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German Pages [300] Year 1974
Heinrich Leipold · Missionarische Theologie
H E I N R I C H LEIPOLD
Missionarische Theologie Emil Brunners Weg zur theologischen Anthropologie
VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Edmund Schlink Band 29
ISBN 3-525-56234-9 Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Theologischen Fakultät der Philipps-Univcrsität Maiburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974. — Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist der in sich selbständige und für die Drucklegung nur geringfügig veränderte erste Teil einer Arbeit, die im Juni 1969 unter dem Titel „Theorie der Verkündigung — der Streit um die Frage der .Anknüpfung' zwischen E. Brunner und K. Barth" der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg eingereicht wurde. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat das Arbeitsvorhaben durch die Gewährung eines Habilitationsstipendiums großzügig gefördert und nun auch die Drucklegung ermöglicht. Ihr sei an dieser Stelle für alle Unterstützung aufrichtig gedankt. Mein herzlicher Dank für alle wohlwollende Förderung gilt ebenso Herrn Prof. D. Hans Graß, als dessen Assistent sich mir die Aufgabenstellung erschloß, die E. Brunner als Schicksalsfrage der Theologie begriff. Herrn Prof. D. Dr. E.Schlink D. D. und Herrn Verleger Dr. Arndt Ruprecht danke ich sehr herzlich für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe der Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie. Marburg/Lahn, Ostern 1973
Inhalt Vorwort
5
Abkürzungsverzeichnis
10
Einleitung
H
I.Vorbemerkung zum Werk E.Brunners
18
II. Die Theorie des religiösen Erkennens in der vordialektischen Zeit A) Denkvoraussetzungen B) Das „Geistige" im Zusammenhang des Religionsbegriffs C) Religion und Sittlichkeit D) Kritische Würdigung
.
. . . .
22 22 23 30 32
III. Von der Dialektik zur Eristik (Die Bestimmung der Aufgabe der Theologie)
34
A) Das Mißverständnis des Glaubens oder die anthropologische Entartung der Theologie
34
1. Die durch Barths „Römerbrief" veranlaßte Neuorientierung
. . .
34
2. Der Glaube als Kriterium
36
3. D a s psydiologistisdie Mißverständnis des Glaubens
40
4. D a s historistische Mißverständnis des Glaubens
46
5. D a s intellektualistische Mißverständnis des Glaubens
51
a) Rationalismus und lebendiges Denken b) Die Idee des Ursprungs c) Glaube und Denken d) Der Begriff des Geistes e) Wort und Geist Exkurs: Zur Frage der Einwirkung F.Ebners auf Brunners Wortverständnis 6. Der Glaube als reine Sachlichkeit
B) Humanität als Grenze und Verheißung 1. Zwei Denkriditungen
51 54 57 59 64 75 78
84 84
2. Der Begriff der Grenze
84
3. Der Begriff des Gesetzes
92
a) Der kritische Punkt b) Die Aufgabe der Theologie
C) Das Programm der Eristik — die Entwicklung des Gegensatzes zu K.Barth 1. Mittlerglaube und allgemeine Offenbarung
92 100
101 101
7
2. Die Aufgabe der Eristik a) Theologie und Verkündigung b) Die zwei Aufgaben der Theologie c) Das Verständnis der Eristik aa) Begriff und Sache bb) Die Vorbilder cc) Eristik und Apologetik dd) Das Kriterium der eristischen Aufgabe ee) Eristik als Anknüpfung ff) Kritische Würdigung IV. Das Problem der Anknüpfung — die Behauptung des Gegensatzes zu K.Barth
122 122 124 127 127 130 131 134 137 146
151
A) Zur Theorie und Praxis der Anknüpfung 1. Differenzierung und Präzisierung der Fragestellung
151 151
2. Die Anknüpfung als kirchlich-praktisches Problem a) Christliche Theorie des Heidentums b) Anknüpfung als hermeneutisdies Geschehen
153 153 157
3. Die Anknüpfung als theologisches Problem a) Brunners Verhältnis zu Fr. Gogarten und R. Bultmann b) Das principium cognoscendi c) Die kategoriale Bestimmung des Anknüpfungspunktes aa) Kontinuität und Diskontinuität bb) Formale und materiale Personalität cc) Das Gewissen als „Ort" der Anknüpfung dd) Vorläufiges Ergebnis
159 160 164 166 166 170 175 178
B) Die Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Frage nach dem Anknüpfungspunkt 1. Imago Dei im bisherigen Denken Brunners 2. Die Gottebenbildlichkeit des homo peccator und das Problem des imagoRestes
185
3. Formale und materiale imago
190
4. Zum Verständnis des Formalbegriffs a) Seinsstruktur und Existenzwirklichkeit b) Der Begriff der formalen Freiheit c) Die inhaltliche Bestimmtheit des Formalen aa) Die Kritik an Brunners Unterscheidung von formal und material bb) Der teleologische Inhalt des Formalen cc) Die Aktualität des Formalen in der materialen Humanität .
194 194 196 197 197 200 201
5. Kritisdie Würdigung
206
C ) Dialektische Anknüpfung
.
D ) Schöpfungsoffenbarung und Christusoffenbarung l . D e r christologische Sinn der imago Dei a) Das christologische Kriterium b) Das exegetische Problem der systematischen Zuordnung von formaler und materialer imago c) Natur als Geschehen der Gnade 8
180 180
208 215 215 215 217 222
2. Sdiöpfungsoffenbarung und Christusoffenbarung
226
a) Die Tatsache der Sdiöpfungsoffenbarung b) Zur Frage der „natürlichen" Gotteserkenntnis c) Das rechte Erkennen der Sdiöpfungsoffenbarung
226 231 235
3. Das Problem der „natürlichen" Theologie a) Zur Vorgeschichte b) Objektive und subjektive theologia naturalis c) Brunners Gegensatz zur katholischen Auffassung d) Ergebnis
257 258 261 268 281
Literaturverzeichnis
291
Personenverzeichnis
297
9
Abkürzungsverzeichnis I. Abkürzungen
für Schriften
E.
Brunners
Ankn
Die Frage nach dem „Anknüpfungspunkt" als Problem der Theologie. Aufg Die andere Aufgabe der Theologie. D I (D II; D III) Dogmatik Bd. I (Bd. II; Bd. III). EEG Erlebnis, Erkenntnis und Glaube. GesuOff Gesetz und Offenbarung. GrHu Die Grenzen der Humanität. GuM Gott und Mensch. GuO Das Gebot und die Ordnungen. Mi Der Mittler. MiW Der Mensch im Widerspruch. My 1 , My 2 Die Mystik und das Wort, 1. u. 2. Auflage. NuG, NuG 2 Natur und Gnade, 1. u. 2. Auflage (die 1. Auflage ist auch in der Seitenzahl unverändert in der 2. Auflage abgedruckt). Off Die Offenbarung als Grund und Gegenstand der Theologie. OuV Offenbarung und Vernunft. PhuOff Philosophie und Offenbarung. Relph Religionsphilosophie evangelischer Theologie. Symb Das Symbolische in der religiösen Erkenntnis. ThuK Theologie und Kirche. ThuOnt Theologie und Ontologie — oder die Theologie am Scheidewege. WaB Wahrheit als Begegnung. II. Abkürzungen K D I—IV Prol Rom 2 DialTh I DialTh II DialTh III
für Schriften
K.
Barths
Die Kirchliche Dogmatik Bd. I—IV. Die christliche Dogmatik im Entwurf. Prolegomena zur christlichen Dogmatik. Der Römerbrief, 2. Aufl. Anfänge der dialektischen Theologie Bd. I, herausgegeben von J . Moltmann. Anfänge der dialektischen Theologie Bd. II. „Dialektische Theologie" in Scheidung und Bewährung 1933—1936, herausgegeben von W. Fürst. III. Zeitschriften,
Schriftenreihen
und
Lexika:
Vgl. das Abkürzungsverzeichnis in R G G 3 IC
Einleitung Wer sich heute dem Fragenbereich zuwendet, der unter den Stichworten „Anknüpfung" und „natürliche Theologie" in der neueren Theologiegeschichte so heftig umstritten war, wird sich von vornherein auf einige schwerwiegende Einwände gefaßt machen müssen. H a t die Theologie nicht Wichtigeres zu tun, als sich erneut auf diese Diskussion einzulassen, die nach dem Urteil eines an ihr Beteiligten doch nur in „kirchlichen Verfallszeiten" zum Mittelpunkt des Gesprächs werden kann 1 ? Vielleicht spricht dieses Urteil, wenn audi gegen seinen Willen, am Ende sogar mehr für die Zeitgemäßheit dieser Fragestellung als gegen sie. Aber wer sie aufnimmt, wird gleichwohl dem Vorwurf ausgesetzt bleiben, daß er aus der Diskussion der zwanziger und dreißiger Jahre theologisch nichts gelernt habe. Ist aller bleibenden Aktualität zum Trotz nicht längst das Urteil über dieses Unternehmen gesprochen? Sind der Worte nicht genug gewechselt? Sollte man sich nicht ein für allemal durch K. Barths leidenschaftliches „Nein!" zurückrufen lassen und seinen Rat beherzigen, daß man nur „in einer letzten Uninteressiertheit an dieser Sache" rechte Theologie treiben kann 2 ? Man wird gut daran tun, solche Warnungen auch heute nicht zu überhören. Der Respekt vor dem leidenschaftlichen theologischen Engagement, mit dem hier Warnzeichen aufgerichtet, Entscheidungen gefordert und herbeigeführt wurden, verwehrt es uns, daß wir uns aufs Neue unbefangen auf ein Gebiet wagen, vor dessen Abgründen laut genug gewarnt worden ist. Die Diskussion innerhalb und außerhalb der dialektischen Theologie sollte nicht vergeblich gewesen sein. Gerade darum dürfen jedoch die Akten hierüber nicht geschlossen bleiben, als seien diese Fragen ein für allemal erledigt und der theologischen Aufmerksamkeit nicht mehr würdig. Unter dem Eindruck der Argumentation K. Barths kam es weithin zu einem stillschweigenden Einverständnis, die aufgeworfenen Fragen in diesem Sinne als beantwortet anzusehen. Sie galten als theologisch illegitim, als unfruchtbar und irreführend. Man ging ihnen möglichst aus dem Wege. Die Gegenpositionen gewannen den Charakter eines Außenseitertums. Das einst so leidenschaftlich geführte Gespräch erstarrte in der Rekapitulation des eigenen Standpunktes und in einer an Schlagworten 1 2
E. Schlink, Der Mensch in der Verkündigung der Kirche, 1936, S. 151. K.Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner, ThEx 14 1934, S.13.
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orientierten Polemik. Die Zeit, in der hier um theologische Entscheidungen, um die Sache der Theologie gerungen wurde, schien vorbei zu sein. Entsprang diese Ruhe nach dem Sturm wirklich der Klärung des theologischen Sachverhalts, oder war sie doch nur ein Zeichen der Ermattung, der freiwilligen Zurückhaltung angesichts eines unerquicklichen Streites? Darf man annehmen, daß die Sache entschieden und damit bewältigt ist, oder muß man befürchten, daß sie als unbewältigte Vergangenheit der Theologie immer wieder zum Verhängnis werden kann? Im Hinblick auf die gegenwärtigen Tendenzen und Bewegungen im theologischen Gespräch ist dies keine müßige Frage, denn hier zeigt sich unverkennbar eine neue Hinwendung zu jenen umstrittenen Fragestellungen 3 . Will man darin nicht lediglich den Ausdruck theologischer Naivität und Unverantwortlichkeit sehen, dann wird man die theologische Diskussion an dieser Stelle erneut aufnehmen müssen. Denn der Sache der Theologie ist nicht damit gedient, daß man bestimmte Fragestellungen schon darum ablehnt, weil die Theologie durch sie auf einen falschen Weg geraten könnte. Sie kann auch auf falsche Wege geraten, weil sie das Fragen unterläßt. Daß es mit einem apodiktischen Nein, mit dem Abbruch der Diskussion, mit ihrer Tabuisierung nicht getan ist, hat nicht zuletzt wiederum K. Barth selbst deutlich genug gemacht auf seinem langen Weg durch die „Kirchliche Dogmatik". Das Urteil „erledigt" mag seinen wohlerwogenen Sinn haben für den, der durch diese Diskussion hindurchgegangen ist. Für die nachwachsende Generation hat es als solches noch keine Überzeugungskraft. Entscheidungen lassen sich zwar wiederholen und müssen gegebenenfalls wiederholt werden, sie lassen sich aber nicht vererben. So ergibt sich naturgemäß für jede neue Generation, will sie nicht einem starren Traditionalismus verfallen, die Pflicht, in ihrer eigenen Situation die überkommenen Entscheidungen zu prüfen und in dieser Prüfung eigene Entscheidung zu vollziehen. Wenn K. Barth vor einigen Jahren in seinem Widerspruch gegen R. Bultmann und P. Tillich erneut „an Stelle alles weiteren Herumstolperns in der Sackgasse" zu Entscheidungen aufrief „ähnlich denen, die vor mehr als vierzig Jahren in der Theologie fällig wurden und zu vollziehen waren" 4 , dann forderte er mutatis mutandis zur Wiederholung seiner eigenen theologischen Entscheidung auf. Mit weldiem Redit? Wir können diese Aufforderung sinnvollerweise nur in der Weise ernstnehmen, daß wir den Sinn und die Tragweite, das Recht oder auch das Unrecht jener früheren „Entscheidungen" zu verstehen suchen, d. h. daß wir von der in der verhandelten Sache selbst liegenden Aufforderung her die hier geführte Diskussion erneut bedenken. Hier 3 Vgl. dazu jetzt audi Ch. Gestrich, Die unbewältigte natürliche Theologie, ZThK 68 H. 1 1971, S. 82—120. 4 K. Barth, Rudolf Bultmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen. Vorbemerkung zur 2. Auflage 1964, S. 6.
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geht es um nichts anderes als um das rechte Verständnis der Aufgabe der Theologie. Es sei von vornherein darauf hingewiesen, daß die Stichworte „Anknüpfung" und „natürliche Theologie" nur als indirekter Hinweis auf den fraglichen Sachverhalt zu verstehen sind. Sie gelten nicht zu Unrecht als ein Vokabular, das die Auseinandersetzung eher verwirrt als klärt. Wenn E. Brunner mit seiner resignierenden Feststellung recht hat, der Begriff des Anknüpfungspunktes sei zu einer Art theologischem Gespenst geworden, „über das man alles und jedes sagen kann, wenn5s nur recht gruselig ist" 5 , dann ist ein fruchtbares Gespräch über diese Sache im Rahmen dieser Begrifflichkeit nicht mehr gut möglich. Das mit so vielerlei Inhalten, Urteilen und Assoziationen belastete Schlagwort vermittelt nur noch einen von der Parteien Gunst und H a ß verzerrten Sachverhalt. Es schafft von vornherein Frontstellung und ist kaum geeignet, Mißverständnisse auszuräumen. Gleichwohl kann auf den Begriff der Anknüpfung in unserem Zusammenhang nicht verzichtet werden. Er gehört nun einmal in die Geschichte dieser Diskussion. Er hat in ihr eine entscheidende Rolle gespielt, nicht nur als Kennzeichnung des von E. Brunner vertretenen theologischen Programms, sondern als eine Art Signalbegriff, der auf eine bestimmte theologische Aufgabe bzw. auf einen bestimmten Sachverhalt innerhalb des Verkündigungsgeschehens hinwies. Mag er sich daher auch als sachlich verfehlt oder doch als interpretationsbedürftig erweisen, so behält er doch seine Bedeutung als Hinweis auf den strittigen Sachverhalt. Viele Mißverständnisse in der Diskussion um die Frage der Anknüpfung hängen einfach damit zusammen, daß man dieses Problem isoliert betrachtete und den theologischen Zusammenhang aus den Augen verlor, in dem es gesehen werden muß. Es hat seinen Ort in der theologischen Anthropologie und muß in allen seinen Voraussetzungen und Konsequenzen in diesen übergeordneten Zusammenhang eingeordnet bleiben. Sachlich gesehen geht es auch hier um nichts anderes als um das rechte Verständnis des Offenbarungs- und Verkündigungsgeschehens, um die Frage nach dem im Kerygma angesprochenen Menschen, um die Bedeutung der Christologie für die Anthropologie. Versteht man die Frage der Anknüpfung innerhalb dieses Zusammenhangs, dann wird man hier weder von einem Randproblem sprechen können noch von einer überholten Fragestellung. Die gegenwärtige hermeneutische Diskussion hat ihre Wurzeln nicht zuletzt in jener theologischen Besinnung, die sidi in der Diskussion um den sogenannten „Anknüpfungspunkt" zu Worte meldete. Es zeigt 5 E. Brunner, Banalität oder Irrlehre? Zum Problem der Anthropologie und des Anknüpfungspunktes, in: Kirdienblatt für die reformierte Schweiz, 96. Jg. 1940 Nr. 17, S. 260.
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sich darin bei allem Wandel doch auch die Konstanz einer Fragerichtung, die letztlich auf eine in der Sache der Theologie selbst liegende Nötigung zurückzuführen ist. Theologie dient ja vor allem anderen der Verständigung über das Wort, das Glauben begründet. Mit dieser allgemeinen prinzipiellen Aussage, die natürlich der näheren Erläuterung bedarf, soll zunächst nur auf den inneren Beweggrund hingewiesen werden, der zur Theologie führt und sie lebendig erhält. So vielfältig ihre Problemstellungen auch sein mögen, so widersprüchlich sie sich in ihrer individuellen Gestaltung darstellt, ihre innere Einheit, ihre Herkunft und ihren Auftrag hat sie allein in dem Geschehen der Zuwendung Gottes zum Menschen. Es geht in ihr also um die Bewegung der menschlichen Existenz ex fide in fidem. Diese „Zwischenbestimmung" verbietet es der Theologie von vornherein, in sich selbst zur Ruhe zu kommen. Dem Gottesvolk ist zwar Ruhe verheißen und der Glaube schafft Ruhe, aber er kommt als angefochtener und als lebendiger Glaube in der Zeit nie zur Ruhe der Fraglosigkeit. Fraglose Selbstgewißheit wäre in dieser Situation identisch mit Gedankenlosigkeit. Die Selbstgewißheit des Glaubens schließt daher die fragende Vergewisserung nicht aus, sondern ein, wenngleich die Gewißheit nicht aus dem Fragen kommt, sondern aus der vernommenen Antwort, aus dem jeweils neuen Hören auf Gottes Wort. In diesem Hören geschieht die radikale Infragestellung des Menschen wie auch die Beantwortung des Menschen in seiner je schon erfahrenen Fragwürdigkeit. Daß das rechte Hören das rechte Fragen mit einschließt, darin liegt letzten Endes die Legitimation der Theologie überhaupt. Theologie hat zu fragen nach dem Grund des Glaubens, nach dem Sinn des Wortes Gottes, nach der rechten Ausrichtung des Wortes Gottes in der Verkündigung. Zugleich aber zeigt sich hier an entscheidender Stelle die Hilflosigkeit und Ohnmacht aller Theologie angesichts der Unverfügbarkeit des wirklichen Hörens, angesichts des autoritativen Begegnens des Wortes Gottes, das durch kein menschliches Fragen herbeigeführt oder a priori erhellt werden kann. Die Theologie wird hier an die Grenze erinnert, die ihr gesetzt ist. Sie hat nicht den Schlüssel, der das Tor zum Glauben öffnen könnte. Sie bereitet nicht das Hören des Wortes vor, sondern ihre Aufgabe ist immer wieder selbst das Hören des Wortes, das Fragen nach dem Wort, dem der Glaube verbunden ist. Der von Gottes Wort herkommende und an Gottes Wort gewiesene Glaube ermöglicht und fordert Theologie. Sofern sie im Rahmen dieser Ermöglichung und dieser Forderung bleibt, ist sie rechte Theologie. Als rechte Theologie erweist sie sich darin, daß sie nicht willkürlich fragt, sondern notgedrungen, daß sie sich nicht nur von der Glaubenslosigkeit, sondern primär vom Glauben selbst beunruhigen läßt, und daß sie sich in all ihren Entscheidungen von jener Bewegung ex fide in fidem bestimmen läßt. 14
In dieser grundlegenden Bewegung, innerhalb derer Theologie als Verständigung über den Glauben gefordert ist, geht es um das Gottsein Gottes und dementsprechend um das Menschsein des Menschen. Daß beides zur Geltung kommt und daß das eine mit dem anderen in der rechten Weise wahrgenommen wird, ist das Kriterium dafür, ob die Theologie auf dem rechten Wege ist. Die einseitige Betonung der Gottheit Gottes, in deren Konsequenz vom Menschsein des Menschen nur nodi verneinend gesprochen werden kann, mag als Protest gegen eine anthropozentrische Theologie, die den Menschen auf Kosten Gottes groß macht, ihr bedingtes Recht haben. Der Versuchung zur Synthese zwischen Gott und Mensch muß mit dem Hinweis auf den Abgrund, auf die Diastase, begegnet werden. Aber die bloße Antithese ist in sich ebenso unhaltbar wie der Anthropozentrismus. Die Aufgabe der Theologie besteht darum nicht nur darin, die Jenseitigkeit Gottes zum Ausdruck zu bringen, sondern zugleich damit seine aktuelle Gegenwart; denn das Evangelium bezeugt die Jenseitigkeit Gottes nur so, daß sie in dem Menschen Jesus von Nazareth zur bedrängenden und befreienden Nähe wird. Die Theologie ist darum erst dann eigentlich bei ihrer Sache, wenn sie dieser Bewegung Gottes zum Menschen hin mit allen ihren Konsequenzen für das Verständnis des Menschen nachgeht. Theologisches Fragen und Antworten kommt also nicht am Anthropologischen vorbei. Nicht das kann die entscheidende kritische Frage an die Theologie sein, ob sie sich als Anthropologie versteht, sondern was sie damit ausdrücken will, d. h. ob sie ernst damit macht, daß es ihr dabei immer um das Gottsein Gottes geht. Die Theologie hört auf, Theologie zu sein, wenn es ihr nur um den Menschen geht, um seine Selbstdeutung und Selbstverwirklichung, in deren Rahmen Gott aufhört, das den Menschen angehende souveräne Gegenüber zu sein. Aber sie hört audi auf, rechte Theologie zu sein, wenn sie die „Menschenfreundlichkeit" Gottes übergeht. Hinter dem immer wieder erhobenen Vorwurf gegenüber einer „anthropologisch orientierten" Theologie steckt, wenn er prinzipiell gemeint ist, ein Mißverständnis des Offenbarungsgeschehens. Hier wird übersehen, daß Gottes Wort selbst „anthropologisch" orientiert ist, so daß die Theologie gar nicht anders Theologie sein kann als daß sie ihm darin folgt. Wie könnte Gottes Zuwendung zum Menschen verstanden werden, wenn nicht der Mensch in ihr sich selbst erkannt wüßte als Mensch vor Gott, d. h. als Mensch unter dem Gericht und unter der Verheißung seines Wortes? Um diese Orientierung der Anthropologie geht es in der Theologie. Ihr Richtpunkt ist also nicht einfach die Situation des Menschen, wie er sie selbst versteht, sondern der vom Worte Gottes betroffene, gezeichnete, „gerichtete" Mensch. Aber indem es um das Erkennen dieses Von-Gotterkannt-Seins geht, wird die menschliche Existenz ante fidem nicht ein15
fach ausgeschaltet oder neutralisiert. Sie ist in diesem Geschehen ganz dabei als radikal verneinte und als unbegreiflich bejahte. Gottes Wort begegnet als autoritatives Wort ja nicht in der Weise einer Verfügung über den Menschen, sondern als Anrede, die Antwort fordert, als Krisis, in der die Entscheidung fällt, als Zusage, die ergriffen wird. In der Frage nach diesem Wort, das die Entscheidung herbeiführt, ist also immer schon die Frage nach dem Menschen, den dies Wort zur Antwort ruft, mitgegeben. Indem das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie erkannt wird, ist ihr zugleich der Mensch vor Gott zur Aufgabe gemacht. Mit diesen kurzen Erwägungen zur Aufgabe der Theologie sei der Sachverhalt wenigstens in Umrissen angedeutet, um dessen Herausarbeitung und theologische Würdigung es in der Diskussion um das Anknüpfungsproblem geht. Es fehlt bis heute eine Untersuchung, die die unter diesen Gesichtspunkten geführte Diskussion in ihrem Zusammenhang darstellt und in ihren theologischen Grundlagen zu klären versucht. D a ß es an der Zeit ist, jener nicht nur theologiegeschichtlich interessanten Auseinandersetzung gründlicher nachzugehen, als dies bisher geschehen ist, bedarf im Hinblick auf die heutige Situation der Theologie keiner besonderen Begründung. Der Vorstoß der dialektischen Theologie galt ja zweifellos der Überwindung der anthropologischen Fragestellung innerhalb der Theologie. Und zeigt nicht auch das Auseinanderbrechen dieser theologischen Kampffront gerade in dem Augenblick, als diese Fragestellung erneut aküt wurde, daß das Gesetz, nach dem sie angetreten war, dies nicht zulassen konnte? Nicht alle unmittelbar Beteiligten sind darin einer Meinung. Gerade diese Frage ist zu klären: Wie kam es zu jenem Ubergang zur theologischen Anthropologie, an dem sich die Geister schieden? Wurde hier erneut die Sache der Theologie aus den Augen verloren, oder verschafft sich hier nur eine zu Unrecht oder mit unzureichenden Mitteln unterdrückte Fragestellung erneut Gehör? Das Bemerkenswerte an der Entwicklung der Theologen, die von der dialektischen Theologie ausgingen, ist ja dies, daß keiner von ihnen sich auf die Dauer dem anthropologischen Problem entziehen konnte, daß jeder ihm auf seine Art schließlich doch zu seinem Recht zu verhelfen suchte. Es wäre gewiß naheliegend, von dem in seiner A r t konsequenteren und als Antithese zu K . Barth ausgeprägteren Denkweg Fr. Gogartens auszugehen. Dennoch bildet der theologische Weg und das Programm E. Brunners den Mittelpunkt unserer Überlegungen®. Dies geschieht aus 4 Eine umfassende Darstellung der Anknüpfungsdiskussion müßte auch den G e sprächsbeitrag Rudolf Bultmanns zum Problem des Vorverständnisses, der natürlichen Theologie und der A n k n ü p f u n g im Widersprudi einbeziehen; ebenso Paul Tillidis V e r ständnis der Methode der Korrelation und die von Paul Althaus nachdrücklich gegenüber Barth vertretene und durchgehaltene Lehre v o n der Ur-Offenbarung.
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einem doppelten Grund. Einmal, weil E. Brunners Rolle in dieser Diskussion und seine theologische Entwicklung in ihrer Eigenständigkeit nodi kaum genügend gewürdigt worden sind. Entweder sieht man ihn im Zusammenhang der frühen dialektischen Theologie einseitig im Gefolge K . Barths oder, im Blick auf seine Betonung der eristischen Theologie, allzusehr im Gefolge Gogartens. Beide Zuordnungen sind gewiß nicht ohne sachlichen Grund, aber sie verwischen das eigentümliche Profil seines theologischen Denkens, wie es sich schon in seinen Anfangsschriften zeigt. Der andere Grund liegt in der Bedeutung, die der speziell von Brunner hervorgerufenen Auseinandersetzung um die Frage der „Anknüpfung" zukommt. War das „Nein" K . Barths zu Brunners theologischem Programm ein Mißverständnis, dessen Auswirkungen die theologische Atmosphäre bis heute vergiften, oder wurde hier eine notwendige Entscheidung getroffen? Die Tatsache, daß es den Kontrahenten damals nicht gelang, einander wirklich zu verstehen, ist schon Anlaß genug, die jeweiligen Denkvoraussetzungen, die eigentliche theologische Absicht und den Denkweg einer Prüfung zu unterziehen 7 . Diese Aufgabe soll hier im Blick auf E. Brunners Weg zur theologischen Anthropologie durchgeführt werden. D a es hierbei gerade darum geht, die Entwicklung des theologischen Denkens, seine Nuancierungen und Wandlungen im Hinblick auf unsere Fragestellung in den Blick zu bekommen, bestimmt sich von daher auch das methodische Vorgehen: die systematisch-sachliche Fragestellung hält sich an den Zusammenhang ihrer zeitlichen Entwicklung. 7 R. Roessler geht in seiner Arbeit „Person und Glaube. Der Personalismus der Gottesbeziehung bei Emil Brunner", 1965, ebenfalls von der Frage nach dem Gegensatz zwischen Barth und Brunner aus. Seine systematische Analyse verfolgt nidit die Entwicklung des Anknüpfungsproblems, berührt sich aber mit ihm.
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I. Vorbemerkung zum Werk Emil Brunners Emil Brunners theologische Lebensarbeit liegt heute abgeschlossen vor uns. Er hat dabei einen Weg zurückgelegt, dem es nicht an innerer Konsequenz mangelte. Brunner war bei aller Leidenschaft, mit der er das Entweder-Oder verfechten konnte, nicht der Typ eines Denkers, der zu Extremen neigt und darum immer wieder zur Selbstkorrektur und zum radikalen Bruch getrieben wird. Er war und blieb Dialektiker in dem Sinn, wie er es als notwendige Denkform der Theologie erkannt hatte, daß sie den Widerspruch abbilden müsse, den Widerspruch zwischen Gott und Mensch, zwischen Offenbarung und Vernunft, zwischen Gnade und Verantwortlichkeit. Kein Wunder, daß diese systematische Ausgewogenheit und das damit verbundene starke Element der Rationalität ihm einst den Ruf eintrugen, der eigentliche systematische Kopf der dialektischen Theologie zu sein. Das war wohl etwas voreilig geurteilt, und es steckt sicher audi ein Körnchen Wahrheit in dem Vorwurf, daß er „vor der Zeit" zum Systematiker der dialektischen Theologie wurde 8 . Der Bruch mit K. Barth und die persönliche Tragik, die fortan über dem Verhältnis beider Theologen zueinander lag, hängt jedoch zweifellos gerade mit dieser Eigenart seines Denkens zusammen, die dem völlig anders gearteten Typus des Bardischen Denkens fremd blieb. Man kann in der Wertung anderer Meinung sein als H . Bouillard, aber man wird den Gegensatz der beiden kaum treffender charakterisieren können, als er es getan hat: „II n'a ni le don prophétique, ni la puissance créatrice, ni la fougue, ni l'éloquence de Barth, mais une pensée plus logique, plus ordonné, plus nuancée, et une remarquable clarté d'exposition. C'est ,l'esprit de l'eau' en face de ,l'esprit du feu'." 9 Es ist ein distanzierteres, sich oft wiederholendes Denken, das nicht immer neu aus dem Augenblick heraus geboren wird, sondern die einmal geprägte Formulierung liebt. Aber es will trotz aller formalen Rationalität doch verstanden sein als „gläubiges Denken" 10. Ein Denken, das den Widerspruch festhalten und umgrenzen möchte, und das sich selbst dabei ernst nimmt, wird nicht am Problem der Ver8 Th. L. Haitjema, K. Barths „kritische" Theologie, 1926, S. 109; vgl. Barths Kritik an der Schleiermacherdarstellung Brunners in ZZ H. VIII 1924, S. 54 ff. 9 H.Bouillard, K.Barth. Genèse et évolution de la théologie dialectique, Aubier 1957, S. 175. 10 D I, S. 6.
