Kirche sei „bloße Trägerin der unsichtbaren“.
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werden, sehr wohl mit den Zurechtweisungen, welche die einzelnen Gemeinden 191 erfahren.“ Andererseits verweist er auf die begriffliche Unmöglichkeit. Betrachten wir eine einzelne Gemeinde (ecclesia particularis), so ist zwar gewiß, daß die himmlischen Güter derselben nur denen zu Gute kommen die im Glauben stehen, allein diese Gläubigen bilden nicht einmal im Geiste eine besondere Genossenschaft, da auf alle berufenen Glieder dieser Gemeinde der heilige Geist seinen himmlischen Einfluß übt, geschweige denn äußerlich, da ja Gläubige und Ungläubige an den Gnadenmitteln theilhaben, den Gottesdienst besuchen, unter der Pflege des geistlichen Amtes stehen. […] Wenn also in einer einzelnen Gemeinde die Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen weder innerlich noch äußerlich sich vollziehen läßt, so kann diese Unterscheidung auch nicht den Begriff der Gemeinde bestimmen.192
Gleiches gelte für die Kirche im universalen Sinne. Deshalb verfolgt Kahnis das Ziel, den Kirchenbegriff zu stimmigerer Konsistenz zu führen. Mit der Gestaltung in Raum und Zeit unvermeidlich verbunden ist die Individualisierung der einen Kirche in unterschiedlichen Kirchentümern. „In Gottes Hause sind nicht bloß im Himmel, sondern auch auf Erden viele Wohnungen, in 193 denen Eigenthümlichkeit Hausrecht hat.“ Die Zertheilung der Kirche in Gemeinden, Landeskirchen, Konfessionen verdeckt zwar die Eigenschaften, welche der Glaube der Kirche beilegt. Aber nur indem er sich mit aller Treue der Gemeinde, Landeskirche, Konfession hingiebt, in die ihn Gott gestellt hat, erhebt sich der Christ zur Erkenntniß des Wesens der Kirche. Mit der Treue aber für jene engeren Kreise Sinn und Herz für die allgemeine Kirche zu verbinden, ist die gottgestellte Aufgabe eines wahren Christen.194
Kahnis vertritt also ein konfessionell lutherisches Bewusstsein mit einer grundsätzlich ökumenischen Gesinnung. Einerseits bekennt er sich zur Konfession: „Die lutherische Konfession kann nicht den Anspruch machen die Kirche zu sein und in ihrer Organisation absolut dem Schriftwort zu entsprechen. Aber sie ist sowohl nach ihrem protestantischen als nach ihrem specifisch lutherischem Charakter 195 eine vor Gott berechtigte und zukunftsfähige Individualität.“ Andererseits bekennt er sich zu einer ökumenischen Vision: Und so müssen wir uns von Neuem zu dem von tiefblickenden Geistern ausgesprochenen Gedanken bekennen, daß die Kirche auf dem Punkte ist, in das johanneische Zeitalter zu treten, wo, nachdem das Judenchristenthum (Romanismus) und das Heidenchristenthum (Protestantismus) ihre Zeiten durchschritten haben, es gilt, sich von dem ewigen Wesen des Christenthums aus, welches in der Heils-
191 Dogmatik III (1868), 524 (= Dogmatik2 II [1875], 472). 192 Dogmatik III (1868), 526f (= Dogmatik2 II [1875], 475). 193 Dogmatik III (1868), 538 (= Dogmatik2 II [1875], 484). 194 Dogmatik III (1868), 526 (= Dogmatik2 II [1875], 475). 195 Dogmatik III (1868), 516 (= Dogmatik2 II [1875], 459).
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gemeinschaft des Einzelnen mit Gott liegt, zum Wesen der Schrift und der Kirche zu erheben.196
5.3.6 Schriftlehre Es fällt auf, dass Kahnis in seiner Dogmatik die Behandlung der Schriftlehre bis ans Ende hinausschiebt, nachdem er in seinen vorausgehenden Monographien überhaupt auf jede Äußerung zu dem Verständnis der Schrift, welches seinem Umgang mit der Schrift zugrunde liegt, verzichtet und sich unmittelbar ihrer Aus197 legung zugewandt hat. Und im ersten Band der ersten Auflage hat er im dritten Abschnitt „Das Wort Gottes“ bereits die biblische Theologie umfassend entfaltet, 198 ehe er systematische Überlegungen zur Schrift anstellt. So zögernd Kahnis seine Reflexionen über die einzigartige Besonderheit der heiligen Schrift mitteilt, so heftig fällt die erbitterte Kritik an seiner Dogmatik gerade an diesem Punkt des Schriftgebrauchs aus. Hier trifft er also den Nerv bei anderen ihm sonst ähnlich gesinnten Theologen. Und doch übergeht er nach diesen leidenschaftlich geführten Auseinandersetzungen seine Schriftauffassung bei 199 der späteren Aufzählung der Fortschritte, die er mit seiner Theologie anstrebe. Kahnis’ Behandlung der Schriftfrage setzt offensichtlich voraus, dass er sich des neuralgischen Punktes wohl bewusst ist, den er damit berührt. Und gerade des200 halb geht er einerseits so streng induktiv vor, lässt zunächst die biblische Überlieferung selbst zu Wort kommen und interpretiert sie, und bestimmt andererseits ihre theologische Qualität danach in der Weise, dass er seine eigene Sicht nicht als neu, sondern als tief in der Geschichte der lutherischen Kirche angelegt zu erweisen sucht. Seine systematischen Darlegungen zum Schriftverständnis beginnen mit der relativierenden Feststellung: „Daß die Heilsoffenbarung alten und neuen Bundes 196 Dogmatik III (1868), 539 (= Dogmatik2 II [1875], 485). 197 Die Lehre vom heiligen Geiste (1847) bietet kurze Bemerkungen zur Verstehen der Schrift im knappen Kapitel der Grundlegung, das sich mit dem Phänomen der Religion befasst (11f); der Einstieg in die Betrachtung des alttestamentlichen Befundes erfolgt danach recht unvermittelt. Die Lehre vom Abendmahle (1851) setzt sogar ohne alle Vorüberlegungen direkt mit der exegetischen Erörterung ein. 198 Eine biblische Theologie bietet Kahnis im dritten Abschnitt „Das Wort Gottes“ (Dogmatik I [1861], 227–626), mit einem grundsätzlichen Abschluss über „Das Wesen und die Wahrheit des Christenthums“ (ebd., 626–674), innerhalb dessen er auch auf sein Schriftverständnis eingeht (ebd., 627f.650–670). 199 Die Schriftlehre führt Kahnis in der knappen Zusammenstellung der Lehrpunkte, zu denen er Weiterführendes beigetragen zu haben meint (Christenthum und Lutherthum, VII–VIII), nicht an. 200 Zu seiner methodischen Vorgehensweise vgl. Dogmatik II (1864), VI–VII. Die induktive Vorgehensweise ist nicht voraussetzungslos, sondern setzt eine Einheit des historisch sich Entwickelnden voraus, so dass Kahnis sie als „analytisch“ bezeichnet. Dennoch geht er nicht von der Bestimmung des einheitlichen Ganzen aus, um es dann in seinen Teilen zu analysieren, sondern von den historischen Einzelerscheinungen.
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sich in Schriften niederlegte, dafür läßt sich eine absolute Nothwendigkeit nicht 201 nachweisen.“ Indem er demzufolge erwägt: „Möglicherweise also hätte die Kunde vom alten und neuen Bunde durch die mündliche Ueberlieferung vermittelt sein können“, registriert er zugleich, dass unter solcher Voraussetzung allerdings „ein geschichtlicher Beweis für die Wahrheit der Heilsoffenbarung überaus 202 schwierig“ geworden wäre. Zunächst verleiht also der gegenüber mündlicher Weitergabe relativ zuverlässigere schriftliche Überlieferungsweg der Bibel Bedeutung. Aber die Schriftform allein biete auch noch nicht die für den geschichtlichen Beweis zureichende Gewissheit, da die „objektive Zuverlässigkeit“ vielfach durch subjektive Darstellung getrübt werde. „In solche Möglichkeiten darf man sich nur ernst versetzen, um die göttliche Hand zu erkennen und zu preisen, welche gemacht hat, daß die Heilsoffenbarung alten und neuen Bundes von berufenen Zeu203 gen im Geiste des Reiches Gottes ist dargestellt worden.“ Gottes Geist hat also durch die Herausbildung des biblischen Kanons für die Wahrung der Authentizität der Überlieferung von der Heilsoffenbarung gesorgt. Bei der Entfaltung seiner eigenen Schriftanschauung geht er von der Sicht aus, die er in der Bibel selbst ausgedrückt findet. Hinsichtlich des Alten Testaments konstatiert er, an Joh 5,39 anknüpfend: „Jesus Christus, der allenthalben die Auktorität des Alten Testamentes anerkennt, verweist die Juden auf diese anerkannte Auktorität, um sie durch dieselbe, die ein Zeugniß vom Messias sei, somit über 204 sich selbst hinausweise, zu seiner Person zu leiten.“ Damit ist eine Verbindlichkeit gegeben, die in den geschichtlichen Gang der Heilsoffenbarung eingebunden 205 ist. Und: „Wie Jesus stehen die Apostel zur Schrift.“ II Tim 3,14–16 interpretierend stellt Kahnis einerseits fest: „Eine Schrift, die anerkanntermaßen von Gott ein[ge]geben, also göttlichen Ursprungs ist, kann auf den Menschen nur heilskräf206 tigen Einfluß üben.“ Andererseits betont er: „Diese Stellung zum Alten Testament hatten die Apostel nicht vom Evangelium empfangen, sondern brachten sie zum Evangelium hinzu. Das Evangelium gab der Schrift das Recht, aber nicht den 207 Ursprung.“ Den Heidenchristen wurde sie erst über die Apostel vermittelt. Dabei benutzten die Apostel Übersetzungen, die den hebräischen Urtext keineswegs immer genau wiedergeben. Kahnis stellt sich der Konsequenz, die sich daraus für das Verständnis des Alten Testaments ergibt: Die apostolische Auslegung alttestamentlicher Stellen macht für den grammatischhistorischen Betrachter derselben große Schwierigkeiten. Während nun die stren201 Dogmatik I (1861), 650. 202 Ebd., 651. 203 Ebd., 651. 204 Ebd., 652. 205 Ebd., 652. 206 Ebd., 653. 207 Ebd., 653f.
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gere Richtung die apostolische Auslegung für den eigentlichen Wortsinn erklärte, glaubte eine andere einen doppelten Sinn unterscheiden zu müssen, einen grammatisch-historischen und einen tieferen, einen Untersinn, bis in der neueren Zeit mehr und mehr die Erkenntniß gekommen ist, daß die apostolische Auffassung da, wo sie vom Wortsinn abgeht, nicht Auslegung, sondern Anwendung ist, auf dem Grundsatze beruhend, daß das Alte Testament sein Ziel und seine Wahrheit im neuen Bunde finde (Röm. 15, 4. 1Kor. 10, 11.).208
Kahnis registriert also einen Fortschritt, der in der wirkungsgeschichtlichen Betrachtung liegt. Hinsichtlich des Neuen Testaments macht er den Prozess von der mündlichen Verkündigung über die Schriftwerdung zur Kanonbildung hin deutlich. Die Apostel haben die Kirche durch das mündliche Wort gegründet und nur auf besondere Veranlassung dasselbe durch das Schriftwort zu ergänzen gesucht. Die Basis der Kirche bis Mitte des zweiten Jahrhunderts ist das in das Gemeindebewußtsein eingegangene Wort d.h. die Tradition in des Wortes specifischem Sinne. Wo daher bei den Schriftstellern dieses Zeitraums von Schrift die Rede ist, ist, einzelne und meist fragliche Fälle abgerechnet, das Alte Testament gemeint. Während von diesem im Sinne der vorhandenen Inspirationslehre gesprochen wird, werden die neutestamentlichen Citate ohne besondere Betonung und ohne eine Spur, daß man sie für inspirirt hielt, angeführt.209
Er lässt die geschichtliche Darstellung der neutestamentlichen Kanonbildung folgen. Danach resümiert er: „Wir haben gesehen, wie der alt- und neutestamentliche Kanon die Gestalt gewonnen hat, die er dermalen hat und sicher auch behalten wird. Die Entstehungsgeschichte des Kanon’s beweist, daß seine dermalige Gestalt nicht auf göttlichem Recht ruht. Es ist kein Prophet aufgetreten, der im Namen Gottes den alttestamentlichen Kanon gesammelt oder zum Abschluß gebracht; 210 kein Apostel, welcher die Bücher neuen Bundes bestimmt hätte.“ Kahnis sieht denn auch reichlich Raum für kanonkritische Erwägungen und hält doch fest: Unhaltbare Angriffe haben so wenig Bestand wie unhaltbare Vertheidigungen. Den mosaischen Ursprung des Gesetzes, die Göttlichkeit des Prophetenwortes, die innere Wahrheit des Wunderganges der alttestamentlichen Geschichte, die in allen frommen Herzen so lange es noch solche giebt wiederklingenden Psalmentöne, das apostolische Zeugniß von Christi Person und Werk, den Offenbarungsinhalt der unumstößlich ächten Briefe des Paulus, Petrus, Johannes kann keine Kritik erschüttern. Nur das ist gewiß, daß die Frage nach Aechtheit, Glaubwürdigkeit und Integrität der alt- und neutestamentlichen Schriften den Kern der Schrift viel mehr 208 Ebd., 654f. 209 Ebd., 655. 210 Ebd., 659f. – Speziell zum Neuen Testament: „Selbst wenn man das Urtheil der Kirche zum Gottesurtheil machen wollte, könnte man nicht von einem göttlichen Rechte des neutestamentlichen Kanon’s reden, da die Kirche durch keine ihrer legalen Instanzen ein einstimmiges Urtheil ausgesprochen hat. Rein historisch angesehen ist also die Thatsache, daß eine Schrift im neutestamentlichen Kanon steht, noch kein Beweis ihres kanonischen Rechtes“ (ebd., 661).
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berührt als die altlutherische Dogmatik meinte, welche die göttliche Auktorität der Schrift mit der Inspiration begründete, während sie den kritischen Fragen nach Authentie, Glaubwürdigkeit und Integrität nur das [sic] Bereich menschlicher Ueberzeugung zuwies.211
Kritisch merkt er zu der angesprochenen und dann näher erläuterten traditionellen Inspirationslehre an: „Der Beweisgrund der Inspiration aber kann nicht die Schrift selbst sein, welches ein Cirkel wäre, sondern das Zeugniß des heiligen 212 Geistes in uns.“ „Die Wahrheit des Christenthums ruht wesentlich auf dem praktischen Beweise der Wirkung des Evangeliums in den Herzen der Gläubigen: der 213 Christus in uns verbürgt den Christus vor uns, den historischen Christus.“ Damit ist ein hermeneutischer Filter in das Schriftverständnis eingebaut: „Es ist das Zeugniß der Kirche, das wir in Haus, Schule, Predigt u.s.w. vernehmen, welches in uns Glauben und Leben wirkt. Somit verbürgt das Zeugniß des heiligen Geistes nur das in der Schrift, was Zeugniß von Christo ist: den Glaubensinhalt, die Heils214 summe der Schrift.“ Damit aber ist kein Urteil über die engere Definition der Inspiration verbunden. Aus der Gewissheit selbst erfahrener Wirksamkeit des Schriftwortes lässt sich nicht auf das Zustandekommen dieses Schriftwortes im Sinne der Verbalinspiration schließen. „Wer aber dieß Zeugniß des Geistes in sich trägt, der kann auch urtheilen, ob eine Schrift im Geiste Gottes geschrieben ist 215 oder nicht.“ Unmöglich aber sei es zu sagen: „Diese Schrift ist inspirirt, diese 216 bloß christlich.“ „Das Zeugniß des heiligen Geistes steht nur für die Göttlichkeit des Inhalts der Schrift sofern er Heilsoffenbarung und für den geistlichen Ursprung der heiligen Schriften im Ganzen ein, nicht aber für die Inspiration der 217 Schrift in des Wortes specifischen Sinne.“ Kahnis bleibt allerdings bei dieser rein subjektiven Sichtweise nicht stehen. „Eine objektivere Instanz ist ohne Zweifel das Zeugniß der Kirche. Im Großen und Ganzen hat sich dasselbe auch nicht geirrt. Wir haben aber gesehen, daß im 218 Einzelnen das Urtheil der Kirche schwankt.“ Kahnis verbindet die drei Parameter heilige Schrift, Kirchenglauben und persönlichen Glauben miteinander, um so die Gewissheit von der Wahrheit christlichen Glaubens zu begründen. Nachdem Kahnis damit mit der herkömmlichen Argumentation für die Inspiration der Schrift gebrochen hat, führt er durch die folgende theologische Erörterung doch wieder zu einer Inspirationsanschauung hin. Wie in seiner Abendmahlslehre (Realpräsenz ja, aber nicht aufgrund der Einsetzungsworte) tauscht er die traditionelle Herleitung gegen eine neue, eigene aus, um zugleich an der in211 Ebd., 661f. 212 Ebd., 662. 213 Ebd., 662. 214 Ebd., 662. 215 Ebd., 663. 216 Ebd., 663. 217 Ebd., 663. 218 Ebd., 663.
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haltlichen Aussage festzuhalten. Im vorliegenden Fall leitet er, indem er wieder an einen altkirchlichen Begriff anknüpft, nämlich das „für die heiligen Schriften alten und neuen Bundes gemeinsame Wort διαθήκη (testamentum, instrumen219 tum)“ , die Inspiration vom Urkundencharakter der Schrift ab. Die Schrift also ist nach dem Urtheil der Kirche der Bund d.h. die authentische Urkunde der Bundesoffenbarung. Urkunde in des Wortes eigentlichem Sinne ist der ursprüngliche Ausdruck, welchen sich eine Thatsache giebt, das Zeugniß, in welches sich ein Faktum niederlegt. Die Bundesoffenbarung nun hat sich in ihre prophetischen und apostolischen Mittlern und Trägern in demselben Geiste, in welchem sie sich mündlich ausgesprochen hat, schriftlich niedergelegt. Und dieß ist Inspiration. Die altkirchliche Dogmatik hatte das vollkommen richtige Bewußtsein, daß Offenbarung und Inspiration wohl zu unterscheiden seien. Offenbarung ist die unmittelbare Selbstmittheilung Gottes an die Menschen durch einen Mittler oder Propheten. Von dieser Selbstmittheilung Gottes aber, die in verschiedener Gestalt erfolgen kann, ist die Darstellung derselben in Wort und Schrift zu unterscheiden, die eines besondern Geistesbeistandes bedarf.220
Das schriftliche Wort bietet also dieselbe Mitteilung wie das ursprüngliche mündliche Wort und hat deshalb an dessen Eigenart teil. Nicht alle Propheten, nicht alle Apostel haben geschrieben. Wenn sie aber schrieben, gab ihnen der Geist Gottes, welcher ihnen in unmittelbarer Weise die Offenbarung Gottes vermittelt hatte, auch den dieser Offenbarung entsprechenden Ausdruck. Kirchlich kann man nur die Lehre nennen, daß die Schrift inspirirt ist (θεόπνευστοϛ). Wie sie inspirirt ist, hat die Kirche nie festgelegt. Es geht durch alle Zeiten der Kirche eine doppelte Auffassung: eine die göttliche und eine die menschliche Seite der Schrift betonende.221
Wohlgemerkt: Kahnis bezieht sich auf den kirchliche gebräuchlichen Begriff Testament und entdeckt in ihm ein theologisches Urteil, das ihm erlaubt, weiterhin von einer Inspiration der heiligen Schriften zu sprechen. Allerdings betont er zugleich die wichtige Unterscheidung, die seine Ableitung erwirtschaftet. „Der Grundfehler aber der alten Theorie liegt darin, daß die Inspiration die Offenbarung absorbirt. Nicht die Bundesoffenbarung selbst, sondern nur 219 Ebd., 664. 220 Ebd., 664. 221 Ebd., 665. – Auch für die lutherischen Bekenntnisschriften gilt dies: „Die lutherischen Symbole sitzen zwar die Inspiration voraus, entwickeln sie aber nicht näher. Auch die älteren Dogmatiker gehen nicht tiefer auf die Inspiration ein“ (ebd., 665). Die dann später ausgebaute Inspirationslehre sei von Strauß in seiner Christlichen Glaubenslehre (I, 156ff) demontiert worden. „Man fühlte im Lager der zum Positiven zurückkehrenden Theologie allgemein, daß die Inspiration der Schrift sich nur unter starken Koncessionen behaupten lasse“ (ebd., 666). „Die Unhaltbarkeit der altorthodoxen Inspirationslehre wird Jedem in die Augen springen, der sich nur die Mühe giebt sich ein anschauliches Bild von derselben im Einzelnen zu machen“ (ebd., 666). „Gerade die Instanz, auf welche sich die Theorie stützt, nämlich das Zeugniß des heiligen Geistes, ist der evidente Beweisgrund gegen sie“ (ebd., 667).
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die inspirirte Urkunde derselben ist ja die Schrift.“ Als Urkunde aber ist ein geschichtliches Dokument, das auf geschichtliches Geschehenes bezogen ist. Ihre Wahrheit ist untrennbar mit ihrem geschichtlichen Bezug verbunden und erfordert eine historische Auslegungsweise: Es war im hohen Grade nöthig, daß man sich einmal die Nothwendigkeit sagte[,] die Schrift zunächst nach den Regeln grammatisch-historischer Auslegung zu erklären, jede Schrift nach der geschichtlichen Stelle, die sie in dem Gange des Reiches alten und neuen Bundes einnimmt, zu beurtheilen, auf den menschlichen Zusammenhang dieser Entwickelung hinzuweisen und eine streng objektive Erkenntniß des Glaubensinhaltes derselben im Zusammenhange mit der Bundesgeschichte zu gewinnen.223
Gottes Offenbarung selbst hat geschichtlichen Geschehenscharakter: Nicht Lehre ist der Wesensinhalt der Schrift, sondern Offenbarung, und zwar Offenbarung des Willens Gottes[,] mit der Menschheit in Gemeinschaft treten zu wollen, Bundesoffenbarung, die im Reiche Israels anhebend sich in Christo erfüllt, um durch das apostolische Zeugniß von Christo alle Völker in sich aufzunehmen: somit Geschichte ist. Diese Geschichte der Bundesoffenbarung darzustellen ist das große Ziel der exegetischen Theologie. Die inspirirte Urkunde aber dieser Geschichte ist die Schrift.224
Kahnis benennt auch die Konsequenzen, die sich aus seiner Ableitung der Inspiration der Schrift ergeben. Hängt sie nicht an dieser selbst, so ist sie an die Echtheit wenigstens ihrer wichtigsten Bücher gebunden. „Da Inspiration in des Wortes engerem und strengerem Sinne nur den Männern der Offenbarung zukommt, so setzt dieselbe den prophetischen und apostolischen Ursprung dieser Schriften 225 voraus d.h. die Authentie.“ Dabei nimmt Kahnis freilich Differenzierungen in der Gewichtung der einzelnen Schriften nach drei Klassen vor, und zwar „die Kernbücher, in welchen die Männer der Offenbarung das Wort der Offenbarung darstellen,“ dann die Bücher, deren Verfasser „Männer, die im Geiste des Reiches Gottes stehen“ und bei denen „Alles auf die objektive Wahrheit und den Geist der Darstellung ankommt,“ schließlich dann die Bücher, deren Inhalt „das Leben im Reiche Gottes wie es sich im Einzelnen darstellt“, ist, in denen also „das Subjekt 226 in Bedeutung tritt“ wie etwa in den Psalmen. „Mag dieser Versuch vom Standpunkte der Inspiration aus die Schrift in drei Klassen zu theilen mangelhaft sein: jedenfalls ist eine Unterscheidung von Graden der Inspiration im Sinne der Schrift, wie sie denn auch in alter und neuer Zeit bedeutende Auktoritäten für 227 sich hat.“ 222 Ebd., 667. 223 Ebd., 668. 224 Ebd., 668. 225 Ebd., 669. 226 Ebd., 669f. 227 Ebd., 670.
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Entscheidend ist für Kahnis die Bedeutung, die damit der Bibel zugeschrieben werden kann. „Ist die Schrift die heilige Urkunde, in welche sich die Bundesoffenbarung selbst niedergelegt hat, so kann die allein sichere Quelle unserer Kunde von der Bundesoffenbarung nur die Schrift sein. Ohne Kunde der Heilsoffenba228 rung kein Heil.“ Zwar kann der Einzelne aufgrund der mündlichen Praxis der kirchlichen Verkündigung zum Glauben kommen. „Für die Kirche aber kann es für ihr Bewusstsein der Heilsoffenbarung keine andere Quelle, keine andere Norm 229 geben als die Schrift.“ Als Dokument, in dem das Urzeugnis des christlichen Glaubens kodifiziert ist, ist die heilige Schrift Alten und Neuen Testaments für die Kirche unverzichtbarer Richtpunkt. Diese Hervorhebung der normativen Bedeutung der heiligen Schrift begleitet Kahnis freilich sogleich mit ihrer dogmatischen Relativierung. Die lebendige Heilsgemeinschaft des Menschen mit Gott durch Jesum Christum im heiligen Geiste ist der wunderbare Ring, in dem das Wesen und die Wahrheit des Christenthums liegt. Nicht auf die Inspiration und Authentie der Schrift, nicht auf dogmatische Begriffe, nicht auf wissenschaftliche Vermittelung, sondern auf die Lebensthatsache seiner realen Gemeinschaft mit Gott durch Christum stellt der wahre Christ sein Christenthum.230
Die persönliche Gottesgemeinschaft im heiligen Geist soll auf keinen Fall hinter einer vom Geist gewirkten schriftlichen Sprachgestalt der Botschaft zurücktreten. Auf die heftige Kritik an seinem Umgang mit der Bibel und damit auch an seiner Schriftauffassung reagiert Kahnis unmittelbar mit seiner Streitschrift „Zeugniß von den Grundwahrheiten des Protestantismus“ von 1862. Ihr zweiter Teil ist ganz dem Thema Schrift gewidmet. Darauf wird später, im Kapitel über Kritik und Gegenkritik, näher einzugehen sein. Hier ist nur zu verzeichnen, dass Kahnis sich zum Formalprinzip der lutherischen Theologie bekennt, ihm aber eine deutlich geringere theologische Wertigkeit zuerkennt als der Botschaft selbst: „Ich stehe wie in dem Angelpunkt der Rechtfertigung aus dem Glauben, so auch in dem Grundsatze, daß in Sachen des Glaubens die Schrift die höchste Auktorität sei, unbedingt zur deutschen Reformation. Der Grundsatz von dem normativen Ansehn der Schrift ist aber ein bloßer Formalgrundsatz, welcher leer ist, wenn 231 er es nicht zu Inhalt bringt d.h. zu schriftgemäßen Glaubenslehren.“ Im zweiten Band seiner Dogmatik, der zwei Jahre später erscheint und in dem Kahnis den „Kirchenglauben“ historisch-genetisch darstellt, rekapituliert er, was er im ersten über die Kanonbildung in der Zeit der alten Kirche ausgeführt hat: Die Kirche war es, die den Einzelnen die Schrift als ihr heiliges Buch übergab; ihre Zeugnisse verbürgten die Glaubwürdigkeit der Schrift; ihr Glaube und Leben war 228 Ebd., 670. „Dort wird auch der Satz: die Schrift ist das Wort Gottes, seine Prüfung finden“ (ebd.). 229 Ebd., 670. 230 Ebd., 674. 231 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 68–136, Zitat bereits 43.
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die faktische Auslegung der Schrift; die Bedeutung der Schrift als Richtmaß des Glaubens setzte eben den Kirchenglauben voraus. Wohl war das authentische Wort der Apostel und Propheten der reinere und sichere Quell der göttlichen Offenbarung. Aber ihre Auslegung räumte der Subjektivität großen Spielraum ein. Die alte Kirche lebte der festen Ueberzeugung, daß das in das Gemeindebewußtsein eingegangene apostolische Wort die Summe des Schriftwortes sei, legte die Schrift in diesem Sinne aus und ging nicht um sich der Substanz ihres Glaubens zu versichern, sondern Erbauung und Unterweisung suchend an die Schrift.232
Als es in der Reformationszeit zum Konflikt zwischen kirchlicher Tradition und apostolischem Schriftwort kam, wurde die Entscheidung für die Schrift der 233 „unumstößliche Grundsatz des Protestantismus“. Dieses „Princip der normativen Auktorität der Schrift“ hat die Konkordienformel festgelegt, nachdem die 234 lutherischen Bekenntnisse bereits vorlagen, indem sie sich „zu den prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testaments als zu dem reinen, lautern Brunnen Israels“ bekannte, „welche alleine die einige wahrhaftige Richt235 schnur ist, nach der alle Lehrer und Lehre zu richten und zu urteln sein,“ und 236 zugleich die Bekenntnisse als „Zeugnisse der Kirche ihrer Zeit“ bestimmte. „Indem die Concordienformel dieß ausspricht, erkennt sie drei Faktoren in der Kirche an, nämlich die Schrift, das Zeugniß der Kirche über das was der Glaubensinhalt der Schrift ist und, da solch ein Zeugniß zunächst nur seiner Zeit angehört, das Recht der Folgezeit dieß Zeugniß immer von Neuem an der Schrift zu prüfen, 237 als das Recht einer Entwickelung auf dem gelegten Grunde.“ Was Kahnis hier nur antippt, führt er dann im dritten Band, mit dem er 1868 das „System der Lutherischen Dogmatik“ vorlegt, im Einzelnen genau aus, ohne 238 aber seine Position zu verändern. Ausdrücklich erklärt er im Blick auf die kritische Diskussion seiner Position: Indem wir, wie sich von selbst versteht, die Möglichkeit, daß wir uns im Einzelnen geirrt haben, zugestehen, müssen wir aussprechen, daß die dadurch angeregten Verhandlungen so wenig wie die Forschungen der letzten Jahre uns die Pflicht einer Retraktation auferlegt haben. Jedenfalls aber sind wir nach dem Vorgange Luther’s, der einzelne Schriften des neutestamentlichen Kanon’s für zweifelhaft erklärte und Widersprüche und Menschlichkeiten zugab, sowohl mit der Untersuchung wie mit den Resultaten im protestantischen Rechte.239
232 Dogmatik II (1864), 25. 233 Ebd., 474. 234 Ebd., 617. 235 FC.SD Von dem summarischen Begriff § 3 (BSLK, 834,16–22). 236 Dogmatik II (1864), 617 unter Bezugnahme auf FC.Epit Vom summarischen Begriff § 4 (BSLK, 768,29f); SD, Vorrede § 4 (BSLK, 830,46–49); Vom summarischen Begriff § 5 (BSLK, 835,18). 237 Dogmatik II (1864), 617f. 238 Dogmatik III (1868), 120–171 (§ 6. Die Schrift). 239 Ebd., 130.
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Kahnis geht auch davon aus, dass seine Position inzwischen im Kreis der lutherischen Theologen respektiert wird. „Soweit ich unbefangen über meine eigene Sache urtheilen kann, hat man sich Seitens der Lutheraner in billiger Erinnerung an Luther in meine freiere Stellung zur Schrift einigermaßen gefunden und sieht 240 wenigstens hierin keinen Beweis meiner Abweichung vom Lutherthum.“ In die zweite Auflage übernimmt er diesen Paragraphen über das Schriftverständnis denn auch ohne einschneidende Änderungen, hält also konsequent an 241 seiner bisherigen Position fest. Diese beiden fast gleich lautenden Abschnitte sind als zusammenhängende, systematische Darstellung seiner Schriftlehre zu würdigen, nicht als weiterentwickelte Gestalt derselben. Ausführlich wird die Kanongeschichte dargestellt, aus der sich ergibt, dass „anderthalb Jahrtausende dem Kanon, wie er nun einmal ist, eine kirchliche Weihe gegeben (haben), die man anerkennen muß. Nach dem Urtheil der Kirche ist die Schrift Gottes Wort. Indeß ist dieser Begriff für die dogmatische Bestimmung zu weit. Der Kanon ist die authentische Urkunde des 242 Heilsoffenbarung alten und neuen Bundes.“ Danach wird die Inspiration in ihrer geschichtlichen Lehrentwicklung behandelt. Kahnis bezieht sie nicht auf die Texte, sondern auf die Autoren: „Inspiration, wohl zu unterscheiden von Offenbarung, ist der Beistand des heiligen Geistes, unter welchem die Zeugen des alten 243 und neuen Bundes schrieben.“ Dabei nennt er drei Grade: „Es unterscheidet sich der Geistesbeistand, unter welchem die prophetischen und apostolischen Mittler der Offenbarung schrieben, von dem Beistand, welchen der heilige Geist den Verfassern poetischer und didaktischer Schriften und endlich den heiligen Ge244 schichtsschreibern leistete.“ Schließlich bestimmt er die Eigenschaften der Schrift als „letztentscheidende Auktorität (auctoritas)“, als Deutlichkeit (perspicuitas), die keineswegs in sich selbst ruht, sondern „durch die rechte Auslegung“ bedingt ist, „welche vom Wort ausgeht, zu der Betrachtung der Geschichte der Heilsoffenbarung fortgeht, um in dem Geiste, der die Einzelnen wie die Kirche leitet, die letzte Grundlage des Verständnisses zu finden,“ und als den Umfang, der „Alles was uns zum Heil zu wissen nothwendig ist (perfectio s. sufficientia)“ 245 umschließt. Die Schriftlehre, die Kahnis bietet, ist mithin durch mancherlei Einschränkungen gekennzeichnet, die einer zu hohen theologischen Wertung wehren und die heilige Schrift deutlich vom Wort Gottes als solchem absetzen. Nur sofern die Schrift die göttliche Offenbarung in der Geschichte vermittelt und nur wenn es in glaubendem Verstehen zum rechten Gebrauch der Schrift kommt, besitzt sie geist240 Ebd., VIII. 241 Dogmatik2 I (1874), 254–301 (§ 9. Die Schrift). 242 Dogmatik III (1868), 121 (= Dogmatik2 I [1874], 255). 243 Dogmatik III (1868), 122 (= Dogmatik2 I [1874], 256). 244 Dogmatik III (1868), 123 (= Dogmatik2 I [1874], 257). 245 Dogmatik III (1868), 123 (= Dogmatik2 I [1874], 257).
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liche Würde. Funktionale Aussagen machen diese Lehre aus und heben die Schrift nur relativ von andern Weisen der Verkündigung ab. Das Besondere, das Kahnis dieser Lehre verleiht, liegt in ihrer konsequenten Durchdringung mit dem „historisch-genetischen“ Gedanken.
5.4 Kritik und Gegenkritik Kahnis ist sich bewusst, dass seine Art, in seiner Dogmatik neue Wege zu gehen, eine höchst kritische Diskussion auslösen wird. Schmidt berichtet: Ich erinnere mich, wie er, als ich ihn in meinem letzten Semester (59/60) einmal ins Kolleg begleiten durfte, immer wieder stehen bleibend, von dem heißen Ringen sprach, unter dem er an seiner Dogmatik arbeite, und von den Kämpfen, denen sie ihn entgegenführen werde. Aber der Sturm, den sie hernach entfesselte, war noch heftiger, und der um sie entbrennende Kampf verwundete ihn noch tiefer, als er vorher hatte denken können.246
In kirchlichen Blättern wurde das Erscheinen dieses Bandes mit erheblicher Auf247 regung wahrgenommen. Moritz Meurer (1806–1877) etwa, der Redakteur des noch einige Jahre zuvor von Kahnis selbst betreuten „Sächsischen Kirchen- und Schulblattes“, sah sich nach einigem Zögern genötigt, sich der öffentlichen Diskussion zu stellen. Er bekannte seine eigene „schmerzliche Ueberraschung“ und erklärte „ruhig aber unumwunden seinen entschiedenen dissensus“; denn „wo es die Wahl galt zwischen ihm und der heiligen Schrift, da konnte die Entscheidung 248 nicht schwanken“. Der für ihn alles entscheidende Kritikpunkt ist also Kahnis’ Stellung zur Bibel. 249 Dasselbe gilt auch für Karneades Konrad Münkel (1809–1888) , der in seinem „Neuen Zeitblatt für die Angelegenheiten der lutherischen Kirche“ den ersten Band mit dem Ergebnis rezensiert: „Eine lutherische Glaubenslehre ist das Werk so wenig, daß es nur ein Abfall von der lutherischen Glaubenslehre genannt werden
246 Schmidt: Zur Erinnerung, 15. 247 Moritz Meurer (3. August 1806 in Pretzsch bei Wittenberg – 10. Mai 1877 in Callenberg), 1825– 28 Studium der Theologie in Leipzig, Nähe zu August Hahn, 1834 Pfarrer in Waldenburg, 1841 in Callenberg, 1836–1840 Mithg. des Gemeindeblattes „Der Pilger aus Sachsen“, 1855 Lic. theol. h.c. der Universität Leipzig, 1860–1873 als Nachfolger von Luthardt Hg. des „Sächsischen Kirchen- und Schulblattes“, Verf. mehrerer Bücher zur Reformationsgeschichte. 248 (Meurer:) Ein Wort über die Dogmatik des Herrn D. Kahnis von dem Standpunkte eines praktischen Geistlichen, SKSB 12 (1862), 146.148.165. – Kahnis geht über diese Kritik mit der kurzen Bemerkung hinweg, das Blatt habe sich angeschickt, „einige saftlose Aeste zum allgemeinen Brand beizutragen“ (Dogmatik II [1864], VIII). 249 Karneades Konrad Münkel (21. April 1809 in Hannover – 9. April 1888 in Hannover), Ehrendoktor der theologischen Fakultät Rostock, Pfarrer in Oiste bei Verden, bedeutender Vertreter der lutherischen Erweckung im Hannoverland, populärer und zugleich lehrhafter Prediger, seit 1869 im Ruhestand in Hannover.
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kann.“ Obwohl er die Schwierigkeiten, die sich dem Leser der Bibel stellen, durchaus anerkennt, behauptet er deren göttliche Autorität, die nicht hinterfragt werden dürfe. „Der ganze Bestand der Kirche, das innere Leben ihrer Glieder, die Familien- und Staatsverhältnisse sind mit ihr verflochten. Es giebt gar keine Autorität in der Welt mehr, sobald diese Autorität gefallen ist, und es ist ganz unnütz zu fragen, woher die Bibel ihre Autorität hat, so lange man überhaupt noch eine Autorität in der Welt anerkennt. Gott selbst, der Urheber aller Autoritäten, hat 251 diese Autorität oder gar keine geschaffen.“ Solch eine Autorität bleibt rein for252 mal und weithin unverstanden und kann sich in der Praxis der Auslegung nicht bewehren, weil sich dann die Probleme des Verstehens sofort einstellen. Kahnis wehrt sich zunächst scharf dagegen, dass Münkel sich zum „Anwalt des christlichen Volkes“ aufwerfe und seine wissenschaftliche Untersuchung nach ihrem Nutzen für das einfache Kirchenvolk beurteilen wolle: „ Er also, dieser Zwischenträger zwischen Wissenschaft und Volk, der keinem von beiden Kreisen recht 253 angehört, er verwirrt das Volk, nicht ich.“ Später hat er diese Position als die eines praktischen Theologen gelten lassen. „Aber den Grundsatz, daß das Prakti254 sche den Maßstab der Wahrheit bilde, kann ich nicht anerkennen.“ Aus dem baltischen Raum äußert sich Christian August Berkholz (1805– 255 1889) sichtlich beeindruckt und sehr anerkennend, indem er bereits auch auf die Diskussion und Kahnis’ Antwort im „Zeugniß von den Grundwahrheiten“ ein256 257 geht. Gegen diese Einschätzung ergreift Wilhelm Carlblom (1820–1875) das Wort, indem er in seine Kritik auch bereits den ersten Gesprächsgang mit einbe250 Prof. Dr. Kahnis’ lutherische Dogmatik, Neues Zeitblatt für die Angelegenheiten der lutherischen Kirche, 1862 (Nr. 4f; 24. und 31. Januar), 25–35, Zitat dort 35. Die Besprechung selbst ist mit keiner eigenen Verfasserangabe versehen. 251 Ebd., 29. – „Mir genügt vorläufig der Standpunkt Abrahams, welcher nicht ansah seinen erstorbenen Leib, sondern die Verheißung Gottes. Mir ist die ganze Schrift göttlich, hab’ es Paulus oder Lucas geschrieben“ (ebd., 32). 252 „Das Wesen einer göttlichen Autorität, das wolle man sich nicht verbergen, beruht aber darin, daß sie immer noch etwas weiter als unsre Einsicht, Erfahrung und Machtbefugniß reicht. Ich kann sie vielleicht zum guten Theile als heilsam und göttlich erkennen, es bleibt aber immer noch ein nicht geringer Ueberschuß, welcher sich meiner Erkenntniß entzieht, mir vielleicht widersinnig erscheint, und dennoch Glaubensgehorsam verlangt“ (ebd., 29). Münkel setzt Gott und Schrift gleich und entzieht diese damit jeder historischen Kritik. 253 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 118; vgl. ebd., 98. „Ich rathe Pastor Münkel, das Freigericht, welches er unter seiner Dorfeiche aufgepflanzt hat, nicht zu einem Vehmgericht zu machen. Noch hat im deutschen Lande das Schwert des Geistes Schnitt und Klang!“ (ebd., 119). 254 Dogmatik II (1864), X. – Die Frage wäre, ob eine solche Einforderung der Anerkennung göttlicher Autorität wirklich praktisch und praktikabel ist. 255 Christian August Berkholz (21. Juli 1805 in Riga – 23. Februar 1889 in Riga), Konsistorialrat und Oberpastor in Riga. 256 Berkholz in: Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland 18 (1862). Vgl. Dogmatik II (1864), VII. 257 Wilhelm Gustav Johannes Carlblom (10. Dezember 1820 in St. Matthiä/Estland – 22. September 1875 in Moskau 1875), 1847 Pastor in Arzis, 1852 in Koddafer und Allatzkiwi/Livland, zugleich Oberkonsistorialrat im Petersburger Konsistorium, 1863 Generalsuperintendent von Moskau.
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zieht. Eindeutig ergreift er für die Kritiker Position, unbeschadet der Replik, die Kahnis in seiner Schrift „Zeugniß von den Grundwahrheiten“ vorgelegt hat. In seinen „Meditationen“ verwirft er Kahnis’ Kritik an der Bibel, seine Ausformung 258 der Trinitätslehre sowie seine Fassung der Abendmahlslehre. Kahnis registriert 259 diesen Angriff lediglich. 5.4.1 Ernst Wilhelm Hengstenberg und die rechte Haltung gegenüber der Schrift Im Bewusstsein, mit dem ersten Band seiner Dogmatik den Widerspruch Hengstenbergs herausgefordert zu haben, völlig überrascht jedoch von der Heftig260 261 keit seiner Reaktion, will Kahnis ihn Anfang Oktober 1861 in Berlin besuchen, trifft ihn aber zu seinem Bedauern nicht an. Daraufhin schreibt er ihm am 9. Dezember einen langen Brief, mit dem er sich in den Bruch der alten Freund262 schaft fügt. Auf sehr persönliche Weise bekennt sich Kahnis hier zu seiner Position, die er im Einzelnen erläutert und begründet. Er schildert seine intensive Beschäftigung gerade mit dem Alten Testament. Ausführlich geht er auch auf seine immer erneuten Bemühungen ein, Schwierigkeiten in den biblischen Texten, besonders zwischen Genesis 1 und 2, auszugleichen. „Was das Kritische betrifft, so ist […] eine wesentliche Veränderung in mir nicht vorgegangen.“ Nur, öffentlich habe er sich bisher darüber nicht geäußert, im vorliegenden Zusammenhang sei es 263 aber unausweichlich geworden. Er geht auf seine Entscheidungen ein, in der Gottheit Christi die Unterordnung des Sohnes unter den Vater zu betonen und
258 Carlblom: Meditationen eines lutherischen Pastors über „die lutherische Dogmatik, historischgenetisch dargestellt“ von Dr. K. F. A. Kahnis, DZTK 4 (1862) (Schriftlehre: 600–617, Trinitätslehre: 618–625, Abendmahlslehre: 625–632). Carlblom sieht sich zu dieser Wortmeldung veranlasst „durch den großen Applaus […], mit welchem dieses Buch, wie selten ein anderes auch an unserem baltischen Strande begrüßt worden ist“ (ebd., 599), erfährt aber selbst Widerspruch im eigenen Bereich (Kahnis: Dogmatik II [1864], VII). Carlblom fehlt jedes Verständnis für geschichtliches Denken; er weist einen solchen Ansatz zurück: „So profanirt mir Kahnis die heilige Geschichte und ihre Literatur“ (ebd., 605). 259 Dogmatik II (1864), VII. 260 „Nach dem, was ich von Wulkow aus höre, scheinen Sie unzufriedener zu sein als ich erwartete“ (Brief vom 9. Dezember 1861, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 22). 261 Der Besuch, den Kahnis im Anschluss an seine Teilnahme an der Konferenz der EvangelischLutherischen Kirche in Preußen vom 26. September bis zum 3. Oktober in Berlin Hengstenberg abzustatten versuchte, war vor allem als Kondolenzbesuch anlässlich des im September erfolgten Todes seiner Frau gedacht. 262 SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 22; Umfang: 12 Seiten. 263 „Es hat aber Schweigen u. Reden seine Zeit. Wenn ich nun auch die Bescheidenheit so weit treiben wollte, daß ich mich in diesem Punkte für gestört ansehen wollte, als moralement malade, so habe ich doch kein Recht die Vielen, welche meiner Meinung sind, ebenfalls für gestört anzusehen. Hier müssen ungeheure Schwierigkeiten sein. Bin ich nicht im Stande sie zu heben, so kann ich doch in einem Buche, das auf sie eingehen muß, sie aussprechen“ (ebd.).
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Luthers Auslegung der Abendmahlsworte zu revidieren, und erklärt: „Ich glaube nicht, daß gegen die Lehrresultate sich etwa Wesentliches sagen läßt.“ Seinen eigenen theologischen Ansatz macht er ausdrücklich geltend: Mir steht unerschütterlich fest, daß auf dem Grund der Deutschen Reformation die Entwickelung der Kirche für immer ruhen muß. Aber eben so fest steht, daß an dieser Entwickelung Fehler beseitigt werden müssen, die von Anfang in der deutschen Reformation lagen. Es sind deren zwei: Subjektivität und Doktrinalismus. Ich glaube nicht bloß in der Lehre von der Rechtfertigung, sondern auch in der Anerkennung ihrer grundlegenden Bedeutung intakt dazustehen. Ich muß mir aber sagen, daß die Reformatoren zu weit gingen, wenn sie das Ergreifen des Heils im Glauben (subjektives Heil) auf Kosten dessen, was man im Glauben ergreift (objektives Heil), d.h. Christi Person und Werk hervorhoben. Nur in der Einheit von beiden liegt der Mittelpunkt des Christenthums. Und nicht die Lehre von der Rechtfertigung, sondern der Thatsache der Rechtfertigung, d.h. das lebendige Verhältniß, die Gemeinschaft eines Gläubigen mit Gott ist die Hauptlehre im Christenthum. Diese organischen Fehler werfen sich nun auch in die Lehre von der Kirche hinein.
Seine beiden kritischen Punkte führt er dann im Einzelnen weiter aus. Schließlich zieht er das grundsätzliche Fazit: „Der eigentliche und letzte Zweck meines Buches ist aufzubauen. Die kritischen Concessionen sehe ich wie ein Schicksal an, das nicht abzuhalten ist.“ Allerdings leitet ihn bei all dem keineswegs die Hoffnung, den Adressaten überzeugen zu können, auch wenn er ihn lie264 bevoll behandelt. Vielmehr resigniert er: „Ich glaube, daß Sie die innersten und letzten Triebkräfte meines Lebens nicht recht verstehen.“ Ja, er zeichnet das Zerfallen ihrer Freundschaft in einen apokalyptischen Rahmen ein: „Das ist ein Jahr der Auflösung. Zuweilen habe ich Ahnungen.“ Er benennt weitere krisenhafte 265 Entwicklungen. Seiner Dogmatik verleiht er geradezu testamentarischen Charakter: „Und so glaube ich, daß in nicht allzu langer Zeit der Kampf eine ganz andere Wendung gewinnen wird. Es wird sich darum handeln, wer dem Wesen und wer dem Namen nach ein Kind Gottes ist. Und das weist auf das Ende hin.“ Privat sind die Würfel also gefallen, als die Auseinandersetzung öffentlich ausge266 tragen wird.
264 „Ich habe übrigens bei polemischen Partien möglichst Ihren Namen fern gehalten und dagegen geflissentlich hervorgehoben, wo ich mit Ihnen stimme, welches doch an vielen Punkten der Fall ist, auch da wo Sie einsam stehen z. B. Schilo, Gen 6., Engel Jehova’s, Bundesengel, dem von Doppelnamen Jes. 8[,3; 9,5]. u.s.w.“ (ebd.). Vgl. dazu Dogmatik I (1861), 258.448.399.390.348 (in der Reihenfolge der genannten Punkte). 265 „Überall sieht es jetzt ernst aus. Wie Sie in Berlin sind auch wir in Leipzig reducirt“ (ebd.). Er weist im Einzelnen auf die Entwicklungen in Leipzig hin. Vor allem stellt er fest: „Den durchgreifendsten Gegensatz enthält mein Buch gegen Hofmann“ (ebd.). 266 „Ich verstehe es vollkommen, daß Sie sich über Vieles in meinem Briefe öffentlich erklären. Ich werde, wo irgend möglich nichts dazu sagen. Sollte es aber nöthig sein, so werde ich es mit der Pietät und Ehrfurcht thun, die ich allezeit Ihnen hoffe bewiesen zu haben und welche ich wahre“ (ebd.).
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Hengstenberg widmet das Vorwort seiner „Evangelischen Kirchen-Zeitung“ zum neuen Jahrgang 1862 einer umfangreichen Besprechung des ersten Bandes der Dogmatik von Kahnis. Er sieht in ihr, wie er gleich zu Beginn feststellt, einen „Fall der Abweichung von der kirchlichen Bahn“. Er hält das Erscheinen dieses Buches für übereilt und unnötig, versucht erst gar keine Würdigung dieses Werkes, sondern konzentriert seine Radikalkritik auf einen einzigen Punkt: „Wir beschränken uns hier vorläufig nur auf die Angriffe gegen die formelle Grundlage der Kirche, auf die Versuche in dem heiligen Bannwalde der Schrift Holz zu fällen 267 und in ihm mit Beil und Barten zu hausen,“ d.h. die Frage der Echtheit der Au268 torenangaben zu den biblischen Büchern. Emphatisch weist er zurück, dass Kahnis viele biblischen Schriften in dieser Hinsicht als „unächt“ einstufe und sie damit einem „anonymen Betrüger“, „der Phantasie eines obscuren Fälschers“, „raffinirtem literarischen Betrug“ zuschreibe, wiewohl Hengstenberg sehr wohl registriert, dass solche Terminologie bei Kahnis gar nicht zu finden ist. Hengstenbergs eigene Deutung der Pseudepigraphie als Betrug führt ihn zu Folgerung, dass mit der „Aechtheit“ die „Glaubwürdigkeit und Inspiration heiliger Schriften“ an269 gezweifelt werde. Kahnis könne deshalb nur „unter dem die Klarheit des Auges 270 trübenden Einflusse des Zeitgeistes“ stehen, der sich über die göttliche Offenbarung erhebe. Die von Kahnis angeführten „Gründe“ lässt Hengstenberg nicht als 271 solche gelten. Dabei setzt er selbst unkritisch voraus, dass von einem literarischen Autor zu erwarten ist, dass er als geniales Individuum ein unverwechselbares Werk schafft, das seine persönliche Note trägt. Die Frage, ob solche moderne Sicht der Entstehungsgeschichte biblischer Bücher in einem oft langen Redaktionsprozess gerecht wird, kommt nicht in den Blick. Während er von seinem Gegenüber stichhaltige Gründe fordert, zieht er sich selbst auf eine geistliche Haltung zurück, die sich gerade diesem Maßstab entzieht. Bei der heiligen Schrift ruft uns das Zeugniß der gesammten christlichen Kirche zu: ‚Ziehe deine Schuhe aus, denn hier ist heiliges Land.’ Wenn wir dieser Aufforderung folgen und nicht dem Geschrei oder dem Geflüster derjenigen, welche für ihre innere Gottlosigkeit eine Beschönigung suchen, indem sie die Spuren Gottes 267 Hengstenberg: Vorwort, EKZ 70 (1862), 39. 268 Im Einzelnen trägt er zu meist kurzen, folgende biblische Bücher betreffende Äußerungen Kahnis’ eingehende Gegendarstellungen vor (in Klammern die Seite des ersten Bandes der Dogmatik, auf die Bezug genommen wird): 39–53: Dtn (277f); 53–57: Gen 1–2 (278–281); 58f: Ps (298); 59f: Cant (303); 60: Hi (306); 60f: Koh (309); 61: Dtjes (376–381); 61f: Dan (369); 62: Dtsach (359); 62: Evangelien (406–425); 62: I–II Tim, Tit (531); 63: Jak (533–536), IIPetr (521); Jud (545f); 63f: Apk (537–545). 269 Ebd., 38. 270 Ebd., 52. 271 „Dr. Kahnis hat auf dem Gebiete der Kritik eine fast naiv zu nennende Zuversicht, hat überall keine Ahnung von der Schlüpfrigkeit des Terrains, auf dem er sich bewegt, und wie schwer es hier ist feste und sichere Tritte zu thun um nicht zu straucheln, wie ein Lahmer“ (ebd., 44). – Zum Verfahren Hengstenbergs gehört, dass er zu einem rechten Verstehen die Beachtung von Literatur fordert, die von Kahnis bereits berücksichtigt und angeführt ist.
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aus der Geschichte tilgen, wenn wir der heiligen Schrift mit Ehrfurcht nahen, wenn wir im täglichen Herzensverkehre mit ihr stehen und dadurch ihr Wesen in Fleisch und Blut aufnehmen, so wird sich in uns nach und nach eine unerschütterliche Zuversicht ausbilden, der es leicht wird, auch die Dunkelheiten zu ehren im Blicke auf die unverkennbar göttlichen Klarheiten, welche überall bereit ist lieber an der eignen Einsicht zu zweifeln als an dem Worte Gottes, welche nicht gleich meint jeden Zweifel an die große Glocke schlagen zu müssen, sondern bescheidentlich der Zeit wartet, wo es ihr gelingt ihn zu überwinden.272
Indem Hengstenberg diese Haltung bei Kahnis vermisst, spricht er zugleich eine ungeheuerliche Unterstellung aus und immunisiert sich selbst gegen jede Kritik. Er zitiert zwar Sätze, in denen auch Kahnis eine geistliche Betrachtung der Schrift „mit Augen eines Glaubens […], der sich nicht an die menschliche Erscheinung hält, sondern an das göttliche Wesen,“ reklamiert, nimmt sie aber nicht ernst, 273 sondern meint, Kahnis habe sich hier „in das Gebiet der Phrase verirrt“. Der Boden der Sachlichkeit ist bei dieser Kritik offensichtlich verlassen. Hier spricht 274 sich eine offenbar tiefe persönliche Verletztheit aus. Kahnis reagiert darauf mit seiner Streitschrift „Zeugniß von den Grundwahrheiten des Protestantismus gegen Dr. Hengstenberg“ (1862), in der sich viele For275 mulierungen aus seinem Brief an ihn wieder finden. Er benennt dessen fragwürdige Grundüberzeugung: „Es ist für Dr. Hengstenberg platterdings unmöglich, sich zu denken, daß ein gläubiger Theologe über einzelne Bücher und Aussprüche 276 der Schrift Bedenken äußern könne. Wer es thut, ist für ihn ein Rationalist.“ Das führt ihn dazu, Bedeutung und Grenzen seines Gegenübers zu markieren. „Aber das ist ja gewiß, daß er in der großen Geschichte der Umkehr zum Kirchenglauben eine bedeutende Stelle einnimmt. Er ist der Mann der Restauration, der in einer anders gewordenen Zeit das Alte vertritt, aber, wie alle Männer der Restauration, unvermittelt und gewaltsam und doch im letzten Grunde von der Subjekti277 vität und Verständigkeit des Zeitalters tief berührt.“ Auf die Vorwürfe Hengstenbergs gegen sich antwortet Kahnis, indem er zunächst in Erwiderung gegen dessen Vorwurf, er selbst sei vom Glauben abgefallen, seine eigene innere Entwicklung nachzeichnet und seinen theologischen Ansatz ausführlich darlegt, der Festigkeit und Bewegung in sich vereine. Er bekennt: „Ich weiß wohl, daß die272 Ebd., 46. 273 Ebd., 64f. 274 Vgl. Schmalenbach: Ernst Wilhelm Hengstenberg III, 379–385. Schmalenbach konstatiert demgegenüber: „Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß Hengstenberg in der ausführlichen Widerlegung der von Kahnis gegen die heil. Schrift vorgebrachten Angriffe sehr scharf und nachdrücklich verfährt; aber es läßt sich ebenso wenig verkennen, daß es nur die Sache ist, welche Hengstenberg so ernst und nachdrücklich auftreten macht“ (ebd., 379). Freilich bleibt bei dieser Bewertung die Entgegnung Kahnis’ außerhalb des Gesichtskreises. 275 Vgl. etwa die Ausführungen zu Subjektivismus und Doktrinalismus: Zeugniß von den Grundwahrheiten, 131. 276 Ebd., 6. 277 Ebd., 6.
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ser Hinweis auf Fortarbeit im Werk der Reformation nicht Wenigen höchst unbequem ist. Wer aber keine Bewegung will, der muß überhaupt den Protestantismus 278 aufgeben.“ Während Hengstenberg seine Kritik an Kahnis auf exegetische Argumente beschränken zu können meinte und seine eigene Grundhaltung keiner kritischen Klärung unterzog, versichert sich Kahnis zunächst ausführlich seiner eigenen Grundanschauung, um sich danach in einem zweiten Teil dem Schriftverständnis 279 als solchem und den exegetischen Einzelfragen zuzuwenden. Hengstenbergs 280 Verfahren versucht er als „ein vollkommenes Cirkelverfahren“ zu erweisen: „Die Geschichte wird zum Echo, welches antworten muß, was Dr. Hengstenberg ihr 281 vorsagt.“ Er bezeichnet „die Stellung Dr. Hengstenberg’s zur Schrift“ als „wis282 283 senschaftlich unhaltbar“. Auch wenn er selbst kein Exeget vom Fach ist, scheut 284 er doch die Einzelauseinandersetzung über die von Hengstenberg angesprochenen Auslegungsfragen nicht. Für seine eigene Stellung zur Schrift und seinen Umgang mit ihr beruft Kahnis sich auf Theologen der Alten Kirche, welche die Kanonfragen durchaus diffe285 286 renziert diskutiert hätten, sowie auf Luther und die ihm folgende Tradition. 287 „Ich nun stehe ganz wie Luther und die alte Dogmatik.“ Ausdrücklich hebt er die bedeutenden Leistungen auch rationalistischer Theologen besonders auf den Gebieten der Grammatik, des Lexikographischen und des geschichtlichen Rah288 mens hervor und bekennt, „daß die rationalistische Schriftbetrachtung das 278 Ebd., 54. 279 1. Standpunkt (ebd., 1–55), 2. Schrift (ebd., 68–136). 280 Ebd., 88. 281 Ebd., 90. 282 Ebd., 109. 283 Kahnis äußert sich auch zu Fragen der Schriftauslegung äußerst souverän, obwohl er eingesteht: „Ich bin mir von Anfang bewußt gewesen, daß Anbau der exegetischen Theologie nicht die Aufgabe meines akademischen Lebens sein könne. Allein ich habe mir eben so bestimmt gesagt, daß Theologen[,] welche nicht unaufhörlich in der Schrift forschen, dieses Namens nicht würdig sind“ (ebd., 18). Demnach gelte: „Daß ich nicht die Uebung und Sachkenntniß eines alt- und neutestamentlichen Exegeten habe, versteht sich ganz von selbst“ (ebd., 19). Der Grund, weshalb er doch mehr als gewöhnlich üblich auf exegetische Fragen eingegangen sei, habe „seinen Grund in dem historischen Charakter meiner Dogmatik“ (ebd., 20). 284 Zu den beiden Schöpfungsberichte ebd., 93–100, zur Quellenscheidung im Pentateuch ebd., 100– 102, zum Deuteronomium ebd., 102–107, zu Sach 11,13 ebd., 119f.121–124, zum Dekalog ebd., 121. 285 Ebd., 79–81. 286 Ebd., 81–86. 287 Ebd., 84. Er fügt hinzu: „Nur im Urtheil über das Evangelium des Matthäus gehe ich weiter als die Alten“ (ebd.). 288 Ebd., 70–73. „Ein Rationalist, der einen klaren Blick hat, sieht Alles was in der Schrift zur Erscheinung gehört viel unbefangener, objektiver, feiner als ein Apologet an, der immer nur darauf sieht, was aus einer Stelle für Waffen gegen die Rationalisten genommen werden können, und ein bloß ascetischer Theologe, der jede Stelle darauf ansieht, wie sie erbaulich benutzt werden kann“ (ebd., 72f).