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mittlung vorbeigehen können, an jenem entscheidungsvollen zweideutigen „und", das zwischen Gott und Mensch, zwischen Vernunft und Offenbarung, zwischen Natur und Gnade steht. Es muß darum noch nicht zu einer Vermittlungstheologie alten Stils führen, in der der Mensch sidi selbst Gott vermittelt. Aber der Vorwurf wird nicht ausbleiben — und er ist nicht ausgeblieben —, daß ihm die Eindeutigkeit der Orientierung an Gottes Wort verlorengehe. Wer den Anfang und das Ende der theologischen Entwicklung Brunners überblickt, kann schon den Eindruck gewinnen, daß der, der einst auszog, um „den Krebsschaden im Innern unserer Innerlichkeit' " zu bekämpfen 1 1 , schließlich doch audi wieder davon infiziert wurde. So sieht G. Gloege etwas Tragisches in dieser „Theologie der gläubigen Rationalität", der es kaum gegeben sei, die Selbstauflösung der protestantischen Dogmatik aufzuhalten 12 . Aber sollte damit wirklich das letzte Wort in dieser Sache schon gesprochen sein? Brunner hatte jedenfalls nicht das Bewußtsein des Scheiterns, sondern sah sich erst am Anfang einer Aufgabe stehen, die der Theologie unausweichlich aufgegeben ist. Das Stichwort, mit dem er für sich selbst und für die nachfolgende Generation diese Aufgabe fixierte, hieß „missionarische Theologie". Mit diesem Stich wort verband sich ihm die Aufgabe einer theologischen Anthropologie, in der das Selbstverständnis, die geistige Situation des Hörers der Botschaft mit bedacht wird. Die Frage, ob er mit dieser Aufgabenstellung seinem ursprünglichen Ansatz untreu geworden ist, wird uns noch zur Genüge beschäftigen. Er selbst hat sie verneint. Zwar erkennt er an, daß es Veränderungen in seinem Denken gegeben hat. Das gehört ja zu jedem lebendigen Denken, daß neue und klarere Einsichten in bestimmte Sachverhalte gewonnen werden. Jeder bedeutsame Wechsel im geistigen Klima nötigt auch die Theologie zu neuer Besinnung und stellt sie vor neue Probleme. Insofern ist die Bewegtheit des theologischen Denkens immer auch ein Reflex der Bewegtheit der Zeit. Brunners schriftstellerisches Werk legt ein eindrückliches Zeugnis ab für sein vielseitiges Engagement in der Bewegung der Zeit 13 . Dennoch legt er Wert auf die Feststellung, daß seine theologischen Grundgedanken sich nicht gewandelt haben 14 . Das ist zumindest ein interessanter Hinweis, der es uns nahelegt, stärker als dies bisher geschehen ist, auf die Kontinuität seines Denkens zu achten, auch wenn eine kritische Prüfung seines theologischen Entwicklungsganges dazu nötigen My 1 , S. 12. VuF 1951/52, S. 76. 1 3 Vgl. die Bibliographie Brunners in: Der Auftrag der Kirche in der modernen Welt. Festgabe für E. Brunner, 1959, S. 349 ff. 14 Vgl. Toward a Missionary Theology. Eigth Article on „ H o w my mind has changed in the last decade", in: The Christian Century, J u l y 6 1949, S. 816—818. 11
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sollte, den Gesichtspunkt der Wandlung, der Umakzentuierung und des Tendenzumschwungs stärker zur Geltung zu bringen. Es ist üblich geworden, Brunners Werk in verschiedene Perioden einzuteilen 15 . Man pflegt dabei von fünf oder gar sechs Perioden zu sprechen, die jeweils durch eine charakteristische Veröffentlichung gekennzeichnet werden 1β . Aber diese Einteilung erweist sich bei genauerem Zusehen als zu oberflächlich. Sie trägt der eigentümlichen Entwicklung Brunners nicht genügend Rechnung. Y. Salakkas Unterscheidung einer vorkritischen (1914—1920), einer dialektischen (1921—1928) und einer eristischen Periode (1929—1937) 17 ist zumindest an den entscheidenden Phasen orientiert, läßt sich aber in dieser Abgrenzung auch nur mit einigen Einschränkungen aufrechterhalten. Die Zeit der theologischen Anfänge wird sich am besten mit dem Kennwort „vordialektisch" bezeichnen lassen. Sie ist nur ein Vorspiel. Erst mit dem Ubergang zur dialektischen Theologie, mit seiner Habilitationsschrift „Erlebnis, Erkenntnis und Glaube" (1921), gewinnt Brunners Theologie ihr spezifisches Gewicht. Die nun folgende „dialektische" Periode zeigt Brunner in der Kampfgenossenschaft mit K. Barth und seinen Freunden. Es ist nicht einfach, diese Periode fest abzugrenzen. Sofern dialektische Theologie nichts anderes bedeutet als das Festhalten am Paradox des Offenbarungsgeschehens, hat Brunner seine Theologie immer dialektisch genannt. Sofern darunter die programmatische Weggemeinschaft mit den Freunden verstanden wird, zeigt sich der Bruch spätestens 1929 mit Brunners Formulierung der „anderen Aufgabe der Theologie" als theologischem Programm. Wenn man nun von einer Periode der „Eristik" sprechen kann, muß man sich allerdings darüber klar sein, daß Brunner Begriff und Sache der Eristik durchaus im Zusammenhang der Dialektik verstanden wissen will! Es wird sich zeigen, daß sich mit der Hinwendung zur Eristik keineswegs eine plötzliche Wendung in Brunners Denken vollzogen hat, sondern daß ihre Voraussetzungen schon in den dialektischen Frühschriften erkennbar sind. Das vorherrschende Merkmal dieser zunächst von 1929—1937 datierten Periode 18 ist die Frage nach dem in der Verkün15 Vgl. etwa H. Volk, E. Brunners Lehre von der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit des Menschen, 1939, S. 9 ff.; L. Volken, Der Glaube bei E. Brunner, Studia Friburgensia, N F H . 1 1947, S. 8 ff.; A. Szekeres, De Structuur van Emil Brunners Theologie, Utrecht 1952, S. 5 ff. ; H . G. Hubbeling, Natuur en Genade bij Emil Brunner, Assen 1956, S. 7 ff. 16 Z.B. 1. Periode: Das Symbolische in der religiösen Erkenntnis (1914). 2. Periode: Erlebnis, Erkenntnis und Glaube (1921). 3. Periode: Die Mystik und das Wort (1924). 4. Periode: Religionsphilosophie evangelischer Theologie (1927). 5. Periode: Wahrheit als Begegnung (1938). 17 Y. Salakka, Person und Offenbarung in der Theologie Emil Brunners während der Jahre 1914—1937. Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft 12, Helsinki 1960. 18 1937 erschien „Der Mensch im Widersprudi. Die christliche Lehre v o m wahren und wirklichen Menschen". Mit diesem Buch wollte Brunner das in N u G gegebene Ver-
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digung zu treffenden Menschen, also die Frage der theologischen Anthropologie und in engem Zusammenhang damit, unter dem Einfluß der IchDu-Philosophie F. Ebners, das immer stärkere Geltendmachen der personalen Korrespondenz als der eigentlichen biblischen Grundkategorie. In den unter dem programmatischen Titel „Wahrheit als Begegnung" 1938 veröffentlichten sechs Olaus-Petri-Vorlesungen führt Brunner diese neue Einsicht prinzipiell durch. Sie stellen zweifellos einen Höhepunkt in seinem theologischen Denken dar: die Entdeckung des christlichen Wahrheitsverständnisses als Begegnungswahrheit. Damit fand er, wie er einmal bemerkt, den Schlüssel für ein neues Verständnis aller Probleme. Das mitreißend geschriebene, in seiner scharfsichtigen Kritik unüberholte Büchlein hinterläßt einen tiefen Eindruck und hat heute noch theologische Wucht. In der Folgezeit versuchte Brunner vor allem, die hier gewonnenen Erkenntnisse systematisch durchzuführen. Als innere Einheit und als umfassender Rahmen zeigt sich durchgehend der spannungsreiche Gegensatz und das Miteinander von Gott und Mensch. Die Frage nach der „religiösen Erkenntnis" ist von Anfang an der Kristallisationspunkt seines Denkens. Sie variiert sich in der Herausarbeitung des Gegensatzes von Glaube und Erfahrung, von Wort und Mystik, in dem Aufweis der Beziehung von Du und Ich, von Wort und Antwort, von Glauben und Verstehen. Immer geht es dabei um die Weise der Begegnung des einen mit dem andern. Es ist hier nicht unsere Absicht, einen Überblick über die Gesamtentwicklung der Theologie E. Brunners zu geben19. Zwar wird das Gesamtwerk, soweit es der Klärung unserer Fragestellung dient, mit in unsere Untersuchung einbezogen. Aber es steht nicht als solches zur Diskussion. Das leitende Interesse ist die mit dem Begriff „Anknüpfung" bezeichnete Problematik, die zunächst bis in ihre Anfänge zurückverfolgt werden soll. Für die Beurteilung der Auseinandersetzung zwischen Brunner und Barth wird viel von der Klärung dieser Frage abhängen, ob es sich von Anfang an um eine prinzipielle Differenz in der Auffassung des Offenbarungsgeschehens handelte, die eines Tages notwendig zum Vorschein kommen mußte, oder ob sich die Differenz erst sekundär einstellte vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Ausgangspunktes. sprechen einer vollständigen theologischen Anthropologie, in der das Programm der Eristik durchgeführt ist, einlösen. 19 Eine instruktive Darstellung der Entwicklungslinien seines Denkens und eine systematische Analyse seiner Gesamtkonzeption bietet R. Roessler, a.a.O., S. 19—71.
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II. Die Theorie des religiösen Erkennens in der vordialektischen Zeit A) Denkvoraussetzungen P. Tillich pflegte, auf eine seiner Jugendschriften angesprochen, zu antworten: „Das habe idi vor hundert Jahren geschrieben." Mit ähnlichen Empfindungen könnte auch Brunner später auf sein Erstlingswerk zurückgeblickt haben, das er als dreiundzwanzigjähriger schrieb: „Das Symbolische in der religiösen Erkenntnis" 1 . Es handelt sich in dieser L. Ragaz, „dem Lehrer und Führer", zugeeigneten Schrift um Beiträge zu einer Theorie des religiösen Erkennens. Der Horizont ist weit gespannt, aber er reicht, das sei gleich vorweg gesagt, nicht über den Horizont des theologischen Interesses vor dem Ersten Weltkrieg hinaus. Die Frage nach der religiösen Erkenntnis stellt sich ihm als Frage nach der Wahrheit der Religion — nicht als Frage nach der Wahrheit des christlichen Glaubens. Brunner will eine selbständige Theorie des religiösen Erkennens entwickeln, und zwar in der Weise, daß er im religiösen Bewußtsein nach Kriterien für die Wahrheit religiöser Aussagen sucht. Ihm schwebt dabei eine eigenartige Synthese von Kant und Schleiermacher vor 2 . Schleiermachers Grundthese der Eigentümlichkeit und Selbständigkeit des religiösen Bewußtseins gegenüber allen anderen seelischen Erscheinungen dient ihm „als sichere Basis alles weiteren" 3 . Zugleich aber muß auch in der Abwehr eines schrankenlosen Subjektivismus und letztlich des Illusionsverdachts Kant Rechnung getragen werden, d. h. der Vernunftbegründung der religiösen Gegenstände. Nur darf diese nicht, wie bei Kant, außerhalb des religiösen Bewußtseins gesucht werden, sondern sie hat sich auf dieses selbst zu beziehen, indem sie in ihm Bestandteile aufweist, die „evident, d. h. unmittelbar, unableitbar gültig sind".
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Das Symbolische in der religiösen Erkenntnis. Beiträge zu einer Theorie des religiösen Erkennens, 1914 (abgek. Symb.). 2 A.a.O., S. 5 ff. 3 A.a.O., S. 3; vgl. auch die Sdilußbetraditung: „Ich hoffe, daß wenigstens eines mir gelungen ist, der Überzeugung einen klaren Ausdruck zu geben, daß Religion, religiöses Leben niemals durch philosophische Spekulation ersetzt werden könne. Was der religiösen Erkenntnis zugänglich ist, das ist ihr eigenster Besitz, den sie mit niemand sonst zu teilen braucht, ein Heiligtum, das keinen andern einläßt" (S. 132).
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Brunner ist sich bewußt, daß dieses Unternehmen auf dem idealistischen Erkenntnisbegriff aufbaut, „wonach Wahrheit nicht festgestellt werden kann durch Vergleichung mit der Tatsächlichkeit, sondern lediglich durch Qualitäten des Bewußtseins, durch den Evidenzcharakter" 4 . Diese idealistische Erkenntnistheorie gehört zu den Prämissen, von denen er ausgeht, ohne sie weiter auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen 5 . Nur innerhalb dieses Denksystems sieht er die Selbständigkeit der Religion gewährleistet 8 . Mit dieser idealistischen Denkvoraussetzung verbindet sich eine zweite: die Intuitionsphilosophie H . Bergsons. Brunner übernimmt von dort die Kritik des erkenntnistheoretischen Intellektualismus. Dieser „verfälscht die Wirklichkeit" mit seinem Grundsatz, „daß der Verstand einziges und zureichendes Mittel der Erkenntnis der Wirklichkeit sei". Das ist ein Scheinaxiom, „einer der verhängnisvollsten Irrtümer in der Geschichte des menschlichen Denkens" 7 . Demgegenüber geht es um die Herausarbeitung eines neuen Wahrheitsbegriffs durch die Erschließung „tieferliegender Erkenntnisquellen", durch die „ein unmittelbares adäquates Wissen" vermittelt wird; ein Wissen, das nicht rational bewiesen, sondern nur erlebt und von daher dem gegenständlichen Bewußtsein zugänglich gemacht werden kann. Es handelt sich um die besondere Erkenntnisform der inneren Anschauung, der Intuition8. Sie wird zum eigentlichen Schlüsselbegriff der ganzen Untersuchung, da sich in ihr jenes Wissen und Wahrheitsbewußtsein zugleich gegenwärtig hält, auf dem die Theorie der religiösen Erkenntnis aufbaut.
B) Das „Geistige" im Zusammenhang des Religionsbegriffs Die Aufgabe, die sich von solchen Voraussetzungen aus stellt, ist deutlich: Es geht darum, diejenigen Motive aufzufinden, die zur Entstehung eines religiösen Bewußtseins führen, den Prozeß der religiösen Vorstellungsbildung zu verfolgen und aus ihm selbst heraus seine Wahrheitskriterien zu eruieren. Der Weg, auf dem allein sich dies durchführen läßt, ist die Analyse des Bewußtseins1. 4
A.a.O.. S. 6 ff. Er stützt sich dabei vor allem auf die Arbeiten Sigwarts, Windelbands und Rickerts. β So bemerkt er bei der Übernahme des idealistischen Religionsbegriffs: „Wir stellen uns wiederum . . . auf den Boden des Idealismus, der allein für die Selbständigkeit der Religion Raum bietet . . . " (S. 9 f.). Zu den idealistischen Voraussetzungen vgl. audi S. 42 und S. 47 ff. 7 A.a.O., S. 126 ff. 133. V. 8 A.a.O., S. 129 if. Brunner macht selbst auf die Verwandtschaft mit Schleiermachers Begriff „Einheit von Gefühl und Anschauung" aufmerksam (a.a.O., S. 50 Anm. 1). 1 A.a.O., S. 7. 12. 66. 5
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Wie entsteht nun ein religiöses Bewußtsein? „Wie kommt der Menschengeist zu religiösem Verhalten?" Das ist die Kardinalfrage. Und auch hier bleibt Brunner ganz in der Bahn, die ihm das Gesetz, nach dem er angetreten ist, vorschreibt: Die Religion hat ihren Grund in der Selbstbeurteilung, in der Selbstbesinnung des Menschen2. Und zwar erscheint sie im Zusammenhang des „selbständigen Geisteslebens" — ein Begriff, den Brunner von R. Eucken übernimmt und mit dem die geistige Persönlichkeit in ihrer Freiheit, Naturüberlegenheit und Normbestimmtheit gekennzeichnet sein soll. Die Religion ist nun nicht etwa identisch mit diesem selbständigen Geistesleben — dann wäre sie ja nichts anderes als das Phänomen der Ethik oder der Kunst oder der Wissenschaft. Sie ist vielmehr „die Art, wie ich mir derselben in innerer Anschauung und im Gefühl bewußt werde", oder anders ausgedrückt: Sie ist der Vorgang, in dem der Mensch seiner „als ,geistiger Persönlichkeit' und eines selbständigen Geisteslebens' in sich bewußt wird" 3 . Das erscheint noch recht kompliziert und unbestimmt. Es wird etwas deutlicher durch den Hinweis, daß der persönliche Geist, wie er uns durch die Intuition zum Bewußtsein kommt, ein transsubjektives Element enthält: Er verweist auf ein universelles geistiges Sein, „von dem das freie Ich in eigentümlicherweise bestimmt und abhängig ist". Nun scheint der Weg mit Schleiermacher zum religiösen Urphänomen gebahnt. Das Gefühl, von dem diese Intuition notwendig begleitet ist, ist die Ehrfurcht: Das „ehrfürchtige Anschauen der Zugehörigkeit und Abhängigkeit des freien Ichs von einer übernatürlichen Geisteswelt, — das ist das Grunderlebnis des religiösen Geistes, und alles innere und äußere Geschehen ist nur insofern ein religiöses zu nennen, als es an diesem Urgeschehen Anteil hat" 4. Die intuitive Selbstbesinnung, in der der Mensch sich selbst in seiner Geistigkeit durchsichtig wird, wird also unversehens zum religiösen Urakt! Brunner zögert nicht, diesen Vorgang ein unmittelbares Gottesverhältnis zu nennen, und es hat den Anschein, daß es ein Gottesverhältnis, eine Gotteserfahrung nur gibt in der Weise dieses Vorgangs. Denn er ist das grundlegende Geschehen. Ohne ihn ist Religion überhaupt unmöglich. Aus den mannigfaltigen Erscheinungsformen dieses Grunderlebnisses bildet sich der eigentümliche Inhalt der jeweiligen Gotteserkenntnis 5 . Dies alles erinnert sehr an Mystik, und es überrascht daher nicht, daß der junge Brunner den Vorwurf einer subjektiv-mystischen Religionstheorie gelassen hinnimmt. Er sieht in dieser Art Mystik gerade „das Herz der Religion" und macht Kant seine entschieden antimystische 2
A.a.O., S. 13. 92. A.a.O., S. 13. 40 (im Anschluß an R. Eucken, Hauptprobleme der Religionsphilosophie, 1912). 4 A.a.O., S. 13 f.; vgl. S. 40 und S. 49. 5 A.a.O., S. 14 f. 3
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Denkweise zum Vorwurf 6 . Der spätere leidenschaftliche Kämpfer gegen die Mystik weiß also recht gut, gegen welche Versuchung er kämpft. Es ist in diesem Zusammenhang ungemein aufschlußreich, wenn er im Vorwort zur 2. Auflage seiner Streitschrift „Die Mystik und das Wort" bekennt: „Hätte ich nicht selbst jahrelang an der Grenze des mystischen Landes — und manchmal auch mitten drin — gelebt, so hätte ich dieses Buch weder schreiben müssen noch schreiben können. Es ist der Kampf gegen einen nahen — uns allen sehr nahen Feind . . . Wer sozusagen von Jugend auf an die Vereinbarkeit beider geglaubt, die Bibel im Licht der idealistischen Philosophie und der Mystik, und die Mystiker und Idealisten — vermeintlich — im Licht der Bibel gelesen und geliebt hat, der weiß, wie bitter es ist, einzugestehen, daß diese uns durch die Geschichte so nahegelegte Synthese eine Illusion und vielleicht die gefährlichste aller Versuchungen ist." 7 Man würde Brunner natürlich gänzlich mißverstehen, wenn man diese, dem mystischen Erlebnis nahekommende Intuition als creatrix divinitatis deuten wollte. Er sieht die hier lauernde Gefahr, die jeder vom Subjekt ausgehenden Erkenntnistheorie droht: im Subjekt steckenzubleiben. Alles hängt davon ab, ob die Intuition wirklich mediatrix divinitatis sein kann und ob man dieses Sein-Können am Phänomen des Geistigen selbst aufweisen kann. Brunner ist überzeugt, daß dies möglich ist. Wir stehen hier an der entscheidenden Stelle des ganzen Gedankengangs und haben gerade auf sie unser besonderes Augenmerk zu richten, denn hier sieht sich Brunner zum erstenmal dem Problem der „Anknüpfung" gegenüber! Zwar fällt dieses Stichwort nicht, und die Situation ergibt sich aus einer ganz andersartigen vordialektischen Fragestellung. Aber die Problematik taucht auf. Sie ist gegeben mit dem Begriff des Geistigen. Eine Klärung dieses Begriffes, von der letztlich alles abhängt, erweist sich jedoch als recht schwierig. Brunner gibt sich zwar viel Mühe zu verdeutlichen, was er damit meint. Aber er bleibt dabei doch ganz in jener Problematik gefangen, die diesen Begriff so zweideutig macht. Freilich ist es gerade diese Zweideutigkeit, sein ambivalenter bzw. transzendierender Charakter, der ihm seine Schlüsselfunktion verschafft: Er erschließt den Ubergang vom Endlichen zum Unendlichen, vom Bedingten zum Unbedingten. Er ist die Brücke, die Gott und Mensch verbindet. Wie ist das zu verstehen? Folgen wir Brunners Gedankengang, so ist zunächst festzustellen, daß es hierbei nicht um ein natürlich-psychisches Phänomen, d. h. um ein Geistiges im psychologischen Sinn geht 8 . Es steht vielmehr im Gegensatz zum Natürlichen. Was Geist ist, „kann weder Denken noch Vorstellung lehren, sondern allein jene innere Anschauung, die wir Intuition nennen" 9 . Dementspre« A.a.O., S. 15.6.51. A.a.O., S. 40 Anm. 3.
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My2, S. VI. » A.a.O., S. 59.
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chend stießen wir schon bei der Erörterung des Religions- und Intuitionsbegriffs auf den Begriff der geistigen Persönlichkeit, des persönlichen Geistes bzw. des selbständigen Geisteslebens. Die Eigenart dieses „Geistigen" läßt sich am zweckmäßigsten am Beispiel des Sittlichen darstellen. Das Sittliche erscheint innerhalb des Bewußtseins als Normbewußtsein (kategorischer Imperativ), das den Charakter der absoluten Gültigkeit und der Selbständigkeit gegenüber allem Natürlichen trägt. Damit sind die sogenannten geistigen Werte gekennzeichnet. Sie können nicht aus dem Natürlich-Endlichen abgeleitet werden — ein „Fundamentalsatz aller idealistischen Philosophie", den Brunner akzeptiert 10 . So wie ich mich in der sinnlichen Erfahrung durch ein anderes bestimmt weiß, so erfahre ich mich auch der sittlichen Norm gegenüber als „durch etwas bestimmt". Darin kommt das Merkmal der Objektivität zum Vorschein: Im sittlichen Erlebnis ist eine Objektbeziehung gegeben. Sie kommt nicht erst hinzu als ein Neues, sondern sie gehört konstitutiv zu diesem Erlebnis. Wenn wir uns also unsere so bestimmte „Geistigkeit" intuitiv zum Bewußtsein bringen, so ist uns „ebenso unmittelbar wie ihre qualitative Eigenart auch das Andere gegeben: der Zusammenhang mit einem Umfassenden, das Teilhaben an etwas über uns Hinausreichendem". Im sittlichen Bewußtsein weiß ich mich bestimmt „durch etwas, was nicht ich bin", erfahre ich mich „als Teil eines geistigen Seins". Im Geistigen ist also von vornherein ein transsubjektiver Zusammenhang „von innen her" mitgegeben u . Es ist als Erlebnis des Absoluten, Naturüberlegenen eo ipso Beziehung auf transsubjektive, transzendente Wirklichkeit. Doch was besagt das konkret? Wie ist diese Beziehung, dieser Zusammenhang, diese Teilhabe zu verstehen? Hier zeigt sich der schillernde Charakter dieses Geistigen. Spricht sich etwa in der Erfahrung, „durch etwas, was nicht ich bin" bestimmt zu sein, das gleiche aus wie in der Erfahrung, „Teil" eines „umfassenden geistigen Seins" zu sein? Der Verdacht, daß es letztlich um nichts anderes als um die Identität des geistigen Seins des Menschen mit jenem umfassenden geistigen Sein geht, läßt sich nicht leicht abweisen. Auch Brunner muß diese Schwierigkeit empfunden haben, freilich ohne ihrer Herr zu werden. Der Begriff „Teil" ist ihm selbst nicht geheuer. Er legt ein materielles Verständnis der Beziehung nahe, den Gedanken eines räumlichen Nebeneinanderseins. Darum ersetzt Brunner ihn schließlich wieder durch den Begriff „Moment", um damit die dem „Seelischen" eigentümliche Art des Zusammengehörens auszudrücken, „die man ebensowohl als ein Ineinander wie als ein Nebeneinander beschreiben kann" 1 2 . Aber auch so bleibt die eigentliche Schwierig10 A.a.O., S. 41 ff. Brunner verweist dazu speziell auf W. Windelband, Präludien, 1911 4 (darin vor allem auf „Normen und Naturgesetze"), M. Reisdile, Werturteile und Glaubensurteile, 1900, sowie auf die Arbeiten Euckens und Rickerts. 11 12 A.a.O., S. 48 f. A.a.O., S. 50.
keit bestehen, eben das „Ineinander". Das Momentsein kann den Verdacht einer Identitätsbeziehung nicht ausräumen. Und auch hier zeigt sich erneut eine Unsicherheit Brunners in dieser entscheidenden Verhältnisbestimmung. Er kennzeichnet das Anteilhaben am Transzendenten schließlich als „eine dem Momentsein ähnliche, verwandte Beziehung, als eine irgendwie der geistigen und nicht der räumlichen Ordnung angehörende" 13 . Doch was heißt nun wieder „geistige Ordnung"? Man sollte eine Klärung des Problems erwarten, sobald der erkenntnistheoretisch bestimmte Begriff des universalen geistigen Seins übergeführt wird in den theologischen Begriff des Geistes Gottes. Aber es ist gerade der Ehrgeiz der Darlegungen Brunners, den eingeschlagenen Weg einer erkenntnistheoretischen Begründung konsequent zu Ende zu gehen und durch die Intuition des Menschengeistes Gott selbst in seiner Geistigkeit als „Persönlichkeit" aufzuweisen 14 . So kommt es schließlich zur Gleichsetzung jenes im sittlichen Normbewußtsein mitgegebenen „umfassenden geistigen Sein", das Brunner unter dem Begriff „Überwelt" zusammenfaßt, mit Gott. Gott ist im „Geistigen" mitgesetzt 15 , er ist Geist, „sittlicher Geist". Aber er ist nicht endlicher, sondern un-endlicher Geist 16 . Damit stellt sich die Frage erneut, was das für das Gott-Mensch-Verhältnis zu bedeuten hat. Was hat die differentia specifica „endlich" bzw. „unendlich" zu besagen im Hinblick auf den gemeinsamen Oberbegriff des „Geistes"? Läßt dieser gemeinsame Oberbegriff noch die Aussage eines totaliter aliter zu, oder soll er sie gerade verhindern? Ist der Mensch in seiner Geistigkeit nicht selbst „göttlich" — nur unter den Bedingungen der Endlichkeit? Brunner kann durchaus das religiöse Bewußtsein in dieser Richtung auslegen, wenn er feststellt, daß sich der Mensch in ihm „einerseits als gottverwandt, göttlicher Abkunft (oder dazu ,angelegt, bestimmt') erkennt, andererseits dieses Verhältnis als ein nodi nicht verwirklichtes, erst zu erwerbendes beurteilt" 17 . Darin steckt allerdings ein auffallender Widerspruch. Das, was vor der Klammer steht, bedeutet doch offensichtlich etwas anderes als das, was in der Klammer steht — es ist die Differenz von Teilhabe und Bestimmung, von Wirklichkeit und in Aussicht gestellter Verwirklichung. Man könnte diese Differenz ausgleichen, indem man darauf verweist, daß jede echte Möglichkeit, jedes in Aussicht gestellte Seinkönnen schon Teilhabe voraussetzt, ja Teilhabe ist, eben in der Form der zugestandenen Möglichkeit. Im Werden verwirklicht sich die Vorbestimmung des Seins. Aber das Sich-als-gottverwandt-Erfahren meint dodi offensichtlich mehr als die bloße Seinsmöglichkeit: Es bezeugt schon Seinswirklichkeit. So bleibt die Unausgeglichenheit bestehen, eine Proble13 15 17
A.a.O., S. 57. A.a.O., S. 49 ff. 52 ff. 73. A.a.O., S. 14.
" A.a.O., S. 52 ff. A.a.O., S. 132. 65.
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matik, die uns später erneut begegnen wird bei der Erörterung der ImagoLehre Brunners. Es sind vor allem die gegensätzlichen Gesichtspunkte der Bewußtseinstranszendenz und der Bewußtseinsimmanenz Gottes, mit denen Brunner die Sachlage zu erfassen sucht. Beide sind nach ihm Gegebenheiten des unmittelbaren Bewußtseins. In der Tatsache, „daß ich das Göttliche als ein mir Wesensverwandtes, ein geistiges Sein, erkenne, an dem ich Anteil habe", kommt die Immanenz Gottes zum Ausdruck. Sie wird fixiert in dem Symbol der „Persönlichkeit" Gottes 18 . Es handelt sich also nicht um eine naturalistische, sondern um eine geistige Immanenz, um jenes mystische Element des religiösen Bewußtseins, das als sein Herzstück zu bezeichnen ist. An der Behauptung dieser Art der Immanenz Gottes kommt man nach Brunner nicht vorbei, „sofern eine Beziehung von Gott und Mensch festgehalten werden soll". Die vollständige Aufhebung der Immanenz wäre identisch mit Agnostizismus 19 . Hier wird die erkenntnistheoretische Motivierung der Immanenz deutlich: Gottbezogenheit und Gotteserkenntnis sind nur möglich durch ein Einwohnen Gottes im geistigen Sein des Menschen, also letztlich in einer Art Seinsverbundenheit. Es muß eine Kontaktmöglichkeit bestehen, ein Koinzidenzbereich, ein Teilhabeverhältnis, in dem der Mensch in seiner Wirklichkeit Gottes Wirklichkeit „erfährt", „erlebt", „intuitiv schaut" und so erkennt. „Schauend erfahren wir die Gottheit." 20 Brunner bemerkt zu diesem Schauen, daß „diese Intuition nichts zu tun hat mit dem Schauen von Visionären, Ekstatikern aller Art, überhaupt mit irgend welchem übernatürlichen Schauen". Es ist vielmehr „die gewöhnliche Erkenntnisform (!), die uns von unserem gesamten geistigen Leben, auch von den gewöhnlichsten Gefühlen usw., Kenntnis vermittelt" 21 . Diese interessante Erläuterung zeigt noch einmal, wie unmittelbar, fast ist man versucht zu sagen: wie „natürlich" der Zusammenhang mit der Gottheit gedacht ist. Es ist eine Seinsverbundenheit im Geistigen, die durch einen adäquaten natürlichen Erkenntnisvorgang wahrgenommen wird. Dabei ist man nicht einmal genötigt, von einem Analogieschluß zu sprechen. Immanenz heißt unmittelbares Gegenwärtigsein, Präsenz des göttlichen Geistes im menschlichen Geistesleben. Davon wird nichts zurückgenommen, wenn Brunner nun auch das Transzendenzbewußtsein als notwendiges Korrektiv hervorhebt. Immanenz und Transzendenz sind nach ihm keineswegs sich ausschließende Alternativen, sondern beide gehen unmittelbar aus dem religiösen Bewußtsein hervor. Das Immanenzbewußtsein ist verbunden mit der Erfahrung unserer Geistigkeit. Das Transzendenzbewußtsein ist verbunden mit der Erfahrung unserer Endlichkeit: „Im Absoluten unseres ,geistigen' 18 20
28
A.a.O., S. 132. 56 A.a.O., S. 130.
ff.
» A.a.O., S. 51 f. A.a.O., S. 130 Anm. 1.
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Seins erfassen wir das Göttliche, aber eben nur so, wie wir Endliche es erfassen können, d. h. getrübt oder gebrochen, oder wie man immer sagen mag, durch unsere Endlichkeit." 22 Recht deutlich ist das zwar noch nicht. Worin besteht die Trübung, was heißt „gebrochen"? Diese Ausdrucksweise wird noch keineswegs nahegelegt durch die Erfahrung, daß „der göttliche Geist dadurch, daß wir an ihm bloß Anteil zu haben uns bewußt sind", sich als ein „über die Schranken unseres Bewußtseins hinausgehender" erweist 23 . Sofern er unmittelbar Anteil gibt an sich selbst und diese Teilhabe gerade nicht quantitativ materiell gedacht ist, sondern wesenhaft, ist nicht einzusehen, wie von da aus eine radikale Transzendenzerfahrung entstehen soll. Oder ist sie auch gar nicht so radikal gemeint? Ihre eigentliche Wurzel liegt nach Brunner jedenfalls dort, wo das sittliche Erlebnis sich als „durch etwas bestimmt" erfährt, „was nicht idi bin", also im sogenannten Objektivitätsmerkmal. Lassen wir einmal die Frage beiseite, ob ich im sittlichen Erlebnis midi wirklich durch etwas bestimmt erfahre, „was nicht ich bin" — man könnte ja den kategorischen Imperativ gerade umgekehrt verstehen —, so ergibt sich als Wesen der Transzendenzerfahrung jener Objektivitätsfaktor, das Transsubjektive, das Nicht-Ich, durch das das religiöse Bewußtsein sich bleibend bestimmt weiß 24 . „Etwas von übermenschlichem Bewußtsein . . . haftet aller Gottesvorstellung an, und damit ist eine einfache (!) Gleichsetzung vom eigenen menschlichen geistigen Sein . . . mit dem göttlichen ausgeschlossen."25 Und dieses Bewußtsein der „Getrenntheit" ist nicht nur stärker als das Bewußtsein des Zusammenhangs, sondern aller lebendigen Religion ist die Bewußtseinstranszendenz Gottes auch wichtiger als die Bewußtseinsimmanenz. Die Transzendenz hat ein Ubergewicht, das sich aus dem „überragenden Gewicht des Objektivitätsfaktors im unmittelbaren Erlebnis" ergibt 26 . Der extremste, „einseitig-konsequente" Ausdruck der Transzendenz wäre, so stellt Brunner abschließend fest, die reine Negation: „Gott ist unfaßbar, unerreichbar, unsagbar, unergründlich, erhaben über alles menschliche Vorstellen, ja sogar erhaben über das Sein." Aber hinter dieser Einseitigkeit lauert das Nichts, wenn man sie nicht auf dem Hintergrund einer „tieferen Bejahung" sieht, d. h. wenn man sie nicht im Zusammenhang mit der positiven Immanenzerfahrung sieht 27 . Die Transzendenzerfahrung wehrt also letztlich doch wieder dem Bewußtsein einer Identität des Menschen mit Gott. Sie begrenzt die im Geistigen gegebene Beziehung zwischen Gott und Mensch. Aber sie hebt sie nicht auf. Sie schiebt dem intuitiven Erkennen keinen Riegel vor. Darum bleibt die Frage, ob sie wirklich ernsthaft auch als Korrektiv in Erschei22 24 211
A.a.O., S. 57. A.a.O., S. 48 f. A.a.O., S. 51.
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A.a.O., S. 60. A.a.O., S. 62. A.a.O., S. 124 f.
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nung tritt gegenüber jener erkenntnistheoretischen Begründung der Seinsverbundenheit von Gott und Mensch im Geistigen, oder ob sie nicht doch vom Interesse an der Immanenz des Göttlichen einfach beiseitegeschoben wird.
C) Religion und Sittlichkeit Zur weiteren Verdeutlichung der bisherigen Analyse soll im Rahmen unserer Fragestellung abschließend nodi ein Gesichtspunkt näher erörtert werden, der für Brunners spätere Entwicklung von kaum zu überschätzender Bedeutung ist: das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit. Im Grunde genommen bildete es ja den inneren Kern der ganzen bisherigen Gedankenentwicklung. Am Anfang stand die These, die mit Schleiermacher „die Eigentümlichkeit und Selbständigkeit des religiösen Bewußtseins gegenüber allen anderen seelischen Erscheinungen, auch gegenüber dem Sittlichen", behauptete 1 . Das Religiöse muß also gegen das Sittliche abgegrenzt werden, wenn dieser These entsprochen werden soll. So eng auch die Beziehungen zwischen beiden sein mögen, sie sind dennoch „als zwei getrennte Lebensgebiete" zu betrachten 2 . Das leuchtet ohne weiteres ein, wenn man an die Möglichkeit einer bewußt religionslosen Moral denkt. Sittliches Bewußtsein kann offensichtlich mit einer entschiedenen Ablehnung alles Religiösen Hand in Hand gehen. Andererseits zeigt sich doch audi immer wieder, daß Religion und Sittlichkeit in einer Art Symbiose miteinander verbunden sind. Wie ist dieses Verhältnis zu bestimmen? Wir erinnern uns, daß Brunner bei der Frage, wie es zu einem religiösen Bewußtsein kommt, vom selbständigen Geistesleben ausging, und zwar vom Modell des Sittlichen als Phänomen des „Geistigen". Das religiöse Bewußtsein erschien im Zusammenhang des Geistig-Sittlichen, und zwar nicht als das Sittliche selbst, sondern „als die Art", wie der Mensch sich dieses Geisteslebens intuitiv bewußt wird. Da sich diese Art des Bewußtwerdens als Wahrnehmen des transsubjektiven geistigen Seins erwies, könnte man sagen: „Das Woher" des sittlichen Verhaltens ist Gott, oder anders formuliert: Das sittliche Verhalten verweist auf Gott. Das ist nur die Konsequenz aus dem Grund-Satz: Gott ist „sittlicher Geist" 3 . Gott ist also, wie Brunner in anderem Zusammenhang bemerkt, als das zu denken, „was unsere Sittlichkeit im allgemeinen" wie in „jeder einzelnen Erscheinungsform derselben" bedingt 4 . Aus der Trennung von Religion und Sittlichkeit scheint hier schon eine enge Partnerschaft, eine Blutsverwandtschaft oder Lebensgrund-Gemeinschaft geworden zu sein. Noch spricht Brunner freilich von einer Grenzlinie, aber ist es wirklich eine Grenze? Das „unmittelbare Bewußtsein unserer sittlichen Anlage", das 1 3
30
A.a.O., S. 3. A.a.O., S. 132.
2 4
A.a.O., S. 74 A.a.O., S. 64.
„Bewußtsein davon, daß unser Leben einen Sinn, eine ewige, d. h. eine über die natürlichen Schranken erhabene Bedeutung" hat: das ist es, „was das Sittliche mit dem Religiösen verbindet und zugleich die Grenzlinie zeigt" 5 . Es ist, wie sich gleich zeigen wird, eine durchlässige Grenze. Statt von einer Grenzlinie möchte Brunner darum eigentlich auch lieber von einem „Grenzgebiet" sprechen, denn der Ubergang vom einen zum andern erfolgt „kontinuierlich"! Diese entscheidende Weichenstellung muß im Auge behalten werden, denn sie macht den Weg frei für das, was später unter dem Stichwort der Anknüpfung verhandelt wird. Sie eröffnet die Möglichkeit eines Zugangs zum Gottesbewußtsein analog jenem Erkenntnisvorgang, der als intuitive Gotteserfahrung beschrieben wurde. Was macht aus dem Grenzgebiet ein Obergangsgebiet? Brunner antwortet: das „Absolute", das Naturüberlegene, das im Phänomen des Sittlichen erscheint und das als solches ja gerade auch zum Gegenstand des religiösen Bewußtseins wird. Sofern das Sittliche im unmittelbaren Bewußtsein als ein Absolutes, Naturüberlegenes erfaßt wird, vollzieht sich der Übergang zur Religion. Es kann also nicht mehr von einer metabasis eis alio genos gesprochen werden, sondern nur von einem Bewußtwerden dessen, was im Sittlichen gegeben ist. N u n erst wird jener Satz, den wir eingangs zitierten, voll verständlich: Die Religion hat ihren „ G r u n d " in der „Selbstbeurteilung", in der „Selbstbesinnung" des Menschen. Noli foras ire; in teipsum redi; in interiore homine habitat Veritas! Der sittliche Mensch wird gewissermaßen aus sich selbst heraus religiös. Brunner versucht das an Kant zu erläutern: „Wer würde nicht anerkennen, daß es religiöse Töne sind, die Kant in der ,Kritik der praktischen Vernunft' anklingen l ä ß t ! " 6 U n d ebenso ist es ein „Keim echt religiösen Gefühls, wenn ein Mensch von der sittlichen Größe eines andern überwältigt wird", oder wenn er im Bewußtsein der unbedingten Pflicht „Glück und Leben der sittlichen Anforderung aufopfert". E s gibt „keine Grenze zwischen dem sittlichen Gefühl der Achtung und dem religiösen Gefühl der Ehrfurcht" 7 . So ist es schließlich nicht mehr verwunderlich, wenn Brunner am Ende seiner Überlegungen Gott ganz gibt, was Gottes ist: Echte Sittlichkeit, in der die absolute Forderung enthalten ist, erscheint von hier aus „als latente Religion"! Die religiöse Erkenntnis ist „die im sittlichen Normbewußtsein latent enthaltene Erkenntnis einer Uberwelt" 8 . Von daher ergibt sich erneut die Unentbehrlichkeit des sittlichen Bewußtseins für das Entstehen eines religiösen Bewußtseins. Sittlichkeit ohne Religion kann dann nur noch verstanden werden als eine Art Selbstwider5 7
A.a.O., S. 75. Ebenda.
β 8
A.a.O., S. 75. A.a.O., S. 75.49.
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spruch. Die Wirklichkeit Gottes ist in der ethischen Wirklichkeit mitgegeben, wenn audi latent. Das begründet den Rang des Ethischen und seine Mittlerfunktion beim Zustandekommen eines Wissens um Gott. Ihm fällt faktisch die Rolle eines Paidagogos zu, der den Zugang zu Gott öffnet. Brunner läßt keinen Zweifel daran, daß er die Funktion des Sittlichen so verstanden wissen möchte: „Ich kann den Anspruch des sittlichen Du sollst als Illusion zurückweisen und jede selbständige Feistigkeit' leugnen. Im selben Moment, ja im selben Akt verschließe ich mir den Zugang zur göttlichen Wirklichkeit. Oder aber, idi kann Vertrauen haben zu jener sonderbaren Stimme, ich kann ihren Absolutheitsanspruch mit meinem Willen bejahen — so öffnet sich mein Auge für die göttliche Welt . . . Im Erlebnis der selbständigen ,Geistigkeit' ist mir der Zugang zur Welt des Glaubens geöffnet!" 9
D) Kritische Würdigung Die Frage, wie sich das Problem der religiösen Erkenntnis in Brunners anfänglicher Sicht der Dinge darstellt, dürfte damit hinreichend geklärt sein. Die Theorie des Symbolischen, die in seinen Überlegungen einen breiten Raum einnimmt, konnte hier übergangen werden, da sie für unsere Fragestellung unergiebig ist. Um so bedeutsamer erscheinen die Ausführungen zum Begriff des Geistigen, zur intuitiven Erkenntnis sowie über das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit. Hier liegt ein in sich zusammenhängendes, durchreflektiertes System der Gott-Mensch-Beziehung vor. Seine Voraussetzungen liegen in einer idealistischen Metaphysik des Geistes, in einem von Schleiermacher entscheidend geprägten Religionsbegriff, in Kants Religionsphilosophie und Kritik der praktischen Vernunft, in Bergsons Intuitionstheorie. Die Lösung des Erkenntnisproblems, die Brunner bietet, steht und fällt mit diesen Denkvoraussetzungen. Warum sie fallen muß, hat Brunner später selbst gezeigt. Das Zwielichtige im Begriff des „Geistigen", in der unmittelbaren Seinsverbundenheit des Menschen mit Gott im Geistigen, wurde schon hervorgehoben. Der Versuch, auf dem Wege der bloßen Bewußtseinsanalyse, aus der Selbstgewißheit des Geistes heraus die Aussagen über Gott zu gewinnen, wird von Brunner selbst in seiner ganzen Fragwürdigkeit enthüllt, wenn er, freilich ohne selbst zuzustimmen, seine Schlußbetrachtung mit der Feststellung beginnt: „Unsere Analyse des religiösen Erkenntnisprozesses scheint den Satz zu bestätigen: Der Mensch schuf die Götter nach seinem Bilde." 1 Diese Theorie der religiösen Erkenntnis kommt ohne geschichtliche Offenbarung aus. Sie lebt aus der intuitiven Selbstbesinnung, aus dem Quell der eigenen Geistigkeit, aus der „ursprünglichen grundlegenden 9
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A.a.O., S. 131.
1
A.a.O., S. 126.
,Offenbarung' " 2 . „Diese innerlich gewonnene Erkenntnis der Gottheit als einer realen Macht ist die notwendige Vorbedingung", das Entscheidende. Daß man die Gottheit auch in der äußeren Welt als Macht „in diesem und jenem Gegenstand oder Geschehen findet, in einer Offenbarung', das ist das Zufällige, rein psychologisch zu Erklärende, die bloße Erregung" 3 . Der Versuch Brunners, ganz im Vorbeigehen die sogenannte „objektive Offenbarung" doch noch neben das eigene ,mystische' Erleben zu stellen, wirkt gekünstelt und ändert nichts an der Sachlage4. Dementsprechend kommt auch der Begriff des Glaubens nicht eigentlich ins Blickfeld. An seine Stelle tritt die Intuition, die (auf der vorletzten Seite!) ganz unbefangen und unvermittelt als „das im Glauben Geschaute" bezeichnet wird 5 . Der Vorgang der Verkündigung, das zum Glauben rufende Wort existiert überhaupt nicht im Rahmen dieser Betrachtungsweise. Darin zeigt sich noch einmal schlaglichtartig die Grenze, die diesen ersten religionsphilosophischen Lösungsversuch des Problems der religiösen Erkenntnis von Brunners späterem Denken trennt. Er führt nach seinem eigenen späteren Urteil in eine Sackgasse, aus der man nur durch Umkehr herauskommt. Aber das schließt nicht aus, daß audi ein solcher verfehlter Denkversuch lehrreich sein kann. Wir werden darauf zu achten haben, ob und wie in der Neuorientierung des Brunnerschen Denkens einzelne Elemente aus dem ursprünglichen Ansatz fortwirken. 2 Brunner gebraucht diesen Begriff ein einziges Mal (S. 92). Der Begriff „Offenbarung" ist einer am Bewußtsein orientierten erkenntnistheoretischen Deduktion ja auch im Wege. Interessant ist, daß er den Eindruck hat, mit seiner Problemstellung ganz in der Nähe von Troeltsch zu stehen. Aber er vermeidet mit Absicht den Begriff des Apriori, weil er ihn nicht für geeignet hält, „jenen spezifischen Evidenzcharakter religiöser Aussagen zu deuten" (a.a.O., S. 7). 3 A.a.O., S. 106. 4 A.a.O., S. 15. „Andererseits aber sei betont, daß damit die Bedeutung der historisch-religiösen Persönlichkeit für die Religiosität des Einzelnen nicht im geringsten herabgesetzt zu werden braucht, vielmehr auch hier hoch eingeschätzt werden muß, sofern in solchen religiösen Heroen jenes übernatürliche Geistesleben (Leben Jesu) und zugleich auch das religiöse Bewußtsein (Verkündigung Jesu) uns gewöhnlichen Menschen die religiöse Welt viel gewaltiger, reiner, klarer erschließen als unsere eigenen Erfahrungen" (S. 15 Anm. 2). s A.a.O., S. 132.
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III. Von der Dialektik zur Eristik (Die Bestimmung der Aufgabe der Theologie) A) Das Mißverständnis des Glaubens oder die anthropologische Entartung der Theologie 1. Die durch Barths „Römerbrief " veranlaßte
Neuorientierung
Die erste Spur einer beginnenden Neuorientierung zeigt sich in Brunners Besprechung des „Römerbriefs" von Karl Barth, die schon im Februar 1919 im „Kirchenblatt für die reformierte Schweiz" erschien1. Es konnte für Brunner keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß dieser herausfordernde, ungewöhnliche „Kommentar", der zunächst wie ein sonderbarer erratischer Block in der theologischen Landschaft wirkte, auch eine Kampfansage an seine eigenen bisherigen Denkvoraussetzungen bedeutete. Um so mehr überrascht es, daß sich von dieser Betroffenheit kaum eine Andeutung findet. Ruhig tritt Brunner an die Seite Barths und übernimmt die Rolle eines Führers durch die Labyrinthe und Denkhintergründe des mit so viel Leidenschaft und Entdeckerfreude geschriebenen Buches. Ja, er sieht sogar an entscheidender Stelle eine Verbindung mit seinem eigenen bisherigen theologischen Bemühen: Wenn Barth die psychologisch-biographische, wie überhaupt die zeitgeschichtliche Fragestellung zurückdrängt und alles Gewicht auf die „eigene Logik der Gotteserkenntnis", auf ihre unmittelbare Evidenz und ihren organischen Zusammenhang legt, dann glaubt Brunner unter Hinweis auf seine erkenntnistheoretischen Untersuchungen feststellen zu können, daß auch er „einen Versuch in dieser Richtung" gemacht habe 2 ! Ob die Intention trotz der Verschiedenartigkeit der Mittel wirklich die gleiche war? Schon die Betonung des Sündenfalls bei Barth mit seinen die Gottunmittelbarkeit zerstörenden Konsequenzen — ein Phänomen, das in Brunners ursprünglichem Denkansatz gar nicht in Erscheinung trat und auch nicht aufgenommen werden konnte, ohne die Intuitionstheorie zu zerstören — hätte ihn stutzig machen müssen. 1
Der Römerbrief von K.Barth. Eine zeitgemäße unmoderne Paraphrase, in: Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, 34. Jg. Nr. 8, 22. Febr. 1919, S.29—32, wieder abgedruckt in: DialTh I, S. 78—87. 2 DialTh I, S. 80 Anm. 1.
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Freilich bot die erste Fassung des Römerbriefes zu einem derartigen MißVerständnis auch Anlaß genug. Von Unmittelbarkeit, von unmittelbarer Einheit mit Gott, vom Göttlichen im Menschen ist ja noch reichlich die Rede, und Brunner hebt bezeichnenderweise gerade diesen Zug bei Barth hervor, den Rekurs auf ein ursprüngliches Gottesverständnis, auf „jenen Teil unserer Seele, der nicht ans Zeitlich-Endliche sich verhaftet hat, sondern ein unberührtes Reservat für die Gottesstimme geblieben ist" 3 . Mit diesem „göttlichen Reservat in uns" war auch weiterhin der Hauptpfeiler der religiösen Erkenntnistheorie zumindest behauptet, wenn auch noch nicht gesichert. Aber seine Struktur mußte doch unter einem ganz neuen Gesichtspunkt erfaßt werden: unter dem Gesichtspunkt des Glaubens. Darin lag zweifellos die Bedeutung des Barthschen Kommentars für Brunner, daß er ihm die Jenseitigkeit des Glaubens als die theologische Grundkategorie zum Bewußtsein brachte. Nachdrücklich hebt Brunner dies an Barths Römerbrief hervor: „Ich rechne es zu den höchsten Verdiensten Barths, daß er es gewagt — und gekonnt! — hat, dieses zeitlose, überpsychologische, ,schlechthinnige' Wesen des Glaubens wieder ins Licht zu rücken, und daß er allen Versuchungen zum Psychologismus, die für jeden modernen Menschen so groß sind, mannhaft widerstand." 4 Denn hier, bei Barth, wird die „göttliche Objektivität" geltend gemacht gegenüber allen „subjektiven Gefühlen und Machenschaften; der göttliche ,Geist' gegenüber dem bloß-menschlichen ,religiös-sittlichen Bewußtsein' ". Alles wird von der rettenden Gottesbewegung her verstanden, „statt von innerweltlichen Gesichtspunkten aus", es geht gerade um das, was „jenseits der Erfahrung, jenseits von allen psychischen Erlebnissen ist". Für Paulus wie für die ganze Bibel ist Glaube — das lernt Brunner von Barth — „das Ergreifen von etwas Objektivem, wobei die Art des Ergreifens gar nicht in Betracht fällt"(!). Es ist ein Ergreifen im Ergriffensein, ein „Akt, durch den der Mensch dem göttlichen Lebensbaum eingepfropft und in dessen eigene organische Lebensbewegung aufgenommen wird". Der Gegensatz zu allem Subjektivismus, wie Brunner ihn hier bereits ausspricht, darf allerdings nicht ohne weiteres als ein prinzipielles Leugnen des Glaubens als Erfahrung verstanden werden. Schon die dem organischen Bereich entnommene Sprachform legt die Vermutung nahe, daß „jenseits der Erfahrung" nicht „ohne alle Erfahrung" bedeuten soll. Die Frage ist nur, in welchem Sinn von Glauben als Erfahrung gesprochen werden kann. Hier bleibt Brunner einstweilen noch die Antwort schuldig. N u r so viel wird deutlich, daß er eine Realität meint, die nicht vom Menschen aus zugänglich und bestimmbar ist. Er kann sich ihrer nicht selbst vergewissern, etwa im Rekurs auf ein psychisches Erlebnis. Die 3
A.a.O., S. 81. 84.
4
A.a.O., S. 85. 35
Schranke ihrer Jenseitigkeit verwehrt dies. Und dennoch wird die rettende Gottesbewegung, wie immer man es wenden mag, auch zu einer menschlichen Lebensbewegung. So kann Brunner, wohlgemerkt im Anschluß an Barth und ausgehend von der Jenseitigkeit des Glaubens, schließlich auch wieder feststellen: „In diesem — gänzlich zeitlosen und überpsychologischen — Geschehen gewinnt das Gottesreich gleichsam einen neuen Haltepunkt in der Erfahrungswelt." 5 Das ist noch ganz im Vorbeigehen gesagt, aber es klingt doch schon wie ein Präludium zu den späteren programmatischen Erörterungen. Es ist jedenfalls unverkennbar, daß Brunner mit dieser ersten Transposition seiner ursprünglichen Fragestellung, d. h. mit der Orientierung der theologischen Erkenntnistheorie am Gesichtspunkt des Glaubens, sein Thema gefunden hat, dem er sich in der Folgezeit mit der ganzen Energie seines Denkens zuwandte. 2. Der Glaube als Kriterium Wie sehr er gewillt und fähig war, auf seine eigene Weise diese neu erkannte Aufgabe in Angriff zu nehmen, zeigt sich schon bald darauf in seiner Habilitationsschrift, die 1921 unter dem Titel „Erlebnis, Erkenntnis und Glaube" erschien®. Mit ihr reiht Brunner sich demonstrativ in die Front der von Barth und Gogarten ausgehenden theologischen Bewegung ein. Sowohl Barth als auch Gogarten werden im Vorwort genannt, aber bezeichnenderweise nicht an erster Stelle 7 ! Die Schrift, mit der sich Brunner auf den Kampfplatz der dialektischen Theologie begab, ist Hermann Kutter gewidmet, und er bekennt, daß er dieses Buch nie hätte schreiben können „ohne den langjährigen persönlichen Einfluß des prophetischen Mannes" 8 . 5
A.a.O., S. 86. Die 2. und 3. Auflage (1923), nach der im folgenden zitiert wird, ist gegenüber der 1. Auflage mit Ausnahme einer längeren Anmerkung über den Gegensatz zum Intellektualismus (S. 87 f.) nur geringfügig verändert. Brunner schien zu diesem Zeitpunkt zwar das Ganze schon in mancher Hinsicht änderungsbedürftig, aber er verzichtete auf eine gründliche Umgestaltung und verwies statt dessen (S. V) auf sein neues Buch „Die Mystik und das Wort", das zwar erst 1924 erschien, aber die theologische Entwicklung von 1922/23 wiedergibt; vgl. My 1 , S. 110 Anm. 1, w o er als Datum „Juni 1923" angibt, und den Hinweis in: H . J o n e , Für Ferdinand Ebner, Stimmen der Freunde, 1935, w o er (S. 13) sagt: „Damals (März 1922) arbeitete ich an meinem Werk: ,Die Mystik und das Wort'." 6
7 Brunner gesteht, daß er manches besser und einiges vielleicht auch nicht mehr hätte sagen können, wenn ihm K. Barths zweiter „Römerbrief" und Gogartens „Religiöse Entscheidung" früher zu Gesicht gekommen wären. Von den „dort gebotenen wichtigen Erkenntnissen" konnte er nur noch bei einer leichten Überarbeitung Gebrauch machen (Vorwort S. IV). 8 Vorwort S. IV. Man trägt darum der Selbsteinschätzung Brunners nicht Rechnung, wenn man in ihm in diesen Anfangsjahren einfach einen Gefolgsmann Barths sieht. Er hat von ihm Entscheidendes gelernt, wie er immer wieder selbst betont; aber
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Es handelt sich bei diesem ersten Versuch, auf noch ungebahnten Wegen aus der Sackgasse einer im Subjektivismus steckengebliebenen Theologie herauszukommen, um eine ausgesprochene Kampfschrift. Brunner sucht den Kampf, den Gegner. Er treibt von Anfang an polemische Theologie. „Die Situation und unser Kampf" überschreibt er das einleitende Kapitel, „Abrechnung" steht als Motto über dem zweiten Teil. Ein Nachhall von Gogartens brisantem Manifest „Zwischen den Zeiten" klingt unverkennbar durch das Vorwort: die Erinnerung an den Nachruf auf die theologische Arbeit eines ganzen Jahrhunderts, das Bewußtsein, vor einer entscheidenden Wende zu stehen, und die Überzeugung, „nur noch vorwärts, nicht mehr rückwärts schauen" zu können. Brunner hofft, mit seiner Arbeit einiges zu dieser Wendung beizutragen. Und sie hat auch zweifellos auf die Entwicklung der theologischen Diskussion eingewirkt und auf ihre Weise einiges zur Klärung der Situation beigetragen 9 . Aber es läßt sich auch nicht übersehen, daß Brunner selbst hier doch noch mehr rückwärts als vorwärts schaut. Schon die die Untersuchung leitenden Begriffe „Erlebnis-Erkenntnis-Glaube" machen in ihrer Aufeinanderbeziehung deutlich, wie sehr bei dieser Neuorientierung noch das „Alte" mitzureden hat und sei es durch die Antithese. Es wird nicht einfach durch das Neue überholt. Brunner gibt zu, daß auch dem Unrecht noch ein gewisses Recht, eine Halbwahrheit innewohnt. Darum kann er es nicht mit einer souveränen Handbewegung beiseiteschieben. Ein weiteres kommt hinzu: Brunner kämpft, auch wenn er sich von ihm distanziert, mit einem Gegner, unter dessen Fahne er selbst eine Weile gedient hat. Er kämpft mit den Schatten seiner eigenen Vergangenheit, von denen er sich zwar losgesagt, aber noch nicht überall wirklich losgelöst hat. Klar ist ihm in diesem Augenblick die Richtung, in der die zukünftige Aufgabe der Theologie liegt. Aber er kann das Neue nicht mit prophetischer Gewißheit und Unmittelbarkeit aussprechen, sondern er blieb dabei doch innerlich selbständig und verleugnete auch nie seine Eigenständigkeit. Was Brunner und Barth einander näherbradite, war zunächst — dies wird oft übersehen — eine gemeinsame Schülerschaft: ihre Zugehörigkeit zu dem Kreis um Christoph Blumhardt und Hermann Kutter. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Anmerkung Brunners über Barth. Er sieht in Barth denjenigen, der als erster „die prophetischen Gesichte Kutters in strengeren Zusammenhang brachte und selbständig des Meisters Gedanken . . . weiterführte, während wir anderen nodi mit ihrem Verständnis ringen mußten". Brunner fährt dann fort: „Er hat aber auch, über Kutter hinausgehend, besonders die Objektivität des Glaubens in einer Weise herausgearbeitet, die für die weitere Entwicklung der Theologie entscheidend sein dürfte" (EEG, S. 56 Anm. 1). Dem anderen der beiden genannten Lehrer widmete Brunner fast vier Jahrzehnte später den 3. Band seiner Dogmatik, „Die christliche Lehre von der Kirche, vom Glauben und von der Vollendung", mit den Worten: „Ich betrachte in Dankbarkeit meine theologische Arbeit als Frucht seiner Saat" (a.a.O., S. 11). β N o d i 1933 erschien eine 4. Auflage, ein unveränderter Nachdruck der 2. und 3. Auflage 1923.
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bahnt sich seinen "Weg in diffiziler Denkarbeit, in kritischer Auseinandersetzung mit den überkommenen und ζ. T. auch selbst übernommenen theologischen und philosophischen Denkmodellen. Darin liegt freilich auch die besondere Problematik dieser Sdirift, daß sie weniger von einer konsequent durchgehaltenen theologischen Gedankenbildung getragen wird als von den verschiedenartigen Gegenständen des eigenen Bildungsganges. Man vermißt die innere einheitliche Durchformung. Und da die Auseinandersetzung weithin als philosophische Diskussion vollzogen wird, bleibt audi der zwar beiläufig, aber dodi recht selbstbewußt erhobene Anspruch: „Wir, die wir vom Neuen Testament herkommen" 10 , merkwürdig blaß und ohne eigentliche Bewährung. Erscheint es so bisweilen zweifelhaft, ob es sich in der vorliegenden Schrift wirklich schon um einen editen Durchbruch handelt, d. h. um einen nicht nur postulierten, sondern auch überzeugend praktizierten Neuansatz des theologischen Denkens, so wird dieser Zweifel schließlich dodi wieder überwunden. Denn in der Darstellung des Glaubensbegriffs, die den Höhepunkt der ganzen Untersuchung bildet, kündigt sich unüberhörbar der Durchbruch zu neuer theologischer Erkenntnis an als Durchbruch zum „Wort". Jedenfalls ist dies von Brunner als die Richtung erkannt, in der die Entscheidung gesucht werden muß: in der unaufhebbaren Korrelation von Wort und Glaube — „Wort" verstanden nicht als bloßer Begriff oder inadäquate Ausdrucksform, sondern als das ursprüngliche, schöpferische, sich offenbarende Wort, als das eigentliche „GeistGeschehen". „Das Wort ist der Anfang und das Ende der biblischen Offenbarung und aller Geistestat" — so formuliert Brunner bereits in seiner ersten frühdialektischen Streitschrift die für ihn entscheidende neue Erkenntnis 11 , und im Vorwort zur Neuauflage (1923) bemerkt er selbstkritisch hierzu: „Es ist vor allem der Begriff des Wortes, der als das eigentliche Zentralproblem des Geistes noch mehr im Mittelpunkt aller hier behandelten Fragen stehen sollte, und die noch bestimmtere Grenzbestimmung zwischen Immanenz und Offenbarung . . . " 1 2 Zu diesem Zeitpunkt ist Brunner bereits mit dem Absdiluß seiner zweiten großen Streitschrift beschäftigt, in der er die hier angedeutete Einsicht konsequent aller „Mystik" entgegensetzt: Verbum est principium primum theologiae. Mit dieser Einsicht hat Brunner das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der theologischen Lage gewonnen. Das vom Historismus und Psychologismus beherrschte Denken seiner Zeit ist ihm nun nichts anderes als die Fortsetzung jener „subjektiv-anthropologischen" Bewegung, deren Wurzeln in der Renaissance und in der Aufklärung liegen, und die im Grunde genommen immer nur das eine Thema variiert: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Im Zuge dieser Bewegung, die in dem „eisigen histo10 12
38
A.a.O., S. 2. A.a.O., S. V.
11
A.a.O., S. 123.
rischen Relativismus eines Troeltsch und dem üppig-schwülen Psychologismus Heilers" ihren Höhepunkt erreicht hat, wurde „das Evangelium der Historie und Psychologie gänzlich ausgeliefert". Der Sinn für das „Nichtmenschlich-Objektive" des Glaubens ging bei dieser „Vermenschlichung der Gottesgewißheit" verloren 13 . So erkennt Brunner in dem religiösen Subjektivismus das eigentliche Krebsübel, das alles verdirbt. Der Feind, der entlarvt und überwunden werden muß, heißt für ihn darum anthropologische Theologie! Ihr gilt der große Angriff, der in immer neuem Anlauf vorgetragen wird — im Namen des recht verstandenen Glaubens. Brunner setzt es sich zum Ziel, die unbewußten Voraussetzungen dieser Theologie ans Licht zu bringen und sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Das erfordert allerdings eine „umfassende transzendentale Besinnung auf die letzten kritischen Gesichtspunkte, an denen sich alle Geistesarbeit zu rechtfertigen hat" 1 4 . An dieser Aufgabenstellung zeigt sich sofort die Eigenart, mit der Brunner, etwa im Unterschied zu Barth, seine Sache vertritt. Er tritt nicht als Exeget und Prediger in die Arena, sondern eher als Geisteswissenschaftler, als Erkenntnistheoretiker, der das Recht des Glaubens vor allem im Hinblick auf die letzten Gründe des Erkennens entschieden wissen will. Wiederum ein anspruchsvolles Programm in der unbefangenen Voraussetzung, daß das Eigentümliche des Glaubens in einer solchen transzendentalen Besinnung sich sachgemäß zum Ausdruck bringen läßt! Daß es in dieser Auseinandersetzung letztlich um das rechte Verständnis des Glaubens, um die Wirklichkeit der „Gottesbeziehung des Evangeliums" geht, leidet für Brunner keinen Zweifel. Denn das ist gerade seine kritische Hauptthese gegen den religiösen Subjektivismus: Er ist ein „prinzipielles Mißverständnis des Glaubens". Der Versuch, Gott in die Sphäre des Menschlichen herabzuziehen oder, was auf dasselbe hinausläuft, vom Menschen aus zu Gott zu kommen, kann, trotz aller damit verbundenen religiösen Leidenschaft, nur als „ehrfurchtslose Haltung des Menschen gegen Gott" angesehen werden 15 . Es scheint, daß Brunner mit dieser schroffen, kompromißlosen Wendung gegen die subjektivistische Entartung der Theologie zugleich auch jeder ernsthaften Frage nach der Bedeutung des Menschlichen im Glaubensgeschehen den Boden entzieht. Der Glaube wird ja nach ihm gerade dann mißverstanden, wenn man ihn auch als ein anthropologisches Phänomen verstehen möchte. Gegenüber dieser Denkrichtung, die in seinen Augen immer vom Schatten der Immanenzreligion begleitet wird, kann er nur zur radikalen Umkehr rufen unter der Parole: „Los von Schleiermacher und Ritsehl, . . . los von der modernen Theologie mit ihrem historischen Relativismus und ihrer psychologischen , Innerlichkeit', von der 13 16
A.a.O., S. 1 f. A.a.O., S. 3.
14
A.a.O., S. 3.
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Religion der modernen Mystiker, Romantiker und Reichgottespraktiker." 16 Ob mit dieser Parole: „Los von der anthropologischen Theologie", wirklich schon alles gesagt ist, was Brunner zur Frage der Anthropologie zu sagen hat, muß sich nodi erweisen. Für das Verständnis der weiteren Entwicklung darf jedenfalls nicht außer acht gelassen werden, daß er hier aus einer bestimmten Frontstellung heraus urteilt, indem er gegenüber einer subjektivistischen Entartung eine objektivistische Antithese vertritt, und daß die Entscheidung in dieser Frage aufs engste mit seinem Begriff des Glaubens zusammenhängt. Fragt man nach dem Verständnis des Glaubens, das Brunner als theologisch verbindlich ansieht und von dem aus er darum seine Kritik vorträgt, so fällt auf, daß es in seiner begrifflichen Formulierung ganz aus der polemischen Situation hervorgeht. Im Vordergrund steht dabei bezeichnenderweise nicht die kerygmatische Aussage, sondern die formale Qualität, der metaphysische Charakter des Glaubens oder, wie Brunner es ausdrückt, sein „transzendentales Gewicht" 17 . Was darunter zu verstehen ist, läßt sich sinnvoll nur im Hinblick auf jenes Gegenüber entwickeln, das von Brunner als prinzipielles MißVerständnis des Glaubens qualifiziert wird. Er bezeichnet es näher als ein psychologistisches, historistisches und intellektualistisches Miß Verständnis. 3. Das psycbologistische Mißverständnis
des Glaubens
Das psycbologistische Mißverständnis hat seinen Sitz im Leben in der Erlebnisreligion aller Schattierungen, in der romantischen, pietistischen und mystischen Religiosität. Die Erregtheit der Seele gilt hier als Maß der Religiosität. Die Intensität des frommen Erlebnisses wird daher zum alles beherrschenden Gesichtspunkt. Das offen oder insgeheim erstrebte Ziel heißt Unmittelbarkeit, die Berührung mit dem Lebensgrund, dem Urquell alles Seins im Allerinnerlichsten, das Zusammenfließen der Gottheit und Menschheit in der Seele. Alle Vermittlung, alles objektiv Gegebene und Allgemeine erscheint dieser ungestümen Bewegung zur Innerlichkeit nur als Störung. Auch die letzte Spur der Erinnerung an die Begrenztheit menschlichen Wesens wird ausgelöscht: das Wort, der begrenzende Gedanke, das Ich und das Du — alles geht unter im Schmelztiegel der unergründlichen Tiefe der eigenen Innerlichkeit 18 . Alles kreist hier um das magische Kraftzentrum „die Seele", ganz im Sinn jenes Goetheworts: nicht was, sondern wie sehr man glaube, sei wichtig 19 . Aus der geistesgeschichtlichen Ahnenreihe, die Brunner zur Illustration dieser im Subjektivismus aufgehenden Religiosität vorführt, ragt Sdileiermacher als der große Vollender hervor. Keiner hat wie er in seinen „Reden" das Programm aller Erlebnisreligion philosophisch formuliert. 16 18
40
A.a.O., S. 4. A.a.O., S. 8 f.
17 19
Ebenda. A.a.O., S. 32 f.
Er hat der Psychologisierung des Glaubens von seiner subjektivistischen Grundstellung aus Tür und Tor geöffnet. Nur in psychologistischer Befangenheit konnte man ihn als Vater des Glaubens und als Reformator der protestantischen Theologie feiern 20 . Brunners polemische Wendung gegen Schleiermacher gewinnt also nicht erst in seinem Schleiermacherbuch, das bezeichnenderweise den Untertitel trägt: „Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben, dargestellt an der Theologie Schleiermachers", ihre prinzipielle Schärfe. Sie deutet sich bereits in der Habilitationsschrift an 2 1 und erreicht in dem programmatischen „Nachwort für Theologen", das er seiner Habilitationsvorlesung „Die Grenzen der Humanität" anfügt, einen kaum nodi zu überbietenden Höhepunkt 2 2 . Dort heißt es kurzerhand, er habe „die Theo-Logie in Religions-Psychologie" umgewandelt; der Psychologismus herrsche überall da in der Theologie, „wo man noch nicht von dem Bann erwacht ist, in den uns der theologische Paganini Schleiermacher, der größte theologische Begriffsvirtuose des Jahrhunderts, mit seinem Programm der ,frommen Erregung' versetzt hat" 2 3 . Die Reformatoren würden den Fundamentalsatz Schleiermachers, „daß wir Gott im Gefühl, im Erlebnis überhaupt haben, als papistische Irrlehre verdammt" haben. Schleiermacher „ahnt gar nicht, welch schlechten Dienst er der Religion leistet, indem er ihr ihre eigene Provinz zuweist.. . " 2 4 Das, was Brunner einst selbst in seiner Dissertation noch „als sichere Basis alles weiteren" anerkannte, verfällt nun einer unerbittlichen Kritik. Die Schärfe dieser Kritik mag im Ton und in der Sache nicht immer gerechtfertigt sein; aber sie beweist dodi zumindest, wie radikal Brunner seinen neuen Denkansatz von jenem ursprünglichen geschieden wissen wollte. Dies mußte sich auch in einer grundlegenden Revision seines Verhältnisses zu Bergsons Intuitionsphilosophie zeigen. Sie bildete ja nach seinem eigenen Urteil den „Schlußstein der Philosophie und Religion des Erlebens". Ihr Hauptprinzip, der Elan vital, ist reine Innerlichkeit, unmittelbarer Kontakt mit dem Lebensgrund, Rückkehr zum eigenen irrationalen Ursprünglichen 25 . Die Auseinandersetzung mit Bergson wird von Brunner jedoch an dem entscheidenden Punkt zunächst noch recht zögernd und — im Gegensatz zur Behandlung Schleiermachers — ohne alles leidenschaftliche Engagement geführt. Es ist auffallend, daß er den Begriff der Intuition, der doch einmal seine Erkenntnistheorie trug, keiner kritischen Diskussion würdigt, sondern ihn ganz beiläufig seiner früheren A.a.O., S. 16. 38. Vgl. etwa S. 4. 13. 16. 21 ff. 33. 38 2 2 Die Grenzen der Humanität, 1922 I, S. 259 ff. (S. 271 ff.). 2 3 GrHu, S. 271 f. 2 5 E E G , S. 20. 59; vgl. Symb, S. 129 Erleben" (1919), der z . T . in E E G , S. 65 20
21
sowie den III. Teil. (abgek.: G r H u ) , wieder abgedruckt in: DialTh 24 A.a.O., S. 273. 276. ff., sowie den Aarauer Vortrag „Denken und ff., aufgenommen ist.