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Verständniß der Schrift wesentlich gefördert hat“ und dass „die gläubige und kirchliche Theologie in allen Punkten das Wahre, was der Rationalismus gefun289 den hat, in sich aufzunehmen“ habe. Seine eigene Position präzisiert Kahnis zugleich durch bestimmte Abgrenzungen. Kritisch geht er über die Reformatoren hinaus, indem er eine gebührende Beachtung der geschichtlichen Verankerung der einzelnen biblischen Bücher und 290 ihrer literarischen Besonderheit fordert. Er revidiert eine Entwicklung der lutherischen Theologie in ihrer klassischen Zeit: „Der Kardinalfehler der altorthodoxen Lehre der Schrift war, dass sie die Urkunde von der Offenbarung zur Offenbarung 291 selbst machte.“ Den Rationalisten kreidet er an, einseitig allein die menschliche 292 Seite berücksichtigt zu haben. Diese Einseitigkeit sei inzwischen überwunden. Die Autorität der Schrift als die „Urkunde der Heilsoffenbarung alten und 293 neuen Bundes“ und d.h. als „Wort Gottes“ in „historischer Entwickelung“ vertritt er, indem er einerseits zwischen dem Geschehen der Offenbarung und ihrer 294 Bezeugung unterscheidet und andererseits zwischen dem Wesentlichen, in dem Einheit gegeben sei, und dem Einzelnen, in dem Unterschiede, Widersprüche und 295 Fehler zu finden seien, unterscheidet. „Auch die Schrift hat Knechtsgestalt. Auch die Schrift will mit Augen eines Glaubens betrachtet sein, der sich nicht an 296 menschliche Erscheinungen hält, sondern an das göttliche Wesen.“ Und deshalb 297 sei sie „mit dem unserer Zeit zur Natur gewordenen kritischen Sinne“ zu lesen. So gewiß eine Offenbarung ohne Inhalt der über menschliches Wissen geht keine Offenbarung ist, so gewiß ist es ein Mißbrauch des Gehorsams, welchen göttliche Geheimnisse fordern, in Dingen dieser Art, über welche die Vernunft entscheiden kann, durch rabulistische Apologetik das Postulat: die Evangelien können keine Widersprüche enthalten, durchzuführen. Wenn es anmaßlich ist in Dingen dieser Art den Menschenverstand zu fragen, so ist es auch anmaßlich sie mit Gründen des Menschenverstandes zu vertheidigen.298
Zusammenfassend erklärt sich Kahnis schließlich: Seitdem ich auf dem Grunde stehe, auf welchem ich noch stehe, und so Gott hilft stehen werde, habe ich mir in Betreff der Schrift drei Stücke gesagt: 289 Ebd., 126. 290 „Sie bewiesen die Wahrheit aus dem Alten und aus dem Neuen Testamente, ohne zu bedenken, daß im Alten Testament Vieles, was das Neue lehrt, nur im Keime enthalten ist. Zu einer Untersuchung der einzelnen Schriften nach ihrer verschiedenen Stellung zur Heilsoffenbarung und somit ihrer verschiedenen Beweiskraft kam es nicht“ (ebd., 124). 291 Ebd., 126. 292 Ebd., 125f. 293 Ebd., 126. 294 Ebd., 126–131. 295 Vgl. etwa ebd., 74–76.85 296 Ebd., 77. 297 Ebd., 77. 298 Ebd., 76f.
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erstlich die Unhaltbarkeit der alten Inspirationslehre, zweitens bei der Ueberzeugung von der Aechtheit der Hauptschriften Alten und Neuen Testamentes das sowohl altkatholische als altlutherische Recht des freien Urtheils über die Authentie und das kanonische Ansehen einzelner Schriften, drittens die Thatsache, daß die Schrift, im Wesentlichen und Ganzen wahr, im Einzelnen bis jetzt ungelöste Differenzen enthält.299
Das Wesentliche aber ist für ihn keine abstrakte Größe, sondern die Begegnung mit dem lebendigen Christus: „Und auf den lebendigen Christus kommt es doch vor Allem an, und dann erst auf die evangelischen Urkunden von ihm, welche 300 gerade in der Schwäche ihrer Form auffordern sich an die Sache zu halten.“ Er wendet sich an seine Leserschaft: Ich bitte Euch, stellt Euren Glauben nicht auf die absolute Infallibilität des Schriftzeugnisses in allen Seitenpunkten. Ihr baut auf Sand und macht Euch auf eine unwürdige Weise von den Argumenten einer forcirten Restaurationstheologie abhängig, die der Luftzug Eines Tages wie Kartenhäuser wegblasen kann. Ergreift im Glauben den evangelischen Christus als den, der da lebt, und ich sage Euch, daß wenn Ihr ihn ergriffen habt, Ihr ruhig allen kritischen Processen zusehen könnt, welche zu führen das wahrlich nicht leichte Geschäft von uns armen Professoren ist.301
5.4.2 Hermann Gustav Hölemann und die Schriftlehre Bereits auf beide Veröffentlichungen Kahnis’, den ersten Band seiner Dogmatik sowie das „Zeugniß von den Grundwahrheiten“, reagiert sein Leipziger Kollege Hermann Gustav Hölemann mit einem Sendschreiben, das er seiner 1862 erscheinenden Bibelstudie „Die Einheit der beiden Schöpfungsbereichte Genesis I–II“ voranstellt. Hölemann wendet sich darin an Kahnis als an seinen verehrten Freund, den er betont mit dem vertrauten Du anspricht, um an ihn „die dringende Mahnung“ zur richten, „zu der rechten und folgerechten lutherischen […] Lehre 302 von der Inspiration der heil. Schriften […] einfach zurückzukehren“. Er zeigt sich „überrascht“ durch „die critische Stellung zu nicht wenigen Theilen der heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments, sowie durch die Art und Weise diesen 303 Standpunct zu begründen“. Er markiert damit genau den Punkt, an dem sie beide auseinander gehen. Während Kahnis einen kritischen Disput in der Theologie fordert, in dem einer299 Ebd., 112. 300 Ebd., 127. 301 Ebd., 136. – Vgl. die spätere Bezugnahme auf diese Auseinandersetzung mit Hengstenberg: Der innere Gang II (31874), 211f. 302 Hoelemann: Die Einheit der beiden Schöpfungsberichte Genesis I–II. Apologetische Bibelstudie mit einem Sendschreiben an Herrn Domherrn D. Kahnis (1862), Sendschreiben dort III–XXII, Zitat dort XX. 303 Ebd., III.
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seits eine distanzierte, sachliche Haltung eingenommen wird und andererseits einer auf die Denkweise des andern eingeht, lehnt Hölemann gegenüber dem göttlichen Wort jede kritische Betrachtungsweise ab und fordert hier, ihm zu Füssen sitzend andächtig zu lauschen und das Herz aufzuthun, worauf die heil. Wahrheit uns die thauigsten, duftigsten und süssesten Kelche ihrer Geheimnisse entgegenneigen und erschliessen wird. Wohingegen ein richterliches (‚critisches’) Gegenübersitzen ihrem wirklichen und wahren Verständnisse abstumpfende und verkümmernde Hindernisse aufrichtet, wenn sie dann nicht überhaupt sich ganz verschliesst.304
Eine Vermittlung zwischen der „critischen Partei“ und der „gläubigen Richtung“, 305 wie Kahnis sie anstrebt, ist für Hölemann schlechterdings undenkbar. Er veranschaulicht die Zugangsweisen mit Blick auf das Alte Testemant hinsichtlich der „mosaischen Einheit des Pentateuch“ in Auseinandersetzung mit 306 307 Friedrich Bleek (1793–1859) , auf den Kahnis sich besonders berufen hatte, und an einem neutestamentlichen Seitenstück, dem Gleichnis vom neuen Flicken auf dem alten Kleidungsstück (Mt 9,16; Mk 2,21; Lk 5,36), als Beispiel für die 308 synoptische Frage. Hölemann hält sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der Theologie eine nicht zweifelnde, sondern unbedingt vertrauende Ausgangshaltung für gewiesen und möglich. Wie ein erfolgreiches Studium der Natur „nicht mit Zweifeln daran beginnt noch endet, dass sie durch und durch zweckentsprechend und organisch sey“, so habe man „mit demselben principiellen Credo und gleicher Hingebung“ 309 auch das „geoffenbarte Wort Gottes zu behandeln“. Demgegenüber bekennt Kahnis sich zu der modernen wissenschaftlichen Methode, die auch die eigenen Voraussetzungen einer kritischen Prüfung unterzieht. Was Hölemann als Frage des Glaubens und der geistlichen Haltung angesprochen hat, entpuppt sich aufgrund seiner eigenen Darlegungen als eine Frage, wie sich Wirklichkeit erfassen 304 Ebd., VII, mit Bezug auf Zeugniß von den Grundwahrheiten, 133–135. Kahnis setzt dort voraus, dass es sich um einen Disput unter Theologen als Dienern der Kirche handelt. „Ein Theologe ist einerseits Mann des Kirchenglaubens, andererseits aber auch Mann der Wissenschaft. Die theologische Wissenschaft aber hat die Aufgabe Alles zu prüfen. Ich weiß aber nicht, wie man etwas prüfen kann, über welches man nicht im Gedanken sich erhebt. Das heißt nicht, daß man sich der Sache überhebt“ (ebd., 133). 305 Sendschreiben, XIII. 306 Friedrich Bleek (4. Juli 1793 in Ahrensbök bei Lübeck – 27. Februar 1859 in Bonn), 1823 ao. Professor in Berlin, 1829 o. Professor in Bonn, 1843 Konsistorialrat. 307 Ebd., VIII–XII, unter Bezug auf Zeugniß von den Grundwahrheiten, 4, wo Kahnis bekennt, mit Beeks Einleitung ins Alte Testament übereinzustimmen, obwohl sie auf die Entwicklung seiner eigenen Position ohne Einfluss gewesen sei, da sie erst posthum 1860 erschienen sei (vgl. Dogmatik II [1864], X). Hengstenberg hatte Kahnis empfohlen, von Beek zu lernen, während Hölemann ihm in seiner Kritik gerade Abhängigkeit von ihm vorwirft. 308 Sendschreiben, XVIII–XIX, mit Bezug auf Dogmatik I (1861), 410f, wo Kahnis feststellt, Lukas habe Matthäus „nicht immer glücklich“ benutzt. 309 Sendschreiben, XIV.
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lässt. Kahnis verleugnet mit seiner kritischen Frageweise ja keineswegs seinen festen Glauben an Gott. Und Hölemann kommt in seiner Argumentation auch gar nicht darum herum, sich mit der Schriftauslegung der „critischen Partei“ durchaus kritisch auseinanderzusetzen, d.h. mit philologischen und historischen Argumenten seine eigene Interpretation der Schrift zu verteidigen. Es verwundert nicht, dass Kahnis nach gründlicher, viermaliger (!) Lektüre des Sendschreibens „nur verstärkt zu der Ueberzeugung“ zurückkehrt, „daß wahr sei, 310 was ich ja nicht zuerst aufgestellt habe“. Er verzichtet ausdrücklich darauf, eine öffentliche Entgegnung vorzunehmen, und integriert seine Antwort zu den exege311 tischen Fragen in sein „System der Lutherischen Dogmatik“. Als Beobachter des Streits zwischen Kahnis und Hölemann hat Delitzsch beider Positionen an der Frage des Verhältnisses der beiden Schöpfungsberichte bewertet und seine eigene Stellung zwischen beiden bezogen. „Man kann beide Berichte verschiedenen Concipienten zuschreiben, ohne sie deshalb als unverträg312 liche Gegensätze anzusehen.“ Wendet sich der erste Teil dieses Satzes gegen 313 Hölemann, der „in forcirte harmonistische Annahmen“ verfalle, so der zweite Teil gegen Kahnis, der in „herausfordernder Kühnheit“ durchaus „haltbare Positi314 onen als unhaltbar preisgegeben“ habe. 5.4.3 Franz Delitzsch Franz Delitzsch nimmt Kahnis in dreifacher Weise, und zwar als „wissenschaftlichen“, „christlichen“ und „lutherischen Theologen“, in Anspruch, als er 1863, damals noch von Erlangen aus, mit einer ausdrücklichen Widmung an seinen „theuren Freund“, den er mit Du anredet, versehen seine Kritik an dessen Dogmatik unter Einbeziehung von dessen Verteidigungsschrift „Zeugniß von den 315 Grundwahrheiten des Protestantismus“ öffentlich vorträgt. Delitzsch fügt in einem Anhang eine Stellungnahme zu dem Sendschreiben an, das von Hölemann 316 zu Kahnis’ Dogmatik ausgegangen war. Die Anfragen an den wissenschaftlichen Theologen beziehen sich vor allem auf die Anlage und den Aufbau des Werkes. Sie bleiben zurückhaltend, da ja erst der erste Teil vorliegt und sich die Gesamtschau nur erahnen lässt. Bezeichnend ist jedoch, dass Delitzsch die Frage nach dem Umfang der Aufgabenstellung aufwirft, „ob die Dogmatik diesen Beweis für das Wesen und die Wahrheit des Christenthums aus der Vergleichung der Idee und der Wirklichkeit des Christenthums mit 310 Dogmatik II (1864), IX; vgl. Dogmatik2 I (1874), V. 311 Dogmatik III (1868), V. 312 Delitzsch: Für und wider Kahnis (1863), 29. 313 Ebd., 30. 314 Ebd., 1. 315 Ebd., 1–25 zum ersten Band der Dogmatik, 25–29 zur Verteidigungsschrift. – Vgl. dazu Wittenberg: Franz Delitzsch, 46–48; Wagner: Franz Delitzsch (21991), 80.123. 316 Delitzsch: Für und wider Kahnis., 29–32.
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dem Wesen und der Wahrheit der Religion an sich zu leisten habe“, den Kahnis bietet und für dessen Durchführung Delitzsch ihm durchaus seine „freudigste 317 Anerkennung“ zollt. Er erkennt, dass sich hier der persönliche Entwicklungsweg des Verfassers und dessen daraus resultierender theologischer Ansatz niederschlagen. Aber er sieht doch die Grenze der Thematik überschritten, „da die Dogmatik als eine durch und durch esoterische Wissenschaft ihren Zirkel, womit sie ihr Sys318 tem umreisst, in die Thatsache der Wiedergeburt einzusetzen hat“. Eine „Grenzverrückung“ sieht Delitzsch ebenso in der Einbeziehung der Biblischen Theologie, wenn er auch zugesteht, dass dieser Wissenschaftszweig derzeit noch nicht so ausgebildet sei, dass man einfach darauf verweisen könne. Daraus aber lasse sich kein Recht ableiten, die Biblische Theologie, „welche den langen Weg der heiligen Geschichte zurückzulegen und da das allmälige Werden der im Antlitze Jesu Christi wie in Mittagssonnenhöhe offenbar gewordenen Erkenntnis aufzuzeigen hat“, mit 319 der Dogmatik zu verschmelzen. Das hindert Delitzsch nicht, manche Passagen zu rühmen, in denen Kahnis sich als „Meister der Kunst“ zeige, „viel in wenig 320 Worten zu sagen und das Schöne zum Ausdruck des Wahren zu machen“. Die Kritik richtet sich darauf, dass selbständige theologische Disziplinen unter das Dach einer lutherischen Dogmatik gezwängt werden. Dem christlichen Theologen hält er seine Stellung zur heiligen Schrift, dem lutherischen seine Stellung zur Trinitäts- und Abendmahlslehre vor, bemüht, „die nach Beseitigung der wurmstichigen Balken übrigbleibenden feuerbeständigen 321 Bausteine in diesem Neubau der Dogmatik willig anzuerkennen“. In der Frage der Schriftauslegung stellt sich Delitzsch ausdrücklich hinter Kahnis, wenn er urteilt, „dass der Glaube an die Wahrheit und Heiligkeit und Herrlichkeit des Wortes Gottes mehr untergraben als gestützt wird, wenn man der menschlichen Beschaffenheit der Schrift nicht gleiches Recht widerfahren lässt wie 322 der göttlichen“. Er zählt die Grundsätze, die Kahnis für seine differenzierenden Abstufungen in der Schrift angibt, im Einzelnen auf und bestätigt sie seinerseits: 323 „Meine Ueberzeugung ist wesentlich dieselbe.“ Er tadelt aber, dass Kahnis in seinem kritischen Umgang mit den Texten zu unbekümmert vor- und zu weit 324 geht. Die Kritik biblischer Bücher wie des Hohenliedes, Koheleths, der Briefe 317 Ebd., 6. – „Der aller advocatischen Apologetik feinde Verf. bewährt sich nirgends so glücklich als rechten Apologeten wie auf diesem Gebiete, auf welchem sich das Christenthum mit dem Inhalte menschlicher συνείδησιϛ und menschlichen Sehnens zusammenschließt“ (ebd., 7). 318 Ebd., 6. 319 Ebd., 7f. 320 Ebd., 11. 321 Ebd., 1. 322 Ebd., An Kahnis (Widmung), nicht paginiert. 323 Ebd., S. 12f; Zitat ebd., 13. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Homologumena und Antilegomena im Neuen Testament reklamiert er für sich und andere den „Anspruch, auf dem reformatorischen Standpunkte beharren zu dürfen“ (ebd., 14). 324 Im grundsätzlichen Ansatz besteht Einigkeit: „Diese menschliche Seite der h. Schrift, welche von den Alten nicht gebührend gewürdigt worden, zur Anerkennung zu bringen, nicht um Aergerniss
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des Jakobus und Judas, des zweiten Petrusbriefes, des Hebräerbriefes und der Johannesapokalypse sei so negativ und herabsetzend, dass sie das kanonische An325 sehen dieser Schrift „gänzlich erschüttern“ werde. Seiner literarkritischen Behandlung des Deuteronomiums, Deuterojesajas, Daniels, Deuterosacharjas, der Elihureden im Hiobbuch fehle die nötige „weise Vorsicht, selbstzuversichtlose Be326 scheidenheit“. Kahnis sei „aus dem Extrem sklavischen Festhaltens an dem Ue327 berlieferten in das andere Extrem eines falschen Liberalismus verfallen“. Die emphatische Zurückweisung solcher von Kahnis getroffenen exegetischen Urteile, 328 die sich moralischer Wertungen bedient, weist freilich auf einen Mentalitätsun329 terschied hin. Kahnis öffnet sich kritischen Einsichten radikaler als sein Rezensent, der in einer Dogmatik „lauter Sätze erwartet, welche feststehen, wie die Son330 ne am Himmel,“ sich also einer „historisch-genetischen“ Betrachtung der Dogmatik letztlich doch verschließt. Im Übrigen haben sich in der exegetischen Diskussion dann weitgehend die von Kahnis eingenommenen Positionen durchgesetzt; lutherische Theologie wird also mit diesen Einsichten leben müssen. Den lutherischen Theologen lässt Delitzsch wissen: „Ich flüchte von Dir, dem nach Wahrheit ringenden, zu Dir, dem mit der Kirche in Einer Wahrheit lebenden, und beschwöre Dich: ringe weiter und versöhne den in Dir ausgebrochenen 331 Zwiespalt.“ Denn Delitzsch meint wahrnehmen zu müssen: „die gewonnenen Ergebnisse alteriren nicht blos die Schriftbegründung der genannten Dogmen, 332 sondern ihre Substanz selber“. Dies führt Delitzsch hinsichtlich der Trinitätslehre und der Abendmahlslehre aus, freilich wesentlich knapper als vorher seine Bedenken in der Schriftfrage. Delitzsch diagnostisiert bei Kahnis einen vornizäni333 schen Subordinatianismus und eine zwinglische Deutung der Einsetzungsworte, zu geben, sondern um Aergerniss zu beseitigen und zu verhüten, ist eine Aufgabe, welcher sich die neuere Theologie nicht entziehen kann, genug, dass sie dieselbe mit der ehrfürchtigen Scheu, welche die Heiligkeit des Gegenstandes fordert, und mit jener rücksichtsvollen Bescheidenheit erfülle, zu welcher uns das Bewusstsein unserer Fehlbarkeit und Kurzsicht verpflichtet“ (ebd., 32). Die Meinungsverschiedenheit bricht an der Frage auf, wo sachliche Kritik endet und falsche Apologetik beginnt. 325 Ebd., 14–17; Zitat ebd., 14. 326 Ebd., 18–20, Zitat ebd., 20. 327 Ebd., 18. 328 Statt sachlicher Argumente bedient Delitzsch sich solcher Wendungen wie „verdächtigt“, „anstößig“, „geringschätziges Urtheil“, „unehrliche exegetische Künste“, „kecke Skizzen“, „kritische Spinositäten“. Solche Wertungen stehen in merkwürdiger Spannung zum „Lob der Gründlichkeit“ und zu dem Eingeständnis, „Mangel an Sachkenntnis“ nur an wenigen Stellen feststellen zu können (ebd., 21). 329 Delitzsch weist daneben aber auch auf eine „so zu sagen conservative Seite des Werkes um so geflissentlicher“ hin (ebd., 22). Auch Kahnis’ Kritik ist nicht rein negativ, sondern hält an manchen traditionellen Auslegungen gegen alle Bestreitung fest. 330 Ebd., 20. 331 Ebd., An Kahnis (Widmung), nicht paginiert. 332 Ebd., 2. 333 Ebd., 22–24.24f.
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ohne auf die Problemortung und die dogmatischen Anliegen bei Kahnis einzuge334 hen, die zu einem Verstehen seiner Position unerlässlich sind. Die späteren dogmatischen Definitionen sind tatsächlich nicht unmittelbar an die neutestamentlichen Aussagen anschlussfähig. Diese beiden Seiten sind nur unter sorgfältiger Beachtung der hermeneutischen Implikationen miteinander zu verbinden. Kahnis hat dies deutlicher gesehen als Delitzsch. In der Verteidigungsschrift „Zeugniß von den Grundwahrheiten des Protestantismus“ spürt Delitzsch eine Gereizt- und Verletztheit des Verfassers, die ihn dazu geführt habe, durch dieses „Meisterstück polemischer Schlagfertigkeit“ seinen Gegner „mit allen Waffen kriegslistiger Benutzung ihrer Schwächen und höhnenden stiletartigen Witzes in leidenschaftlich feuriger Beredtsamkeit“ heimzuzah335 len. Kahnis habe sich nicht in seine Gegner hineinversetzt, sonst hätte er „auf einen allgemeinen Schrei des Entsetzens und der Verwunderung und innerhalb des eignen kirchlichen Lagers sogar auf den Vorwurf der Apostasie gefasst sein“ 336 müssen. Besser hätte er mit mehr Zurückhaltung in dem Sinne geantwortet, dass er sein Werk als „wissenschaftlichen Versuch“ verstehe und seine „individuellen Ansichten“ durchaus dem „Maasstab lutherischen Glaubens und Bekenntnis337 ses“ unterstelle. Sein Monitum gegenüber Kahnis trägt Delitzsch mit einem ins 338 Gebet mündenden geistlichen Gestus vor. Dieser kann durchaus sein eigenes Bedürfnis ausdrücken, sich gegen die von Kahnis aufgedeckte Problematik schützend abzuschirmen. Das Entsetzen und Verwundern ist ganz auf seiner Seite, weil er die hermeneutische Problematik, den Maßstab des Bekenntnisses unter der 339 historischen Perspektive anzuwenden, nicht annehmen will. Kahnis hat auch in diesem Fall reagiert, indem „ich dem Verf. meinen Dank sage“, besonders dafür, dass er „ernste Studien, ein berechtigtes Streben im Ganzen“ und „beachtenswerthe Resulate im Einzelnen“ anerkannt, „da aber wo er
334 Immerhin weist Delitzsch darauf hin, dass Kahnis sich nicht etwa von spekulativen oder rationalistischen Gründen habe leiten lassen, sondern von „Aussagen der Schrift selbst“ (ebd., 28). Eine Änderung der Substanz der Lehraussagen liege also gar nicht in seiner Absicht, vielmehr eine angemessene Auslegung der zugrunde liegenden Schriftstellen. Es sei ihm „nicht um Discreditirung des lutherischen Dogma’s zu thun, sondern um dessen Rettung“ (ebd., 29). Allerdings hält Delitzsch eine solche Rettung gar nicht für erforderlich, weil er deren Voraussetzung nicht mitvollzieht. 335 Ebd., 26. 336 Ebd., 26. 337 Ebd., 26. 338 Ebd., 27–29. Vgl. dazu Wittenberg: Delitzsch, 47f. 339 Es verdient Beachtung, dass Delitzsch seine Schrift auch der Zeitschrift als Anlage beigibt, die er selbst herausgibt und die in ihrem Rezensionsteil eine sehr viel schroffere Kritik bringt; offensichtlich will er dieses Urteil nicht allein stehen lassen, das „Recht und Pflicht, gegen diese Dogmatik, als ob es ‚die lutherische Dogmatik’ sei, ernstlich zu protestiren,“ beansprucht (ZLThK 24 [1863], 756–785, dort 757). Der Verfasser, der Kahnis so versteht, dass er ohne alle Schriftgrundlage das Gemeindebewusstsein zur Quelle seiner Dogmatik machen wolle, verbirgt sich unter dem Kürzel A.
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widersprechen muß, es mit der Liebe thut“, und auf eine direkte Entgegnung 341 verzichtet. Eine Zusammenarbeit zwischen beiden lutherischen Theologen wird durch die Differenzen in keiner Weise behindert. Bezeichnend ist, dass Delitzsch am Sarge Kahnis’ bekennt: „Wer weiß, ob ich heute an diesem Sarge stände, wenn der starke Magnet seiner Liebe nicht mitgeholfen hätte, mich nach 21jähriger 342 Ferne hierher nach Leipzig zurückzuziehen.“ 5.4.4 August Wilhelm Dieckhoff und der historisch-genetische Ansatz der Dogmatik August Wilhelm Dieckhoff geht in einer ungewöhnlich umfangreichen (160 Seiten) Besprechung des ersten Bandes der Dogmatik mit Kahnis scharf ins Gericht: „In diesem Buche vollzieht Dr. Kahnis seinen freilich schon früher (‚der innere Gang des deutschen Protestantismus’ 2. Aufl. 1860) deutlich genug angekündigten Ab343 fall von der Wahrheit des lutherischen Bekenntnisses.“ Kahnis habe „kein Recht mehr, seine Dogmatik als lutherische, gar als die lutherische, und sich selbst als 344 lutherischen Theologen zu bezeichnen.“ Dieckhoff begründet sein hartes Urteil mit einer fundamentalen Kritik an dem Verfahren, eine Dogmatik überhaupt „historisch-genetisch“ darzustellen. „Der ecyklopädische Unterschied zwischen den einzelnen theologischen Disciplinen ist kein zufälliger“, und „der encyklopädische Fehler“ bei Kahnis liegt für den Rezensenten bereits darin, dass er die historisch arbeitenden (biblische Theologie, Dog345 mengeschichte) „Disciplinen zu Abschnitten der Dogmatik macht.“ „In der Dogmatik soll sich der Glaube der Kirche wahr erweisen unmittelbar auf dem Grunde der Schrift und nicht etwa als kirchlich gewordener oder kirchlich festgestellter poniren“; der bestimmte Inhalt des Glaubens „ist in der Dogmatik eben nicht geschichtlich, sondern an sich zur Darstellung zu bringen […], rein und an 346 sich auf dem Grunde der Schrift.“ Die Wahrheit des Glaubens ist damit der Geschichte entzogen, obwohl sie doch unbestreitbar innerhalb der Geschichte geschehen ist und an der Geschichte teilhat. „Was sicher gewordener Besitz der Wahrheit des Glaubens ist, muß sich als solcher darlegen und erweisen lassen 347 ohne Rücksicht auf die Arbeit und Geschichte des Suchens und Findens.“ Die 340 Dogmatik II (1864), VIII–IX. 341 Dogmatik III (1868), V. 342 Worte der Erinnerung und des Trostes (1888), 33–35, dort 34. (zitiert bei Winter: Kahnis, 38). – Kahnis hatte schon in seiner Zeit in Halle den Kontakt zu Delitzsch aufgenommen und ihn besucht. 343 Theologische Zeitschrift, hg. v. A.W. Dieckhoff u. Th. Kliefoth, 2 (1861); 3 (1862); Zitat dort 2, 901. 344 Ebd., 2,905. 345 Ebd., 2, 916. 346 Ebd., 2, 919. 347 Ebd., 2, 920.
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offenbarte, aber offenbar dennoch geschichtslose Wahrheit sieht Dieckhoff freilich in der Geschichte umkämpft. „Der Fortschritt in der Lehrbestimmtheit wird im Kampfe für die festzuhaltende, offenbarungsmäßig gegebene Wahrheit gewonnen mitten in einer vom Streit der Gegensätze einer verwirrten und zerrütteten 348 Zeit.“ Historische Kritik konsequent auf die heilige Schrift anzuwenden, wie es Kahnis unternimmt, gilt Dieckhoff als Sakrileg. „Es gehört zu den hervorstechendsten Eigenthümlichkeiten der Theologie des Dr. Kahnis, daß er sich in einem Umfange und mit einer Leichtigkeit die Resultate der negativen Kritik des Kanons und sei349 ner Bestandteile angeeignet hat, daß jeder feste Halt verloren gegangen ist.“ „Das ist klar, daß die Inspiration der Schrift als solche gänzlich aufgehoben und verneint ist, sobald das außerordentliche, wunderbare Thun Gottes auf die Offenbarung im Unterschiede von der Darstellung derselben in Schrift eingeschränkt wird, wenn man dann doch noch thut, als habe man die Inspiration der heil. 350 Schrift irgendwie festgehalten.“ Es müsse nach Dieckhoff darum gehen, „den 351 objectiven Lehrinhalt in der Schrift zu finden.“ Damit schiebt er die geschichtliche Dimension nicht nur hinsichtlich der Bibel beiseite, sondern auch im Blick auf die Geschichte der Kirche. Die dogmenbildende Thätigkeit muß nach der Nothwendigkeit des gläubigen Denkens auch das, was implicite im Wort der heil. Schrift liegt, zur Abwehr falscher, dem Sinne des Worts widersprechender und diesen Sinn verkehrender Gedanken zum bestimmten Bewußtsein erheben und zugleich die einzelnen Momente der Wahrheit, wie sie die Schrift giebt, unter den durch die Schrift dargebotenen Einheitspunkten zusammenfassen, und durch das Alles wird es bedingt, daß der Kreis des gläubigen Erkennens, wie es sich im kirchlichen Dogma ausprägt, über das durch die Schrift unmittelbar Gegebene hinaus erweitert wird.352
Dessen unbeschadet „bleibt doch für die Dogmatik trotz jenes Verhältnisses zwischen Dogma und Schrift das Gesetz in Kraft, daß der im Dogma erfaßte Inhalt 353 kein anderer als der durch die Schrift gegebene sein darf“. Damit wird freilich die kritische Funktion der Schrift gegenüber der kirchliche Lehre paralysiert. Denn Dieckhoff will verhindern, dass die biblische Theologie gegen das kirchliche Dogma ausgespielt wird. „Denn das ist gerade die Bedeutung des durch die Arbeit der Kirche gewonnenen Schriftverständnisses und der darauf beruhenden kirchli348 Ebd., 2, 920. 349 Ebd., 3, 124. Kahnis’ Kritik an Dieckhoff, er halte die Inspirationslehre in der „Schwebe“ (Dogmatik I [1861], 666), nimmt dieser polemisch auf (Theologische Zeitschrift 3, 135), ohne seine eigenen Zugeständnisse an eine geschichtliche Betrachtung – er nimmt „ein Ineinander des außerordentlich Wirkens des Heil. Geistes und der Selbstthätigkeit der heil. Schriftsteller“ (ebd., 3, 148) an – zu plausibilisieren. 350 Ebd., 3, 139. 351 Ebd., 3, 148. 352 Ebd., 3, 271. 353 Ebd., 3, 272.
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chen Lehre, daß durch dieselbe der rechte Sinn und Zusammenhang des Schriftworts gegen exegetische Willkühr und gegen Einlegen aus fremden Systemen ge354 schützter ist.“ Indem die kirchliche Lehre auf diese Weise die Schrift schützt, schützt sie sich selbst vor Kritik durch die Schrift. Nach dieser Fundamentalkritik benennt Dieckhoff die einzelnen Punkte, an denen Kahnis seiner Meinung nach von der lutherischen Lehre abweicht, nämlich die Erbsündenlehre, die Christologie (Kenosis und Wesenssubordinatianismus) und seine Deutung der Abendmahlsworte. Diese Ausführungen bedürfen in diesem Zusammenhang keiner näheren Betrachtung, weil sie ganz offensichtlich die Positionen von Kahnis nicht wirklich treffen. Indem sie diese als semipelagianisch, calvinistisch, rationalistisch oder schleiermacherisch etikettieren, obwohl Kahnis seine Differenz gegenüber diesen Richtungen eindeutig definiert hat, wird sein Anliegen nicht gewürdigt. Kahnis reagiert auf diesen Angriff, indem er sich in polemisch spitzer Weise wehrt, sein Verfahren verteidigt, indem er die Interpretation zurückweist, die 355 Dieckhoff seiner Kritik zugrundelegt. Dabei bezieht sich Kahnis allein auf den ersten Teil der Rezension, der bereits 1861 erschienen ist. Dieckhoff antwortet auf diese Replik Kahnis’ bereits in einer Nachbemerkung zu seiner Besprechung: „Die Ausbrüche, die darin auch gegen mich enthalten sind, sind der Art, daß der An356 stand jedes Eingehen auf dieselben verbietet.“ Wie er meint, „war es nur die mit dem Selbsterhaltungstriebe der kirchlichen Theologie geforderte Pflicht, die gänzliche Hohlheit und Dürftigkeit desselben auch in wissenschaftlicher Beziehung 357 nachzuweisen, und war es berechtigt, das mit aller Strenge zu thun.“ Kahnis führt diesen Schlagabtausch nicht fort, indem seine Replik auf den vollen Umfang der Rezension ausdehnen würde; denn er empfindet den Ton seines Gegenübers 358 „so unwürdig als ungeschickt“. In der angespannten und aufgeregten Atmosphäre fehlt offenbar die Ruhe, den offensichtlichen Paradigmenwechsel zu einer konsequent geschichtlichen Betrachtungsweise näher zu beschreiben und zu analysieren, sowie ihn umfassender theologisch zu verarbeiten. Auch in einer Besprechung, die ohne Verfasserangabe in der „Zeitschrift für Protestantismus und Kirche“ erscheint, wird „die thatsächliche Unzureichenheit 359 und Unhaltbarkeit der eingeschlagenen Methode“ beklagt. Kahnis’ geschichtliche Betrachtungsweise wird hier mit einer rein innergeschichtlichen gleichgesetzt. „Nicht die natürliche Wahrheitsliebe reicht dazu aus, des auf allen Punkten den natürlichen Zusammenhang der Dinge durchbrechendes Ganges der göttlichen 354 Ebd., 3, 272. 355 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 55–64. 356 Theologische Zeitschrift 3, 337–340, Zitat dort 337. 357 Ebd., 339. 358 Dogmatik II (1864), VII. 359 Anonymus: Kahnis, die lutherische Dogmatik historisch-genetisch dargestellt, I. Bd., Leipzig 1861, ZPK NS 43 (1862), 157.
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Offenbarung gewiß zu werden, sondern wer in der Felskluft des Glaubens steht, an dem zieht die Herrlichkeit des Herrn vorüber und läßt sich von ihm anbetend 360 ansehen.“ Nicht im theologischen Ansatz, sondern als zufällige Bemerkungen werden Kahnis’ Aussagen zu der göttlichen Dimension der geschichtlichen Offenbarung verortet. „Dr. Kahnis müßte aller christlichen Erkenntniß baar sein, wenn nicht das Bewußtsein davon da und dort in seiner Dogmatik aufgetaucht wäre: daß er aber jenem Bewußtsein keinerlei wissenschaftliche Folge gegeben hat, das 361 ist einer der Grundschäden seines Buches.“ Eine solche Interpretation führt zu einer billigen Kritik: „Wir verwerfen jede Kritik der Schrift, bei welcher der Kritiker künstlich oder wirklich den Standpunkt des christlichen Bewußtseins zu Guns362 ten des natürlichen verläugnet.“ Diese Scheinalternative, da der Schreiber selbst 363 doch die menschlich-geschichtliche Seite nicht bestreiten kann, macht den eigenen kritischen Anspruch des Rezensenten zum reinen Postulat; denn es bleibt offen, ob dieser den exegetischen und historischen Nachweis überhaupt verändert: „Bei diesem Geiste der Kritik, dessen sich die christliche Theologie nicht zu schämen braucht, weil er aus dem Geiste der Wahrheit stammt, nicht aber aus der ‚Wahrheitsliebe’ des natürlichen Menschen, wird es zu andern Resultaten kom364 men, als bei Dr. Kahnis.“ Zu dieser Besprechung seines Buches bemerkt Kahnis: Jener Erlanger Theologe sieht „aus der Höhe seines schriftgelehrten status securitatis mitleidig auf meine Verirrungen herab. Sie sind leicht fertig geworden diese Epigonen, die den Konfessionalismus nicht errungen, sondern als eine sichere Ueberlieferung über365 kommen haben“. Auch in diesem Fall tritt Kahnis nicht in einen fundamentaltheologischen Diskurs über Offenbarung und Geschichte ein, wie er nötig gewesen wäre und vielleicht der weiterführenden Klärung hätte dienen können. 5.4.5 Carl Schwarz und der konfessionell-lutherische Anspruch Von liberaler Position aus wirft Carl Schwarz Kahnis vor, er verfolge seinen Weg nicht konsequent genug. Die für Kahnis den lutherischen Ansatz weiter führenden Positionen wertet auch er als Abfall vom Luthertum, das er auf seine historisch ausgeformte Gestalt festlegt. Ein Festhalten an nur einem Teil der traditionellen 360 Ebd., 160. – Eine unmittelbare Schau der Herrlichkeit des Herrn im Glauben, wie sie hier suggeriert wird, ist durch die angesprochene Erzählung Ex 33,18–23 gerade nicht gedeckt; denn dort verhindert „die Hand“ des Herrn solche unmittelbare Schau, Mose darf nachher, also in geschichtlicher Gebrochenheit aus zeitlichem und räumlichem Abstand, hinter dem Herrn hersehen, mehr nicht. 361 Ebd., 160. 362 Ebd., 166. 363 „Es fällt uns nicht ein, jeden Zweifel und jedes kritische Verfahren gegenüber dem traditionellen Kanon der h. Schrift von vornherein im Namen des Glaubens ausschließen und verpönen zu wollen“ (ebd., 166). 364 Ebd., 166. 365 Dogmatik II (1864), IX.
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Lehren erscheint ihm willkürlich. Er hält es für wahrscheinlich, „daß dieser Abfall vom Lutherthum nichts andres als ein Rückfall zu haltungslosem Eklekticismus, zu einer neuen Auflage zerfahrener, schillernder und gaukelnder Tholuck’scher 366 Theologie ist.“ Nur in dem Sinn hält er ein wirkliches Fortschreiten für möglich, dass eine „Vollendung und Erfüllung der tiefsten Subjectivität“ angestrebt wird, nicht eine in bestimmte Lehren gefasste Objektivität, sondern der „Gewissensglauben, welcher das gewaltig treibende Princip der Reformation war und der 367 nach einem klaren, neu geschaffenen, lebendig-gegenwärtigen Ausdruck ringt“. Auch wenn Kahnis diese Programmatik nicht erfüllt, bleibe es immerhin eine sehr beachtenswerthe Erscheinung, daß ein Mann von Geist und Leben – und ein solcher ist unzweifelhaft Herr Dr. Kahnis – nicht auszuhalten vermag in dem engen Käfig des Confessionalismus, daß wer einmal die geistige Luft der Gegenwart geathmet und noch so viel gesunden Wahrheitssein in der Brust trägt wie er, die vergitterten Fenster des Kerkers weit aufthut, um sich an freierer Wissenschaft zu laben, daß es mit Einem Wort einen wahrhaften und lebensvollen Menschen unserer Zeit eine moralische Unmöglichkeit ist, rechtgläubig zu sein, und daß daher nur noch ein verworrener Kopf, wie Herr Diekhoff, ein vollendeter Pedant, wie Herr Philippi, oder ein völlig Verhärteter, wie Herr Hengstenberg, auf diese Ehre Anspruch machen können!368
Schwarz geht auf seine Weise also auch von einer Unvereinbarkeit der historischkritischen Positionen, die Kahnis aufnimmt, mit einem authentischen Luthertum aus. „Die Schranken der Rechtgläubigkeit“ habe Kahnis gerade „durch rationalisierende Kritik des Kanon, durch Untergrabung des formalen Princips der 369 Schriftautorität“ durchbrochen. Nur teilt er dessen geschichtskritischen Ansatz, hält diesen aber allein mit völlig ungebundener Gewissensfreiheit für vereinbar, 370 sieht reines Fortschreiten ohne Festhalten am Sachgehalt des Bekenntnisses als die einzige Möglichkeit an.
366 Schwarz: Zur Geschichte der neuesten Theologie (41869), 312–320, dort 317. – Vorher hat Schwarz über den Werdegang von Kahnis berichtet und besonders über sein Verhältnis zu Tholuck und Leo sowie über seinen Streit mit Ruge in Halle (ebd., 313). 367 Ebd., 319. 368 Ebd., 320. 369 Ebd., 312f. 370 Schwarz führt Kahnis’ Anschluss an die „schlesischen Sektirer“ auf eine „ihm eigene Anlage zur Schwärmerei“ zurück (ebd., 313). „Indessen dauerte dies orthodoxe Rumoren bei dem durch und durch subjectiven, unruhigen und von allen Zeitregungen mit berührten Sinn des eingebildeten Altlutheraners nicht lange. Früher schon waren bedenkliche Anzeigen von Ketzereien aller Art hervorgetreten“ (ebd., 314). „So konnte denn niemandem, der ‚den innern Gang des deutschen Protestantismus’ mit Aufmerksamkeit gelesen, die Dogmatik von Kahnis (1861, 1. Theil) in ihren an allen Punkten vor der neuern Kritik zurückweichenden Concessionen, in ihrer völligen Glaubensdurchlöcherung, eine Ueberraschung bereiten und nur seinen eigenen Freunden war es vorbehalten, über den Abfall des einstigen Genossen in wundersamen Schrecken zu gerathen und dieser Enttäuschung den stärksten Zornesausdruck zu geben“ (ebd., 315).
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Kahnis ist auf diese Interpretation seines theologischen Weges und auf die These der Unvereinbarkeit lutherischen Bekenntnisbewusstseins mit neueren geis371 tesgeschichtlichen Gegebenheiten nicht eingegangen. Vielmehr hat er weiterhin sein Luthertum konsequent verteidigt und auch die zweite Auflage seiner Dogma372 tik ganz bewusst und dezidiert eine „lutherische“ genannt. 5.4.6 Adolf Stählin und die Konfessionsfrage Das Erscheinen der Monographie „Christenthum und Lutherthum“ (1871), das zwischen die erste (1861–1868) und zweite Auflage (1874–1875) der Dogmatik 373 fällt, veranlasst Adolf Stählin (1823–1897) zu einer ausführlichen Besprechung in einer Artikelfolge mit einer umfassenden Würdigung der theologischen Position 374 von Kahnis, wobei er auch dessen frühere Veröffentlichungen einbezieht. Sein Anliegen ist, gegenüber Kahnis’ kritischen Anfragen und seinen Versuchen, die exegetische Begründung zu verändern, in leidenschaftlicher Verteidigung Luther und den Bekenntnissen Recht zu geben. Auf der exegetischen Arbeit beruhende Schrifttheologie und Lehre des lutherischen Bekenntnisses sind für ihn zwei Größen, die sich gegenseitig entsprechen. „Die Kraft des Lutherthums ist die Wahr375 heit, der Gehorsam gegen das Wort göttlicher Offenbarung.“ Was Stählin zu Kahnis’ Abendmahlslehre bemerkt, gilt wohl grundsätzlich: Dessen Ansinnen, „die Substanz der lutherischen Lehre“ auf neue exegetische Weise zu begründen, sieht er selbst als unmöglich an, da für ihn Kirchenlehre und Schriftbegründung aufs engste zusammenhängen: „Uns fällt allerdings beides thatsächlich zusammen, 376 Kahnis – und dies müssen wir beachten – glaubt beides trennen zu können.“ Auf die Fragestellungen, von denen Kahnis sich leiten lässt, geht Stählin nicht ein, sondern nimmt lediglich einen Abgleich mit den als genuin lutherisch angesehenen Lehrpositionen vor.
371 Adolf Hilgenfeld (2. Juni 1823 in Stappenbeck bei Salzwedel – 12. Januar 1907 in Jena), 1850 ao. Professor, 1869 Honorarprofessor in Jena, urteilt sogar, Kahnis habe „eine halbrationalistische Dogmatik angefangen“ (Die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, 37). 372 Dass Kahnis das Adjektiv in der ersten Auflage groß schreibt („Die Lutherische Dogmatik“), in der zweiten aber klein („Die lutherische Dogmatik“) wird man nicht als Abschwächung verstehen dürfen. Das Vorwort zum ersten Band der zweiten Auflage beginnt mit dem Satz: „Diese Dogmatik will, wir ihr Titel sagt, die Glaubenslehren der lutherischen Konfession historisch-genetisch darstellen“ (III). 373 Adolf (von) Stählin (27. Oktober 1823 in Schähingen bei Nördlingen – 4. Mai 1897 in München), 1840 Studium in Erlangen bei Harleß, Hofmann und Thomasius, Studienfreund von Ernst Luthardt, 1844 Examen in Ansbach, 1856 Pfarrer in Tauberscheckenbach, 1864 1. Pfarrer in Nördlingen, 1866 Konsistorialrat in Ansbach, 1879 Oberkonsistorialrat in München, 1883 Präsident des Oberkonsistoriums, 1895 Vorsitzender des Missionskollegiums in Leipzig. 374 Stählin: Die Theologie des Dr. Kahnis. 375 Ebd., 681. 376 Ebd., 97.
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Da, wo Kahnis eine Fortentwicklung meint markieren zu können, sieht Stählin bei ihm vor allem einseitig überzeichnende Interpretationen der traditionellen Texte, die mit spitzfindigen und nicht wirklich haltbaren Unterscheidungen und Überlegungen verbunden sind. „Wir möchten überhaupt bemerken, dass wir uns nicht erklären gegen das zusammenfassende Resultat, in welchem Kahnis wesentlich mit dem lutherischen Bekenntnisse stimmt, sondern gegen den Weg, auf welchem er zu demselben gelangt; dieser scheint uns allerdings nicht der richtige, scheint uns in mehrfacher Beziehung ein etwas unsicherer zu seyn,“ lautet etwa 377 das Fazit aus der Erörterung seiner Tauflehre. Ebenso urteilt er hinsichtlich der Abendmahlslehre: „Wir müssen nun zuvörderst sagen, dass Kahnis wirklich im 378 Resultat die lutherische Lehrsubstanz festhält oder ihr doch sehr nahe kommt.“ „Allein wir müssen ebenso bestimmt behaupten, dass […] es Herrn Professor Kahnis nicht gelungen ist, uns zu zeigen, dass er auf dem von ihm betretenen Wege 379 wirklich zu diesem Resultate gelangen könne.“ „Kahnis’ Lehre ist ein höchst bedeutsamer, aber nicht gelungener Versuch, die lutherische Abendmahlslehre fest zu halten ohne ihre exegetische Basis, und mittelbar deshalb auch eine Rechtferti380 gung dieser.“ Zur Fassung der Trinitätslehre bei Kahnis äußert er den Eindruck; „dass von diesem I. Theile der Dogmatik durch den dritten hindurch bis zu unserem Buche eine fortschreitende Annäherung an die kirchlichen Bestimmungen 381 sich findet, wenn auch Kahnis’ Grundanschauung die gleiche geblieben ist.“ Zwar erkennt er an, „dass nach dieser Seite Kirchen- und Schriftlehre sich nicht vollkommen decken“ und dass Kahnis „diesen vielfach gefühlten Mangel mit anerkennenswerther Offenheit“ markiert habe, möchte aber „bezweifeln, dass er jetzt den völlig richtigen Ausdruck gefunden habe“, unbeschadet seiner „treffendsten 382 biblisch-theologischen Erörterungen“. Hinsichtlich der Ekklesiologie urteilt Stählin: „Wir leugnen nicht, dass Kahnis in all seinen Ausführungen etwas durchaus Richtiges verfolgt, von der Idee der Kirche eine falsche Enge und Exclusivität fernzuhalten und ihr den ökumenischen Charakter bewahren will. Wir glauben aber, dass das Wahre in dieser Anschauung auch von dem symbolischen Kirchen383 begriff festgehalten werden kann“, hier also keine theologische Neuformulierung erforderlich ist. Zur konfessionellen Frage im ökumenischen Horizont äußert er: Zwar vertritt Kahnis „das Recht der Confession in so ernster, entschiedener und 377 Ebd., 293. 378 Ebd., 484. 379 Ebd., 486. 380 Ebd., 496. Zu Luthers philologischem Verständnis der Abendmahlsworte stellt er fest: „Wir sind tief mit Luther davon durchdrungen, dass diese Worte noch feststehen und dass an ihnen, im lutherischen Sinne gefasst, viel, für die fragliche Lehre, die auch Kahnis festhalten will, Alles hängt“ (ebd., 512). Deshalb isoliert er Kahnis in seinem Bemühen innerhalb der theologischen Diskussion seiner Zeit. 381 Ebd., 660. 382 Ebd., 660f. Immerhin gesteht er zu: „Wir stehen erst inmitten dieses Prozesses einer Revision; entziehen können wir uns demselben nicht“ (ebd., 661f). 383 Ebd., 672.
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doch maassvoller, wahrhaft ökumenischer Weise, dass wir Kahnis hierfür nur zum 384 innigsten Danke verpflichtet sind.“ „Aber allerdings ist, wie uns scheint, die Bestimmung des Verhältnisses der lutherischen Kirche zu den andern Kirchenge385 meinschaften nicht immer ein richtiges.“ Ihre „centrale Stellung unter den Con386 fessionen“ komme nicht genügend zur Geltung. Das bedeutet aber doch, dass Stählin das Gewicht des geschichtlichen Wandels erheblich niedriger ansetzt als Kahnis und damit dessen Grundannahme für im Wesentlichen unbegründet hält. Zwar ist auch ihm gewiss, dass „das Bekenntniss auf allen Punkten bei aller Anerkenntniss seiner Schriftgemässheit in seiner eigentlichen Substanz doch auch als der Fortbildung eben so fähig wie bedürftig 387 bezeichnet werden muss“. Tatsächlich aber geht er nicht von einer geschichtlichen Prozessualität aus, sondern hält es für ebenso gewiss, dass die Reformation 388 den urchristlichen, altkatholischen Glauben nur gereinigt wiederhergestellt habe und der neu erwachte lutherische Konfessionalismus wieder vor der Aufgabe stehe, sich vor der Neubelebung von „Sünden und Unarten der alten Orthodoxie“ zu 389 hüten, also zur reinen Form zurückzukehren. Ganz eindeutig überwiegt bei Stählin der Nachdruck, den er auf „Festhalten“, „Continuität“, „Festigkeit im Be390 harren“ und „Bewahren“ legt. Unter „Fortentwicklung“ versteht er eine „Fortpflanzung“, welche die weiterhin bestehende Lebendigkeit des Überlieferten er391 weist, nicht den fortwährenden prozessualen Wandel. 392 Stählin erstrebt zwar auch eine „Reproduction aus der Schrift“ , versteht diesen Grundansatz aber offensichtlich anders als Kahnis und weigert sich vor allem, die Konsequenzen, die dieser selbst daraus zieht, mit zu vollziehen. Vielmehr rät er dazu, sich mit Urteilen zurückzuhalten, die in Spannung zu traditionellen Positionen stehen. Stählin hält offensichtlich keine inhaltlichen Neupositionierungen für nötig und geraten. Das zeigt, dass er den Kahnis’schen Ansatz von Festhalten 384 Ebd., 673. 385 Ebd., 673. 386 Ebd., 673. Stählin meint eine Spannung zwischen Kahnis’ wertschätzenden und relativierenden Äußerungen beobachten zu können. „Auf Grund solcher [sc. das Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums im Luthertum betonenden] Aeusserungen können wir getrost Kahnis gegen Kahnis setzen“ (ebd., 674). 387 Ebd., 98. 388 Ebd., 675. 389 Ebd., 688. 390 „Die Kirche Christi hat vor allem das Zeugniss und Bekenntniss der Wahrheit festzuhalten als Licht und Kraft wahren Lebens“ (ebd., 675). 391 Das in der Kirche geltende Bekenntnis hat sichernde Funktion „als Wehr und Waffe gegen jede Verkürzung und Verkümmerung, Schädigung und Fälschung der Heilswahrheit, gerade als Mittel der Bewahrung und Fortpflanzung der erkannten selig machenden Wahrheit des Evangeliums“ (ebd., 686). Und es genügt gegenwärtig als Interpretationsrahmen: „Wir brauchen aber auch kein neues Bekenntnis, da das alte nach seinem Wesensinhalte auf dem Grunde der Schrift ruht, und neue Wahrheitserkenntnisse aus dieser eine lebendige Fortentwicklung nicht ausschließt“ (ebd., 686). 392 Ebd., 661.
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und Fortschreiten nicht verstanden hat. Man gewinnt den Eindruck, Stählin habe seine tief greifende Kritik an Kahnis nur sehr freundlich verpackt. Stählins ausführliche Besprechung stellt ein wichtiges Indiz für Kahnis’ theologische Selbständigkeit dar – unbeschadet seiner Nähe zur Erlanger Theologie, als deren Vertreter 393 Stählin gelten kann. Das Anliegen, das ihn bei seiner Besprechung offenbar leitet, liegt darin, dass er Kahnis für das Luthertum reklamieren möchte, wenn man so will, in einem kirchenpolitischen Interesse. „Ich behaupte, dass Kahnis selbst lutherischen Wesen 394 viel mehr homogen ist, als z.B. der selige Hengstenberg.“ „Wir sagen aber, in 395 Kahnis ist mehr eigentlich Lutherische, als Melanchthon’sche Art.“ Dies Urteil stützt er vor allem auf Kahnis’ Treue zur Rechtfertigungslehre: „Auch da, wo er Vielen, auch uns in kühnem Fortbildungs- und Neuerungstrieb zu weit ging, ist er 396 von diesem Felsen kein Haarbreit gewichen.“ Und er tröstet sich damit, dass Kahnis seine speziellen Sichtweisen zunehmend weniger provokativ vertritt. „Das Angefochtene und wirklich Anfechtbare erscheint aber jedenfalls in milderer, ge397 reifterer, mit der Kirchenlehre mehr harmonirender Form.“ In diesem Sinne ist sein Bekenntnis zu verstehen: „Gehören wir doch zu denen, die Kahnis überhaupt viel verdanken und in demselben je und je einen der begabtesten, geistvollsten, 398 förderndsten lutherischen Theologen erkannt haben.“ Dementsprechend reagieret Kahnis denn auch: „So sollten immer Wahrheit 399 und Liebe verbunden sein.“ Wirklich verstanden kann er sich nicht fühlen. Und deshalb kann er in dieser eingehenden Besprechung auch keine Einladung zu 400 einer theologischen Diskussion sehen. Was das Verdienst der Dogmatik von Kahnis sein könnte, bleibt dunkel. In der Kritik der Theologie Kahnis’ folgt einer ersten Phase des aufgeregten Protestes, gegen den Kahnis sich leidenschaftlich zur Wehr setzt, eine zweite der subtilen Verdrängung, die er selbst hinnimmt, die aber offensichtlich auch durch den weitergehenden theologischen Diskurs begünstigt ist; denn dezidiert lutherische Theologen können sich in der folgenden Zeit angesichts der großen konserva393 Dementsprechend setzt er sich etwa auch eine „richtig verstandene Kenosis“ gegenüber Kahnis’ Latenz-Vorstellung ein (ebd., 663). Und in der Lehre von der Kirche bezieht er ausdrücklich Stellung für die Erlanger (ebd., 665). 394 Ebd., 685. 395 Ebd., 685. 396 Ebd., 94. 397 Ebd., 97. 398 Ebd., 94. 399 Dogmatik2 I (1874), V. 400 Unverständlich ist das Urteil von Theodor Kolde über diesen Aufsatz Stählins. Er lasse „seinen entschiedenen, wenn auch in der Beurteilung anders denkender (sic) milden lutherischen Standpunkt erkennen“ wie auch „seinen historischen Sinn und seine Abneigung gegen alle Repristinationsversuche auf Grund einer nur der Zeit angehörigen theologischen Fassung“ (Art. Stählin, Adolf v., in: RE³ 18 [1906], 737–741, dort 740). Stählin mahnt Kahnis gegenüber ja gerade eine pointierter repristinatorische lutherische Lehre an.
Kahnis’ kurze Zusammenfassung seiner Theologie
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tiven Kommentarwerke von Karl Friedrich Keil (1807–1888) und Delitzsch, „Biblischer Commentar über das Alte Testament“ (ab 1861), von Otto Zöckler 402 403 (1833–1906) und Hermann Leberecht Strack (1848–1922) , „Kurzgefaßter Kommentar zu den heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments sowie zu den 404 Apokryphen“ (seit 1886), sowie von Theodor Zahn (1838–1933) , „Kommentar zum Neuen Testament“ (ab 1903), damit beruhigen, dass die historische Kritik an der Bibel doch wohl nicht so schwerwiegend sei.