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Funktion entkleidet 26 . Dies mag mit seiner Wendung zur sogenannten kritischen Philosophie zusammenhängen, die ihm zunächst noch nicht die Mittel zu einer kritischen Distanzierung an die Hand gab, wie dies von seinem Glaubensbegriff aus eigentlich gefordert war. Mit der systematischen Klärung des Verhältnisses der Glaubenserkenntnis zum menschlichen Erkennen überhaupt fand dann auch die Intuition ihre eindeutige kritische Bestimmung 27 . Brunner trägt seine Kritik am Psychologismus in zwei verschiedenen Argumentationsweisen vor, deren innerer Zusammenhang noch einer genaueren Prüfung bedarf. E r argumentiert einerseits gewissermaßen im Namen des Geistes, d. h. unter Zuhilfenahme einer Metaphysik des Geistes, andererseits im Namen des Glaubens. Und er versteht offensichtlich diese doppelte Argumentation nicht als einen Kampf, den er mit zwei völlig getrennt marschierenden Armeen führt, sondern sein Angriff kommt jeweils aus der gleichen Richtung, wie er auch das gleiche Ziel hat. Man könnte im Sinne Brunners diese Gemeinsamkeit etwa auf die kurze Formel bringen: Der Psychologismus ist als prinzipielles MißVerständnis des Glaubens zugleich ein prinzipielles Mißverständnis des Geistes, und umgekehrt: er ist als Mißverständnis des Geistes zugleich ein Mißver2 6 Er wird genannt EEG, S. 16. 20. 63ff. 69. 7 6 f . 79. 85; vgl. vor allem S. 77: „Nicht ob der Bergsonsche Intuitionsbegriff oder der Hegeische Konzeptualismus das letzte Wort habe, ist hier die Frage, sondern ob nicht jenseits des Erkenntnisgeschäftes überhaupt das wahre Leben, der Zugang zu den tiefsten Quellen des Seins liege. ,Begriff oder Intuition' ist, wenn audi eine bedeutende, so dodi nur eine sozusagen innerphilosophische Frage." S. 93 Anm. 1 weist Brunner auf eine von ihm früher in Symb vertretene Auffassung hin mit der Einschränkung: „freilich unter Voraussetzung eines jetzt preisgegebenen Intuitionismus". 27 Sie ist kein Weg, der zur Erkenntnis Gottes führt, sondern als menschliche Eigenbewegung gebunden an die Grenzen der Humanität. „Vom autonomen Denken und Handeln, von der ,Vernunft' aus — zu der wir aber auch eine allfällige Intuition oder mystisches Erleben zu rechnen hätten — von allem aus, was wir als Möglichkeit des Menschen ansprechen können, führt kein Weg über jene Kluft", bemerkt Brunner 1925 in seiner Züricher Antrittsrede („Die Offenbarung als Grund und Gegenstand der Theologie", in: PhuOff, S. 13, DialTh I, S. 306). Und er präzisiert daraufhin die Grenze zwischen Offenbarung und Intuition: Offenbarung ist „nicht etwas, was der Mensch schauen kann", denn „alles Schauen ist ungebrochene Beziehung zwischen dem Schauenden und dem Geschauten" (DialTh I, S. 313). „Darum kann nimmermehr eine Philosophie, in der das Schauen höchstes Prinzip ist, als Grundlage der Theologie anerkannt werden. Den Nachweis, daß dieses Prinzip des Schauens, die Intuition, philosophisch verdächtig, illegitim sei, dürfen wir der kritischen Philosophie überlassen, der es nicht allzu schwer fallen dürfte, hinter diesen vermeintlichen Intuitionen das Gefüge der Relationen zu entdecken und darum audi dem Absolutheitsansprudi dieser Intuitionsphilosophie gegenüber die Relativität . . . alles Erkennens, audi dieser angeblich .adäquat' und also .absolut' erfaßten .Schauungen' nachzuweisen . . . Wir müssen . . . aus dem Begriff des Glaubens selbst . . . den Anspruch zurückweisen, es gebe zu dem, was der Glaube glaubt, audi noch einen anderen, nämlich den Erkenntnisweg, oder noch schlimmer: der Glaube selbst sei ein Schauen, eine I n t u i t i o n . . . " (a.a.O., Anm.7).
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ständnis des Glaubens 28 . Denn im Glauben geht es um Geisteswirklichkeit. Im religiösen Subjektivismus mit seinem Interesse am seelisch-manifestierten Göttlichen bzw. am göttlich-erregten Seelischen drückt sich eine ganz bestimmte Auffassung vom Geistesleben überhaupt aus. Alles Nichtdingliche, Geistige wird hier unter den Begriff „seelisches Geschehen" gefaßt und damit auch zum Gegenstand der Psychologie gemacht. Darin zeigt sich jedoch, „daß es dem Psychologismus unmöglich ist, den Geist als solchen zu verstehen" 29 . Indem er ihm nämlich mit den Mitteln der Empirie beikommen will, verdinglicht, naturalisiert er ihn. Er macht ihn zu einem Gegebenen, zu einer Tatsache. Der als Tatsache verstandene Geist — hier beruft Brunner sich auf den Grundsatz der kritisch-idealistischen Philosophie — ist jedoch Ding, nicht Geist. Geist und psychische Tatsächlichkeit sind gewissermaßen naturaliter aliter 30 . Das Verstehen des Geistigen vollzieht sidi darum auf eine völlig andere Art als das naturwissenschaftliche Verstehen. Es läßt sich nicht einer kausalen Betrachtung unterwerfen. Jeder Akt des Geistes ist gerade eine Durchbrechung der Kausalität durch die Freiheit, ein Einbruch der Ewigkeit (!) in die Zeit, Ausdrude der Beziehung auf das Absolute. In ihm geht es um ein Sinnbezogenes, um das Geltende, das von aller Erfahrung unabhängig ist und abgesehen von aller menschlichen Erfahrung in seiner Geltung anerkannt wird. Zwar hat auch das Geistige seine psychischen Ausdrucksmechanismen, aber es gehört gerade zu seiner Grundwahrheit, daß diese „einen Durchblick auf die Sache nicht gestatten" 31 ! Die „Sache" selbst bedeutet gegenüber allem Gegebenen das unverfügbare Jenseitige, gegenüber aller Subjektivität die transsubjektive Objektivität. In diesem Sinn spricht Brunner darum betont von der „Objektivität des Glaubens". Letztlich geht es hier um den prinzipiellen Gegensatz von Transzendenz und Immanenz, der durch die Wirklichkeit des Geistes in Erscheinung tritt. Der Psychologismus verkennt den Transzendenzcharakter des Geistigen. Er ist ein „Monismus der Innerlichkeit", „falsche Immanenz"; er „ignoriert am Geistigen — den Geist" 32 ! Es ist leicht einzusehen, daß der Gegensatz gegen den Psychologismus, wie Brunner ihn hier vertritt, nicht einfach ein wissenschaftlicher Methodenstreit ist, sondern ein Streit um das Wesen der Wirklichkeit, die den Menschen angeht. Es geht darum, ob der Mensch in seiner Selbsterfahrung das Maß aller Dinge und die zureichende Bestimmung aller Wirklichkeit sein kann, oder ob er sein Maß findet in einer jenseitigen Wirklichkeit, die ihn bestimmt, der er sich nicht entziehen aber auch nicht bemächtigen 28 Vgl. EEG, S. 34: „Dieser Psychologismus — so lautet unsere These — ist als Auffassung ein kolossales Mißverständnis des Geisteslebens und vor allem der Religion . . . " ; vgl. auch S. 46. 28 30 EEG, S. 33 f. 22 Anm. 2. EEG, S. 41 ff. 58. 31 32 EEG, S. 46. 103. 44 ff. 55. EEG, S. 58 f. 100.
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kann, die er nicht dem Erfahrbaren zurechnen darf, und die er dennoch anerkennen muß, um wirklich Mensch zu sein. Es handelt sich also durchaus um „eine Lebensfrage allerersten Ranges" 33, und Brunner zögert nicht einen Augenblick, diesen Streit um die Wirklichkeit des „Geistigen" zu identifizieren mit dem Kampf um die Wirklichkeit des Glaubens. Der Kampf gegen den religiösen Psychologismus hat nach ihm schon bei Paulus und bei Luther weltgeschichtliche Bedeutung erlangt. Luthers Kampf um die Rechtfertigung allein aus Glauben „ist nicht ein Kampf neben anderen, er ist der Geisteskampf. Denn er ist der Kampf um die Jenseitigkeit des Glaubens, um das Andere gegenüber Mensch und Natur, um das Aufhören des Mehr oder Weniger und der bloß relativen Erfahrungsgewißheit." 34 Rechtfertigung aus Glauben allein besagt, daß das, was Gott tut, „schlechterdings jenseits des Menschlichen liegt". Nicht ein inneres Geschehen, nicht irgendeine seelische Dynamik ist damit gemeint, sondern das Gegenteil davon: „das Absehen von allem Menschlich-Seelischen, das prinzipielle und radikale Ignorieren aller inneren Prozesse". Im Glauben kommt so gerade die Freiheit vom Erlebnismäßigen zum Bewußtsein. Es ist sein „königliches Vorrecht", daß er auf die Berücksichtigung der menschlichen Erfahrung verzichten und sich ganz auf das stützen darf, was jenseits aller Erfahrung liegt und „ewig Voraussetzung bleibt": das gerechtsprechende Wort Gottes 35 . Um die Klarstellung dieses Sachverhalts ging es Luther: „um die Ablehnung aller psychologischen Deutung des Glaubens, um die Sicherstellung des jenseitigen, transzendentalen Charakters des Glaubens". In der Konsequenz dieser Anwendung der Rechtfertigungslehre Luthers auf das Problem des religiösen Subjektivismus formuliert Brunner schließlich sein theologisch begründetes Urteil: Wo die anthropologische Fragestellung sich in dieser Weise geltend macht, da ist Werkgerechtigkeit3®! Religiöser Psychologismus ist „Erschleichung der Gnade" 37 . Für ihn gibt es immer einen Weg, für den Glauben hingegen nur einen Sprung über eine „absolut unüberbrückbare Kluft" 38 . Religiöser Psychologismus ist, wie Brunner nun auch im Anschluß an Barth sagt, „religiöser Kurzschluß", „Identifikation des Göttlichen und Menschlichen, die nicht durch die unendliche Distanz geschützt ist" 39 . Er ist „geraubte Diesseitigkeit Gottes", d. h. man vergißt dabei, daß die Diesseitigkeit Gottes nur eine solche auf Grund seiner absoluten Jenseitigkeit sein kann 40 . 33
34 EEG, S. 35 . EEG, S. 59; vgl. S. 36. 8e EEG, S. 35 ff. 98. EEG, S. 36. 37 38 EEG, S. 57. EEG, S. 37.57. 38 EEG, S. 56. 40 EEG, S. 56. Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse, wie Brunner die subjektivistisdie Tendenz innerhalb der neueren Theologie zu erklären versucht. Er sieht eine zweifache Wurzel dieser Entwicklung. Einmal das apologetische Interesse, d.h. man faßt Gott als immanentes Moment der Religiosität, „weil .Religion' im Umgang 35
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Hinter dem subjektivistischen MißVerständnis des Glaubens steckt also — darauf will Brunner offensichtlich hinaus — nicht nur ein falsches Verständnis der Gottesbeziehung des Menschen, der menschlichen Wirklichkeit und Möglichkeit vor Gott. Der eigentliche Schaden sitzt noch tiefer: Gott selbst wird hier mißverstanden. Darin kommt erst der ganze Ernst und die Tragweite dieses Mißverständnisses zum Vorschein. Gott wird in dieser Zuordnung zu einem bestimmten psychologischen Geschehen, er wird in einer menschlichen Provinz interniert. Er hört damit auf, „das zu sein, was er in der Bibel ist: der eifersüchtige Gott, der allein souverän sein will". Wird Gott „erlebt", dann ist er nicht mehr „das Telos und die Krisis alles Lebens", der Ursprung und Erlöser alles Daseins. Dann wird die Gottesfrage „zu einer ,Und'- und ,Auchc-Frage" ! Brunner faßt seine Argumentation zusammen in der Alternative: „Entweder ist Gott der Alles Begründende, und der Inhalt des Glaubens das schlechterdings psychologisch nicht Lokalisierbare und transzendental nicht Ableitbare; oder dann ist er nicht Gott." 4 1 Nur der Glaube, der dieser Alternative entspricht, hält Gott und Mensch in der rechten Weise beieinander. Er wagt es, vom Menschlichen abzusehen, indem er Gott als Erstes setzt, als Voraussetzung aller Setzungen. Er erkennt uneingeschränkt als das Erste an, „daß Gott uns sieht, daß wir von ihm auf ihn bezogen sind; erst das Zweite ist unsere Beziehung auf ihn". Er hält die menschliche Wahrheit fest, daß wir mit nichts aus der Atmosphäre von Tod, Unrecht und Sünde ausbrechen können, auch nicht mit unserem frommen Bewußtsein. Denn „der Punkt", „wo das Neue, das Andere, die Welt der Erlösung unsere Welt berührt", ist in der Erfahrung nicht zu treffen! Der neue Mensch ist in Gott verborgen, „die Erlösung ist zu glauben und zu hoffen, als das, was Gott allein tut, tun wird" 42 . Von dieser Einsicht, das ist das erste Ergebnis, müßte also die Frage der Anthropologie geleitet sein, wenn sie wahrheits- und wirklichkeitsgemäß gestellt werden soll: Sie darf sich nicht auf den Weg einer subder Gebildeten gangbare Münze ist, während von Gott zu reden als unwissenschaftlich und anstößig gilt" (GrHu, DialTh I, S. 273). Hinter diesem Rettungsversuch der Selbständigkeit der Religion, dem allerdings die Souveränität Gottes zum Opfer fällt, steht letztlich die „Angst vor der Wissenschaft". Darum das Bedürfnis der Auseinandersetzung mit der Kultur, das Suchen nach einem Gottesbeweis, der Versuch, das Religiöse im Vernunftnotwendigen zu verankern. Die andere Wurzel liegt ebenfalls in einer Abwehrbewegung: in der „Angst vor dem Intellektualismus". Aus der richtigen Einsicht, daß ein „bloß intellektuelles Wahrhalten von Lehrsätzen kein Glaube sei, zog Schleiermacher den unheilvollen Schluß, das Wesentliche der Religion könne also nicht in der Beziehung auf Wahrheit, nicht in der objektiven Gerichtetheit auf ein Anderes bestehen, sondern nur in der Subjektivität, im Gefühl. Damit war das große Dogma der neuzeitlichen Theologie formuliert" (a.a.O., S. 276 f.). 41 42
GrHu (Nachwort für Theologen), DialTh I, S. 274.276. GrHu, S. 278.
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jektivistischen anthropologischen „Theologie" einlassen, sondern muß ihren Weg in der Uberwindung alles Psychologismus als Weg des Glaubens gehen. 4. Das historistische Mißverständnis des Glaubens Mit der Kritik am Psychologismus im Namen der Jenseitigkeit des Glaubens verbindet Brunner unmittelbar seine Kritik am Historismus. Dies erscheint zunächst überraschend; denn ging es dort um die beherrschende Kategorie des subjektiven Erlebnisses, so geht es hier um die Kategorie des objektiven Geschehens, also um zwei durchaus verschiedenartige Weisen der Wirklichkeitserfassung, die auch in ihrer Bedeutung für das Offenbarungsgeschehen nicht ohne weiteres auf den gleichen Nenner gebracht werden können. Brunner weiß wohl um diese Verschiedenartigkeit, aber er sieht in ihr keine prinzipielle Differenz. Von seiner Blickrichtung und Frontstellung aus rücken beide Anschauungen so eng zusammen, daß sie als Spielarten der gleichen Grundanschauung erscheinen. Psychologismus und Historismus sind ihm Zwillingsbrüder. Denn beide haben mit ihrem Interesse am Individuellen, an Entwicklung und Entfaltung ihren Ursprung im romantischen Geist, beide rechnen mit einer geschlossenen „einflächigen Empirie", beide werden beherrscht von einer kausal-mechanischen Denkweise 43 . Das spezifisch historistische Denken, wie Brunner es hier vor Augen hat, geht von der Voraussetzung aus, daß im Gesichtspunkt der Entwicklung der Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit liegt. Nicht das Fragen nach dem Faktum im Rankeschen Sinn (wie ist es gewesen) macht seine Besonderheit aus, sondern der Versuch zu erklären, wie etwas geworden ist, und zwar nach dem Grundsatz: Verstanden ist, was aus seiner Entwicklung erklärt werden kann. Kein Zweifel, daß mit der Anwendung dieser Denkweise innerhalb der Theologie das Problem der Geschichtlichkeit des Offenbarungsgesdiehens einer radikalen Lösung zugeführt wird, die es nicht mehr erlaubt, ernsthaft von Offenbarung zu reden. Die geschichtliche Evolution tritt an ihre Stelle, bzw. der Mensch, der sich in ihrer Erforschung selbst Geschichte „offenbart". Brunner wirft dem theologischen Historismus jedoch nicht nur die Verwechslung von Offenbarung und Geschichte vor 44 , sondern er stellt ihm 43 EEG, S. 105. Zur Verdeutlichung der hier entwickelten Auffassung wird im folgenden noch der Abschnitt aus M y 1 , S. 206 ff. („Der geschichtliche Jesus und der Jesus Christus des Glaubens") herangezogen, dem die gleichen Gedanken zugrunde liegen, sowie Brunners Antwort an H.Stephan: „Geschichte oder Offenbarung" (ZThK N F 6 1925, S. 270 ff.). 44 Vgl. seine in der Auseinandersetzung mit H. Stephan vorgetragene Definition: „Unter Historismus verstehe idi (sofern es sich um christliche Theologie handelt) nicht
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gegenüber die prinzipielle These auf, daß der Glaube überhaupt nicht geschichtlich orientiert sei! „Die Geschichte ist für ihn Scham und Verlegenheit. Es ist eins der großen MißVerständnisse der Neuzeit, daß man den Offenbarungsglauben . . . mit geschichtlichem Interesse identifizierte." Er hat jedoch „nichts weniger als geschichtliches Interesse", d. h. er ist nicht nur „gegen die Geschichte als solche gleichgültig; er steht auch zum ,geschichtlichen Denken' in einem scharfen und bewußten Gegensatz" 45 . Daß dem entwicklungsgeschichtlichen ebenso wie dem psychologischen Denken ein gewisses Recht zukommt, wird dabei von Brunner natürlich nicht bestritten. Der „Widersinn" beginnt für ihn da, wo es zur Weltanschauung wird, wo man versucht, geschichtliches Denken „in den Glauben hineinzubringen". Denn hier stößt Unvereinbares aufeinander: Der Bereich der Geschichte gehört für Brunner in den Kreis der „menschlichnatürlichen Immanenz". Und der damit verbundene Entwicklungsgedanke ist seinem ganzen Wesen nach konsequenter Monismus. „Geist" hingegen kann nur dualistisch verstanden werden. Im Geistgeschehen des Glaubens geht es gerade um den Durchbruch aus einer anderen Dimension in die Ebene des Empirischen, um den Durchbruch des Gottesgeistes in die Welt der Gegebenheiten 46 . Man kann darum, so folgert Brunner, „nicht beides ernstnehmen, Gott und die Geschichte"47. Brunner bestreitet nicht, daß er mit dieser schroffen Trennung von Glaube und Geschichte auf den Spuren Overbecks wandelt, und es fällt nicht schwer, dessen Einfluß bis in die Formulierung hinein nachzuweisen48. Aber der Sinn der Entgeschichtlichung des Glaubens ist bei Brunner ein Übermaß historischen Interesses, nicht ein gegenwartsfremdes Hangen am Vergangenen, sondern nichts anderes als: die Verwechslung von Offenbarung und Geschichte" (ZThK 6 1925, S. 270). 45 EEG, S. 105ff., vgl. ZThK 6 1925, S.270: „Für mich — wie für die Reformatoren — ist Geschichte, einschließlich die Religionsgeschidite in all ihren Teilen, das, wo von die Offenbarung in Christus uns, wie vom aion hutos überhaupt, erlöst." " EEG, S. 108 f. 47 EEG, S. 112. 48 Vgl. etwa: „Das Christentum hat damit angefangen, eine Geschichte für sich abzulehnen und eine solche denn auch nur gegen seinen eigenen, uranfänglich ausgesprochenen Willen erlebt. Was es damit getan und erlebt, läßt mit unübertrefflicher Eindringlichkeit sein Verhältnis zur Geschichte erkennen. Es selbst eröffnet keinerlei Aussicht, daß es gewillt wäre, auf Grund geschichtlicher Erkenntnis sich verteidigen zu lassen. Das Christentum unter den Begriff des Historischen stellen, also zugeben, daß es historisch geworden ist, heißt zugeben, daß das Christentum von dieser Welt ist und in ihr, wie alles Leben, nur gelebt hat, um sich auszuleben. Der Kategorie der Entwicklung unterliegend, unterliegt es auch dem allgemeinen Schema der historischen Betrachtung der Dinge . . . Auf den Boden der geschichtlichen Betrachtung versetzt, ist das Christentum rettungslos dem Begriff der Endlichkeit oder auch der Dekadenz verfallen" (Fr. Overbeck: Das Christentum und die Kultur, 1919, 2. Aufl. d. Wiss. Budigesellschaft Darmstadt 1963, S. 7 f.). — Overbecks Begriff der „Urgeschichte" steht Brunner mit größerer Vorsicht gegenüber als Barth. Er hat richtig erkannt, daß es für
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dennoch ein ganz anderer. Er vertritt seinen Standpunkt ja nicht als Skeptiker, sondern er möchte wiederum die echte Jenseitigkeit des Glaubensgeschehens wahren. Sein vom Historismus geprägtes Verständnis der Geschichte erlaubt es ihm nicht, diese Jenseitigkeit mit dem Begriff geschichtlichen Geschehens zu verbinden. Das provozierende Nein zur Geschichte muß also in diesem Rahmen gesehen werden. Es hat seinen Sinn nur in der Beziehung auf jenes Ja, das sein dialektisches Gegengewicht bildet: das J a zum transzendenten Offenbarungshandeln Gottes als einer völlig neuen Kategorie. Nur von daher wird Brunners undifferenziertes Nein gegenüber der Kategorie des Erlebnisses wie gegenüber der Kategorie der Geschichte überhaupt erst verständlich: Es geht ihm darum, daß das Offenbarungsgeschehen als die absolut neue Kategorie ernstgenommen wird. Sie ist identisch mit Jesus Christus als Gottes Wort und Tat in der Geschichte. Es fehlt ihr also keineswegs ein geschichtlicher Bezug. Brunner legt allen Wert auf die Feststellung, daß es hier nicht um eine bloße Idee geht, sondern um die wirkliche Offenbarung Gottes in der wirklichen Menschwerdung. Aber diese Geschichtlichkeit hat, so scheint es, keinerlei Folgen für das Verständnis der Geschichte überhaupt. Brunner kennt nur die Alternative Geschichte oder Offenbarung, er hält es für absurd, Geschichte als Offenbarung aufzufassen. Als Abwehr eines Geschichtsphänomenalismus, der eine immanente Offenbarungsqualität der Geschichte behauptet, ist das verständlich. Aber es bleibt verwunderlich, daß er sich von jener zugestandenen Geschichtsbezogenheit der Offenbarung aus nicht doch zu einer Modifikation seines einseitig am Historismus fixierten Geschichtsbegriffs veranlaßt sah, wie er sie später mit der Betonung der Einmaligkeit und des „ein für allemal" tatsächlich vorgenommen hat. Nodi in der Auseinandersetzung mit H. Stephan (1925) kann er formulieren: „Christus ist weder Idee noch Geschichte."49 Nach allem Gesagten besteht kein Zweifel mehr, wie das gemeint ist: Für den Glauben bleibt es völlig irrelevant, in welchen geschichtlichen Zusammenhängen Christus existierte. Denn dem Glauben „ist das Daß und das Was alles, das Wann, Wie und Warum ist ihm gleichgültig". Er ist eben „nicht geschichtlich, sondern inhaltlich orientiert" 50 . Overbeck audi in der Urgeschichte ebensowenig eine Gottesoffenbarung gibt wie in der übrigen Geschichte. Der Begriff ist nur als ein methodischer Wink für alle Geschichtswissenschaft gemeint und wohl, wie Brunner vermutet, dem romantischen Prinzip der Individualität, daß alles Geschichtliche in seinem Anfangspunkt unableitbar, geheimnisvoll sei, entsprungen (EEG, S. 107 Anm. 1. I l l Anm. 1). Z T h K 6 1925, S. 271. E E G , S. 106 ff., vgl. M y 1 : „Der biblisch-reformatorische Glaube aber hat es weder mit dem geschichtlichen Christus noch mit der werdenden Seligkeit zu tun" . . . „Nicht als geschichtliche Kraft, nicht als Anfänger einer geschichtlichen Reihe, sondern als das Wort Gottes an uns, ist Jesus der Christus des Glaubens" (S. 220). „So ist der Jesus 49 50
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Lassen wir einmal die Frage beiseite, ob dies alles dem Glauben wirklich so gleichgültig sein kann, wie Brunner es hier (ebenso wie der junge Barth) behauptet, und ob die Alternativen sinnvoll sind, so wird jedenfalls deutlich, worin er die Eigentümlichkeit des Geschehens von Offenbarung und Glaube sieht. Der Glaube fragt nicht nach dem Christus „nach dem Fleisch", sondern nach dem „Sohn Gottes nach dem Geist". Ihm ist allein wichtig, daß er „vom ,Himmel' auf die Erde kam", daß er „von Gott gesandt" ist, daß er „das Andere" bringt und repräsentiert, das „Wort von Jenseits"51. Er fragt also nach Gott selbst, nach der göttlichen Autorität, die als solche gar nicht geschichtlich begriffen werden kann; denn „die Autorität ist hinter der Geschichte, ,metahistorisch' " 52 . Als das autoritative Wort Gottes an uns ist Jesus der Christus des Glaubens. Man könnte also geradezu sagen: Seine Besonderheit ist das Wort, das er ist. An diesem Wort hängt der Glaube, an dem richtenden, rettenden Gotteswort als der Wahrheit des Wirklichen. Aber dies Wort ist geschichtlich nicht verifizierbar, weil man das, was es besagt, nicht vermöge einer geschichtswahrnehmenden Kategorie sehen kann. Das geschichtliche Inkognito Christi läßt sich auf keinerlei menschliche Weise aufheben, auch nicht durch das menschliche Wort, das er spricht53. Die Konsequenz Christus des Glaubens ebensowenig der historische Jesus, als die Idee des Christus" (S. 226). 51 EEG, S. 108. 122ff. (nur in der 2. Aufl.); My 1 , S. 220. 52 ZThK 6 1925, S. 273. Audi Jesu eigenes Verhalten ist demnach als gesdiiditliches Phänomen nicht eo ipso Offenbarung Gottes. Brunner macht das in einer interessanten Stellungnahme gegen A. Ritsehl deutlich. Für Ritsehl „ist mit der Wahrnehmung, daß Jesus in seinem Leben sich als ein Mensch mit vollkommener Liebe zeigt, die Frage entschieden, ob er Gottes Offenbarung sei. Daß es einen solchen Menschen gibt — das ist ihm Gottes Offenbarung. Für Luther würde hier die Frage erst anheben: Ist Gott gegen midi, den Sünder, so gesinnt, wie dieser Mensch gegen seine Mitmenschen gesinnt ist? Er fragte nadi dem Geheimnis des göttlichen Willens . . . , weil er die Gerechtigkeit Gottes und seinen Zorn ebenso ernst nahm, wie die Liebe. Ob Gott vergebe — diese Frage war ihm nicht damit gelöst, daß er einen Mensdien kannte, der wirklich nur liebend, vergebend mit den Mitmenschen handelte. Erst jetzt erhebt sich für ihn die Frage: Darf idi annehmen, daß Gott gegen midi so gesinnt ist, wie dieser liebende Mensch? D . h . er stellte nicht die Frage nach der geschichtlichen Erscheinung als solcher, sondern nach ihrer Autorität . . . Daran wird nun alles hängen: zu wissen, ob es wirklich Gott sage, er sei die Liebe. Also nidit die geschichtliche Erscheinung eines, wie es uns scheint, wirklich vollkommen liebevollen Menschen, sondern einzig und allein dies entscheidet darüber, ob dieser Mensch Gottes Offenbarung sei: daß in ihm wirklich göttliche Autorität handelt und redet. Eben das aber kann nicht geschichtlich erscheinen . . . Nicht: weil dieser Mensch sich uns als vollkommene Liebe zeigt, ist Gott Liebe. Sondern weil dieser Mensch, der sich uns so zeigt, außerdem und indem er so ist, Gottes Sohn ist, darum dürfen wir sagen: Gott ist die Liebe" (a.a.O., S. 272). 53 Das ist Brunners Vorwurf gegen Schleiermacher und Ritsehl, daß es für sie „kein Inkognito Christi und also im Grunde gar keine Notwendigkeit der Offenbarung" gibt; „daß man sich dort mit der historischen Erscheinung als solcher begnügt und alle Aus-
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eines prinzipiell verstandenen Inkognito müßte dann allerdings sein, daß auch das Wort als solches keine Offenbarungsqualität besitzt, sondern als menschliches Wort ebensowenig wie die Geschichte den Abgrund überbrücken kann, der den Menschen von Gott trennt! Und doch zeigt sich gerade hier bei Brunner eine gewisse Zweideutigkeit, die für die weitere Entwicklung ungemein bedeutungsvoll ist. Das Wort gehört für ihn nämlich seinem Wesen nach nicht zum Bereich des Geschichtlichen, sondern es steht ihm gegenüber. Es ist, gerade auch in seinem allgemeinen Sinn, „die Grundtatsache des Geistes". Geist ist nur, wo Wort ist. Das „Wort" schlingt sich als das gemeinsame Band um die Vernunft und um die Offenbarung 54 . Wir werden Brunners Wortverständnis im Rahmen unserer Fragestellung noch eingehender behandeln müssen. Hier sei nur auf diese besondere Qualität hingewiesen, die Brunner dem Wort beilegt. Es ist der für die Charakterisierung des Offenbarungsgeschehens verbindliche Begriff, mit dessen Hilfe Brunner gerade seinen metahistorischen Charakter kennzeichnet. Im Wort der Offenbarung geht es um die ewige Wahrheit. Sie ist nicht gebunden an die Zeit, sondern zeitlos — gestern, heute und in Ewigkeit dieselbe. Gott hat sich schon immer als der erwiesen, der er ist! Wahrheit in diesem Sinne ist darum „nicht etwas innerhalb der Geschichte, sondern die Geschichte ist etwas innerhalb der Wahrheit". Im Anschluß an Kierkegaard hebt Brunner insbesondere die Gleichzeitigkeit als die eigentliche Kategorie des Wortes hervor 55 . Im Wort wird gewissermaßen die Distanz überwunden. Es schafft Unmittelbarkeit, Gegenwart, es hält die Wahrheit gegenwärtig. Glaube an das Wort bedeutet also: gleichzeitig werden mit der Wahrheit, um die es in diesem Wort geht, d. h. unmittelbar auf Gott bzw. auf Christus bezogen sein 56 . Mit dieser, das Element der Geschichte systematisch ausschließenden Verbindung von Wort und Glaube hat Brunner wiederum eine radikale Gegenposition bezogen. Getragen vom Schwung der Antithese, aber audi von bestimmten metaphysischen Voraussetzungen, spricht er sein Nein zur Geschichte im Namen des Glaubens. Die Geschichte als solche spielt für das Gottesverhältnis des Menschen keine Rolle. Sie ist eben nicht sagen, die ,hinter' die Geschichte weisen, ablehnt, w ä h r e n d wir mit O f f e n b a r u n g gerade das meinen, w o z u sich alle Gesdiichte, auch das Leben Jesu, nur als das I n k o g n i t o v e r h ä l t . . . " ( Z T h K 6 1925, S. 273 f.). 5 4 M y 1 , S. 89 f. Wir ziehen auch hier als K o m m e n t a r zu den mehr thesenartigen A u s s a g e n M y 1 heran. 5 5 E E G , S. 109 f. 107 A n m . 1. M y 1 , S. 220 ff. 5 6 V g l . M y 1 , S. 2 1 4 : „ M i t d e m Verhältnis: W o r t — G l a u b e ist ohne weiteres das andere gegeben: Gleichzeitigkeit mit Christus, A u t o n o m i e jedes Einzelnen, a l l g e m e i n e s Priestertum'. Dies aber ist nur dadurch möglich, d a ß das Verhältnis zu Christus kein kausales und also historisches, sondern ein sachliches (wahrheitsbezügliches) und also nicht-geschichtliches ist. D e r G l a u b e muß, u m den Einzelnen mit Christus gleichzeitig zu machen, die geschichtlichen Bedingungen als ebenso belanglos ansehen dürfen, wie die psychologischen."
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Wort. Nicht einmal die geschichtliche Erscheinung Jesu Christi eröffnet innerhalb der Geschichte die Möglichkeit der Begegnung mit Gott, denn als der geschichtliche Mensch bleibt er inkognito. Betonte Brunner gegenüber dem psychologistischen MißVerständnis den Glauben als Sprung in ein Jenseitiges, so hebt er nun in einer erstaunlichen Umkehrung der Argumentation die Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses hervor: „Jeder Mensch ist unmittelbar zu Gott und seiner Wahrheit, und wenn er das nicht (mehr) ist, ist das seine Schuld und nicht ein Entschuldigungsgrund (Rom. 1)." 5 7 Diese Unmittelbarkeit steht ebenso wie die Behauptung einer zeitlosen Wahrheit zweifellos in einer gewissen Konkurrenz zur Funktion Christi als dem Offenbarer des Wortes Gottes in der Zeit. Sie ist nicht konzipiert im Hinblick auf das D a ß seines Gekommenseins, sondern ergibt sich aus dem unabhängig hiervon gewonnenen Geistverständnis und aus der Identifizierung von Wort und Geist: „Der Geist ist unmittelbar zu G o t t " ; er ist das „direkte Verhältnis zur absoluten Wahrheit"; „der Ernst des Geistes kennt nur die Gleichzeitigkeit" 58 . So läßt sich der Verdacht kaum abweisen, daß Brunner zwar im Namen des Glaubens die Geschichtlichkeit der Offenbarung bestreitet und also der Geschichte jegliche Bedeutung für das Gottesverhältnis des Menschen abspricht, daß er aber faktisch im Namen einer übergeordneten Metaphysik des Geistes argumentiert, die von anderen Voraussetzungen ausgeht. Zugleich zeigt sich hier erstmals eine Spur, die zu einer differenzierteren und vertieften Frage nach der Gottbezogenheit des Menschen führen könnte. Es läßt sich schon jetzt vermuten, daß dabei weniger der Menschwerdung Christi als dem Wortbegriff die tragende Rolle zufallen wird.
5. Das intellektualistische Mißverständnis des Glaubens a) Rationalismus und lebendiges
Denken
Der Nachdruck, mit dem Brunner die Bedeutung des Geschichtlich-Individuellen für das Glaubensgeschehen bestreitet und seine Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit in den Vordergrund rückt, scheint einen ausgesprochen rationalistischen Einschlag seines Denkens zu enthüllen. Wie anders soll man Sätze wie diese verstehen: „Wahrheit ist nie in der Geschichte, sondern immer jenseits und trotz der Geschichte. Was geschichtlich werden kann, ist eben, weil es dies kann, nicht Wahrheit. Wahrheit hebt ebenso wie das Individuelle auch das Geschichtliche auf. Wahrheit ist darum von ihrem Fundort unabhängig, sie ist semper et ubique." 59 Dieser Wahrheitsbegriff gerät für Brunner in dem Augenblick, wo es um die im Glauben ergriffene Wahrheit geht, wie wir sahen keineswegs in die Krise, sondern er bleibt audi hier bestimmend. Und so überrascht es 57 59
EEG, S. 110. My1, S. 222.
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EEG, S. 112.
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nicht, daß Brunner expressis verbis dem Rationalismus gegenüber dem Historismus Redit gibt. Müßte gewählt werden zwischen dem Rationalismus, der nur an einen ewigen Logos glaubt, und einem Realismus, der die Erlösung im geschichtlich Zufälligen, in der Sphäre von geschichtlichem Ereignis und psychischem Erlebnis sucht, „dann tausendmal: Rationalismus"! Nicht das ist nämlich sein Fehler, daß er in Christus die ewige Wahrheit und nicht die geschichtlich wirkende Persönlichkeit sieht, sondern daß er „die Wahrheit als Besitz des Menschen, und also als seine Natur betrachtet" eo . Im Immanenzverständnis der Wahrheit steckt also der Irrtum. Und an dieser Stelle sieht Brunner sich nun auch vom Rationalismus radikal geschieden. Er empfindet, daß seine Betonung des Logos im Glauben den rationalistischen Verdacht immer wieder hervorrufen muß, solange nicht das rechte Verständnis des Logos „jenseits alles bloß Logischen" klargestellt und der irrationale Charakter des Glaubens auch gegenüber dem Rationalismus deutlich gemacht ist 61 . Im Zusammenhang dieser notwendigen Absicherung eröffnet Brunner seine Auseinandersetzung mit dem Intellektualismus. Sie steht unter dem Stichwort „Religion als Erkenntnis". Es geht hierbei um das Recht und um die Grenzen jener Auffassung, die Religion primär als Erkenntnis Gottes bestimmt und in eins damit als Erkenntnis der Stellung des Menschen in der Welt und seiner Bestimmung im Leben. Ist Offenbarung nicht das Korrelat der Erkenntnis? Entspricht dem Offenbarwerden nicht ein Erleuchtetwerden, eine Gewißheit, die im Wissen beruht, ein Denken, das im Nachdenken Gottes seinen Grund hat 62 ? So wenig dieses Bewußtsein des Glaubens bestritten werden kann, so sehr bedarf die Funktion und Zulänglichkeit des Verstandes in dieser Hinsicht einer Klärung. Brunner hatte sich ja bereits in seiner Dissertation gegen den erkenntnistheoretischen Intellektualismus gewandt, der nur dem Verstand Wahrheitserkenntnis zubilligt, und ihm gegenüber die Intuition als tiefere Erkenntnisquelle verfochten63. Unter dem Einfluß des Bergsonschen Antiintellektualismus sah er in der Verstandeserkenntnis vor allem den Mangel an Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit, die Auflösung der lebensvollen Ganzheit in zergliedernder Analyse und ihre künstliche Zusammenfügung in einem selbstgeschaffenen gedanklichen System. So wie der Forscher eine Blume zerlegt und damit ihre Schönheit zerstört, so zerlegt 6 1 E E G , S. 114 ff. 2. 4. My 1 , S. 222. »2 E E G , S. 27 ff. m Siehe oben S. 23. Brunner unterschied damals eine dreifache Gestalt des Intellektualismus: den Intellektualismus im ethischen Sinn, der in der theoretischen Betätigung des Menschen das höchste Ziel sucht, den Intellektualismus im psychologischen Sinn, der den Intellekt für die dominierende Funktion der mensdilichen Seele hält, und den Intellektualismus im erkenntnistheoretischen Sinn, der nur dem Verstand Wahrheitserkenntnis zubilligt (Symb, S. 126 f.).
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der Verstand Welt und Leben und entfremdet sie uns dadurch 64 . Diesem entfremdenden Charakter des begrifflich-analytischen Denkens galt der Protest. Er wird auch jetzt nicht zurückgenommen. Aber Brunner hat mittlerweile gelernt zu differenzieren; er ist vor allem aufmerksam geworden auf die Bedeutung des Logos, der das „logische" Denken noch in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt. So fragt er nun, ob die antiintellektualistische Verstandeskritik dem vorliegenden Problem wirklich gerecht wird. Ist nicht auch die ganze scharfsinnige begriffliche Analytik Bergsons nichts anderes als „ein Bravourstück des Verstandes"? Wird hier nicht das Verstandesmäßige, indem es kritisiert wird, zugleich rehabilitiert? Mit dieser Gegenfrage bahnt Brunner sich den Weg zu einer neuen Beurteilung des Verstandes, die davon ausgeht, daß er „auch in den höchsten Dingen nicht nur ein Verderber, sondern ein Helfer sein" kann 6 5 . Denn der Vorgang des Denkens erschöpft sich ja nicht in jenem analysierend-begründenden Entfremdungsakt, der sich in Begriffen und Formeln niederschlägt, sondern die Tiefe des Denkens zeigt sich gerade in der entgegengesetzten Tendenz: im beständigen Hinausfragen über alles begrifflich Gegebene, im Hintersichlassen der eigenen Denkmodelle, in einem Verstehen, das den Sinn im Ganzen sucht und erfährt. Brunner nennt diesen unablässig in die Tiefe dringenden Denkwillen „lebendiges Denken". Es hat „eine absolute Lebendigkeit in sich". Es ist immer in Bewegung, im Vorwärtsschreiten begriffen vom Gegebenen zu den letzten Voraussetzungen, zum Ursprung selbst. Das ist seine absolute Lebendigkeit, daß es diese Beziehung auf das Jenseitige in sich trägt und dementsprechend auch das Bewußtsein seines eigenen Ungenügens 66 . Dieses an der Idee des Ursprungs orientierte Denken — man könnte auch sagen: dieses ursprüngliche Denken — schließt den Intellektualismus aus, denn es bedeutet ja gerade die Aufhebung all dessen, was das Wesen des Intellektualismus ausmacht. Intellektualismus tritt nämlich immer dann ein, wenn das Denken sich mit dem Sein verwechselt, wenn es in seiner Bewegung erstarrt, wenn man Erreichtes für erreicht, Gegebenes für gegeben, Erkanntes für erkannt hält, so daß man mit einem endgültigen „so ist es" sich über das Erkannte stellt. Hier wird dann Wahrheit verrechenbar, verfügbar; hier unterwirft man sich ihr nicht immer wieder in der Demut des Vernehmenden, der unter ihr steht, sondern man geht übermütig mit ihr um wie mit einem gesicherten Besitz. Hier ist der Geist wiederum zur Sache geworden. Die bloße Verständigkeit mit all ihrer Sattheit und Seichtheit tritt an die Stelle des Verstehens, das sich als unendliche Aufgabe erfährt. So kommt es im intellektualistischen Mißverständnis des Glaubens zur Verwechslung der Gottes idee mit Gott. M
EEG, S. 62. «» EEG, S. 70 ff.
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EEG, S. 64 ff.
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Das gedankliche System wird zur Wahrheit selbst. Die Lehre wird zum Gegenstand des Glaubens — „der Katechismus, die mechanische Lehrbarkeit, das Fertigsein, das Dogma —, das ist das notwendige Resultat jener Verwechslung und Erstarrung" β7 . b) Die Idee des Ursprungs Das eigentlich Bedeutsame an dieser Auseinandersetzung Brunners mit dem Intellektualismus ist die Rolle, die der philosophische Ursprungsgedanke in ihr spielt. Brunner führt den Begriff des Ursprungs auf dem Höhepunkt der Darstellung des lebendigen Denkens ein, und es besteht kein Zweifel, daß er den Angelpunkt seiner ganzen Argumentation bildet 68 . Nur die Ursprungsidee bewahrt ja das Denken vor der intellektualistischen Entartung, indem sie es auf seinen jenseitigen Grund, in dem alles begründet ist, auf die letzte Voraussetzung alles Gesetzten, auf den Ursprung alles Erkennens und alles Erkannten verweist. Sie vermittelt also den Jenseitsbezug und gibt dem Denken damit den entscheidenden Hinweis — übrigens den gleichen, den auch Plato mit seiner „Idee" geben wollte. Sie ist „der in die Form des abstrakten Denkens gekleidete Hinweis auf das jenseits der menschlichen Möglichkeiten Liegende, das als solches, als unendlich Fernes, allem Menschlichmöglichen erst seinen Sinn und sein Redit gibt, als seine Begründung und Schöpfung, seine Krisis und Aufhebung". Alle kritische oder transzendentale Philosophie „von Plato bis Kant" ist ihm so Philosophie des Ursprungs. Denn sie widersteht erfolgreich jeder Systembildung. Ihre Geste ist nicht die des Besitzenden, sondern die des über sich Hinausweisenden. Sie findet ihren Anfang und ihr Ende in eben dieser Idee des Ursprungs und bewährt sich darin gerade als echte Philosophie, als lebendiges Denken, daß sie beim Hinweis endet™. Brunner hat sich damit Gedanken der Philosophie des kritischen Idealismus zu eigen gemacht, wie sie im damaligen Marburger Neukantianismus vertreten wurden. P. Natorp, auf dessen „Selbstdarstellung" Brunner sich wiederholt bezieht 70 , schreibt H . Cohen das Verdienst zu, in dem 67 EEG, S. 70. 74 ff. 83. Schon hier meldet sidi bei Brunner die Kritik am Dogmatismus und Objektivismus, die er später in „Wahrheit als Begegnung" vom personalen Wahrheitsverständnis aus konsequent durchgeführt hat. 48 H . Stephan bemängelt, daß Brunner diesen Begriff benutze, ohne ihn jemals genau zu erklären. Er gebrauche ihn wie eine gängige allgemeingeltende Münze, „obwohl er so doch nur den Marburger Neukantianern (seit Cohens Logik) voll verständlich" sei (ZThK 6 1925, S. 164). In seiner Annahme, erst Brunner gebe dem rein rational gebrauchten Begriff eine religiöse Wendung, irrt Stephan. Dies geschieht schon bei H . Barth. «» EEG, S. 74 ff. 82 f. 80 f. 70 P. Natorp über sich selbst in : D i e deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. v. R. Schmidt, Bd. I 1921, S. 151—176; vgl. dazu vor allem Brun-
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Terminus des „Ursprungs" die ursprüngliche Einheit vor aller und über aller Scheidung, wie sie in dem logischen Dreischritt von Thesis, Antithesis und Synthesis zum Ausdruck kommt, zur Geltung gebracht zu haben. Der Ursprungsbegriff drückt hier die Akteinheit aus, die Einheit der Schöpfung, der Erzeugung: „Das ist uns nicht bloß das Erste, sondern Erst-und-letzte, Einzige; nicht ein Vor-und-Nach, Woher-Wohin, sondern das Mittendarin, nämlich in der Tat des Logos; nicht bloß der Anfang, sondern der Ursprung, das schlechthin Radikale, die Wurzel, der alles entspringt, der Quell, dem alles entquillt, das Quellen selbst." 71 Er erscheint so im Begriffsgefüge der Allgemeinen Logik als das letzte Sinngebende, das „dies Sein zum Sein", dieses Denken zur Erkenntnis macht als Sein-denken und Denk-sein, als der „Urpunkt über Denken und Sein", der die Voraussetzung aller Voraussetzungen, sogar des Voraussetzens selbst ist 72 . Natorp nennt dieses Letzte, Urlebendige, Uberreale die Idee oder auch den „Logos selbst", der ausspricht, was ist, der in allem Spruch spricht, „allem Spruch Sinn gibt". Und es besteht für ihn kein Zweifel, daß „der heraklitische und platonische Logos darin ganz mit dem johanneischen" übereinstimmt, „daß der Logos nicht bloß Offenbarer, sondern Erlöser zugleich und Schöpfer ist, als solcher hinaus über Sein und (denkend) Erkennen" 73 . Wird hier in der Höhenluft reinster Abstraktion Philosophie am Ende nicht selbst zur Theologie, indem sie auf dem Weg der allgemeinen Logik dahin zurückkehrt, wovon die Theologie ihren Ausgang nimmt? Dieser Gedanke mußte Brunner um so naheliegender erscheinen, als ihm die Ursprungsphilosophie in der Interpretation Heinrich Barths nahegebracht wurde. Er hörte 1919 auf der Aarauer Studentenkonferenz, auf der er selbst über „Denken und Erleben" sprach, dessen Vortrag über „Gotteserkenntnis", der ihn außerordentlich beeindruckt haben muß. Man kann die Denkimpulse, die ihm die philosophische Konzeption Barths vermittelte, wohl kaum überschätzen. Dies gilt nicht nur für das Verständnis der philosophischen Aufgabe im engeren Sinn, sondern auch für die kritischen Gesichtspunkte, die Brunner in seiner Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen des Subjektivismus geltend machte. Vor allem aber bot sich ihm hier ein philosophisches Selbstverständnis, das Philosophie und Theologie, Denken und Glauben in eine faszinierende Beziehungsnähe brachte. Barth, der die geistigen Grundlagen seines Philosophierens „bei Plato, in der christlichen Gedankenwelt, im Rationalismus, ner, EEG 2 , S. 81—86. Audi Natorps Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Bd. I 1912, wird von Brunner mehrfach zitiert. Von den übrigen Werken Natorps, deren Kenntnis Brunner verrät, ist vor allem „Piatos Ideenlehre" (1903), 1921 2 , zu nennen. 71 72 Selbstdarstellung, S. 173 f. A.a.O., S. 160 f. 162 f. 73 A.a.O., S. 160 ff. 175 f.
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bei Kant und Fichte, in der Marburger Schule" fand 7 4 , bestimmte als Arbeitsfeld der Philosophie den Bereich „des Wortes, welches im Anfang war, und durch welches alles geschaffen ist". Er konstatiert also von vornherein eine Gemeinsamkeit von Philosophie und Theologie in dem für beide verbindlichen Logos. Audi die Philosophie verlangt nach dem eindeutigen und objektiven göttlichen Wort und ist auf ihre Weise Sachwalterin des Logos, des von ihm bestimmten Geisteslebens. Denn die adäquate Deutung des Geisteslebens fordert das Zurückgehen an einen Ort, der allen Zusammenhängen physischer und psychischer Art prinzipiell entnommen ist, das Zurückgehen zur Idee als dem Ursprung. Nur in der Begründung durch die echte Transzendenz des Ursprungs wird Erkenntnis autonom und ursprünglich. Darin ist erst dem Geist sein Recht gegeben, das „Wunder des Geisteslebens" anerkannt. Barth faßt diese Überlegungen in dem programmatischen Satz zusammen: „Im Ursprung ist der archimedische Punkt gefunden, von dem aus das Schwergewicht der Physis prinzipiell überwunden wird; an ihm wird sich ein neues Denken, eine neue Philosophie in jedem Schritte, den sie unternimmt, zu orientieren haben." 7 5 Orientierung am Ursprung heißt darum, das Gewordene prinzipiell in Frage stellen und sich der schöpferischen Voraussetzung alles Lebens zuwenden. Orientierung am Ursprung heißt für Barth damit zugleich Hinwendung zu Gott. Denn in Gott ist Ursprung und Idee schöpferischen Handelns. Unser Lebensbewußtsein als Ursprungsbewußtsein ist das Bewußtsein der Gotteszugehörigkeit: Der Menschengeist erkennt in seiner Autonomie „die unbedingte Ursprünglichkeit, die unvermittelte Gottzugehörigkeit seines eigenen Wesens". Die Philosophie, die in Treue ihres Amtes waltet, erkennt auf diesem Wege, „daß ohne Gründung in Gott alles eitel Unsinn und Chaos ist", und sie ruft darum der Welt die alte und neue Losung zu: „Suchet Gott, so werdet ihr leben!" 7 6 Von daher gesehen überrascht es nicht, wenn ein Jahr später an der gleichen Stelle Karl Barth die Hand, die ihm sein philosophierender Bruder entgegenstreckt, auch als Theologe ergreift und die biblische Gotteserkenntnis als „den Anfang und das Ende, den Ursprung und die Grenze, die schöpferische Einheit und die letzte Problematik aller Erkenntnis" bezeichnet. Man spürt keinen Vorbehalt, aber bezeichnenderweise auch kein besonderes eigenes Engagement in dieser Richtung, wenn er im Hinblick auf die biblische Deutung des Weltgeschehens hinzufügt: „mit der philosophischen Deutung wird sie, sofern es sich um eine Philosophie handelt, die sich selbst versteht, letzten Grundes identisch (!) sein" 7 7 . H.Barth, A.a.O., S. 77 K . B a r t h , vgl. dazu audi 74 75
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Gotteserkenntnis, 1919, in: DialTh I, S. 225. 7 8 A.a.O., S. 239. 243 f. 247. 249. 245. 224. 234. 238. Biblische F r a g e n . . . (Aarauer Vortrag 1920), in: DialTh I, S. 49 f.; seinen berühmt gewordenen Satz aus dem Vorwort zur 2. Aufl. des
Eben diesen Satz greift Brunner zustimmend auf 78 , um nun seinerseits um so nachdrücklicher den identischen Sinn von Ursprungsidee und Gottesgedanke hervorzuheben: „Gott ist Logos, das Wort, das im Anfang war." Darum kann man ihn nur so „erleben", wie man Geist, Sinn, Wahrheit erlebt. Man kann ihn nur verstehen, indem man seine Gedanken nachdenkt. In diesem Denken will Gottes Angesicht sich im Menschen spiegeln. Und es ist das lebendige Denken, das diese „Beziehung auf das Jenseitige und darum das Bewußtsein seines eigenen Ungenügens in sich hat. Das ist das gemeinsame Zeugnis des richtig verstandenen Evangeliums und des richtig verstandenen Plato." 79 c) Glaube und Denken Brunner wiederholt damit nur, wie wir bereits sahen, Aussagen der Ursprungsphilosophie. Aber er wiederholt sie als Theologe und muß sie darum theologisch verantworten. Die These, daß die Ursprungsidee mit Gott identisch ist und daß dem platonischen Logos der johanneische Logos entspricht, hat ja eine weitreichende Konsequenz, die Brunner kaum entgangen sein dürfte. Sie führt letztlich zur Behauptung einer Affinität wenn nicht gar Identität von Glaube und Denken. Wenn es Brunner um die unbedingte Wahrung der Jenseitigkeit des Glaubens ging, dann konnte er dem sich hier aufs neue meldenden Problem nicht aus dem Wege gehen: Wie verhält sich das am Ursprung orientierte Denken, in dem der Menschengeist seiner unmittelbaren Gotteszugehörigkeit bewußt wird, zu dem Vorgang des Glaubens, in dem Gott unter Absehen von allem Menschlichen ergriffen wird? Kommt dem lebendigen Denken die gleiche Jenseitsbezogenheit zu wie dem Glauben? Führt dann nicht doch ein Weg — ein Denkweg — zu dem Ziel, zu dem es nach allem zuvor Gesagten keinen Weg geben konnte? Brunner steht diesen Fragen jedoch anscheinend an dieser Stelle zunächst mit einer bemerkenswerten Unbekümmertheit gegenüber. So entschieden er das Jenseitsbewußtsein im Erlebnis wie im geschichtlichen Erkennen bestritt und als geraubte Diesseitigkeit Gottes brandmarkte, so unbefangen kann er hier dem Denken echte Jenseitigkeit zusprechen, und zwar zunächst so unreflektiert, daß zwischen dem menschlichen Geistesakt des denkenden Erkennens und dem Erkennen des Glaubens ein merkwürdiRömerbriefs: „Die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung dieses Mensdien zu diesem Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in Einem. Die Philosophen nennen diese Krisis des menschlichen Erkennens den Ursprung. Die Bibel sieht an diesem Kreuzweg Jesus Christus" (S.XIV). 78 „Es ist die Idee des Ursprungs, welche audi, wie Karl Barth mit Redit sagt, den identischen Sinn aller wahren Philosophie und Religion bildet." EEG 2 , S. 82. 77. 79 EEG 2 , S. 76. In My 1 , S. 99, sagt Brunner vom Glauben, daß er ein Nachdenken der Gedanken Gottes sei.
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ges Konkurrenzverhältnis entsteht 80 . Wie soll man es etwa verstehen, wenn er, ohne zu widersprechen, die Sätze Natorps zitieren kann: „Eben darum heißt sich in sich selbst vertiefen, in die Tiefen des Logos herabsteigen, der das All durchwaltet, in seiner letzten Tiefe freilich verborgen, von allem abgesondert . . . Alles also was je die Seele in sich erschaut . . . ist Durchschau zum letzten Grunde, aus dem freilich für sie nur je ein einzelner Strahl des Lichtes fällt, das als ganzes sie blenden miißte . . . Sonnenhaft aber ist dennoch ihr Auge . . . " 8 1 Für Natorp ist das Geheimnis der Seele ihre Urkoinzidenz mit dem Logos. Sie wurzelt im Ewigen 82 und wird sich dieser Verbundenheit mit ihrem letzten Seinsgrund in der Vertiefung in sich selbst unmittelbar bewußt. Der Logos erscheint hier nicht als ein „Draußen"; seine Transzendenz bedeutet nicht, daß er dem Menschen schlechthin gegenübersteht, sondern daß er „allüberragend" — aber auch in allem ist! Im Denken eines jeden hält der „Logos selbst" Zwiesprache mit sich selbst. Diese Immanenz des Logos, diese innerste Seinsverbundenheit der Seele mit ihrem Lebensgrund in der eigenen Tiefe, diese Mystik des Denkens ist die Voraussetzung jener Durchschau zum letzten Grunde 83 . Wenn irgendwo, dann gibt es hier Kontinuität, ungebrochenen Zusammenhang in der postulierten Unendlichkeit und Ewigkeit der Seele. Brunner bemerkt hierzu: Es ist nicht mystische Kontemplation, sondern „die schlichte ,Gründlichkeit des Denkens', seine Selbstbesinnung über sein eigenes Tun, die ,Kritik der Vernunft' durch sich selbst", die „in 8 0 Y. Salakka beklagt in diesem Zusammenhang die eigentümliche Beweglichkeit und Dunkelheit der Geistesauffassung Brunners, die eine Grenzziehung zwischen seinem philosophischen und theologischen Denken unmöglich mache. Er kennzeichnet treffend das Problem: „Die Ursprungs-Idee wird mühelos zu Gott, der Logos zum Logos des Johannes-Evangeliums, das lebendige Denken zum Glauben, die Grenze zwischen Philosophie und Theologie, zwischen Plato und dem Evangelium, verschwindet, aus dem Denken wird Anbetung Gottes, die Rede vom Geist des Menschen verändert sich unmerklich zur Rede von Gottes Geist" (in: Person und Offenbarung in der Theologie E. Brunners, S. 76). 8 1 P. Natorp, Selbstdarstellung, S. 165 f. (vgl. Brunner EEG, S. 84). 82 Vgl. auch H.Barth, Gotteserkenntnis: „Die Seele ist Gott zugehörig; ihr Sollen nicht nur, sondern auch ihr Sein ist unendlich und ewig, weil es ursprünglich ist" (in: DialTh I, S. 246). 8 3 P.Natorp, a.a.O., S. 162 ff. 165 f. 176; vgl. hierzu auch J.C.Franken, Kritische Philosophie und dialektische Theologie: „das reine Selbstgespräch des philosophierenden Menschen bleibt doch einzig und allein ein Dialog innerhalb' des menschlichen Bewußtseins". In der Philosophie nach idealistischer Denkart bedeutet dies, „daß der Mensch auch innerhalb der Seele" nur einen Monolog mit sich selber führt und auch nur führen kann" (a.a.O., S. 61, vgl. auch S. 273 f.). Franken sieht in dem Logos-Begriff des Marburger Neukantianismus und in der daraus entwickelten Logik eine Denkweise, „durch die der .natürliche* Mensch sich selber zum Herrscher über die Wahrheit und Wirklichkeit aller Dinge gemacht hat" (S. 59).
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diese Tiefe führt" 8 4 ! In welche Tiefe? In die Tiefe des menschlichen oder in die Tiefe des göttlichen Logos? Oder ist audi ihm in dieser Tiefe alles eins? Es kommt für das Verständnis und die Beurteilung der Denkvoraussetzungen Brunners entscheidend auf die Klärung dieses Sachverhalts an; denn hier deutet sich womöglich bereits der kritische Punkt an, der in der Folgezeit noch eine so große Bedeutung gewinnen sollte. Die Unbefangenheit, mit der Brunner sich der kritischen Philosophie zuwendet und sich mit ihrem Denken einverstanden erklärt — ist sie nicht gerade der Ausdruck höchster Befangenheit, die den Blick für die Problematik dieser Denkvoraussetzungen trübt und Axiome anerkennt, die erst nodi als theologische Axiome zu erweisen wären? d) Der Begriff des Geistes Die eigentliche Schlüsselfunktion kommt auch hier wiederum dem Begriff des Geistes zu. Schon in der Auseinandersetzung mit dem Psychologismus und dem Historismus spielte er ja unverkennbar die Rolle eines kritischen Prinzips — mit welchem Recht, muß sich nun erweisen. Eine eindeutige Bestimmung dessen, was Brunner unter „Geist" bzw. „Geistigkeit" versteht, ist auch in dieser Phase seines Denkens nicht leicht, da er es selbst an Eindeutigkeit fehlen läßt 85 . Immer wieder scheint es z. B. zweifelhaft, ob von Gottes Geist oder vom Geist des Menschen die Rede ist und ob überhaupt beides als etwas radikal Verschiedenes gedacht wird. Gerade dies ist ja die entscheidende Frage: „wie endlich-natürlicher Geist und göttlidier Geist sich zueinander verhalten, ob sie sich finden und wie sie sich finden, und was das für den endlichen Geist bedeutet, wenn sie sich finden"8e. Die Unsicherheit, die über manchen Äußerungen Brunners liegt, hängt zweifellos damit zusammen, daß er dieser Frage zunächst keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Er argumentiert von einem allgemeinen Geistesbegriff aus, der die etwaige Gegensätzlichkeit von Gottes Geist 84
EEG 2 , S. 84. Y. Salakka meint resignierend: „Wenn Brunner in EEG sich die Mühe gemacht hätte, mit deutlichen Worten auszudrücken, was er mit dem von ihm gebrauchten Geistbegriff meint, hätte er der Forschung einen großen Dienst erwiesen" (a.a.O., S. 63). 8β E. Schaeder, Das Geistproblem der Theologie, 1924, S. 7. Schaeder stellt diese Fragen nicht im Hinblick auf Brunner, sondern im Hinblick auf das Geistproblem überhaupt; vgl. die noch präzisere Formulierung (S. 1): Hat der menschliche Geist „noch einen anderen, einen übernatürlichen und übergeschichtlichen, d.h. göttlidien Gehalt? H a t er als den Beziehungspunkt seiner funktionellen Äußerungen und als den gestalteten Inhalt dieser Äußerungen auch göttlidien Geist, Gottes Geist, also Gott? Und wenn das so ist, wie kommt der endliche Geist zu diesem Besitz? Etwa so, daß er mittels der ihm eigenen Tätigkeitsformen sich selbst den Weg zu diesem Geist bahnt? Oder so, daß er ihn in sein bewegtes Leben hinein als Inhalt empfängt?" 85
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und Menschengeist noch überspannt. Denn es kommt ihm vor allem auf die Besonderheit der Geisteswirklichkeit überhaupt gegenüber allen anderen Erscheinungen an. Der Geist ist „das Wunder schlechthin". So ist ihm alles lebendige Denken, weil es auf Interpretation, auf Deutung, auf ein Sinnganzes ausgerichtet ist, „an sich schon ein Bekenntnis zum Geist". So definiert er auch den Glauben in seiner Bezogenheit auf ein Jenseitiges als „Anschluß an die Geistwirklichkeit". Und so fügt sich ihm beides zusammen: „Was sollte sich offenbaren, was zu glauben sein, als Geist, Sinn, Wort?" Gott kann man eben nur so erleben, „wie man Geist, Sinn, Wahrheit,erlebt', nicht als dinghafte Gegenwart". Die „letzte erreichbare Tat des denkenden Geistes ist die Erkenntnis, daß jeder unmittelbar ist zu Gott", und die nachdrückliche Forderung, von dieser Unmittelbarkeit auch Gebrauch zu machen87. Ruft also der denkende Geist letzten Endes selbst zum Glauben? Oder ist er selbst nichts anderes als eine Form des Glaubens 88 ? Es ist jedenfalls deutlich, wie hier Denken und Glauben als Phänomene des Geistigen so nahe miteinander verwandt sind, daß der denkende Geist in sich selbei schon als Hinweis auf Gott erscheint. Er nimmt die Gottbezogenheit des Menschen wahr. Darin kommt gerade seine Autonomie zum Ausdruck. Man könnte im Anschluß an die Äußerungen Brunners in dieser Richtung durchaus von einer Art „natürlicher Offenbarung" Gottes im denkenden Geist sprechen, von seiner Selbstevidenz in der Wirklichkeit des Geistigen. Geist bedeutet als „Beziehung auf das Absolute" 89 ja zugleich dessen Erkenntnis und Gegenwart. Wird diese Beziehung in der rechten Weise wahrgenommen, dann hat Brunner nichts gegen das „schöne" Hegelwort einzuwenden: „Denken ist auch ein Gottesdienst." 90 Die elementare Gründung des Geistes in der Wirklichkeit Gottes zeigt sich da, wo er dem Gesetz der Wahrheit und des Guten folgt, das „als das göttliche Denken und Wollen" auch der allein mögliche Sinn unseres Denkens und Wollens ist. Ja, es ist überhaupt kein geistiger Akt möglich ohne diese Voraussetzung, denn seine Geistigkeit besteht gerade in dieser Beziehung auf ewige Wahrheit. Brunner kann im Verfolg dieses Gedankens geradezu sagen: „Es ist strengstes kritisches Denken, das uns zeigt, daß wir keinen Gedanken denken können, ohne daß Gott uns zu denken gibt, ohne daß wir in Gott E E G 2 , S. 124. 74. 125. 123 f. 76. 84. So kann Brunner an anderer Stelle durchaus sagen, daß alle sittliche Gesinnung als von Gott begründete „zu ihrer Voraussetzung einen Glauben" hat. Freilich legt er in diesem Zusammenhang gerade allen Wert auf die Feststellung, daß der rechtfertigende Glaube diese Voraussetzung als menschliche Möglichkeit entwertet. 89 E E G 2 , S. 46, Anm. 1. Der ontologische Gottesbeweis besagt danach einfach dies, „daß Gott in jedem geistigen Akt des Menschen sich selber beweise" (EEG 2 , S. 82). 80 E E G 2 , S. 76. 87
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denken. Wahrhaftig: in seinem Lichte sehen wir das Licht." 91 Wieder bleibt die Frage offen, ob es sich hierbei um ein lumen naturae oder um ein lumen gratiae handelt, oder ob gar das eine zugleich als das andere zu verstehen ist. Neben diesem undifferenzierten Allgemeinbegriff des Geistigen, aber auch im Zusammenhang mit ihm, nimmt Brunner nun allerdings doch eine Unterscheidung zwischen dem menschlichen Geist und dem Geist Gottes vor. Und man muß, wenn man Brunner gerecht werden will, anerkennen, daß sein Interesse sich immer stärker auf die Bestimmung des rechten Verhältnisses des Menschengeistes zum Gottesgeist konzentriert. Das gilt schon für den letzten Teil seiner Habilitationsschrift und erst redit für die späteren Arbeiten. Wenn audi jener allgemeine Begriff des Geistigen sich immer noch bemerkbar macht, so läßt sich dodi die Tendenz erkennen, das Verständnis des Geistes nicht unbesehen von der kritischen Philosophie zu übernehmen, sondern auch an ihm das theologische Kriterium, die Unterscheidung zwischen Immanenz und Offenbarung, zwischen Glauben und Denken, zu erproben. Brunner möchte dabei weiterhin mit der kritischen Philosophie ein gutes Stück Wegs gemeinsam gehen. „Die Philosophen sollen auch für den, der vom Glauben aus denkt, nicht umsonst gedacht haben" 92 — das bleibt unbestritten; aber das Geistproblem gewinnt nun als theologisches Problem für ihn doch ganz neue Konturen. Unverändert erhält sich dabei die grundlegende Auffassung einer inneren Verbundenheit mit Gott durch den Geist. Der Menschengeist streckt sich aus nach dem Schöpfergeist, so wie Augustin es in seinem bekannten Wort ausgedrückt hat: „Mein Herz ist unruhig, bis daß es Ruhe findet in Dir." Brunner kommt mehrfach auf dieses Wort zurück wie auch auf die analoge Formulierung dieser „Zentralwahrheit" durch Pascal: „Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest." Die gleiche Wahrheit findet er bei Jesus in dem Zug des Gleichnisses vom verlorenen Sohn ausgesprochen: Der verlorene Sohn war zuerst beim Vater, in der Heimat, ehe er verlorenging 93 . Die inneren Voraussetzungen der späteren Imagolehre 81 My 1 , S. 377 f.; vgl. EEG 2 , S. 95: Alles geistige Leben „hat als seine Voraussetzung, als seinen Ursprung in oder über sich jene Ursetzung, daß unser Denken der Wahrheit, unser Handeln dem Guten gehört, daß unser Geistsein in einem andern sdion zum voraus gegründet ist." 92 Dieser aus einer späteren Zeit stammende Satz (MiW, S. 238) könnte auch als Motto über Brunners Weg von der Dialektik zur Eristik stehen. 93 EEG 2 , S. 46. 76. 95. 92 Anm. 1. Das über sich Hinausweisen aller vorläufigen Wahrheit auf die letzte Deutungseinheit „Gott" ist für Brunner Ausdrude eines objektiven Tatbestandes: „Auf dieses in den .Sachen' selbst liegende Drängen nicht achten, sondern willkürlich auf einer Vorstufe stehenbleiben und irgendeinem Endlichen verhaftet werden, ist Unsachlichkeit, jenes Rom. 1,21 geschilderte eigenherrliche Widerstreben, welches . . . mit der Gottlosigkeit in die Ungeistigkeit des Lebens überhaupt hineinführt" (a.a.O., S. 95).