5.5 Kahnis’ kurze Zusammenfassung seiner Theologie Einem Vortrag über „die unveräußerlichen Grundlehren der ev.-lutherischen Kirche“, den Kahnis 1880 in Eisenach hält, legt er sieben Thesen zugrunde, die gerade sein Verständnis lutherischer Theologie auf den Punkt bringen: 1. Die ev.-lutherische Kirche ist nicht die Kirche, sondern die auf der deutschen Reformation ruhende Sonderkirche Augsb. Bekenntnisses. 2. Die Autorität dieses Bekenntnisses schließt den theologischen Fortschritt nicht aus. 3. Dieser Fortschritt hat aber in der Schrift seine unübersteigbare Schranke. 4. Die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben, welche im ev.-lutherischen Bekenntniß centrale Bedeutung hat, hat ihre Lebenswurzel in dem innersten Wesen des Christenthums. 5. Die Lehre, daß in der Einheit der Gottheit drei Personen bestehen, ist der Fundamentalartikel des Christenthums, aus welchem alle anderen Artikel abgeleitet werden müssen. 6. Die Lehre, daß Jesus Christus, der Gottmensch, göttliche und menschliche Natur in der Einheit der Person verbindet, ist ein Wesensartikel des Christenthums. 7. Die lutherische Lehre, daß im Abendmahl Brot und Wein Medien des Leibes und Blutes Christi sind, ruht auf sicherem Schriftgrunde.405
Kahnis hat die ganze Christenheit auf Erden im Blick und verortet die lutherische Kirche im ökumenischen Rahmen. Die Bindung an das Bekenntnis schließt theologischen Fortschritt nicht aus, sondern ein. Die Schrift wird als Formalprinzip in 401 Johann Carl Friedrich Keil (26. Februar 1807 bei Ölsnitz – 5. Mai 1888 in Leipzig), Schüler Hengstenbergs, 1839 o. Professor in Dorpat, 1859 pensioniert. 402 Otto Zöckler (27. Mai 1833 in Grünberg/Hessen – 19. Februar 1906 in Greifswald), 1957 habilitiert, 1863 ao. Professor in Gießen, 1866 o. Professor in Greifswald, bedeutender Apologet. 403 Hermann Leberecht Strack (6. Mai 1848 in Berlin – 5. Oktober 1922 in Berlin), 1877 ao. Professor in Berlin, 1883 Gründung des dortigen Institutum Judaicum, 1910 o. Honorarprofessor, bedeutender Judaist und Kämpfer gegen den Antisemitismus. 404 Franz Theodor Zahn (10. Oktober 1838 in Moers/Rheinland – 15. März 1933 in Erlangen), 1871 ao. Professor in Göttingen, 1877 o. Professor in Kiel, dann in Erlangen, 1888 in Leipzig, 1892 in Erlangen, 1907 geadelt. 405 Die Thüringer Kirchliche Konferenz, AELKZ 13 (1880), 422.
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Kahnis’ Fortentwicklung der lutherischen Theologie
normierender Funktion („Schranke“) festgehalten, wobei sich für ihn damit Offenheit gegenüber der historisch-kritischen Auslegung verbindet. Die Rechtfertigungslehre wird zwar „im innersten Wesen des Christenthums“ verwurzelt gesehen, jedoch nicht als Materialprinzip gewertet. Als dieses gilt ihm die allgemeinchristliche Fundamentallehre von der Dreieinigkeit Gottes. Das allgemeinchristliche Bekenntnis zur personalen Einheit von Gottheit und Menschheit in Christus wird eigens herausgestellt, wobei Kahnis dem Personbegriff eine besondere Interpretation gibt, die gerade den geschichtlichen Aspekt seiner Erscheinung zur Geltung bringt. Die lutherische Lehre von der Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi in Brot und Wein vertritt Kahnis, indem er sich nicht konkret auf die verba testamenti bezieht, sondern in einem weiteren Sinne auf „sicheren Schriftgrund“ und diese Lehre damit von der traditionellen exegetischen Argumentation löst. Diese Thesen machen deutlich, dass sich Kahnis dezidiert als lutherischer Theologe versteht und sich an Schrift und Bekenntnis gebunden weiß. Seine konfessionelle Positionierung ist mit einem ökumenischen Bewusstsein unter betontem Rückgriff auf die altkirchliche christologische und trinitarische Dogmenbildung verbunden. Zugleich beansprucht er eine weitgehende Freiheit zur theologischen Ausgestaltung im Dialog mit den geistigen Strömungen seiner Zeit und der modernen geschichtlichen Betrachtungsweise.
6. Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung 6.1 Persönliche Wirkung Kahnis entfaltet große Wirkung als Lehrer unter seinen Studenten. Franz Hermann Reinhold Frank schreibt: „Seine Gabe historischer Reproduction, plastischer, gemeinverständlicher Darstellung, überhaupt seine Lehrgabe war eminent; er hat als διδακτικόϛ kaum seines Gleichen gehabt, sprühend von Geist und Leben, eine wunderbare Mischung von naiver, kindlicher Frömmigkeit und moder1 ner, in scharfen Pointen und geistreichen Wendungen sich ergehender Bildung.“ Luthardt berichtet: „Er war einer der gefeiertsten Lehrer unserer Hochschule. Die Klarheit seiner Darstellung, die Fülle seines Wissens, das ihm stets zu Gebote stand, die Lebhaftigkeit seines Geistes, der heitere Wechsel des Tones, den er anzuschlagen wußte, zugleich mit der Innigkeit seines Gemüths und der Hingabe an seine Schüler hat ihm die Herzen derselben gewonnen und seine Zuhörer an ihn 2 gefesselt.“ Diese persönliche Wirkung hatte deutlich kirchlichen Charakter. „Wir hatten durch unsern Beruf seit vielen Jahren Gelegenheit, den Einfluss des Herrn Professor Kahnis auf die academische Jugend wahrzunehmen; nur wenige Theologen der Jetztzeit dürften eines so tiefgehenden und dabei, vom kirchlichen Standpunkt aus angesehen, eines so durchaus und unbedingt gesegneten Einflus3 ses sich zu erfreuen haben als Kahnis,“ urteilt Stählin. Schon gleich bei seinem Antritt in Leipzig übernimmt Kahnis das Präsidium des Theologischen Studenten-Vereins und hält es über Jahrzehnte inne. Der Verein erlebt unter seiner Leitung einen dauerhaften Zuspruch; die Teilnehmerzahl bewegt sich zwischen 15 und 45, allerdings ohne ansteigende Tendenz aufgrund der wachsenden Zahl der Theologiestudenten. Besondere Zeugnisse für das Ansehen, das Kahnis im Kreis der Studenten hat, stellen die beiden Festschriften zum dreißigjährigen (1875) und zum fünfzigjährigen Bestehen dieser studentischen Vereinigung dar, zumal die zweite, die bereits einige Zeit nach seinem Tod erscheint (1896) und in der von Friedrich Julius Winter „ein theologisches Lebensund Charakterbild seinen ehemaligen Schülern dargeboten“ wird, mit dem er das 4 Ziel verfolgt, die Erinnerung an den verehrten Lehrer zu erhalten, und bei deren Herausgabe er offenbar ein hinreichendes Publikum voraussetzen kann. 1
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Frank: Geschichte und Kritik der neueren Theologie, 247; Hübner, der Kahnis noch in dessen letztem Semester gehört hat, zitiert diese Charakterisierung (Jugenderinnerungen, 123) und bestätigt sie damit. Luthardt: Erinnerungen aus vergangenen Tagen (21891), 368. Stählin: Die Theologie des Dr. Kahnis, 99. „Kahnis war ein ächter deutscher Professor, ein Professor mit all’ der Begeisterung, dem Idealismus, der Konzentration, der Originalität auch, wie wir sie an ihm so gern sehen und uns daran erfreuen. An einer tiefgehenden und nachhaltigen Wirksamkeit auf einen zahlreichen Kreis von
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Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung
Kahnis hat als Redner offensichtlich eine starke persönliche Ausstrahlung. Ein Berichterstatter schildert 1880 einen Vortrag, dem eine Thesenreihe zugrunde liegt: Kahnis „umkleidete jenes Gerippe in seiner unnachahmlichen frischen, kräftigen, klaren, geistreichen und dabei in Höhe und Tiefe führenden Weise mit einem wunderbar blühenden, lebensvollen Stoff. Wer Dr. Kahnis kennt, wird sich 5 das lebhaft vorstellen; wiedergeben läßt es sich nicht.“ Er selbst erklärt einmal, welche Wirkung er sich wünsche: Was kann es uns auch helfen, wenn nach einigen Jahrzehnten noch ein Student verdrießlich einen Büchertitel von uns in sein Heft schreibt. Was uns allein eine Freude sein kann, ist, in das Gewand der Geschichte unsers Geschlechts eine Blume gestickt zu haben, welche bleibt, wenn auch unser Name längst dahin ist. Und ich denke, unsere besten Bücher sind die, welche wir in die Seelen unserer Zuhörer schreiben. Mit den papiernen hat man doch nur Verdruß.6
Gleichwohl hat Kahnis einen nicht unerheblichen Teil seiner Arbeitskraft darauf verwendet, sich auch literarisch mitzuteilen und literarische Kontroversen auszutragen. Zur Entstehung des ersten Bandes seiner Dogmatik (1861) bemerkt er: „Mehr wie man bei viel Arbeit und Fleiß kann, verlangt Gott nicht von Einem. Ich habe vielleicht das Meiste zweimal geschrieben, Alles nachdem es längere Zeit 7 gelegen war, noch einmal überarbeitet.“ Seine Publikationen sah er durchaus nicht als ein Nebenprodukt an, sondern verband mit ihnen hohe Erwartungen. Das Schreiben bringt ihm auch selbst hohen Gewinn, wie er etwa nach der Erarbeitung seiner „Lehre vom heiligen Geiste“ (1847) feststellt: „Ich habe aber in 8 meinem Leben noch nicht so viel gelernt als in diesem Jahr.“ Sogar seine Predigten, die ihr eigentliches Ziel ja erreicht haben, wenn die andächtige Gemeinde sie gehört hatt, lässt Kahnis durchaus recht konsequent zusätzlich im Druck erscheinen. Seine für ein weiteres Publikum bestimmten Schriften erscheinen auch in Übersetzungen, ob nun in Englisch, Schwedisch oder Norwegisch; er erreicht also eine internationale Leserschaft auch dann, wenn die Kenntnis der deutschen Sprache nicht so selbstverständlich ist wie damals in der akademischen Welt.
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Schülern hat es ihm daher auch nicht gefehlt. Auch diese Darstellung möchte davon Zeugniß ablegen“ (Winter: Kahnis, 4). Die Thüringer Kirchliche Konferenz, 422. Zeugniß von den Grundwahrheiten, 67. – „Das ist nun eben der schönste Beruf eines Lehrers der Wissenschaft, daß er unsterbliche Gedanken in unsterbliche Seelen niederlegt. Besser als mit Tinte auf Papier ist es mit Gott in die Geister zu schreiben“ (Predigt über Hebr 13,7, Sonntag Estomihi 1868, in: Predigten II, 60–69, dort 63). Dies nimmt Luthardt in seinem Nachruf auf: „Die kurze Unsterblichkeit der Bücher, die wir schreiben, hat ihn wenig gelockt; aber jene Schrift in die Herzen der Jugend schreiben zu können zum ewigen Leben, das war seine Freude und sein Trost“ (Am Sarge von Dr. Karl Friedrich August Kahnis, AELKZ 21 [1888], 615). Brief vom 9. Dezember 1861, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 22. Brief vom 19. Juni 1847, ebd., Kahnis 11.
Persönliche Wirkung
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Offenbar war Kahnis „ein akademischer Elementarlehrer par excellence“, wie 9 10 Ferdinand Mühlau (1839–1914) seine Art beschreibt. Als ganz und gar auf die kirchliche Praxis ausgerichtet charakterisiert Berthold Schmidt seine akademische Lehrweise: „Er sah im Studenten nicht den werdenden Gelehrten, der mit allen Feinheiten wissenschaftlicher Forschungsmethoden vertraut zu machen wäre, son11 dern den zukünftigen Diener des Evangeliums.“ Kahnis hat demzufolge keine wissenschaftliche Schule begründet, die seinen theologischen Ansatz aufgenom12 men und weiter ausgestaltet hätte. Mühlau führt dies auch auf eine fehlende Ini9
Heinrich Ferdinand Mühlau (20. Juni 1839 in Dresden – 18. September 1914 in Wernigerode), 1869 als Alttestamentler Dr. habil in Leipzig, 1870 ao., 1872 o. Professor für exegetische Theologie in Dorpat, 1895 auf Empfehlung von Adolf Harnack, der drei Semester bei ihm gehört hat, Berufung als o. Professor für neutestamentliche Theologie nach Kiel (bis 1909). 10 In einer Mitteilung an Winter (Kahnis, 89f, dort 89). 11 Schmidt: Zur Erinnerung, 21. Der Kirchenhistoriker Friedrich Loofs (19. Juni 1858 in Hildesheim – 13. Januar 1928 in Halle/Saale) berichtet denn auch, dass er sich bei Kahnis unterfordert fühlte (Patristica, 398). 12 B. Schmidt erklärt bündig: „Von Kahnis ist keine Schule ausgegangen, die nach ihm sich nennt. Die Probleme, an deren Lösung die Theologie unserer Tage arbeitet, knüpfen nirgends an seinen Namen an. Aber in der Entwickelung der lutherischen Theologie und Kirche seiner Zeit ist er ein wirksamer Faktor gewesen“ (Zur Erinnerung, 3). – Winter nennt einige Namen (Kahnis, 90f), die aber doch nicht als Schule zu erkennen sind. Die beiden dort genannten Alttestamentler Friedrich Eduard König (15. November 1846 in Reichenbach/Vogtland – 10. Februar 1936 in Bonn), 1885 ao. Professor in Leipzig, 1888 o. Professor in Rostock und 1900 in Bonn (1921 em.), und Carl Viktor Ryssel (18. Dezember 1849 in Reinsberg bei Nossen – 1. März 1905 in Zürich), 1885 ao. Professor für Altes Testament in Leipzig und 1899 o. Professor in Zürich, sind stärker mit Franz Delitzsch verbunden. Der Neutestamentler Rudolf Friedrich Grau (20. April 1835 in Heringen/Werra – 5. August 1893 in Königsberg), Professor in Marburg und Königsberg, ist stärker durch den Erlanger von Hofmann geprägt; sein Beitrag zur Festschrift, die der Theologische Studentenverein 1875 zu Kahnis’ Ehren herausgebracht hat, enthält denn auch keinen Bezug auf die theologische Arbeit des Geehrten (Grau: Ueber das Gewissen Jesu). Und der andere Neutestamentler Georg Hermann Schnedermann (3. Juli 1852 in Chemnitz – 14. Januar 1917 in Leipzig), 1890 ao. Professor in Leipzig, schließt sich stärker an den Erlanger Frank an. Das Gebiet des Liturgikers und Hymnologen Georg Christian Rietschel (10. Mai 1842 in Dresden – 13. Juni 1914 in Leipzig), 1889 o. Professor für Praktische Theologie in Leipzig (1912 em.), liegt weitab von Kahnis’ eigenen Arbeitsgebieten. Der weitere genannte Alttestamentler, Mühlau, und der weitere genannte Neutestamentler, Woldemar Gottlob Schmidt (2. Juni 1836 in Meißen – 31. Januar 1888 in Leipzig), 1866 ao., 1877 o. Professor in Leipzig, lassen sich ebenso wenig als seine ausgesprochenen Schüler einordnen. Mühlau selbst bekennt, von Kahnis’ Darstellungskunst gelernt zu haben, aber offenbar nicht von seiner theologischen Arbeit: „Später lernte ich […] in der typischen Präzision und sonnenklaren Deduktion seines Vortrags einen eminenten Vorzug schätzen; ich habe ihn mir, als ich selbst Dozent wurde, oft als nachahmungswerthes Beispiel vorgehalten“ (zitiert nach Winter: Kahnis, 89). Es geht jeweils mehr um persönliche und geistlich-theologische Verbundenheit, zumal durch die Teilnahme am Theologischen Studentenverein (Grau S.S. 1854 – S.S. 1855, Schnedermann S.S. 1873 – S.S. 1875, Rietschel W.S. 1861/62 – S.S. 1863, Mühlau W.S. 1857/58 – W.S. 1860/61, Woldemar Gottlob Schmidt).
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Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung
tiative Kahnis’ in diese Richtung zurück: „Kahnis war ein Lehrer ohne Gleichen. Das halte ich für die bedeutsamste Seite seiner Wirksamkeit. Er war es freilich nicht in dem gelehrten Sinne, daß er Forscher erzogen hätte: zu Spezialforschungen in seinem Fach hat er wohl wenig angeregt, auch nie, so viel ich weiß, derarti13 ge Uebungen gehalten.“ Damit hat Kahnis zu seinem Teil dazu beigetragen, dass keine neue akademische Generation heranwuchs, die mit gleicher kirchlicher Ent14 schiedenheit wie er die konfessionelle Prägung der Fakultät weitergeführt hätte. Dennoch hat sich mit solcher persönlichen Eigenart seiner Wirksamkeit seine 15 theologische Programmatik nicht erledigt. Sie stellt sich als eine von seiner Person unabhängige und unausweichliche Thematik dar. Dass Kahnis’ Bemühungen nicht weitergeführt, sondern vergessen wurden, muss nicht daran liegen, dass sie unwichtig waren. Auch ein Verdrängen unangenehmer Fragen führt zum Vergessen.
6.2 Anliegen und Fragestellung 16
Dem alten Spruch „tempora mutantur, nos et mutamur in illis“ zufolge ist Geschichte ein irreversibler Prozess, ständig in Gang gehalten und gelenkt durch eine Fülle unterschiedlicher Faktoren. Zugleich ist die Geschichte ein Prozess, der sich nicht von der Vergangenheit löst, sondern immer weiter mitbestimmt bleibt von seinem Erbe, das im Gedächtnis der Überlieferung aufbewahrt und im Erinnern
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Bezeichnenderweise fehlt unter den Genannten sowohl ein Kirchenhistoriker als auch ein Dogmatiker. Winter selbst (Mitglied des Theologischen Studenten-Vereins S.S. 1866 – W.S.1867/68) kann am ehesten als Schüler angesprochen werden, allerdings hat er sich mindestens ebenso stark an Luthardt angeschlossen. Man kann auch auf das Beispiel des Alttestamentlers Bernhard Wilhelm Stade (11. Mai 1848 in Arnstadt – 6. Dezember 1906 in Gießen) hinweisen, der von 1867 bis 1870 in Leipzig zunächst Philologie studierte, aber von Kahnis für die Theologie gewonnen wurde, sich freilich bald von dessen theologischer Position entfernte (Smend: Deutsche Alttestamentler, 129). Mitteilung an Winter (Kahnis, 89). Die Situation am ausgehenden Jahrhundert wird so beschrieben: „Die alten Führer sind meist schon dahingegangen, und es fehlt an ebenbürtigem Nachwuchs. […] Mit Mühe halten die Universitäten Leipzig und Erlangen neben Rostock ihren lutherischen Charakter aufrecht“ (Lutherische Kirche, Kirchliches Handlexikon 4 [1894], 377). Friedrich Kirchner verbindet die Feststellung über die praktisch-kirchliche Auswirkung: „Als Docent wußte er sowol anzuziehen als auch zu fesseln; er gewann einen zahlreichen begeisterten Schülerkreis, der die Lehren des Meisters mit ins praktische Leben hinausnahm und dort eifrig bewährte“, allerdings mit seiner wissenschaftsgeschichtlichen Kennzeichnung als eines „Vertreter[s] einer abgeschlossenen Periode, welche bald nur noch im Gedächtniß der Geschichte existieren wird“ (Kahnis, 22f). Schärfer noch urteilt Ferdinand Kattenbusch, indem er ihm neben anderen attestieret, dass sein Werk „keinen wissenschaftlichen Belang“ habe, „so praktisch einflussreich es geworden“ (Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher, 50). Der Spruch wird Kaiser Lothar I. (795–855) zugeschrieben. Eine theologische Zuspitzung, wie sie der Anklang an Ps 102,27 (vgl. Dan 2,21) nahe legt, ist nicht zwingend. Das Passiv muss nicht als Passivum Divinum verstanden werden, und der Veränderungsprozess muss nicht auf Vergänglichkeit hin negativ interpretiert werden.
Anliegen und Fragestellung
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aktualisiert wird. Nur weil sie überlieferten Konventionen folgt, ist etwa Sprache überhaupt in der Lage, der gegenwärtigen Kommunikation zu dienen und Entscheidungen für die Zukunft zu formulieren. Geschichte lebt sowohl von der Rekapitulation als auch von ihrer Zukunftsoffenheit. Wenn Goethes Faust, in dem uns nach Kahnis’ Deutung „der Mensch des 18. Jahrhunderts, der eine Welt zerschlagen hat, um sie in und aus sich wieder 17 aufzubauen“, entgegentritt und der damit auch den Ausgangspunkt bezeichnet, von dem Kahnis selbst ausgeht, die „tausend Bücher“, in denen Vergangenes aufbewahrt ist, auch als „Mottenwelt“ bezeichnet und nach ihrem eingehenden Studium feststellt: „Da steh’ ich nun, ich armer Thor! Und bin so klug als wie zuvor“, so schließt er doch ein eigenständiges Aneignen dieser Tradition keineswegs aus: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen.“ Solches Erwerben geschieht im Augenblick, in dem sich die gegenwärtige Existenz ent18 scheidet: „Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.“ Freilich stellt sich solcher Nutzen aus dem Benutzen der Tradition nicht allein aus dem Zauber des Augenblicks heraus ein. Solch ein Augenblick kann sich spontan ereignen, kann aber auch gründlich heranreifen. „Erwerben“ lässt sich das Ererbte nur, wenn man sich intensiv mit ihm beschäftigt und es kritisch gesichtet hat und dann seine Interpretation findet, die gerade im gegenwärtigen „Augenblick“ auf irgendeine Weise „nützt“. Auch wenn ich „die Zeit für mich vorbey“ halte, wenn ich einen solchen Augenblick ausdehnen will: „Wird’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann 19 will ich gern zu Grunde gehn! Dann mag die Todtenglocke schallen“ , so geht in den gegenwärtigen Augenblick doch auch Vergangenes ein. Die augenblicklich für die Zukunft fallenden Entscheidungen stellen eine Auswahl aus einem bestimmten, von Fall zu Fall mehr oder weniger breiten Repertoire von Möglichkeiten dar, 20 die auch durch die zurückliegende Zeit vorgezeichnet sind. Die gegenwärtigen Deutungen des Vergangenen stellen zwar ziemlich freie Spielarten dar, die sich 17 18 19 20
Der innere Gang II (31874), 16–23, dort 17. Goethe Faust I, Nacht (erste Szene), Verse 358f.659.661.682f.685. Goethe Faust I, Studierzimmer, Verse 1699–1703.1706. Kahnis stellt in seiner Deutung von Goethes Faust das „rastlose Streben“ in den Mittelpunkt, in dem er „ohne Zweifel protestantische Lebensmotive“ wahrnimmt (Über die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien [1865], 43–46, Zitat dort 43; vgl. übrigens schon Kahnis’ Besprechung des Lehrbuchs der evangelischen Dogmatik von Hase, LACTW 1840, 447f). „Faust hat auf dem Wege des Wissens, auf dem Wege des Genusses, zuletzt auf dem Wege künstlerischen Thuns rastlos nach dem Unendlichen gestrebt“ (Der innere Gang II [31874], 22). Und er leitet daraus seine Kritik ab: „Nicht das Schöne, sondern das Gute führt zu Gott“ (ebd., 22), mit der Gegenposition: „In Christo ist die Wahrheit, die Faust einst auf dem Wege des Wissens suchte, und das Leben, das er auf dem Wege des Genusses suchte, eins: er ist Weg, Wahrheit, Leben. Nicht das ewig Weibliche, sondern Er ist unser Mittler“ (ebd., 22). Die Zeitdimension, die solches rastlose Streben erst ermöglicht und im Ewigen ihr Gegenüber hat, wird von ihm nicht analysiert. Der Abschnitt über Schiller und Goethe ist übrigens in der dritten Auflage neu eingeschoben (ebd., 14– 28; Schnittstelle liegt in der zweiten Auflage S. 53). Vgl. dann auch den Abschnitt „Goethe und das Christenthum“ in: Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 410–426.
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Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung
keineswegs zwangsläufig und eindeutig aus den Erbvorgaben ergeben, dennoch kann das Fortwirken einer Tradition auch eine erhebliche Eigendynamik entwickeln. Im Augenblick schien Kahnis’ Zeitgenossen zugleich der Punkt bezeichnet, wo der rein innerweltliche Zusammenhang überschritten werden könnte. 21 Schleiermacher erklärt: „Religion ist Sinn und Geschmak fürs Unendliche.“ Den Zugang dazu sucht er eben im Augenblick: „Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Un22 sterblichkeit der Religion.“ Und Sören Kierkegaard (1813–1855) findet hier ganz allgemein die menschliche Existenz begründet. Ausgehend von der cartesianischen Unterscheidung von res extensa und res cogitans rekurriert er auf den Augenblick als Zugang sowohl zur Geschichte als auch zur Ewigkeit. „Die Natur liegt nicht im Augenblick.“ Und „erst im Augenblick hebt die Geschichte an […]; denn jetzt hebt der Geist an“, der den Menschen vom Tier unterscheidet. „Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren, und damit ist der Begriff Zeitlichkeit gesetzt, allwo die Zeit fort und fort die Ewigkeit abriegelt und die Ewigkeit fort und fort die Zeit durchdringt. Erst jetzt erhält jene besprochene Einteilung ihre Bedeutung: die gegenwärtige Zeit, die vergangene Zeit, die 23 zukünftige Zeit.“ Die Geschichte erscheint damit als ein für den Menschen spezifisches Phänomen, das nicht einfach schon mit dem zeitlichen Ablauf von Geschehnissen gegeben ist. Geschichtlichkeit in diesem subjektiven Sinn hat dann aber auch zur Folge, dass die konkreten Abläufe der Vergangenheit ihre Relevanz verlieren. Die Veränderungen, die der Wandel der Zeiten mit sich bringt, werden nicht mehr als bedrängend empfunden, und damit auch die Problematik nicht, die Kahnis so sehr beschäftigt. Denn er geht nicht den Weg einer theologischen Aufwertung des Augenblicks, sondern sucht Gott im geschichtlichen Geschehensablauf selbst, lässt sich auf die Geschichte als unvermeidlichen Lebenshorizont ein, beruft sich auf „Lebenstatsachen“ und meint damit den Menschen in einer ganzheitlichen Perspektive zu erfassen. 6.2.1 Neues Geschichtsbewusstsein Im 19. Jahrhundert wurde diese Problematik verstärkt diskutiert, da die Dimension der Geschichte als Voraussetzung allen menschlichen Lebens und Erkennens
21 Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Urausgabe 1799, 53 (KGA 2 [1984], 212,31f). 22 Ebd., 133 (KGA 2 [1984], 247,9–11). 23 Kierkegaard: Der Begriff Angst (1844), IV, 358f, zitiert nach: GW 11.12 (1952), 90f. – Die Behauptung, dass die Natur keine Geschichte habe, ist von der neueren Physik allerdings bestritten worden; vgl. Weizsäcker: Die Geschichte der Natur.
Anliegen und Fragestellung
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überhaupt erst wirklich entdeckt wurde. Die geschichtliche Betrachtungsweise wurde in allen Wissenschaftsbereichen herrschend und zeigte zunehmend die Zeitgebundenheit allen Geschehens auf. Kahnis selbst erhält als Student in Halle seine entscheidenden Anstöße durch den romantischen Historiker Heinrich Leo, lässt sich von dessen Geschichtsschau leiten, wenn er ihm auch in wichtigen 25 Grundpositionen nicht folgt. Unter dieser neuen Perspektive nimmt Kahnis wahr, dass die Wahrheit des Christentums eigener Art ist, indem sie auf Offenbarung innerhalb der Geschichte gegründet ist. Daraus folgt dann, dass die Geschichte nicht nur alles frühere Geschehen und seine Deutung relativiert, sondern in ihr auch Weichen gestellt werden, die bestimmend bleiben und damit auch gegenwärtige und zukünftige Möglichkeiten und Einsichten zu relativieren vermögen. Nicht der gesunde Menschenverstand steht über allem geschichtlichen Verstehen, wie es Lessing angenommen 26 hatte, sondern das Verstehen, das Gott gibt. In Abgrenzung gegen Lessing stellt Kahnis fest: Der pythagoräische Lehrsatz ist richtig, es mag einen Pythagoras gegeben haben oder nicht. Aber der Inhalt des christlichen Glaubens ist nicht eine Summe von einzelnen Wahrheiten, sondern der Christus, welcher um unserer Sünden willen gestorben und um unserer Gerechtigkeit willen auferstanden ist. Der Gegenstand des christlichen Glaubens ist eine geschichtliche Thatsache. Fällt der Christus des evangelischen Glaubens aus der Geschichte, so fällt mit ihm das Christenthum.27
„Der Christus unseres Glaubens muß der Christus der Geschichte und der Christus der Geschichte der Christus unseres Glaubens sein. Es beruht daher auf einer vollkommenen Verkennung des unterscheidenden Charakters des Christenthums, 24 „Der deutsche Idealismus hat eine neue Philosophie der Geschichte begründet. Die Anregung, die er damit der modernen Geschichtsschreibung gegeben, gehört zu seinen größten Verdiensten. Weder die Weltanschauung der Orthodoxie noch die der Aufklärung waren historisch“ (Lütgert: Die Religion des deutschen Idealismus und ihre Ende I, 153). Er knüpfte dabei an die Betrachtung der Geschichte als Offenbarung Gottes an, wie sie von der biblischen Tradition über Augustin führt, und fragte nach dem Sinn und Ziel der Geschichte. Diese teleologische Geschichtsbetrachtung setzte ein Prinzip voraus, das jenseits der Geschichte selbst lag, ob nun als das Heil Gottes oder als eine säkulare Abart desselben. 25 Kahnis übernimmt von Leo vor allem dessen Rassen- bzw. Nationalitätenanschauung, die im letzten unausgeglichen neben seinen kirchlichen Anschauungen steht, aber sein Lutherbild doch stark prägt. Dagegen teilt er nicht die Hochschätzung des ständisch geordneten Mittelalters, die bei Leo eine Abwertung der Reformation mit sich bringt. 26 Gotthold Ephraim Lessing stellt fest: „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden“ (Über den Beweis des Geistes und der Kraft, Werke 8, 12). Geschichtliche Informationen können aber zum eigenen Nachdenken anregen. „Die Menge aber auf etwas aufmerksam machen, heißt, dem gesunden Menschenverstand auf die Spur helfen“ (ebd., 14). Der freilich ist auf diesen Anstoß nicht unbedingt angewiesen. „Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher“ (Die Erziehung des Menschengeschlechts, ebd., 490). 27 Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 459.
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Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung
wenn Lessing Religion und Geschichte gänzlich trennen wollte. Der christliche 28 Glaube fordert die Thatsächlichkeit der evangelischen Geschichte.“ Deshalb folgert er: „Will also die Theologie das Evangelium vertheidigen, so muß sie den 29 geschichtlichen Beweis leisten.“ Selbst Gott hat sich auf die Geschichte eingelassen, um sich den Menschen zu erschließen. Bei diesem geschichtlichen Nachweis geht es Kahnis ausdrücklich nicht nur um den eines historischen Menschen Jesus, „der, wenn er auch nicht von den Tod30 ten auferstanden sei, doch dem Geiste nach in den Seinen fortlebe“, sondern auch den des Gottessohnes Christus als einer geschichtlichen Erscheinung: Die Frage, um welche es sich handelt, ist, ob der Christus unseres evangelischen Glaubens der Christus der Geschichte ist. Es ist die Frage, ob Christus der Sohn einer Jungfrau war, in Kraft des heiligen Geistes erzeugt, ohne Sünde, von Gott durch Wunder, welche er vollbrachte und die er erfuhr, bezeugt, der Messias, in welchem die Weissagungen des Alten Bundes erfüllt waren; der eingeborene Sohn Gottes, von seinem Volke verworfen, von Gott aber in der Auferstehung beglaubigt.31
Und diese Auffassung von Christus hat ihre Auswirkung auf die ganze Kirchengeschichte. Das „Gottesurtheil“, das in der „Auferweckung Christi von den Todten 32 liegt“, impliziert zugleich eine weiter reichende Bedeutung: „Die ganze Kirchengeschichte ist eine große Auferstehungsgeschichte, diese Auferstehungsgeschichte 33 aber der praktische Beweis der Auferstehung.“ Die Geschichte verstand er also als eine Wirklichkeit, die sich nicht allein aus säkularen Faktoren ergab, sondern auch eine göttliche Handlungsebene mit einschloss. Kahnis brachte Gottes Handeln in der Geschichte, wie es die Bibel durchweg bezeugt, von vornherein begrifflich mit in Anschlag. Damit aber stellt sich ihm die Frage: Wie kann zufälligen, einmaligen und in den Strom des Vergehens eingebundenen geschichtlichen Ereignissen bleibende und aktuelle Bedeutung zukommen? Die Frage nach dem „Wesen des Christentums“, wie sie für Kahnis wichtig wird, resultiert gerade aus dieser Konfrontation der Dogmatik mit der 34 Geschichte, mit der Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Die Aufgabe einer speziellen theologischen Hermeneutik kommt damit in den Blick. Die Rückbesinnung auf die Geschichte ist ein wesentlicher Faktor auch dafür, dass es zu einer Neubelebung des konfessionellen Bewusstseins kam. Kahnis be28 Dogmatik2 I (1874), 196. 29 Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 460. – „Ist das Christenthum wesentlich Geschichte, so muß auch der Beweis des Christenthums wesentlich ein geschichtlicher sein. Folglich besteht die Kluft, welche Lessing zwischen Geschichte und Religion aufrichtet, nicht mit der Wahrheit“ (Die Auferstehung Jesu Christi als geschichtliche Thatsache [1873], 8). 30 Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 459. 31 Ebd., 459. 32 Die Auferstehung Jesu Christi als geschichtliche Thatsache, 10. 33 Ebd., 31. 34 Vgl. Rendtorff: Art. Geschichte/Geschichtsauffassung VII, 791–794.
Anliegen und Fragestellung
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schreibt diese Entwicklung: „Wie denn Niemand der vermittelnden Theologie das Verdienst absprechen kann auf die geschichtliche Grundlage des Protestantismus wieder hingewiesen zu haben, so durfte sich dieselbe nicht wundern, wenn eine durch sie geförderte Generation mit diesem geschichtlichen Streben mehr Ernst 35 machte, als jene für gut hielt.“ Der bleibende Wert der reformatorischen Theologie wurde erkannt und dieser Ausprägung der Kirchenlehre dann normativer Rang zugesprochen. Besonders stark ist die Bibelauslegung von dieser neuen Ausrichtung auf die Geschichte betroffen: Jeder Theologe weiß oder soll doch wissen, in welchem Grade das Studium der semitischen Schwestersprachen das Verständniß der alttestamentlichen Grundsprache gefördert hat. Die bewundernswürdigen Aufschlüsse, welche die Trümmer von Egypten und Assyrien dem sprachlichen und geschichtlichen Verständnisse dieser Völker gebracht haben, sind von noch nicht hinreichend gewürdigter Bedeutung für die alttestamentliche Theologie gewesen. Aus den tiefeindringenden Studien über die politischen, sittlichen und religiösen Verhältnisse des Volkes Israel zur Zeit Christi ist eine neue Disciplin erwachsen: die neutestamentliche Zeitgeschichte. Die biblische Theologie, einst ein mechanisches Nebeneinander von Schriftstellen, geht jetzt der Geschichte der göttlichen Heilsoffenbarung nach.36
Die Folgen der historischen Arbeitsweise mit ihrem kritischen Ansatz werden allerdings sehr unterschiedlich empfunden. Einerseits kann der Blick zurück in die Vergangenheit als hilfreich angesehen werden, seinen eigenen Ort in der Gegenwart zu bestimmen, in der zeitlichen Abfolge der Ereignisse einen Sinn zu erkennen und Wertmaßstäbe zu finden – wie bei der Rückbesinnung auf die lutherische Kirchenlehre. Die moderne geschichtliche Betrachtungsweise kann aber auch als Bedrohung empfunden werden – wie bei der historischen Auslegung der Bibel. Werden nicht alle Werte, die bisher als allezeit gültig angenommen worden waren, relativiert? Müsste sich in der Geschichte nicht auch zeitlos Gültiges ausweisen lassen? So ergeben sich starke Vorbehalte, Bibel und Bekenntnis überhaupt konsequent historisch zu betrachten. Sind sie nicht allein als Zeugnisse der Geschichte zu würdigen, sondern auch als Urkunden der Wahrheit, so scheinen sie dem Wandel der Zeiten doch irgendwie auch wieder entzogen. Für die heilige Schrift gilt das als Gottes für alle Zeiten gültige Offenbarung und für die lutherischen Bekenntnisses als deren allein angemessene Auslegung. Eine deutende Geschichtsschau weigert sich, die Tragweite der historischen Betrachtungsweise in ihrer kritischen Arbeitsweise anzuerkennen, und verbindet sich mit der Bezeugung einer göttlichen Wahrheit, die über der Relativität aller menschlichen Geschichte steht. Der Weg, auf dem diese Entdeckung gemacht worden war, die historische Betrachtung nämlich, wird wieder verdrängt. Innerhalb der geschichtlichen Wahrheiten 35 Der innere Gang (21860), 236. 36 Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 382f.
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werden solche herausgestellt, die zwar zu bestimmten Zeiten hervorgetreten seien, sich dann aber bleibend durchhielten. Kahnis wendet gegen ein solches Vorgehen ein: Es giebt eine Rückkehr zum Alten, die ebenso gut Revolution (Kontrarevolution) ist, wie der mit der Geschichte brechende Fortschritt. Wenn ein Theologe sich vornimmt, durch die ganze Entwickelung von drei Jahrhunderten einen Strich zu machen, um, es mag nun reißen oder brechen, den Standpunkt des 16. Jahrhunderts zu restauriren, so bricht er, und wenn es auch im edelsten Streben ist, ebenso mit der Geschichte, wie ein Kirchenzukünftler grünster Sorte, der alle unreifen Einfälle, die er in der Gegenwart nicht durchsetzen kann, als verklärte Schatten in das Elysium der Zukunft versetzt.37
Er sieht die lutherisch-konfessionelle Richtung der Theologie seiner Zeit vor die Entscheidung gestellt, wie sie sich der geschichtlichen Wirklichkeit gegenüber verhalten will. Im Vorwort zum zweiten Band seiner Dogmatik (1864) schreibt er: Mein Buch ist nur ein Symptom einer Krisis, die früher oder später eintreten mußte. Der Konfessionalismus ist eine Gestalt der religiösen Neubelebung, des Strebens, dem lebendigen Glauben an Jesum Christum kirchliche Gestalt zu geben. In diesem Streben mußte er die überlieferten Formen des reformatorischen Glaubens zu beleben suchen. Hier war nun die Gefahr der Restauration vorhanden d.h. der Aufrichtung des Alten ohne Verständniß des Rechtes der Neuzeit. Von dieser Gefahr hat sich der Konfessionalismus nicht frei gehalten. Und, wie ich schon bemerkt habe, auch die Richtungen der alttestamentlichen Restaurationszeit, pharisäisches und schriftgelehrtes Wesen, sind nicht ausgeblieben. Aber keine Richtung, die das Alte will, kann ganz den Geist ihrer Zeit verleugnen. In der konfessionellen Theologie verbinden sich mit dem Alten unter dem Schutz und Scheine desselben Elemente, die der deutschen Reformation durchaus fremd waren: der Begriff der Heilsgeschichte, die Kenosis, der Chiliasmus u.s.w. Bei diesem unklaren Nebeneinander konnte es nicht bleiben. Es mußte zu einer Krisis kommen. Die ist eingetreten. Entscheidet sich die konfessionelle Richtung in der Lehre für das Alte wie es war, ohne alle Zugeständnisse für das Recht der Fortentwickelung, dann wird ihr werden was sie will, nämlich die Vergangenheit d.h. eine Stätte auf dem großen Kirchhofe ausgelebter Richtungen in der Kirche. Entscheidet sie sich aber für ein Lutherthum, welches mit dem treuen Festhalten an dem von den Reformatoren gelegten Bekenntnißgrunde das Streben verbindet, an der Hand der Schrift auf dem geschichtlich gegebenen Wege immer mehr hinauszukommen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntniß des Sohnes Gottes [Eph. 4,13], dann wird sie, die Zukunft in sich trägt, auch Zukunft finden.38
37 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 54f. 38 Dogmatik II (1864), XI–XII. – Als weitere Punkte, an denen das Luthertum des 19. über das des 16. Jahrhunderts hinausgeht, lassen sich nennen die zeitliche Spätansetzung der Kirche, die Luther bereits vom Paradies her datierte, und die Abkehr vom landesherrlichen Summepiskopat in der Ausbildung staatsfreier Kirchenverfassungen.
Anliegen und Fragestellung
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Kahnis vertritt damit eine eher optimistische Geschichtsschau. Andere Theologen der lutherisch-konfessionellen Richtung des 19. Jahrhunderts sahen dagegen in der Reformation einen einmaligen Höhepunkt, der gegen Verfallstendenzen immer neu zurück zu gewinnen sei. Diese Richtung betrachtete die neuere Kirchengeschichte aus einer pessimistischen Perspektive heraus und forderte nicht nur eine konsequente Überwindung des Rationalismus in Abwehr des Liberalismus, sondern auch eine Überwindung des Pietismus und einen deutlichen Schritt hinter die Erweckungsbewegung zurück zur vollen Höhe reformatorischen Glaubens – als einem idealisierten Phänomen der Vergangenheit. Demgegenüber verweist Kahnis darauf, dass der Geschichtsverlauf irreversibel ist: Oft genug ist die Kirche einem Schiff verglichen worden, das auf dem Strom der Zeit nach dem Meer der Ewigkeit segelt. Nie kehrt dieß Schiff in die Stromgegenden zurück, die es durchschifft hat. Ohne Bild zu reden: Was vergangen ist in der Kirche, kehrt nie wieder. Die Zeiten der alten Kirche, des Mittelalters, der Reformation kehren nie wieder. Die Kirche hat in jedem Zeitalter Aufgaben zu lösen, die sie nie zuvor hatte.39
Dagegen findet Kahnis auch in dem geschichtlichen Weg seit der Reformation Errungenschaften, die sich als unhintergehbar erwiesen hätten, während er andererseits selbst in der Reformation Hinweise auf Einseitigkeiten nicht übersehen kann, die ihr aus der geschichtlichen Situation ihres Anfangs heraus anhafteten. Und diese gerade mithilfe der geschichtlichen Erfahrungen in der Zwischenzeit zu 40 überwinden galt ihm als unausweichliche Aufgabe. „Wenn Odysseus nach zwanzigjährigen Kämpfen und Irrfahrten in die Heimath zurückkehrt, ist er ein Anderer geworden und die Heimath ihm etwas Anderes. So können und dürfen auch der protestantischen Kirche die Erfahrungen des 18. und 19. Jahrhunderts nicht 41 verloren sein.“ „Ein Theologe, welcher durch diese Schulen hindurchgegangen ist, wird das Bekenntniß mit andern Augen ansehen als die Theologen des 16. und 42 17. Jahrhunderts.“ Kahnis verfolgt also eine kontinuierliche Schau der Geschichte der lutherischen Kirche innerhalb des sonst eher revisionistisch ausgerichteten lutherischen Konfessionalismus. Er verfällt dabei keineswegs einem naiven Fortschrittsden43 ken, sondern erkennt in der Geschichte auch Phasen des Rückschritts, wie er 39 Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis 1869 über Lk 18,9–14, in: Predigten. Zweite Sammlung, 118–128, dort 123. 40 „Ich halte den Pietismus für irrig im Principe und gestehe doch zu, daß er der Kirche zum Segen geworden ist“ (Die moderne Unionsdoktrin, Separatdruck, 14). 41 Der innere Gang (1854), 252. – Es ist völlig unzutreffend, wenn Wolfhart Pannenberg die Tendenz dieses Buches dahingehend charakterisiert, dass „die Geschichte als Geschichte einer fortschreitenden Auflösung behandelt“ werde (Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie, 18). 42 Der innere Gang (1854), 252. 43 Vgl. seine Auseinandersetzung mit dem modernen Fortschrittsdenken in seiner Predigt am 1. Advent 1863 über Joh 17,3 „Das ist das ewige Leben“ (Predigten [1866], 12–23, dort 12–14. „In
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etwa das Judentum zur Zeit Jesu in seinen einzelnen Richtungen als Rückfall aus dem im Alten Testament bereits erreichten „prophetischen Fortschritt“ in 44 „menschlichen Fortschritt“ beurteilt oder der mittelalterlichen Kirche des Abendlandes in ihrer Betonung der heilsvermittelnden Stellung einen Rückfall auf 45 den Standpunkt des Alten Testamentes attestiert. Bezeichnend ist seine Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen römischen Katholizismus, dessen turbulente Entwicklung er besonders in Breslau erlebt, wo sich damals der deutsche Reformkatholizismus herausbildet. Kahnis wendet sich sowohl gegen die römischen Restaurationstheologen als auch gegen die Reformbewegung, weil sie in 46 ihrer jeweiligen Radikalität wahrer Kirchlichkeit nur schädlich sein könnten. Er unterscheidet zwischen rein menschlichen und von Gott gewirkten Fortschritten. „Ueberhaupt aber ist nicht die Frage, ob eine Richtung dem Fortschritte der Zeit gemäß ist, sondern ob sie wahr ist. Ist sie wahr, dann ist unsere Sache ihr zu folgen; die Sache des Herrn der Kirche aber ist, ein Neues im Reiche Gottes entste47 hen zu lassen.“ So sind auch bei ihm pessimistische Einschätzungen unübersehbar, wie solche mit einer konservativen Einstellung überhaupt leicht verbunden sind. Ihn schreckt ein Verfall überlieferter Autoritäten; er warnt vor einem „Fortschritt, „der eigent-
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Gott ist kein Fortschritt. Was sich allein verändern könnte, wäre das Verhältniß des Menschen zu ihm. Allein die Anlage des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott bleibt immer dieselbe. […] Der christliche Glaube besteht aber darin, daß wir in Jesu Christo Weg, Wahrheit und Leben zu Gott finden. […] Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit, ist die Losung des Christen. […] Die Kirche Jesu Christi wandelt ihre Stimme nach Völkern und Zeiten, aber nicht ihre Botschaft. Diese ist über allem Fortschritt erhaben“ (ebd., 14). Das Wesen des Christenthums, 205. Ebd., 218. Brief vom 20. Februar 1845, SBB Nl Hengstenberg, Kahnis 8: „Gut an der Sache ist, daß der Catholicismus (geändert in: Papismus) angegriffen wird, der durch das Bibelverbot, die Lästerungen der krankhaften Restaurationskatholiken zuletzt durch den Rock den Zorn Gottes angehäuft hatte auf einen Tag des Gerichtes. Gut ist daß die seitherigen Heuchler in der katholischen Kirche wenigstens wahr werden, die indifferenten todten Glieder mit irgend welchem religiösen Interesse erfüllt. Als ich neulich Huschke (geändert in: einem Freunde) klagte, daß bei der gebildeten Canaille (geändert in: dem großen Haufen), welche(r) an dieser Kirchenfabrik Theil habe, oder wenigstens Interesse, alle Achtung vor kirchlichen Institutionen untergehen müßte, meinte er, es sei doch gut, daß endlich in die Kreise dieser Bildung religiöses Interesse komme. Gut also, sage ich, ist das Negative an der Sache. Aber freilich wehe denen, durch die es vollzogen wird, wenn sie bei dem Positiven, was sie jetzt aufgestellt haben, verbleiben. Dieser Ronge (geändert in: R.) ist ein bekränzter Esel (geändert ist: Isaschar), der keine kirchliche Ader in sich hat, sondern eine bauernhafte Kreatur, die communistischen Phrasen der Tagespresse u. natürlich nach solchen Huldigungen die Großemannswuth. Wenn er das Kreuz predigte, würde er aus einem anderen Becher trinken müssen als aus Ehrenpokalen.“ Dieser Passus ist mit den angegebenen Änderungen als Anmerkung in die EKZ 36 (1845), 163f, aufgenommen. Vgl. die Enzyklika „Inter Praecipuas“ Papst Gregors XVI. mit dem Verdikt der Bibelgesellschaften vom 8. Mai 1844, sowie die von Bischof Wilhelm Arnoldi (4. Januar 1798 zu Badem/Eifel – 7. Januar 1864) veranstaltete Ausstellung des heiligen Rocks vom 18. August bis zum 7. Oktober 1844 in Trier. Der innere Gang (1854), 252.
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lich eine allmälige Aufhebung aller Autoritäten ist“. Er misstraut einem aufgeklärten, demokratischen Humanismus und fürchtet die Folgen der fortschreitenden Säkularisierung in einer gänzlichen Trennung von Kirche und Staat, eines weiteren Verfalls der Volkskirche und einer autonomen Gesellschaftsordnung, die sich auf allgemeine Menschenrechte, nicht aber auf den christlichen Glauben gründet. „Man kann nicht Liebe zu Gott haben, in allen menschlichen Verhältnissen aber einen alles zersetzenden Verstand, ein blos kontraktgemäßes Verhalten, eine pietätlose Stellung zu allem Ueberlieferten, eine glatte Weltbildung; man kann nicht festen Glauben an Gottes Wort haben und daneben eine Unmasse von Ueberzeugungen, welche mit dem Glauben in gar keiner Verbindung, ja in Wider49 spruch stehen.“ Kahnis bekennt sich allerdings auch zu einer aus der geschichtlichen Betrachtung resultierenden Bescheidenheit: „Kein Mensch ist frei von der Verwechselung seiner Einsicht und seines Standpunktes mit der Wahrheit. Ich kann nur sagen, 50 daß ich der Wahrheit allein habe dienen wollen.“ Und er registriert, dass die neue Betrachtungsweise nicht überall in der lutherischen Kirche auf Verständnis stößt: „Namentlich hat man den Professorenstand in Verdacht, daß er von einem un51 glücklichen pruritus novaturiendi getrieben Sonderthümliches aufstelle.“ Über solchen unsicheren Sichtweisen steht für ihn die Überzeugung vom Sieg des Reiches Gottes. „Und so ist Dauer die Feuerprobe der Wahrheit. Was aber allein dauert auf Erden, ist was aus Gott ist. Jesus Christus gestern und heute und 52 derselbe auch in Ewigkeit.“ Solche Sicht darf man nicht mit Glauben an die Normativität des Faktischen verwechseln. Kahnis nimmt nicht eine pragmatische Haltung der Geschichte gegenüber ein, sondern eine des Gottvertrauens. 6.2.2 Kahnis’ Plädoyer für eine weitgehende Berücksichtigung der geschichtlichen Dimension In seiner Bereitschaft, die geschichtliche Dimension anzuerkennen, geht Kahnis weiter als andere Vertreter des konfessionellen Luthertums, zu denen er selbst sich rechnet. Grundsätzlich positioniert er sich so: Es ist aber überhaupt nicht möglich, die Lehrentwicklung alten und neuen Testamentes unabhängig von der Entwickelung des Reiches alten und neuen Bundes zu geben. Zu einer wahrhaft historischen Darlegung des Offenbarungsganges der Schrift sind bedeutende Ansätze vorhanden. Das Bedeutendste dafür hat, bei allen 48 Die Nacht und das Licht der Gegenwart, in: Die Auferstehung Christi als geschichtliche Thatsache, 47. 49 Ebd., 50. 50 Der innere Gang (21860), VII (Vorwort zur zweiten Auflage). 51 Votum von Kahnis (Die allgemeine lutherische Conferenz in Hannover 1868, 70). Pruritus novaturiendi = Juckreiz, Neuerungen einzuführen, der angeblich als Krankheitssymptom den Konflikt mit der sana doctrina offenkundig macht (vgl. II Tim 4,3). 52 Ebd., 56.
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Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung Verirrungen im Einzelnen, bis jetzt Hofmann gethan. Nicht bloß die protestantische, sondern die Kirche überhaupt steht und fällt mit der Ueberzeugung, daß der Geist, welcher im alten und neuen Bunde sich offenbart hat, in ihr waltet. Im Geiste der Kirche muß daher auch die Schrift ausgelegt werden.53
Kahnis vertritt also den Grundsatz, dass historische und geistliche Schriftauslegung ineinander greifen müssen. Allerdings äußert er Vorbehalte gegenüber der Durchführung, die dieser Grundsatz bei Hofmann gefunden hat. Dieser hatte eine dem organischen Denken verpflichtete heilsgeschichtliche Betrachtung vorgetragen, die vorgab, die geschichtliche Dimension zu würdigen. Tatsächlich aber hebelt er sie gleich wieder aus. Denn als Ausgangspunkt seines theologischen Denkens wählt er die persönliche Wiedergeburt, die ihm eine Gewissheit vermittelt, die unabhängig von jeder geschichtlichen Verwirklichung ist. „Das Erste, dessen ich mir als Christ bewußt bin, ist dies, daß ich zu dem Wesen, das sich mir im Gewissen als meiner selbst und der Welt letzten Grund bezeugt, daß ich zu Gott, wie ich es nun gleich persönlich nenne, in persönlichem Verhältniß stehe, in dem eines gewordenen Ich zu 54 dem ewigen Ich, als Person zu Person.“ Und dabei handelt es sich für ihn um eine unmittelbare, auch geschichtlich unableitbare Gewissheit: „Denn unmittelbar bin ich als Christ mir nur des eigenthümlichen Verhältnisses gewiß, in welchem ich damit, daß ich Christ bin, zu Gott stehe, unmittelbar d.h. durch selbsteigne Erfahrung, die ich davon gemacht habe, gewiß, nicht durch Anderes, das außer demselben läge, daher es auch nicht andemonstrirt, sondern Jedem nur durch 55 eigne Erfahrung gewiß werden kann.“ Auch wenn dann die zeitliche Abfolge, die für geschichtliche Vorgänge grundlegend ist, wahrgenommen wird, erfährt sie zugleich unter der Formel „Weissagung und Erfüllung“ eine Relativierung: Was wir Geschichtliches aussagen, das muß auch in der Schrift als ein Nacheinander erscheinen. Da nun aber die Schrift selbst allmälig zu Stande gekommen ist, und zwischen der alttestamentlichen und der neutestamentlichen die Erscheinung Jesu Christi und die Entstehung seiner Gemeinde liegt; so finden wir etwann im neuen Testamente als geschehen berichtet, was im alten vorhergesagt ist, oder im alten liegt als Aussage einer Gegenwart vor, was dem neuen ein Vergangenes ist, und was auch dem neuen noch zukünftig ist, das finden wir doch in ihm von einem sehr andern Standpunkte aus vorhergesagt, als im alten. Hier gilt es nun, das sich Entsprechende in den verschiedensten Gebieten der Schrift aufzusuchen, und eine Thatsache, entweder als berichtete oder als geweissagte, auf allen verschiedenen Stufen der Geschichte wieder zu erkennen, ohne doch den Unterschied der Gestaltungen zu übersehen.56
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Der innere Gang (1854), 255f (= 21860, 243). Hofmann: Encyclopädie, 50. Hofmann: Biblische Hermeneutik, 33. Hofmann: Schriftbeweis I (21857), 28f.
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Hinter allen Gestaltungen wird immer etwas zeitlos Gültiges nicht nur vorausgesetzt, sondern auch als erkennbar aufgewiesen: „Was wir nun Ewiges aussagen, das erwarten wir in der Schrift eben so als das aller Geschichte, welche in der Schrift 57 gelehrt ist, zu Grunde Liegende zu finden.“ Die „historische Tätigkeit“ hat nur dienende Funktion: „Denn die wesentliche Erkenntniß einer Sache kommt nicht auf historischem Weg zu Stande. […] Es muß sich zeigen, daß das Christenthum, wie es der Theologe als den Thatbestand seiner eigensten Erfahrung kennt, mit dem in Einklang steht, was den wesentlichen Inhalt der geschichtlichen Entwicklung der Kirche ausmacht, sowie mit dem, was in der heiligen Schrift ein für alle 58 Mal bezeugt vorliegt.“ Diese Ausgangsannahme schließt aber jede historischkritische Betrachtung der Bibel, etwa in Quellentheorien, aus; allein Textkritik 59 wird getrieben. Das organische Denken, wie es für die Mitarbeiter an der Erlan60 ger Zeitschrift für Protestantismus und Kirche insgesamt charakteristisch ist, führt nicht zu einer geschichtlichen Denkweise, sondern nur zu einer schematisierten Dramatik, die hier und da Entsprechendes entdeckt. Kahnis markiert eine davon abweichende Position. Er reklamiert als Quellen der Dogmatik das Schriftzeugnis von der Offenbarung, den Kirchenglauben und das eigene christliche Bewusstsein als Faktoren der geschichtlichen Entwicklung von je eigener Bedeutung. Es geht ihm keineswegs nur um die Feststellung von Entsprechungen, sondern um ein sich Entwickeln innerhalb der Geschichte. Die eigentliche Offenbarung liegt für ihn in der Geschichte des Bundes, den Gott mit den Menschen eingeht und von dem die heilige Schrift, die Kirchenlehre und die theologische Arbeit nur Zeugnis ablegen. Kaum zufällig wird die Abendmahlslehre für Kahnis zum Katalysator seiner geschichtlichen Überzeugungen. Denn hier stellt sich unausweichlich die Frage, wie die geschichtlichen Ereignisse der Einsetzung beim letzten Mahl mit seinen Jüngern, des Todes Jesu am Kreuz und seiner Gegenwart in Leib und Blut bei seiner Gemeinde miteinander verbunden sind. „Als Träger des Geistes und Leibes Christi sind die Sakramente Träger Christi selbst. Er kommt in Wasser und Blut (1 Joh. 5,6.). Waren die alttestamentlichen Zeichen Vorbilder Christi, so sind die neutestamentlichen Bundeszeichen Nachbilder Christi, in denen er fortlebt, in denen Gegenwart wird, was Christus einst gelebt hat. Es sind also die Sakramente 61 Zeichen und Mittel der Aneignung des neuen Bundes.“ Diese grundlegende gött57 Ebd., 28. 58 Hofmann: Encyclopädie, 26. 59 „Damit ist das Dilemma eines theologischen Ansatzes angedeutet, der sich einem modernen Geschichtsverständnis öffnet, aber nicht bereit ist, bei der Untersuchung der biblischen Überlieferung den Methodenkanon der historischen Kritik in vollem Umfang zur Anwendung zu bringen“ (Johannes Wischmeyer: Heilsgeschichte im Zeitalter des Historismus, 633). „Das als hermeneutischer Schlüssel vorangestellte Lehrsystem immuninisert das Unternehmen gleichzeitig vollständig gegenüber historischer Kritik“ (ebd., 645f). – Vgl. Kantzenbach: Die Erlanger Theologie, 203. 60 Ebd., 199. 61 Die Lehre vom Abendmahle, 276.
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liche Dimension bedarf – so sieht es Kahnis – einer Ausgestaltung in menschlichen Formen. Wie der heilige Geist „in jedem einzelnen Menschen ein neues Bewußtsein, ein neues sittliches Leben, ein Leben der Gemeinschaft mit Gott wirkt, so muß auch das Gemeinleben der Kirche Gestalt gewinnen in Bekenntniß, Ver62 fassung und Kultus“. Folgerichtig stellt Kahnis besonders eine pneumatologische Seite des Abendmahls heraus. Und so sieht er sich zu der Feststellung genötigt. „Ueberhaupt ist der Sakramentsbegriff der lutherischen Kirche nicht zur vollen 63 Entwickelung gekommen.“ Und seine Weigerung, die lutherische Identität einer Form von Union zu opfern, weil er sie nicht als zukunftsweisend und nicht als theologisch-kirchlichen Gewinn ansehen konnte, zeigt die konsequente Wahrnehmung der eigenen geschichtlichen Verantwortung angesichts dieses neuen Entwicklungsschrittes in der kirchlichen Bekenntnis-, Kultus- und Verfassungsgeschichte. Muß man sich sagen, daß die allgemeine Durchführung der Union eine Unmöglichkeit ist, so ist in einzelnen Ländern der Zusammenschluß zweier zu Recht bestehender Landeskirchen lutherischen und reformirten Bekenntnisses in Eine Landeskirche ein so geringes und zweifelhaftes Gut, dagegen die Auflösung der Bekenntnißgemeinschaft und der lutherischen Kircheneigenthümlichkeit ein so realer Verlust, daß ich es nicht verstehe, wie man die Union zum Princip erheben kann.64
Mit seiner radikaleren geschichtlichen Sicht setzt Kahnis sich freilich der Kritik von allen Seiten aus. Aus dem Kreis der konfessionellen Lutheraner erfährt er den Vorwurf, er leiste einer liberalen geschichtlichen Relativierung der Offenbarung Vorschub, spiele damit einem reinen Subjektivismus den Ball zu und öffne weitgehenden Spekulationen darüber Tor und Tür, wie sich der geschichtliche Prozess 65 weiter fortsetzen werde. Sein Ansatz wird als nicht leistungsfähig angesehen.
62 Ebd., 277. 63 Ebd., 328. 64 Christenthum und Lutherthum (1871), X. Kahnis erkennt zwar an, „daß die preußische Landeskirche viel Leben hat und reich ist an edlen Kräften“, sieht aber die Gefahr, „daß gegenüber der Macht bekenntnißfeindlicher Elemente, welche die Union für ihre Sache erklären, die auf Kabinetsordren ruhende Geltung verschiedener Bekenntnisse, von denen Niemand sagen kann, wo und wie weit sie zu Recht bestehen stehen, mit Luther zu reden, eine Papiermauer ist“ (ebd.). 65 Als Beispiel vgl. etwa Franz August Otto Pieper (27. Juni 1852 in Carwitz/Pommern – 3. Juni 1931 in St. Louis, Missouri), 1878 Professor am Concordia Seminary St. Louis, 1899–1911 4. Präsident der Lutheran Church-Missouri Synod. In seiner Christlichen Dogmatik (I, St. Louis, Mo. 1924; II, ebd. 1917; III, ebd. 1920) notiert Pieper durchgehend die Abweichungen Kahnis’ von der traditionellen lutherischen Lehrweise verbunden mit einer kritischer Abwehr, indem er ihm die „Schriftlehre“ entgegenhält oder ihm mangelndes Verständnis für diese Lehrpositionen vorwirft: Einwände gegen die Inspirationslehre (Christliche Dogmatik I, 285.297.300.308.312.315.325f.336.342f.367 ; III, 408), eigene Berufung auf Luther (I, 347.359), Trinitätslehre (I, 461.468), Christologie (II, 62.108.117.254.258), religiöse Zug aller Menschen (II, 550.575), Glaubensverständnis (II, 568f.596.599), Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung (III, 576).
Anliegen und Fragestellung
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Angesichts des Vorwurfs, selbst dem liberalen Zeitgeist zu erliegen, geht Kahnis seinen Weg in klarem Bewusstsein, dass man sich von der geschichtlichen Denkweise nicht einfach ausklinken könne, sobald es um Dokumente der göttlichen Offenbarung geht. Immer erfolgen Veränderungen in weiteren Lauf der Geschichte. Auch die Geschichte der Offenbarung ist davon nicht ausgenommen. Erst recht kann ein noch so bekenntnisbewusstes Luthertum sich von neuen Fragestellungen nicht frei halten, die dazu nötigen, sich kreativ neu zu positionieren. Seine Forderung, dennoch das lutherische Bekenntnis weiterhin verpflichtend zu machen, trifft auf breites Unverständnis. Sie wird psychologisch erklärt und als seinem persönlichen Hang nach Autorität geschuldet verstanden. Aber für Kahnis bedeutet eine Berücksichtigung der geschichtlichen Dimension auch, die Bedeutung der Pflege geschichtlicher Kontinuität zu betonen. Eigene Identität kann nur gewonnen und gewahrt werden, indem stabilisierende Faktoren gewürdigt werden. Kahnis achtet gleichsam auf die Tenazität auf dem Gebiet des Religiösen. Ob es sich dabei gleich um ewige Werte, Ordnungen und Wirklichkeiten handeln muss, wie er voraussetzt, mag einmal dahingestellt bleiben. Jedenfalls gehört zur geschichtlichen Existenz auch dazu, dass sich Identitäten ausbilden und unter stetigen Veränderungen durchhalten. Zunächst handelt es sich dabei um Formen des Erinnerns und um Bewahren des gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Erbes sowohl im individuellen als auch im kollektiven Gedächtnis. Der Kultus dient als gefeiertes Erinnern auch der Rezeption von Geschichte. Kahnis verhandelt die Pflege der Erinnerung an frühere Geschichte nicht methodisch, sondern nimmt vorschnell einen Ewigkeitsgehalt innerhalb dieser geschichtlichen Erscheinungen an. Allein, damit weist er in seinem Denken grundsätzlich auf die Momente geschichtlicher Nachhaltigkeit hin, ohne die man Geschichte nicht verstehen kann. Er macht auf die Bedeutung religiöser Traditionen gerade in ihrer kritischen Funktion aufmerksam, die es nicht geraten sein lässt, sie vorschnell einfach als altmodisch und veraltet abzutun. Und dies gilt für die Überlieferung in ihrer gan66 zen Breite, erst recht dann für die normativ gewordene Lehrtradition. Gerade die Erfahrung der kritischen Potenz der biblischen und reformatorischen Theologie ließ ihn nicht nur für das Recht des Fortschreitens eintreten, sondern auch für das Recht des Festhaltens.
66 In der geschichtlichen Entwicklung vollziehen sich Veränderungen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, je nachdem welche gesellschaftlichen Bereiche betroffen sind. Wertvorstellungen, Erziehungsstile, gesellschaftliche Rollenverteilungen und Sprachen weisen ein größeres Beharrungspotential auf als andere Bereiche der Kulturveränderung wie etwa die technischen, wirtschaftlichen oder politischen Entwicklungen.
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6.3 Der hermeneutische Lösungsvorschlag Kahnis versucht, die beiden Gesichtspunkte Treue zum geschichtlich Gewordenen und Offenheit für die gegenwärtigen Entwicklungen auf seine Weise miteinander zu verbinden. „In dem bewegten Geschichtsstrome der evangelischen Kirche spie67 gelt sich das unbewegte Blau des ewigen Evangeliums“, und die evangelische 68 Kirche steht hier für die Kirche überhaupt. Auch in der Lebensgeschichte jedes Einzelnen verbinden sich die beiden Aspekte der äußerlichen Zufälligkeit und Endlichkeit und der innerlichen Zielgerichtetheit und Ewigkeit. „Die innere Geschichte der evangelischen Kirche ist ein Spiegel der innern Geschichte jedes 69 wahrhaft evangelischen Christen.“ Er bezieht einen „historisch-positiven Standort“, der auf Grundsatz ruht, „daß 70 im Reiche Jesu Christi die Wahrheit Geschichte, die Geschichte Wahrheit sei“. Und diese Position ist ihm entscheidend angesichts der geistesgeschichtlichen Situation seiner Zeit: „Was der Unglaube im letzten Grunde angestrebt hat, ist Je71 sum aus der Geschichte herauszunehmen.“ Die Antwort auf dieses Ansinnen bietet ihm das Paradigma des Apostels Thomas: „Thomas aber forderte einen Beweis, wie ihn der ungläubigste Kritiker nicht stärker fordern kann: er will den 72 Auferstandenen nicht bloß sehen, sondern betasten.“ Kahnis treibt Theologie 73 „thomasartig“, wie Delitzsch ihn charakterisiert hat. Die geschichtliche Wahrheit ist für Kahnis personal bestimmt. Die Persönlichkeit ist ihm ein entscheidender Schlüssel zur Erschließung von Wahrheit. „Plato übertrug das Ideal, welches er in seiner Seele trug, dem geschichtlichen Sokrates. Entsprach der geschichtliche Sokrates nicht dem idealen, den Plato gezeichnet hat, so weist eben dies ideale Bild über sich hinaus an einen kommenden Meister, in dem die Wahrheit Person ward. Jesus Christus, der absolute Prophet der Men74 schen, ist zugleich die Person der Wahrheit: das Wort das Fleisch ward.“ In der persönlichen Begegnung mit dem Auferstandenen offenbart sich gerade innerhalb des geschichtlichen Lebens Gottes Wahrheit: „Der Christ sinkt zu Jesu Füßen mit den Worten: Mein Herr und mein Gott. Dieß Bekenntniß ist bei dem Christen 75 Thatsache des Lebens.“ Denn „Jesus Christus ist des Vaters Wort, Abglanz, Ebenbild, Sohn. Was also alle Wissenschaften suchen: die ewigen Gedanken, wel67 Der innere Gang I (31874), VII. 68 „Nicht in dem was den Katholicismus vom Protestantismus trennt, im specifisch Römischen, sondern in dem was ihm mit diesem gemeinsam ist, im Evangelischen, liegt das Wahre, Heilskräftige, Lebensvolle des Katholicismus“ (ebd., 4). 69 Ebd., VII. 70 Dogmatik I (1861), 10f. 71 Der christliche Glaube ist der Glaube der Wahrheit. Predigt am Sonntage Quasimodogeniti 1865 über Joh. 20, 24–29, in: Predigten (1866), 79–88, dort 85. 72 Ebd., 86. 73 Delitzsch: Für und wider Kahnis, 27. 74 Ueber das Verhältniß der alten Philosophie, 48. 75 Predigten (1866), 84.
Der hermeneutische Lösungsvorschlag
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che Gott in der Schöpfung niedergelegt hat, sie haben in ihm ihre Einheit, Wahr76 heit, sie sind in ihm Person“. „Glaube nur der Wahrheit, die in Christo erschienen ist, und die Wahrheit aus Christo wird dich klar, wird dich frei, wird dich fest, 77 wird dich weise, wird dich stark machen.“ Die Botschaft Jesu liegt in seiner Person. „Der Sieg der Person Christi über den Tod war, weil eben Christi Sache in 78 seiner Person lag, der Sieg seiner Sache.“ „Was aber in Jesu Christo in göttlicher Herrlichkeit erschien, das wiederholt sich in einzelnen Gestalten seines Reiches auf Erden, soweit die Schranken der 79 adamitischen Menschheit es zulassen.“ Und so fand etwa „der durch alle Zeiten der Kirche hindurchgehende reformatorische Geist“ seinen Höhepunkt in der 80 81 Persönlichkeit Luthers. „Luther’s Größe lag in seiner Persönlichkeit.“ Und die Entwicklung des Protestantismus erklärt Kahnis eben daraus: „Derselben Mann, in dem die Reformation ihre Persönlichkeit fand, war auch der Mann, aus dessen 82 Geistesfülle die nachreformatorische Zeit schöpfte.“ Die personale Dimension findet nicht nur auf der menschlichen Seite ihren Ausdruck, wie Kahnis dies in Eph 4,15f angesprochen findet, sondern auch auf der offenbarungsgeschichtlichen Seite. Dies führt dazu, dass Kahnis sein Denken immer stärker am trinitarischen Bekenntnis ausrichtet. Gott ist in Jesus sogar Mensch geworden und hat damit den menschlichen Entwicklungsprozess von Empfangensein bis Tod angenommen. Wahr ist, was die personale Existenz zur Erfüllung bringt, und dies geschieht in einer personalen Begegnung mit Gott und zu einer bleibenden Gemeinschaft mit ihm. Ein Individuum bildet sich unter lebensgeschichtlich wechselnden Situationen heraus und weist sich in allen, oft tief greifenden Wandlungen doch als mit sich – gerade auch in den Brüchen und Widersprüchen – unverwechselbar identisch aus. Die Wahrheit in der Gemeinschaft mit Gott liegt dann darin, dass Gott den einzelnen Menschen eine Eindeutigkeit verleiht, die sie aus sich heraus nicht erlangen können. Der personal gefasste, geschichtliche Wahrheitsbegriff impliziert deshalb letztlich keinen geschichtlichen Relativismus. Diese Sicht resultiert bei Kahnis nicht unmittelbar aus der Beschäftigung mit den Quellen, sondern aus grundsätzlichen Überlegungen aufgrund seiner eigenen Glaubensgewissheit, einer Tatsache seines persönlichen Lebens. Die Interpretation
76 77 78 79 80 81
Ebd., 87. Ebd., 88. Die Auferstehung Christi als geschichtliche Thatsache, 12f. Die Bedeutung der Persönlichkeit Luther’s (1883), 5. Ebd., 5. Ebd., 9. – „Darum ist Luther Deutschlands höchste Gestalt, weil in ihm, der durch und durch Person, Gemüth, Individualität war, das ewige Wesen des Christenthums, die Gemeinschaft der Person mit Gott durch Christum, seinen entsprechendsten Vertreter fand“ (Votum von Kahnis in: Die Verhandlungen der kirchlichen October-Versammlung in Berlin 1871, 78). 82 Die Bedeutung der Persönlichkeit Luther’s, 14.
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der literarischen Zeugnisse wird dann zum Prüfstein seiner Grundanschauung. Kahnis selbst nimmt diese Abfolge allerdings umgekehrt wahr: Wie die neuere Naturforschung geht auch die neuere Geschichtsschreibung von exakten Thatsachen aus. Wie aber der Naturforscher die Thatsachen auf Gesetze zurückzuführen hat, so versteht kein Historiker die Thatsachen, die er aus den Quellen gefördert und kritisch gesichtet hat, wenn er sie nicht auf die Gesetze des Lebens zurückführen kann. Aus dem einheitlichen Leben entsprungen nöthigen die Thatsachen auch den Historiker sie in Einheit zusammenzufassen.83
Allein, gerade diese umfassende Einheit sieht er ja in der Heilsgemeinschaft des Menschen mit Gott durch Christus im heiligen Geist, deren er sich nicht aus rein geschichtlicher Betrachtung gewiss werden kann, sondern die ihm durch göttliche Gnade geschenkt sein muss. Das Deuteraster liegt außerhalb geschichtlicher Methodik und bestimmt die Geschichtsbetrachtung. Die Wahrheit Gottes erschließt sich in der Geschichte persönlicher Begegnungen und persönlicher Gemeinschaft. Damit wählt Kahnis einen kommunikativen Ansatz. Von einem ganzheitlichen Lebensbegriff ausgehend sieht er einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Geschichte und Gottes Sichoffenbaren. Ganz anders als bei Kierkegaard erschafft nicht das existentialistische Selbstbewusstsein die Geschichte, sondern die Gemeinschaft, die Gott mit dem Menschen pflegt und die Menschen dann auch untereinander. Die Zeitlichkeit ist mit Gottes Schöpferwort gegeben. 6.3.1 Der Ansatz bei der Phänomenologie des Lebens und Glaubens Kahnis geht seine Fragestellung durchaus systematisch an. Mittels einer analytischen Erkundung der vorfindlichen Wirklichkeiten Leben und Glauben entwickelt er einen Ansatz zur Klärung des Verhältnisses von historischer Kontingenz und ewiger Wahrheit. Er geht in den meisten seiner Werke so vor, dass er mit einer 84 entsprechenden Grundlegung beginnt. Er setzt also Grundgegebenheiten des Lebens voraus, die alle geschichtlichen Entwicklungen strukturieren, wenn sie denn als menschliche Geschichte gelten dürfen. „Das Christenthum setzt den allgemein religiösen und sittlichen Geist in der Menschheit, die allgemeinen Lehren von Gott, Vorsehung, pflichtmäßigem Verhalten der Menschen zu Gott und Un85 sterblichkeit voraus.“ Schon die Formulierung verrät den aufklärerischen Hinter86 grund, an den Kahnis anknüpft und den er zugleich überwinden will.
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Die deutsche Reformation I (1872), V. Formal bildet Die Lehre vom Abendmahle (1851), eine Ausnahme. Ueber das Verhältniß der alten Philosophie, 9f. „Das durchgängige Anliegen der Aufklärungstheologie zielt darauf, den Glauben als ein natürliches Gefühl und notwendiges Bedürfnis im Menschen vorzuführen“ (Slenczka: Art. Glaube VI, 337).
Der hermeneutische Lösungsvorschlag
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„Es würde aber vollkommen unbegreiflich sein, wie Bildungsvölker sich dem Glauben an jene fabelhaften Götter so lange hätten hingeben können, wenn nicht dieser Aberglaube seinen Halt in dem unverwüstlichen Zuge zum Glauben in der Menschheit gehabt hätte. Was sie in ihrem Aberglauben suchten, war der Glaube, 87 und was sie in den falschen Göttern suchten, der wahre Gott.“ Daraus ergibt sich ein weltgeschichtlicher Zusammenhang nicht nur vom Alten zum Neuen Testament, sondern von allen geistesgeschichtlichen Erscheinungen zum Christentum. Das gilt etwa auch von der antiken Philosophie: „Die alte Philosophie ist eine Frucht des Geisteslebens der alten Welt. Es geht aber durch dieses Geistesleben 88 ein Streben nach der Erfüllung der Zeiten, die in Christo erschien.“ „Das Christenthum würde nicht so schnell Wurzel gefaßt haben, wenn es nicht gegeben hätte, was die Menschen jener Zeit suchten. Also waren die Menschen jener Zeit vorbe89 reitet auf das Christenthum.“ Grundsätzlich gilt ihm: „Nicht ein Werk der Willkür, das man thun und lassen kann, sondern ein unzerstörbares Eigenthum unseres Geistes ist der Glaube. Wie der Körper nach dem Mittelpunkt der Erde, wie der Magnet nach Norden, wie das Auge nach dem Lichte, wie die Vögel im Herbst nach dem Süden streben, so ist uns Allen ein Zug zu Gott angeboren, den man 90 abstumpfen, betäuben, einschließen, aber nicht aufheben kann.“ Der natürliche Glaube kann also aus sich selbst heraus nicht verwirklichen, was als Sehnsucht in ihm steckt. Aber er ist der Platzhalter für die geschichtliche Erfüllung im christlichen Glauben. Die christliche Botschaft und die persönliche Glaubenserfahrung knüpfen hier an. An der Erzählung von der Anbetung Jesu durch die Weisen aus dem Morgenland (Mt 2,1–12) verdeutlicht Kahnis dies in einer Predigt paradigmatisch: Drei Punkte treten uns auf dem Wege der Weisen entgegen: das Morgenland, Jerusalem, Bethlehem. Im Morgenland leitet sie ein Stern, in Jerusalem unterweist sie die Schrift, in Bethlehem finden sie Den, von welchem Stern und Schrift zeugten. Und so lasset uns heute nach Anleitung unseres Textes das dreifache Zeugniß vom Christo, nämlich das der Natur [= natürliche Gotteserkenntnis], der Schrift [= Christus ist der Schrift Kern und Stern], der Erfahrung [= seligmachender Glau91 be, der Jesus Christus selbst ergreift] betrachten.
Damit gewinnt Kahnis zugleich den Stoff der theologischen Wissenschaft. Wie jeder Naturforscher die Thatsachen der Natur, jeder Sprachforscher die realen Formen und Gesetze der Sprachen, jeder Rechts- und Staatskundiger die geschichtlichen Gestalten, welche der Rechts- und Staatsgeist in der Menschheit sich 87 Predigten (1866), 79–88, dort 83. 88 Ueber das Verhältniß der alten Philosophie, 12. 89 Ebd., 15. Über die pragmatischen Faktoren, die der Verbreitung des Christentums zugute kamen (griechische Sprache, politische Einheit des Imperiums, Verkehrsmittel), sieht Kahnis also noch einen entscheidenden inneren Grund. 90 Predigten (1866), 83. 91 Predigt am Epiphaniastag 1869, in: Predigten. Zweite Sammlung, 26–36, dort 28.
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gegeben hat, voraussetzt, so setzt die evangelische Theologie die große Thatsache des christlichen Glaubens voraus. An diese Realität sind wir gebunden, nicht weil wir ein unfreies Geschlecht sind, welches nicht Geist und Kraft hat überlieferte Schranken zu durchbrechen, sondern weil wir den Glauben in uns tragen, der uns 92 mit den Banden der Ewigkeit an Gott bindet.
Von dieser heuristischen Grundannahme aus gibt Kahnis dann der historischkritischen Arbeitsweise Raum gerade auch hinsichtlich der Bibel und dem Bekenntnis, statt diese Urkunden des Glaubens mit einem Nimbus der Einzigartigkeit aus dem Fluss der Geschichte herauszuheben. „Die Schrift und Bekenntniß sind zu sehr Erzeugnisse des Lebens, um einer bloßen Restaurationstheologie eine feste Ruhestätte zu gönnen. Wie es mit dem Buchstaben der Schrift nicht geht, 93 geht es auch nicht mit dem Buchstaben des Bekenntnisses.“ „Meine Schrifttheologie und meine Bekenntnißtheologie ruhen auf Einem Punkte, der nicht bloß 94 Lehre sondern Leben ist.“ Und dies ist für ihn die Grundlage der geschichtlichen und kritischen Betrachtungsweise. 6.3.2 Die Parameter der Stetigkeit in der geschichtlichen Entwicklung Kahnis fordert bei den gegenwärtigen Entscheidungen zugleich eine Kontinuität zum bisherigen geschichtlichen Werden im Festhalten an seinen normativen Vorgaben. Den Wahrheitsanspruch der biblischen Offenbarung bringt er durch seine These von der „Reproduktion des Glaubensstandpunktes der Reformation“ als einer „Reproduktion aus dem ewigen Wesen des Christenthums, auf Grund der 95 Schrift, an der Hand der Geschichte, im Streben nach Wahrheit“ zur Geltung. Er rechnet mithin nicht mit einer Neuauflage einer vergangenen geschichtlichen Erscheinung, sondern mit einer neu entstehenden Erscheinung des wesentlichen Inhalts in erneuter geschichtlicher Vorläufigkeit. In dieser Hinsicht unterscheidet er zunächst zwischen der grundlegenden Offenbarungsgeschichte, von der die heilige Schrift Zeugnis gibt, und der Kirchengeschichte, die auf diesem Grund aufbaut und ihn weiter entwickelt. Und in der Kirchengeschichte beobachtet er die weitere Entwicklung anhand der drei Parameter Bekenntnis, Verfassung und Kultus, weist jedoch dem Bekenntnis eine besonders gewichtige Rolle zu. Schließlich benennt er als dritte Größe für die geschichtliche Reproduktion der Wahrheit den Theologen in seinem Streben nach Wahrheit, den gewissenhaft arbeitenden jeweiligen Rezipienten. Nur wenn alle drei Faktoren, Schrift, Bekenntnis und individueller Christ, zusammenkommen, kann sich die göttliche Wahrheit geschichtlich gestalten.
92 93 94 95
Antrittsrede als Rektor (1864), in: Drei Vorträge, 11. Zeugniß von den Grundwahrheiten, 132. Ebd., 131. Christenthum und Lutherthum, VIII–IX.
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Kahnis spricht dabei bestimmten geschichtlichen Erscheinungen wie vor allem der heiligen Schrift, aber auch dem Augsburger Bekenntnis bleibende Verbindlichkeit zu, ohne ihre geschichtliche Kontingenz zu bestreiten. Er tut dies in einer abgestuften Weise, indem er die menschlich-irrtumsfähigen Anteile unterschiedlich bemisst: Des Glaubens Grund ist das apostolische Wort. Das apostolische Wort aber ist in doppelter Gestalt vorhanden: als Schriftwort und als das in den Glauben der Kirche eingegangene Wort, welches man Tradition oder Bekenntniß nennt. Ohne ein Bekenntniß ist die Kirche nicht denkbar, da sie ihrem Wesen nach die Gemeinschaft der Gläubigen im Glauben d.h. im Bekenntniß ist. Das Bekenntniß ist das durch den Glauben der Kirche hindurchgegangene Wort, welches ebendeshalb eine menschliche, irrthumsfähige Seite hat. Kein Bekentniß, selbst das s.g. apostolische nicht, ist der absolut entsprechende Ausdruck des Wortes der Offenbarung. Die wissenschaftliche Vermittelung aber desselben ist die Aufgabe der Theologie. Schrift, Bekenntniß und Theologie sind zu allen Zeiten der Kirche die Factoren gewesen, welche den Glauben bestimmen. Nicht gleich aber stehen diese Factoren. In noch höherem Grade als das Bekennitniß hat die Theologie eine menschliche und darum irrthumsfähige Seite. Das Schriftwort aber ist das authentische Zeugniß der Apostel und Propheten von der Heilsoffenbarung.96
Auf diese Weise ergibt sich die Annahme, die Präsenz der göttlichen Wahrheit zeige sich in der Geschichte in unterschiedlicher Intensität und graduellen Abstufungen. Und so lässt sich zwar die Selbständigkeit der einzelnen Kirchen erfassen, noch nicht jedoch die Einheit der Kirche. Ein solches abstufendes Verfahren, wie es Kahnis wiederholt anwendet, wirft Fragen auf hinsichtlich der Stimmigkeit seines Denkgebäudes, wie auch an folgender Darlegung deutlich wird: Die Lehrentwickelung der Kirche ruht auf dem Schriftworte, auf dem Bekenntniß und auf der theologischen Wissenschaft. Die theologische Wissenschaft schreitet rastlos fort, weil sie wesentlich eine menschliche Seite hat. Das Schriftwort aber wandelt sich nicht, weil es eben das Wort Gottes ist. Nicht das Schriftwort, sondern nur das Verständniß desselben verändert sich im Laufe der Zeiten. Zwischen dem Schriftwort und der Theologie steht das Bekenntniß: das Zeugniß der Kirche von ihren Glaubenslehren. Auch dieß Zeugniß hat eine menschliche Seite. Was wir das apostolische Symbol nennen ist nur eine Gestalt des altkatholischen Glaubensbekenntnisses, welches in mancherlei Formen vorhanden ist. Was aber das altkatholische Bekenntniß von Vater, Sohn und Geist lehrt, das ist den vier großen Konfessionskirchen unerschütterliche Wahrheit. In dem Grade, in welchem in einem Bekenntnisse das theologische Element hervortritt, in dem Grade ist es menschlich und wie alles Menschliche irrthumsfähig.97
96 Die deutsche Reformation I, 47f. 97 Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 383.
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Dies Vorgehen, Wahrheit doch mit Unwandelbarkeit zu verbinden und die Lehre schrittweise vom Text zu trennen, ist höchst problematisch, weil es einerseits den eigenen Vorgaben etwa über die geschichtliche Gestalt der Schrift widerspricht, andererseits in der Rolle des menschlichen Rezipienten, die doch als eigentlicher Angelpunkt reklamiert wird, zurücknimmt, was als Wahrheitsanspruch geltend gemacht wurde. Denn bleibend wahre Aussagen, die vom Verstehen des Rezipienten abgelöst werden, bleiben rein thetisch und ideologisch, stellen gerade keine Lebenstatsache dar. Kahnis beschreibt lediglich, was er intendiert, macht dies jedoch nicht plausibel. 6.3.3 Prozessualität der Geschichte sowie der wahren Einheit der Kirche Die eigentliche Wirklichkeit liegt für Kahnis nicht schon im Geschichtsprozess als solchem. Die Begriffe Fortschritt und Wahrheit nehmen einen Sinn an, der den Ablauf der Geschichte grundlegend transzendiert, Gottes Ziel mit den Menschen deutlich von den realen geschichtlichen Erfahrungen absetzt, weil der geschichtliche Wandel als solcher konsequent betrachtet alle erreichten Fortschritte überholt und ewig Gültiges grundsätzlich ausschließt. Spricht nicht das Lebensmotto der Kinder dieser Welt: Fortschritt, die Wandelbarkeit und Hinfälligkeit alles dessen aus, was dem Moment als das Höchste dasteht? Diese Welt, die dem natürlichen Menschen das allein Gewisse ist, ist in der That das Nichtige. Was allein gewiß und wahr ist, ist Gott und sein Reich. Wohl hat auch das Reich Gottes seine Wandlungen. Die Kirche breitet sich allmälig aus, geht unter den Völkern verschiedene Verhältnisse ein, entwickelt ihre Lehre, wandelt ihre Verfassung u.s.w. Was sich aber in der That allein bewegt und entwickelt, das ist die menschliche Gestalt, nicht die göttliche Grundlage der Kirche. Der Glaube an den dreieinigen Gott, die Heilsgemeinschaft mit Gott, die gemeindebildende und erhaltende Macht des heiligen Geistes: sie werden von keinem Wandel der Zeit berührt. Wie Jesus Christus nach seiner menschlichen Natur zunahm an Alter, Weisheit und Gnade, so gewinnt auch in der Kirche die Fülle göttlichen Lebens, die ihr Christus mittheilt, mehr und mehr menschliche Gestalt, bis dass wir Alle herankommen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntniß des Sohnes Gottes [Eph 4,13]. Es geht durch die Geschichte des Reiches Gottes ein himmlischer Fortschritt. Die Kirchengeschichte ist die Siegesgeschichte der Wahrheit. Aber der Weg zu diesem Siege ist anders als die Menschen denken. Der Weg der Wahrheit geht immer durchs Kreuz.98
Deshalb warnt er vor illusorischen Erwartungen der Art, dass die Kirche auf Erden eine sichtbare Einheit erlangen und das Christentum alle Bereiche des Lebens voll durchdringen werde. „Wie die Dinge liegen, wird die Kirche der Zukunft 98 Blicke aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft der Kirche, 375. – Kahnis lässt hier die Ausführungen durchscheinen, die Melanchthon in Apol. 7 und 8 zur Eigenart der Kirche als politia bzw. civitas darbietet, bis hin zu der Wendung „tectum cuce“ (BSLK, 236–239, Zitat dort 237,52).
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mehr und mehr nur in einzelnen Gemeinden ihre Grundlage haben.“ „Es ist ein Wahn zu glauben, daß die Einheit der Kirche Verschmelzung der Konfessionen 100 fordert.“ „Die Mächte der Menschheit fordern Scheidung von allen Einflüssen 101 des Christenthums.“ „Aber so schwierig, so langsam auch alles geht, zuletzt siegt doch die Wahrheit. […] Nur erscheint auch der Sieg oft in ganz anderer Gestalt als 102 die Menschen es dachten.“ Nicht der beobachtbare Wandel erschließt also den Richtungssinn der Geschichte. Kahnis folgt einem fortschreitenden Geschichtsverständnis, indem er eine weiterführende Entwicklung nicht nur innerhalb eines rein menschlichen Bereiches annimmt, sondern auch in der menschlichen Natur Christi das göttliche Selbstbewusstsein immer mehr hervortreten sieht und der menschlichen Geschichte von ihrem Schöpfungsanfang bis zu ihrem Vollendungsziel einen wirklichen Fortschritt zuschreibt. Ja, der eigentliche Fortschritt der Geschichte liegt in Gottes Weg mit den Menschen. Darin unterscheidet sich sein Geschichtsverständnis deut103 lich von andern ihm nahe stehenden Theologen. Indem die geschichtliche Dimension aufmerksam beachtet wird, wird die Welt irdischer Geschichte zugleich transzendierend unter Gottes Hineinwirken und seinem darüber hinausgehenden Wirken betrachtet. „Der Gottes bedürftige Mensch ist nur der bewußte Ausdruck der Welt, welche, wie sie nicht aus sich selbst entstanden ist, auch nicht aus sich selbst bestehen kann ohne göttlichen 104 Beistand.“ Kahnis bezieht sich dafür einerseits auf die allgemeine Erfahrung und die Bestimmung der biblischen Schöpfungslehre, die Welt sei aus nichts geschaffen. „In diesem Begriffe liegt, daß Gott vor der Welt war, also in und mit der Zeit die Welt gemacht hat. Als Ziel aber der Weltschöpfung kann nur die Gemein105 schaft der Kreatur mit Gott durch Christum betrachtet werden.“ Als Geschöpf Gottes hat der Mensch seine Bestimmung darin, zu einer ewigen Gemeinschaft mit Gott zu gelangen. „Als auf die Allgemeinheit sich beziehender Geist ist daher der Mensch an die Menschheit gewiesen, die in Familie, Stamm und Volk ihren natürlichen, in Wissenschaft und Kunst ihren geistigen Kosmos hat. Aber der Einzelgeist findet in dem Gattungsleben der Menschheit nicht das Höchste, sondern nur in der Gemeinschaft mit Gott. Daher ist die Wahrheit aller 106 Lebenskreise der Menschheit das Reich Gottes.“
99 Blicke aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft der Kirche, 374. 100 Ebd., 375. 101 Ebd., 375. 102 Ebd., 376. 103 Wagner attestiert etwa Delitzsch ein „zyklisches Geschichtsverständnis“, nach dem das Ende die Rückkehr zum Anfang darstellt und das sich eng mit dem von Hofmann berühre (Delitzsch, 337.378). 104 Dogmatik III (1868), 266f (= Dogmatik2 I [1874], 450). 105 Dogmatik III (1868), 231 (= Dogmatik2 I [1874], 409). 106 Dogmatik III (1868), 250 (= Dogmatik2 I [1874], 430f).
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Eine Anthropologie lässt sich deshalb nicht vom Menschen in seiner geschichtlichen Wirklichkeit aus entwickeln; denn wahres Menschsein ist nur zu erfassen, wenn man nicht von seinem vorfindlichen Sein ausgeht, sondern seine noch nicht verwirklichte, von ihm selbst aus weder zu erfassende noch zu erreichende Bestimmung berücksichtigt. Diese hat ihm Gott verheißen und allein Gott kann sie noch durch den Tod hindurch verwirklichen, zu einem bleibenden Leben in Gemeinschaft mit Gott führen. Dies gilt für Kahnis ganz allgemein. So deutet er etwa das Daimonion des Sokrates entsprechend: „Zweifellos glaubte Sokrates an eine außerordentliche, das natürliche Wissen überschreitende, besondere Offenbarung Gottes. In diesem Glauben an sein Daimonion sprach Sokrates thatsächlich aus, daß das Vernunftwissen für die höchsten Beziehungen des Menschen einer göttlichen Sanktion bedürfe. Dieser Zug nach Offenbarung hat im Christenthum seine Erfüllung ge107 funden.“ Die geschöpfliche Zeitlichkeit ist umschlossen von der Ewigkeit des Schöpfers, der sein Werk an seinen Menschen noch nicht voll zum Ziel gebracht hat. Eine innerweltliche Geschichtsbetrachtung widerspricht dieser Sicht ganz offensichtlich. „Christus, das Ziel des Einzelnen, ist […] auch das Ziel der Weltgeschichte. Aber diesem Bekenntnisse des Glaubens scheint die Wirklichkeit zu widersprechen, welche das Reich des Heils erst spät erschienen zeigt, demselben nur einen Theil der Menschheit einräumt und auch in diesem Theile viele Berufene, wenig Auserwählte kennt.“ Der zuvor aufgestellte Grundsatz der Allgemeinheit wird also nicht erfüllt. „Aber auch hier muß der Glaube beweisen, daß er nicht 108 von der Wirklichkeit, sondern vom Worte lebt.“ Die in der geschichtlichen Vereinzelung und im geschichtlichen Wandel liegende Relativierung wird durch die persönliche Gemeinschaft mit Gott ihrerseits relativiert, und zwar nicht im Sinne eines reinen Postulats einer hinter dieser Welt liegenden anderen Welt, sondern als eine in dieser Welt bereits wirksam werdende und sie durchdringende, aber in ihr nicht aufgehende Dimension. Die Komplementarität einer naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung einerseits und andererseits einer theologischen Weltsicht, in der Gott die Welt geschaffen hat, sie durchwaltet, in ihr gegenwärtig ist und sie zum Ziel führt, begegnet im Miteinander von autonomer innerweltlicher Betrachtung und transzendierender Schau und Erfahrung von Mensch und Welt nicht nur in der Abendmahlslehre hinsichtlich der Erfassung der dargereichten Gaben, sondern auch in der Christologie (Kahnis: Latenz der göttlichen Natur) und in der theologischen Weltsicht überhaupt. Kahnis nimmt dabei eine biblische Herangehensweise zum Verstehen geschichtlichen Verstehens auf. Eindrucksvoll schildert beispielsweise das Lukasevangelium zwei Blickrichtungen auf Jesus. Auf die Himmelsstimme bei der Taufe Jesu: „Du bist mein Sohn“ (Lk 3,22), folgt der Stammbaum Jesu, der über Josef 107 Ueber das Verhältniß der alten Philosophie, 46. 108 Beide Zitate: Dogmatik III (1868), 283 (= Dogmatik2 I [1874], 467f).
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nicht nur auf Adam zurückgeführt wird, sondern bis auf Gott (3,38), so dass Jesus auf doppelte Weise als „Sohn Gottes“ ausgewiesen erscheint. Die Erzählung von der Versuchung Jesu problematisiert diese Angaben dann aber durch die Anrede des Teufels an Jesus: „Bist du Gottes Sohn, so sprich“ (4,3), auf die Jesus seinerseits betont als „Mensch“ (4,4) antwortet und alle Macht und Entscheidung allein Gott zuerkennt (4,8.12). Verbunden ist diese Perikopenfolge durch die Auskunft, dass der Geist Jesus ergriffen hat (3,22; 4.1; 4,14). Es stehen sich also zwei Betrachtungsweisen ein und derselben Person gegenüber, eine κατὰ πνεῦμα und eine κατὰ ἄνθρωπον („wie man meinte“, 3,23). Dieser Textsequenz am Anfang der Darstellung der Wirksamkeit Jesu korrespondiert an deren Abschluss die erneute Aufnahme dieses Themas. Vor dem Hohenrat antwortet Jesus oben im Palast auf die Frage: „Bist du der Sohn Gottes?“, auf die schwebende Weise: „Ihr sagt, dass ich es bin“, oder: „Ihr sagt es, ich bin es“ (22,70). Voraus geht der Bericht über die gleichzeitige Behauptung des Petrus unten im Hof: „Ich kenne diesen nicht“ (22,57). Vor Pilatus bekennt sich Jesus dann als „König der Judäer“: „Du sagst es“ (23,2). Herodes möchte ein Zeichen von diesem „galiläischen Menschen“ sehen und wird darin enttäuscht (22,6–12). Zum Tode ausgeliefert wird Jesus als „König der Judäer“ (22,18.37f), während die jüdischen Führer ihn als „den erwählten Gesalbten Gottes“ verspotten (23,35). Der Hauptmann bezeichnet ihn als „Gerechten“ (23,47; allgemein verständliche Übertragung der sonst überlieferten Wendung 109 „ein Sohn Gottes“ ). Zwei Perspektiven, aus denen heraus sich Jesus betrachten lässt, werden miteinander ins Spiel gebracht. Menschliche Geschichte erlaubt eine Interpretation auch als Geschichte im Horizont Gottes. Die prozessuale Offenheit führt Kahnis nicht zu einer skeptischen Relativierung aller geschichtlichen Erscheinungen, sondern er verbindet sie mit der Überzeugung, dass der Geschichtsprozess zielgerichtet ist. Kahnis erinnert immer wieder an das apostolische Diktum: „Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden, bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mann, zum vollen Maß der Fülle Christi“ (Eph 4,12bf). Solche Entwicklungsfähigkeit schreibt er gerade dem Protestantismus zu. „Noch aber hat der Geist, welcher die Reformation hervorgerufen hat, die Fülle von Kräften, die in ihm ruhen, nicht erschöpft. Der Protestantismus hat nicht nur hinter, 110 sondern auch vor sich eine Geschichte.“ Die Erkenntnis der relativen Vorläufigkeit des augenblicklichen Stadiums der Geschichte führt zu einer bescheidenen Lernbereitschaft, die sich für weitere Einsichten offen hält, und zwar in einer ökumenischen Persepktive: Ich bin auf dem Wege des Suchens nach Wahrheit zu Jesu Christo, der da ist die Wahrheit, geführt worden, und durch ihn zur lutherischen Kirche, welche ich nicht für die allein wahre Kirche, wohl aber für die Säule der Wahrheit in der allgemei109 Ἀληθῶϛ οὗτος ὁ ἄνθρωπος υἱὸϛ θεοῦ ἦν (Mk 15,39; Mt 27,45). 110 Rede zum Gedächtniß Melanchthon’s, gehalten am 19. April 1860 in der Aula der Universität Leipzig (1860), 7.
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nen Kirche gehalten habe und halte, weiß aber, daß nur Der den Geist dieser Kirche in sich aufgenommen hat, welcher unerschütterlich steht auf dem Grunde der Apostel und Propheten und der festgegründeten Ueberzeugung lebt, daß das lutherische Bekenntniß seinem Wesen nach das lautere Evangelium ist, und doch die Geschichte von drei Jahrhunderten hat auf sich wirken lassen, einen ökumenischen Sinn und ein katholisches Herz hat für das[,] was in allen Kirchen wahr ist[,] und ein Ohr für die Harmonie der Wahrheit, die sich aus den Dissonanzen der unendlich mannigfaltigen Zeittöne herausringen will. Ich habe nie die Schmach der Orthodoxie gescheut, sofern ihre Sache die Sache Christi ist, und habe mir doch stets gesagt, daß ich für Die, welche im Kirchenglauben nur das Alte, Feste und Fertige suchen, kein Gewährsmann werden kann.111
Auf einem mittleren Weg zwischen verbindlicher Lehre und Kritik gewinnt er die Möglichkeit, auch einen Fortschritt der Wahrheitserkenntnis und der Lebensbereicherung anzunehmen: An die Stelle der orthodoxen Inspirationslehre, die in der Schrift nur den Codex der reinen Lehre sah, ist die Erkenntniß getreten, daß die heiligen Schriften die Zeugnisse sind, in welche sich die Geschichte der Heilsoffenbarung niedergelegt hat. An die Stelle jener fertigen und festen Begriffe, in welche die alte Dogmatik den als unumstößlich vorausgesetzten Bekenntnißinhalt umsetzte, sind zwar nicht so rund geformte, aber begründetere, tiefere und lebensvollere Lehren getreten, welche nicht bloß die Gedanken der christlichen Theologen aller Jahrhunderte, sondern auch die Geisteselemente der fortschreitenden Menschheit der Wahrheit dienstbar zu machen suchen. Es zeugt der Geist Jesu Christi im Schriftwort, im Bekenntnisse, im fortschreitenden Glaubensbewußtsein. Wenn aber der Geist in mehr als einer Gestalt zeugt, dann darf man eben keine dieser Gestalten zur alleinigen und absoluten machen. Eine Richtung, welche das alleinige Gewicht des Glaubens auf die Schrift wirft, wird nothwendig auf Irrwege kommen, weil sie den Kommentar nicht liest, den der heilige Geist in der Entwickelung von achtzehn Jahrhunderten über die Schrift geschrieben hat, wie eine Richtung[,] welche nur Tradition und Bekenntniß treibt[,] nothwendig zu einer verknöcherten Orthodoxie führt, weil sie weder das Leben kennt, aus welchem die Tradition geworden ist, noch das Leben[,] in welchem allein sie sich als Geist und Kraft beweist. Die Schranken, welche jeder dieser Faktoren in sich trägt, sind eben die Fingerzeige des heiligen Geistes, daß jeder seine Ergänzung am andern findet, und nur im lebendigen Zusammenwirken derselben die Wahrheit sich offenbart.112
Die starke Trennung, die Kahnis dennoch zwischen göttlicher Grundlage und menschlicher Gestalt, zwischen Reich Gottes und Kirche vornimmt, führt dazu, dass er die konkreten religiösen Vollzüge, in denen das kirchliche Leben seine greifbare Gestalt gewinnt und in denen die geschichtliche Erinnerung ihren Sitz im Leben hat, nicht in ihrer vollen theologischen Bedeutung wahrnimmt. Diese Vollzüge sind ja die Formen, in denen die Heilsgeschichte erinnernd rekapituliert 111 Dogmatik I (1861), VII–VIII. 112 Dogmatik II (1864), 625f.
Anfragen an diesen Lösungsvorschlag
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wird und feiernd und lehrend ihre Identität stärkende Kraft immer neu erfahren wird. Wie vergangene Geschichte auf diese Weise lebendig bleibt, bezieht Kahnis nicht in seine Reflexion mit ein, sondern beschränkt seinen Blick auf den Bereich der theologischen Lehrentwicklung.
6.4 Anfragen an diesen Lösungsvorschlag 6.4.1 Allgemeines und Einzelnes, Wesen und Wahrheit Sein Anliegen, geschichtliche Betrachtung und verbindliche Normativität miteinander zu verbinden, führt Kahnis zu einer Unterscheidung zwischen Wesen, Kern und Zentrum einerseits und Interpretation, theologischer Ausprägung und geschichtlicher Verwirklichung andererseits, d.h. zwischen dem Leben selbst und den einzelnen gelebten Momenten. Ganz dezidiert geht es ihm darum, durch die geschichtlichen Erscheinungen hindurch das Wesen zu erfassen – das Wesen der Religion, des Christentums, des Protestantismus, des Luthertums, der Union. Schon 1847 stellt er fest: „Aber eben ein wahrhaft historisches Eindringen in den Gang der Offenbarung setzt eine Grundansicht über das Wesen des religiösen 113 Lebens überhaupt voraus,“ und das heißt „das Wechselverhältniß des Allgemei114 nen und Einzelnen“. Denn „will ich das Wesen einer Erscheinung finden, so gehe ich eben über die unmittelbare Erscheinung hinaus, ich dringe in den Grund derselben“, und das bedeutet eben ein Abstrahieren von den einzelnen Bibelstellen oder sonstigen Einzelaussagen, um eine „Gesammtentwickelung“ wahrzuneh115 men. Die Unterscheidung ist, soweit sie die Unterscheidung zwischen dem Wesentlichen und den Einzelheiten betrifft, selbstverständlich. Die Wahrheit einer Sache hängt nicht daran, ob alle die, sie sie wahrnehmen, in allen Einzelheiten ihres Berichtes übereinstimmen. Sonst würde ein Geschehen desto ungewisser, je mehr Zeugen es miterlebt haben. „Wenn ich der felsenfesten Ueberzeugung bin, wie ich es bin, daß Christus wahrhaftig von den Todten auferstanden ist, dann hat mein Geständniß, daß ich die einzelnen Angaben der vier Evangelien über die Aufer116 stehung nicht ausgleichen kann, für die Sache selbst nichts zu bedeuten.“ Die Unterscheidung der beiden Ebenen des Einzelnen und des Ganzen wird jedoch problematisch, wenn sie den Verdacht weckt, dass damit doch eine Ebene des Eigentlichen jenseits der eigenen Eingebundenheit in die Geschichte in die Argumentation eingeführt wird, aus dem Problem der historischen Verifikation 113 Die Lehre vom heiligen Geiste, X. 114 Ebd., XII. 115 Das Wesen des Christenthums, 202. 116 Dogmatik III (1868), VIII.
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eine ontologische Theorie gefolgert wird. „Nur ihrer menschlichen Seite nach ist 117 die Kirche einer Entwickelung fähig.“ Der heilige Geist bestimmt diese Entwicklung zwar wesentlich mit, aber Kahnis versteht diesen heiligen Geist und das Leben als Größen, welche die irdisch-geschichtlichen Dimensionen transzendieren. Die in Urkunden erfassbare „geschichtliche Entstehung“ des Christentums hat ihren „Grund“ in der „Offenbarung“, die das Wesen des Christentums erschließen soll; dies kann nur aus der heiligen Schrift erkannt werden, diese darf dabei aber nicht vordergründig wahrgenommen werden. Die heilige Schrift hat demnach wie eine Münze ihre zwei Seiten. „Ist also die Schrift nicht nur die anerkannte Quelle der geschichtlichen Grundlage, sondern auch der Codex der absoluten Wahrheit 118 des Christenthums,“ so ergeben sich zwei unterschiedliche Leseweisen desselben Textes. Das aber bleibt unbefriedigend. Mit den Begriffen Wahrheit und Wesen bezeichnet Kahnis denn auch eine übergeschichtliche Wirklichkeit, die dem zeitlichen Wandel entnommen ist, und markiert damit die Grenze seiner geschichtlichen Betrachtung. Aufschlussreich sind seine zusammenfassenden Ausführungen, mit denen er 1874 seinen „Inneren Gang des deutschen Protestantismus“ beschließt: Ueberblicken wir noch einmal das Trachten des Menschen dieser Zeit, so ist es auf Bildung, auf Freiheit, auf ein machtvolles Vaterland gerichtet. Auf Bildung. […] Des modernen Menschen Ziel [geht] dahin, als ein gebildeter Mann die Umgangsformen, Ueberzeugungen und Gesinnungen seiner Zeit zu vertreten. Der Mittelpunkt dieser Weltbildung liegt in der Erkenntniß. Der Gebildete giebt sich der Wahrheit hin, die seinem Zeitalter feststeht. Diese Wahrheit ist aber etwas Wandelbares. […] Auch der gegenwärtige Realismus mit seiner materialistischen Neigung wird vorübergehen. Was der Folgezeit das Höchste sein wird: wer mag es sagen? Der Bildungsmensch ist der Diener seiner Zeit. Das aber soll der für die Ewigkeit geschaffene Mensch nicht sein. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele [Mk 8,36 par.]. Die einzelne Person ist für eine Wahrheit, die den Stempel der Ewigkeit trägt. Selbst der rohe Materialist, welcher das Denken für eine Aussonderung des Gehirnes hält, meint damit doch eine Wahrheit auszusprechen, die da dauert. Nur die Wahrheit aber dauert, deren Gegenstand ewig ist. Das aber ist allein Gott. Gott allein ist die Wahrheit. Der allein wahre Gott aber hat sich in seinem Sohn offenbart, um durch ihn Alle, die in Kraft des heiligen Geistes glauben, zu retten. In dem dreieinigen Gott ist alle Wahrheit beschlossen. Glaube aber an den dreieinigen Gott ist der erste Punkt im Christenthum. Auf Freiheit ist der moderne Mensch gerichtet. Alle Freiheit aber besteht darin, daß der Mensch als Wille sich aus sich selbst für das bestimmt, was sein wahres Selbst ist d.h. das Gute. Die Freiheit aber, von welcher die Massen reden, ist die politische Freiheit. Gesetzt nun, daß sie die denkbar höchste Freiheit als Staatsbürger erreichen: sind sie damit als sittliche Geister frei? Alle Freiheit besteht in der sittlichen Gemeinschaft des Menschen mit Gott. Wie aber der Mensch von Natur ist, ist er 117 Die Lehre von heiligen Geiste, 158. 118 Das Wesen des Christenthums, 202.
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durch die Sünde von Gott getrennt. Ihn frei zu machen von der Sünde und mit dem Vater als Kind auf ewig zu verbinden, erschien der Sohn Gottes im Fleisch. Niemand ist frei, den der Sohn nicht frei macht. In der Heilsgemeinschaft aber des Einzelnen mit dem Vater durch den Sohn liegt der zweite Punkt, der Mittelpunkt im Christenthum. Nach Einheit des deutschen Reiches trachten dermalen die Deutschen. Niemand aber vermag zu sagen, wieweit das Recht der Reichseinheit, wieweit das Recht der Selbständigkeit der einzelnen Staaten gehen darf, wenn Deutschland bestehen soll. Wer mag überhaupt sagen, ob nach einem Jahrhundert noch ein deutsches Reich besteht? Alle Staaten der Menschen vergehen. Nur das Reich Gottes geht nicht unter. Das Reich Gottes auf Erden ist die Kirche. Das aber ist der dritte Punkt im Christenthum. […] Was unser Zeitalter vergebens in den Reichen der Bildung, der Freiheit, des Vaterlandes sucht, findet es allein in den drei Stücken, welche das ewige Wesen des Christenthums bilden.119
Den vergehenden Wahrheiten der Geschichte stellt Kahnis die ewige Wahrheit gegenüber, die im Wesen des Christentums liegt, nämlich Gott, der allein die Wahrheit ist, das wahre Selbst des Menschen, welches in der ewigen Gemeinschaft mit Gott seine Freiheit findet, und das Reich Gottes, das nicht untergeht. Kahnis markiert durchaus, dass auch diese ewigen Wahrheiten geschichtlich vermittelt sind, nämlich durch die Erscheinung des Sohnes Gottes „im Fleisch“, den „Glauben“ und die „Kirche auf Erden“. Er reflektiert aber nicht die Konsequenz daraus, dass diese ewige Wahrheit damit ihrerseits ebenfalls als „etwas Wandelbares“ begegnet, nämlich hinsichtlich ihrer Wahrnehmung und ihrer gegenwärtigen Umsetzung im geschichtlichen Leben. Das „Wesen des Christentums“ ist ein ideologischer Begriff, der ein Postulat formuliert und es der kritischen Rückfrage entzieht. Es bleibt ja das Problem, dass Menschen ihren Glauben unterschiedlich bestimmen, Gottes Offenbarungen innerhalb der Geschichte erfolgen und das Reich Gottes auf durchaus unvollkommene Weise von den vielerlei Kirchen repräsentiert wird. 6.4.2 Leben und religiöses Erleben Gegen Kahnis wurde der Vorwurf erhoben, er führe den Supranaturalismus fort.120 Kahnis selbst aber verwahrt sich dagegen, indem er dem Suprarationalismus ein auf den Wissensaspekt reduziertes Denken attestiert, das die umfassende Wirk121 lichkeit des Religiösen nicht zureichend erfassen könne. Während der Supranaturalismus durch die Wahrnehmung außergewöhnlicher Wunder ins Staunen 119 Der innere Gang II (31874), 310–312. 120 Gustav Wilhelm Frank (25. September 1832 in Schleiz – 24. September 1904 in Hinterbrühl bei Wien), 1864 ao. Professor in Jena, 1867 o. Professor in Wien, nach: Dogmatik II (1864), IX; August Mücke: Die Dogmatik des neunzehnten Jahrhunderts in ihrem inneren Flusse, 188–191. 121 Vgl. Die Lehre vom heiligen Geiste, 101f.235; Das Wesen des Christenthums, 140.154.
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über Gott gerät, nennt Kahnis die Gemeinschaft mit Gott im Glauben an Jesus Christus das Zentrum seiner Theologie. Er selbst nimmt die Wirklichkeit unter dem Begriff Leben in den Blick. „Leben überhaupt ist eine Kraft, welche sich von innen nach außen bestimmt, um aus dieser Entäußerung in sich zurückzukehren. So wirft die Sonne die Planeten wie Glieder aus sich heraus, um sie in ihrer Schwerkraft in sich zurückzuziehen. Die Pflanze findet in ihrer Triebkraft nach außen in der Blüthe ein lichtes Selbst. Im Thiere ist es das Gefühl, welches alle seine Beziehungen auf die Außenwelt auf 122 einen individuellen Mittelpunkt zurückführt.“ Dieses allgemeine Phänomen des Lebens als Kraft, die eigene Eigentümlichkeit durch ein Sicheinlassen auf die Außenwelt des Anderen zu entfalten, nimmt dann im menschlichen und göttlichen Leben seine besonderen Formen an. „Der Grund aller Freiheit im Menschen ist das Selbstbewußtseyn, diese That, in welcher das Subjekt sich selbst objektivirt, in 123 dieser Objektion sich bejaht, in sich zurückkehrt.“ Und: Wie die Natur im Namen der Freiheit, welche sie sucht, über sich hinaus an den Menschen weist, welcher als Ich freie Person ist, so weist das Ich im Namen der Freiheit, welche das Wesen des menschlichen Lebens ist, an den letzten Grund und an ein letztes Ziel des Ich. Grund und Ziel des Ich ist Gott. Ist Gott das Ziel des menschlichen Ich, so muß in ihm die Idee des menschlichen Lebens in absoluter Verwirklichung gesetzt sein. Er muß somit das absolut freie Ich sein, d.h. das Ich, welches Grund und Ziel seiner selbst ist.124
In dem Begriff Leben liegt für Kahnis mithin etwas Umgreifendes, das alles Einzelne auf das Ganze einer Wirklichkeit bezogen erscheinen lässt, und zwar auf dynamische und prozessuale Weise. Kahnis versteht das Wesentliche und Eigentliche unter dem Begriff Leben freilich nicht etwa als eine Struktur, die dem geschichtlichen Prozess als solchem eigen ist, als die ewige Idee der Geschichte etwa, die sich in ihr verwirklicht, indem gegenwärtig noch Zukünftiges Vergangenes überholt. Vielmehr dringt das Wesentliche und Eigentliche als Offenbarung von außen in den Geschichtsablauf ein, um Gemeinschaft mit den Menschen inmitten dieser Welt aufzurichten und damit zugleich den Geschichtsablauf zu überholen: Keine Kunst, keine Begeisterung vermag ein vom Geiste der Menschheit überschrittenes Leben wiederzuerwecken. Anders steht es auf dem Gebiete der Geschichte des Reiches Gottes. Wer da hat, dem wir gegeben. Wer den Geist Christi hat, dem wird in der Vergangenheit des Reiches Gottes eine reiche Ahnenwelt desselben Geistes aufgethan. Der Geist, der hier waltet, verbürgt unserem Geiste sein
122 Die Lehre vom heiligen Geiste, 8. 123 Ebd., 8. 124 Ebd., 9.
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Recht, wie unser Geist dem Geiste der Kirche Zeugniß giebt von seiner ewigen Jugend, von seiner göttlichen Siegeskraft.125
Damit aber wird die irdisch-geschichtliche Wirklichkeit in den umgreifenden Horizont der göttlichen Wirklichkeit einbeschrieben. Auch erfülltes Leben in letzter Vollkommenheit hat Geschehenscharakter, wobei die Bezogenheit der einzelnen Individualitäten auf das gemeinsame Ganze ständig fortschreitet: Wenn schon auf Erden die wahre Meisterschaft des Lebens darin besteht, dem Ganzen von Einem Punkte aus zu dienen, so wird dieß dort zur vollendeten Wahrheit werden. Wie im Himmel viele Wohnungen, werden in dem Lande der Seligen ewige Hütten sein (Lc. 16, 9.), wo sich wiederfinden werden, die auf Erden Gott verbunden hat. Alle werden selig, aber nicht Alle gleich sein. Wie in der Engelwelt werden unter den Seligen Unterschiede, Stufen, Ordnungen sein. […] Nicht Kampf wird dort sein, aber Arbeit. Wie der Vater rastlos wirkt, werden auch seine Kinder wirken (Joh. 5.). Sie werden fortschreiten in der Erkenntniß Gottes und seines Reiches, in der Heiligkeit vor Gott, in der Liebe unter einander, in der Selig126 keit.
Der Begriff Leben, verstanden als Kraft, die einerseits Individualisierung bewirkt und andererseits dem umfassenden Ganzen dient, verbindet also die irdischgeschichtliche und die göttlich-bleibende Wirklichkeit miteinander. Während das innerweltliche Leben in der Kommunikation und Gemeinschaft mit anderen Menschen geschichtlich und vergänglich ist, ist das diesen Raum und diese Zeit transzendierende Leben in der Kommunikation und Gemeinschaft mit Gott auf Ewigkeit hin angelegt und von gleich bleibender Gültigkeit kraft der Treue und Verlässlichkeit Gottes. Die Vermittlung zwischen beiden Lebenswelten liegt in der Offenbarung, die geschichtlicher Natur ist und doch dem ewigen Gott begegnen lässt. Es fragt sich allerdings, wie Kahnis die Vorstellung von einer ewigen Geschichtlichkeit (rastloses Wirken und fortschreitende Erkenntnis als Äußerungen auch des ewigen Lebens) mit der Feststellung der unveränderlichen Wahrheit Gottes verbindet. Und eine Antwort lässt sich bei ihm kaum finden. Die doppelte Dimensionalität des Menschseins erlaubt Kahnis einerseits eine große Gelassenheit hinsichtlich historischer Erkenntnisse und gibt ihm andererseits eine unerschütterliche Gewissheit im Wesentlichen des Glaubens: Wir haben gesehen, daß das Christenthum im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Entwickelungsstufen durchschritten hat. Wer das Christenthum nun sucht in dem, was einer gewissen Zeit angehört, der findet die Erscheinung, nicht das Wesen. Was einmal gewesen ist, das läßt sich nicht wieder aufrichten. Es ist nicht bloß unmöglich, die alte und die mittelalterliche Kirche wieder aufzurichten, sondern auch die Zeiten der protestantischen Orthodoxie sind für immer dahin. Nein, jenes Streben nach Ruhe, Einheit, Frieden findet seine Wahrheit nur in dem ewigen We125 Ebd., XIII. 126 Dogmatik III (1868), 576 (= Dogmatik2 II [1875], 530).