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gewinnen so schon hier ihre erste gedankliche Gestalt! Der Mensch steht als Geisteswesen in einer unaufhebbaren Beziehung zum göttlichen Geist. Das ist seine Besonderheit, daß er im Transzendieren seinen Sinn findet, daß er sich vom Ursprung her versteht. Er empfängt als Geschöpf vom Schöpfer, dem Geist-selbst, sein eigenes Geistsein, das darum aber auch nur in dieser Relation vor dem MißVerständnis mit sich selbst bewahrt bleibt. Er darf sich, wenn er seine eigene Geistigkeit redit versteht, nicht „mit dem Geist verwechseln"; denn er ist nicht selbst Hervorbringer des Logos, sondern steht zu ihm im Verhältnis des Hörens und Empfangens94. Damit hat Brunner eine erste prinzipielle Klärung erreicht. Das identitätsphilosophische Mißverständnis wird als solches erkannt und abgewehrt. Das geistige Wesen des Menschen bedeutet nicht seine Identität mit dem göttlichen Geist; der Weg in die Tiefe der eigenen Seele mündet nicht unversehens in Gott selbst, sondern er endet an der Grenze zwischen Gott und Mensch. Das Geistsein des Menschen erfährt seine Eigentümlichkeit gerade an dieser ihm gesetzten Grenze, die es nicht überspringen kann. In diesem Sinne interpretiert und rechtfertigt Brunner auch das Geistverständnis der kritischen Philosophie. Die Leidenschaft des auf den Ursprung gerichteten Denkens besteht nach ihm gerade darin: „die Grenze zu ziehen zwischen Absolutem und Relativem, zwischen Gott und Mensch, und bei dieser Grenze bleibt es stehen"! Die Philosophie des Ursprungs ist „die Anerkennung eines uns in unserem Geistsein und Dasein Bedingenden, Begrenzenden und Bestimmenden. Die Aufrichtung der Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen endlichem und unendlichem Geist." 85 Wie sehr das lebendige Denken sich auch bemüht, zu der letzten Voraussetzung durchzustoßen und darin gerade sein Leben und seine Fruchtbarkeit beweist, so kann es doch nie anders an sie herankommen, „als indem es sich selber preisgibt": Es endet im Hinweis, es führt in die Nähe Gottes, aber den letzten Schritt kann es nicht tun; es ist wie Moses an der Grenze des gelobten Landes — „berufen, bis an sie hinzuführen, aber ohne die Möglichkeit, selbst hinüberzuführen" 9e . 84 My 1 , S. 376 f.; vgl. My 1 , S. 352: „Die Instanz also, die die absolute Überordnung des Geistes über die Natur, die Geistwürde und die Geistaufgabe begründet, ist es zugleich, die die Distanz schafft zwischen dem endlichen und dem göttlichen Geist; jene Distanz, die durch keinen Akt des endlichen Geistes überwunden werden kann, jene qualitative Differenz zwischen dem Auftraggeber und dem Beauftragten, zwischen dem Vordenkenden und dem Nachdenkenden, zwischen dem ewigen Logos und unserem Logizein, zwischen Gott dem Schöpfer und dem Geschöpf Mensch." 85 EEG 2 , S. 82 (Zusatz der 2. Aufl.). 83. 98 EEG 2 , S. 120. Mit dieser Deutung hat Brunner die kritische Philosophie, die für ihn durch die Namen Plato, Descartes und Kant am kürzesten und würdigsten bezeichnet ist, als die rechte ancilla theologiae in Dienst genommen. Sie diente ihm zu-
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nächst ganz unreflektiert als Bundesgenossin in seiner Polemik gegen den Psychologismus und Historismus. Mit Hilfe ihrer philosophischen Wirklichkeitsdeutung verfocht er die Jenseitigkeit von Offenbarung, Wort und Glaube gegenüber einer inner-menschlichen Betrachtungsweise. Die von daher gestellte Aufgabe einer prinzipiellen theologisdien Klärung des Verhältnisses dieser Philosophie zur Offenbarung und zum Glauben selbst führte bei Brunner, wie wir sahen, keineswegs zu einer Kündigung der Bundesgenossenschaft, wohl aber zu einer Grenzbestimmung. Ihre besondere Bedeutung liegt darin, daß sie der kritischen Philosophie zwar den Zutritt ins Allerheiligste verwehrt, daß sie ihr aber ein Vorrecht vor seinen Toren einräumt. Sie ist Führer, Wegbereiter und Wächter auf dem Weg dorthin. Das vernünftige kritische Denken — „das höchste, was es abgesehen von der Offenbarung gibt — führt bloß darauf hin, aber nicht hinein" (Gesetz und Offenbarung, DialTh 1, S. 291 Anm. 2). Das, was sie auszeichnet und zu dieser Rolle qualifiziert, ist ihr Ausgerichtetsein auf den Ursprung, die Wertung des sittlidien Gesetzes mit seiner unbedingten Forderung und die kritische Nüditernheit, in der sie die Grenzen des Menschen erkennt und bewacht. Auf dem Wege der Selbstbesinnung führt sie den Menschen an die Grenze seines Erkennens und Handelns, in die Krise seiner Existenz vor dem Absoluten. Sie geht einen Weg zu Ende, den der Mensch notwendig gehen muß, um dahin zu kommen, wo die Entscheidung des Glaubens fällt. Brunner kann sagen, daß das kritische Denken „unmittelbar an die Schwelle des christlichen Glaubens" gelangt (My 1 , S. 105, ebenso nodi in OuV, S. 358), daß es zur persönlichen Entscheidung nötigt, wie sie im Glauben gefordert ist (Relph, S. 99), daß hier der Mensch immerhin „durch eigne Besinnung in die Nähe jener Buße kommt, die als wahre nur aus Glauben und Offenbarung" möglich ist (PhuOff, S. 44). Darum reichen „kritische Philosophie und Gottesfurcht einander die H a n d " ; der Glaube wird die kritische Philosophie „nicht etwa als Gegner bekämpfen, sondern im Gegenteil als besten Bundesgenossen willkommen heißen" (GrHu, DialTh I, S. 271); er erkennt sie in ihrem Amt, „an den Grenzen der Humanität Wache zu halten" und das Gesetz in seiner Strenge einzuschärfen, an, ja, er setzt diese kritische Grenzerkenntnis, die Erkenntnis des Bösen, voraus (GrHu, DialTh I, S. 271; Off, DialTh I, S. 317). Um dieser Erkenntnis willen „ehrt die Theologie diese kritische Philosophie und pflichtet ihr bei" (Off, DialTh I, S. 302). Es nimmt nicht wunder, daß diese sachliche, wenn audi begrenzte Verbindung von Theologie und Philosophie zu Mißverständnissen Anlaß gab und den Verdacht nährte, daß die Philosophie in diesem Bündnis letztlich doch dem Theologen die Feder führt und ihn daran hindert, seiner eigenen Sache ganz gerecht zu werden. So hat H . Stephan in einer Kritik des Brunnerschen Schleiermacherbuches ein „gefährliches Eindringen des kritisdien Idealismus in das Gebiet der Glaubenserkenntnis selbst" konstatiert und in dieser Art der „Synthese" des Glaubens mit einer bestimmten Philosophie nur eine Warnung vor ihr sehen können. Er gesteht Brunner zwar zu, daß er den kritischen Idealismus „nur als Zuchtmeister, als Vorbereiter für den Glauben" verwenden wolle und daß ihm eher daran gelegen sei, der Philosophie ihren letzten Grund im Glauben zu zeigen, als den Glauben auf Philosophie zu begründen. Aber in der Durchführung trübe sich „die Reinheit seines Strebens" (ZThK 6 1925, S. 171 ff. 177 f.). Brunners Antwort auf diese Kritik ist insofern bemerkenswert, als er kategorisch erklärt: „Meine Anlehnung an Kant ist rein propädeutisch" (vgl. die ähnliche Bemerkung im Blick auf Kierkegaard in WaB, S. 60, Neudruck S. 112). Und er fügt zur Unterstreichung dieser Feststellung hinzu: „Sollte aber meine Verwertung Kantscher Gedanken mehr Verwirrung als Klärung schaffen, so kann idi, ohne daß dadurch in meinem theologischen Denken etwas anders würde, auf sie verzichten" (ZThK 6 1925, S. 277). In der 2. Auflage seines Buches hat er daraufhin in der Tat von der "propädeutischen" Beziehung auf Kant abgesehen. Aber er betont auch hier, daß er nach wie vor, „trotz der gegenwärtigen philosophischen Modeströmung, dafür halte,
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Die naheliegende Frage, ob Brunners Geistesverständnis nicht doch in irgendeiner Form eine Kontinuität zwischen dem Geist des Menschen und Gott selbst voraussetzt, scheint mit diesem Hinweis auf die „Grenze" ebenfalls abgewehrt. Wie immer man das Geistes-Verhältnis näher bestimmen mag — nimmt man diese „Grenze" als kritisches Prinzip des Geistes ernst, dann kann man nicht mehr von Kontinuität sprechen. Von daher ist es einleuchtend, wenn Brunner den Kontinuitätsbegriff als unangemessen zurückweist, auch wenn er in bestimmter Hinsicht noch von einer „Einheit zwischen Schöpfer und Geschöpf" sprechen kann 97 . Wer im Schema der Identität oder Kontinuität denkt, versucht, vom Menschen aus zu Gott zu kommen, vom Menschen aus die Brücken zu schlagen, die ins Ewige führen. Daß dies nicht gelingen kann, darauf hatte Brunner bereits gegenüber dem religiösen Psychologismus und Intellektualismus in scharfem Ton hingewiesen. Der Gegensatz von Transzendenz und Immanenz ließ ihm jede Form einer Kontinuität des menschlichen Erlebens und Denkens zu Gott als Illusion erscheinen. Mit dieser Argumentationsweise mußte Brunner freilich in Schwierigkeit geraten, sobald die GottMensch-Beziehung im Zusammenhang des Geistbegriffs gesehen wurde, da Geist für ihn ja gerade die Formel für Jenseitigkeit bedeutet. Und auch nach der grundlegenden Unterscheidung des schöpferischen Gottesgeistes vom Menschengeist blieb ihm die Jenseitigkeit, das „von oben her" für das Verständnis des Geistes entscheidend. Das Mißverständnis des Geistes mit sich selber besteht für ihn also nicht nur darin, daß er sich mit Gottes Geist identifiziert, sondern auch darin, daß er sich von Gott trennt und nur nodi den Standpunkt der Immanenz vertritt. Er verkauft damit gewissermaßen sein Erstgeburtsrecht und verfällt der Icheinsamkeit, um F. Ebners treffende Wortprägung zu gebraudien. e) Wort und Geist Brunner sah sich gegenüber diesem doppelten Mißverständnis des Geistes vor der schwierigen Aufgabe, einerseits die Jenseitigkeit des menschlichen Geistes zu behaupten, ohne gleichzeitig in den Sog identitätsphilosophischen Denkens zu geraten, andererseits die Begrenztheit, die schlechthinnige Abhängigkeit des menschlichen Geistes auch in seiner Freiheit zu wahren, ohne ihn von seinem Gegründetsein in Gott abzuschnüren. daß der Kritizismus Kants als der bisher einzige wenn audi nicht vollkommene Versuch einer wahrhaft kritischen Philosophie in seiner Grundtendenz dem christlichen Glauben am nächsten steht". (My 2 , S. IV). 67 Vgl. GrHu, DialTh I, S. 263 : „Gerade insofern Hegel mehr als ein anderer der Philosoph der Humanität ist, als in ihm das Vertrauen in die ungebrochene Kontinuität vom endlichen zum absoluten Geist herrschendes Prinzip ist, muß die Religion ihn als ihren Interpreten ablehnen und in ihm die ganze Philosophie der Immanenz." Vgl. audi EEG 2 , S. 83. 129 f.
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Die Lösung dieses fast unlösbar scheinenden Problems f a n d er in der Beziehung des Geistes zum Wort. Das Wort als „das eigentliche Zentralproblem des Geistes" wie des Glaubens wird nun zum Kristallisationspunkt seines Denkens. Einige noch wie Abbreviaturen wirkende programmatische Sätze am Ende der Habilitationsschrift deuten schon an, wie sich ihm hier eine umfassende Kategorie erschließt, in der der Zusammenhang von Offenbarung, Glaube und Vernunft ganz neu erfaßt werden kann 9 8 . Was in der Folgezeit unter dem Stichwort der Personhaftigkeit des Menschen und der personalen Gottesbeziehung zum Grundbegriii der theologischen Anthropologie Brunners wurde, läßt sich in wesentlichen Zügen als eine Ausgestaltung dieses Denkansatzes begreifen. Auch wenn diese Besinnung auf das Wort sich der verschiedenartigsten Zeugen bedient — Humboldt, Hamann, Ebner im Verein mit dem Johannesprolog und Plato —, so zeigt sich dodi schon eine bestimmte Konzeption, eine Metaphysik des Wortes, die das menschliche Geistesleben auf seinen Grund im göttlichen Geist zurückführt. Das Wort ist der „Schnittpunkt von Wahrheit und Wirklichkeit". Es ist der Ursprung aller Wahrheit und damit die Grundtatsache des Geistes überhaupt. Geist kann nur da sein, wo Wort ist; Wort und Geist sind so füreinander da, daß man sagen muß: Wort ist geisthaft und Geist ist worthaft. Aber diese Worthaftigkeit des Geistes bedeutet nicht, daß der menschliche Geist das Wort hervorbringt, sondern umgekehrt: Das Wort schafft den Geist. Zum rechten Geistverständnis dringt nur durch, wer dies einsieht, „daß das Wort das erste und der Geist das zweite ist" 9 9 : Verbum est principium primum. Man ist sogleich versucht zu fragen: Ist dies alles theologisch oder sprachphilosophisch gemeint, d. h. handelt es sich hierbei um ein bestimmtes Wort, von dem die Bibel Zeugnis gibt, oder soll dies alles vom Menschenwort schlechthin gelten? Kann es überhaupt vom Menschenwort gelten? Die Indizien weisen in beide Richtungen, und gerade darin liegt die Besonderheit dieser Aussagen. Brunner versteht den Anfang des Johannesprologs nicht exklusiv christologisch-heilsgeschichtlich, sondern universal: Das Wort, das im Anfang war, das Wort göttlicher Art, durch das alle Dinge gemacht sind und in dem das Leben und das Licht der Menschen gegeben ist. „Daß der Mensch das Wort hat, ist der Ursprung seiner Vernünftigkeit, seine unzerstörte Gottebenbildlichkeit, und die Summe des Evangeliums von der Erlösung!" 100 In diesem „das Wort haben" ist also das Menschsein in seiner ganzen Bewegung von der Schöpfung bis zur Erlösung begründet. Zweifellos denkt Brunner hierbei zunächst an das schöpferische Wort Gottes, durch das der Mensch geschaffen 98 EEG 2 , S. 120—125. Wir beziehen uns im folgenden vor allem auf die entwickeltere Form dieses Grundgedankens, wie sie in My 1 vorliegt. 89 100 My 1 , S. 227. 386. 89 f. My 1 , S. 90.
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und in die Gemeinschaft mit Gott berufen wird. Aber es ist ebensowenig zweifelhaft, daß er im Zusammenhang damit gerade auch an das Wort denkt, das der Mensch spricht. Denn er ist nicht nur durch das Wort geschaffen, sondern ihm ist selbst „das W o r t " gegeben, und er verwirklicht sein Wesen nur im Umgang mit dem Wort. Hier, bei diesem Übergang in einem Atemzug vom schöpferischen Wort zum Worthaben des Geschöpfes, meldet sich wieder die gleiche Frage, die uns schon bei der Erörterung des Geistbegriffs begegnete: Wie ist dieser Ubergang möglich? Wie ist das eine in dem anderen begründet? Was bedeutet dieses „das Wort haben" konkret für das Gottesverhältnis des Menschen? Hat der Mensch etwa in seiner Vernünftigkeit das Wort in der gleichen Weise wie im Glauben und geht es dabei wirklich um das gleiche Wort? Scheint in dem so verstandenen Worthaben des Menschen nicht sein Sein in Gott von Natur aus durch, so daß sich hier die Möglichkeit einer natürlichen Theologie geradezu aufdrängt? Zwischen einer Theologie des Wortes Gottes und einer natürlichen Theologie des Wortes kann dann j a keine grundlegende Differenz mehr bestehen. Die Hintergründe des Streites, der sich zehn Jahre später nicht zuletzt an der „Wortmächtigkeit" des Menschen entzündete, werden schlaglichtartig sichtbar. Aber will Brunner wirklich auf eine derartige konkrete natürliche Theologie des Wortes hinaus 101 ? Zunächst gebraucht er auch hier den Begriff des Wortes lediglich in einem formalen Sinn, der die fundamentale Unterscheidung von Gottes Wort und Menschenwort noch gänzlich offenhält — analog jenem allgemeinen Geistbegriff, der Gottes Geist und Menschengeist undifferenziert zusammenfaßte. Dies zeigt unmißverständlich seine Bemerkung im gleichen Zusammenhang: „ ,Wort c ist das gemeinsame Band, das sich um theoretische und praktische Vernunft und um die Offenbarung, die innerhalb dieses Gemeinsamen im Gegensatz zueinander stehen, schlingt." Das Problem spitzt sich darum zu auf die Frage, ob angesichts eines solchen Gegensatzes ein derartiger Allgemeinbegriff von „Wort" überhaupt möglich, sinnvoll und praktikabel ist. Es wird dabei doch zumindest eine höhere Einheit vorausgesetzt, in der der Gegensatz aufgehoben ist, so daß er nicht mehr als ein prinzipieller aufgefaßt werden kann. Worin besteht nun dieses Gemeinsame? Man könnte antworten: Es besteht für Brunner „in des Wortes allgemeinster Bedeutung". Denn „das Wort" ist für ihn die transzendentale Bedingung alles Erkennens — sowohl des Erkennens des Glaubens, der das Wort der Verheißung vernimmt und annimmt, als auch des Vernunfterkennens, in dem die Wahr101 Brunner wehrt schon in E E G den Verdacht ab, daß sein Verständnis des Wortes auf eine „Rationalisierung des Höchsten" hinauslaufe. Die „Zusammenhänge, die durch das eine ,Wort' gegeben sind, sollen nichts weniger als etwa einen Beweis für die Offenbarung abgeben" (122 f.).
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heit des Wirklichen zur Sprache kommt. Das menschliche Wort ist darum nicht nur als das zufällige Ausdrucksmittel psychologischer Vorgänge zu verstehen, sondern als der Grund und die Manifestation des geistigen Lebens. Brunner erläutert dies, indem er die Funktion und Bedeutung des Wortes durch den Begriff des „Sinns" erhellt 102 . Sinn bedeutet Zusammenhang, geistige Einheit in der Mannigfaltigkeit. Geistiges Leben ist nur da, wo Sinn aufleuchtet, wo Besinnung stattfindet, wo sinnvoll gehandelt wird. Der Sinn ist es, der etwas aus dem Bereich des Zufälligen, des Willkürlichen, des Nichtigen heraushebt. Er bringt das objektiv Notwendige, das Gesetz, die Ordnung, die Wahrheit zum Vorschein. Erst durch die Besinnung auf diesen Sinn und die ihm entsprechende Gesinnung, erst durch das Handeln unter dem Sinn und auf den Sinn hin gewinnt der Mensch seine Menschlichkeit. Das Wesen der menschlichen Vernunft besteht im Vernehmen des Sinnes. Mit dieser Orientierung am Sinn, der sich im Wort äußert, ist der Mensch qualifiziert als ein Hörender. Er ist aufs Hören angewiesen, wenn er die Wahrheit der Wirklichkeit und in ihr sich selbst erkennen will. Ihm ist das Wort zu vernehmen gegeben, weil er die Wirklichkeit in ihrer Wahrheit erkennen soll. Seine Freiheit, seine Geistigkeit „ruht einzig und allein in seinem Vernehmenkönnen, darin, daß er Wort verstehen, annehmen oder ablehnen kann" 103 . Nicht daß er etwas aus sich selbst heraus wissen oder sein könnte, will demnach Brunner dem Menschen zubilligen, wenn er hervorhebt, daß ihm das Wort gegeben ist, sondern das Gegenteil: daß er aus sich selbst heraus gerade nicht Mensch sein kann. Es muß ihm zugesprochen werden; er kann nur Wahrheit erkennen, indem er sie empfängt; er kann nur Sinn erfassen, indem er ihn vernimmt; er kann sich selbst nur finden, indem er sich in seiner Bezogenheit auf ein Jenseits seiner selbst versteht. Dies bedeutet „das Wort haben": Geschaffen- und Berufensein zum Hören des Wortes, aus dem der Mensch Sinn erfährt, Wahrheit erkennt, sich selbst versteht. Weil er das Wort hat, muß er sich als Angesprochener verstehen 1M . Dies wird am Phänomen des Ethischen besonders deutlich, weil es den Anspruchscharakter des Wortes und das zum Hören-Gehorchen Aufgerufensein des Menschen paradigmatisdi zum Ausdruck bringt. Der Anspruch, der Imperativ, das Angeredetwerden macht geradezu das Wesen des Sittlichen aus. Der sittliche Anspruch „du sollst" faßt den Menschen persön102
Vgl. zum Folgenden vor allem EEG 2 , S. 120—125, My 1 , S. 91—97. My 1 , S. 97. 104 Ygj My 1 , S. 105: „Sinn, Wort ist jenseits von uns, nicht in uns. Es ist das, worauf wir ,bezogen' sind, das als Grund und Gericht des Unsrigen immer vor und über uns steht. N u r so haben wir Anteil am Geist, nicht durch Vermischung, nicht durch Immanenz, sondern durch das Angesprochenwerden. Wir sind Geist in dem Maß, als wir Empfänger dieses Wortes sind." 103
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lidi und macht ihn erst zur Person, zu einem Ich, zu einem verantwortlichen Subjekt, denn er fordert Antwort. Er schlägt wie ein Blitz aus der Ewigkeit ein in die Zeit und versetzt den Menschen in einen Dialog, in dem er sich vor der letzten Norm der unbedingten Wahrheit zu verantworten hat und auf das Notwendige hingewiesen wird 1 0 5 . Daß dieser Anspruch in seiner Unbedingtheit nicht aus dem Menschen kommt, sondern auf ihn zukommt von jenseits seiner selbst, ist für Brunner im Zusammenhang all dessen, was Geist, Sinn, Wort für ihn bedeutet, evident. „Mensch ist er erst dadurch, daß er den Anruf aus der Ewigkeit hört." Der kategorische Imperativ ist „ein Heraustreten der ewigen Wahrheit aus der Ruhe der Ewigkeit in die Zeit" 1 0 6 . In diesem Verweis auf das Letztgültige, der im sittlichen Anspruch gegeben ist, liegt für Brunner die entscheidende Bedeutung des Wortes. Und hier zeigt sich, daß er sich keineswegs mit jenem Wortbegriff begnügt, in dem der Logos der Offenbarung und der Logos der Vernunft in dem lediglieli formalen Sinn der transzendentalen Erkenntnisbedingung zusammengehören. Der Logos der Vernunft steht vielmehr in einer tieferen sachlichen Beziehung zum Logos der Offenbarung: Seine Intention, sein Telos ist ebenfalls die Wahrheit Gottes, nicht eine beliebige Wahrheit; denn Wahrheit ist nie beliebig, sondern notwendig und einheitlich. Wenn das menschliche Denken und Handeln auf Sinn aus ist, dann geht es darin um den Sinn, den Gott gibt, den er als Wahrheit der Wirklichkeit zu erkennen gibt, um den Sinn, der in Gott selbst ist. So hatten wir schon bei der Analyse des Brunnerschen Geistbegriffs Veranlassung, von der Evidenz Gottes in der Wirklichkeit des Geistigen zu sprechen, von einer Art natürlicher Offenbarung im denkenden Geist, die in der Absolutheitsbeziehung des Geistes aufscheint. Der gleiche Grundgedanke kommt nun auch im Wortbegriff zur Geltung, handelt es sich hier doch nur um die Näherbestimmung, des gleichen Phänomens. Und es ist deutlich, daß Brunner hier nicht einfach idealistische Denkvoraussetzungen unreflektiert in seinem eigenen Denken beibehält, sondern daß er diesen Zusammenhang für unaufgebbar hält. An diesem Axiom hält er mit Leidenschaft fest, nicht weil er die besondere Wahrheit des Glaubens an die allgemeine Wahrheit des Denkens preisgeben möchte, sondern weil er die Einheit der Wirklichkeit, die Wahrheit in ihrer Einheit in Gott wahren möchte; weil er das Menschsein, das sich in der Geistigkeit, im Worthaben äußert, nur in der Beziehung auf Gott sehen kann. Das gibt seinem theologischen Denken den Impuls, auch in der menschlichen Vernunft die Spur zu erkennen, die auf Gott hinweist. Die Ideen des Wahren, des Guten, der Gerechtigkeit, in denen die menschliche Vernunft ihre Norm findet, My 1 , S. 94. 320. 383; E E G 2 , S. 121 f. « My 1 , S. 96; E E G 2 , S. 121; vgl. My 1 , S. 94: „Denn daß idi mich selbst anspreche, ist doch wohl kein verständlicher Gedanke mehr." 105 10
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und die das ganze geistige Leben des Menschen in Bewegung halten, repräsentieren Gott-selbst im Denken. Sie weisen dem Menschen die Richtung, in der er sich vor Gott gestellt findet. Sofern sie in ihrer Unbedingtheit ernstgenommen und zugleich als Hinweis verstanden werden, kann man hier durchaus von einer Gotteserkenntnis sprechen107. Aber dieser Hinweis auf Gott, dieses Sich-zu-Worte-Melden Gottes im Logos der Vernunft, im sittlichen Anspruch, bringt den Menschen noch nicht in das rechte Verhältnis zu Gott. Es bringt ihn vielmehr zur Erkenntnis, daß er dem Anspruch nicht entspricht, daß Wort und Antwort hoffnungslos auseinanderfallen. „Die Erkenntnis, die uns am höchsten erhebt, ist es auch, die uns am tiefsten stürzt. Darin beruht die Dialektik und Paradoxie alles menschlichen Geisteslebens . . . Der Widerspruch ist das Kennzeichen unserer Lage." Es ist die Erkenntnis, daß wir nicht sind, was wir sein sollen. „Wer unter dem Gericht des kategorischen Imperativs steht, weiß, daß er das Gute, das er soll, nicht tut, und daß das ,Gute', das er tut, nicht das Gute ist, das er sollte." 108 Die ethische Forderung, in ihrer Radikalität ernstgenommen, spricht den Menschen schuldig und verweist ihn auf die verzweifelte Grenze seiner Möglichkeiten. Da, wo er dem sinngebenden Gesetz seines Lebens begegnet, begegnet er zugleich seinem Richter. Denn seine Forderung drängt auf Verwirklichung. Sie ist nur sinnvoll in ihrem Anspruch auf Verwirklichung. Aber indem der Mensch dies anerkennt, muß er zugleich bekennen, daß er sie nicht verwirklicht. Nicht die Forderung verfällt damit der Sinnlosigkeit, sondern seine eigene Existenz, die doch nach Sinnerfüllung ruft. Dieser Ruf wird so zu einem Hilferuf, der „das Angekommensein an der Grenze menschlicher Möglichkeiten und die Unmöglichkeit des existierenden Menschen, bei dieser Sachlage sich zu beruhigen", signalisiert109. Das ist die Besonderheit dieses zum Menschsein gehörenden Wortes, daß es dem Menschen sagt, was er sein soll. Es qualifiziert ihn als Hörenden, es stellt ihn unter den Anspruch des Unbedingten, es richtet ihn darin insgeheim aus auf Gott, aber es stellt ihn damit zugleich unter das Gericht. Darin erschöpfen sich seine Möglichkeiten. Es bringt dem Menschen zum Bewußtsein, daß er, weil er dieses Wort hat, noch ein ganz anderes Wort braucht, ein neues, rettendes Wort. Lassen wir an diesem bedeutsamen Ubergang Brunner selbst das Wort: „Soll die Existenz nicht in 107
EEG, S. 74. 76. 85 f. 129; vgl. My 1 , S. 376: „Durch die Idee der Wahrheit und die Idee des Guten wird der Mensch, indem er den Geistanspruch hört, erst eigentlich auf den Geist, auf Gott bezogen, in dem doppelten Sinn: Mit Gott aufs innigste verbunden und von Gott in unendlicher Distanz gehalten." Wie sehr sich Brunner in seiner Grundauffassung treu geblieben ist, zeigt OuV, S. 343: „In und durch diese Ideen wirkt Gott in jedem Menschen. Das gehört zur allgemeinen Offenbarung, die zugleich die Wesensstruktur des Menschseins bestimmt." 108 My 1 , S. 94 f. 383; EEG 2 , S. 120 f. 108 EEG 2 , S. 121. 87 f. (Anmerkung, Zusatz der 2. Aufl.).
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Sinnlosigkeit zerfallen, so kann es nur dadurch geschehen, daß außerhalb aller Immanenz ein rettendes Wort gesprochen wird, nicht das zeitlos geltende Wort des Gesetzes, sondern ein Wort, das auf die zeitliche Tatsächlichkeit der Sünde Bezug hat, das Wort eines neuen Bundes, der Rückruf, das Wort der Vergebung und Erneuerung, das, ebenso unbegreiflich wie die Sünde selbst, als das umgekehrt Irrationale Tatsache ist: Das Evangelium, das mit göttlicher Autorität gesprochene Wort der Vergebung und Erneuerung . . . Nur dieses Wort kann die Sinnlosigkeit des Sinnvollseinsollenden aufheben, nur das Fleisch gewordene Wort Gottes selbst." 110 In diesem neuen Wort, das nicht als fordernder Anspruch, sondern als Zuspruch der Gnade begegnet, geht die Wahrheit, um die es für den Menschen geht, nun „in noch ganz anderer Weise in die Zeit hinein": als das sich selbst aussprechende göttliche Wort, als Wort der Offenbarung, das im Namen Gottes gesprochen wird, als das in Jesus Christus gesprochene Wort. Jesus Christus „ist das Wort Gottes, das als solches nie aus uns kommen kann, weil es nur das, das mit Vollmacht an uns kommt, die Botschaft der Erlösung und Vergebung ist und die Kraft hat, durch seinen Widerspruch unseren Widerspruch aufzuheben" m . Steht hier Wort gegen Wort? Tritt hier Unvereinbares nebeneinander, oder geht es im Gegenteil um dasselbe Wort, das sich als Gesetz und als Evangelium nur in verschiedener Weise ausspricht? Manche Äußerungen Brunners deuten in die letztgenannte Richtung, wenn auch von vornherein klar ist, daß es hier nicht um ein Verhältnis der Identität oder auch nur der Kontinuität gehen kann. Es ist ein Verhältnis, in dem sich Zusammenhang und Gegensatz nicht ausschließen, sondern einander bedingen. Betrachtet man dieses Verhältnis von dem dem Menschen gegebenen Wort aus, dann scheint sich in ihm eine Zuordnung zum Offenbarungswort schon darin anzudeuten, daß ihm „das Wort zu vernehmen gegeben" ist. Diese Wort- und Hörfähigkeit im allgemeinsten Sinn, die die Ansprechbarkeit des Menschen überhaupt erst begründet und die fundamentale Voraussetzung für das Verstehen von „Wort" darstellt, ist natürlich auch eine der grundlegenden Voraussetzungen für das Verstehen des in Jesus Christus gesprochenen Offenbarungsworts, sofern es eben sinnvolles Wort ist, das auf das Verstehen des Menschen zielt. „Für den Stein gibt es keinen Christus, nur für den Menschen, dem das Wort zu vernehmen gegeben — und nie genommen — ist." 1 1 2 no My 1 , S. 95; vgl. S. 223 f.! Brunner zitiert anschließend Luther: „Alles ist durchs Wort gemacht und wiedergeschaffen. Aus dem Wort sind wir geschaffen, zum Wort müssen wir wieder zurückkehren . . . A d principium, a quo processimus est redeundum" (WA 44,270). E E G 2 , S. 121 f.; My 1 , S. 227. 112 My 1 , S. 96. Dieser Gedanke spielt audi in der späteren Diskussion eine wichtige Rolle. 111
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Aber auch das Verstehen des Offenbarungsworts in seinem besonderen Sinn wird durch die Art, wie der Mensch das ihm gegebene Wort wahrnimmt, zumindest vorbereitet, denn es spricht ihn ja in seiner Situation auf seine Situation hin an. Die Krise der menschlichen Existenz bildet gewissermaßen das Negativ für das Positiv der Offenbarung 113 . Sie ruft nach dem erlösenden Wort, nach der Wirklichkeit des Notwendigen. Wenn Brunner auch immer zurückhaltender wird in der Beurteilung der Frage, ob der Mensch von sich aus, angesichts der sittlichen Forderung, wirklich zum vollen Bewußtsein der Schuld kommt 114 , so bleibt ihm doch alles an dieser Situationsentsprechung gelegen, in der der Mensch mit seiner ganzen nach Sinnerfüllung rufenden Existenz als Frage erscheint und das in Christus gesprochene Wort Gottes als Antwort. Damit soll diesem Wort freilich nichts von seiner Besonderheit und Souveränität genommen sein. Es erscheint zwar als Antwort, als „die Erfüllung des Vernunftgesetzes". Aber „Offenbarung wäre nicht das Wort von Jenseits, wenn sie n i c h t . . . das Gericht, das das Gesetz über uns ausspricht, bestätigte und erfüllte" 115 ! Darin erweist sie sich gerade als sou1 1 3 Vgl. Brunners in dieser Hinsicht aufschlußreiche Formulierung in EEG 2 , S. 121: „In dieser — vorsichtig darf man auch sagen: aus dieser — Krise entspringt der Glaube." A. Szekeres verrät allerdings sein völliges Mißverständnis dieser Sachlage, wenn er daraus folgert: „Damit ist eine der verhängnisvollsten Konsequenzen von Brunners Anthropozentrismus ans Licht gekommen: der Glaube entsteht aus der menschlichen Verzweiflung, aus der menschlichen Krise selbst. Der Glaube ist eine rein anthropologische Tatsache. Nach dieser Sicht ist allein eine Lebensnot — und nicht Gottes schenkende Gnade nötig, um zum Glauben zu kommen" (in: De Structuur van E. Brunners Theologie, S. 57). 1 1 4 So bemerkt er schon in der 2. Auflage von E E G in einem Nachtrag, daß es zum „vollen Schuldbewußtsein" erst im Glauben kommt. „Theoretische und praktische Vernunft schreien beide nach dem Andern, aber sie vermögen es nicht herbeizuschaffen. Denn die positive Seite sozusagen, auf die die Dialektik schließen läßt, ist ihnen verwehrt als Position darzustellen." Und nicht nur dies: Sie halten auch nicht der unerträglichen Krise stand, die die Kluft zwischen uns und der Wahrheit aufreißt. „Der kritische Philosoph, wenn er nicht ein Glaubender werden kann, wird immer irgendwie Abschwächungsversuche machen (s. Kant!) . . . " (S. 87 f.). In der überarbeiteten 2. Auflage von My heißt es dann noch deutlicher: „So erkennt sich der Mensch erst dort als sündig und schuldig, wo ihm Gott selbst als der Andere gegenübertritt in seinem Wort, in seiner Anrede. Mit der Schulderkenntnis wird es in der immanenten Vernunfterkenntnis — auch wenn sie noch so religiös ist — nie ernst. Es kann nie ernst werden. Die Immanenz des Göttlichen schließt die Ernsthaftigkeit der Krisis, der Scheidung aus. Erst das Wort, das ,zufällig', das mit der ganzen Irrationalität des Tatsächlichen des Gegebenen an mich herantretende Gotteswort, das Wort der Gottesoffenbarung in der Zeit, vermag beides: mir meine Schuld zu offenbaren und sie lösen." (My 2 , S. 94); vgl. a.a.O., S. 384: „Sündenerkenntnis als solche geht gerade nur so weit, daß der Mensch weiß, er könne sich selbst nicht helfen . . . Ja, vielleicht nicht einmal so weit. Denn ohne die Offenbarung hat der Mensch nie den Mut, sich den trostlosen Charakter seiner Lage völlig einzugestehen." 1 1 5 EEG 2 , S. 122 f.