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sen des Christenthums. Dieß aber ist nach Schrift, Tradition und dem wahren Selbstbewußtsein der Kirche das Heil, welches der Mensch durch den Glauben an Jesum Christum in Gott findet. […] So ist das Christenthum seinem innersten Wesen nach nicht bloß Offenbarung des Wortes, wie die alte morgenländische Kirche meinte, nicht bloß das neue Leben der Gnade, wie die alte abendländische Kirche lehrte, nicht bloß Kirche, wie die mittelalterliche Kirche behauptete, nicht bloß reine Lehre, wie die protestantische Orthodoxie thatsächlich aussprach, sondern vor Allem Leben, d. i. die persönliche Lebensgemeinschaft mit dem Vater durch den Sohn im Geiste.127 Ich lebe und sterbe der Ueberzeugung, dass die Principien des Protestantismus die Principien der Wahrheit sind.128
Julius Diedrich erhob den Vorwurf, bei den Prinzipien, die Kahnis aus der Geschichtsbetrachtung erhoben habe, handele es sich um bloße Abstraktionen, die 129 weder das Wesen noch das Leben zu erfassen vermögen. Diese Beurteilung geht von der Voraussetzung aus: „In seiner Darstellung vermißt man das wirkliche Bemessen nach dem Evangelium, d.h. man vermißt den wahren Protestantismus und ist, ohne daß man’s nur zur römischen Wirklichkeit brächte, im Nebelgefilde 130 umhertappend.“ Diese Voraussetzung aber ergibt sich, indem Diedrich jede Vermittlung zwischen geschichtlicher Erscheinung und dem ewigen Wesen der Wahrheit grundsätzlich ablehnt und deshalb das von Kahnis verfolgte Programm 131 als Rückfall in päpstliche Weltherrschaftsgelüste desavouiert. Doch trifft er damit Kahnis wirklich? Dieser sieht das Zentrum des Glaubens in der persönlichen Gemeinschaft mit dem Herrn der Geschichte, die nur dieser Herr selbst konstituieren kann und bei der er selbst sich mit den Menschen gemein macht. Die göttliche Dimension hat für Kahnis mithin einen umgreifenden Charakter, Offenbarung ist ihm nicht einfach ein höheres Wissen, das rein spekulativ vermutet wird und reines Postulat bleiben muss, sondern eine Lebendigkeit, die nicht allein in den natürlichen Bezügen, sondern wesentlich in Christus ruht und sich von ihm die eigentliche Erfüllung erhofft. „Ich habe versucht, aus dem Wesen des Christenthums […] das Wesen des Protestantismus, aus diesem aber das Wesen des Lutherthums […] zu entwickeln. Vielleicht trägt diese Entwickelung dazu bei, Unterschied und Einheit dieser drei concentrischen Kreise, deren Mit132 telpunkt Christus ist, zu bestimmen.“ Kahnis nimmt dabei eindeutig biblische Redeweisen auf. Der johanneische Christus sagt von sich selbst: „Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so 127 Der Gang der Kirchengeschichte (1865), 140f. 128 Ebd., 141. 129 Diedrich: Die Kahnis’schen Prinzipien (1866), dort 4.11.20 („sich von aller Wirklichkeit auch in der Welt in die Wolken der Abstraction schwingend“).22.27. 130 Ebd., 5. 131 Ebd., 22–24. Diedrich bekennt von sich: Ich will „auf K.’s ‚Protestantismus’ freudig Verzicht leisten, denn das ist nur ein in die Luft gesprengtes, verwildertes und verlaufenes Papstthum“ (ebd., 24). 132 Christenthum und Lutherthum, IX.
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hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber“ (Joh 5,26). Demgegenüber bestimmt der lukanische Paulus das menschliche Leben zwar als ein abhängiges, aber dennoch ebenfalls als Leben, „da Gott doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt“, so dass wir „in ihm leben, weben und sind“ (Act 17,25.28). Der „lebendige Gott“ (Jos 3,10; Act 14,15; I Tim 4,10) und die sterblichen Menschen (Act 14,15), auf welche die Begegnung mit diesem lebendigen Gott geradezu lebensbedrohlich wirkt (Dtn 5,26), werden unter dem Begriff des Lebens doch zusammen gesehen. Und die in dieser gemeinsamen Benennung liegende Spannung steht unter der Verheißung, dass Gott sie auflöst: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,28–30); „denn ich lebe und ihr sollt auch leben“ (Joh 14,19), und zwar in inniger Gemeinschaft miteinander: „Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe der Grund der Welt gelegt war“ (Joh 17,24). Das Leben kennzeichnet zwar die innerweltliche Geschichte, transzendiert sie aber zugleich. Es stellt sich allerdings die Frage, wie Kahnis, der auf dem Wege der „Entwickelung“ und „mit den Erfahrungen aller Jahrhunderte und den wissenschaftli133 chen Mitteln unserer Zeit auf dem gelegten Grunde“ fortbauen will, seinen Anspruch umsetzen will, dabei zu zeitlos gültigen Wesensaussagen zu gelangen. Tatsächlich setzt sein Entwurf auch gar nicht mit Christus als Mittelpunkt aller Geschichte ein, in dem sich das ewig wahre Wesen erschließt. Kahnis schließt sich zwar an die christliche Lehrüberzeugung an, dass einzig in der Einheit der beiden Naturen in Christus die Ewigkeit und die Zeit sich in personaler Einheit verbinden, stellt sie aber in einen eigenen Vorstellungsrahmen hinein. Einerseits bestimmt Kahnis „die Summe, das Wesen, den Kern des Christenthums“ zwar in dieser Weise: Jesus Christus, […] ist keine Geschichte, kein Dogma, kein Reich, sondern eine Person, die himmlische Person, die uns mit Gott versöhnen will. Willst du wissen, ob du im Stande des Heils bist, ein wahrer Christ, so beantworte die Frage, ob du mit Jesu Christo, dem Sohne Gottes und dem Sohne des Menschen, dem alleinigen Mittler zwischen Gott und den Menschen, außer welchem kein Heil ist, im lebendigen Glauben also verbunden bist, daß, so lange er in dir und du in ihm bist, dich weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstenthum noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur scheiden mag von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn 134 (Röm. 8,38.39.). 133 Ebd., IX. 134 Predigten. Zweite Sammlung (1871), 194.
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Aber er setzt andererseits dann doch noch davor ein bei einer schon in sich selber gegebenen Erfahrung, bei seiner eigenen Person mit ihrem Zug zum Religiösen, statt bei der Begegnung mit der Person Christi. Bestimmt Kahnis das Wesen des Christentums als „Heilsgemeinschaft des Menschen mit Gott durch Christum im heiligen Geiste“, die geschichtlich zum Bewusstsein kommt, so ergibt es sich für ihn zwangsläufig, als Bezugsrahmen für diesen Prozess das religiöse Leben zu wählen, das er als eine allgemein menschliche Tatsache voraussetzt und damit zugleich als eine Disposition zu göttlichmenschlicher Gemeinschaft. „Da es eine Thatsache ist, daß unter allen Völkern wie in jedem Einzelnen religiöses Leben ist, so muß doch in der menschlichen Natur etwas sein, aus welchem dieß religiöse Leben mit derselben Nothwendigkeit hervorgeht wie die Herrschaft des Sittengesetzes in der Menschheit sich nur aus 135 einer sittlichen Anlage erklären lässt.“ Kahnis schließt sich an Schleiermacher an, der ebenfalls von der Tatsache des religiösen Lebens ausging, sieht den Lebensgrund aber nicht im Gefühl der absoluten Abhängigkeit, sondern schreibt ihm eine breitere Grundlage zu: „Mir kommt nun alle Religion wie sie als Lebensfaktum besteht auf drei Momente hin136 aus: Glaube, Gemeinschaft mit Gott, Religionsgesellschaft.“ Dieser allgemeine Religionsbegriff kann nur gewonnen werden, indem man auf das allen konkreten Religionen Gemeinsame zurückgeht. Die Entscheidung nun, ob die von uns zunächst als Lebensthatsache bestimmte Religion ein Leben der Wahrheit ist, kann nur die Philosophie geben. […] Die weitere Entwickelung geht nun dahin, zu zeigen, daß die Religion nach ihren drei Seiten, nämlich als Glaube, als Gemeinschaft mit Gott und als Religionsgesellschaft der Offenbarung bedarf. Diese nun im Christenthum nachzuweisen, ist die Sache der Apologetik.137
„Die Religion ist […] kein Produkt der philosophischen Idee, sondern ein unabhängig von ihr bestehendes Leben. Ist sie das, so liegt ja auf der Hand, daß dieß Leben auf dem Wege historisch-psychologischer Betrachtung entwickelt werden 138 kann.“ Dass dieser Nachweis in historisch-psychologischer Betrachtung gelingen kann, muss nachdrücklich hinterfragt werden. Selbst wenn ein religiöser Zug in allen Menschen als eine anthropologische Konstante angelegt sein sollte, folgt daraus noch keineswegs, dass dieser nur in dialogischer Kommunikation mit einem persönlichen Gegenüber befriedigt werden könne, erst recht nicht, dass es tatsächlich 135 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 60. – „Eine Lebensgestalt, die überall[,] wo Menschen ein menschlich Leben führen[,] erscheint, muß in der menschlichen Natur ihren letzten Grund haben. Das ist ein axiomatischer Satz der neueren Theologie, dem kein Urtheilsfähiger seine Zustimmung versagt“ (Dogmatik I [1861], 133). 136 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 60. Vgl. Dogmatik I (1861), 106ff. 137 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 62. 138 Ebd., 63.
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zu einer Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott kommt. Kahnis stellt sich der Frage nicht, ob hier eine göttlich andere als unsere raumzeitliche Wirklichkeit nach unserer Wirklichkeit greift oder aber eine fiktionale Welt, in der sich menschliche Sehnsüchte und Ängste, die die tatsächliche Lebenssituation transzendieren, in Bildern niederschlagen, ihre Auswirkungen in der tatsächlichen Welt – verstärkt noch durch religiöse Praktiken oder die medialen Welten – zeitigt. Vielmehr folgert er ganz offensichtlich umgekehrt aus der eigenen Glaubensgewissheit eine dispositionale Prägung aller Menschen, die im christlichen Glauben zur Ausgestaltung und Erfüllung komme. Wenn Kahnis Religion so dezidiert als Lebenstatsache reklamiert, so zeigt er sich als Mensch, der noch vor dem großen geistesgeschichtlichen Schub hin zum Säkularismus und ideologischen Atheismus steht. Für ihn gilt unbestreitbar: „Die Religion ist ein in der Menschheit allgemein und nothwendig waltendes Lebens139 element.“ Deshalb kommt für ihn keine Philosophie darum herum, sich mit der religiösen Dimension des Lebens auseinanderzusetzen. „Eine Philosophie, die sich nicht zu dem Begriffe des Absoluten erhebt, verdient nicht diesen Namen. Die Philosophen aller Zeiten und Richtungen haben das Absolute Gott genannt. Ohne 140 Gott keine wahre Philosophie.“ Und so erwartet er auch nach der Phase des Idealismus, in dem „die Philosopheme von Fichte, Schelling und Hegel für das objektive Sein nur die Stellung eines realen Abglanzes des denkenden Ich“ hat141 ten, nun eine Wende. „Und so wird der realistische Zug unserer Zeit zum Naturwissenschaftlichen und Geschichtlichen nur der Uebergang sein zu einer Philosophie, welche den Gegensatz zwischen dem denkenden Selbstbewusstsein und 142 dem objektiven Sein tiefer und wahrer löst.“ Kahnis lässt hier seine Verbindung zur Vermittlungstheologie erkennen, die den Glauben nicht mit dem Wissen, son143 dern zum Wissen vermitteln suchte. Die von ihm ausgesprochene Erwartung realisierte sich aber gerade nicht. Es ist nicht zu übersehen, dass Kahnis bei solcher historisch-psychologischen Betrachtung zunächst seine eigene religiöse Entwicklungsgeschichte vor Augen hat. Nicht breit angelegte religionsgeschichtliche Erkundungen sind die Grundlage solcher Betrachtung, sondern die eigene Lebenserfahrung wird zur Matrix für die Betrachtung des Religionsphänomens als solchem. Die individuelle Gewissheit wird zum Maßstab für die Beurteilung des Allgemeinen. Die von ihm erhobene und durch religionsphänomenologische Feststellungen untermauerte Grundstruk139 Dogmatik III (1868), 18 (= Dogmatik2 I [1874], 101). – „An und für sich ist zwar die Thatsache, daß die Menschen aller Zeiten und Völker etwas für wahr halten, noch kein Beweis für die Wahrheit. Für eine Ueberzeugung aber, die sich den philosophischen Denkern aller Jahrhunderte als Wahrheit ausgewiesen hat, ist das übereinstimmende Bewußtsein der Völker ein Zeugniß, welches nur Ideologen gering anschlagen können“ (Dogmatik III [1868], 35). 140 Ebd., 31. 141 Ebd., 30 (= Dogmatik2 I [1874], 113). 142 Dogmatik III (1868), 31 (= Dogmatik2 I [1874], 114). 143 Siehe Slenczka: Glaube VI, 341f.
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tur einer religiösen Lebenstatsache leistet es wohl kaum, eine normative Dimension in der Geschichte der Kirche aufweisen und begründen zu können. Kahnis ist sich sogar selbst bewusst, dass die Annahme eines allgemeinen religiösen Zugs bei allen Menschen nicht unbedingt plausibel ist, appelliert aber dennoch an die per144 sönliche Erfahrung jedes Einzelnen. Kahnis stellt sich damit als Vertreter der Erfahrungstheologie dar. Indem er sich auf das unkalkulierbare Widerfahrnis des Göttlichen einlässt, die individuelle Wahrnehmung in einen bestimmten Theorierahmen einzeichnet und auf eine intersubjektive Vermittlung des subjektiv Erfahrenen drängt, steht er im Traditionszusammenhang von Schleiermacher zur Erlanger Erfahrungstheologie. Allerdings bezieht er innerhalb dieser Richtung dann in eigentümlicher Weise kritisch Stellung. Dem erfahrenden Subjekt kommt dabei eine tragende Funktion zu, die es im theologischen Sinn kaum zu tragen vermag. Gott erweist seine Wahrheit gerade darin, dass er Menschen tötet und lebendig macht, sie also nicht an das Kontinuum des Lebens bindet. Indem Gott Menschen zum Glauben erweckt, lässt er sie seine Wahrheit erkennen und gewiss werden. Dies bleibt Gottes eigenes Tun. Es ist nicht auf ein rezeptorisches Korrelat auf Seiten des Menschen angewiesen, wie es Kahnis in seinem Glaubensverständnis fordert: „Die Unmöglichkeit einer Heilszueignung ohne jedes Wirken der menschlichen Freiheit muß man als ein unabweis145 liches Resultat der neueren Theologie ansehen.“ Gerade diese Unmöglichkeit ist zu bezweifeln. Wie in der Schöpfung am Anfang der Mensch als verantwortliches, sittliches Wesen ohne vorherige Freiheit, seine geschöpfliche Wirklichkeit anneh146 men zu können, ins Leben trat, so kann dies auch bei der Wiedergeburt als einer Neuschöpfung in Christus aus dem Tode heraus geschehen. Wenn Kahnis die These aufstellt, dass jedem Menschen ein religiöser Zug zum Glauben an Gott eigen ist, so leitet ihn dabei offenbar auch ein dogmatisches Anliegen, das der lutherischen Theologie inhärent ist. Wenn Christus für alle Menschen gestorben ist und sein Heilswerk nur im Glauben an das Evangelium angenommen werden kann, dann folgt daraus als dogmatisches Erfordernis, dass das 144 „Der allein wahrhaft seiende Gott hat sich so verborgen, daß Viele nicht bloß die ganze Natur, das ganze Menschenleben durchwandern, ohne ihn zu finden, sondern die größten Geister Systeme der Natur, Systeme des Geistes aufgestellt haben, welche für den lebendigen Gott keinen Raum haben“ (Predigten [1866], 107). „Es sind starke Anzeichen vorhanden, daß ein Geist mehr und mehr um sich greifen wird, für den nur noch das Geltung hat, was man sehen und greifen, wo möglich essen und trinken kann“ (ebd., 107). „Es gleicht dieser Zug [sc. des Geistes Gottes] der schönen Sage, daß an Stellen, wo Kirchen versunken sind, man ein wundersames Geläute aus der Tiefe hört“ (ebd., 110). „Je mehr du dein Elend erkennst und deine Ohnmacht, desto mehr wird in dir Raum für den Geist Gottes, daß er dich zu dem Sohne ziehe, durch ihn zu dem Vater“ (ebd., 110). 145 Dogmatik III (1868), 422 (= Dogmatik2 II [1875], 251). 146 Nach biblischem Zeugnis erfolgte die eigentliche Menschwerdung des Menschen eben nicht erst durch die Arbeit als Selbstverwirklichung oder durch die Behauptung seiner Selbständigkeit gegenüber Gott im Sündenfall.
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Evangelium auch tatsächlich alle Menschen erreicht, weil sonst der Allgemeinheit beanspruchende Glaubenssatz seine Allgemeingültigkeit verlieren würde. In der klassischen lutherischen Dogmatik findet sich daher die Lehre von einer vocatio universalis seu catholica, nach der das Evangelium, sei es nun hinsichtlich des verheißenen oder des gekommenen Christus, dreimal an alle Menschen ergangen sei, nämlich in Adam, in Noah und in den Aposteln. Kahnis lehnt dieses „altlutherische Theorem“ ab und stellt dagegen: „Die allgemeine Berufung ist nicht eine Thatsache, sondern eine Forderung, deren Verwirklichung der Glaube Gott anheim stellen muß. Unsere Sache kann nur sein, was an uns ist zu thun, daß durch 147 Mission das Evangelium über den Erdkreis gepredigt werde.“ Kahnis lässt „dieß Räthsel“ also unbeantwortet. Allerdings bietet sein eigenes geschichtstheologisches Theorem einen gewissen Ersatz, indem wenigstens die Prädisposition aller Menschen für die Evangeliumsverkündigung behauptet wird, wobei freilich die Universalität des entscheidenden Moments der Verkündigung selbst fehlt. Aber auch schon diese Annahme entzieht sich einer empirischen Verifikation. Die Spannung zwischen dem universalen Anspruch des Christusevangeliums, allen Menschen zu gelten, und der weltgeschichtlichen Erfahrung wird mit zunehmender Globalisierung immer stärker offensichtlich, lässt sich aber durch allgemeingeschichtliche Annahmen nicht lösen. 6.4.3 Lebenstatsache und Geschichtsdeutung Kahnis nennt den Glauben eine Lebenstatsache: „Während die neuere Religionsphilosophie die Religion aus der Idee bestimmte, hat die von Schleiermacher ausgegangene Richtung dieselbe als Thatsache des Lebens und demgemäß als unmittelbares Bewußtsein gefaßt. Von dem letzteren Wege ausgehend können wir die Erscheinungen des religiösen Lebens auf den Begriff des Gemeinschaftsverhältnis148 ses zurückführen, in welchem der Mensch zu Gott steht.“ Dieses Verhältnis ist von der Vernunft gefordert und im christlichen Glauben erzeugt: „Auf die Lebensthatsache seiner realen Gemeinschaft mit Gott durch Christum stellt der 149 wahre Christ sein Christenthum.“ Die reklamierte Tatsache besteht also unmittelbar im Bewusstsein und wechselt ihre Form, je nachdem ob sie nur angenommen oder auch real ist. Eine Tatsache kann schon sein, dass Menschen von etwas überzeugt sind, was tatsächlich eine Fiktion darstellt. Tatsachen bestehen auch unabhängig davon, ob sie durchschaut werden. Eine Tatsache muss nicht erkennbar sein. Der Begriff
147 Dogmatik III (1868), 430 (= Dogmatik2 II [1875], 258). – „In dieser Aufstellung kommt das einseitige Verstandeselement der alten Dogmatik zu einem bedenklichen Ausdruck. Sie zieht aus einzelnen Stellen ein Postulat, dem die Wirklichkeit widerspricht“ (ebd.). 148 Dogmatik III (1868), 15f (= Dogmatik2 I [1874], 98). 149 Dogmatik I (1861), 674.
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hilft nicht weiter, wenn man zum Wesen hindurchdringen möchte, das hinter den geschichtlichen Phänomenen als bestimmend angenommen wird. Auf seine Weise ist der Glaube allerdings eine Tatsache, sofern er darin besteht, dass ich einsehe, zu einer Selbstbestimmung nicht in der Lage zu sein, und mich deshalb entschließe, mich auch von anderen innerweltlichen Größen und Mächten nicht im Letzten bestimmen zu lassen, sondern Gott über mich bestimmen zu lassen. Das ist zunächst eine Entscheidung, zu der mich das Angebot des Evangeliums verleitet und ermutigt, und insofern eine lebensbestimmende Tatsache, auch wenn sie sich nicht allgemeingültig plausibilisieren lässt. Als Lebenstatsache aber besteht der Glaube nach Kahnis auch darin, dass man selbst sterben 150 muss, um sich die Lebensgemeinschaft mit Gott schenken zu lassen. Dies Sterben wie auch dies Leben werden nur im Glauben real. Die Tatsächlichkeit des Glaubens in diesem Sinne entzieht sich jeder Wahrnehmung in der Geschichte, gründet sich allein auf das zusprechende Wort und lässt sich allein an Folgewirkungen ablesen, die jedoch nicht eindeutig sind. Kahnis aber verbindet die geschichtliche Dimension unmittelbar mit dem Gedanken, dass hinter dieser „Lebenstatsache“ tatsächlich der Herr der Geschichte als wirkende Kraft stehen müsse, und beschreibt diese Annahme auch als das Wesen: „Nicht auf die Inspiration und Authentie der Schrift, nicht auf dogmatische Begriffe, nicht auf wissenschaftliche Vermittelung, sondern auf die Lebensthatsache seiner realen Gemeinschaft mit Gott durch Christum stellt der wahre Christ sein Christenthum. Und dieser unerschütterliche Wahrheitsgrund des Christenthums ist der Beweis, daß das Wesen des Christenthums darin 151 liegt.“ Damit erfolgt ein Sprung aus der Geschichte heraus. Das Wesen des Christentums lässt sich nicht so bestimmen, dass man von seinen geschichtlichen Erscheinungsformen abstrahiert. Das Christentum verändert sich durch die Zeiten aufgrund der sich wandelnden geschichtliche Parameter. Wie eine konkrete kirchliche Erscheinung auf eine sich ihr stellende Herausforderung reagiert, lässt sich nicht vorhersagen, sondern hängt vom Ausgang des Kräftespiels ab. Das Wesen des Christentums aber hat auf dem Weg durch die Geschichte immer wieder neue Aspekte gewonnen, die zur Bestimmung dessen, was Christentum bedeutet, nicht unwesentlich sind. Das Wesen lässt sich nicht schon aus dem Anfang bestimmen. Das Ende aber der Geschichte ist noch nicht erreicht, so dass eine zutreffende Wesensbestimmung nicht möglich ist. Was als Wesen des Christentums ausgegeben wird, bleibt ein zeitgebundener, subjektiver, vom jeweiligen eigenen Stand150 „Durch den Glauben wird die Gemeinschaft des Menschen mit Gott vermittelt, in welcher alle Kräfte ihre Endlichkeit opfern, um sich mit göttlichem Leben zu erfüllen“ (ebd., 131). 151 Dogmatik I (1861), 674. Als Zitat wieder aufgenommen in: Zeugniß von den Grundwahrheiten, 17. Der Niedergang des Protestantismus liegt ihm gerade darin begründet, dass diese Unterscheidung nicht beachtet wurde. „Der deutsche Protestantismus, der von dem Lebensfaktum eines mit Gott im Glauben versöhnten Herzens ausgegangen war, setzte allmälig dieß Lebensfaktum in eine Lehre um. Dieses Umsetzen des Lebens in Lehre ist nun eben der Doktrinalismus, den wir als Einseitigkeit des deutschen Protestantismus bezeichneten“ (ebd., 50).
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punkt her geprägter Eindruck, selbst also eine geschichtlich kontingente Größe. Die eigene Erfahrung setzt hier die Normativität. Der Ansatz bei der selbst erfahrenen Lebenstatsache setzt sich der Gefahr aus, einer gewissen Beliebigkeit zu erliegen. Leicht werden biografische Prägungen nicht kritisch hinterfragt, sondern als selbstverständlich gültig angenommen und als unbestreitbare Werte behandelt. Während Kahnis im theologischen Disput eine apologetische Wagenburgstrategie ablehnt und eine ökumenische Sicht entwickelt und gerade deshalb die Union als provinziell ablehnt, argumentiert er auf 152 politischem Feld apologetisch gegen revolutionäre Gedanken und Bestrebungen für eine royalistische Gesinnung und entwickelt dazu ein nationalistische Sicht. Damit verbunden ist ein deutlicher Antijudaismus. Es bleibt nicht aus, dass die politische Positionierung sich auf seine theologische Argumentation auswirkt und damit seinen eigenen Ansatz konterkariert. Indem Kahnis sich nicht zureichend kritisch mit der nationalen Mentalität seiner Zeit auseinandersetzt, kommt die Reformation auch als deutsches Ereignis in den Blick und deutsches Wesen erfährt eine theologische Überhöhung. Damit zeigt sich ein weiteres Problem. Wenn bei geschichtlicher Betrachtung bleibend Gültiges festgehalten werden soll, kommt es unter phänomenologischen Kategorien leicht zu einer Typenschau. So beginnt Kahnis seine Darstellung des „inneren Ganges des deutschen Protestantismus“, mit der er ausdrücklich „keine Geschichte des deutschen Protestantismus überhaupt“, sondern „nur der Richtun153 gen, die derselbe durchschritten hat“, geben will, mit dem Satz: „Katholicismus und Protestantismus sind Richtungen, die, wie sie zu allen Zeiten in der Kirche bestanden haben, nach menschlichem Urtheil auch zu allen Zeiten bestehen wer154 den.“ Er richtet seine Aufmerksamkeit mithin sogleich auf eine Phänomenologie typischer Erscheinungsweisen im Lauf der Geschichte, die über den eigentlich behandelten Zeitraum weit hinausgreifen. Und diese typischen Richtungen stellen in seiner Schau zugleich Gegebenheiten einer höheren, göttlichen Wirklichkeit dar. „Die Kirche ist der Leib Christi, die Behausung des heiligen Geistes, die Hütte Gottes unter den Menschen. Und dieses Leibes Glied, dieses Hauses Stein ist Jeder, welcher getauft ist auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Denn es stehet geschrieben: Wie Viele getauft sind, die haben Christum 155 angezogen [Gal 3,27], und: Ihr seid Alle getauft zu einem Leibe [I Kor 12,13]“. Diese eine große Wirklichkeit sieht Kahnis in unterschiedlichen geschichtlichen 152 Aus seinem Aufsatz „Deutschland und die Revolution“ vom April 1848 zitiert er später: „Das Christenthum ist für keine bestimmte Regierungsform, es ist nicht gegen Fortbildung der Verfassung. Aber in der zu Recht bestehenden Obrigkeit sieht es Gottes Ordnung und den, welcher der legitimen Obrigkeit widerstrebt, überantwortet es der göttlichen Gerechtigkeit (Röm 13,2)“ (EKZ 42 [1848], 302; Die Sache der lutherischen Kirche [1854], 64). Doch wie soll bei solchen Vorgaben eine „Fortbildung“ geschehen? 153 Der innere Gang I (31874), VII. 154 Ebd., 3. 155 Die Sache der lutherischen Kirche, 85.
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Sendungen. „Ihr [sc. der lutherischen Kirche] himmlischer Beruf ist, Trägerin der 156 reinen Lehre zu sein.“ „Man darf wohl sagen, daß die römische Kirche auf dem Gebiete der Kirchengeschichte, die reformirte auf dem Gebiete der Schriftauslegung, die lutherische auf dem Gebiete der Glaubenslehre die größte theologische 157 Kraft entwickelt hat.“ „Der Verfassung nach, das ist gewiß, ist unsere Kirche seit dreihundert Jahren noch ein unausgetragenes Kind: sie existirt an einem andern Organismus, am Staate. Und auch unserem Kultus fehlt doch noch viel. Die römische Kirche hat eine Gabe der Leitung, eine Geschlossenheit des Organismus, eine Macht der Einheit, einen historischen Zug, einen praktischen Takt, eine 158 volksthümliche Gewalt, die ich immer von Neuem bewundere.“ Solche Typenschau verleiht dem Individuellen durch strukturelle Zuordnung zwar grundsätzliche Bedeutung, vernachlässigt tatsächlich aber die Wahrheitsfrage. Die einzelnen Erscheinungen werden zwar einem angeblichen Richtungssinn der Geschichte zugeordnet und damit wird ihnen ein ihnen jeweils zukommendes Recht zugestanden. Die Ausrichtung geschieht jedoch leicht vom eigenen Standort her. So erfährt im vorliegenden Fall der Katholizismus eine deutlich negative und der Protestantismus eine deutlich positive Färbung: Katholicismus ist die kirchliche Richtung, welche Glauben, Heil und Leben der Kirche an den einheitlichen Organismus der äußeren Kirche knüpft. […] Protestantismus ist die kirchliche Richtung, welche an Glauben, Leben und Gestaltung das Richtmaß des Evangeliums legt. […] Das wahre Wesen der Kirche liegt nicht in der organisirten Gemeinschaft aller äußerlich Berufenen, sondern in dem geheimnißvollen Leib, zu welchem der heilige Geist alle Gläubigen unter Christo dem Haupte verbindet.159
Die von dem Wechsel der Zeit unabhängige Phänomenologie ergibt sich, indem kein Unterscheid der geschichtlichen Erscheinung, sondern ein Unterschied der kategorialen Ebene benannt wird, ob man nun das „Äußere“ betrachtet oder das innere „Wesen“ in den Blick nimmt. Auch die römisch-katholische Kirche wird für sich einen „Protestantismus“ in dem Sinne in Anspruch nehmen wollen, dass ihr Wesen nicht im Äußeren liegt, sondern im mystischen Leib Christi, wie auch die evangelische Christenheit nicht ohne den „Katholizismus“ der äußeren Verfasstheit wird leben können. Die Richtungen werden also in eine Rangskala eingeordnet und dies führt statt zu demokratischer Gleichberechtigung zu übersteigerten, chauvinistischen Ansprüchen. Der eigene Standpunkt erscheint dann als der geschichtlich folgerichtige. Dasselbe zeigt sich im Vergleich zwischen Hagenbach und Kahnis, die beide eine „historisch-genetische“ Betrachtung anwenden und dabei die unterschiedlichen Traditionslinien des Protestantismus auf sehr ähnliche Weise nach ihren 156 Ebd., 19. 157 Ebd., 87. 158 Ebd., 11. 159 Der innere Gang I (31874), 3.
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psychologischen, nationalen, geographischen und mentalen Eigentümlichkeiten charakterisieren, daraus dann aber ganz unterschiedliche Schlüsse ableiten. Die geschichtlichen Ausgestaltungen der von ihnen erhobenen Prinzipien des Protestantismus besagen nichts über deren theologische Bedeutung. Während Hagenbach eine grundlegende Übereinstimmung erkennt, die mit nur graduellen Differenzierungen verbunden ist und für eine Union spricht, findet Kahnis zwischen den verschiedenen Ausprägungen auch gravierende Unterschiede, die unbedingt zu berücksichtigen sind und zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Protestantismus in seine konfessionellen Richtungen zwingen. Tatsächlichkeit bietet keine Grundlage für die Wahrheitsfrage. Jede Deutung, die sich allein auf Faktizitäten beruft, unterliegt der Beliebigkeit, weil Faktizitäten in sich keine Deutungskriterien enthalten. Die Wahrheit des Lebens resultiert keineswegs aus den Tatsachen des Lebens. Gerade konservative Theologien haben immer wieder der Tatsachenfrage ein viel zu großes Gewicht beigemessen, um die Wahrheit der heiligen Schrift zu verteidigen. Kahnis hat diesen Zug der Kritik an der neuzeitlichen Schriftauslegung deutlich in seine Schranken gewiesen. Andererseits hat aber auch er dem Begriff Tatsache eine Bedeutung zugewiesen, die dessen Möglichkeiten weit übersteigt, indem er ihn von äußeren Aspekten zwar gelöst, jedoch mit Leben im tieferen Sinne – eben als „Lebenstatsachen“ – aufgebläht hat. 6.4.4 Heiliger Geist Die Unsicherheit bei Kahnis, ob er dem heiligen Geist Personsein zuschreiben kann, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass er diesem heiligen Geist eine fundamentale und unverwechselbare Funktion zumisst. Er möchte die Eigentümlichkeit des Geistes besser erfassen, als dies bisher gelungen ist. In seiner immer wieder vorgetragenen Definition des Wesens des Christentums als „Heilsgemeinschaft des Menschen durch Christum im heiligen Geiste“ versteht er das letzte Glied keineswegs als einen unbetonten Nachklapp, sondern hebt es durch Achtergewicht hervor. Die Wirklichkeit des heiligen Geistes ist sein eigentliches Metier. Mehrfach distanziert er sich von einer Gleichsetzung von Logos und Geist und damit von 160 einer Einbeschreibung der Pneumatologie in die Christologie. Einerseits hatte Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) den Geist zum Schlüsselbegriff seines Denkens gemacht und Gott als absoluten Geist, der sich im Weltgeschehen verwirklicht, philosophisch vereinnamt. „Der Geist offenbart sich [..] als das riesenhafte, Himmel und Erde, Denken, Sein und Werden, Gut und Böse umspannende Integralzeichen“, wie Hans Dreyer diesen Ansatz chrakteri161 siert. Der Versuch, zum Selbstbewusstsein zu gelangen, führte bei Hegel zu einer begrifflichen Abstraktion des Geistes im leeren Raum und in leerer Zeit sowie zu 160 Die Lehre vom heiligen Geiste, 188–201; Dogmatik II (1864), 56; Dogmatik III (1868), 363 (= Dogmatik2 II [1875], 101). 161 Dreyer: Der Begriff Geist, 92.
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einer Identität, die über die Wechselhaftigkeit des Zeitlichen erhaben ist. „Gott ist dieß: sich von sich selbst zu unterscheiden, sich Gegenstand zu seyn, aber in diesem Unterschied schlechthin mit sich identisch seyn – der Geist. Dieser Begriff ist nun realisirt, das Bewußtseyn weiß diesen Inhalt und in diesem Inhalt weiß es sich schlechthin verflochten: in dem Begriff, der der Proceß Gottes ist, ist es selbst Moment. Das endliche Bewußtseyn weiß Gott nur insofern, als Gott sich in ihm weiß; so ist Gott Geist, und zwar der Geist seiner Gemeinde, d.i. derer, die ihn 162 verehren.“ In der spekulativen Idee liegt die Wahrheit an und für sich. Kahnis wertet diesen Geistbegriff als „eine schwere Verirrung von der Wahr163 heit“. Er selbst geht von einer Gemeinschaft stiftenden Kraft des Geistes aus, die 164 sich bereits in Gott findet und sich dann in Gottes Offenbarung, durch die er Gemeinschaft mit seiner Schöpfung sucht, manifestiert. Alle Offenbarung des Gottesgeistes ist für ihn durch unableitbare Ursprünglichkeit und Kontingenz gekennzeichnet, erschließt sich nicht im Denken als solchem, sondern als Widerfahrnis in der Geschichte, das zu einem ganzheitlichen Glauben führt. Er distanziert sich mithin von dem „pantheistischen Geist“, wie er ihn bei Hegel, aber auch 165 bei Schelling findet. Andererseits war die Wiklichkeit des Geistes bisher dogmatisch vernachlässigt worden. Ausführungen zum Geist Gottes waren unverbunden auf mehrere dogmatische Loci wie Gotteslehre, Schriftlehre, Heilsaneignung mit ordo salutis, Gnadenmittel, Amt und Eschatologie aufgesplittert. Kahnis versucht nun die Lehre vom heiligen Geist in ihrer ganzen Breite zusammenhängend zu erfassen. Der Ausgangspunkt seiner Bemühungen zur konsistenteren Klärung des Geistverständnisses ist sein Versuch, die vielfältigen Aussagen, die sich in der Bibel über Gottes Geist finden, zu einer systematischen Einheit zu verbinden und damit zu erfassen, wie Gott in den Lauf der Geschichte hineinwirkt. Damit hebt er die weitgehende Konzentration der Offenbarung des Geistes auf die Inspiration der Schrift im klassischen dogmatischen Verfahren auf und schenkt den vielfältigen Geisteswirkungen stärkere Beachtung. Das alle Aussagen über den göttlichen Geist integrierende Element sieht Kahnis in dessen verbindender, Lebensgemeinschaft stiftender Kraft. „Derselbe Geist aber, welcher was des Vaters ist dem Sohne und was des Sohnes ist dem Vater mitteilt, das Lebensband zwischen Vater und Sohn, der ist es auch, der den Vater 162 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Werke 12, 151. 163 Der innere Gang II (31874), 134. – Kahnis’ Referat zu Hegel (ebd., 130–133) gipfelt in der Feststellung: „Was im Gottmenschen in absoluter Ursprünglichkeit sich dargestellt hat, soll im Geiste Gemeingut der Menschheit werden. Freilich ist auch die Religion noch nicht die reine Form der Idee. Ist Gott der Begriff, so kann die entsprechende Form seiner Auffassung nur das begreifende Denken, die Philosophie sein. Das Wissen der Menschheit von Gott ist das Wissen Gottes von sich selbst. Im Geiste der Menschheit entwickelt sich Gott selbst“ (ebd., 133). 164 Gott wird von Kahnis also nicht im hegelschen Sinn als Selbstbewusstsein, als Denken des Denkens aufgefasst, sondern selbst schon als kommunikative Gemeinschaft. 165 Ebd., 134.
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durch den Sohn den geschaffenen Geistern mitteilt, um sie durch den Sohn zur 166 Gemeinschaft mit Gott zu erheben.“ „Und so ist denn auch im Weltverhältnisse Gottes der Geist die göttliche Persönlichkeit, welche den Sohn in die Welt hineinwirkt, um Leben zu erzeugen (Geist des Lebens), das erzeugte Leben aber durch den Sohn zur Gemeinschaft mit Gott zu erheben (Geist des Heils). Was der Sohn 167 war und ist, that und thut, das eignet der heilige Geist der Welt zu.“ Als „die zur 168 Person gewordene Liebe Gottes“ wirkt der Geist in der Schöpfung allgemein 169 (Geist des Lebens ) und in der Erlösung der Menschen mit den entsprechenden 170 neuen Begabungen (Geist des Heils ) „als eine zwischen Gott und Welt vermit171 telnde Persönlichkeit“. Allerdings zieht Kahnis aus diesem Ansatz einige seltsame Folgerungen. So sieht er die Einheit Gottes erst durch die verbindende Funktion des heiligen Geis172 tes gewahrt. Christus bedurfte als der Gottmensch noch einer zusätzlichen Geis173 tessalbung, um sein Heilswerk tun zu können. Im Rechtfertigungsgeschehen trennt er die (objektiv in Christus gründende) Heilsoffenbarung von der (subjektiv 174 im heiligen Geist vermittelten) Heilszueignung an die Glaubenden. Im Abendmahl postuliert er eine Wirksamkeit des heiligen Geistes, um Christi Leib und 175 Blut der empfangenden Gemeinde zu vermitteln. Diese Aufteilungen von tat-
166 Dogmatik2 II (1875), 188. 167 Dogmatik2 II (1875), 191. 168 Dogmatik2 II (1875), 191. Dass Kahnis an dieser Stelle den „Sohn“ nennt, lässt sich nur als Druckfehler erklären, da der ganze Zusammenhang auf den „Geist“ hinführt. Vgl.: Der heilige Geist „ist in Wahrheit die Persönlichkeit, durch welche Vater und Sohn zur Lebenseinheit verbunden werden. Gott ist die Liebe“ (Dogmatik2 I [1874], 406). 169 Kahnis verweist auf Gen 1,2: „Hier ist unstreitig der Geist Gottes eine von der schaffenden Urpersönlichkeit ausgegangene, in die Erde eingegangene göttliche Potenz, welche durch das Wasser der Erde Leben einhaucht“ (Dogmatik2 I [1874], 362; = Dogmatik III [1868], 214). Der Geist, der biblisch „auf dem Wasser“ platziert ist, wird von Kahnis als „durch das Wasser“ hindurch „in die Erde“ eingehend beschrieben, bekommt damit eine neue Funktion zugeschrieben. Schöpferisch wirkt dem biblischen Bericht zufolge nicht der Geist, sondern das gesprochene Wort. In seiner Schöpfungslehre selbst verbindet Kahnis die Bezeugnahme auf den Geist mit der Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes: „Verhält sich Gott als wollender Geist durch das Wort zu Welt (Ps. 33, 6. 9. Jes. 48, 13.), so als wissender Geist durch die Weisheit. Wort und Weisheit aber fassen sich im N. T. zum Logos zusammen, durch den Alles gemacht ist (Joh. 1, 2. 1 Kor. 8, 6. Kol. 1, 16. 17.)“ (Dogmatik2 I [1874], 414; = Dogmatik III [1868], 237). 170 Die Einheit als „Geist des Heils“ verbindet Kahnis mit der Mannigfaltigkeit der Gaben als „Geist der Gaben“ (Dogmatik2 I [1874], 365; = Dogmatik III [1868], 217). 171 Dogmatik2 I (1874), 367 (= Dogmatik III [1868], 204). 172 De spiritus sancti persona, 26f. 173 Dogmatik2 I (1874), 100f (= Dogmatik III [1868], 363). 174 „Darin besteht das Heil, dass das in Christo erschienene objektive Heil durch den heiligen Geist uns subjektiv zugeeignet wird“ (Dogmatik2 II [1875], 190). „Das objektive Heil also wirkt nur in Denen, welche es subjektiv sich aneignen, das Heil. Das Amt aber, das Heil in Christo zuzueignen, hat der heilige Geist“ (ebd.). Vgl. demgegenüber die nahtlose Verbindung beider Aspekte im lutherischen Bekenntnis: „iustificentur propter Christum per fidem“ (CA 4; BSLK, 56,5). 175 Dogmatik2 II (1875), 441f (= Dogmatik III [1868], 499).
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sächlich unauflösbaren Vorgängen, um sie dann wieder zu verbinden, erscheinen gekünstelt und manieriert. Solche Gedankenkonstrukte weisen aber auf das eigentliche Problem hin. Kahnis beachtet nicht, dass sein kommunikativ-prozessuales Denken, in dem die Liebe zum Grundbegriff wird, ein Denken im Objekt-Subjekt-Schema unmöglich macht, weil die in Austausch und Kommunikation zueinander tretenden Größen sich wechselseitig bestimmen und sich im gegenseitigen Wahrnehmungsprozess 176 verändern, sich damit nicht mehr als Subjekt oder Objekt abstrahieren lassen. Erst recht lässt sich der Prozess selbst nicht zu einer dritten Größe personifizieren. Offenbar hat Kahnis seinen Ansatz der geschichtlichen Wahrnehmung nicht konsequent umgesetzt. Zudem führt die systematische Strukturierung leicht zu einer Schematisierung, bei der die spezifischen Besonderheiten einzelner Wirkweisen des heiligen Geistes 177 verblassen und die Direktheit der Begegnung mit Gott als Vater und als Sohn nicht ihre gebührende Würdigung erfährt. 6.4.5 Persönlichkeit Kahnis nutzt den zu seiner Zeit neuen Begriff Persönlichkeit sowohl in der Gotteslehre als auch in der Anthropologie. Er knüpft dabei nicht an einen biblischen Begriff an, sondern an den dogmatischen Begriff Person (persona, πρόσωπον, 178 ὑπόστασις) , der in der christlichen Spätantike geprägt wurde und dann in die abendländische Philosophie und Theologie Einzug hielt. Person bezeichnete zu179 nächst ein Fürsichsein, eine besondere Subsistenz, während Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung als Attribute des Wesens galten, so dass man zwar von drei Personen der Trinität sprechen konnte, aber nur von einem göttlichen Selbstbewusstsein und einem göttlichen Willen. Im 18. Jahrhundert wird der Begriff Person weiterentwickelt und seit Kant und Herder mit dem Begriff Persönlichkeit 176 Die Bibel spricht in vielfältiger Weise davon, dass auch an Gott die Kommunikation mit den Menschen nicht spurlos vorübergeht, besonders pointiert in der Wendung, dass Gott etwas gereute (Ex 32,12-14; Jer 26,13; 42,10; Joel 2,13f), vor derem Hintergrund gegenteilige Feststellungen in bestimmten Situationen (Num 23,19; I Sam 15,29; Ps 110,4; Röm 11,29) nur in ihrem Gewicht unterstrichen werden. 177 Vgl. nur Mt 11,27; Joh 1,14.18; 12,44f; 14,9. 178 Beide griechischen Begriffe begegnen zwar im Neuen Testament, haben hier aber andere Bedeutung. 179 Vgl. die Definition in CA 1: „Et nomine personae utuntur ea significatione, qua usi sunt in hac causa scriptores ecclesiastici, ut significet non partem aut qualitatem in alio, sed quod proprie subsistit“ (BSLK, 50,15–19). Eilert Herms erweitert diese Grundbestimmung durch Relationen zu „Füreinandersein-in-Verantwortlichkeit“ (Person IV. Dogmatisch, 1123–1128; Zur Systematik des Personbegriffes in reformatorischer Tradition; er beruft sich ebd., 178f, für die „Unverzichtbarkeit des Personbegriffs in der christlichen Theologie“ merkwürdigerweise auf „die klassische Lösung dieser Aufgabe in der reformatorischen Theologie“, wie sie in Luthers Disputationsthesen „De homine“ (1536; WA 39 I, 175–177) vorliege, in denen der Begriff persona gar nicht begegnet.
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verbunden, so dass sich die Trennung zwischen Person und Wesen aufhob. Zentrale Bedeutung bekommt der neue Begriff Persönlichkeit bei Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), der ihn als Selbstbewusstsein eines Ich beschreibt, das sich aus eigener Entscheidung von einer Außenwelt, dem Nicht-Ich, unterscheidet. Kahnis nimmt den neuzeitlichen Begriff auf: „In keinem Individuum der Natur ist das Leben Person, sich selbst wissendes Leben. Die Natur ist somit unfrei. Freiheit ist nämlich die Fähigkeit, aus dem Selbstbewußtsein das zu setzen, worin 181 das Selbstbewußtsein sich bejaht.“ Allerdings übernimmt er nicht den Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich, wie ihn Fichte zur Grundlage seines Persönlich182 keitsverständnisses macht. Ebenso wenig übernimmt er die Auffassung von Strauß, dass sich im menschlichen Selbstbewusstsein Gott als „Allpersönlichkeit“, nämlich als „die ewige Bewegung des sich stets zum Subject machenden Allgemeinen, das erst im Subjecte zur Objektivität und wahren Wirklichkeit kommt, 183 184 und somit das Subject in seinem abstracten Fürsichsein aufhebt,“ erschließe. Er geht vielmehr von der anthropologischen Grundrelation aus, die den Menschen im Gegenüber zu Gott sieht und damit zugleich in der Gemeinschaft mit anderen 185 Menschen. Die Persönlichkeit bildet sich in der Kommunikation mit anderen aus und gerade nicht im Rückzug auf das eigene Ich und seine eigenwillige Freiheit. Von diesem Ansatz aus verbindet sich bei Kahnis mit dem Begriff Persönlichkeit die Dimension gelebter Geschichte als Prozess der Menschwerdung auf die Vollendung der Gemeinschaft mit Gott hin. Solches Selbstbewusstsein entsteht, so bleibt über das von Kahnis Dargelegte hinaus anzumerken, wenn ein Du im Horizont des Wir dem Ich zu gegenseitiger Mitteilung begegnet, d.h. durch Sprache im 186 umfassenden Sinne. 180 Der Wandel im Verständnis des Personbegriffs wird von Philippi ausdrücklich registriert und daraus gefolgert, dass man von der Persönlichkeit Gottes nur nach „der modernen Begriffsbestimmung“, von den drei göttlichen Personen nur „nach dem kirchlichen Sprachgebrauche“ reden könne (Kirchliche Glaubesnlehre II, 144–147). Vgl. im Einzelnen Leiner: Personalität Gottes, 1133–1135. 181 Die Lehre vom heiligen Geiste, 8. 182 Zur Darstellung und Kritik Fichtes vgl. Dogmatik I (1861), 85 (= Dogmatik2 I [1874], 63f); Der innere Gang (1854), 67–69 (= ² 1860, 63–65; = Der innere Gang II [31874], 48–50). „Das Selbstbewußtsein, welches in Cartesius sich als das absolut Gewisse erfaßt hatte, läßt in Fichte alles objektive Sein in sich verdampfen. Die Subjektivität also, die innerste Triebkraft der Aufklärung, erreicht in Fichte ihre kühnste Höhe“ (ebd., 69 bzw. 64 bzw. 50). 183 Strauß: Glaubenslehre I (1840), 523, im ausführlichen § 33 „Von der Persönlichkeit Gottes“ (502– 524). 184 Vgl. Die moderne Wissenschaft des Dr. Strauß und der Glaube unserer Kirche (1842), 28–30. 185 In derselben Weise spricht Philippi davon, dass die Gemeinschaft, die Gott mit den Menschen eingeht, wenn Gott ihm als Persönlichkeit begegnet (Kirchliche Glaubenslehre I, 10f), nämlich als absolutes Subjekt (ebd., II, 48–79). 186 Auf diesen Aspekt weist sein Zeitgenosse Philippi ausdrücklich hin: „Bilden Selbstbewußtsein und Freiheit die constitutiven Momente der Persönlichkeit, findet wie der Gedanke überhaupt, so auch der Gedanke des eigenen Wesens oder das Selbstbewußtsein nur seinen vollkommen entsprechenden, reinen und durchsichtigen Ausdruck im Worte, zu dem der Gedanke sich verhält, wie der Inhalt zu seiner Form, mit dem er verwachsen ist, wie die Seele mit ihrem Leibe, findet
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Gerade über den Gedanken der Gemeinschaft, der dem für Kahnis spezifischen Personbegriff inhärent ist, erschließen sich auch Möglichkeiten, das zu erfassen, was Gott und Mensch verbindet. Dies Verbindende liegt für ihn in dem heiligen Geist, von dem aus er die von ihm so benannte Inweltlichkeit Gottes zu begreifen sucht. Während Fichte Gott das Personsein im Sinne von Persönlichkeit absprechen musste, weil Gott sich ja ursprunghaft nicht durch Abgrenzung gegenüber etwas anderem definieren lässt, nimmt Kahnis die dogmatisch vorgegebene Verwendung des Personbegriffs in der Trinitätslehre auf und verbindet sie mit seiner veränderten modernen Bedeutung. Wenn traditionell theologisch drei Personen (tres personae) in Gott als einem einzigen Wesen (una substantia) unterschieden werden, besagt in diesem Zusammenhang Person allerdings nicht Persönlichkeit im modernen Sinne, sondern weist auf Spezifizierungen der einen göttlichen Persönlichkeit hin. Wenn Kahnis dennoch die moderne Definition an den traditionellen Personbegriff anlegt, ergeben sich notwendig Probleme damit, die Einheit Gottes bei drei Personen zu wahren. Mit dieser Problematik, die Kahnis voll bewusst ist, setzt er sich schon früh auseinander. Bereits 1840 führt er dazu aus: Jede Darstellung der göttlichen Dreieinigkeit, jeder Begriff von der überweltlichen Persönlichkeit des Sohnes, welche das Moment des Sohnes aus einer metaphysischen Bedürftigkeit des Vaters, der zur Absolutirung seiner geistigen Persönlichkeit desselben bedürfe, herleitet, setzt eine Unvollkommenheit in den Vater und eine Unwahrheit in den Sohn, so wie jede Auffassung der Persönlichkeit des Sohnes, als in sich abgeschlossen, wenn auch von Ur an ausgestrahlt, neben der Unvollkommenheit und Unwahrheit beider, den arianischen Polytheismus. Die Wahrheit ist, daß die Person des Sohnes vom Vater ausgegangen, nicht aus einer metaphysischen Nothwendigkeit, d.h. weil Gott ohne die Persönlichkeit des Sohnes eines seinen Begriff bestimmenden, ihm zum Gott machenden Elementes baar wäre, sondern aus einer Nothwendigkeit der Liebe, die die ganze Fülle göttlichen Lebens einer Person mittheilen will, die nicht der zum Lebensverlauf nothwendige, aber aus Liebe von Ur an gewollte Träger der göttlichen Selbstobjektion ist. Die Nothwendigkeit der Liebe muß geschieden werden von der Nothwendigkeit des Wesens. Sobald der Sohn dem Einen göttlichen Lebensverlauf entnommen ist, ist Polytheismus, sobald gesetzt ist, daß der Vater aus freier Liebe, nicht aus einer Liebe, die zu nehmen gedachte, den Sohn erzeugt, ist das arianische Geschöpf vorhanden. Diese Liebe also, die den Sohn erzeugte, ist nicht ein absolut freie, sondern eine Liebe, die zur Vollendung des Liebens, somit ihres Lebens bedürftig 187 war.
gleicher Weise der sich selbst bestimmende Wille oder die Freiheit nur ihre vollendete Verwirklichung in der That: so folgt, daß nur That und Wort die adäquaten Selbstdarstellungsformen des persönlichen Geistes sind“ (Kirchliche Glaubenslehre I, 10f) also ein Worte und Taten umfassender Sprachakt. 187 Sammelbesprechung Fischer, Baader und Trahndorff, LACTW 1840, 622.
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Später entwickelt er dann den Begriff der Urpersönlichkeit des Vaters. Der Hilfsbegriff der Liebe spielt durchgehend eine Rolle. Kahnis gewinnt damit jedenfalls die Möglichkeit, Differenzierungen geltend zu machen, die im neutestamentlichen 188 Zeugnis vom Verhältnis (relatio) zwischen Vater und Sohn liegen. Ein charakteristisches Beispiel für solche innerbiblische Differenzierung bietet Kahnis’ Untersuchung über den Engel des Herrn (hw"hy> %a;l.m); von 1858, die er in 189 zwei Referaten auch in seine Dogmatik aufnimmt. Er unterscheidet die Belege, in denen ein Engel Gottes eine kreatürliche Gestalt bezeichnet (Ex 32,34–33,3; I Sam 29,9 usw., sowie alle Vorkommen im Neuen Testament), von den Stellen, an denen ein bestimmter Engel des Herrn mit JHVH selbst identifiziert wird (Gen 16,7–13; 22,11–18; 31,11–13; Ex 3,2–6; Jdc 2,1; 6,11–24). Kahnis versteht diese „Erscheinung Gottes in der vorübergehenden Gestalt eines Engels“ als „Vorspiel 190 der Offenbarung Gottes im Fleische“. Er folgt damit der Interpretation vieler Kirchenväter sowie Hengstenbergs und anderer Exegeten seiner Zeit gegen die Ansicht Hofmanns und Delitzsch’, macht aber zugleich eine wichtige Einschränkung: „Nur geht man weiter als das alte Testament zuläßt, wenn man von einer 191 zweiten Person der Gottheit spricht. Es ist Jehova, welcher als Engel erscheint.“ Eine Beziehung zur Gestalt des Messias deute sich in der Spätzeit des Alten Testaments erst an. „Das in dieser Idee enthaltene Streben von dem unendlichen Gott eine Offenbarungsgestalt zu unterscheiden, welche in der Endlichkeit Fuß fassen will, setzt sich erst beim letzten Propheten, Maleachi, welcher im Messias den 192 Bundesengel sieht [Mal 3,1] […], mit der messianischen Idee in Verbindung.“ In der „Persönlichkeit des Messias“ laufen denn nach Kahnis drei Linien von oben (Engel des Herrn, Weisheit, heiliger Geist) und drei Linien von unten (Adam, Got188 Georg Stöckhardt (17. Februar 1842 in Chemnitz – 9. Januar 1913 in St. Louis/USA) erkennt in seiner scharfen Kritik die Bedeutung, die bei Kahnis dem Begriff der Persönlichkeit zukommt (Der moderne Subordinatianismus im Licht der Schrift, 19f). Er versteht aber den Kahnis’schen Begriff „originieren“ nicht, indem er entgegen Kahnis’ ausdrücklicher Versicherung, dass er ein Geschehen „vor aller Zeit“ meine, dieses Geschehen als „Anfang in der Zeit“ interpretiert. Stöckhardt selbst will zeigen, dass die Schrift „die Gottheit Christi bezeugt und das ewige Wesensverhältniß des Sohnes zum Vater“ beschreibt (ebd., 20). Dabei setzt er selbst allerdings ebenfalls einen Gottesbegriff voraus, der einen philosophischen Hintergrund hat, nämlich „dass Gott causa sui, Grund seiner selbst ist“ (ebd., 20). Der Gedanke, dass alle drei Personen insofern Gott seien, dass sie Grund ihrer selbst sind, ist nicht weniger problematisch, wenn dadurch das innertrinitarische Verhältnis zwischen Vater und Sohn sowie dem Geist, wie es in der Bibel angesprochen ist, zum Ausdruck gebracht werden soll. 189 De angelo Domini diatribe (1858); Dogmatik I (1861), 396–399; Dogmatik III (1868), 209 (= Dogmatik2 I [1874], 356). 190 Dogmatik I (1861), 399. 191 Ebd., 399. – So deutet Kahnis auch die drei Männer, die Abraham im Hain Mamre besuchen, nicht etwa als Erscheinung der Trinität, sondern beobachtet, dass nur einer der Engel als „Herr“ (Gen 18,20.26f.33; 19,27) und damit als Gott bezeichnet wird (ebd., 396; De angelo Domini diatribe, 9f). 192 Dogmatik I (1861), 399. – Mal 3,1 finden sich zwar die Wendungen „mein Bote/Engel“ und „Bote/Engel des Bundes, es fehlt aber die präzise Bezeichnung „Engel des Herrn“.
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tesknecht, theokratische Mittlerämter) zusammen, so dass er die Christologie weder in die Texte des Alten Testaments selbst hineinliest noch als eine erst neutestamentliche Konzeption beziehungslos neben dem Alten Testament stehen lässt. Kahnis nimmt die Entwicklung der Gotteslehre vom Alten zum Neuen Testa194 ment und dann die dogmengeschichtliche Ausgestaltung bis zu seiner Gegenwart hin wahr. Seine offenbarungsgeschichtliche Sicht macht bewusst, dass die Erkenntnis der Dreieinigkeit Gottes erst für das Christentum eigentümlich ist und die spezifisch christliche Trinitätslehre sogar erst in nachneutestamentlicher Zeit ausgebildet wurde. Und damit erscheint das Christentum, das die Dreieinigkeit Gottes bekennt, als später Äon unter der übergeordneten Perspektive des Reiches Gottes. Kahnis bemüht sich um eine revisionistische Fortbildung, die ein stärker biblisches Profil annimmt, indem er die übergeordnete Stellung des Gottes Israels (hw"hy>) und Vaters Jesu Christi als „Urpersönlichkeit“ hervorhebt. Sein Anliegen ist einerseits, die Rückbindung an das biblische Zeugnis zu intensivieren, und andererseits, die dialogische Kompetenz im allgemeinphilosophischen Diskurs zu erhöhen. Der Rückgriff auf ein früheres Stadium der Lehre gegenüber der inzwischen breit rezipierten kirchlichen Form eröffnet mehr Spielraum als eine Sichtweise, die Christus in den Mittelpunkt aller Überlegungen stellt und nicht den Vater. Kahnis schöpft aus der übergeordneten Autorität der Heiligen Schrift sowohl kritisches Potential gegenüber der kirchlichen Lehrbildung als auch kreatives Potential für die aktuelle geistige Auseinandersetzung. Die geschichtliche Betrachtungsweise führt zu einer größeren kommunikativen Offenheit, um in seiner Zeit über die kirchlichen Kreis hinaus gesprächsfähig zu werden. Und so kann dieser Rückgriff auf die biblische Rede von Gott heute auch in einem Bereich fruchtbar werden, den Kahnis noch nicht im Blick hatte. Im christlich-jüdischen Gespräch kann es sowohl hilfreich sein, die größere Nähe des neutestamentlichen Zeugnisses zum Alten Testament zu entdecken und die dogmengeschichtliche Entwicklung als weiterführende Ausformulierung zu würdigen, als auch das Alten Testamentes als eine aus sich heraus zu verstehende Größe wahrzunehmen und es erst dann im Rahmen einer biblischen Theologie mit dem Neuen ins Gespräch zu bringen. Allerdings passen diese „historisch-genetische“ Betrachtungsweise und die begriffliche Form, in der Kahnis sie theologisch zu vermitteln sucht, nicht zusam195 men. Obwohl er dies früher ausdrücklich abgelehnt hatte, überhöht er seine biblisch-theologische Analyse durch eine dogmatische Erwägung, die sie in sein 193 Ebd., 396–401; Dogmatik III (1868), 208–211; Dogmatik2 I (1874), 355–358. 194 „Was im A. T. Keim ist, ist im N. reife Frucht“ (Dogmatik2 I [1874], 368). 195 „Nicht um sich zu erkennen, nicht um sich zu wollen, nicht um sich zu lieben, sondern um sich zu offenbaren hat der Vater den Sohn erzeugt, welcher das Wort heißt d.h. der Ausdruck Gottes für die Welt, und den Geist aus sich hervorgehen lassen, welcher das sich der Welt mittheilende Leben Gottes ist“ (Dogmatik II [1864], 572).
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Persönlichkeitsverständnis einzeichnet. Er leitet die Wahrheit seiner Auffassung 196 aus der Vorstellung einer liebenden Persönlichkeit ab. Dabei verliert er nun selbst den biblischen Boden unter den Füßen. Denn von einer selbstreflexiven Liebe, in der Gott in sich selbst Liebender, Geliebter und Liebe ist, ist in der Bibel nichts zu lesen. Gott liebt seinen Sohn nicht um seiner selbst willen, sondern um seiner Liebe zu seinen Menschen Ausdruck zu geben und sie in ihre Liebe mit 197 einzubeziehen (vgl. Mk 1,11; 9,7; Joh 3,16; 10,17f; 14,21.23.31; 15,9f; 17,23f). Kahnis klärt den Begriff Persönlichkeit, wie er ihn verwendet, offenbar nicht in zureichender Weise. Denn wenn man Gott als Urpersönlichkeit ansieht, der in sich selbst die Personen des Sohnes und des Geistes „originiert“ und außerhalb seiner selbst Menschen schafft, sie erlöst und zur vollen Gemeinschaft mit sich heiligt, dann ist damit zugleich gesetzt, dass dieser Gott als Ursprung (origo) aller Dinge sich in der Kommunikation mit den von ihm „originierten“ Personen nicht selbst als Persönlichkeit fortbildet und vervollkommnet. Gott muss sich nicht als Persönlichkeit profilieren. Der Begriff trägt nichts zur Klärung bei. Und was andererseits die menschliche Persönlichkeit betrifft, so gewinnt alles menschliche Selbstbewusstsein keinen Halt in sich selber, sondern muss sich im Tod völlig aufgeben. Nur von Seiten Gottes her bleibt das Ich des Menschen erhalten und kann deshalb nur von ihm vollendet werden. Menschen können sich nur sehr bedingt und keineswegs bleibend zu Persönlichkeiten entwickeln. Hier ergeben sich erhebliche Anfragen an die Bestimmung des Verhältnisses der beiden Naturen in Christus, denen Kahnis jeweils selbstbewusste Persönlichkeit zuschreibt, ohne die Einheit der Persönlichkeit aufgeben zu wollen. Gerade über den Begriff der Persönlichkeit versucht Kahnis auch, sich die Dimension der Geschichte zu erschließen. Persönlichkeiten schreibt er Wirkungen zu, die über die Differenzen der Zeit Verbindungen schlagen und Wirkungen zei198 tigen. Besonders pointiert macht er dies hinsichtlich des Reformators geltend. „Man kann sagen, daß das Eigenthümliche in Luther’s Persönlichkeit darin be196 Dogmatik2 I (1874), 406. – Kahnis greift damit auf seine frühere Überlegung zurück, bei der er zwischen einer „Nothwendigkeit des Wesens“ und einer „Nothwendigkeit der Liebe“ als Grund für die Zeugung des Sohnes durch den Vater unterschieden hatte (LACTW 1840, 622). 197 Kahnis’ Auskunft: „Als die Welt noch nicht war, waren Sohn und Geist bei Gott. Sohn und Geist aber sind die göttlichen Medien zwischen Gott und Welt. Als die Welt noch nicht war, war sie als Idee in Gott. Der Gott, welcher im Sohne ein unendliches Abbild seiner selbst erzeugt hatte, wollte durch dasselbe ein endliches Abbild seiner selbst schaffen. Die Selbstobjektion des Vaters im Sohne ist der Anfang der Selbstobjektion des Vaters in der Welt. Darum heißt der Sohn der Erstgeborene aller Kreatur“ (Dogmatik2 I [1874], 407), ist eine spekulative Verlegenheitsauskunft. Setzt ein endliches Abbild ein unendliches als Idee voraus? 198 Derselbe Gedanke findet sich auch bei Delitzsch: „Die ‚Entwicklungsverläufe von Jahrzehnten, ja Jahrhunderten’ empfangen ‚ihre Impulse von genialen d. i. schöpferisch begabten Persönlichkeiten’, ‚welche das weiterhin sich Entwickelnde grundleglich und keimhaft in sich tragen’. Die enge Verklammerung des Menschlich-Wirksamen und Göttlich-Notwendigen wird hier so ausgedrückt: ‚Solche außerordentliche Menschen sind immer providentielle Erscheinungen’“ (Wagner: Delitzsch, 376).
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stand, daß er durch und durch Persönlichkeit war.“ Über die Persönlichkeit erschließt Kahnis in der geschichtlichen Gestalt Luthers einerseits dessen Zugang zu Gott. „Das Heil aber, welches es (sc. das Christenthum) verkündet, ist der Zusammenschluß der Person Gottes mit der Person des Menschen durch die Person 200 Christi.“ Die Gottesgerechtigkeit hat entsprechend personalen Charakter: „Gerechtigkeit der Person. Und daß diese Gerechtigkeit nicht eine Einbildung des Glaubens war, sondern eine göttliche Thatsache, das bezeugte ihm die Hand, die ihn 201 erfaßt hatte mit ihrer Heilskraft, die seine ganze Seele erneuerte und heiligte.“ 202 Luther erscheint so als „ein Held des Glaubens“. Und daamit erklärt sich auch die besondere Bedeutung des Reformators aus seiner Persönlichkeit. „Was aber nicht Alle waren, welche sich Humanisten nannten, das war Luther: ein wahrer Mensch. Es mag wenig Theologen gegeben haben, die so entfernt von allem Schein waren wie Luther. Während sich so Viele in ihren Schriften besser gegeben haben 203 wie sie sind, war er besser wie alle seine Schriften.“ Andererseits führt Kahnis auch die geschichtliche, über Luthers Tod hinaus gehende Wirkung der reformatorischen Bewegung auf die Kraft seiner Persönlichkeit zurück. Gegen David Friedrich Strauß reklamiert er, „daß die Gattung der 204 Menschheit in Einer Person zur Erscheinung kommen könne.“ Ja, er sieht geradezu „durch die Menschheit ein Streben gehen […], in Eine Persönlichkeit die gan205 ze Fülle ihrer Lebensgeister zusammenzufassen.“ Von Irenäus nimmt er das Motiv und den Begriff „Rekapitulation“ auf, um die Besonderheit von Adam und Christus als Gesamtpersönlichkeiten der Menschheit (vgl. Röm 5) zu beschreiben, und eben auch Luther als persönliche Aufgipfelung der Reformation in einem 206 Individuum zu würdigen. Indem Luther „in all sein Denken, Wollen, Fühlen seine Persönlichkeit legte“, wurde er zu „einem Zeugen, der mit seiner Person für 207 das Heil einsteht, das er persönlich erfahren hat“. „Das Geheimniß seiner Größe“ wie seiner in die folgenden Jahrhunderte ausstrahlenden Wirkung liegt dem208 nach „in der Macht seiner Persönlichkeit“. „Die Lebensgeister, die in Luther’s Person“ als einer selbstbewussten Individualität lagen, erwiesen sich also über die Grenzen seiner Individualität hinaus als wirksam und sind „noch einer höheren 209 Entwickelung und somit einer reichen Zukunft fähig“. Kahnis setzt eine enorme Ausstrahlungsfähigkeit der Persönlichkeit voraus. Auf welche Weise diese Wir199 Die deutsche Reformation, 395. 200 Ebd., 395f. 201 Ebd., 399. 202 Ebd., 402. 203 Ebd., 409. 204 Die Bedeutung der Persönlichkeit Luther’s, 4. 205 Ebd., 4. 206 Ebd., 5. 207 Ebd., 10.12. 208 Ebd., 14. 209 Ebd., 29.
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kung zustande kommt, erklärt er nicht. Offenbar ist sie an keine konkreten Formen von Gemeinschaft gebunden ist. Den Zugang zu der geschichtlichen Wirkung Luthers sucht er unmittelbar über das Geheimnis der Persönlichkeit; das neue Schriftverständnis, auf das dieser selbst sich berief, erscheint demgegenüber als 210 abgeleitet. In erster Linie interessiert nicht die Theologie, sondern der Theologe. Einem solchen Zugang zur Geschichte gegenüber bleibt aber doch die kritische Anmerkung angemessen, dass kein Zauber wahrer Menschlichkeit aus sich heraus über die Zeiten hinweg seine Wirkung entfalten kann; er spricht durch Texte oder andere Werke und hat damit sprachlichen Charakter. Auch Luthers eigentliche Wirkung ist primär eine literarische. Und sein persönliches Heilsverhältnis zu Gott wollte er sich 1521 vor Kaiser und Reich einzig und allein auf das 211 Wort der Schrift gründen. Indem sich auf die geschichtliche Betrachtungsweise, wie sie Kahnis vornimmt, die Bedeutung, die in der Neuzeit dem Individuum als Persönlichkeit erlangt hat, auswirkt, stellt sich zugleich das Problem des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft. Kahnis versucht auch hier, die Balance zwischen beiden Polen zu wahren. Der Glaube des Individuums ist eingebunden in die Gemeinschaft der Kirche. Sofern es Gottes Tun ist, das den Einzelnen ergreift, ist es zugleich ein Wirken, das den Einzelnen zur Gemeinschaft mit anderen Menschen verbindet, die ebenfalls Gottes rettendes Handeln erfahren. Der Subjektivismus ist gerade darin überwunden, dass davon ausgegangen wird, dass es der eine und sich selbst treue Gott ist, der mit mir umgeht und der sich bei anderen nicht grundsätzlich anders verhalten wird. Die Wahrheit des Einzelnen ist auch die Wahrheit der Gemeinschaft, sofern der eine Gott sein Heil wirkt und offenbart, seine Geschichte mit der Welt und den Menschen schreibt. Die Gemeinschaft, auf die Gott seine Menschen mit sich hinführt, will Kahnis mit dem Begriff der Persönlichkeit begreiflich machen. Dieser Begriff kann jedoch nicht annähernd zureichend den Sachverhalt erfassen. Das moderne Persönlichkeitsparadigma ist allein veranschaulichend und phänomenologisch beschreibend leistungsfähig. 6.4.6 Die Rolle des Textes innerhalb des hermeneutischen Horizontes Die Bedeutung der sprachlichen Vermittlung, auf der aller Glaube ruht, hat Kahnis mitunter durchaus erwogen:
210 Den „Grundsatz des Protestantismus, an Glaube und Leben der Kirche das Richtmaaß der heiligen Schrift zu legen,“ verbunden mit dem „Grundsatz des Prüfens“ und mit der Überzeugung, dass die Schrift „das Wort vom Heil in Christo“ ist und dieses“ in der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Jesum Christum“ besteht (ebd., 22.27), strahlt die Persönlichkeit Luthers überzeugend aus. In ihr ist er geschichtlich verwirklicht und wirksam. 211 „victus sum scripturis a me adductis et capta conscientia in verbis dei“ (WA 7, 838,6f).
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Wenn nun die Kirche, mein eigentlich Vaterland, zu mir ein Wort gesprochen hat in der Taufe, in dem Munde der Eltern und Lehrer, in der Stimme der Diener Gottes, das mir einen Geist giebt, in dessen Lichte ich Gott schaue, wie das Auge von Sonnennatur die Sonne schauet, dies Wort aber seinem Inhalte wie seiner Ueberlieferungsweise nach ein historisches ist, so wird (was eine Tautologie ist) doch ein Mund gefordert, der es zuerst gesprochen, und zwar, wie sich ebenfalls von selbst versteht, Organ desselben Geistes, als der ist, den es wirkt.212
Während Kahnis in diesem Falle vom heute gesprochenen Wort auf das Urwort des Schöpfers zurückschließt, Wirklichkeit also unter dem sprachlichen Aspekt betrachtet, relativiert er diese sprachliche Dimension doch eigentümlich. „Da die im Wesen der Religion liegende Forderung einer Offenbarung sich in Gestalt einer Bundesgeschichte verwirklicht hat, so kann die Wesensbestimmung des Christenthums nur das Resultat einer summarischen Darlegung des Ganges der Offen213 barungsgeschichte sein.“ Hier sucht er die Offenbarung im Medium der Geschichte, ohne dabei die Bedeutung der Sprachlichkeit zu thematisieren. Der „Gang der Geschichte“ wird zum Aussageträger erklärt. Die Texte der Überlieferung kommen dabei einerseits als „Urkunden“ und „Zeugnisse“ in den Blick, andererseits verbunden mit der nicht abreißenden mündlichen Weitergabe als „das Wort, durch welches der heilige Geist die großen Ziele der Kirche wirkt, Gläubige 214 einerseits zu erzeugen und zu erziehen, andererseits zu einigen“. Der hermeneutische Horizont wird damit umfassend berücksichtigt, nicht aber in seiner durchweg sprachlichen Eigenart wahrgenommen. In seinem Schriftverständnis tritt dies deutlich hervor. Er erkennt einen neuzeitlichen Fortschritt in der Schriftauffassung. „Daß der Inhalt der ganzen Schrift Offenbarung sei, das hatte man von je geglaubt. Was aber erst die neuere Theologie in seinem ganzen Umfange erkannt hat ist, daß die Offenbarung eine Geschichte ist, deren Entwickelungspunkte sich in die Schriften alten und neuen 215 Bundes im Geiste Gottes niedergelegt haben.“ Die einzelnen Texte werden also auf eine Geschichte bezogen, die den eigentlichen hermeneutischen Rahmen bildet. „Die Geschichte der Heilsoffenbarung also ist die Summe der Schrift. Ist dem also, so legen wir eine einzelne Schrift nur dann richtig aus, wenn wir im Zusammenhange der heiligen Geschichte den Punkt betrachten, den sie in der Heilsof216 fenbarung zu bezeugen hat.“ Diese geschichtliche Verortung ist zugleich mit einer qualitativen Differenzierung der göttlichen Präsenz verbunden, einerseits in der Offenbarungsgeschichte selbst, andererseits bei ihrer Beurkundung unter inspirierendem Beistand des heiligen Geistes. Indem Kahnis eine historisch-philologische Auslegung befürwortet, 212 Die moderne Wissenschaft des Dr. Strauß (1842), 103. 213 Dogmatik2 I (1874), 136. 214 Ebd., 208. 215 Die Entstehung der Kirche (1867), 3. 216 Ebd., 4
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lenkt er zugleich von den Texten selbst ab und richtet sein Augenmerk auf eine den Texten voraus liegende Wirklichkeit, die in diesen dann ihren Niederschlag gefunden hat. Die historische Verfremdung, die durch die historische Exegese eintritt, hebt er auf, indem er die historisch vergangene Situation in die Geschichte der Heilsoffenbarung einordnet, in die auch die heutigen Menschen noch einbe217 schrieben sind. Diese Betrachtungsweise nennt er selbst „historisch-genetisch“. Dieser die Texte transzendierende Bezug auf die Dimension der geschichtlichen Heilsoffenbarung bringt zwar weitere wichtige Faktoren zum Verstehen der Schrift hinzu. Die historische Auslegung der Schrift selbst verbindet sich mit der Auslegungsgeschichte der Kirche und mit der eigenen Glaubenserfahrung. Der heilige Geist wirkt in diesem Verstehensnetz. Damit aber tritt innerhalb dieser Offenbarungsgeschichte der Text selbst in seiner Bedeutung zurück, weil die anderen hermeneutischen Komponenten nicht in ihrer Sprachlichkeit gewürdigt werden. Kahnis beschreitet mit Anwendung seines Paradigmas der Offenbarungsgeschichte einen bezeichnend anderen Weg als Hofmann, der die geschichtliche Betrachtung der Bibel strikt von ihrer theologischen Auslegung unterscheidet, bei der es um ein heilsgeschichtliches Verstehen gehe, das „die unterscheidende Ei218 genthümlichkeit der heiligen Schrift“ erfasst. Der biblische Text erfährt also zwei Auslegungen. Als christlicher Ausleger geht Hofmann mit dem bestimmten Vorverständnis an die Schrift heran, dass er „in der Schrift ein Zeugniß desselben 219 Heils erkennt, welches er in Christo zu eigen hat“. Sofern seine christliche Gewissheit „kein Ergebniß natürlicher Entwickelung des menschliches Wesens, sondern einer davon unabhängigen und anderartigen Geschichte ist, die sich zwischen Gott und der Menschheit ergeben hat; so gewiß ist auch die Schrift als Zeugniß dieses Heils nicht in der Weise der erstern, sondern der letztern gewirkt, 220 ein Werk des göttlichen Geistes im Sinne seines Wirkens in der Kirche Christi“. Indem auch die Schrift in heilsgeschichtlicher Weise „beurkundete Geschichte“ und „geweissagte Zukunft“ bietet, erfordert sie eine Hermeneutik, allerdings eine, die sich von der allgemeinen Hermeneutik grundlegend unterscheidet. Sie geht nämlich von dem „Ganzen einer einheitlichen heiligen Schrift“ und nicht von den 217 „Meine Absicht war, die Entstehung der lutherischen Glaubenslehren aus dem religiösen Geiste, der Offenbarung und dem Kirchenglauben so darzustellen, daß ich in dem geschichtlichen Werden das Werden der Wahrheit nachzuweisen suchte. Ich habe daher meine Behandlungsweise die historisch-genetische genannt“ (Dogmatik2 I [1874], IV). – Indem Martin Kähler diesen Begriff austauscht und Kahnis’ Werk als „Lutherische Dogmatik nach historischer Methode“ vorstellt (Geschichte der protestantischen Dogmatik, 190), verbaut er sich bei aller Sympathie für dessen Arbeitsweise doch letztlich das Verständnis dafür, dass dieser trotzdem am konfessionellen Luthertum festhält. Wechselnde Geschichte und bleibende Wahrheit treten bei Kahnis in Beziehung zueinander; allerdings fehlt bei ihm eine eingehendere Erläuterung dafür. 218 Hofmann: Die Aufgabe der biblischen Hermeneutik (1863), 114. Hofmann bezeichnet diese Darstellung selbst als „erschöpfend umschrieben“ (ebd., 122). 219 Ebd., 115. 220 Ebd., 116.
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geschichtlichen Einzelphänomen aus, unbeschadet dessen, dass der biblische Kanon, der dieses „einheitliche Ganze“ als „Heilswahrheit“ bezeugt, sich in einem 222 geschichtlichen Prozess herausgebildet hat. Der geschichtliche Abstand hebt sich auf, indem die Schrift sowohl „der Kirche gegenwärtiges Gut“ ist, das den gegenwärtigen Christenstand beschreibt, als auch „Erzeugniß einer heilsgeschichtlichen 223 Vergangenheit“. Der Ausleger besitzt in dem Schriftganzen unmittelbar ein Zeugnis seines Heils, dessen er aus eigener Erfahrung gewiss ist. Das zeitliche Element der heilsgeschichtlichen Schau Hofmanns unterscheidet sich radikal von sonstigen geschichtlichen Abläufen. Schon im Hinblick auf das Alte Testament liegt nur eine zeitliche Entwicklung vor, die keine wirkliche Veränderung bringt. Denn „in der alttestamentlichen Schrift erkennt der Ausleger dasselbe Heil, welches ihm eignet, aber nicht als eben dasselbe wie es ihm eignet, 224 sondern als das seiner wesenhaften Verwirklichung noch erst entgegengehende“. In der Wahrnehmung des Neuen Testaments ist aber selbst diese zeitliche Struktur aufgehoben: „In der neutestamentlichen Schrift findet der Ausleger das Heil nicht blos als dasselbe, welches, sondern auch so, wie er es zu eigen hat, und aus derselben Gemeinde Jesu, welcher er selbst angehört, stammt diese Heilsbezeugung 225 her.“ Ein kritisches Verhältnis zur Schrift ist damit ausgeschlossen. „Da das geistliche Verständniß das erste ist, so erscheint die Uebereinstimmung der geschichtlichen Auffassung mit ihm von vorn herein gesichert, als welche nun eine heilsgeschichtliche ist. Und zwar gilt dieß eben so von der hier vorliegenden Heils226 bezeugung, als von der hier vorhandenen Heilswirklichkeit.“ Die geschichtlichen Aspekte werden der heilsgeschichtlichen Schau also konsequent untergeordnet 227 und damit der Bezug dieser „unabhängigen und andersartigen Geschichte“ auf die allgemeine Geschichte höchst fraglich. Obwohl Hofmann zur Geltung bringen will, „daß die Schrift kein Lehrbuch begrifflicher Wahrheiten, sondern Urkunde einer Geschichte und inmitten derselben entstanden ist, indem dieß mit sich bringt, daß ihr Heilszeugniß theils Bericht von Geschehenem, theils Aussage von Gegenwärtigen und theils Vorhersagung 228 von Zukünftigem ist,“ fehlt dieser Heilsgeschichte doch jede zeitliche Veränderung im eigentliche Sinne. 221 Ebd., 115. 222 Ebd., 117. 223 Ebd., 119. 224 Ebd., 119. Die „Verschiedenheit“ stehe aber unter den vorherrschenden Eindruck der „Dieselbigkeit“ (ebd., 119). 225 Ebd., 120. Hofmann vermerkt ausdrücklich, dass sich die hermeneutische Frage dem Neuen Testament gegenüber eigentlich nicht stellt. „Der Ausleger hätte keine theologische Vermittelung nöthig zwischen den Thatsachen, welche von ihr [sc. der neutestamentlichen Schrift] beurkundet sind, oder den Heilsaussagen, welche ihm hier begegnen, und zwischen seinem eigenen Heilsbewußtsein, wenn nicht ihr Zusammenhang mit der alttestamentlichen Schrift wäre“ (ebd., 121). 226 Ebd., 119f. 227 Ebd., 116. 228 Ebd., 121.
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Demgegenüber versucht Kahnis mit seiner „historisch-genetischen“ Betrachtung, Gottes Offenbarungshandeln innerhalb der Geschichte konsequenter zu würdigen. „Sache der Biblischen Theologie“ ist für ihn „die geschichtliche Darstellung des biblischen Glaubensinhaltes in seiner bundesgeschichtlichen Entwickelung“, und dabei gilt es zu beachten, dass die geschichtliche Betrachtung sich 229 nicht allein auf „Offenbarung oder Wort Gottes“ richtet. „Die Schrift setzt einerseits aus dem religiösen Bewußtsein Lehren voraus, über die sie nicht aus Offenbarung spricht z.B. die Lehre vom Dasein Gottes, von der Seele, von der Welt, anderseits ist nicht Alles was sie lehrt Offenbarung, wie doch z.B. bei den Sprüchen Salomo’s, dem Standpunkte des Koheleth u.s.w. fast allgemein zugestanden 230 ist.“ Und von dieser Position aus hält er den Hofmann’schen Ansatz für zu eng und ungeschichtlich: „Der Schriftbeweis aber ist eigentlich nur eine Hilfswissenschaft der Dogmatik, welche zunächst nicht was an und für sich die Schrift lehrt, 231 sondern wie sich ihre Lehre zur Kirchenlehre verhält zu beantworten hat.“ Bei seiner eigenen genetischen Darstellung sieht sich Kahnis demgegenüber vor die Aufgabe gestellt, „aus dem Gange der biblischen Offenbarung die einzelnen 232 Schriftlehren entstehen zu lassen“. Diese Aufgabenstellung aber bedeutet, dass die genannten Schriftlehren sich nicht schon aus den Schrifttexten ergeben, sondern in der Offenbarung liegen, von der sie Zeugnis ablegen. Zu dieser Geschichte der Offenbarung gibt es aber – so muss man einwenden – gar keinen andern Zugang als den der sprachlichen Vermittlung. Und die Lehren erfordern ihrerseits wieder sprachliche Gestalt. Und das eigene Bewusstsein existiert auch nicht ohne Sprachlichkeit. Die historische Relativierung der biblischen Texte lässt sich durch den Hinweis auf die darin bezeugte Geschichte selbst nicht abfangen, da diese an die sprachliche Vermittlung gebunden ist und an deren Eigenart unabdingbar teilhat. Die sprachliche Gestalt protokolliert ein Geschehen ja nicht eins zu eins, sondern lässt vieles aus, fügt dem Geschehenen aber auch bedeutend Neues hinzu. Sie konstituiert neu Wirklichkeit und verbaut damit einen leichten Griff dahinter zurück. Der „Geschichte“ als Medium der Offenbarung korrespondiert in Kahnis’ Hermeneutik die „Erfahrung“ als Medium des Verstehens. So sehr ein Verständigungsprozess auf Worte angewiesen ist, so scheint für Kahnis die Lebensgemeinschaft, die perspektivisch auf die Heilsgemeinschaft der Menschen mit Gott ausgerichtet ist, letztlich doch in einer Unmittelbarkeit gegenseitigen Verstehens zu liegen, die der Worte nicht mehr bedarf. Die Worte, die nur Lehren definieren können, nicht jedoch das Leben, transportieren nicht das Eigentliche und die Wahrheit:
229 Dogmatik I (1861), 222f. 230 Ebd., 223. 231 Ebd., 222. 232 Ebd., 224.
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Die Schrift war ihm [Luther] schon damals [als ihm das neue Verständnis der Gerechtigkeit Gottes aufging] die Auctorität aller Auctoritäten. Nur was auf Gottes Wort ruhte, war ihm wahr. So war denn in der Erkenntniß der Lehre von der Rechtfertigung das protestantische Schriftprincip im Keim enthalten. Was aber die Schrift lehrte, verstand Luther nur in Kraft des heiligen Geistes. Der heilige Geist, sagt Luther ausdrücklich in der angeführten Stelle, gab mir das Verständniß der Stelle: Der Gerechte lebt seines Glaubens. Der Geist aber bezeugte Luther die Wahrheit der Lehre von der Rechtfertigung in dem Frieden des Herzens, den er ihm gab. Die Wahrheit also des evangelischen Glaubens ruht auf dem Zeugnisse des Geistes zuerst in der Schrift, zweitens in der Heilserfahrung. Denn das Christenthum ist seinem innersten Wesen nach Heil.233
Daraus ergibt sich für Kahnis: „Der Artikel, der ihn durch und durch beherrscht, ist nicht die Lehre vom rechtfertigenden Glauben, sondern der rechtfertigende Glaube als eine Thatsache des Lebens. Nicht wer die Lehre vom Glauben hat, sondern wer den rechtfertigenden Glauben selbst hat, ist mit Gott versöhnt. Erst nachdem Luther die apostolische Lehre vom Glauben in sich erfahren hatte, hatte 234 er die Gewißheit ihrer göttlichen Wahrheit.“ Text und Leben werden als zwei eigentümliche Bereiche unterschieden und nicht über die Sprache miteinander verbunden. Der Schritt über die Lehre hinaus zum Glauben führt aber doch nicht über die Sprachlichkeit hinaus. Das Problem dieses erfahrungstheologischen Ansatzes liegt darin, dass der unmittelbare Bezug zum Text verloren geht. Die Texte der Bibel und des Bekenntnisses stellen das primäre Medium der Kommunikation dar. Geschichte vermittelt sich überhaupt 235 nur durch Texte, deren Botschaft zu entschlüsseln ist, erfordert Sprachlichkeit. Und die Erfahrung ihrerseits wird erst vermittelbar, wenn sie zur Sprache gebracht wird. Der Begriff der Erfahrung erweist sich als eine subjektive Abstraktion von der geschichtlichen Unmittelbarkeit des sprachlichen Kommunikationsgeschehens. Erfahrung impliziert auch das Setzen von Bedeutung im Rahmen individueller Plausibilität. Und diese Interpretation hat sich in der gesellschaftlichen Kommunikation zu bewähren, ist also kein absoluter Festpunkt für abgeleitete Folgerungen. Individuelle Erfahrung ist selbst noch keine Basis für ein gemeinschaftliches Gedächtnis, wie es bei der Vermittlung der christlichen Botschaft vorausgesetzt ist. Sobald aber eine gemeinschaftliche Erfahrung in Anschlag gebracht wird, erfor-
233 Die deutsche Reformation, 156. Kahnis bezieht sich auf die Stelle in der Genesisauslegung Luthers zu Gen 27,38: Donec illustrante spiritu sancto locum Abacuc diligentius expenderem (WA 43, 537,21f). 234 Die deutsche Reformation, 156f. 235 Die vor- und frühgeschichtliche Forschung steht unter der besonderen Herausforderung, dass sie Bodenfunde interpretieren muss, denen nur eine indirekte Sprachlichkeit eigen ist, um in ihnen doch eine Aussage über die Lebenswelt und das Lebensverständnis der Menschen, von denen sie Zeugnis geben, zu erschließen.
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dert diese sprachliche Artikulation und muss in mündlichen oder schriftlichen Texten fassbar sein. Auch der Gesichtspunkt der Normativität ist ein geschichtliches Phänomen, wie Kahnis an der Kanonbildung insbesondere des Neuen Testamentes eindrücklich darstellt. Normativität kann schon in der ursprünglichen Pragmatik von Texten angelegt sein, kann ihnen aber auch später erst zuwachsen. Im Blick auf die Bibel liegt solche normative Pragmatik keineswegs schon allen einzelnen Schriften zugrunde, sondern wird ihnen erst im Prozess der Kanonbildung beigelegt. Und diese Kanonbildung verläuft charakteristischer Weise in den unterschiedlichen jüdischen und christlichen Trägergruppen unterschiedlich. Demgegenüber besaß die Augsburger Konfession von ihrer Übergabe an den Kaiser her von vornherein reichsrechtlichen Rang und hatte damit bereits von ihrem Ursprung her eine bestimmte normative Dignität. Diese erstreckte sich allerdings nicht etwa, wie es ihrer eigenen Intention entsprochen hätte, auf die gesamte Christenheit, sondern blieb auf die evangelischen Reichsstände be236 schränkt, die sich erst in der Folgezeit überhaupt stärker formierten, was für den Rezeptionsprozess der CA von tief greifender Bedeutung war (vgl. nur Variata und Invariata). Auch mit der Herausbildung des biblischen Kanons ist keineswegs ein Kategorienwechsel von geschichtlicher Zufälligkeit zu unveränderlicher Wesenhaftigkeit verbunden. Die Überlieferung von Texten wird durch die Trägergruppen geprägt, die diese Texte für überlieferungswürdig halten und ihnen damit für sich selbst bestimmte Bedeutungen zuschreiben. So ist Normativität ein Phänomen der Wirkungsgeschichte, die sich mit historischen Ereignissen und Texten verbindet und ihnen richtunggebende Bedeutung zumisst. Tatsächlich ist die Wirkungsgeschichte mit immer neuer aktualisierender Interpretation der Grundlagentexte verbunden. Das hat Kahnis richtig gesehen. Dieser Interpretationsprozess ist notwendig mit der Normativität dieses Textrepertoires verbunden. Ohne solche gegenwartsbezogenen Neuerschließungen würde ihm die Kraft, weiterhin bestimmend zu wirken, ja sogar verloren gehen. Es würde zunehmend in die Belanglosigkeit absinken. In diesen Aktualisierungen liegt mithin die geschichtlich erfahrene Macht solcher Texte. Solche Normativität hängt ferner davon ab, ob sie nachhaltig praktiziert wird. Kommt ein normativer Text außer Gebrauch, verliert er seine bestimmende Autorität und Wahrheit. Die Geschichte des lutherischen Konfessionalismus ist selbst ein deutliches Beispiel dafür. Als die Bindung an das Bekenntnis durch geschicht236 „Die Augsburgsche Konfession ist nicht für die lutherische, sondern für die ganze abendländische Kirche geschrieben und der morgenländischen hat man sie wenigstens übersandt“ (Die Sache der lutherischen Kirche, 87f). Es fehlte nicht an Versuchen, diese Einschränkung aufzubrechen, von Melanchthons Übersendung der CA in griechischer Übersetzung an den Patriarchen in Konstantinopel (vgl. Benz: Wittenberg und Byzanz, 67f) bis hin zu den Anregungen zu einer Anerkennung seitens der Römisch-Katholischen Kirche anlässlich ihres 450. Jubiläums 1980 (vgl. Kirche und Bekenntnis, hg. v. Peter Meinold).
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liche Faktoren wie die Auflösung alter politischer Strukturen, die kirchenpolitische Entwicklung und die mentalitätsgeschichtlichen Umbrüche geschwächt wurde, fiel auch die normative Stellung des lutherischen Bekenntnisses mehr und mehr dahin. Auch eine kirchenrechtliche Verankerung bot dagegen wenig Halt, so große Bedeutung man ihr auch zugemessen hatte (Unterscheidung zwischen de iure und de facto). Ein Bedeutungsschwund innerhalb der praktischen kirchlichen Lebenswelt änderte die maßgebliche Bedeutung des lutherischen Bekenntnisses. Mit der Dimension der Erfahrung macht Kahnis auf seine Weise auf den hermeneutischen Zusammenhang in seiner Breite aufmerksam. Texte sprechen nicht für sich, sondern in der Wahrnehmung ihrer Rezipienten. Wieso Leserinnen und Leser überhaupt nach einer bestimmten Lektüre greifen, in welchen Zusammenhang ihrer eigenen Wirklichkeitserfahrung sie die Texte stellen, welchen Gebrauch sie selbst von ihnen machen, welchen Sinn sie ihnen für ihr eigenes Leben beilegen, all das trägt neben den reinen Wortlaut wesentlich zum Verständnis bei. Deshalb genügt es nicht, wenn man den heiligen Geist als entscheidenden Faktor bei der Übermittlung der biblischen Botschaft ansieht, ihn nur für die Entstehung des Textes in Anspruch zu nehmen. Es muss angenommen werden, dass er den gesamten Verstehensprozess leitet. Dann kann damit keine äußerlich fassbare, für jedermann erkennbare Eindeutigkeit verbunden sein. Vielmehr ist dann die geschichtliche Vielfalt und Unabgeschlossenheit des Verstehens anzuerkennen. Ja sogar die Textgestalt selbst ist von dem Prozess der Rezeption betroffen. Bei ihrer weitergehenden Aktualisierung erfahren die Texte ständige Veränderungen durch die wechselnden Kontexte, in die sie gestellt werden, mit ihren besonderen Denkweisen und Fragestellungen, die sich zum Teil, wenn auch nicht unbedingt, in der Gestaltung des überlieferten Textes niederschlagen. Kahnis hat auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht, die samt und sonders zu berücksichtigen sind, wenn glaubendes Verstehen bedacht werden soll. Er hat aber zugleich begriffliche Differenzierungen eingebracht, die wenig hilfreich sind, diese Zusammenhänge zu analysieren. Seine Begriffe Offenbarung, Geschichte, Erfahrung, Leben und Wahrheit verdrängen eher die Bedeutung von Sprache und Texten, statt diese als verbindende Phänomene zu würdigen. 6.4.7 Die Kirche nach ihrer geistlichen und nach ihrer geschichtlichen Seite Kahnis hält das Verhältnis von Heilsordnung, der Gemeinschaft des Einzelnen mit Gott im Glauben, und Kirchenordnung, der Gemeinschaft dieser durch Wort und Sakramente miteinander verbundenen Einzelnen, für eine Frage, die ihrer 237 theologischen Durchklärung noch bedarf. Unsicherheit in den ekklesiologischen Fragen kennzeichnet denn auch ganz konkret in seiner Zeit die Bemühungen um 237 Vgl. seine Äußerungen auf der Berliner Konferenz 1861 (Die Verhandlungen der Commission zur Erörterung der Principien der Kirchen-Verfassung, 8.22f.57f.75.78f.86.89).
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eine selbständige Gestaltung der Kirche, als sie schrittweise aus der Obhut des Staates heraustritt. Kahnis bemüht sich, seinen Beitrag zur Bewältigung der Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft im Glaubensverständnis zu leisten. Er lehnt die alte Unterscheidung zwischen unsichtbarer (proprie) und sichtbarer (in hac vita) Kirche ab, weil damit eine einzige Wirklichkeit rein abstrakt auf zwei unterschiedliche Gemeinschaften aufgeteilt werde. Er findet einen einheitlichen Kirchenbegriff, indem er an der einen Kirche eine göttliche und eine menschliche Seite wahrnimmt. Gott macht ja die geschichtliche Wirklichkeit zur Sphäre seiner Heilswirksamkeit. Die soteriologische Dimension ist damit untrennbar mit einer soziologischen verbunden. Die Christusherrschaft im Heiligen Geist manifestiert sich in einer menschlich-geschichtlich lebenden, pluralistischen Christenheit, aus der sich keine eindeutige und einheitliche Wesenswirklichkeit abstrahieren lässt. Kahnis führt die gewisse Schieflage, die er am traditionellen lutherischen Kirchenbegriff vielmals kontrovers erlebt hat, auf eine Unklarheit der Kirchendefinition im Bekenntnis (CA 7 und 8) zurück: Subjektivität tritt uns im protestantischen Kirchenbegriffe entgegen. Wie oft haben wir Lutheraner uns in Konferenzen, Religionsgesprächen, engeren Disputationen an der Bestimmung der Kirche Art. VII der Augsburgschen Konfession: Versammlung der Gläubigen, wo Gottes Wort recht gelehrt und die Sakramente recht verwaltet werden, die Zähne zerbissen. Nie, nie haben wir uns einigen können, am wenigsten vorigen Herbst in Berlin. Diese Bestimmung, es kann nicht anders sein, verbindet zwei Begriffe, die nicht zusammengehen. Und warum denn nicht? Die über die Erde hin zerstreuten Gläubigen bilden, weil sie eben in verschiedenen Kirchen leben, keine organisirte Gemeinschaft, und anderseits liegen jenseits einer in Wort und Sakrament richtig verfaßten Kirche, also wie gewöhnlich ausgelegt wird jenseits der lutherischen Kirche, noch viele Tausende von Gläubigen, die doch auch zur Kirche gehören. Ich bin weit entfernt nun zu sagen, daß dieser Artikel unwahr sei: er enthält nur in seiner Lehrfassung nicht die ganze Wahrheit. […] Ich kenne keine andere Lösung, als daß die Reformatoren in Bestimmung des Kirchenbegriffs zu einseitig von den einzelnen Gläubigen ausgingen. […] In der Bestimmung der Kirche muß man vor Allem von dem Haupte ausgehen, Jesus Christus, der im heiligen Geiste durch das Wort die Gläubigen erzeugt, erhält, nährt und zur Gemeinschaft zusammenschließt. Das Wort ist theils ein sakramentales, theils ein doktrinales. Jenes erzeugt und erzieht, dieß eint Gläubige. Dieß Wort aber existirt gar nicht ohne Organisation in Bekenntniß, Verfassung und Kultus. Wort und Sakrament schweben ja in der Luft ohne Gaben, Kräfte, Aemter, die sie verwalten, was doch ohne Organisation nicht denkbar ist. Indem die Reformatoren immer nur von den einzelnen Gläubigen ausgingen, sahen sie zu wenig, daß die Kirche eine göttliche Stiftung ist, in welcher Christus durch den heiligen Geist in Wort und Sakrament, die doch nur in Gemeinden Bestand haben, seinen himmlischen Heilsgang geht durch Völker und Zeiten, bis er einst wiederkommen wird. Die deutsche Reformation, welche immer nur die Gemeinschaft der Gläubigen im
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Auge hatte, hat nie recht weder die göttliche Stiftung, noch den äußeren Organismus, den die Gläubigen bilden, verstanden.238
Kahnis findet also das Verhältnis zwischen den „Gläubigen“ als je Einzelnen und der „äußeren Organisation“, in der sich ein Gemeinwesen gestaltet, nicht zureichend geklärt und will beide Größen von dem einen Herrn Christus, dem die Gläubigen zugehören und der durch die Kirche sein Heilswerk treibt, tiefer miteinander verbinden. Kahnis legt mit seiner Problemortung den Finger auf eine offensichtliche Schwäche der lutherischen Ekklesiologie. Die Definition des rechtfertigenden Glaube betrachtet den Menschen, wie er vor dem Richtstuhl Gottes (coram dei) steht, forensisch am Ende seines Lebens wie der ganzen Welt, und isoliert ihn damit als einen Einzelnen, der allein auf den Beistand Christi hoffen kann. Glaubende in diesem Sinne sind grundsätzlich Einzelne, keine Gemeinde. Demgegenüber definiert Melanchthon die Kirche, indem er einen Gottesdienst beschreibt, in dem Christus die Seinen durch Wort und Sakrament um sich schart. Hier ist die geschichtliche Wirklichkeit in diesem Leben im Blick. Glaubende in diesem Sinne sind Menschen in mitmenschlicher Verbundenheit, repräsentieren die Dienstgemeinschaft des Leibes Christi und sind alle miteinander auf dem Weg durch ihre irdische Lebenszeit. Wenn Melanchthon den Kreis der „Heiligen“ (sancti) in CA 8 auf die „wahrhaft Glaubenden“ (vere credentes) einengt, stellt er zwar eine Verbindung zu den vorausgehenden Aussagen zum rechtfertigenden Glauben her, verlässt aber zugleich den Horizont der irdischen, geschichtlichen Wirklichkeit (in hac vita). Kahnis bindet den Kirchenbegriff dagegen pointiert genau an diese Zwischenzeit zwischen Geistausgießung und Wiederkunft Christi, die eine solche Heraushebung der wahrhaft Gläubigen konkret nicht zulässt und die Gemeinschaft der Kirche in Vereinzelungen auflösen würde. Es gibt nur die konkrete, sichtbare Kirche in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen; sie trägt die Prädikate, die ihr von Jesus und den Aposteln beigelegt werden, nicht erst die vollkommene Gemeinde der Vollendung. „Vom Glauben, aber nicht vom Grade des Glaubens; von der Heilswirksamkeit des heiligen Geistes, aber nicht von dem Grade derselben hängt die eigentli239 che Gliedschaft der Kirche ab.“ Tatsächlich tritt die Kirche sogar nur als „die organisirte Gemeinschaft aller berufenen Christen, in welcher gläubige und un240 gläubige, würdige und unwürdige Glieder gemischt sind,“ in Erscheinung. Melanchthon meint, von einer tatsächlich existierenden Kirche sprechen zu 241 können, die nur aus wahrhaft Glaubenden und Gerechten besteht, Kahnis dage238 Zeugniß von den Grundwahrheiten, 45f. Beachtenswert der Bezug auf die Berliner Verhandlungen 1861, auf denen Kahnis ähnliche Überlegungen vortrug. 239 Dogmatik2 II (1875), 480. 240 Ebd., 480. 241 „Neque vero somniamus nos Platonicam civitatem, ut quidam impie cavillantur, sed dicimus, existere hanc ecclesiam, videlicet vere credentes ac iustos sparsos per totum orbem. Et addimus notas: puram doctrinam evangelii et sacramenta“ (Apol 7 § 20; BSLK, 238,17–23).
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gen kann einer solchen Kirche keine Lebensäußerungen und keine Handlungsfähigkeit zuschreiben und sie deshalb auch nicht als realgeschichtliche Größe anerkennen. Die Zeichen der Gnadenmittel weisen Gottes Wirken auf, identifizieren aber nicht die Glaubenden als Gemeinschaft. Beide argumentieren je für ihre Position mit den Himmelreichsgleichnissen Jesu, die aber auf die eschatologische Entscheidung abzielen und kein gemeinsames gegenwärtiges Wirken im Blick haben, jedes Saatkorn wächst für sich (Mt 13,24–30.36–43: Unkraut unter dem Weizen), die Fische erleiden ihr Gefangenwerden (Mt 13,47–50: Fischnetz), die Jungfrauen 242 schlafen (Mt 25,1–13: zehn Jungfrauen). Diese Gleichnisse tragen also nichts zur Klärung der Frage bei. Kritisch ist zu bedenken, ob die Interpretation, die Kahnis der Definition CA 7 gibt, in jeder Hinsicht stringent ist. Wenn er die una sancta in ihrer rechten Gestalt als die lutherische Konfession deutet, so liegt hier doch wohl ein Anachro243 nismus vor. Es stellt sich freilich die Frage, ob Kahnis die von ihm angestrebte größere innere Folgerichtigkeit der Ekklesiologie tatsächlich erreicht, indem er zwischen der göttlichen Grundlage und der menschlichen Organisation der Kirche unterscheidet. Wird alle geschichtliche Entwicklung nämlich auf die menschliche Seite ver244 bucht, so geht die Gesamtsicht der Kirche eben als einer geschichtlichen Erscheinung verloren. Tatsächlich ist die Kirche eine Veranstaltung des dreieinigen Gottes mit Menschen, die er erwählt und beruft. Christus schafft die Kirche durch die Gnadenmittel, indem er Menschen anspricht, einweist, zu seinem Dienst einsetzt und sie dazu befähigt, ihren Auftrag wahrzunehmen. Die geschichtlichprozessuale Seite der Kirche stellt sich als zugleich göttliches und menschliches Tun dar. Der biblische Begriff der Erwählung bringt dies angemessen zum Ausdruck. Paulus stellt sich als Berufener vor und redet seine Briefadressaten als Berufene an (Röm 1,6f; I Kor 1,1f). Der Begriff ἐκκλησία der üblicherweise mit Gemeinde wiedergegeben wird, meint die Volksversammlung, die Gott zu seiner eigenen Huldigung und als seinen Repräsentanten in der Welt aufruft. Solche Erwählten (ἐκλεκτοί) haben ihren Platz in ihrem konkreten Lebenshorizont einzunehmen und ihre Aufgabe in diesem Leben zu erfüllen; sie sind dabei nicht auf sich gestellt, sondern in ihrem Herrn Christus mit vielen anderen verbunden. Wenn in späteren Briefpräskripten im Neuen Testament auf den Glauben abgeho242 Melanchthon in Apol 7 § 17–20 (BSLK, 237,40–238,23), Kahnis in: Dogmatik III (1868), 524 (= Dogmatik2 II [1875], 473). 243 Das Passivum Divinum „docetur et administrantur“ spricht für Gott als Subjekt der Aussage, nicht auf ein unbestimmtes man, auf Gottes Tun wäre dann pure und recte bezogen und nicht auf das Wirken der Kirche apud nos; der Begriff congregatio weist auf Christus als den Hirten hin, der seine Kirche wie eine Herde versammelt (vgl. Joh 10,1–16). 244 „Wenn aber in der Kirche nur eine göttliche Grundlage wäre und nicht menschliche Organisation, so würde die Kirche keine Geschichte haben. Denn Christus, der heilige Geist, die Gnadenmittel entwickeln sich nicht“ (Dogmatik III [1868], 535). Wohl entwickeln sie „sich“ nicht, aber sie entwickeln „die Kirche“.
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ben wird, dann immer in diesem Sinne der darin begründeten Verbundenheit untereinander (Eph 1,1; Kol 1,2; I Tim 1,2; Tit 1,1). Religionsgeschichtlich entscheidend ist die Beobachtung, dass Jesus zeit seines Lebens Glied der jüdischen Gemeinschaft geblieben ist und dass sich neutestamentlich zwar der Ablösungsprozess vom alttestamentlichen Gottesvolk abzeichnet durch die Weise, wie Heiden in die Jüngergemeinde aufgenommen werden, sich die eigentlich bestimmenden kirchlichen Verfassungsformen aber erst nachneutestamentlich herausgebildet haben. Hier sind also keine neutestamentlichen Vorgaben zu erwarten, die unmittelbar wegweisend sein könnten; z.B. liegt weder eine neutestamentliche Ämterordnung noch eine neutestamentliche Gottesdienstordnung vor, die sich einfach in die Praxis umsetzen ließen. Kahnis stellt dies klar heraus: „Die apostolische Kirche war ein Netz von Gemeinden, über die Bildungsländer um das Mittelmeer geworfen, die im Worte eins waren, aber nicht im Lehrbegriff; im Leibe Christi, aber nicht in einem universalen Verfassungsbau; im Sakrament, aber nicht in den Formen des Kultus. Was sie einte, war Christus, das Haupt und der heilige Geist, der durch Wort und Sakrament Glauben erzeugte 245 und Gläubige zusammenschloß.“ Die Gemeinschaft der Christen untereinander lässt sich theologisch nicht aus der Eigenart des Glaubens ableiten, der ihnen die Heilsgemeinschaft mit Gott eröffnet hat. Diese Verbundenheit untereinander liegt dem Glauben bereits voraus. Denn Christus ruft sie in seine Gemeinschaft, in der er ihnen den Glauben schenkt und sie zugleich in besonderer Weise für sich beansprucht. Die Basis der Kirche ist der Reichsbefehl des auferstandenen Jesus Christus, mit dem er seine Herrschaft, „alle Gewalt im Himmel und auf Erden“, antritt und seine Jünger aussendet, diese seine Herrschaft zu allen Völkern hin zu proklamieren (Mt 28,16– 20). Bei Lukas ist dieser Vorgang mit der Gabe des heiligen Geistes verbunden (Lk 24,47–49; Act 1,6–8; 2,1–41); programmatisch endet seine Apostelgeschichte mit dem Hinweis, dass Paulus am Regierungssitz des Kaisers des Imperium Romanum ungehindert die Gottesherrschaft proklamiert, indem er über den Herrn (κύριος = Kaiseranrede) Jesus Messias/Christus belehrt (Act 28,31). Die Unterscheidung zwischen Reich und Kirche, wie sie Kahnis durchführt, ist deshalb 246 nicht hilfreich. Der Reichsbefehl Jesu reklamiert einen Himmel und Erde umfassenden Machtanspruch und setzt dann direkt ein konkretes geschichtliches Geschehen in Gang (Mt 28,16–20). Es geht nicht darum, bereits vorhandene Gläubige zu sammeln, sondern um einen Anspruch des Königs Jesus Christus auf alle Völker, die er in seine Jüngerschaft beruft, und um die dann folgende Wirkung dieses Anspruchs. Die Definition der Kirche erfolgte in der Reformation aus einer binnenkirchlichen Sicht heraus, galt es doch einen Konflikt zu bearbeiten, der innerhalb der 245 Die Entstehung der Kirche, 23. 246 Gängige Begriffe wie Taufbefehl oder Missionsbefehl sind einengend und bringen nicht den vollen Sinn des berichteten Vorgangs zum Ausdruck.
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christlichen Theologie aufgebrochen war. Die Außenverhältnisse der Christen248 heit zu einem andersreligiösen Umfeld waren nicht im Blick. Die innerhalb des corpus Christianorum lebenden Juden etwa waren ausgegrenzt und ohne Bürgerrecht und sahen sich einem erheblichen Verdrängungsdruck ausgesetzt. Die Definition der Kirche, wie sie Melanchthon in CA 7 und 8 vornimmt, geht aufgrund ihrer Innenschau von der bestehenden Kirche aus und kann von daher eine grundsätzliche Klärung gar nicht leisten. Die missionarische Perspektive, wie es überhaupt zu der angesprochenen Gottesdienstsituation kommt, oder auch die Frage, wie sich das Verhältnis zu anderen Religionen gestaltet, lassen sich daraus kaum ableiten. 6.4.8 Symbolische Handlung statt Freier des Gedächtnisses Der kritische Punkt des Ansatzes von Kahnis wird dort erreicht, wo es bei der Vermittlung des ewigen Heilsgutes zugleich um Vermittlung eines geschichtlichen Ereignisses geht, nämlich im Abendmahl, in dem Jesus seinen Jüngern seine Gegenwart über seinen Tod hinaus im Vollzug eines feierlichen Mahles zusagt. In Kahnis’ Darstellung wird hier deutlich, dass er bei seiner Interpretation nicht geradlinig dem Text folgt, sondern die biblische Abendmahlsparadosis mit eigenen Interpretamenten verbindet, während er die im Text selbst vorhandenen entscheidenden Hinweise zwar transportiert, aber ihre deutende Relevanz übergeht. Zunächst referiert Kahnis die Überlieferung im Wesentlichen nach Paulus (I Kor 11,23–25): „Das Abendmahl hat Jesus Christus in der Nacht vor seinem Tode eingesetzt, da er das Brot, das er unter Dankgebet gebrochen hatte, seinen Jüngern mit den Worten gab: Dieß ist mein Leib, den Kelch aber, nachdem er gedankt hatte, mit den Worten: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute, das für Viele vergossen wird [,] an die Spendung des Brotes aber und des Weines die 249 Worte knüpfte: Dieß thut zu meinem Gedächtniß“. Daran anschließend charakterisiert er die Abendmahlsfeier als eine symbolische Handlung:
247 Die Vorrede zur CA macht sich das im kaiserlichen Ausschreiben benannte Ziel zu Eigen, „wie der Zwiespalten halben in dem heiligen Glauben und der christlichen Religion gehandelt muge werden, zu ratschlagen und Fleiß anzukehren […], durch uns alle ein einige und wahre Religion anzunehmen und zu halten, und wie wir alle unter einem Christo sein und streiten, also auch alle in einer Gemeinschaft, Kirchen und Einigkeit zu leben“ (BSLK, 44,11– 45,1). 248 Die „Mahometisten“ werden z.B. unter die christlichen Irrlehrer gerechnet, nicht aber als andere Religion wahrgenommen (CA 1 § 5; BSLK 51,5). Die altgläubigen Gegner werden mit den Juden gleichgesetzt (Apol. 4 § 21, BSLK 164, 22–28; Apol. 12 § 78, BSLK, 267, 46–52; Apol. 27 § 97, BSLK 376,25–49 u.ö.), also mit anderen, die als Abweichler vom wahren Glauben eingestuft werden. 249 Dogmatik2 II (1875), 338f. – In der Auslassung des Für-euch im Brotwort und der Hinzufügung des Dankes über den Kelch und des Blutvergießens für die Vielen folgt er der Markustradition (Mk 14,22–24; Mt 26,26–28).
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Das Subjekt des Satzes: Dieß ist mein Leib, kann nach dem Zusammenhange und dem Parallelsatze: Dieser Kelch ist der neue Bund, nur das Brot sein, wie auch die alte Kirche und eine große Zahl angesehener Ausleger seit der Reformation auslegen. Ist dem also, so kann dieser Satz nur ein Tropus sein, was schon der symbolische Charakter des ganzen Mahles nahe legt, das Wort: Dieser Kelch ist der neue Bund, aber fordert. Symbolisch ist im Abendmahle erstlich das Brechen des Brotes, welches das Brechen des Leibes Christi bedeutet; zweitens das Brot, welches ein Zeichen des Leibes, der Kelch, welcher ein Zeichen des Blutes Christi ist; drittens die Spendung von Brot und Wein, welche die Zueignung des Leibes und Blutes Christi ausdrückt; viertens der Genuß von Brot und Wein, welcher die Aneignung des Leibes und Blutes Christi im Glauben versinnbildlicht. Das Abendmahl ist also wie die Taufe ein gottgeordnetes, gottgespendetes Wort, welches die Zueignung des Leibes und Blutes Christi bedeutet. Wenn nun Gott in dieser symbolischen Handlung uns bezeugt, dass er uns Leib und Blut seines Sohnes geben wolle, so erfüllt der Wahrhaftige auch was er verspricht, wie ja auch sowohl dem Brechen des Brotes eine Realität entspricht: der Tod Christi, als dem Essen und Trinken: nämlich die Aneignung im Glauben. Wie im Sakramente überhaupt, liegt auch im Abendmahle die Vermittelung zwischen Symbol und Inhalt im Worte, welches kraft des heiligen Geistes seinen Inhalt mittheilt.250
Kahnis nimmt eine symbolische Abstraktion vor. Hinter dem konkreten gottesdienstlichen Vollzug als Geschehen menschlicher Geschichte steht demnach eine eigentlich gemeinte Wirklichkeit, die sich den Menschen über die symbolische Handlung erschließt. In vierfacher Hinsicht weist Kahnis auf diese geistliche Tiefendimension hin: Das Brechen des Brotes verweist auf den Tod Christi, obwohl nach der biblischen Überlieferung dem Gekreuzigten die Beine gerade nicht gebrochen wurden (Joh 19,31–37); Brot und Kelch verweisen auf den Leib und das Blut Christi; die Spendung von Brot und Wein weist auf die Zueignung von Leib und Blut Christi, der Genuss auf deren gläubige Aneignung hin. Zudem erklärt Kahnis die Einsetzung durch Jesus Christus zu einem „gottgeordneten, gottgespendetem Wort“, obwohl die biblische Überlieferung Gott nicht als eigentlich 251 Handelnden benennt. Doch gerade in dieser im biblischen Text unausgesprochenen Verheißung Gottes liegt für Kahnis die eigentliche Gewähr für die Realität der symbolischen Handlung. Das Wort Gottes bedeutet „die Zueignung des Leibes und Blutes Christi“. Unter dieser Vorgabe gilt dann: „Wer im Glauben den Tod Christi in sich aufnimmt, empfängt mit der Sühnkraft desselben, welche dem durch den Tod hindurchgegangenen Leibe Christi einwohnt, den verklärten Leib
250 Ebd., 339. 251 Selbst in I Kor 10,14–22, wo Paulus eine „interreligiöse“ Diskussion führt, ist κύριος nicht eine Gottes-, sondern eine Christusprädikation. Joh 6,63 charakterisiert Jesus seine vorausgehenden eucharistischen Ausführungen ausdrücklich als seine eigenen Worte. Das Amen-Wort (Mk 14,25; vgl. Mt 26,29) nennt zwar als Termin „Gottes Reich“ (bzw. „das Reich meines Vaters“), richtet den Blick damit jedoch nicht auf das Trinken der Jünger (Abendmahl), sondern sein eigenes Trinken.