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veränes, gültiges, schöpferisches Wort, als „das Wort aller Worte", daß sie gleichsam das fordernde Wort des Gesetzes mit in sich aufnimmt und es doch, indem sie es erfüllt, überholt. Ihre Existenzbezogenheit sollte darum nicht einfach als Bindung an eine vorgegebene Situation bestimmt werden, sondern sachgemäßer als die freie Tat Gottes, die eine neue Situation schafft, indem sie die vorgegebene verwandelt 116 . Brunner will daher diesen Zusammenhang von Offenbarungswort und Menschenwort, von Gottes Wort und Existenz auch nicht als Beweis für die Offenbarung gelten lassen: „Die Lust zum Beweisen vergeht jedem, der weiß, was Offenbarung meint." 117 Sie ist gerade das Ende unseres Beweisens und Wissens, die Außerkraftsetzung alles Erfahrbaren und Denkbaren in ihrer Paradoxie. Vor ihr hat die Vernunft als Instanz abzudanken, sie muß sich gefangennehmen lassen unter den Gehorsam Christi. Denn das paradoxe autoritative Wort der Vergebung, das er spricht, ist nicht ein Wort, das wir messen, sondern das uns mißt; es ist ein Wort, „das sich nicht unseren Kriterien unterwirft, sondern dem wir uns mit allen unseren Kriterien unterwerfen müssen" 118 . Diesem Wort gegenüber gibt es nur die Möglichkeit, zu glauben oder es zu verwerfen. Obgleich es Wort, Kunde, Gedanke, Gesinnung ist, kann doch kein menschliches Denken es fassen oder ausdenken. Denn es setzt „all unsere Erfahrungen und unser eigenes Denken außer Kraft". Es ist vernunftnotwendig — und doch höher als alle Vernunft, denn es ist die Geltendmachung der göttlichen Gedanken, die höher sind als unsere Gedanken. Daß dieses Wort in seiner paradoxen Aussage die Wahrheit ist, das kann nur unter Absehen von allem, was des Menschen ist, geglaubt werden 119 . Das Verhältnis von Glauben und Denken erscheint so auf einmal in einer ganz neuen Beleuchtung, in einer kritischen Distanzierung. Brachte Brunner in seinem Engagement für den Logos der Ursprungsphilosophie " · Vgl. EEG 2 , S. 122: „Die Paradoxie, daß idi als Sünder Gott wohlgefällig sei, . . . daß idi in der Wahrheit nidit der sei, der idi in der Wirklichkeit bin, . . . hat zur Voraussetzung, daß die Wahrheit Gottes freie Tat sei. N u r so kann die doch auch in Gottes Wahrheit gegründete Wirklidikeitserkenntnis-von-dieser-Welt und -von-mir aufgehoben werden, durch Gottes neue Wirklichkeit, neue Sdiöpfung ankündigende Verheißung." 117 EEG 2 , S. 122; vgl. audi PhuO, S. 24 ( = DialTh I, S. 316 f.). "β EEG 2 , S. 122f.; vgl. My 1 , S. 384: „Denn Vergebung ist ja gerade das Heraustreten aus der Immanenz, das Angewiesensein auf Gottes neue Ordnung schaffendes Reden. Vergebung bedeutet das Ende des Möglichen und von uns aus Verstehbaren. Vergebung ist entweder ein leeres Wort oder dann das Paradox, das Wunder, das außerhalb aller menschlich-vernünftigen Kontinuität steht, freie Schöpfertat Gottes . . . " 119
EEG 2 , S. 123. 126. 131; My 1 , S. 95 f.; vgl. EEG 2 , S. 88: „Der Glaube kann sich doch nur vollziehen als Paradox, d.h. als Widerspruch gegen den Widerspruch unserer Existenz und unserer Erfahrung, als Widerspruch gegen unser gesamtes Denken."
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das lebendige Denken als Phänomen des Geistigen zunächst in eine so unmittelbare Nähe zum Glauben, daß beider Erkenntnisfunktion ineinander überzugehen schien, so hebt er jetzt die Besonderheit des Logos der Offenbarung und des ihm entsprechenden Glaubens sehr betont hervor und verweist auf die Grenze des Denkens gegenüber dem Glauben. Zwar ist auch der Glaube zu verstehen als ein Denken, ein Sinnerfassen, nämlich als „das Erfassen des göttlichen Sinns, das Nachdenken der göttlichen Gedanken, das Sicherkennen unter dem Gesichtspunkt der göttlichen Berufung" 120. Aber er ist gerade darum nicht zu verwechseln mit dem Denken des endlichen Geistes. Glauben heißt auf alle Sicherungen außerhalb des göttlichen Wortes verzichten, wider alle Erkenntnis und Erfahrung glauben. Er setzt eben damit das menschliche Denken außer Kraft. Nur in solchem Glauben an die Offenbarung wird erkannt, „daß sie das ist, was die Not des Sittlichen wendet, das Not-wendige". Darin ist der Zusammenhang und NichtZusammenhang alles Geistigen mit dem Glauben gegeben. Der Zusammenhang besteht darin, daß hier in der Tat der Mensch in seiner Geistigkeit bestätigt wird. Der Gott der Wahrheit und der Gott des Guten erweist sich, als derselbe, als der er sich in Christus offenbart. So steht die Wahrheit, die erkannt, der Anspruch, der anerkannt und die Offenbarung, die geglaubt werden will in dem einen Zusammenhang des in Gott begründeten W o r t e s m . Der NichtZusammenhang ist nach Brunner dadurch gekennzeichnet, „daß die Offenbarung, die Gnade, die Verheißung, Aufhebung des Gesetzes ist; in ihrem Zentrum: Aufhebung des Schuldspruchs"122. Es ist deutlich, daß gerade dieser Gesichtspunkt, der innerhalb der Aussagen über das lebendige Denken bezeichnenderweise noch gar nicht zur Geltung kam, so daß hier immer wieder der Verdacht einer Identität oder Kontinuität des Menschlichen mit dem Göttlichen auftauchte, Brunner zu einer Umorientierung bewog, in der die Grenze zwischen Mensch und Gott, zwischen Denken und Glauben, eindeutig bezeichnet wird — nicht nur als Grenze zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, 120 My 1 , S. 99. 121 Vgl. EEG 2 , S. 88: „Zwar ist es derselbe Gott, den unsere Vernunft ,vernimmt', dessen Anspruch unser Gewissen gehorchen soll, und dessen Verheißung der Glaube annimmt. Alles ist umschlossen v o m Wort. Aber der Glaube kann sidi dodi nur v o l l ziehen als Paradox . . 122 My 1 , S. 386. In einem früheren Stadium, in der ersten Auflage v o n EEG, wird dieser „NichtZusammenhang" nodi nicht so deutlidi zum Ausdruck gebracht. D i e A n ziehungskraft jenes Letzten, des Ursprungs, läßt danach „das Denken immer höher und höher emporsteigen", zum Wort hin geht die geistige Bewegung, und „Offenbarungen v o n dort her" machen dem Philosophen, dem Künstler, dem Propheten „das Deuten zum heiligen Amt". Aber es bleibt audi hier das lebendige D e n k e n beim H i n w e i s auf den durch eine unendliche Kluft getrennten und dodi unendlich nahen Geist stehen: da, „ w o der Philosoph mit dem Hinweis endet, da beginnt er zugleich ein Glaubender zu sein" (EEG 1 , S. 120—123).
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sondern als die Grenze der Sünde. Nun tritt der behaupteten Gottunmittelbarkeit das notwendige Korrektiv an die Seite: „Wo die menschliche Existenz unter dem Gesichtspunkt der Schuld gesehen wird, da ist alle Direktheit und Unmittelbarkeit im Verhältnis zu Gott aufgehoben"; da tut sich der unüberbrückbare Abgrund auf, da zeigt sich der Bruch, der aller Kontinuität ein Ende macht. Denn Sünde bedeutet Bruch. Das Nichtsehen dieses Bruches, seine Leugnung ist „Unverschämtheit, frechster Eingriff in die Herrschaftsrechte Gottes", dem allein die Uberwindung dieses Abgrundes zukommt 123 . Nun erst zeigt sich auch die volle Bedeutung, die in der Besinnung auf das Wort als der umfassenden Kategorie liegt: Sie umfaßt die Menschlichkeit des Menschen und die Menschlichkeit Gottes. In ihr wird das Gottesverhältnis des Menschen unter dem Gesetz und unter dem Evangelium, der Mensch als der zum Hören und Antworten Aufgerufene und im Ruf um Hilfe Endende in einem inneren Zusammenhang aussagbar, der die Gottbezogenheit des Menschen und sein Getrenntsein von Gott ebenso zum Ausdruck bringt wie das Geschehen, in dem Gott ihn in seiner Wirklichkeit zu seiner Wahrheit bringt durch sein neuschaffendes Wort. Damit hat Brunner eine neue Basis gewonnen für die Interpretation der Geistigkeit des Menschen in all ihren Beziehungen. Das Problem der Jenseitigkeit, der Transsubjektivität des Geistes wird ebenso innerhalb des Wortzusammenhangs geklärt und neu ausgesagt wie das der Gegenwärtigkeit des Jenseitigen. Indem das Geistesverhältnis als hörendes und antwortendes Verstehen gedeutet wird, erscheint das Wort-Antwort-Verhältnis als die Grundform alles Verstehens. Das Wort in seiner umfassenden Bedeutung tritt so im Denken Brunners an die Stelle, die ursprünglich der mystisch gefärbte Intuitionsbegriff einnahm! Es wird zum tragenden Begriff seiner Erkenntnistheorie, die nun erst das Phänomen der Offenbarung in seiner Eigentümlichkeit reflektiert und das menschliche Erkennen an ihm orientiert. In der Korrelation von Wort und Antwort, die alle diese Beziehungen einschließt, erweist sich das Schema der Identität oder Kontinuität als unsachgemäß. An seine Stelle tritt der Gesichtspunkt der Intentionalität. Er bringt das Bezogensein des Menschen in seinem Worthaben auf das sinngebende Wort außerhalb seiner selbst zum Ausdruck und symbolisiert damit seine Ansprechbarkeit in seinem Angesprochensein. 123 My 1 , S. 383. Aber auch hier, in diesem Bruch, bleibt der Zusammenhang der Situationsentsprechung von Ofïenbarungserkenntnis und menschlicher Selbsterkenntnis gewahrt: „Es ist das Geheimnis der göttlichen ,Offenbarungsökonomie', daß Offenbarung und Erkenntnis der Offenbarungsbedürftigkeit in einem Zusammenhang stehen" (a.a.O., S. 384).
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Exkurs: Zur Trage der Einwirkung F. Ebner s auf Brunners W ortverständnis Es liegt nahe, nach dem Einfluß zu fragen, den vor allem F. Ebners bekannte Schrift „Das Wort und die geistigen Realitäten", die 1921 erschien, auf diese Entwicklung im Denken Brunners genommen hat. Für seine spätere Wendung zum dialogischen Personalismus unter dem Stichwort der „personalen Korrespondenz" ist der entscheidende Einfluß gerade dieses Werkes ja unbestritten. Kann man dies auch im Hinblick auf die dialektische Frühzeit sagen, in der Brunner das Wort als das eigentliche Zentralproblem des Geistes entdeckte und seine Theologie des Wortes mit einer Metaphysik des Wortes zu untermauern suchte? Der programmatische Titel seines Buches „Die Mystik und das Wort" erinnert ja auffallend an Ebners pneumatologische Fragmente, und gleich auf S. 3 zitiert Brunner Formulierungen Ebners („Der Traum vom Geist", „Icheinsamkeit"). In einer Anmerkung zum Literaturverzeichnis weist er dann auch ausdrücklich auf Ebner hin mit den Worten: „Dieses bedeutende Werk mußte, obschon nicht zur Schleiermacherliteratur gehörig, hier genannt werden, weil es bisher von der Fachtheologie noch nicht bemerkt worden zu sein scheint. Wir verdanken ihm mannigfache Anregungen." 124 Brunner hat nicht übertrieben. Liest man Ebners Fragmente, dann entdeckt man erstaunliche Beziehungen zum Wort- und Geistverständnis Brunners, bis hin zu den entscheidenden Begriffen seiner Anthropologie. Wenn seine theologische Anthropologie immer wieder davon ausgeht, daß „der Mensch das Wort hat", dann gebraucht er damit eine Formulierung Ebners 125 . Der Grundgedanke der Ebnerschen Fragmente, daß die menschliche Existenz in ihrem Kern eine geistige Bedeutung hat, daß sie von Grund aus angelegt ist auf ein Verhältnis zu einem Geistigen außerhalb ihrer, durch das sie und in dem sie existiert, und daß dieses Angelegtsein in der Tatsache zu finden ist, daß der Mensch ein sprechendes Wesen ist, daß er das Wort hat, in dem dieses Geistige außer uns, das göttliche Du, gegeben ist — dieser Grundgedanke bildet auch die Grundlage der Bestimmung des Gottesverhältnisses bei Brunner. Ebner wies darauf hin, daß der Mensch nur Mensch ist durch die Sprache, daß die Sprachfähigkeit, die Ansprechbarkeit, das Sprachverhältnis zwischen dem Du und dem Ich das Wesen seiner Personalität ausmacht126 und daß dies alles sich erst im Gottesverhältnis konkretisiert und realisiert. Die Sprache, in der Tiefe ihres Wesens verstanden, bringt dem Menschen die Existenz Gottes zum Bewußtsein, denn das Wort ist im letzten Grund seines Gegebenseins von Gott 127 . Die Existenz des Menschen hat in ihrer Geistig124 125 128
My1, S. 395. Vgl. F. Ebner, a.a.O., S. 12 f. 18. 26. 56. 87. 127 A.a.O., S. 18, 23, 78. A.a.O., S. 20.26.142.
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keit, in ihrer Sprachlichkeit Gott zur Voraussetzung. Gott ist im Menschen als die Voraussetzung seines geistigen Lebens, das sich in der Beziehung zwischen dem Ich und dem Du verwirklicht. Hier, in der Sphäre der Personalität, versteht der Mensch, „daß Gott ihn nach seinem Ebenbild geschaffen hat", daß es nur ein einziges Du gibt, Gott selbst als das wahre Du des Menschen, von dem her das menschliche Ich erst wird durch das Wort. Der menschliche Geist ist darum vor allem Sinn für das Wort. Er kommt dem Wort entgegen, und das Wort kommt dem Geistigen im Menschen entgegen128. Die Vernunft als Vernehmenkönnen, das geistige Ohr des Menschen, ist als Organ des Wortaufnehmens nicht nur die Möglichkeit, vom Wort und vom Sinn des Wortes angesprochen zu werden, sondern sie sucht das Wort, in dem sie ihren Ursprung hat, „sie sucht Gott, denn das Wort ist von Gott" 129 . Um diesen Zusammenhang der Geistigkeit des Menschen mit Gott im Wort zu verstehen, ist freilich Glaube gefordert. In jedem Wort, das wir hören, ist etwas, das geglaubt werden muß, und gerade darin, daß das „Wort" die Forderung des Glaubens in sich begreift, liegt sein letzter Sinn. Darum kann Ebner sagen, daß jeder Mensch im Innersten seines Gemüts „glaubt" 18°! Der Glaube ist „in seinem letzten und tiefsten Grund Glaube an das ,Wort c ", an den Logos, der den Glauben an seine Göttlichkeit fordert 131 . Er beruft sich hierbei ebenfalls auf den Prolog des Johannesevangeliums: Durch das Wort, das im Anfang war, ist jenes Worthaben in den Menschen hineingelegt, seine Fähigkeit und sein Drang zum Wort, in dem er um Gott weiß und zur Antwort aufgerufen ist. Und er identifiziert schließlich das Wort, das in seiner Ursprünglichkeit und in seiner Konkretheit zum Glauben ruft, mit Jesus. Im „Leben und Worte Jesu" ist das Wort „in der Göttlichkeit seines Ursprungs ,historisch' geworden"; ohne das Leben und Wort Jesu, „in dem die Realität des Geistes und das Wort absolut eins waren, in dem Gott Mensch geworden ist, um uns vom Fluch der Sünde zu erlösen, wüßte keiner, die Juden jedoch ausgenommen, etwas von sich selbst — vom Ich, das heißt von seinem Ich — noch von Gott" 132 . Er ist das persönlichste Wort, das Wort in seiner Persönlichkeit schlechthin, durch das wir erst zur Verwirklichung unserer Persönlichkeit kommen. Erst im Glauben an ihn haben wir daher unser geistiges Leben „in seiner Wirklichkeit und Wahrheit". In ihm ist der Mensch aus seiner Icheinsamkeit erlöst durch das Vertrauen auf das „Entgegenkommen des Du", durch den Glauben an die Gnade, an die Vergebung 133 , durch den Glauben an das Wort, dessen Sinn die Liebe 128 130 132
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A.a.O., S. 59.190.24.17f. A.a.O., S. 30. 151 f. A.a.O., S. 23. 36.
129 131 133
A.a.O., S. 78. 81. 142. A.a.O., S. 28. 206 ff. A.a.O., S. 208 f. 219. 241 f.
ist 134 . Dies ist der letzte Sinn des menschlichen Wortes: „das göttliche Gebot der Liebe in sich aufzunehmen", und der letzte Sinn der menschlichen Existenz: „Gott und das Wort Gottes in sich aufzunehmen" 1 3 5 . Der Einfluß dieser Sprachphilosophie, die zugleich Sprachtheologie ist, auf Brunners Reflexion über Wort und Glaube, Wort und Geist, Wort und Existenz ist deutlich genug. Er führte alsbald zu kritischen Anfragen seiner Rezensenten an Brunner. H . Stephan konnte dieses „Liebäugeln mit der Ebnerschen Sprachphilosophie" nicht mit Brunners Bekenntnis zum Geist der kritischen Philosophie in Einklang bringen und beklagte sich über seinen vieldeutigen Wortbegriff 13e . Und audi Κ. Barth verhehlte nicht sein Mißtrauen: „Ob der andere Ast, auf den er sich — gelegentlich ziemlich weit — hinausgesetzt hat, die Ebnersche Theorie vom ,Wort c , wirklich tragfähig ist, kann ich nicht beurteilen. Ganz wohl ist es mir nicht bei diesem Vorgang." 1 3 7 Brunner nimmt offensichtlich auf diese Kritik Bezug, wenn er in der 2. Auflage anmerkt: „Auf die propädeutische Bedeutung der Hamannschen und Humboldtschen Sprachphilosophie für das Verständnis des Glaubens bin ich durch F. Ebner, ,Das W o r t . . e t c . , aufmerksam gemacht worden. Einige Kritiker aber haben die Bedeutung dieser philosophischen Propädeutik für meine Theologie stark überschätzt." 138 Mit dem gleichen Argument hatte Brunner früher schon seine Anlehnung an Kant als „rein propädeutisch" bezeichnet 139 , und in ähnlicher Weise betont er später auch die sachliche Unabhängigkeit seiner „rein theologischen Überlegungen" zur Begegnungswahrheit von der Philosophie Kierkegaards, die seinem Unternehmen — „sei es nun vermeintlich oder wirklich — irgendwie parallel zu laufen" scheine140. Man könnte hinter solchen Äußerungen den nachträglichen Versuch einer Abschwächung der tatsächlichen Abhängigkeit vermuten, um die Selbständigkeit des eigenen Denkweges in seiner theologischen Begründung und Verantwortung gegenüber dem Vorwurf der Abhängigkeit von philosophischen Voraussetzungen hervorzuheben. Diese Vermutung wird zumindest gestützt durch die Art, wie Brunner ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen von „Die Mystik und das Wort" sein Verhältnis zu Ebner beschreibt. Mit Ebner begann — er nimmt hier eine Formulierung K . Heims auf — eine „kopernikanische Revolution des Denkens", wenngleich M. Buber, Fr. Rosenzweig und Fr. Gogarten in die gleiche Richtung drängten. Brunner weist dann darauf hin, daß er der erste unter den Theologen war, der auf Ebner aufmerksam machte, daß er jedoch nicht dem Kreis derer zuzurechnen sei, die diese Gedanken sofort aufgriffen. Bereits im März 1922, als er schon an seinem Werk über die Mystik und das Wort arbeitete, er13i 138 138 139
135 A.a.O., S. 181. A.a.O., S. 51. 116. 146. 181. 223. 137 ZZ H. 8 1924, S. 58. ZThK 6 1925, S. 162. 166. 169 f. My 2 , S. 88 Anm. 1; vgl. Mi, S. 179 Anm. 1. 140 Wahrheit als Begegnung, S. 112. ZThK 6 1925, S. 277.
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hielt er die Pneumatologischen Fragmente. Er bemerkt zu diesem Buch: „Ebner machte auf mich einen bedeutenden Eindruck, aber ich verstand es nicht und legte es, nur zur Hälfte gelesen, wieder weg. Ich habe es erst jetzt wieder vorgenommen und stehe erschüttert vor der Tatsache, daß der ganze Weg, den ich seitdem gegangen bin, von Ebner vorausgegangen wurde. Idi verstand damals bloß das, was ich in eigenem Denken gefunden hatte, die Bedeutung des Wortes für den Glauben und damit für die geistige Existenz überhaupt; ich verstand aber nicht die Bedeutung des Du." 141 Das Verständnis für die darin liegende bahnbrechende Leistung Ebners verdankt Brunner erst der späteren Arbeit Gogartens U2 . Dieses „Nichtverstehen" Ebners ist auf jeden Fall auffällig. Wie kann man sein Wortverständnis übernehmen ohne jene grundlegende Voraussetzung der Du-Beziehung? Die Erklärung hierfür könnte vielleicht darin liegen, daß Brunner nodi zu stark dem Denken Kierkegaards verhaftet war, in dem es lediglich um die Existenz des Einzelnen geht, nicht um das Ich-Du-Verhältnis. Jedenfalls weist diese Eklektik dodi wohl in der Tat eher darauf hin, daß Brunner nicht erst durch Ebner auf die zentrale Bedeutung des Wortes gestoßen ist, sondern auf eigenem Weg dahin gelangte, so daß Ebner zwar anregend und vertiefend wirkte, vielleicht auch unterschwellig stärker weiterwirkte, als Brunner zugestehen will, von ihm aber doch nur als ein testis veritatis empfunden wurde, der ihn in seiner eigenen Uberzeugung bestärkte. Für diese Erklärung spricht einmal die Tatsache, daß sich schon in der 1. Auflage von EEG wesentliche Elemente seines Wort-Geist-Verständnisses finden, zum andern die eigenständige und überwiegende Orientierung an Luthers Wort-Verständnis, und schließlich die bedeutsame Differenz im Verständnis des dem Menschen gegebenen Wortes, das bei Ebner gelegentlich den Charakter einer selbständigen Offenbarungsqualität gewinnt 143 . 6. Der Glaube als reine
Sachlichkeit
Die Überlegungen zur Metaphysik des Wortes zeigten, wie stark Brunner hier bereits mit Gedanken beschäftigt ist, die hinüberweisen in die Zeit der methodischen Entfaltung des ontologischen und dialogischen Personalismus. Wir werden an den für unsere Fragestellung entscheiden141
In: Für F.Ebner. Stimmen der Freunde, hrsg. v. H.Jone, 1935, S. 12 f. Vgl. GuO, S. 611 Anm. 2 u. 3. 667 Anm. 2; MiW, S. 297 Anm. 5. 529. 143 Zur Frage des dialogischen Personalismus bei Ebner und Brunner vgl. u.a. J. Cullberg, Das D u und die Wirklichkeit, 1933; G. Schröder, Das Idi und das D u in der Wende des Denkens, 1951; Th. Schleiermacher, Ich und Du. Grundzüge der Anthropologie F. Ebners, in: KuD 2, 1956; ders.: Das Heil des Menschen und sein Traum vom Geist. Ferdinand Ebner, ein Denker in der Kategorie der Begegnung, 1962; B. Langemeyer, Der dialogische Personalismus in der evang. und kath. Theologie der Gegenwart, 1963 (Lit.); R. Roessler, Person und Glaube, 1965. 142
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den Punkten immer wieder dieser Denkrichtung begegnen. Das Bezogensein des Menschen in seinem Bestimmtsein durch das Wort bildet eine Konstante in Brunners Reflexion von der frühen Dialektik bis zur Eristik. Innerhalb der eigentlichen dialektischen Fragestellung scheint die im Worthaben des Menschen begründete Beziehung jedoch noch kaum voll zur Geltung kommen zu können. Der Begriff des Glaubens, der hier maßgebend wird, läßt für die Frage nach der anthropologischen Signifikanz des Worthabens keinen Raum. In ihm findet allerdings die Intentionalität, die im Sein im Wort zum Ausdruck kommt, ihre konsequenteste Ausprägung. Darin besteht gerade das Eigentümliche des Glaubens, daß er nur durch diese Bezogenheit ausgedrückt werden kann. Brunner wird nicht müde, das Wesen des Glaubens von daher zu erhellen. Er ist das schlechthin „Bezogensein auf ein Jenseitiges"'; er ist „nichts anderes, als das auf Gott allein Gerichtetsein" ; er geht in der Beziehung zu Gott auf. Glauben heißt hören, was Gott sagt, verstehen, was Gott meint, restlos offen sein für die göttliche Wahrheit144. Der Glaube ist also ganz und gar durch seine „Sache" bestimmt, durch das objektive Gegenüber des Wortes, das alle Worte in sich faßt, und er kann darum auch nur durch seine Sache ausgedrückt werden. Brunner definiert den Glauben daher als „reine Sachlichkeit" und versucht mit dieser Begriffsbestimmung seine Antithese gegenüber der rationalistischen Erkenntnisreligion auf den treffendsten Ausdruck zu bringen, in dem nicht mehr das negativ Kritische überwiegt, sondern die positive Wesensbestimmung. Reine Sachlichkeit bedeutet unmittelbare Beziehung auf die göttliche Wahrheit, die völlige Hingabe an sie, das demütige Hinnehmen dieser Wahrheit. Glaube ist demnach „nichts anderes als das objektive ,Aufgehen' des göttlichen Sinnes, das Für-mich-Werden des Logos, das Erkennen der Gnade" 145 . Man wird nicht behaupten können, daß Brunner das Wesen des Glaubens in seinem positiven Gehalt hier in neuer und origineller Weise darstellt. Als neu erscheint vielmehr die damit verbundene negative Akzentuierung, die zweifellos stark von Barth beeinflußt ist. Das eigentliche Pathos der ganzen Argumentation Brunners richtet sich immer wieder dagegen, daß der subjektive Faktor im Glauben ein Eigengewicht bekommt. In der Kritik des psychologistischen Mißverständnisses kam dies bereits deutlich zum Ausdruck. Der Glaube ist kein Geschehen, dessen Sinn in seiner psychologischen Tatsächlichkeit erfaßt werden könnte. " « E E G 2 , S. 125. 89 f. 93. 96. 1 4 5 E E G 2 , S. 124. 91. 93 f. 98; G r H u , DialTh I, S. 270; vgl. dazu K . B a r t h s Begriff der „schlichten Sachlichkeit" (Der Christ in der Gesellschaft, DialTh I, S. 25. 31), sowie seinen Hinweis auf den „kategorischen Imperativ der Sachlichkeit" (Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, DialTh I, S. 217) und die „prophetische Sachlichkeit" (Die Theologie und die Kirche, 1928, S. 389).
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Brunner bestreitet natürlich nicht, daß dieses Geschehen auch seine menschliche Erlebnisseite hat und insofern durchaus auch ein psychologisches Faktum vorliegt 146 , aber es trägt seines Erachtens nichts zum Verständnis der Sache bei, sondern eher zu ihrem MißVerständnis! Die menschliche Tatsache kann das, worum es im Glauben geht, nicht verifizieren, denn dieses „schwebt in reiner Idealität, jenseits aller psychologischanthropologisch-geschichtlichen Tatsächlichkeit" über unserer Existenz und ist so nicht eine Gegebenheit für die Erfahrung, sondern eine Voraussetzung für das Erkennen 147 . Brunner verschärft diese Diastase noch: „Indem Gott im Glauben geltend gemacht wird, wird die ganze Welt der Relativitäten, der ganzen psychologischen Tatsächlichkeit außer Kraft gesetzt." Er erklärt alles vom Menschen ausgehende und im Menschen stattfindende Tun und Geschehen für unerheblich. Es wird im Geschehen des Glaubens prinzipiell entwertet, denn in diesem geht es gerade um die „kritische, transzendentale Selbstaufhebung des Subjektiven" 148 . Hier wird dem subjektiven Faktor nicht nur sein Eigengewicht genommen, er verliert vielmehr, so scheint es, in dieser Zuspitzung jegliche Bedeutung im Glaubensgeschehen! Um der jenseitigen Objektivität des Glaubensinhalts willen wird die Subjektivität des Glaubenden in diesem Geschehen völlig abgeblendet und als das zu Verneinende und zu Überwindende erklärt. Es entspricht gerade der Sachlichkeit des rechtfertigenden Glaubens, daß der menschliche Gesichtspunkt dabei verlassen wird. Glauben ist ja „das Fußfassen des Menschen im Jenseits', im Transsubjektiven" 149. Die Intention, die Brunner mit dieser radikalen Ausschaltung des Menschlichen verfolgt, braucht nicht erst mühsam erschlossen zu werden. Er will deutlich machen: Hier redet und handelt nicht mehr der Mensch, sondern Gott. Hier geht es nicht um menschliches Erlebnis und nicht um menschliche Erkenntnis, sondern um göttliche Erleuchtung. Hier geschieht das Unmögliche, das Wunder, Offenbarung. Man kann Brunner darin zustimmen. Aber man kann es auch dann nicht unterlassen zu fragen, ob das Wunder des Glaubens wirklich darin besteht, daß es das Subjektive jeglicher Bedeutung beraubt. Brunners These, daß von aller inneren Tatsächlichkeit abzusehen sei, steht ja in einer merkwürdigen Spannung zu jener anderen Richtung seines eigenen 144
Vgl. GrHu DialTh I, S. 270: „Dieser Augenblick ist kein Ereignis, keine psychologische Tatsache. Sofern er das ist — und das ist er ohne Zweifel immer audi, er hat immer neben seinem Inhalt seine Erlebnisseite — kommt ihm diese Bedeutung nicht zu. Der Glaube als menschliches Erlebnis geschieht diesseits der Grenzen." 147 EEG 2 , S. 98; vgl. S. 100: „(der Glaube) ist, was er ist, nicht durch das seelische Material, das zu seinem Aufbau verwendet wird, sondern durch die Emanzipation von ihm". 148 EEG 2 , S. 101. 96; GrHu, DialTh I, S. 270. 149 EEG 2 , S. 96. 101.