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Christi selbst.“ Die Vermittlung zwischen Symbol und Inhalt geschieht durch Gottes Wort, und zwar kraft des heiligen Geistes: Die Spendung „ist durch den 253 heiligen Geist vermittelt“. Der Rekurs auf den heiligen Geist ist für Kahnis von entscheidender dogmatischer Bedeutung, obwohl die biblische Abendmahlsparadosis auf ihn schon gar nicht Bezug nimmt. Kahnis hält bei dieser Deutung ausdrücklich an den für die lutherische Tradition entscheidenden Kriterien der Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi in den Elementen des Brotes und Weines und demzufolge an der manducatio indignorum fest. „Sind aber Brot und Wein die Gemeinschaft des Leibes und Blutes Christi, so wird dieser himmlische Inhalt Würdigen und Unwürdigen zu theil, nur 254 jenen zum Heil, diesen zum Gericht.“ Entscheidend aber ist, dass Kahnis Gott zum eigentlichen Geber erklärt. „Somit ist das Abendmahl wie die Taufe, mit welcher die Schrift dasselbe zusammenstellt (1 Kor. 10,1ff. 12,13. 1 Joh. 5,6–8.), eine von Gott durch Christum eingesetzte heilige Handlung, in welcher Gott uns Leib und Blut seines Sohnes giebt (Sakrament), der Mensch aber Gott seinen Glauben, das Bekenntniß des Todes Christi 255 und die Gemeinschaft des Leibes Christi darbringt (Opfer).“ Die Wendung „das Bekenntniß des Todes Christi“ verdankt sich offenbar I Kor 11,26 und die Wendung „Gemeinschaft des Leibes Christi“ I Kor 10,16, während das vorausgehende Motiv des Glaubens nicht in der neutestamentlichen Abendmahlsüberlierferung 256 verankert ist. Damit hebt Kahnis die geschichtliche Unmittelbarkeit, in der Jesus seine Gemeinschaft mit seinen Jüngern über seinen Tod hinaus zusagt, auf. Das „Gedächtnis“ (Lk 22,19; I Kor 11,24f) als Modus der Gegenwärtigkeit des Vergangenen bleibt unbeachtet. Kahnis urteilt geradezu, „daß das Moment der Erinnerung, 257 welches das Abendmahl in sich trägt, nicht wesensbestimmend sein kann“. In der biblischen Überlieferung spielt die Dimension des Gedächtnisses (rkz), in der die Großtaten Gottes in der Geschichte für kommende Zeiten präsent und wirksam bleiben, eine große Rolle. Gott gedachte an Noah, den er für gerecht erfunden hatte, wenn er die Sintflut beendete (Gen 7,1; 8,1). Gott gedenkt aufgrund der Klagen Israels an seinen Bund mit Abraham und leitet damit die Errettung seines Volkes aus Ägypten ein (Ex 2,24; 6,5). Und Gott hat Gedächtnisorte, zeiten und -personen gestiftet, die solche Hilfe erschließen (Jos 4,7; Ex 12,14; 258 20,24; 28,12; grundsätzlich Ps 111,4). Statt von ewigen Wahrheiten spricht die 252 Dogmatik2 II (1875), 340. 253 Ebd., 344. 254 Ebd., 339f. 255 Ebd., 340. 256 Er lässt sich u.U. aus den Begriffen „unwürdig“ und „sich prüfen“ (I Kor 11,27f) ableiten. 257 Die Lehre vom Abendmahle, 162. 258 Gottes eine (!) Wahrheit, die „für und für“ währt und waltet (Ps 100,5; 117,2; 119,90) ist keine abstrakte Größe, sondern zeigt sich im verlässlichen „Gedenken“ in sichtbaren Heilstaten (Ps 98,3). Das „ewige Evangelium“ (εὐαγγέλιον αἰώνιον, Apc 14,6) wird von einem Engel hoch im
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Bibel von einer „ewiger Ordnung“ (~l'A[ tQ;xu), d.h. einer Ordnung, die sich in der geschichtlichen Generationenfolge mit ihren entsprechenden Wandlungen (vgl. II Chr 30.35; Esr 6,19-22) durchhält (~k,yterodol./~t'rodol). , für die Feiern des Gedächtnisses Pesach (Ex 12,14.17) und Sabbat (Ex 31,16f) sowie für das aaronitische Priestertum als Fundamentalinstitution für die kultische Vergegenwärtigung (Ex 27,21; 28,43; 29,9; 30,21; 40,15), insbesondere für Pinhas (Num 25,10-13), und für viele einzelne Opfervorschriften (Lev 3,17; 6,6.11.15; 24,8 usw.). Der „ewige Bund“ gründet sich auf Gedenken (Jes 55,3; 61,8; Jer 32,40; 50,5; Ez 16,60; 37,26). Das Gedächtnis an Gottes Zusagen in früherer Zeit erschließt die Kraft zur Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen (Dtn 8,18). Auch Jesus erweist sich als einer, der das Gedächtnis bewahrt, das Hilfe zu bringen vermag (Lk 23,42f). Die in der Proklamation gegenwärtige Wirklichkeit des Todes Jesu, bis er kommt (I Kor 11,26), mit der Paulus die Wendung „zu meinem Gedächtnis“ interpretiert und unterstreicht, weist genau auf diesen zu erwartenden rettenden Beistand des Herrn (κύριος) hin, gerade unter voller Respektierung seines Kreuzestodes. Der Herr bringt sich in Erinnerung durch personales 259 Gegenwärtigsein. Kahnis aber versteht sie als bekennende Reaktion der Glaubenden auf die Zu260 wendung Gottes. Die Konkordienformel interpretiert – ohne freilich den biblischen Begriff Gedächtnis aufzunehmen – weit angemessener: Denn die wahrhaftigen und allmächtigen Wort Jesu Christi, welche er in der ersten Einsetzung gesprochen, sind nicht allein im ersten Abendmahl kräftig gewesen, sondern währen, gelten, wirken und sind noch kräftig, daß in allen Örten, da das Abendmahl nach Christi Einsetzung gehalten und seine Wort gebraucht worden, aus Kraft und Vermugen derselbigen Wort, die Christus im ersten Abendmahl gesprochen, der Leib und Blut Christi wahrhaftig gegenwärtig ausgeteilet und empfangen wird.261
Der Bogen wird hier von der initialen historischen Situation damals unmittelbar zu den historischen Situationen des fortwährenden kultischen Begängnisses geschlagen. Kahnis überträgt die Gegenwart Jesu gerade als des Getöteten („verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt“) auf den „durch den Tod hindurchgegangenen 262 Leib Christi“ und das meint „den verklärten Leib Christi selbst“. Und damit verkompliziert er die dogmatische Argumentation und die innere Logik des apostolischen Textes, deckt aber zugleich die Verlegenheiten auf, in die er durch seinen Zenith des Himmels verkündigt als eine universale Ansage des Gerichtes Gottes und damit des Endes der Welt, hat damit dezidiert kairologische Eigenart als augenblickliche und zugleich auf ewig entscheidende Botschaft. 259 Vgl. den Parallelismus von „Name“ und „Gedächtnis“ in der hebräischen Tradition (z.B. Jes 26,8). 260 Vgl. schon Die Lehre vom Abendmahle, 159.163. 261 FC.SD 7 (Vom heiligen Abendmahl) § 75, BSLK, 998, 21–32. 262 Dogmatik2 II (1875), 340.
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theologischen Ansatz gerät. Nur auf einem Umweg – denn die Abendmahlstexte verweisen nirgends auf Gott oder den heiligen Geist – meint er Anschluss an Christi heilsame Gegenwart gewinnen zu können. Offensichtlich ist ihm eine geschichtliche Vermittlung des Göttlichen und Menschlichen als eines in einen Zeitablauf eingebundenen Geschehens nicht denkbar. Die „Lebenstatsache“ lässt sich ihm offenbar nur je und dann vermitteln. Das zeigt sich in seiner Unterscheidung zwischen Sakrament und Opfer, die er als die beiden Seiten des Abendmahls ausmacht, nämlich als die göttliche und die menschliche Aktivität, die durch die äußere Abendmahlsfeier symbolisiert wird. Das Gedächtnis wird bei ihm zum 263 „Bekenntnis“ und auf diese Weise seinem Konzept adaptiert. 6.4.9 Das kirchliche Bekenntnis als Begründung des konfessionellen Standpunkts Indem Kahnis Individuum und Gemeinschaft in enge Beziehung zueinander setzt, bekommt das formulierte kirchliche Bekenntnis Gewicht als gemeinsamer Ausdruck der persönlichen Überzeugungen Einzelner. Wäre ein einendes Bekenntnis nicht möglich, wäre nach Kahnis’ Überzeugung Christsein in Gemeinschaft nicht möglich. Hier zeigt sich, dass Kahnis sehr wohl erkennt, dass der Ansatz bei der Erfahrung nicht ausreicht, sondern ein sprachliches Medium unverzichtbar ist. Gerade die gemeinsame Tradition ist die Basis für den Zugang zum Glauben in den kommenden Generationen. Im Geschichts- und Lebensverständnis verbindet sich der psychologische Gesichtspunkt mit dem soziologischen. Der aber erfordert Kommunikation und damit Sprache, die ein verbindendes Textrepertoire ermöglicht. Der Einzelne lebt nicht anders als in Gemeinschaft. Nur Bindung an die Gemeinschaft ermöglicht individuelle Freiheit. Im Bekenntnis der lutherischen Kirche rezipiert Kahnis die Wirkungsgeschichte des Wortes Gottes in einer fokussierten Form, die im gesamtchristlichen Rahmen eine teilkirchliche Ausprägung darstellt: „Es geht auf dem Boden des Protestantismus schlechterdings nicht ohne ein einheitliches und darum einendes 264 Bekenntniß“, weil hier andere institutionelle Normen fehlen. Ein Bekenntniß anerkennen kann nicht heißen: die geschichtliche Bedeutung desselben würdigen, welches in der That ein Bekenntniß antiquiren heißt; nicht: dasselbe der Privatüberzeugung überlassen, was dem Einzelnen selbstverständlich nicht gewehrt werden kann; auch nicht: dasselbe neben anderen von anderer Art, die zu gleichem Rechte bestehen, gelten lassen; sondern vielmehr: Ein Bekenntniß als Regel der öffentlichen Lehre (publica doctrina) einer Kirche anerkennen.265
263 Dazu verleitet die ursprüngliche Übersetzung Luthers im Imperativ „sollt ihr verkündigen“ (I Kor 11,26). 264 Christenthum und Lutherthum, X. 265 Dogmatik2 I (1874), 238 (= Dogmatik III [1868], 103).
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Die „Legitimität“ des Bekenntnisses definiert Kahnis in doppelter Weise. Denn sie ist „eine äußere, nach welcher ein Symbol die rechtliche Anerkennung seiner Kirche hat, und eine innere, nach welcher dasselbe der wahrhaft objektive Ausdruck des Glaubensbewußtseins seiner Kirche ist. Legen wir diesen Maßstab an die lutherischen Symbole, so entspricht ihnen vollständig nur die augsburgsche Konfes266 sion“. Dieser einschränkende Hinweis macht deutlich, dass auch dann die geschichtliche Einbindung der einzelnen Bekenntnisschriften zu beachten ist, wenn diesen bindende Autorität zugeschrieben wird. Die kirchengeschichtlichen Zusammenhänge der Entstehung und Funktion der einzelnen Schriften werden berücksichtigt. Vor allem aber ist ihre geschichtliche Stellung, die sich aus dem Rückbezug auf die grundlegende Offenbarungsgeschichte, die in der Bibel bezeugt wird, ergibt, zu bedenken. In dieser geschichtlichen Vernetzung liegt dann auch der alle Geschichte transzendierende Bezug auf die Wahrheit des Glaubens sowie ihr Bezug auf die Gegenwart in der aktuell erschlossenen Bedeutung der Bekenntnisaussagen. Das Ansehn jedes Bekenntnisses ist nur ein entlehntes, weil, wie die Concordienformel authentisch erklärt, die augsburgsche Konfession […] festgehalten wird, […] weil sie aus Gottes Wort entlehnt und auf dem Grunde der heiligen Schrift erbaut ist (S.D. p. 633 [BSLK 835,10–12; 835,43–45].), ebendeshalb auch nur ein bedingtes, weil es an der Schrift, der einzigen Norm und Regel aller Glaubenslehre gemessen sein will (S.D. p. 635 [BSLK 834,16–22]), und endlich ein zeitalterliches (E. p. 572 [BSLK 768,29–32]. S.D. p. 627.633 [BSLK 830,47–49; 835,18].).267
Die ursprüngliche geschichtliche Einbettung wirkt sich auf die Art ihrer normativen Geltung aus. „Das regulative Ansehn der Bekenntnisse erstreckt sich nur auf die Glaubenssubstanz derselben, nicht auf die theologische Fassung“, vielmehr auf 268 „das ewig Wahre“. „Wenn unbestreitbar ist, daß die theologische Form der reformatorischen Bekenntnisse auf exegetischen, kirchengeschichtlichen, dogmatischen Grundlagen ruht, die sich wesentlich umgestaltet haben, dann spricht die Behauptung, daß der Inhalt mit der theologischen Form stehe und falle, einen für das Ansehn der Symbole letalen Satz aus. Bis auf den Buchstaben kann kein Kon269 fessionstheologe die Symbole annehmen.“ Zugleich gilt auch: „Der Anschluß an das lutherische Bekenntniß kann und darf die theologische Entwickelung nicht beeinträchtigen. Im Wesen der Kirche ist das Recht einer kirchlichen Wissenschaft 270 begründet, der Theologie.“ Kahnis fasst dies in dem Satz zusammen: „Sonach schließt die Verpflichtung auf die symbolischen Bücher, welche eine kirchliche Nothwendigkeit ist […], die Ueberzeugung von der wesentlichen Uebereinstim266 Dogmatik2 I (1874), 237f (= Dogmatik III [1868], 103f). 267 Dogmatik2 I (1874), 238f (= Dogmatik III [1868], 104). 268 Dogmatik2 I (1874), 239 (= Dogmatik III [1868], 104f). 269 Dogmatik2 I (1874), 240 (= Dogmatik III [1868], 105). 270 Dogmatik2 I (1874), 240 (= Dogmatik III [1868], 105f).
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mung des symbolischen Glaubensinhaltes mit der Schrift ein, das Recht aber einer auf Grund erneuter Prüfung fortschreitenden Erkenntniß nicht aus,“ ohne zu 271 übersehen, dass dieser Grundsatz leicht auch missbraucht werden kann. Die Bindung an das historische Bekenntnis bedeutet keine unbedingte Festlegung auf eine gemeinschaftliche Sprachregelung und unterbindet keineswegs eine innovative Sprachentwicklung. Indem er die Bekenntnisthematik auf die Augsburger Konfession fokussiert, gerät seine Argumentation in eine innere Spannung. Denn er gründet die normative Bedeutung des Bekenntnisses damit auf eine Wendung dieser noch gar nicht konfessionell gedachten Schrift. Die Präzisierungen „pure docetur“, „recte administrantur“ und „ad veram unitatem ecclesiae“ (CA 7), die sich dort als Erweite272 rungen des ersten Entwurfs finden , heben auf einen Konsens („consentire“) nicht im partikularkirchlich-konfessionellen Bereich, sondern in einer grundlegenden Ausrichtung auf die göttlich vorgegebene Ordnung ab. Denn sie beziehen sich auf den Raum der „una sancta ecclesia“, bestimmen damit die Heiligkeit als Maßstab und definieren nicht eine konfessionelle Individualität, wie Kahnis sie im Blick hat. Und das „Evangelium“, das gelehrt wird, meint nur insofern die lutherische Verkündigung, als diese sich dezidiert an dem einen Evangelium Gottes, der Christusbotschaft, ausrichtet. Die Verortung der lutherischen Kirche im Bekenntnis, wie sie Kahnis vor273 nimmt, stellt einen Anachronismus dar, da 1530 in Augsburg noch die ungeteilte Kirche im Blick war. Hier ging es zwar um ein Festhalten an dem Evangelium in seiner tröstenden Dimension in geschichtlicher Bewährung, dies aber nicht in konfessioneller Profilierung, sondern im ökumenischen Horizont. Kahnis aber leitet daraus ein lutherisches Spezifikum ab: „Die lutherische Kirche hat von je in dem Zeugniß von der schriftgemäßen Wahrheit ihre Hauptaufgabe gefunden. Sie 274 ist Lehrkirche. Daher legt sie auf ihr Bekenntniß den größten Nachdruck.“ Phänomenologische Beschreibung und theologische Charakterisierung vermischen sich. Die aus dieser Verortung resultierende Unklarheit in Kahnis’Argumentation 275 löst beobachtbar Verwirrung aus. Kahnis sieht in dem dezidierten Hinweis auf das Evangelium einen Bezug speziell zum reformatorischen Ansatz. „Protestantismus ist die in der Reformation 271 Dogmatik2 I (1874), 242 (= Dogmatik III [1868], 108). 272 CA VII, BSLK, 61,1–14 im Vergleich zur Textfassung in Na 7, ebd., 61. 273 Prägnant definiert Kahnis dies in seiner 8. These der Leipziger Konferenz 1853: „Wir verwerfen die Union, es sei mit der reformirten, es sei mit der römischen Kirche, in welcher unser Bekenntniß nicht ist, was es nach Augsburgscher Konfession Art. VII. sein will, der Einheitspunkt der Kirchengemeinschaft“ (Berichtsband, 38f). Es fällt auf, dass Kahnis an diesem Punkt gerne thetisch formuliert, ohne zu belegen, wie die CA diese Meinung ausdrückt. 274 Dogmatik2 I (1874), 250. 275 Z.B. versteht Albrecht Ritschl (25. März 1822 in Berlin – 20. März 1889 in Göttingen) Kahnis in der Weise, dass er das Bekenntnis zum Wesen und Einheitspunkt der Kirche als solcher bestimme und leitet aus solchem Verständnis seine Kritik ab (Ueber das Verhältniß des Bekenntnisses zur Kirche, 1–3; unter Bezug auf Kahnis: Die moderne Unionsdoktrin, 9).
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Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung
gipfelnde Richtung, welche das Evangelium zum Richtmaße des Glaubens und 276 Lebens der Kirche macht.“ Das lutherische Bekenntnis sieht er demzufolge ganz im Licht des Evangeliums in seiner tröstenden, Leben eröffnenden Kraft, die auch noch im Tod Hoffnung schenkt. In diesem Sinne zentriert Kahnis das lutherische Bekenntnis auf die Rechtfertigungslehre und erklärt es zum „beherrschenden Mit277 telpunkt“ der Kirchengemeinschaft. Nicht die Menschen haben Recht, sondern Christus behält Recht. Christus regiert sein Reich. Das Evangelium ist sein eigenes Wort und der eigentliche Mittelpunkt der Kirche. Nur insofern auch das im Einvernehmen der Christen gesprochene Bekenntnis dieses Wort anklingen lässt, kann es auch für die Kirchengemeinschaft wesentlich werden. Diese Argumentationsweise vermag aber nicht wirklich die normative Bedeutung der konfessionskirchlichen Bekenntnisbindung zu begründen. Denn das Evangelium bleibt grundsätzlich der ganzen Christenheit zugeordnet. Das lutherische Bekenntnis selbst geht denn auch einen anderen Weg, wenn es selbst die Normativität dieser hervorgehobenen Schriften für die „evangelische“ – und das heißt in dieser Zeit für die lutherische – Kirchengemeinschaft bestimmt. „Was bisher von der Summ unser christlichen Lehr gesagt, wird allein dahin gemeint, daß man habe eine einhellige, gewisse, allgemeine Form der Lehre, darzu sich unsere evangelische Kirchen sämbtlich und ingemein bekennen, aus und nach welcher, weil sie aus Gottes Wort genommen, alle andere Schriften, wiefern sie zu probieren 278 und anzunehmen, geurteilt und reguliert sollen werden.“ Es geht um eine verbindlich angenommene Lehrform, in der sich mehrere Ortskirchen miteinander verbinden und die sie als kritische Instanz anwenden wollen bei der Beurteilung von Schriften, die in der Folgezeit zur gemeinsamen verbindlichen Annahme anstehen mögen. Weitergehende Folgerungen für die Ausgestaltung der gelebten Kirchengemeinschaft werden zumindest nicht genannt, wenn nicht sogar ausgeschlossen. Die konfessionell lutherische Richtung im 19. Jahrhundert sieht sich angesichts der zunehmenden Auflösung der territorialen Geschlossenheit der Konfessionskirchen, wodurch die landesherrliche Absicherung des Konfessionsstandes, wie sie seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 und dem Westfälischen Frieden 1648 gegeben war, zunehmend obsolet wird, genötigt, den Bekenntnisbegriff weiter auszubauen. Kahnis stellt fest: Das Eigenthümliche der lutherischen Konfession liegt in dem Anschluß an Luther, als den Hauptreformator, in dem Bekenntnisse zur augsburgschen Konfession, nach welcher alle lutherische Gemeinden die Kirchen augsburgschen Bekenntnisses heißen, und in einer eigenthümlichen Anwendung der protestantischen Princi-
276 Dogmatik2 I (1874), 231 (= Dogmatik III [1868], 96). 277 Die Union, 108. 278 FC.SD Vom summarischen Begriff § 10, BSLK 838,5–14.
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pien in Lehre, Verfassung und Kultus, wonach die lutherische Kirche ein abgegrenzte und doch entwickelungsfähige Individualität ist.279
Hier wird das Luthertum als eine geschichtlich markierte Sonderform des Christentums beschrieben und ihm zugleich eine Individualität zugeschrieben, die es von anderen Richtungen abgrenzt. „In Gottes Hause sind nicht bloß im Himmel, sondern auch auf Erden viele Wohnungen, in denen Eigenthümlichkeit Hausrecht 280 hat.“ Das Bekenntnis gewinnt hier die Funktion, die unverwechselbare Eigen281 ständigkeit zu beschreiben und sie theologisch zu begründen. Diese Position verlangt eine sorgfältige Begründung. Aber sie fehlt bei Kahnis. Obwohl er grundsätzlich eine Überprüfung der einzelnen Aussagen des Bekenntnisses an der Heiligen Schrift fordert, unterlässt er eine solche Überprüfung bei dem Phänomen des Bekenntnisses als solchem und seiner begrifflichen Klärung. Das Evangelium, in dem es begründet wird, liegt sowohl dem neutestamentlichen Kanon als auch den Bekenntnissen voraus. Als kirchliche Erkennungszeichen (σύμβολον/Symbol, regula fidei, confessio) sind diese ebenso wie der Kanon und das kirchliche Amt eine nachbiblische Erscheinung der sich formierenden Kirche. 282 Sie haben keine direkte Entsprechung in der biblischen Tradition. Deshalb stellt sich die Frage unausweichlich, welche spezifische Funktion die Bekenntnisse als Ausdrucksgestalt bestimmter organisierter kirchlicher Gemeinschaften gerade unter Beachtung der Vorgaben der biblischen Tradition haben. Friedrich Wilhelm Kantzenbach hat auf die Problematik des nicht durchgeklärten Bekenntnisbegriffs bei Kahnis hingewiesen. Allerdings kann seine Analyse der Kahnis’schen Vorstellung von einer Bekenntniskirche nicht überzeugen. Er schreibt: Dadurch, daß Kahnis das Bekenntnis der Kirche grundsätzlich der Schrift und theologischen Überprüfung unterstellte, trug er ohne Zweifel zum Abbau des Bekenntnispositivismus bei. Der Zusammenbruch der Inspirationsvorstellung, mit dem er sich positiv auseinandersetzen wollte, ermöglichte ihm die freiere Haltung dem Bekenntnis gegenüber. Der Kirchenmann im Dogmatiker sonderte die Confessio Augustana dann allerdings aus dem Corpus der Bekenntnisschrift aus theologischen und historischen Gründen aus. Die C. A. spielt für Kahnis eine sehr wesentliche Rolle. Die Kirche muß ein Grundbekenntnis haben, um überhaupt existieren zu können.283
279 Dogmatik2 II (1875), 483 (= Dogmatik III [1868], 537). 280 Dogmatik2 II (1875), 484 (= Dogmatik III [1868], 538). 281 Vgl. Reese: Bekenntnisbildung und Bekenntnisbindung, 31. 282 Die spätere Entwicklung deutet sich allerdings an, wenn von Bekenntnis (ὁμολογία) im pass. Sinn die Rede ist (Hebr 3,1; 4,14; 10,23; I Tim 6,12; vgl. Act 23,8). Dieses Bekenntnis aber besteht nicht in Lehrsätzen, sondern im persönlichen Bekenntnis zu Jesus als den Christus und Gottessohn (Mt 10,32; Lk 12,8; Joh 9,22; 12,42; Röm 10,9; Hebr 3,1; 4,14; I Joh 2,23; 4,2f.15). 283 Kantzenbach: Gestalten und Typen des Neuluthertums (1968), 189.
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Bei dieser Beschreibung wird übersehen, dass Kahnis ebenso wie zum Abbau des Bekenntnispositivismus auch zum Abbau des Schriftpositivismus beiträgt. Eine freiere Haltung nimmt er in gleicher Weise wie zum Bekenntnis auch zur Schrift ein und setzt wie im Ganzen des Bekenntnisses mit der Heraushebung der CA auch im Ganzen der Schrift deutliche Akzente in der Wertung der Bedeutung einzelner Schriften. Die normative Überordnung der Schrift entzieht diese ja nicht der historischen Betrachtung und der theologischen Kritik. Kantzenbach favorisiert seinerseits eine Konzentration auf das Schriftzeugnis: Sollte die Besinnung auf das Wesen des Bekenntnisses in wirklich fruchtbarer Weise weitergeführt werden, mußte es vordinglich zu einer Konzentration auf das Schriftzeugnis kommen. Dieser Aufgabe unterzog sich der Biblizismus. […] Die Konzentration auf die Schrift machte einer auf den Schultern der ‚Biblizisten’ stehenden Generation nach dem 1. Weltkrieg auch das Bekenntnis der Kirche wieder zum Gegenstand echten theologischen Interesses, weil man im Bekenntnis die gehorsame Schriftauslegung der Väter erkannte.284
Es ist aber sehr die Frage, ob ein solches Verfahren den gedachten theologischen Gewinn erbringen kann. Schrift und Bekenntnis sind ja beide im Horizont der Geschichte zu betrachten, und nach beider Autorität ist zu fragen. Die Alternative zwischen Konfessionalismus und Biblizismus, die Kantzenbach aus der Darstellung der Kahnis’schen Position ableitet, ist abwegig, da das Problem der Verbindung von bleibender Verbindlichkeit und geschichtlicher Betrachtungsweise sich für beide Größen, Bibel und Bekenntnis, stellt. Und wenn eine solche Parallelität der Problematik gegeben ist, dann spricht grundsätzlich nichts gegen eine herausgehobene Bedeutung auch des kirchlichen Bekenntnisses neben der Schrift. Die Problematik liegt tiefer, und das hat gerade Kahnis durchaus erkannt, indem er auf die Prozessualität der Geschichte hingewiesen hat, die jede Rezeption normativer Traditionen mit kritischer Prüfung und erneutem Bemühen um ihre Interpretation verbindet. Allerdings hat er die damit angesprochene soziologische Dimension nicht näher analysiert. Wie lässt sich in den gegenwärtigen Entscheidungssituationen eine gemeinschaftliche Verständigung über die konkrete Umsetzung der Normativität von Schrift und Bekenntnis erreichen? Kritische Beobachter haben dem Neuluthertum des 19. Jahrhunderts insgesamt ins Stammbuch geschrieben, dass schon seine Heraushebung des Bekenntnisses in ekklesiologisch fundamentaler Bedeutung ein der Reformationszeit selbst fremder Topos sei und seine Vertreter trotz aller Berufung auf das Bekenntnis tatsächlich weder im theologischen Diskurs noch bei der kirchlichen Neuformierung angesichts des gesellschaftlichen Wandels zu gemeinschaftlichen Positionen gefunden hätten. Während man sich im landeskirchlichen Bereich gegen die Ausbildung synodaler Strukturen sehr widerständig verhielt, weil man der Masse des Kirchenvolks keine wahrhaft konfessionellen Entscheidungen zutraute, und deshalb letzt284 Ebd., 189.
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lich ins Hintertreffen geriet, konnte man im freikirchlich organisierten Bereich ohne synodale Organisation gar nicht überleben, hatte aber die allergrößten Schwierigkeiten, die Tendenz zu immer neuen Aufspaltungen zu bewältigen, weil die Verständigung darüber, wie das als verpflichtend angesehene Bekenntnis nun auf die einzelnen Fragen des kirchlichen und christlichen Lebens anzuwenden sei, nicht hinreichend gelang. Und dies gilt ebenso wie für die Bekenntnishermeneutik auch für die Schrifthermeneutik. Was Schrift und Bekenntnis in Fragen, die heute zur Entscheidung stehen, sagen, bleibt umstritten. Kahnis hat auf die Rolle, die er den kirchlichen Bekenntnissen in diesem Geschehen zuschreibt, zwar hingewiesen, sie aber offensichtlich nicht zureichend geklärt. Schon der Wortgebrauch ist bei ihm auffallend unscharf. Das zeigt instruktiv sein Umgang mit dem von ihm immer wieder mottoartig verwendeten Bekenntnis des Paulus vor Felix (Act 24,14[–16]), das er sich selbst zu Eigen macht: „Ich hoffe[,] was ich vor zwanzig Jahren öffentlich bekannt habe[,] bis zum letzten Hauche meines Lebens zu bekennen, nämlich dem Gotte meiner Väter auf diesem Wege, den sie eine Sekte heißen, also zu dienen, daß ich Allem glaube[,] was geschrieben stehet im Gesetz und in den Propheten (AG. 24, 14.). Aber ich vermag 285 diesen Weg nur unter stetem Prüfen, Suchen, Kämpfen zu gehen.“ Dieses Bekenntnis (ὁμολογῶ δὲ τοῦτο) wählt er als Predigttext sowohl vor der Generalsynode der „Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen“ 1852, um das Bekenntnis als Mittelpunkt dezidiert kirchlichen Lebens und der Kirchengemeinschaft darzu286 stellen, als auch 1868 vor dem „Gustav-Adolf-Verein“, um dessen alle Protestanten unterhalb der Schwelle eigentlicher Kirchengemeinschaft verbindendes Be287 kenntnis zu entfalten, als auch vor dem Stuttgarter Kirchentag 1869, um die 288 Individualität der lutherischen Kirche zu reklamieren. Unbeachtet bleibt dabei, dass das Bekenntnis des Paulus sich auf einen Gottesdienst bezieht, der sich an der Heiligen Schrift Israels und der Auferstehungshoffnung in ihrer christlichen Pointierung (ὁδὸς ἣν λέγουσιν αἵρεσιν) ausrichtet, hier also weder das Neue Testament noch ein kirchliches Symbol neben der Schrift im Blick ist. Biblisch liegt ja viel näher, auf die Gegenwart Jesu Christi zu verweisen, weil er alle Tage bei seiner Jüngergemeinde sein will (Mt 18,20; 28,20), um sie als ihr Herr durch sein Wort und seinen Geist zu leiten (Joh 14,26; 15,7.10; 16,13f). Gera285 Dogmatik I (1861), VIII. – Der Gedanken des Prüfens anhand der Schrift verdankt sich ebenfalls dem Zusammenhang der lukanischen Paulusdarstellung (Act 17,11; vgl den Bezug auf diese Stelle bei Kahnis: Zeugniß von den Grundwahrheiten, 133f). Vgl. die Aufnahme dieses persönlichen Bekenntnisses durch Hölscher in seiner Traueransprache (Worte der Erinnerung und des Trostes [1888], 19). Der angegebene Zeitraum von zwanzig Jahren führt zurück auf seine noch nicht lutherisch festgelegte Haltung, möglicherweise denkt er an seine Ernennung zum Lizenziaten 1842 in Berlin. 286 Abendbetrachtung (1852). 287 Jahresfest des Leipziger Gustav-Adolf-Vereins 1868 in Zwickau (Predigten. Zweite Sammlung, 177–188). 288 Die Verhandlungen des fünfzehnten deutschen evangelischen Kirchentages (1869), 38.
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Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung
de Luthers Definition der Kirche als „die Schäflin, die ihres Hirten Stimme hö289 ren“ , nimmt direkt eine biblische Formulierung auf (Joh 10,3f) und ermöglicht über die Begriffe vox (φωνή,) und nomen (ὄνομα) einen direkten Zugang zur her290 meneutischen Frage. Der aktuelle Ruf wird erkannt, weil die Stimme vertraut klingt. Heutiges Anreden wird aufgrund früheren Begegnens (Namen) identifizierbar, heutiges Verstehen aufgrund früheren Hörens (Stimme) möglich, und so 291 eröffnet heutiges Hören neue Wege unter der Führung des einen Herrn. Welche Rolle ein verbindlicher Bekenntnistext bei der immer neuen Artikulation der Botschaft des Evangeliums spielt, lässt sich in diesem sprachlichen Rahmen verdeutli292 chen, ohne dass man auf die problematische Unterscheidung zwischen dem ewig Wahren, einer sich entfaltenden Glaubenssubstanz und einem individuellen theologischen Streben oder auf eine problematische Überhöhung der Konfessionskirche als spezifische „Individualität“ zurückgreifen müsste.
6.5 Die Bedeutung des Lösungsvorschlags Kahnis hat im theologischen Disput seiner Zeit nicht innovativ gewirkt. Von ihm selbst sind keine neuartigen Impulse ausgegangen. Vielmehr ist er auf Entwicklungen, die er erlebte, eingegangen und hat sie theologisch zu verarbeiten gesucht, um so zu einer Integration verschiedenartiger Erkenntnisse und zu einer stimmigen Rezeption zu gelangen. Die Ergebnisse der historisch-kritischen Schriftauslegung hat er, soweit sie ihm wissenschaftlich unabweisbar erschienen, auch dogmatisch zu bewältigen wollen. Die kirchliche Denkweise, welche die erwecklich-persönliche Glaubenssicht erweiterte, hat er sich mit der Zeit angeeignet und dann in seinem eigenen Leben wie im kirchenpolitschen Ringen konsequent zur Geltung gebracht. Einem immer stärker werdenden Säkularismus suchte er zu begegnen, indem er bei allen Menschen eine religiöse Seite als Grundgegebenheit zu plausibilisieren versuchte. Dem neuen Bewusstwerden der Geschichte hat er sich geöffnet, ohne einer Beliebigkeit das Wort zu reden, vielmehr in dem Bestreben, in allen geschichtlichen Veränderungen gleichwohl eine Wahrheit aufzuspüren. Seine Leistung besteht demzufolge, modern gesprochen, in seinem Bemühen um Vernetzung aufgenommener Anregungen. Der Kahnis’sche Ansatz hat seine Bedeutung zunächst darin, dass er die hermeneutische Frage radikaler stellt als andere lutherische Theologen seiner Zeit. 289 ASm III,12; BSLK, 459,22. 290 Vgl. Stolle: Gottes Name und Gottes Wort, 33–68. 291 Vgl. Stolle: Persönliches Zeugnis und schriftliche Tradition; ders.: Jesus Christus, der göttliche Exeget (Joh 1,18). 292 In einer Predigt über Joh 10,12,16 am Sonntag Invokavit, 18. 2. 1877 (Predigten. Dritte Sammlung, 66–74), nutzt Kahnis die Sprachlichkeit des Geschehens (vgl. V. 14.16) nicht, sondern spricht von einer „persönlichen Gemeinschaft“, die er als „Bund der Seele mit Christo für Zeit und Ewigkeit“ und als „Geistesgemeinschaft“ charakterisiert (ebd., 73f).
Die Bedeutung des Lösungsvorschlags
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Bei der historischen Arbeit stellt sich der Theologin und dem Theologen nicht nur die Aufgabe, die Dokumente der Geschichte historisch einzuordnen, sondern auch ihre geschichtliche Relevanz aufzuweisen. Aufgrund der Kontingenz der Geschichte, der Veränderungen der Lebensverhältnisse unter den sich wandelnden technischen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen und den Auswirkungen auf das menschliche Selbstverständnis ist nicht von der Voraussetzung einer geradlinigen Entwicklung auszugehen, sondern die alle bisherige Rezeption modifizierende Rezeption früherer Geschichte in der Gegenwart mit zu berücksichtigen. Im Unterschied zu der Erlanger Theologie, mit der ihn so viel verband, betrachtete Kahnis die Geschichte unter einem kritischen Blick. Er ließ nicht nur die Möglichkeit zu, dass die lutherischen Bekenntnisschriften noch keinen Abschluss der dogmatischen Erkenntnis markieren, sondern für zukünftige Erkenntnisse offen bleiben, sondern er wies auch auf tatsächliche Fortentwicklungen in kritischer Auseinandersetzung mit ihnen hin. „Die grundsätzliche Möglichkeit, das lutherische Bekenntnis fortzuentwickeln, schränkte die Erlanger Theologie faktisch 293 erheblich ein“ , während Kahnis solche Zurückhaltung fahren ließ und keinen harmonistischen Kurs auf dem Gleis angeblicher organischer Kontinuität verfolgte. Ja, Kahnis ging sogar noch einen Schritt weiter und ließ sogar bei der Auslegung der heiligen Schrift historisch-kritische Fragestellungen zu und rezipierte Ergebnisse der liberalen Forschung, wenn sie ihm überzeugend und unausweichlich erschienen. Werner Elert nahm bei seiner Bestimmung von Dogmengeschichte 1950 noch 294 einmal den Ansatz von Gottfried Thomasius auf – bezeichnenderweise nicht den von Kahnis. Im lutherischen Konsensusbegriff, der für das Verständnis des kirchlichen Bekenntnisses grundlegend ist, sah Elert „das Wissen um die ge295 schichtliche Kontinuität der Kirche“ enthalten. Wenn auch keine „zeitlose oder überzeitliche Permanenz“ anzunehmen sei, so doch „ein kontinuierliches Fortschreiten in der Zeit von einem geschichtlichen Anfang zu einem noch unbekann296 ten geschichtlichen Endpunkt“ . Er glaubte „an die dialektische Folgerichtigkeit, weil und soweit wir im dogmengeschichtlichen Geschehen die kontinuierliche Abhängigkeit vom dem Worte Gottes erkennen, das wir nicht aus uns selbst wis297 sen, sondern das uns gesagt ist“. Er gestand zu, dass dies „freilich ein reiner Glaubenssatz“ sei, „der gegen den Augenschein aller Irrungen und Spaltungen 298 geglaubt werden muß“ , und postulierte, dass der dogmengeschichtliche Prozess 299 nur einer sein könne, „weil die Kirche nur eine ist“. Mit diesem Glaubenssatz 293 Hein: Lutherisches Bekenntnis und Erlanger Theologie (1984), 176. 294 Elert: Die Kirche und ihre Dogmengeschichte (1950), 20f (= Elert: Der Ausgang der altkirchlichen Christologie, 333). 295 Die Kirche und ihre Dogmengeschichte, 19f (=Ausgang, 330). 296 Die Kirche und ihre Dogmengeschichte, 20 (= Ausgang, 330). 297 Die Kirche und ihre Dogmengeschichte, 21 (= Ausgang, 331). 298 Die Kirche und ihre Dogmengeschichte, 22 (= Ausgang, 333). 299 Die Kirche und ihre Dogmengeschichte, 22 (= Ausgang, 333).
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Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung
übersprang er die geschichtliche Realität, die weder das Wort Gottes noch die Einheit der Kirche als fassbare Größen kennt, es sei denn, man hebt die Bibel aus der geschichtlichen Entwicklung heraus und bestimmt die Einheit der Kirche aus einer bestimmten institutionellen oder konfessionellen Perspektive heraus. Kahnis 300 wies bereits auf diese Spannung hin. Kahnis dagegen versucht, die drei historisch fassbaren Größen der eigenen christlichen Gewissheit, des Kirchenglaubens und der heiligen Schrift in ihrem Zusammenklang wahrzunehmen, hinter der Lebenswirklichkeit der Gemeinde, dem Zeugnis von der Offenbarungsgeschichte in der Schrift und dem eigenen Selbstbewusstsein die Wirklichkeit des Geistes Gottes zu erkennen. Auch dies ist ein Glaubenssatz. Damit lässt Kahnis den rationalistischen Wahrheitsbegriff, der absolute, zeitlos gültige Wahrheiten annimmt bis hin zu unveränderlichen Naturgesetzen, hinter sich und entwickelt einen geschichtlich-personalen Wahrheitsbegriff. Wahrheit erschließt sich in Kommunikation und sozialer Interaktion, sie wird zur Sprache gebracht. Und das gilt auch in der Hinordnung des Menschen auf ein göttliches Gegenüber mit der Sehnsucht, seine Gemeinschaft zu erfahren. Das kann aber nicht gelingen, wenn man nicht bereit ist, sich auch radikal infrage stellen zu lassen. Kahnis verbindet die historisch-genetische Betrachtung mit einer Offenheit für kritische Anfragen. Und damit ist eine breite Dialogfähigkeit erreicht, die anders abgeschnitten wäre. Kahnis sucht ausdrücklich den Anschluss an das Gespräch einer längst nicht mehr rein christlich bestimmten Gesellschaft und ordnet seinen Versuch ausdrücklich dem Bereich der Apologetik zu. „Wir stehen in einem Zeitalter, welches einen besonderen Beruf zur Vertheidigung des Christenthums hat. Wie aber der ein schlechter Kommandant ist, welcher bei Vertheidigung seiner Festung seine ganze Kraft auf Punkte concentrirt, die nicht zu halten sind, so ist der Theologe, welcher den Beweis des Christenthums in Punkte setzt, die jeden 301 Augenblick fallen können, kein Apologet von Beruf.“ Der Kahnis’sche Ansatz hat seine Bedeutung dann aber auch darin, dass er deutlich gegen einen Traditionsabbruch eintritt und sich um die Wahrung eines intensiven Zusammenhalts mit den in der Vergangenheit errungenen und in der Überlieferung aufbewahrten Maßstäben und Entscheidungen einsetzt. Sein leidenschaftlicher Widerstand gegen die Union erwächst aus einer kritischen Analyse gegenwärtiger Entwicklung mithilfe einer Rückbesinnung auf Prozesse in der Vergangenheit. Freilich versucht er die Gegenwartsbedeutung historischer Vorgänge auf eine Weise zu begründen, die der geschichtlichen Dimension nicht wirklich gerecht wird. Denn der bei Kahnis zentrale Begriff der Lebenstatsache zeigt zwar an, dass er den christlichen Glauben und die christliche Kirche von Gottes Offenbarung her als geschichtliche Größen zu würdigen versucht. Als Hintergrund seines Den300 Einheit der Kirche und geschichtliche Aufspaltungen: Dogmatik2 II (1875), 443f 301 Dogmatik III (1868),VII.
Die Bedeutung des Lösungsvorschlags
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kens wird aber noch ein philosophischer Glaubens- und Wahrheitsbegriff deutlich sichtbar, der auf eine absolute Idee ausgerichtet ist und seiner geschichtlichen Konzeption eigentlich zuwider ist. Diesen Hintergrund der idealistischen Philosophie seiner Zeit löscht Kahnis nicht konsequent aus, obwohl sein theologischer Wahrheitsbegriff und sein theologischer Glaubensbegriff sich tatsächlich durchaus so darbieten, dass die geschichtliche und die offenbarungsgeschichtliche Dimension darin maßgeblich berücksichtigt werden sollen. Statt von der Erfahrung unmittelbar auf eine Lebenstatsache zu schließen, sollte wohl besser die Sprachlichkeit als Dimension der Wirklichkeit aufmerksamere Berücksichtigung finden. Erfahrung besagt ja etwas über die wahrgenommene, erlebte Wirklichkeit. Auch Gottes Offenbarung hat sprachlichen Charakter und wird über das Medium der Sprache in ihrem umfassendsten Sinn vermittelt. Jesus Christus begegnete als fleischgewordener Logos und wurde in geschichtlicher Erfahrung („wir sahen“) so wahrgenommen (Joh 1,14), dass dieses Glaubenszeugnis sprachlich kommunizierbar ist mit der Wirkung, neue Wirklichkeit zu erschließen (Joh 1,16f; 21,24f; vgl. I Joh 1,1–4). Auf jeden Fall ist die Weichenstellung, die Kahnis vorgenommen hat, für das gegenwärtige konfessionelle Luthertum unhintergehbar. Ein verbindliches Festhalten an der normativen Bedeutung von Schrift und Bekenntnis kann nur gelingen, wenn die Begrenztheit der eigenen geschichtlichen Existenz, nicht Vollhörer der Heiligen Schrift zu sein und im kodifizierten Bekenntnis keine alles erschöpfende, zeitlose Wahrheit zu haben, bewusst bleibt und zugleich das Fortschreiten in der geschichtlichen Entwicklung offen angenommen wird. Die Verpflichtung auf die Bekenntnisse früherer Generationen befördert dann die Fähigkeit zu aktuellem Bekennen im Kontext der eigenen geschichtlichen Herausforderungen in selbst übernommener geistlicher Verantwortung. Überliefertes lässt sich zudem nur rezipieren, indem es, ob beabsichtigt oder nicht, in ein Gespräch hineingezogen wird mit den Selbstverständlichkeiten und Überzeugungen einer neuen Zeit, mit ihren Fragen, Ängsten und Hoffnungen. Die alten Aussagen dienen, wenn sie erinnert werden, der Sinnstiftung in einem veränderten Verstehenshorizont und gewinnen damit neue Bedeutung, die mit ihrer ursprünglichen nicht identisch sein muss. Aber auch umgekehrt gilt, dass gegenwärtige Identitätsfindung nicht möglich ist ohne den Rückgriff auf Vergangenes, das in der Tradition weiterwirkt und im Erinnern neue Aktualität gewinnt. Geschichte reduziert sich nicht auf den existentialistischen Augenblick der Geschichtlichkeit, sondern schöpft zugleich aus den Möglichkeiten, die aus der Vergangenheit heraus wirksam sind. Gerade aus der kritischen Wahrnehmung des Überlieferten erwachsen Kräfte, Zukunft verantwortlich zu gestalten. Allerdings fordert das Problem der Sprachlichkeit differenziertere Beachtung, als Kahnis sie ihm schenkt. Auch der Sinngehalt der Begrifflichkeit verändert sich mit der Zeit. Aussagen, die in einem bestimmten geistesgeschichtlichen und kulturellen Rahmen in sich schlüssig sind, müssen dies nicht bleiben, wenn sich das
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Persönliche Wirkung und theologische Bedeutung
Referenzgefüge der verwendeten Begriffe durch Übertragung in einen andern zeitlichen oder kulturellen Kontext ändert. Kahnis hat auf diesen Vorgang reagiert, ohne ihn zureichend kritisch zu analysieren. Daran kranken dann seine Vorschläge zur Fortbildung der lutherischen Theologie. Das zeigt sich an seinem Umgang mit der Sinnverschiebung z.B. im Person-, Kirchen-, Kanon- und Inspirationsbegriff oder im ganzheitlichen Menschenverständnis. Er verbindet mit den traditionellen Begriffen Bedeutungserstreckungen, die er durchaus als neu erkennt, versucht sie aber unmittelbar mit den herkömmlichen Formulierungen zu verbinden. Da er die Konsequenzen, die diese begriffsgeschichtlichen Modifikationen mit sich bringen, nicht genügend erhebt, kompromittiert er seine eigenen Lösungsvorschläge. Das Thema aber bleibt auf der Tagesordnung. Kahnis hat nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass Festhalten mit Fortschreiten verbunden ist, dass folglich eine konservative Theologie sich zugleich als prozessuale Theologie verstehen sollte. Denn Gott geht mit seinen Menschen einen Weg durch die Zeit. Mit seinem Ansatz erweist sich Kahnis als ausgesprochen biblischer und zugleich lutherischer Theologe. Als biblischer Theologe; denn die biblische Überlieferung ist darauf angelegt, dem Vergessen zu wehren. Israel soll ständig im Gedächtnis behalten, was Gott in früheren Zeiten getan hat, darüber nachsinnen, was sein Gebot für jede neue Generation ausmacht, und zum immer wiederholten Male Zuflucht bei dem alten Gott zu suchen (z.B. Dtn 6). In aufmerksamer Rekapitulation, die an der schriftlich kodifizierten Form ihren Anhalt hat, gilt es, eine nicht abzuschließende Diskussion darüber zu führen und damit Zukunft zu wagen. Auch die neutestamentliche Gemeinde lebt aus der Erinnerung, die im heiligen Geist lebendig wird, bleibt als wanderndes Gottesvolk in den Lauf der Geschichte eingebunden, indem sie gerade im Festhalten der Tradition in festen Formen die Kraft zum Fortschreiten gewinnt in gegenwärtiger Gottesgewissheit. In solcher Erinnerungskultur besteht eine tiefe Verbindung zwischen Juden302 tum und Christentum. „Jeder einzelne ist das Ergebnis einer Geschichte, deren Wurzeln bis in das Gedächtnis Gottes reichen. Wer diese Vergangenheit auch nur teilweise ablehnt, verurteilt sich selbst dazu, draußen zu bleiben“, schreibt Elie 303 Wiesel. Man wird als weiteren Satz hinzufügen können: Die Zukunft jedes einzelnen hängt am Gedächtnis Gottes; wer sie anderswo sucht, hat keine. Denn das gute Gedächtnis Gottes umgreift alle Wirklichkeit und ermöglicht deshalb auch eine abschließende personhafte Identität: „bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mann, zum vollen Maß der Fülle Christi“ (Eph 4,13).
302 So folgt dem biblischen Kanon der Talmud, der die Diskussionen der späteren Generationen festhält, die sich wie Jahresringe um den Kern herumlegen und für weitere Ergänzungen offen bleiben. 303 Wiesel: Die Wahrheit des Talmud (1992), 31
Die Bedeutung des Lösungsvorschlags
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Und Kahnis reiht sich auch ein in die Tradition lutherischer Theologie; denn lutherische Theologie hat mit besonderem Nachdruck betont, dass Göttliches und Menschliches, Ewiges und Zeitliches nur in den beiden Naturen Christi vollkommen rein verbunden sind und sich nur in ihm ein vollendetes Leben in der Gemeinschaft mit Gott erschließt. Gerade die lutherische Theologie hat sich darum gemüht, die menschliche Natur in Christus auch durch Tod, Auferweckung und Erhöhung hindurch dogmatisch zur Darstellung zu bringen. Unter der neuen geschichtlichen Fragestellung gewinnt das alte, bisher ontologisch verhandelte Thema neue Aktualität. Wenn Gott in Christus Mensch geworden ist, ist er in ihm in die Geschichte eingetreten. Christus bleibt auch an geschichtliche Vermittlung gebunden, wenn er in Zeugnis und Leben seiner Gemeinde gegenwärtig wirksam ist. Die Modi der Erinnerung und des Gedächtnisses gehören unverzichtbar zu ihm und lassen sich nicht im Augenblick überspringen, der nach Schleiermacher die Religion und damit Unsterblichkeit erschließt. Nach 304 lutherischem Verständnis ist „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ nicht durch den Augenblick vermittelt, sondern im Endlichen des Gottmenschen Jesus Christus. Jesus Christus erschließt sich als Herr der Seinen und der Welt im Gedächtnis, das er gestiftet hat und das seine Herrschaft proklamiert, die sich künf305 tig vollendet (I Kor 11,23–25), bzw. im Evangelium, das Geschehenes so überliefert, dass es gegenwärtig Bedeutung gewinnt, weil es Gottes endzeitliche Tat 306 bezeugt (I Kor 15,1–11).
304 Schleiermacher: Über die Religion, Urausgabe 1799, 53 (KGA 2 [1984], 212,31f). 305 Im Horizont historischer Überlieferung (Ἐγὼ γὰρ παρέλαβον ἀπὸ τοῦ κυρίου, ὃ καὶ παρέδωκα ὑμῖν), die auf ein bestimmtes Datum zurückgeht (ἐν τῇ νυκτὶ ᾗ παρεδίδετο), interpretiert Paulus das Gedächtnis (εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν) als einen Akt gegenwärtigen Vollzugs (ὁσάκις γὰρ ἐὰν ἐσθίητε τὸν ἄρτον τοῦτον καὶ τὸ ποτήριον πίνητε), in dem Vergangenes (τὸν θάνατον τοῦ κυρίου) als wirksam proklamiert wird (καταγγέλλετε) auf zukünftige Erfüllung hin (ἄχρις οὗ ἔλθῃ). Und die alle Zeiten übergreifende Macht ist der Herr Jesus (ὁ κύριος Ἰησοῦς). 306 Historische Überlieferung (παρέδωκα γὰρ ὑμῖν ἐν πρώτοις ὃ καὶ παρέλαβον), die bestimmte Daten benennt (ὃτι Χριστὸς ἀπέθανεν ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν κατὰ τὰϛ γραφάϛ καὶ ὃτι ἐτάφη καὶ ὃτι ἐγήγερται τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ κατὰ τὰϛ γραφάϛ καὶ ὃτι ὤφθη Κηφᾷ εἶτα τοῖς δώδεκα κτλ.), proklamiert Paulus als Evangelium (τὸ εὐαγγέλιον ὃ εὐηγγελισάμην ὑμῖν), in dem Gottes Gnade (χάριτι δὲ θεοῦ εἰμι ὃ εἰμι, καὶ ἡ χάρις αὐτοῦ ἡ εἰς ἐμὲ οὐ κενὴ ἐγενήθη) den neuen Horizont eines Glaubens (οὕτως ἐπιστεύσατε) eröffnet, der die Todesgrenze und damit alle geschichtliche Wirklichkeit durchbricht (ἐν ᾧ καὶ ἑστήκατε, δι᾿ οὗ καὶ σῴζεσθε).
Zeittafel 22. Dezember 1814 1835–1840 1841 6. August 1842 15. Mai 1844 27. September 1845 23. November 1848
25. März 1849
4. Oktober 1850 27. Februar 1851 1851–1857 1853–1857 1855 1855f, 1857f, 1865f, 1868f, 1875f, 1883f 1856 1856 1860 1864/65 1866–1875 1867 1883 seit 1885 20. Juni 1888
Karl Friedrich August Kahnis in Greiz geboren Studium der Philologie und Theologie in Halle Wechsel nach Berlin Habilitation für die historische Theologie Ernennung zum außerordentlichen Professor in Breslau Eheschließung mit Elisabeth von Schenckendorff (1821–1899) Kolloquium zur Aufnahme in den Ev.-Luth. Kirche in Preußen. Kahnis schießt sich darauf zusammen mit seiner Frau der lutherischen Gemeinde in Breslau an. Berufung zum zweiten Pastor der dortigen lutherischen Gemeinde; der Kultusminister versagt am 29. September 1849 jedoch die Genehmigung des Antrags, den Kahnis’ am 20. April auf Kombination seiner Professorenstelle mit einer Predigerstelle gestellt hatte. Berufung nach Leipzig als Professor für Dogmatik und Kirchengeschichte D. theol. von Erlangen erhalten Mitglied des Leipziger Missionskollegiums Redaktion des Sächsischen Kirchen- und Schulblattes Eine Berufung von Johann Christian Konrad Hofmann (Erlangen) als Nachfolger von Liebner nach Leipzig scheitert Dekan der Theologischen Fakultät Kahnis nimmt eine Berufung nach Erlangen nicht an Christoph Ernst Luthardt (Marburg) kommt nach Leipzig. Domherr von Meißen Rektor der Universität Herausgeber der Zeitschrift für die historische Theologie Franz Delitzsch (Erlangen) kommt nach Leipzig Dr. phil. h. c. Leipzig lebt ganz zurückgezogen aufgrund Gehirnleiden Karl Friedrich August Kahnis verstorben
Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Archivalien Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin: GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 8 Bd. 12, Bl. 211. Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 10 Bd. 9, Bl. 100–103.106–107. Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 32 Bd. 1 (ohne Paginierung) 1847: Nr. 30369 (Gutachten Nitzsch); 1848: Nr. 913 (Gutachten Dorner); 1849: Nr. 9082 (Kahnis: Bitte um Genehmigung einer bezahlten Nebentätigkeit als zweiter Prediger an der St. Katharinenkirche in Breslau vom 20. April 1849); Nr. 14162 (Evangelisch-theologische Fakultät Breslau, Gutachten vom 11. Juni 1949; Gutachtliche Äußerung von Neander, Strauß und Richter vom 27. Juli 1849; Schreiben an Kahnis vom 5. August 1849); Nr. 17490 ( Kahnis’ Antwort vom 11. August 1849; Neander und Richter: Dringender Wunsch auf Ablehnung vom ? September 1849; Ablehnender Bescheid des Ministers vom 29. September 1849); Nr. 25803 (Bitte der St. Katharinengemeinde in Breslau vom 21. November 1849, mit Stellungnahme Richters vom 28. November 1849; Ablehnende Antwort vom 3. Dezember 1849); 1850: Nr. 16578 (Kahnis: undatierte Bitte um Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst; Annahme des Gesuchs unter dem 10. August 1850, samt begleitenden Schreiben)
Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz SBB PK Handschriftenabteilung IIIA Sammlung Darmstädter 2 d 1854 Blatt 1 (Vorlesungsankündigung undatiert).2 (Schreiben Berlin August 1842). 3–4 (Brief Berlin 18. Mai 1844). 5 (Brief Elisabeth Kahnis Leipzig 16. November 1872). 7 (undatierter Brief Elisabeth Kahnis). 9 (Brief Elisabeth Kahnis Meißen 3. Juli o.J.).11 (Einladungskarte Leipzig im Juni 1873). 13–14 (Brief Leipzig 12. Juli 1880). 15–17 (Brief Leipzig 13. Juli 1881) Nachlass 141 (Sammlung Adam), K. 47, 1 Brief (12. Januar 1877) Nachlass Adolf v. Harnack, Kasten 1, 42 (Brief vom 14. Dezember 1875) und 50 (Brief vom 22. Mai 1876) Nachlass Hengstenberg, Kahnis, 22 Briefe (1: Breslau 9. April 1848; 2: Halle 1. November 1838; 3: Halle 25. März 1841; 4: Halle 26. Juni 1841; 5: Breslau 2. Juli 1844; 6: Breslau 3. Juni 1844; 7: Breslau 29. November1844; 8: Breslau 20. Februar 1845; 9: Breslau 3. Dezember1845; 10: Breslau 20. Juli 1845; 11: Breslau 19. Juni 1847; 12: Breslau 28. Oktober 1847; 13: Breslau 12. November 1847; 14: Breslau 13. Februar 1848; 15: Breslau 11. März 1848; 16: Breslau 22. Juni 1848; 17: Breslau 17. Oktober 1848; 18: Leipzig 28. Oktober 1851; 19: Leipzig 8. Februar 1854; 20: Leipzig 31.[11.] Oktober 1854; 21: Leipzig 20. Juni 1859; 22: Leipzig 9. Dezember 1861)
Franckesche Stiftungen Halle (FStH) Bio-bibliographisches Register zum Archiv der Franckeschen Stiftungen www.francke-halle.de) s.v. Kahnis; Tholuck-Briefwechsel B III 4222 (Brief von Kahnis Leipzig 21. Juli 1872)
(unter:
Archivalien
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Archiv der Leipziger Mission im Archiv der Franckischen Stiftungen Halle (ALMW) DHM II.1.1.1–3 (Protokolle des Collegiums) DHM II.2.1 (Protokolle der Generalversammlung)
Hauptstaatsarchiv Dresden HStA Dresden Bestand 11125(Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts). 2 Signatur 10183/93, Bl. 68–108.189–191; 10183/94, Bl. 20–32; 10185/6; 10192/2
Staatsarchiv Leipzig Polizeiliches Meldebuch der Stadt Leipzig 1876, Nr. 171, S. 23b Akte zum Staatsangehörigkeitsausweis für Heinrich Kahnis, Nr. 53575
Universitätsbibliothek Leipzig (UBL) Nl Haenel: Briefe an Gustav Friedrich Hänel (1792–1878) vom 24. Oktober 1853, 20. November 1866 und 17. März 1867 Nl 249: Briefe an Friedrich Zarncke (1825–1891) vom 10. Oktober 1865, 11. Februar 1870, 5. Januar 1875, 27. Oktober 1877 und 22. Mai 1883 Ms 01022: Briefe an Constantin Tischendorf undatiert (1) und vom 20. Oktober 1852, 19. März 1856 (in seiner Eigenschaft als Dekan) und 9. Oktober 1864
Evangelisches Pfarramt Greiz Kirchenbücher
Nicht eingesehen: Universitätsbibliothek Leipzig: eine handschriftliche Empfehlung durch Kahnis vom 1.5.1870, einen Briefumschlag mit von Kahnis geschriebener Adresse an Pfarrer Moritz Meurer in Callenberg, die Unterschrift unter das Bruchstück eines Diploms der Lutherstiftung Leipzig vom 10.11.1868
Universität Chicago: Reformationsgeschichte, gelesen von Kahnis. Manuskript (1873)
Ev.-Luth. Landeskirchenamt, Bibliothek, Hannover Kirchengeschichte, gelesen von Karl Friedrich August Kahnis, Vorlesungsskript von Rudolf Steinmetz, Leipzig 1882
Landeskirchenarchiv Dresden: Nachschriften zu Vorlesungen von Karl Friedrich August Kahnis (1877–1879) im Bestand 12 „Nachlass Franz Blanckmeister“ (Mitteilung vom 10. Oktober 2008)
340
Quellen- und Literaturverzeichnis
2. Veröffentlichungen von Karl Friedrich August Kahnis (in zeitlicher Reihenfolge) 1838 Karl (Friedrich) August Kahnis: Dr. Ruge und Hegel: ein Beitrag zur Würdigung Hegelscher Tendenzen, Quedlinburg, Verlag von Ludwig Franke, 1838, 102 S. 1840 K(arl) A(ugust) K(ahnis): (Buchbesprechung) Hase, Lehrbuch der evangelischen Dogmatik. Zweite Auflage. Leipzig, bei Breitkopf und Härtel. 1838. 649S., LACTW 1840, Sp. 433– 438.443–448 (Kahnis:) (Sammelrezension) 1. Die Idee der Gottheit. Ein Versuch den Theismus spekulativ zu begründen und entwickeln. Von Dr. Carl Phil. Fischer. Stuttgart. Verlag von S. G. Liesching. 1839. 135 S.; 2. Revision der Philosopheme der Hegelschen Schule bezüglich auf das Christenthum nebst zehn Thesen aus einer religiösen Philosophie. Von Franz Baader. Stuttgart. Verlag von S. G. Liesching. 1839. S. 139; Wie kann der Supranaturalismus sein Recht gegen Hegels Religionsphilosophie behaupten? Eine Lebens- und Gewissensfrage an unsere Zeit von K. F. E. Trahndorff. Berlin. Verlag von Fr. Hentze. 1840. S. 170, LACTW 1840, Nr. 77/78/79 vom 17./21./? Dezember, Sp. 607–613.615– 622.626–630 (Verfasser dieser nicht namentlich gekennzeichneten Rezension ist Kahnis, wie aus dessen Brief an Hengstenberg vom 25. März 1841, SBB PK Handschriftenabteilung IIIA Nl Hengstenberg, Kahnis 3, hervorgeht) K(ahnis): (Buchbesprechung) Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, dargestellt von Dr. David Friedrich Strauß. Erster Bd. 1840, LACTW 1841, (1. Artikel) Sp. 81f.89–103.105–112.117–120, (2. Artikel) Sp. 497–501.505–536.541–544.549–552.558–560. K(ahnis): (Buchbesprechung) Anti-Strauß. Ernstes Zeugniß für die christliche Wahrheit wider die alte und neue Unglaubenslehre. Von Kratander. Stuttgart, Steinkopfsche Buchh., 1841. S. 266, EKZ (28?) 1841 Nr. 54 (7. Juli), 425–429. [Carolus Augustus Kahnis:] Theses Theologicae quas summe reverendi ordinis theologorum in Universitate Literaria Friderica Guilelma auctoritate pro gradu licentiati in sacrosancta theologia rite obtinendo publica defendet die VI. m. Augusti a. MDCCCXLII. hora X. Carolus Augustus Kahnis Ruthenus, Berolini, Formis Nietackianis. K(arl) (Friedrich) A(ugust), Kahnis: Die moderne Wissenschaft des Dr. Strauß und der Glaube unserer Kirche: Revision und Vollendung einer Recension im Litt. Anzeiger für christl. Theologie und Wissenschaft, Berlin : Oehmigke, 1842, 124 S. Kahnis, Carolus Augustus: De spiritus sancti persona capita duo, quae ex auctoritate s. v. ordinis theologorum evangelicorum pro munere rite obtinendo d. XIV. m. Augusti a. MDCCCXLV in aula majore publice defendet, respondente Henrico Augusto Hahn, phil. Dr. et theol. Lic., contra Alex. De Puscas et Jul. Dittrich, theol. candidatos, Vratislaviae (1845), 30 S. (Kahnis:) Anmerkung zu: G(uericke): Die „freien Katholiken“ und die Lichtfreunde, EKZ 36 (1845), Sp. 163–165, dort 163f, eingeführt als „Urtheil eines unserer Correspondenten“ (Auszug aus einem Brief von Kahnis an Hengstenberg vom 20. Februar 1845 [SBB PK Handschriftenabteilung IIIA Nl Hengstenberg, Kahnis 8] mit einigen Änderungen). (Kahnis:) (Buchbesprechung) Dr. A. Hahn, das Bekenntniß der Evangelischen Kirche und die ordinatorische Verpflichtung ihrer Diener. Leipzig 1847, EKZ 1847, Nr. 53.54 vom 3./7. Juli, Sp. 529–531.537–542. (Der Verfasser des nicht namentlich gekennzeichneten Bei-
Veröffentlichungen von Karl Friedrich August Kahnis
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trags ist Kahnis, wie dessen Briefan Hengstenberg vom 19. Juni 1847, SBB PK Handschriftenabteilung IIIA Nl Hengstenberg, Kahnis 11, zeigt) K(arl) A(ugust) Kahnis: Die Lehre vom heiligen Geiste I, Halle 1847, 356 S. (keine weiteren Bände erschienen) Kahnis: Das Wesen des Christenthums. Mit besonderer Rücksicht auf: Kahnis, die Lehre vom heiligen Geiste. Erster Theil. Halle, 1847, in: Evangelische Kirchen-Zeitung 42 (1848) Nr. 15–17.22–24, Sp. 129–131.137–142.145–155.201–205.213–216.217–219. Kahnis: Erwiderung des Prof. Kahnis, EKZ 42 (1848) Nr. 24, Sp. 220–223 (Breslau, den 11. März 1848). K(ahnis): Deutschland und die Revolution, EKZ 42 (1848) Nr. 32f, Sp. 289–293.297–307. (Kahnis:) Die Gnadenberger Conferenz, EKZ 42 (1848), Nr. 56f, Sp. 542–544.549–557. (Als Verfasser des anonym abgedruckten Berichtes ergibt sich Kahnis aufgrund seines Briefes vom 22. Juni 1848 an Hengstenberg [SBB PK Handschriftenabteilung IIIA Nl Hengstenberg, Kahnis 16]). 1850 Prof. Dr. Kahnis: Jahresbericht (der Evangelisch-Lutherischen Mission in Leipzig), ELMB 1851, 337–344. Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Die Lehre vom Abendmahle, Leipzig 1851, 472 S. Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Abendbetrachtung während der Generalsynode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preussen, am 30. September 1852 in der St. KatharinenKirche zu Breslau gehalten, Breslau (1852), 14. S. Kahnis: Predigt am Jahresfeste des reußischen Missionsvereins am 8. Oktober 1852(?) in der Pfarrkirche zu Greiz gehalten. Leipzig 1851(?), 15 S. (Kahnis:) Die Aufklärung (erster Artikel), SKSB 3 (1853), 217–224.225–230.233–237. (Kahnis:) Die Aufklärung (zweiter Artikel), SKSB 3 (1853), 291–297.299–304. (Kahnis:) Die Theologie der Aufklärung (erster Artikel), SKSB 3 (1853), 371–376.379–383.387– 391. K(ahnis): Ein Wort über und für Luther’s Bibelübersetzung, SKSB 3 (1853), 471–478. K(ahnis): (Buchbesprechung) W. F. Besser: Die Briefe St. Johannis (Halle 1853), EvangelischLutherisches Missionsblatt, Leipzig 1853, 53–56 Kahnis: Gebet zur Eröffnung, in: Die Leipziger Konferenz am 31. August und 1. September 1853, Leipzig 1853, 78 S., VII, Vortrag, 1–38, Schlussgebet, 77f (Kahnis:) Die moderne Unionsdoktrin, SKSB 3 (1853), 587–590.595–600.603–607.611–616.619– 624 (= Die Leipziger Konferenz 1853, 1–38) K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Die moderne Unionsdoktrin. Vortrag auf der Leipziger Konferenz vom 31. August und 1. September 1853 , Leipzig 1853, 38 S. (= Die Leipziger Konferenz 1853, 1–38) (zusammen mit Dr. Eduard H.D.C. Closter, damals Diakonus in Rötha, später Pastor in Meerane) K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Zwei Missionsreden, am 5. und 6. Oktober 1853 in Greiz und Zwickau gehalten, Leipzig 1853 Karl Friedrich August Kahnis: Predigt, gehalten am Tage der Einweihung des Rettungshauses in Hohenleuben, einer Stiftung des verewigten Fürsten Heinrich II. von ReußKöstritz j. L., Leipzig [1853], 15 S. (= Die Einkehr des Herrn [Lukas 19, 1–10], Predigten [I], Leipzig 1866, 180–189) Das Bekenntniß der lutherischen Kirche gegen das Bekenntniß des berliner Kirchentages gewahrt von etlichen Lehrern der Theologie und des Kirchenrechts, Erlangen 1853, 8 S. (18.10.1853: unterschrieben von Thomasius, Hofmann, Delitzsch, Th. Harnack, Schmid, Kahnis, Fr.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
W. Lindner, Bruno Lindner, Hölemann, Wiggers, Krabbe, Michael Baumgarten, Philippi, von Scheurl, Mejer) (zusammen mit A. F. O. Münchmeyer und W. F. Besser) K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: An die ehrwürdige Synode von Missouri, Ohio und andern Staaten – und von Bufallo (18. Oktober 1853), SKSB 3 (1853), 691–697 (Nr. 84 vom 21. Oktober); Abdruck in: Der Lutheraner 10 (1853/54), 75–77 (Nr. 10 vom 3. Januar 1854) Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Die Sache der lutherischen Kirche gegenüber der Union. Sendscheiben an Herrn Ober-Konsistorial-Rath Professor D. K. J. Nitzsch, Leipzig 1854, 97 S. (Kahnis:) Beim Beginn des neuen Jahres, SKSB 4 (1854, 3. Januar), 1–5.9–13. (Kahnis:) Theologie der Aufklärung (zweiter Artikel), SKSB 4 (1854), 73–76.81–86.89–95.97– 103.105–110.113–120. (Kahnis:) Die Erneuerurng, SKSB 4 (1854), 253–258.261–266.269–273.277–284. (Kahnis:) Die erneuerte Theologie, SKSB 4 (1854), 336–342.247–356.357–363. (Kahnis:) Die kirchliche Theologie, SKSB 4 (1854), 505–509.513–519. Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Der innere Gang des deutschen Protestantismus seit Mitte des vorigen Jahrhunderts, Leipzig (1. Aufl.) 1854, 262 S. Kahnis: Vorwort zu: D. Martin Luther’ BüchleinVom Kriege wider die Türken und Heerpredigt wider die Türken im Jahre 1529, Leipzig 1854 (Kahnis:) Vorwort, SKSB 5 (1855), 1–4.11–12.17–21.25–27.33–38.41–47 (Kahnis:) Die neueste Literatur über die Lehre von der Kirche, SKSB 5 (1855), 297–301.305– 309.369–375.382–391.393–399.401-407 Kahnis: Eröffnungswort bei der Grundsteinlegung des Missionshauses, ELMB 1855, 178–180 (= Grundsteinlegung des Missionshauses in Leipzig, SKSB 5 [1855], 329–335.337–341, dort 330–332). Kahnis: Thesen über Kirche, SKSB 5 (1855), 505–509; Abdruck in LuW 1 (1855), 379–381 (Anmerkungen auszugsweise) Carolus Fridericus August Kahnis: Vindiciae Pacis Religionis Augustanae, particula prima, Leipzig 1855, in: Rector Universitatis Lipsiensis D. Otto Linnaeus Erdmann memoriam Instauratae Ecclesiae et Pacis Religionis ante haec tria saecula Augustae compositae d. XXXI m. Octobris a.d. MDCCCLV, Leipzig, 3–36. (Kahnis:) Ueber Begriff, Geschichte und gegenwärtigen Zustand der Dogmatik (erster Artikel), SKSB 5 (1855), 617–622.625–628 Carl Friedrich August Kahnis: Internal History of German Protestantism since the middle of last Century, Edingburgh 1856, 331 S. (Der innere Gang des deutschen Protestantismus, 1 1854, übersetzt von Theodore Meyer; vgl. die Vorstellung in SKSB 6 [1856], 23–24) (Kahnis:) Die mannigfaltigen Auffassungsweisen des Christenthums, SKSB 6 (1856), 165–170.173– 178 (Kahnis’ Verfasserschaft geht aus dem „ich“ hervor, mit dem er auf frühere seiner Veröffentlichungen hinweist) (Kahnis:) Der Glaube, SKSB 6 (1856), 205–207.213–217.257–261.265–267.273–280; 7 (1857), 9–16 (Kahnis’ Verfasserschaft ergibt sich eindeutig) Carolus Fridericus August Kahnis: Vindiciae Pacis Religionis Augustanae, particula altera, Leipzig 1856, in: Rector Universitatis Lipsiensis D. Otto Linnaeus Erdmann Sacra Pentecostalia d. XI. XII. m. Maji a.d. MDCCCLVI pie concelebranda indicit, Leipzig, 3–26. (Kahnis:) Johannes 6, SKSB 6 (1856), 365–368.373–378.417–422.425–429 (Kahnis als Herausgeber bietet „eine Revision eine Abschnittes von seiner Lehre vom Abendmahl“, Anm. ebd., 365) (6. November–25. Dezember) Kahnis: Gebet (zur Einweihung des Missionshauses in Leipzig), ELMB 1856, 220f.
Veröffentlichungen von Karl Friedrich August Kahnis
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Kahnis: Predigt am 26. Sonntage p. Tr. (Text: Apk 3,14–22), SKSB 6 (1856), 397–403 (= Predigten, 1866, 157–167) Carolus Fridericus Augustus Kahnis: Symbolae Apologeticae, particula prima, Leipzig 1857, in: Rector Universitatis Lipsiensis D. Fridericus Tuch Sacra Pentecostalia d. XXXI m. Maji a.d. MDCCCLVII pie concelebranda indicit, Leipzig, 3–24 (Kahnis:) Apologetik, SKSB 7 (1857), 181–184.189–195.201–203 (unter Bezugnahme auf das Pfingstprogramm) (Kahnis:) (ohne Überschrift:) Abschiedswort als Redakteur, SKSB 7 (1857), 215f. Carolus Fridericus Augustus Kahnis: Symbolae Apologeticae, particula secunda, Leipzig 1857, in: Rector Universitatis Lipsiensis D. Fridericus Tuch memoriam Instauratae Ecclesiae d. XXXI m. Octobris a.d. MDCCCLVII pie concelebrandam indicit, Leipzig, 3–19. K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Predigt über das Evangelium von den zehn Jungfrauen, in der Universitätskirche zu Leipzig am 21. Sonnt. p. Tr. 1857 gehalten, Leipzig 1857, 14 S. (= Predigten [I], Leipzig 1866, 146–156) K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Vorwort, in: Dr. Joh. Lassenius heilige und erbauliche Passions-Andachten, Leipzig 1857, III–IV Kahnis: Die Theologie der Mitte, Leipzig, den 19. Nov. 1857, SKSB 7 (1857), 404–411 Carolus Fridericus Augustus Kahnis: De angelo Domini diatribe, in: Rector Universitatis Lipsensis D. Fridericus Tuch Sacra Pentecostalia d. XXIII m. Maji seq. a. D. MDCCCVIII pie concelebranda indicit, Leipzig 1858, 3–20. (bsb digitalisiert) (Kahnis:) (Buchbesprechung) Stahl, die Lutherische Kirche uund die Union. Berlin, 1859, EKZ 65 (1859), 633–640.649–654 (ohne Verfasserangabe, vgl. Brief an Hengstenberg vom 20. Juni 1859, SBB PK Handschriftenabteilung IIIA Nl Hengstenberg, Kahnis 21) K(arl) F(riedrich) A(ugust). Kahnis.: Adventspredigt über Jeremia 31, 31–34, Leipzig o.J. [1859], 15 S. (= Die alttestamentliche Weissagung ein Zeugniß für die Wahrheit, Predigten [I], Leipzig 1866, 24–36) 1860 Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Der innere Gang des deutschen Protestantismus seit Mitte des vorigen Jahrhunderts, Leipzig 2. Aufl. 1860, 284 S. Karl Fried(rich) Aug(ust) Kahnis: Rede zum Gedächtniß Melanchthon’s, gehalten am 19. April 1860 in der Aula der Universität Leipzig, Leipzig 1860, 36 S. Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Zwei Predigten, gehalten im Dom zu Meißen und in der Universitätskirche zu Leipzig, Leipzig 1861, 27 S., enthaltend 1) 15. April im Dom zu Meißen über Eph. 2,19–22 „Das Christenthum die wahre Einheit der Treue welche in die Vergangenheit und des Strebens welches in die Zukunft blickt“ (= Das Christenthum die wahre Einheit der Treue und des Strebens, Predigten [I], Leipzig 1866, 168–179); 2) Exaudi in der Universitätskirche zu Leipzig über Joh 15,26–16,4 „Das Zeugniß des heiligen Geistes von Christo“ (= Predigten [I], Leipzig 1866, 100–111) Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Die Lutherische Dogmatik historisch-genetisch dargestellt. I, Leipzig 1861, 674 S. Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Zeugniß von den Grundwahrheiten des Protestantismus gegen Dr. Hengstenberg, Leipzig 1862, 136 S. Karl Friedrich August Kahnis: Tyska protestantismens inre utvecklingsgång sedan midten af förra århundradet, Stockholm, 1863 (Der innere Gang des deutschen Protestantismus seit Mitte des vorigen Jahrhunderts, ²1860, in schwedischer Übersetzung von J. Widén) Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Die Lutherische Dogmatik historisch-genetisch dargestellt. II Der Kirchenglaube historisch-genetisch dargestellt, Leipzig 1864, 626 Seiten
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Quellen- und Literaturverzeichnis
K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Der Gang der Kirchengeschichte. Drei Vorträge, in: Die Kirche nach ihrem Ursprung, ihrer Geschichte, ihrer Gegenwart. Vorträge im Winter 1865 in Leipzig gehalten von: C. E. Luthardt, K. F. A. Kahnis, B. Brückner, Leipzig 1865, 71–141 (Abdruck der Seiten 122–125 in: Pilger aus Sachsen 31 [1865], 184). Karl Friedrich August Kahnis: Drei Vorträge, Leipzig 1865, enthaltend: 1) Antrittsrede über den innigen Zusammenhang der theologischen Wissenschaft mit den übrigen Universitätswissenschaften, gehalten am 31. October 1864, 1–17; 2) Abälard und Heloise, Vortrag gehalten im Professorenverein am 7. December 1864, 19–38; (= Der Gang der Kirche in Lebensbildern, Leipzig 1881, 263-277 [von S. 22 an]); 3) Kunst und Kirche, Vortrag gehalten im Verein für kirchliche Kunst in Leipzig am 9. April 1865, 39–56. (Kahnis:) Über die im Wesen des Protestantismus liegenden Principien, in: Zur Feier des Reformationsfestes und zum Rectorwechsel am 31. October ladet der Rector der Universität D. Karl Friedr. August Kahnis als design. Decan der theologischen Facultät ein, Leipzig (Edelmann) 1865, 5–67 Kahnis: Ueber die Principien des Protestantismus. Reformationsprogramm, Leipzig 1865, 72 S. (Separatdruck) Kahnis: Vorwort, vom 10. Januar 1866, ZHTh 36 (1866), III–IV Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Predigten, Leipzig 1866, 220 S. Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Was dem wahren Christen die Anbetung Gottes in der Gemeinde sein soll, Predigt am Sonntage Estomihi, 3. März 1867, über Joh. 4, 10–30, Leipzig 1867, 14 S. (= Predigten. Zweite Sammlung, Leipzig 1871, 48–59) K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Die Entstehung der Kirche, Vortrag zu Gunsten des Kirchbauvereins zu Berlin am 16. December 1867 gehalten, Leipzig 1867, 31 S. Kahnis: Course of Church History, in: Luthardt, Kahnis, and Brückner: The Church, its origin, its history, its present position, Edinburgh 1867 (Der Gang der Kirchengeschichte, 1865, in englischer Übersetzung von Sophia Taylor) Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Die Lutherische Dogmatik historisch-genetisch dargestellt. III System der Lutherischen Dogmatik, Leipzig 1868, 576 S. K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Die heilige Elisabeth. Vortrag am 20. März 1868 zu Gunsten der Hilfsbedürftigen in Ostpreußen und in Johanngeorgenstadt zu Leipzig gehalten, ZHTh 38 (1868), 592–617 (= Separatdruck: Gotha 1868, 47 S.; = Der Gang der Kirche in Lebensbildern, Leipzig 1881, 277–300). Karl Friedrich August Kahnis: Zur Unionsfrage, in: Zur Feier des Reformationsfestes und zum Rectorwechsel am 31. October 1868 ladet der Rector der Universität D. Wilhelm Hankel durch den design. Decan der Theologischen Facultät D. Karl Friedrich August Kahnis ein, Leipzig [1868], 1–44. Karl Friedrich August Kahnis: Die Union, in: AELKZ 1868, Nr. 6 vom 6. November und Nr. 7 vom 13. November, 81–91.105–113 (Summe seines Reformationsprogramms: Zur Unionsfrage [abgesehen von einigen kürzeren Auslassungen fehlt vor allem der erste Abschnitt „Dermalige Bedeutung der Unionsfrage“, ebd., 1–7]) Karl Friedrich August Kahnis: Predigt zum Jahresfeste des Leipziger Hauptvereins der GustavAdolph-Stiftung, zu Zwickau am 19. August 1868 über Apostelgeschichte 24, 14–16 gehalten, Leipzig 1868, 15 S. (= Das Bekenntniß Pauli vor Felix das Bekenntniß des GustavAdolph-Vereins [Apostelgeschichte 24, 14–16], Predigten. Zweite Sammlung, Leipzig 1871, 177–188)
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Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Rede zum Gedächtniß Schleiermacher’s, am 21. November 1868 in der Aula der Universität Leipzig gehalten, Leipzig 1868, 30 S. (= Der Gang der Kirche in Lebensbildern, Leipzig 1881, 426–450) Kahnis: Zum Gedächtniß Hengstenberg’s, AELKZ 1869, Nr. 25 vom 18. Juni 1869, Sp. 417– 425. (zusammen mit Meyer) Karl Friedrich August Kahnis: Zwei Predigten bei der 24. Hauptversamlung des evangelischen Vereins der Gustav-Adolf-Stiftung in Bayreuth am 17. und 18. August 1869, Leipzig 1869, 13–24 (= Worauf ruht die Zukunft des Gustav-AdolphVereins [2 Kor. 4,5–10], Predigten. 2. Sammlung, Leipzig 1871, 189–200) 1870 Karl Friedrich August Kahnis: Der Kampf des Christen, Kriegspredigt am 7. August 1870 in der Universitätskirche zu Leipzig gehalten, Leipzig 1870, 14 S. (= Predigten. Zweite Sammlung, Leipzig 1871, 201–211) Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Predigten. Zweite Sammlung, Leipzig 1871, 222 S. Kahnis, K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Die Idee der deutschen Nationalkirche, Vortrag auf der Pfingstkonferenz zu Leipzig am 1. Juni 1871, AELKZ 4 (1871), 389–401. Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Christenthum und Lutherthum, Leipzig 1871, 371 Seiten (Kahnis:) Union und Konfession in Preußen. Ein Nachwort zur Oktoberversammlung, AELKZ 1871, 901–909 (Kahnis’ Verfasserschaft ergibt sich aufgrund seines Hinweises auf sich als Verfasser von „Christenthum und Lutherthum“ ebd., 902) K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Die Auferstehung Christi als geschichtliche Thatsache, AELKZ 5 (1872) (Nr. 18, 3. Mai), 317–325; (= Separatdruck Leipzig1873) Karl Friedr(ich) Aug(ust) Kahnis: Die deutsche Reformation I, Leipzig 1872, 411 Seiten (weitere Teile nicht erschienen) K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Die Nacht und das Licht der Gegenwart, AELKZ 6 (1873) (Nr. 4, 24. Januar), 56–62; (= Separatdruck Leipzig 1873) K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Die Auferstehung Christi als geschichtliche Thatsache [Vortrag am 25. März 1872 in Berlin]. Die Nacht und das Licht der Gegenwart [Vortrag am 12. Januar 1873 in Leipzig]. Zwei Vorträge, Leipzig 1873, 56 S. (Zuvor in AELKZ) Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Blicke aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft der Kirche. Vortrag gehalten am 14. April 1874 zu Gnadau, AELKZ 7 (1874), 365–376. Karl Friedrich August Kahnis: Der innere Gang des deutschen Protestantismus I und II, 3., erweiterte und überarbeitete Ausgabe, Leipzig 1874, 329 + 313 S. Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Die lutherische Dogmatik historisch-genetisch dargestellt, I, 2., umgearbeitete Aufl. Leipzig 1874, 518 S. K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Worte am Sarge seines im Herrn entschlafenen Freundes, in: Am Sarge und Grabe des D. th. Constantin von Tischendorf, gestorben am 7., bestattet am 10. Dec. 1874. Fünf Reden und Ansprachen nebst einem Rückblick auf das Leben und einem Verzeichniß sämmtlicher Druckwerke des Verstorbenen, Leipzig (1874?), 9f. K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Rückblick auf das Leben des Entschlafenen, in: Ebd., 19–27. Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Die lutherische Dogmatik historisch-genetisch dargestellt, II, 2., umgearbeitete Ausgabe, Leipzig 1875, 530 S. Kahnis: Schlußwort, vom 11. Juni 1875, ZHTh 45 (1875), 617–628. Kahnis: Heinrich Leo, Daheim 11 (1875), 438–440 (437: Portrait Heinrich Leo) Festreden vom Gebiet der inneren Mission mit Beiträgen von Ahlfeld, Fröhlich, Hickmann, Kahnis, Kohlschütter, Landbein, Luthardt, Meier, Rühling…., hg. v. E(rnst Gottlob). Lehmann, Leipzig 1875
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Karl Friedrich August Kahnis: Über das Verhältniß der alten Philosophie zum Christenthum, 1. Abschnitt, in: Zur Feier des Reformationsfestes und zum Rectorwechsel ladet der Rector der Universität D. Gustav Adolf Ludwig Bauc durch den designirten Decan der theologischen Facultät D. Karl Friedrich August Kahnis ein, Leipzig 1875, 39 S. (= Ueber das Verhältniß der alten Philosophie zum Christenthum, Leipzig 1884, 1–48) Karl Fr(eidrich) Aug(ust) Kahnis: Stolberg und Voß, Vortrag, Leipzig 1876, 26 S. (= Der Gang der Kirche in Lebensbildern, Leipzig 1881, 391–410 [mit kleinen Korrekturen und der Auslassung eines Abschnitts über Kahnis’ Begegnungen mitStolbergs Tochter, Gräfin Stolberg auf Peterswaldau, die dem Protestantismus treu blieb, S. 24]). Karl Friedrich August Kahnis: Protestantismens inre utveckling. D. 1, Upsala 1876, 333 S. (Der innere Gang des deutschen Protestantismus, Teil 1, 1874, in schwedischer Übersetzung von A. Neander) Karl Friedrich August Kahnis: Protestantismens inre utveckling. D. 2, Upsala 1877, 309 S. (Der innere Gang des deutschen Protestantismus, Teil 2, 1874, in schwedischer Übersetzung von A. Neander) Karl Friedrich August Kahnis: Die Erfüllung der Zeiten. Vortrag gehalten am 24. Januar 1877 im evangelischen Vereinshaus zu Leipzig, Leipzig 1877 Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Predigten. Dritte Sammlung, Leipzig 1877, 231 S. Kahnis: Art. Aufklärung, in: RE² I (1877), 767–772. Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Den tyska Reformationen I (Die Deutsche Reformation I, 1872, in schwedischer Übersetzung), Stockholm 1879, 395 S. Kahnis: Art. Häresie, in: RE² V (1879), 521–527 1880 Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Der Gang der Kirche in Lebensbildern, Leipzig 1881, 464 S. Kahnis († Tholuck): Art. Lichtfreunde, in: RE² VIII (1881), 656–663. Karl Friedrich August Kahnis: Kyrkans utveckling framstäld i lifsbilder, Stockholm 1882, 474 S. (Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 1881, in schwedischer Übersetzung) Kahnis: Art. Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob, in: RE² XI (1883), 391–395. K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Die geschichtlichen Wendepunkte der evangelisch-lutherischen Landeskirche des Königsreichs Sachsen, BSKG 1 (1883), 1–32. Karl Friedrich August Kahnis: Über das Verhältniß der alten Philosophie zum Christenthum, 2. Abschnitt, in: Zur Feier des Reformationsfestes ladet […] der Rector der Universität Leipzig D. Wilhelm His […] D. Karl Friedrich August Kahnis ein, Leipzig, 1883, 31 S. (= Ueber das Verhältniß der alten Philosophie zum Christenthum, Leipzig 1884, 48–84) Karl Fr(iedrich) Aug(ust) Kahnis: Kirkens Gang i Livsbilleder, Kristiania 1883, 448 S. (Der Gang der Kirche in Lebensbildern, 1881, in norwegischer Übersetzung) K(arl) F(riedrich) A(ugust) Kahnis: Die Bedeutung der Persönlichkeit Luther’s für die Entstehung und die Entwickelung des deutschen Protestantismus. Festrede am 10. November 1883 in der Aula der Universität Leipzig gehalten, Leipzig [1884], 29 S. Karl Friedr(ich)Aug(ust) Kahnis: Ueber das Verhältniß der alten Philosophie zum Christenthum, Leipzig 1884, 84 S. (bis auf kleine Abweichungen textgleich mit den beiden Universitätsprogrammen) Karl Friedrich August Kahnis: Protestantismens indre Gang, Kristiania 1894, 649 S. (Der innere Gang des deutschen Protestantismus, ³1874 in norwegischer Übersetzung von Stian Vemmestad)
Weitere Literatur
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Redaktion: Sächsisches Kirchen- und Schulblatt (SKSB) (Bd. 3–7), Leipzig 1853 (ab Nr. 26 vom 1. April) – 1857 (bis Nr. 25 vom 18. Juni) Zeitschrift für historische Theologie (Bd. 36–45), Leipzig 1866–1875
3. Weitere Literatur (Bezugnahmen auf Kahnis jeweils am Ende in Klammern vermerkt) A.: (Buchbesprechung) Die Lutherische Dogmatik historisch-genetisch dargestellt von Dr. Karl Friedr. Aug. Kahnis […] Erster Theil […] 1861, ZLThK 24 (1863), 785–788 Aagaard, Johannes: Mission Konfession Kirche. Die Problematik ihrer Integration im 19. Jahrhundert in Deutschland, I+II (durchgehende Paginierung), Lund 1967 (723) Albrecht, Ralf: Art. Kahnis, Karl Friedrich August, ELThG II (1993), 1031 (mit Portrait) Die allgemeine lutherische Conferenz in Hannover am 1. und 3. Juli 1868, Hannover 1868 (70f) Ambrosy, Markus: Gerhard von Zezschwitz. Leben und Werk (EHS XXIII/643), Frankfurt am Main 1998 (70.73.108) Amtskalender für die Geistlichen der Sächsischen evang.-luth. Landeskirche, hg. v. d. Niedererzgebirgischen Predigerkonferenz, Oetzsch bei Leipzig 1923 Anders, F(riedrich) G(ottlob) E(duard): Statistik der Evangelischen Kirche in Schlesien, Glogau 1848 In Angelegenheiten der allgemeinen lutherischen Conferenz, AELKZ 2 (1869), 322 Anonymus: Kirchliche Polemik, ALZ 1839 II, 33–36.41–48.49–56 (46) Anonymus: Dr. Johann Gotthilf [!] Scheibel, SKSB 3 (1853), 789–792.797–799 Anonymus: (Buchbesprechung) Kahnis, die lutherische Dogmatik historisch-genetisch dargestellt, I. Bd., Leipzig 1861, ZPK NS 43 (1862), 141–173. Anonymus: Zum Gedächtnis unserer am 5. Juni entschlafenen Schwester Luise Kahnis, Correspondenzblatt der Diaconissen von Neuendettelsau 34 (1891), Nr. 8 August, 30–31 Arnold, Franklin: Die evangelisch-theologische Fakultät, in: Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, hg. v. Georg Kaufmann, II (Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau), Breslau 1911, 175–200. Baader, Franz: Revision der Philosopheme der Hegel’schen Schule bezüglich auf das Christenthum. Nebst zehn Thesen aus einer religiösen Philosophie, Stuttgart 1839, XVI (Vorwort) + 193 S. Bachmann, Joh(annes): Art. Hengstenberg, Ernst Wilhelm, RE³ 7 (Leipzig 1899), 670–674. Baur, Wilhelm: Art. Kirchentag, in: RE³ 10 (Leipzig 1901), 476–480 (479,19). Behnen, Michael: Art. Leo, Heinrich, Literaturlexikon, hg. v. Walther Killy, 7 (Gütersloh/München 1990), 231. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (1930), Göttingen ²1952 Benz, Ernst: Wittenberg und Byzanz, Marburg 1949 Berichte über Konferenzen in Rothenmoor: Kirchenblatt für Gemeinen evangelischlutherischen Bekenntnisses in den Preußischen Staaten 1853, 193–203 (194); Lutherische Dorfkirchenzeitung 6 (1854), 57–69; 7 (1855), 79–84 (79) Berkholz, C(hristian) A(ugust): (Buchbesprechung) Die Lutherische Dogmatik (…) von Dr. K. F. A. Kahnis. Erster Band, Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland, Riga, 18 (1862), 80–81.169–180.279–296; Fortführung unter Einbezie-
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Quellen- und Literaturverzeichnis
hung der Diskussion und Kahnis’ Zeugniß von der Grundwahrheiten, ebd., 296– 300.457–475. Der Berliner Kirchentag, SKSB 3 (1853), .679–681.697–698.703–704. Beschlüsse der von der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen im September und October 1841 zu Breslau gehaltenen Generalsynode, Leipzig 1842; dann kontinuierlich fortgeführt unter fortlaufender Seitenzählung sowie Separatzählung der Beschlüsse der einzelnen folgenden Generalsynoden, seit 1853 ist Breslau Erscheinungsort. Besier, Gerhard: Preußische Kirchenpolitik in der Bismarckära (VHK 49), Berlin 1980 Besier, Gerhard (Hg.): Neulutherische Kirchenpolitik im Zeitalter Bismarcks (TKTG 26/27), Gütersloh 1982 Besser, W(ilhelm) F(riedrich): (Buchbesprechung) Ueber Kahnis, die Lehre vom heiligen Geiste, ZLThK 1848, 129–149. Besser, W(ilhelm): Wie ich zur lutherischen Kirche heimgekehrt bin (1870), in: Gedenket an die vorigen Tage (Hebräer 10,32), hg. v. Bertold Schubert (Altes und Neues aus der lutherischen Kirche 10), Elberfeld 1914, 5–36. Besser, Wilhelm Friedrich: Predigten und Predigtauszüge, mit einem Lebensabriß, Breslau 1885 Beyschlag, Karlmann: Die Erlanger Theologie (EKGB 67), Erlangen 1993 Bezzel, Hermann: Löhe und seine Zeit (1908), hg. v. Helmut Baier u. Rudolf Keller (Arbeiten zur Kirchengeschichte Bayerns 86; Wilhelm Löhe GW ErgBd. 2), Neuendettelsau 2008 (45) Bigler, Robert M.: The politics of German Protestantism: the rise of the Protestant Church elite in Prussia 1815–1848, Berkeley u. Los Angeles 1972 (81–83) Blanckmeister, Franz: Sächsische Kirchengeschichte, Dresden 21906 (437) Blaufuß, Dietrich: Löhe auf dem Weg in die Separation? Die Korrespondenz Wilhelm Löhe – Alexander von Wartensleben-Schwirsen Dezember 1848/Januar 1849, ZBKG 75 (2006), 87–95. Bleek, Friedrich: Einleitung in das Alte Testament, hg. v. Joh(annes) F(riedrich) Bleek u. Ad(olf) Kamphausen, mit einem Vorwort von Carl Immanuel Nitzsch, Berlin 1860 Böhmer, Wilh(elm): Zur Erinnerung an Dr. Heinrich Middeldorpf, ZWTh 4 (1861), 332– 334. Bonwetsch, Gottlieb Nathanael (Hg): Aus vierzig Jahren Deutscher Kirchengeschichte. Briefe an E. W. Hengstenberg I (BFChTh 22,1), Güterloh 1917 (151f), II (BFChTh 24,1– 2), Gütersloh 1919 Breidert, Martin: Die kenotische Christologie des 19. Jahrhunderts, Gütersloh 1977 (248250) Brenske, K(arl) F(riedrich): Gegen Herrn Prof. Kahnis für Schleiermacher, EKZ 42 (1848) Nr. 24, Sp. 219–220. Brunn, Frank Martin: Union oder Separation? (VVKGB 64), Karlsruhe 2006 Brunn, Frank Martin: Carl Eichhorn (1810–1890): ein Pionier lutherischer Freikirchen, LuThK 34 (2010), 35–75. Carlblom, W(ilhelm): (Buchbesprechung) Meditationen eines lutherischen Pastors über „die lutherische Dogmatik, historisch-genetisch dargestellt“ von Dr. K. F. A. Kahnis, DZTK 4 (1862), 598–632. Cochlovius, Joachim: Bekenntnis und Einheit der Kirche im deutschen Protestantismus 1840–1850 (LKGG 3), Gütersloh 1980 (63f)
Weitere Literatur
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Crome, Karl Petrus Theodor: Christliches Kirchen- und Haus-Gesangbuch für evangelischlutherische Gemeinen, Köln 1856 (Elberfeld 21861, Radevormwald 31875, Kropp 41890; 3. und 4. Aufl. posthum hg. v. Johann Adolf Marin Crome) Delitzsch, Franz: Für und wider Kahnis. Kritik der Dogmatik von Kahnis mit Bezug auf dessen Vertheidigungschrift, Leipzig 1863, 32 Seiten (zugleich als Beilage zur ZLThK 24 [1863]) Delitzsch, Franz: System der christlichen Apologetik, Leipzig 1869 Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologen und der Kirchen (DBETh), hg. v. Bernd Moeller mit Bruno Jahn, I + II, München 2005 (743) Dieckhoff, August Wilhelm: (Buchbesprechung) K. F. A. Kahnis: Die Lutherische Dogmatik I, Theologische Zeitschrift, hg. v. A. W. Dieckhoff u. Th. Kliefoth, 2 (1861), 901–954; 3 (1862), 124–158.270–340. Diedrich, Julius: Gegen die Kahnis’schen Prinzipien, Neuruppin 1866, 28 S. Dörfler-Dierken, Angelika: „Karfunkellicht“. Friedrich August Gottreu Tholucks Konstruktion eines Bildes der Aufklärung, in: Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“ (AKTG 14), Leipzig 2004, 173–211. Dorner, I(saak) A(ugust): Sendschreiben über Reform der evangelischen Landeskirchen mit der Herstellung einer evangelisch-deutschen Nationalkirche an Herrn D. C. J. Nitzsch in Berlin und Herrn D. Julius Müller in Halle, Bonn 1848 Dreyer, Hans: Der Begriff Geist in der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel, Halle a.d. Saale 1907 Eberlein, Hellmut: Schlesische Kirchengeschichte, Goslar ³1952 Ecke, Gustav: Die evangelischen Landeskirchen Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert. Blicke in ihr inneres Leben. Berlin 1904 Elert, Werner: Die Lehre des Luthertums im Abriss, München 1924 Elert, Werner: Deutschrechtliche Züge in Luthers Rechtfertigungslehre (1935), in: Ders.: Ein Lehrer der Kirche. Kirchlich-theologische Aufsätze und Vorträge, hg.v. Max KellerHüschemenger, Berlin u. Hamburg 1967, 23–31. Elert, Werner: Die Kirche und ihre Dogmengeschichte, München 1950 Elert, Werner: Der Ausgang der altkirchlichen Christologie, Berlin 1957 Elert, Werner: Morphologie des Luthertums I (1931), verbesserter Neudruck München 1958 Elliger, Walter: 150 Jahre Theologische Fakultät Berlin. Eine Darstellung ihrer Geschichte von 1810 bis 1960, Berlin 1960 (51f) Engelbrecht, Klaus: Heinrich Ernst Ferdinand Guericke (1903–1878). Erster Pastor der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Halle, in: Du hast ja Gottes Wort lieb – 175 Jahre Gemeinde St. Maria Magdalena zu Halle an der Saale, hg. v. Kirchenvorstand der Gemeinde St. Maria Magdalena, Halle 2009, 17–35. Fagerberg, Holsten: Bekenntnis, Kirche und Amt in der deutschen konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts, Uppsala 1952 (26f) Fehlberg, Frank: Leipzigs Luthertum. Die Universität Leipzig im Kaiserreich und ihr Ruf als konfessionelle Hochburg (Thematische Schriften-Reihe „Historische Studien“ Bereich „Bildungsgeschichte“ 4), Leipzig u. Magdeburg 2009 (68–70) Die Feier des Augsburger Religionsfriedens an der Universität, SKSB 5 (1855), 585–587. Festbüchlein zur Erinnerung an das Doppel-Jubiläum, gefeiert in der lutherischen Gemeinde Berlin am 11. Oktober 1882, Berlin ²1906 (50. Ordinationsjubiläum Friedrich Lasius, 25. Kirchweihjubiläum Berlin, Annenstraße)
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Personenregister (ohne biblische und literarische Gestalten) Ahlfeld, Friedrich 42, 44 Ahner, Max 39 Allgöbor, A. A. 119 Ambrosy, Markus 46 Arndt, Julius Karl 167 Arnoldi, Wilhelm 266 Athanasius 200 Augustin 29, 108, 192, 194–197, 200, 261 Baader, Franz 29, 53f, 302 Barschall, Herrmann Philipp 105f Baudissin, Wolf Graf von 46 Baumgarten, Michael 138 Beck, Johann Tobias 36f Becker, Karl Friedrich 17 Behnen, Michael 26 Benz, Ernst..346 Berkholz, Christian August 231 Besier, Gerhard 175 Besser, Wilhelm Friedrich 28, 30f, 99f, 105f, 122f, 156–159, 162f, 167, 243 Bethmann-Hollweg, Moritz August von 138 Beust, Friedrich Freiherr von 38, 42 Beyer, stud. theol. 49 Bigler, Robert M. 15 Bindewald, Karl Wilhelm Julius 28 Bingmann, Karl Ferdinand 158 Bismarck, Otto Fürst von 51, 175 Blanckmeister, Franz 126 Blaufuß, Dietrich 106 Bleek, Friedrich 239 Böhmer, Wilhelm 103, 111f, 117 Bonwetsch, Gottlieb Nathanael 34 Bräuer, K. 119 Breidert, Martin 201 Brenske, Karl Friedrich 70 Brieger, Theodor 49 Brückner, Benno 40, 42, 175 Brunn, Frank Martin 130 Calixt, Georg 142, 153 Calov, Abraham 139 Calvin, Johannes 79, 140f, 169, 209, 246 Camerarius, Joachim 19
Carlblom, Wilhelm 231f Cartesius/Descartes, René 301 Catenhusen, Karl Friedrich Wilhelm 162 Claudius, Matthias 144 Cochlovius, Joachim 101f, 105, 160 Crasselius, Bartholomäus 200 Crome, Karl Petrus Theodor 126 Delitzsch, Franz 17f, 21, 42, 45–47, 49, 93–95, 99, 103, 107f, 126f, 131, 138, 165, 217, 240–244, 253, 257, 272, 279, 303, 305 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht 79 Dieckhoff, August Wilhelm 16, 185, 244–246 Diedrich, Julius 76, 105f, 123f, 128–130, 288 Dorner, Isaak August 67–69, 71, 160 Dörfler-Dierken, Angelika 27 Dreyer, Hans 297 Ebrard, Johann Heinrich August 143 Echtermeyer, Theodor Ernst 51 Eckardt, Hilfsgeistlicher 49 Ehlers, Ludwig 100, 106 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich von 31, 33, 67f, 108f Eichhorn, Karl 130, 142 Einsiedel, Graf Detlev von 13 Elert, Werner 22, 169, 205, 331 Elisabeth von Thüringen 59 Elliger, Walter 31 Elvers, Christian Friedrich 161f Engelbrecht, Klaus 101, 131 Engelhardt, Johann Georg Veit 41 Erdmann, Johann Eduard 26, 51f Ewald, Handelsmann 48 Fagerberg, Holsten 19 Falkenstein, Johann Paul Freiherr von 41f Fichte, Johann Gottlieb 70, 291, 301f Fienemann, Friedrich August 158 Fischer, Carl Philipp 29, 53f, 303 Fleisch, Paul 159, 165, 175 Francke, August Hermann 52
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Personenregister
Frank, Franz Hermann Reinhold 23, 45, 255 Frank, Gustav Wilhelm 285 Fricke, Gustav Adolf 49 Friedrich Wilhelm III. 137, 144 Friedrich Wilhelm IV. 133, 135, 145, 165 Froböß, Karl 119 Gaupp, Karl Friedrich 33, 103, 112, 117 Gebhardt, Oskar Leopold von 46f Gerhard, Johann 219 Gerlach, Ernst Ludwig von 28, 108 Goethe, Johann Wolfgang (von) 126, 159 Goldberg, Johann Peter 17 Grabau, Johann 163 Grafe, Hugald 157 Grau, Rudolf Friedrich 257 Graul, Karl 156–159 Gregor von Nazianz 146 Gregor XVI., Papst 266 Gregory, Caspar René 46 Grempler, Adolph 119 Grimm, Stephan 28 Guericke, Heinrich Ernst Ferdinand 100f, 107, 115f, 131, 160 Haccius, Georg 157 Hagenbach, Karl Rudolf 79–81, 296f Hahn, August 33f, 101f, 115f, 121, 230 Handmann, Richard 156–158 Harleß, Adolph (von) 23, 36f, 39f, 42, 44–46, 91f, 102, 105, 133, 155, 159– 162, 173, 175, 249 Harms, Louis 157 Harnack, Adolf (von) 46f, 257 Harnack, Theodosius 138, 164, 183 Hase, Karl August (von) 27, 259 Hauptmann, Peter 113 Hausmann, Nikolaus 182 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 26–30, 52–57, 71, 292, 298f Hehl, Ulrich von 42 Hein, Martin 331 Heinrich XX, Fürst von Reuß-Greiz 41 Heinrich XXII, Fürst von Reuß-Greiz 25 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 13, 15f, 24f, 27f, 30–32, 34–37, 40–42, 51–55, 69f, 85, 90, 96, 99–106, 108, 112, 117,
122, 126f, 135, 155, 157, 178, 208, 214, 232–236, 238f, 248, 252f, 256, 266, 303 Herms, Eilert 300 Hilarius 200 Hilgenfeld, Adolf 249 Hirsch, Emanuel 21 Höfling, Friedrich 125 Hölemann, Hermann Gustav 44, 123, 138, 238-240 Hölscher, Wilhelm 49, 329 Hoffmann, Wilhelm 173f Hofmann, Johann Christian Konrad (von) 16f, 39, 41, 45, 93, 138, 175, 183, 185, 233, 249, 257, 268f, 279, 303, 309f Hopf, Wilhelm 138 Hübner, Heinrich 25, 48, 150, 255 Huschke, Eduard 35, 100f, 105, 125– 128, 142, 161f, 165, 167, 217, 266 Illgen, Christian Friedrich 39f Irenäus 179, 202, 308 Jacobi, Friedrich Heinrich 70 Jörg, Josef Edmund 148 Johann, König von Sachsen 41–43 Jüngel, Eberhard 86 Justin 179 Kähler, Martin 23, 309 Kaftan, Julius Wilhelm Martin 46 Kanes, Christiane Karoline 25 Kanes, Johann Friedrich 25 Kant, Immanuel 70, 300 Kahnis, Bernhard 32 Kahnis, Heinrich 32f Kahnis, Luise 33 Kahnis geb. von Schenckendorff, Elisabeth 31f Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 269, 327f Kattenbusch, Ferdinand 258 Keil, Karl Friedrich 253 Kellner, Eduard 34 Kierkegaard, Sören 260, 274 Kircheisen, Friedrich Leopold von 31 Kirchner, Friedrich 15, 25, 260 Kirn, Otto 37, 40
Personenregister
Klän, Werner 100, 108, 120, 123f, 128, 164 Kliefoth, Theodor 16, 161f, 165, 217, 244 Knapp, Joseph 34f, 103, 116 König, Eduard 257 König, Johann Friedrich 139 Köppen, Carl 119 Kolde, Theodor 252 Krabbe, Otto Karsten 138 Kunze, Johannes 19, 23 Ladenberg, Adalbert von 109, 119, 121 Laffert, Carl Friedrich Julius 105f Lakämper-Lührs, Heinrich 28 Lange, Johann Peter 143 Lasius, Friedrich 99, 105, 122 Leeuw, Gerardus van der 60 Leibniz, Gottfried Wilhelm 142, 153 Leiner, Martin 301 Leipziger, Karl 206 Leo, Heinrich 26f, 30, 51–54, 59, 168, 172, 176, 248, 261 Lessing, Gotthold Ephraim 56, 261f Liebner, Albert 37f, 40–42 Lindner, Bruno 123, 139 Lindner, Friedrich Wilhelm 139 Löhe, Wilhelm 33, 106, 133, 148, 165, 217 Lohmann, Rudolf 126f Loofs, Friedrich 46, 257 Lothar I., Kaiser 258 Lücke, Friedrich 25 Lütgert, Wilhelm 261 Luthardt, Ernst 17–20, 25–27, 31, 33, 41f, 45–49, 107, 159, 164, 230, 249 255f, 258 Luther, Martin 14, 25, 29, 33, 35, 78f, 86, 88, 90, 137, 163, 168–170, 176, 182, 186, 194, 201, 206, 209f, 212f, 215f, 228f, 233, 236, 249f, 264, 270, 273, 300, 305–307, 312, 323, 326, 330 Maltzahn, Christoph Freiherr von 26, 51, 172 Maltzan, Friedrich von 165 Mann, Karl 55 Marbach, Gotthard Oswald 51 Marx, Karl 51
363
Mehlhorn, Hermann Gustav 162 Meinold, Peter 313 Mejer, Otto 134 Melanchthon, Philipp 19, 47, 90, 96, 135, 142, 152, 185, 192, 195, 212, 215, 217, 252, 278, 313, 316f, 319 Meurer, Moritz 126, 230 Meyer, Dietrich 102f Middeldorpf, Heinrich 113f Mie, Amandus 158 Mühlau, Heinrich Ferdinand 257 Müller, Julius 135, 138f, 150, 160 Münchmeyer, August Friedrich Otto 128f, 162–164 Mücke, August 285 Münkel, Karneades Konrad 230f Müntzer, Thomas 182 Mulert, Hermann 197 Mykonius, Friedrich 182 Nachtigall, Astrid 99, 102f, 118, 135 Nagel, Leopold Julius 105f Nagel, Johannes 151 Neander, August 112, 135 Neander, Daniel Amadeus Gottlieb 118 Ness, Dietmar 102f Neuser, Wilhelm H. 132f, 135 Niedner, Christian Wilhelm 38–40 Nitzsch, Karl Immanuel 67f, 71, 107, 134–150, 162 Öhler, Gustav Friedrich 33–35, 102f, 105, 116, 118 Origenes 69, 178 Pannenberg, Wolfhart 265 Pascal, Blaise 27 Petri, Ludwig Adolf 161f Philippi, Friedrich Adolph 92, 138, 248, 301 Pieper, Franz August Otto 270 Pistorius, Hermann Alexander 105f Plaß, Carl Wilhelm David 164 Plato 272, 316 Platz, C. W. 119 Platz, W. A. 119 Puttkamer, Franzika von 106 Quenstedt, Johann Andreas 139 Querfeld, Werner 22 Racine, Jean 27
364
Personenregister
Rade, Martin 46 Räbiger, Julius Ferdinand 103 Raudt, Georg 25 Reese, Hans-Jörg 327 Rehm, Theodor 34 Rehm geb. Hahn, Clara 34 Reiche, W. 107 Reiche, W. G. 119 Reinhard, Franz Volkmar 186 Reiz; Dr. E. U. 25 Reiz, W. G. 25 Rendtorff, Trutz 262 Rengstorf, Karl-Heinrich 107, 124 Reuter, Alfred 102 Ribbeck, Otto 49 Richter, Ämilius Ludwig 118, 120 Richthofen, Karl Freiherr von 44 Richthofen, Ferdinand Freiherr von 44 Rieske-Braun, Uwe 47f, 150, 171, 175 Rietschel, Georg Christian 257 Ritschl, Albrecht 138, 325 Rocholl, Rudolf 16f, 63, 128, 131, 150, 165–167, 173 Röder, von 26 Rogge, Joachim 138 Rohr, Heinrich von 163 Ronge, Johannes 35, 266 Rudelbach, Andreas Gottlob 160 Ruge, Arnold 30, 51–53, 248 Rumpel, Theodor 28 Ryssel, Carl Viktor 257 Samson-Himmelstjerna, Armin von 32 Samson-Himmelstjerna, Hermann Reinhold Carl Johann von 32 Samson-Himmelstjerna geb. Kahnis, Elisabeth von 32, 47 Sasse, Hermann 163 Scheibel, Johann Gottfried 9, 100, 112f, 115–117, 119, 142, 144f, 206f Schelling, Friedrich Wilhelm 70, 291, 298 Schenckendorff, Friedrich Wilhelm von 31, 99 Schenckendorff geb. von Kircheisen, Caroline Luise Elisabeth von 31 Schenkel, Daniel 143
Scheurl, Christoph Gottlieb Adolf Freiherr von 138 Schick, Friedrich Gustav 122 Schiller, Friedrich (von) 126, 169, 259 Schleicher, Gottlieb 119 Schleiermacher, Friedrich 28, 70, 82, 93, 143f, 205, 246, 260, 290, 292f, 335 Schmalenbach, Theodor 100, 235 Schmaltz, Karl 165 Schmid, Heinrich 138 Schmidt, Berthold 22f, 25, 32f, 39, 165, 230, 257 Schmidt, Woldemar Gottlob 257 Schnedermann, Georg Hermann 257 Schneider, C. Fr. 119 Schneider, Martin 55 Schöberlein, Ludwig 205 Schöne, Jobst 100, 123, 166 Schürer, Emil 46 Schulz, David 33, 42, 103, 112f, 118 Schwarz, Carl 16, 185, 247f Seidel, Christoph 119 Seidel, Gottlieb 119 Slenczka, Reinhard 274, 291 Smend, Friedrich 47 Smend, Rudolf 258 Sokrates 272, 280 Spangenberg, Gustav Adolf..33 Stache, Adam 119 Stade, Bernhard Wilhelm 258 Stählin, Adolf (von) 89, 211, 249–252, 255 Stahl, Friedrich Julius 217 Steffens, Henrich 106 Stöckhardt, Georg 303 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 19, 34, 177 Stolberg-Stolberg, Marie Agnes Gräfin zu 34 Stolberg-Wernigerode, Ferdinand Graf zu 34 Stolle, Volker 81, 207, 215, 330 Storch, Nikolaus 182 Strack, Hermann Leberecht 253 Strauß, David Friedrich 27, 29, 54–56, 225, 301, 306
Personenregister
Strauß, Gerhard Friedrich Abraham 118 Suppe, Diakonos Dr. 48 Sydow, Karl Leopold Adolf 104 Tertullian 178 Theile, Karl Gottfried Wilhelm 40 Theodosius der Große 146 Thiel, Johann Carl Friedrich August 35 Thiele, cand. theol. 49 Tholuck, August 23, 26–28, 51, 97, 185, 248 Thomasius, Gottfried 30, 36, 45, 138, 161f, 167, 183, 185, 249, 331 Theiner, Johann Anton 36 Tischendorf, Constantin (Freiherr von) 46 Trahndorff, Karl Friedrich Eusebius 53 Tuch, Friedrich 39, 43 Ullmann, Carl Cristian 70 Vilmar, August 38 Voß, Johann Heinrich 19, 177 Wachler, Albrecht Wilhelm Jacob Carl 103, 105 Wagner, Siegfried 42, 107, 240, 279, 305 Wangemann, Hermann Theodor 161 Wartensleben-Schwirsen, Graf Alexander Constantin Eduard Hermann von 105 Wedemann, Heinrich 100, 106, 119, 122 Weinhardt, Joachim 33 Weiß, Ernst Friedrich August 105f Weizsäcker, Carl Friedrich von 260 Wermelskirch, Georg 159 Wichern, Johann Hinrich 174 Wiese, Benno von 51 Wiesel, Elie 334 Wiggers, Gustav Friedrich 138 Wilke, Justizrat 26 Wille 119 Willisch, F. 119 Willms, Veronica Adelheid geb. von Samson-Himmelstjerna 32 Winer, Johann Georg Benedikt 40, 46 Winter, Friedrich Julius 17, 20, 25, 28, 32, 39, 41f, 44f, 48, 52, 102, 107f, 130, 133, 149, 155, 174, 186, 244, 255–258
365
Wischmeyer, Johannes 269 Wittenberg, Martin 21, 240, 243 Wolf, Ernst Philipp 105f, 123 Wrede, William 46 Wyneken, Friedrich 164 Zahn, Theodor (von) 253 Zahn-Harnack, Agnes von 47 Zezschwitz, Gerhard von 42, 45f, 208f Ziemer, Ernst 159 Zöckler, Otto 253 Zwingli, Huldrych 209, 242
Lutherische Theologie und Kirche (LuThK) 34. Jahrgang – Heft 3 – 2010
Unabhängig von staatlicher Kirchenoberhoheit Werner Klän/Gilberto da Silva (Hrsg.)
Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland
Vierteljahreszeitschrift für eine an Schrift und Bekenntnis gebundene lutherische Theologie – LuThK erscheint seit 1977 in Nachfolge des »Lutherischen Rundblicks« (nach 1975). ISSN: 0170-3846
Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen 2. erweiterte und überarbeitete Auflage Oberurseler Hefte Ergänzungsband 6
Herausgegeben im Auftrag der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel (Taunus) von Prof. Dr. Achim Behrens, Prof. Dr. Gilberto da Silva, Dozent Peter Matthias Kiehl, Prof. Dr. Werner Klän, Prof. Dr. Jorg Christian Salzmann. Schriftleitung: Prof. Dr. Achim Behrens (verantwortlich i.S. des niedersächsischen Pressegesetzes), Altkönigstraße 150, 61440 Oberursel (Taunus), [email protected] Beiträge, Rezensionen und redaktionelle Mitteilungen bitte an die Schriftleitung. Die Bearbeitung und Rücksendung unverlangt eingesandter Beiträge und unverlangt zur Rezension eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. »Lutherische Theologie und Kirche« erscheint in 4 Heften pro Jahr und kann zum Preis von € 18,90 (D) / € 19,43 (A) / SFr 33,80 zuzüglich Porto bezogen werden. Preise beziehen sich auf den laufenden Jahrgang. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, wenn bis zum 1. Dezember keine Abbestellung erfolgt. Einzelhefte auf Anfrage. Bestellungen an [email protected] Edition Ruprecht, Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 1716, 37007 Göttingen – 2010, © www.edition-ruprecht.de Satz: Andrea Parrandier, Umschlag: klartext GmbH, Druck: Meta-Systems GmbH Diesseits und jenseits von »Leuenberg« .............................................................. 141 Prof. Dr. Werner Klän Wissenschaftliche Exegese und die Autorität der Heiligen Schrift in Bekenntnis und Lehre der Kirche . ................................................................... 175 Dr. Armin Wenz Zum hundertsten Geburtstag von Friedrich Wilhelm Hopf ����������������������������������� 204 Prof. Dr. Volker Stolle
764 Seiten mit 47 Abbildungen (s/w), Hardcover ISBN 978-3-7675-7138-9 0
Auch als
Die wichtigsten Dokumente aus der Geschichte der im 19. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit Union und Ratio-nalismus entstandenen, vom Staat unabhängigen lutherischen Gemeinden und Kirchen. Diese Neuauflage wurde erweitert um Dokumente zur kirchlichen Entwicklung in Westdeutschland und in der ehemaligen DDR in den 1980er und 1990er Jahren, zum Verhältnis von Kirche und Judentum, zu diakonischer Arbeit, Ausbildungsstätten und um ökumenische Vereinbarungen. Die Einführungen in die Texte bieten zugleich einen historischen Überblick zum jeweiligen Thema. Die Einleitungen zu den Dokumenten sind von den Herausgebern sowie von Frank Martin Brunn, Andrea Grünhagen, Gottfried Herrmann, Volker Stolle und Stefan Süß verfasst worden. Aus dem Inhalt:1. Die Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche – 2. Die Evangelisch-lutherische Immanuelsynode – 3. Die Evangelisch-lutherische Kirche in Baden – 4. Die Evangelischlutherische Freikirche – 5. Die Renitente Kirche Ungeänderter Augsburger Konfession – 6. Die Selbständige evangelisch-lutherische Kirchen in den hessischen Landen – 7. Die Hannoverschen evangelischlutherischen Freikirchen – 8. Mission – 9. Verhältnis zum Judentum – 10. Diakonie – 11. Ausbildungsstätten – 12. Vereinbarungen, Zusammenschlüsse, Vereinigungen – 13. Oecumenica
BUCHSCHAU .................................................................................................... 220
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K., Postfach 1716, 37007 Göttingen www.edition-ruprecht.de