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Denkens, in der ihm gerade daran liegt, die Offenbarung Gottes als Vollendung und Erfüllung des Vernunftgesetzes auszusagen, als Beantwortung des Menschen in seiner Fraglichkeit, als Lösung der Krise, in die der Mensch unter dem Anspruch des kategorischen Imperativs gerät. „In dieser — vorsichtig darf man auch sagen: aus dieser — Krise entspringt der Glaube", konnte er diese Sachlage kennzeichnen150. Heißt dies nicht, daß der Glaube, eben weil er dieser Situation entspricht, mit dieser Erfahrung verbunden bleibt, bleiben muß, wenn er Glaube bleiben will — gerade im Annehmen des Wortes, das nicht aus dem Menschen kommt, ihn aber in seiner Menschlichkeit treffen will und trifft? Um so auffallender ist die anscheinend gegensätzliche Tendenz, den Glauben nur in seiner Objektivität, nicht aber auch in seiner Subjektivität ernstzunehmen. Es sind Formulierungen K. Barths und Fr. Thurneysens, die Brunner hier aufnimmt, wenn er davon spricht, daß der Mensch im Glauben „ins absolut Leere tritt" und „nur an der Hand Gottes über dem Nichts schwebt", daß der Glaube als das Verstehen Gottes nichts anderes sei als „die leere Form", das „Gefäß für eben diesen Inhalt". Er will nichts sein als ein Spiegel, auf dem Gottes Angesicht sich spiegelt, nichts als „Membran, auf dem (sie!) das göttliche Wort rein, ohne störende Eigengeräusche widertönen soll", nichts als das uneingeschränkte Geltenlassen dessen, was Gott spricht, was er für uns ist und will. Und er ist darin so sehr an seinen nichtmenschlichen Inhalt hingegeben, „daß ihm nicht einmal das Geltenlassen, gleichsam als menschliches Plazet, einfallen kann" 1B1 . Gerät Brunner mit diesen Formulierungen nicht in die Nähe einer doktrinären Einseitigkeit, die nicht mehr die Wirklichkeit des Glaubens im Blick hat, sondern ein am theologischen Reißbrett entworfenes abstraktes Gebilde? Schon der mechanische Begriff der widertönenden Membrane ist ja ein deutlicher Hinweis darauf, daß hier auf eine unsachgemäße Weise vom Glauben geredet wird. Er droht, über seiner Gottbezogenheit seine Menschlichkeit zu verlieren. Er wird nicht mehr (oder noch nicht) konsequent in der Korrelation von Wort und Antwort gesehen. Das verrät auch der Begriff der „leeren Form". Auch er erweist sich als unangemessen zur Kennzeichnung eines Geschehens, in dem es auch um die menschliche Antwort auf Gottes Wort geht, das heißt um Gehorsam, Vertrauen, Liebe und Dankbarkeit. In diesem Geschehen ist der Mensch mit dabei, und wenn er schon darin im Jenseits Fuß faßt, so läßt er dabei seine Diesseitigkeit nicht zurück, sondern überantwortet sie dem Jenseitigen152. is» EEG 2 , S. 121 (vgl. Anm. 105); ähnlich My 1 , S. 166: „Der Glaube wird in der Krise des Sittlichen geboren." 151 EEG 2 , S. 56 f. 91. 96. 152 Welche Mühe Brunner hat, das Phänomen des Glaubens unbefangen auch in seiner Menschlichkeit in den Blick zu fassen, zeigt seine Polemik gegen die „verbreitetste 81
Brunner schaltet diese Fragestellung an dieser Stelle bewußt aus. Er wittert in ihr immer zugleich die Gefahr menschlicher Anmaßung, ein sich nicht ganz dem Gericht und dem schöpferischen Wort Gottes Aussetzenwollen, ein im Angeredetwerden und im Hören immer noch Mitredenwollen des Menschen. In der konsequenten Verfolgung des Gedankens, daß Gott sich in seiner Offenbarung selbst zu Gehör bringt und daß dem Menschen hierbei das Wort entzogen ist, verneint Brunner schließlich überhaupt die Qualifikation des Menschen zu diesem Hören. Er fragt: Ist es denn noch Gottes Wort, wenn ich es höre? „Heißt nicht: ich höre, soviel wie: ich mache es zu meinem? Ich nehme an, ich lasse ein, ich bin immer noch Partner Gottes?" Aber eben diese Partnerschaft ist gerade durch das, was wir hören, ausgeschlossen! Wie kann ich hören, da es in diesem Hören doch darum geht, daß ich abtrete und Christus allein das Wort behält? Solange es hier noch eine Zweiheit, ein „Gegenüberverhältnis" gibt, ist noch immer nicht Gottes Wort allein Meister, „wir teilen uns noch in die Rollen: Gottes ist das Reden, mein ist das Hören". Da, wo Christus jedoch allein das Wort hat, wo er allein regiert, da ist der letzte Rest von Zuschauertum ausgetilgt, da ist kein Gegenüberverhältnis mehr da, da ist „das Ich aus dem Feld geschlagen" (!), da ist Reden und Hören als Gottes-in-mir-Reden eins. Ich bin dann „nichts als Schauplatz von beidem" 153 . Das ist sicher ganz im Sinne Barths geredet. Aber ist es nicht kurzschlüssig, einseitig und unbedacht geredet? Brunner will damit wiederum die Grenze fixieren, die dem Menschen vor Gott gesetzt ist. Daß er das Wort hat, daß er ansprechbar ist, daß er hören kann, bedeutet nicht, daß ihm der Zugang zur Wirklichkeit Gottes offenstünde. Seine Wort- und Hörfähigkeit erlaubt ihm nicht, sich in irgendeiner Form vor Gott zur anthropologische Glaubensdeutung", die Glaube und Vertrauen miteinander identifiziert. Dies führt nach Brunner unweigerlich zu einer moralistischen Verflachung und ist immer wieder der Ausgangspunkt des verhängnisvollen anthropologischen Mißverständnisses. Der zwischenmenschliche Vertrauensakt kann nicht auf Gott übertragen werden, denn das Vertrauen auf Gott, von dem etwa Luther im Großen Katechismus spricht, ist „ein Akt schlechthin sui generis, nämlich jener Urakt, in welchem die Voraussetzung alles Vertrauens — daß und wie überhaupt irgendein Vertrauenkönnen möglich sei — zum Bewußtsein kommt". Es ist „der Inhalt der Offenbarung, der allein sowohl die Erkenntnis als audi das Vertrauen begründet, im selben unteilbaren Akt" (EEG 2 , S. 91 ff.). Das wird niemand bestreiten wollen. Aber ist dieses Vertrauen darum etwa weniger menschlich? 153 Nachwort zu PhuO: „Auf das Buchzeichen des Lesers" (1925), S. 50f.; ähnlich noch Relph (1927), S. 12: „Wo das Ich nicht mehr selbst handelndes Subjekt ist, sondern nur nodi Schauplatz, nicht mehr selbst redend, sondern nur noch Resonanz für Gottes Reden, wo die Subjektivität aufgezehrt wird durch die Wahrheit, indem diese sich nichtbloß erfassen läßt, sondern selbst erfaßt."
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Geltung zu bringen und von sich aus das Gespräch mit Gott zu beginnen und zu führen. Mehr noch: Die Situation des Menschen vor Gott, wie Brunner sie hier darstellt, erlaubt gar kein Gespräch, nicht einmal ein von Gott eröffnetes Gespräch. Denn der Mensch kann nicht Gottes Partner sein, weder als Akteur noch als Zuschauer, noch als Zuhörer. Er kann nur Schauplatz jenes Geschehens sein, in dem Gott sich selbst im Menschen Gehör verschafft. Das Ich des Menschen kann hierbei nicht einmal mehr die Rolle eines Statisten spielen, es wird „aus dem Feld geschlagen". Hier ist Brunner zweifelsohne an einem Punkt angelangt, der einerseits zwar an die Notwendigkeit eines testimonium spiritus internum im Glaubensgeschehen erinnert, an das servum arbitrium gegenüber dem sich selbst durchsetzenden Gotteswort, an dem er sich aber andererseits zugleich der Frage gegenübersehen mußte, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, hier vom Glauben zu reden, wenn das Ich des Credo eliminiert wird. Ob der Bogen bei dieser Demonstration der Souveränität Gottes nicht überspannt wird und bricht, weil in ihr der Mensch seine Menschlichkeit verliert? Brunner hat hier die Antithese zum anthropologisdi-subjektivistischen Glaubensmißverständnis bis zu einer Fassung des Glaubensbegriffs vorgetrieben, in der nur noch das Nichtmenschlich-Objektive in Erscheinung tritt. Die begrifflich logische Antithese ist konsequent. Das Ziel, den Glauben als unmögliche Möglichkeit darzustellen, als das Unverfügbare, Nichterlebbare, nur in Gott begründete und von Gott her sich Verwirklichende, ist wohl erreicht; aber um den Preis eines entpersönlichten Glaubensbegriffs, der in seiner jenseitsorientierten Sachlichkeit und gewollten Einseitigkeit nicht mehr erkennen läßt, daß es in ihm um Gottes Anrede an den Menschen und um des Menschen Antwort geht, in der er zu sich selbst kommt, indem er sich Gott überantwortet 154 . Von einem Erfassen der echten Dialektik des Glaubens, in der mit der Jenseitigkeit zugleich auch die Subjektivität des Glaubensgeschehens zu ihrem Recht kommt, wird man bei dieser „dialektischen" Fassung des Glaubensbegriffs noch nicht sprechen können. Er ist in seiner Antithetik noch zu sehr am MißVerständnis orientiert, als daß er der Gefahr entrinnen könnte, selbst einem neuen Miß Verständnis zu verfallen. 154
Es sei nicht versäumt, daran zu erinnern, daß Brunner im Zusammenhang seiner Metaphysik des Wortes mit der Sachlichkeit des Glaubens durchaus die .Personbeziehung verbindet. Gott erscheint hier als Persönlichkeit, mit der wir „verstehend in reale Verbindung treten können" im Glauben als dem „allerindividuellsten und freiesten Akte", w o der Mensch „ganz ein .Einzelner' ist", w o nichts „zwischen das Ich und das göttliche D u treten kann . . . " (EEG 2 , S. 129). Hier, im Verständnis des Glaubens als WortAntwortgeschehen, begegnet das Ich des Menschen dem göttlichen Du, es wird nicht „aus dem Felde geschlagen".
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Β) Humanität als Grenze und Verheißung 1. Zwei
Denkrichtungen
Bleibt für die Frage nach dem Menschen in diesem Denkansatz Brunners überhaupt noch Raum? In welchem Sinn kann hier noch von einem Verkündigungsgeschehen gesprochen werden, das den Menschen zum Hören auffordert, wenn ihm nur die Rolle des über dem Nichts Gehaltenen zufällt, wenn er nicht einmal mehr Subjekt des Glaubens sein kann? Gibt es angesichts des von Gott gesprochenen Wortes keine menschliche Entscheidung und Verantwortung, kein menschliches Fragen und Antworten, keine Verstehensfrage mehr? So naheliegend es sein mag, aus dem Nein über alles Menschliche, wie es in dieser Theologie der Krisis hörbar wird, diese Konsequenz zu ziehen, man wird sich dennoch davor hüten müssen. Denn es ist keineswegs Brunners Absicht, solche Konsequenzen zuzulassen. Die negative Anthropologie bzw. das anthropologische Defizit, das sich bei ihm hier zeigt, ist nur zu verstehen als ein Reflex jener polemischen Denkrichtung, der es um das Anerkennen des Gottseins Gottes geht, vor dem der Mensch in seiner Selbstbehauptung zunichte werden muß. Im Zuge dieser Denkrichtung, in der die Frage nach dem Menschen sich nur als Protest gegen die Überschätzung der menschlichen Möglichkeiten artikuliert, konnte es schwerlich zu einer ausgewogenen theologischen Anthropologie kommen. Von daher erklärt sich das betonte Desinteresse an einer differenzierteren Betrachtung des Menschen als Hörer des Wortes wie auch die auffällige Spannung zu jenen Aussagen, in denen die Geistigkeit des Menschen, seine Unmittelbarkeit zu Gott, der Zusammenhang von Wort und Existenz hervorgehoben wird. Diese Spannung verweist auf die Unausgeglichenheit zweier verschiedener Denkansätze. Ihre innere Verbindung mußte Brunner früher oder später dazu führen, das Problem des Menschen umfassender zu durchdenken. 2. Der Begriff der Grenze Maßgebend für jede weitere Bestimmung des Gottesverhältnisses bleibt für Brunner die Einsicht, daß jeder Versuch, vom Menschen aus zu Gott zu kommen, vom Menschen aus die Brücke zu schlagen, die ins Ewige führt, scheitern muß. Es gibt keine Kontinuität oder Identität, keine menschliche Möglichkeit, sich einen Anteil am Werk der Erlösung zu sichern. Gott will hier allein die Ehre haben. Hier gilt darum auch nicht der Satz gratia perficit naturam, sofern darunter ein „Zuendeführen der natürlichen Geschichte" verstanden wird, denn es kann sich nur um eine Neuschöpfung handeln: Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Kreatur. 84
Mit der Erkenntnis, daß die Wahrheit nicht in uns ist, daß wir uns das erlösende Wort nicht selbst sagen und die notwendige Antwort nicht selbst geben können, ist die Grenze des Menschen bezeichnet. Sie wird auch im Glauben nicht aufgehoben, sondern erst recht offenkundig; denn in ihm geschieht ja der Brückenabbruch, das ins Leere Hineintreten. Es geht in ihm durch ein Sterben hindurch: „Wer sein Leben verliert, wird es finden." So bleibt die Kluft absolut unüberbrückbar. Auch der Glaube symbolisiert also nicht den Weg des Menschen zu Gott, sondern den Bruch, den Sprung in ein Jenseitiges1. Er ist die Selbstpreisgabe der Seele an Gott, „das Fallenlassen der Zugbrücke, auf der der göttliche Eroberer aus dem Jenseits' ins,Diesseits' einzieht und die Herrschaft an sich reißt". Brunner fügt dieser anschaulichen Wendung, die man gewiß nicht überinterpretieren soll, im Vorbeigehen die für unsere Fragestellung redit interessante Bemerkung hinzu: „Dieser entscheidenden Tatsache gegenüber werden alle Modalitäten der Festungsübergabe bedeutungslos." Sie zeigt nodi einmal sein theologisches Desinteresse an der menschlichen Seite jenes Vorgangs, wie es uns bereits mehrfach im Zusammenhang der antipsychologistischen, antisubjektivistischen Denkrichtung begegnete: „Wie groß der Anlauf zu diesem ,Sprung' ist, durch den man aus dem Hier ins Dort kommt, welches der psychologische Medianismus, welches die menschlichen Mittel und Funktionen sind, vermöge deren der Glaube, die Erfassung des anderen sich vollzieht, ist zunächst (!) ganz unwesentlich gegenüber der Tatsache, daß man nicht mehr ,hier', sondern ,dort' steht." 2 Die Frage nach den menschlichen Voraussetzungen des glaubenden Verstehens, nach den etwaigen Modalitäten einer „Anknüpfung" wird also hier noch betont zurückgeschoben. Freilich wird das Vorhandensein solcher Modalitäten auch nicht glattweg bestritten! Wird mit der Feststellung, daß sie „zunächst" ganz unwesentlich sind, nicht doch schon leise die Tür geöffnet oder dodi wenigstens angelehnt, die den Weg zur „anderen Aufgabe" der Theologie freigibt? Das „Wie" wird gegenüber dem Ereignis des „Daß" unwesentlich — aber ist es darum ohne Bedeutung im Hinblick auf das Sidi-Ereignen des Glaubens? Mag dem Glauben selbst „das Daß und Was alles, das Wann, Wie und Warum" hingegen gleichgültig sein 3 — gilt dies in gleicher Weise auch für die theologische Reflexion? So sporadisch und abwehrend Brunners Äußerungen in dieser Hinsicht in seiner dialektischen Frühzeit sind, es fehlt doch auch hier nicht an Indizien, die anzeigen, daß sich zumindest jene Fragestellung als Problem bei ihm meldet, und zwar nicht nur im Zusammenhang seiner Geist1 EEG2, S. 129 f. 88. 37. 58. 101; vgl. audi Gesetz und Offenbarung, DialTh I, S. 290; Off, DialTh I, S. 305 f. 312. 2 EEG2, S. 101 (gegenüber der 1. Aufl. verändert). 3 EEG2, S. 107.
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und Wortmetaphysik, sondern auch in seinen abschließenden Überlegungen zum transsubjektiven Glaubensbegriff. Nun wird doch noch etwas sichtbar von der Dialektik des Glaubens, dessen angemessenster Ausdruck zwar die Negation, das „Ganz-Anders" ist, der aber doch auch die Sprache des Erlebens und Erkennens reden muß. „Nachdem er (sc. der Glaube) mit allem Ernst das inhaltliche Was zum Entscheidenden machte, lehrt er zugleich, daß auf das Wie der Aneignung alles ankomme!" Er redet von „Wahrheit", vom „Gesetz", vom „Schöpferischen" und „Ursprünglichen" — aber er setzt vor alles auch wieder ein aufhebendes Vorzeichen 4 . Nun gesteht Brunner zu, daß auch in dem Versuch, vom Menschen aus zu Gott zu kommen, „etwas von Gott mit im Spiel" ist, daß man den großen Erscheinungen der Mystik und Romantik, der Gnosis und des Moralismus ihren „tiefen Wahrheitsgehalt und ehrfurchterweckenden Gottesernst" nicht absprechen kann, ja, daß auch Natur und Entwicklung, Kultur und Geschichte von Gott Zeugnis ablegen. Es fehlt nicht der Augustin, Pascal, Dostojewski, Kierkegaard zitierende Hinweis auf das in den „Sachen" selbst liegende Drängen zu Gott, auf die Unruhe des Herzens, auf das „ursprüngliche Gottesebenbild, das als unverlorene ,Schöpfungsgnade' in jedem Menschen ist", der Hinweis auf das „paradoxe Nicht-Haben und Doch-Haben Gottes, das zugleich unsere Gottesferne und unsere Gottesnähe ausdrückt". Dem Satz Pascals: „Ein Gott, den ich erkennen kann, ist kein Gott", begegnet Brunner mit dem Einwand: „Aber ist denn ein Gott, den ich nicht erkennen kann, Gott?" Er spricht vom Göttlichen im Menschen und interpretiert schließlich das Absehen von dem, was des Menschen ist, als ein Absehen „nur von dem, was außer dem Sinn, außer dem Ursprung, außer der Wahrheit, außer Gott ist". Verneint wird nur die Verneinung Gottes — nicht das, worin sich das ängstliche Harren der Kreatur ausspricht und „was in allem Existierenden der Sinn ist" 5 ! Dies alles klingt nun doch ganz anders als die einseitige polemische Überspitzung der Jenseitigkeit des Geschehens von Wort und Glaube. Es zeigt, daß Brunner die Frage nach dem Menschsein nie ganz aus den Augen verloren hat, auch wenn er sie unter dem Eindruck der Denkrichtung der Theologie der Krisis zurückdrängte, überspielte oder bagatellisierte. Unvermutet taucht sie immer wieder auf, sobald Brunner sich wirklich auf das Problem des Menschen einläßt, und man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß sich darin eine Unausgeglichenheit und Inkonsequenz seines Denkens bemerkbar macht, die darauf zurückzuführen ist, daß sein eigener ursprünglicher Denkansatz sich dem Barthschen nicht fügen will und immer wieder sein Recht auf einer anderen Linie zu behaupten sucht. Einen ersten systematischen Klärungsversuch des in Frage stehenden Verhältnisses von Gott und Mensch unternimmt Brunner bereits in seiner 4 s
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EEG2, S. 128. EEG2, S. 130 f. 95. 124. 46 f.
Habilitationsvorlesung über „Die Grenzen der Humanität" (1922) e . In ihr entwickelt er einige der wesentlichen Grundgedanken, auf denen audi sein späteres Denken aufbaut. Wir müssen daher näher auf sie eingehen, auch wenn einzelne Gesichtspunkte schon in anderen Zusammenhängen auftauchten. Zum Ausgangspunkt wählt Brunner das Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen der Humanität, wie es von der kritischen Philosophie eingeschärft wird. Der Bereich der Humanität ist demnach der Bereich der menschlichen Möglichkeiten, der wissenschaftlichen, künstlerischen, sittlich-persönlichen Kultur. Ihr Fundament ist die Autonomie, die sich selbst bindende Freiheit, die alles der Zucht des Geistes unterwirft in der Anerkennung der Vernunftgesetzgebung im Denken und im sittlichen Handeln. Humanität bedeutet Glaube an die Idee des Menschen, Einkehr des Menschen bei sich selbst, Beugung unter das Gesetz der Wahrheit und des Guten. Diese Gesetzgebung, diese Grenzziehung macht den Menschen erst zum Menschen! Gesetz und Grenze — dies sind darum die beiden grundlegenden Begriffe, mit denen Brunner, in enger Anlehnung an das „kritische Denken", das anthropologische Problem zu erfassen sucht. Begegneten wir diesen Begriffen bisher schon mehrfach jeweils im Zusammenhang der Beziehung von Gottes Geist und Menschengeist, von Gottes Wort und Menschenwort, von Glaube und Vernunft, so werden sie nun gewissermaßen als Kristallisationspunkte einer umfassenden theologischen Anthropologie systematisch durchdacht. Die Frage nach der Humanität erfährt jedenfalls ihre entscheidende Zuspitzung als Frage nach der Bedeutung der Grenzen der Humanität 7 . Und es ist darum nicht verwunderlich, daß Brunner gerade hier ansetzt. Er nimmt seinen Ausgangspunkt nicht schlechthin beim Menschen, sondern bei dem, was den Menschen zum Menschen macht, bei dem Kriterium seiner Menschlichkeit. Er wählt offensichtlich mit Bedacht gerade diesen Ausgangspunkt, weil sich an ihm die Frage nach Gott und nach dem Gottesverhältnis des Menschen von selbst stellt. Was sagt die Grenzerfahrung über den Menschen aus? Wo erfährt er seine Grenze? Brunner beschreibt das Phänomen der Grenze als Erfahrung der theoretischen und der praktischen Vernunft. In kritischer Selbstbesinnung wird der Mensch sich seiner Grenze im Erkennen bewußt: Alles Erkennen ist relativ. Nie gelingt es uns, durch die Relativitäten hindurchzustoßen auf das Absolute, das doch mit jedem Erkenntnisakt gemeint ist. Wir geraten immer tiefer ins Problematische hinein, von Frage zu Frage, aber die Wahrheit selbst entgeht uns stets. So bleibt als letztes immer die Frage. In der Erkenntnis seiner Grenze erkennt der Mensch also β Vgl. DialTh I, S. 2 5 9 ff. Die Formulierung schließt sich offenbar an den Titel der Schrift P . N a t o r p s „Religion innerhalb der Grenzen der Humanität" (1894. 1908 2 ) an. 7 AaO., S. 259 f. 264.
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die Fraglichkeit seiner Existenz, und zwar nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln. Selbst im Augenblick seligsten Schaffens wird er dessen inne, daß das eigentlich Gemeinte und Gewollte noch jenseits des Verwirklichten liegt, eine Erfahrung, die ihren tiefsten Ausdruck in dem Pauluswort gefunden hat: Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Die Grenzen der Humanität geben also mit dem Gesetz der Wahrheit und des Guten nicht nur unserem Denken und Wollen seinen Inhalt, sein menschliches Gepräge und seine menschliche Würde; sie schaffen uns zugleich die Not, aus der es keine Rettung gibt: „die Not der Humanitas", der „Erdgeborenheit" 8 . Es ist die Not der Absolutheit, die der Mensch in seiner Humanität als seine Grenze erfährt. Hatte Brunner im Rahmen der antisubjektivistischen Denkrichtung den Sinn dieser Grenze vor allem in ihrer abgrenzenden Funktion gesehen — sie signalisiert ja das radikale Ende der menschlichen Möglichkeiten, „Grenze ist Grenze, nicht Brücke" 9 —, so gewinnt bei ihm nun auch der transitive Charakter der Grenze eine entscheidende Bedeutung 10 : „Wo Grenze ist, da ist Grenzsetzung", d. h. da stellt sich die Frage nach ihrem Woher, die als solche schon über die Grenze hinausweist. Die Humanität ist darum gerade in ihrer Begrenztheit etwas, das hinterfragt werden muß! Sie ist nicht das Ursprüngliche, sondern etwas von außerhalb ihrer selbst her Gesetztes. Sie hält die Frage nach ihrem Grund offen. Die A.a.O., S. 264 ff. EEG 2 , S. 120. 1 0 Brunner macht auch in E E G bereits von diesem Doppelsinn des Grenzbegriffs Gebrauch, und zwar bezeichnenderweise im Rahmen seiner Würdigung der Ursprungsphilosophie, im Zusammenhang der an Geist und Wort orientierten Denkrichtung! Hier, im kritischen, am Ursprung orientierten Denken, wird die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen endlichem und unendlichem Geist, aufgerichtet. „Aber nicht im Sinne eines Spencerschen .Unknowable', eines bloßen X , einer leeren Grenze, eines inhaltlosen ,Halt!' ist diese Begrenzung gemeint, nicht als diese letzte Abstraktion des kausalen Denkens, sondern eben als jenes Urverhältnis sui generis, das Geist zum Geist macht, des Ursprungs, der nicht nur Grenze, sondern zugleich Mittelpunkt und Quellbrunnen ist, nicht Grenze allein, sondern zugleich Inbegriff alles Inhalts, Grenze, die, indem sie begrenzt, zugleich unauflöslich verbindet" (a.a.O., S. 83). Offensichtlich schließt Brunner sich hier an einen Gedankengang Natorps an, der in seiner „Selbstdarstellung" über diesen ambivalenten Begriff der Grenze reflektiert: „Im Begriff der Grenze — das hat am klarsten wiederum Plato gesehen — vollzieht sich die Lösung. Die Grenze nämlich ist in sich zweiseitig, scheidend zugleich und einend. In ihr koinzidieren die Bereiche, die sie zugleich gegeneinander sondert, indem sie zugleich beiden, damit aber keinem von beiden, sofern er den anderen ausschließt, angehören will. Der Gegensatz wird zur Gegenseitigkeit. Der Gegensatz schließt aus, die Gegenseitigkeit schließt die gegeneinander abgeschlossenen Bereiche vielmehr zusammen, als die zwei Seiten Eines und Desselben. Die Grenze ist zweigesichtig wie Janus, der Gott des Anfangs, des Neuanhebens . . . So bedeutet die Grenze Abkehr zugleich, Ausschließung, also Verneinung, und Zukehr, Übergang, also Bejahung; gleichschwebendes Ineinander von J a und Nein" (a.a.O., S. 171). 8
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Grenze der Humanität weist also über sich hinaus auf ein Jenseitiges. Brunner sucht dies wieder am Phänomen des Vernunftgebrauchs zu verdeutlichen: "Wo Relatives als solches erkannt wird, da muß ein Absolutes sichtbar sein; wo verneint wird, kann dies nur geschehen im Hinblick auf ein Bejahtes; wo das uns bekannte Sein als ganzes in Frage gestellt wird, ist ein ihm überlegener Standort vorausgesetzt; das Denken verweist auch noch in seinem Nicht-zu-Ende-Kommen auf seinen Grund und auf sein Ziel. Die Grenze der Humanität bringt daher überall, wo sie sich geltend macht, zugleich jenes andere mit zur Geltung. Sie weist den Menschen, indem sie ihn auf sich selbst zurückwirft und indem sie ihn an sich selbst scheitern läßt, auf den Grund hin, der erst die Not zur Not macht11. Sofern die Grenze Hinweis auf ihren jenseitigen Grund ist, könnte man sie selbst bereits als eine Form der Aktualität dieses Grundes verstehen, sei es als Drohung, sei es als Verheißung. Aber Brunner geht in seiner Interpretation noch weiter: In der Tatsache, daß wir die Grenzen der Humanität erkennen und an ihnen leiden, zeigt sich, daß wir selbst Anteil an dieser Grenzsetzung haben! „Jenes Andere, Begrenzende, kann uns also nicht nur fern und fremd, es muß uns zugleich nah und vertraut sein." Wenn wir keinen „Anteil" an der Idee der an sich seienden Wahrheit hätten, wo bliebe da unser Denken? Und wenn wir nicht auf die Idee des absolut Guten „bezogen" wären, wie könnte uns dann unsere sittliche Unzulänglichkeit beunruhigen? „Es muß also sein, daß wir mit der Wahrheit selbst in einem ursprünglichen Zusammenhang stehen, daß wir von ihr herkommen, daß ursprünglicher als die Abweichung, die wir erkennen, die Geeintheit ist, ohne die wir nie zur Erkenntnis einer Abweichung kommen könnten." Unsere Problematik, unsere Not ist also nicht etwas Zufälliges, sondern sie erwächst notwendig aus dieser unserer ursprünglichen „Bezogenheit auf das Absolute, jenseits von uns". In der Krisis, unter die unsere Existenz gestellt ist, macht sich dieses „Urverhältnis" geltend, und die Fraglichkeit unseres Denkens und Handelns bringt darum das von dorther Infragegestelltsein zum Ausdruck12. Brunner versteht das bisher Gesagte offensichtlich noch ganz als Selbstauslegung der Existenz, wie sie ζ. B. in der kritischen Philosophie geübt wird. „Wem kritische Selbstbesinnung den Star gestochen hat", der erkennt die Grenzen der Humanität in ihrem doppelten Sinn. Er erfährt die Krisis und versteht sie, da er sich verantwortlich weiß, als Schuld. Wie weit dieses Verständnis geht, ist eine Frage für sich, die uns noch öfter beschäftigen wird 13 . Brunner betont jedenfalls, daß ein solches Ver"
GrHu, DialTh I, S. 267. A.a.O., S. 267 f. 1 3 Vgl. dazu S.71 Anm. 114 sowie den Vortrag „Das Grundproblem der Philosophie bei Kant und Kierkegaard" (1923, in: Z Z 1924 H . 6, S . 4 4 f . ) , in dem Brunner ähnliche Gedanken entwickelt. Die Philosophie Kants erreicht ihren Höhepunkt in der 12
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ständnis die unerläßliche Voraussetzung für eine wirkliche Erkenntnis des Menschen bildet; denn erst da, wo der Mensch die Verantwortung für seine Lage übernimmt, erreicht die Krise ihre ganze Schärfe und Tiefe. Und erst in solchem sich selbst als schuldig Erkennen „vermag er dem Anderen, an dem er sich schuldig weiß, den Namen zu geben, den Religion ihm ahnungsvoll stets gegeben hat: Gott" 1 4 . Damit hat der Gedankengang Brunners seine Spitze erreicht. Die entscheidungsvolle Bedeutung der Grenze der Humanität liegt demnach darin, daß sie die menschliche Situation als eine Notsituation aufzeigt und darin zugleich auf Gott verweist. Denn der eigentliche Grund unserer N o t ist Gott! Er ist die Krisis der menschlichen Existenz. Er ist der „Grund und Richter unserer Geistigkeit". Er qualifiziert das Sein des Menschen, wie es sich in der Grenzerfahrung ausspricht, als ein „Gegründetsein und Gerichtetsein im Göttlichen". Darum steht hinter der Erkenntnis von Not und Schuld die „Erkenntnis des göttlichen, absoluten, ewigen Lebens, zu dem wir ursprünglicher gehören als zur N o t und Schuld" 1 5 . Ist mit diesem Ergebnis, das mit anderen begrifflichen Mitteln den gleichen Sachverhalt zum Ausdruck bringt, den wir im Zusammenhang der Korrelation von Wort Gottes und Existenz bereits analysierten, nicht schon eine Vorentscheidung gefallen, die anzeigt, in welcher Richtung das eigentliche Interesse Brunners zu suchen ist? H a t er mit dieser Aufeinanderbeziehung von Gott und Mensch jenem radikalen Abbruch der Beziehungen, bei dem das menschliche Ich einfach des Feldes verwiesen wurde, nicht von vornherein ein beachtliches korrigierendes Gegengewicht gegenübergestellt? Gräbt er hier nicht in der Tat an einem Stollen, der Gott und Mensch miteinander verbindet? Das wird darum die an Brunner zu richtende Frage sein: Wie kann man von einem radikalen Brückenabbruch sprechen, wenn es doch noch einen ursprünglichen Zusammenhang gibt, ein Urverhältnis, eine Geeintheit zwischen Gott und Mensch, die ursprünglicher ist als der Bruch und darum durch diesen auch nicht vernichtet wird? Es ist jedenfalls beachtlich, daß Brunner nahezu im gleichen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang das eine wie das andere zum Ausdruck bringen kann! Und ebenso auffallend sind die Anklänge an Formulierungen, die uns schon in seiner Dissertation aus der vor dialektischen Zeit begegneten. Auch dort war ja von einem „AnteilErkenntnis, „daß das wesentliche Merkmal der menschlichen Existenz die Schuld sei. Ist es so, so muß das nun audi e x i s t e n t i e l l zum Ausdruck kommen." Mit dieser Erkenntnis ist zugleich „die Grenze der immanenten, menschlichen Möglichkeiten erreicht", die „Grenze des Verstehens". 14 GrHu, DialTh I, S. 268; vgl. PhuOff, S. 40. 15 A.a.O., S. 268 f. Mit dieser Existenzbestimmung: „Gegründet- und Gerichtetsein im Göttlichen" definiert Brunner auch den Sinn der Religion. Sie ist in ihrem eigentlichen Sinn nichts anderes als die Erkenntnis bzw. Anerkennung Gottes als Grund und Richter unserer Existenz.
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haben" die Rede, und auch der transitive Begriff der Grenze spielte dort schon eine gewichtige Rolle als der Bereich des kontinuierlichen Übergangs von der Sittlichkeit zur Religion. Sittlichkeit wurde gedeutet als latente Religion, da der sittliche Mensch in der Konsequenz seiner Sittlichkeit audi religiös wird. Die Vermutung liegt darum nahe, daß Brunner sich anschickt, einen ihm nicht ganz unvertrauten Weg erneut zu gehen und seine früheren Überlegungen in die neue Problemstellung mit einzubeziehen. Die Nähe zum vordialektischen Ansatz seines Denkens zeigt sich auf jeden Fall in der grundlegenden Bedeutung der Sittlichkeit und des durch sie in dem Menschen hervorgerufenen Konflikts: „Nur in dieser Not eröffnet sich die Aussicht auf das ganz Andere, in dem unsere Erlösung gewährleistet ist." 1 6 Dem sittlichen Bewußtsein fällt also auch hier eine Art Paidagogos- oder Mittlerrolle zu — allerdings nicht in der Weise, daß es selbst den Ubergang zu jenem „ganz Anderen" bewirkt. Es enthüllt vielmehr — darin wird die Korrektur sichtbar — eine Distanz, in der der „Bindestrich zwischen Menschlichkeit und Göttlichkeit, den humanistischer Idealismus mit einer gewissen Unverfrorenheit oder im verwegenen Trotz zu setzen beliebt, ausgelöscht wird" 1 7 . Statt dessen erscheint hier ein Zeichen der Trennung, ein unübersehbares „Halt!", angesichts dessen dem Menschen nichts bleibt als das Fragen und Ausschauen nach dem, was er nicht hat und ist. Aber dieses Fragen enthält dodi bereits den Hinweis auf Gott. Gott wird als der Sinn des Menschen erfragt. Im Sehen und Verstehen der Grenzen der Humanität ist der Mensch bereits am Ursprung orientiert. Diese Orientierungsfunktion, die Brunner hier dem sittlichen Bewußtsein bzw. der mit ihm verbundenen Notsituation zuspricht, schließt somit die Existenzerfahrung und das Existenzverständnis des Menschen als notwendige Voraussetzung für jenes Geschehen mit ein, in dem der Mensch zum Glauben kommt. An den Grenzen der Humanität wird die Gottbezogenheit des Menschen sichtbar. Dem Gegründet- und Gerichtetsein im Göttlichen entspricht das Fragen und Ausschauen des Menschen, das nach einer Antwort ruft, die nur von Gott her gegeben werden kann. Über den Abgrund hinweg, gerade im Respektieren der gesetzten Grenze, zeigt sich hier der Sinnzusammenhang des Menschen mit Gott. Wie immer das Geschehen der Offenbarung Gottes den Menschen treffen mag — es vollzieht sich als Bestätigung und Erfüllung dieses Sinnzusammenhangs. Die Grenzen der Humanität bezeugen darum nicht nur das Scheitern des Menschen an Gott und an sich selbst, sondern sie enthüllen in diesem Scheitern zugleich seine Gottbezogenheit. Sie machen damit deutlich, daß die Frage nach dem Menschen im Zusammenhang des Glaubensgeschehens nicht sinnlos, sondern sinnerhellend ist. GrHu, DialTh I, S. 269. Brunner greift hier offensichtlich auf Formulierungen K. Barths zurück, vgl. etwa „Der Christ in der Gesellschaft", DialTh I, S. 5 f. 18 17
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3. Der Begriff des Gesetzes a) Der kritische
Punkt
Brunner hat mit diesem ersten Klärungsversuch des Gott-Mensch-Verhältnisses bereits die Weichen für den Weg zu einer umfassenden theologischen Anthropologie gestellt. Und er hat mit einer erstaunlichen Sicherheit die verschiedenen Ansatzpunkte bezeichnet und systematisch aufeinander bezogen. Das Grundmodell der methodischen und sachlichen Erörterungen zur Frage der Anthropologie, das wie ein Thema mit Variationen in Brunners späteren Werken immer wiederkehrt, ist schon hier konzipiert, und einige seiner Bauelemente weisen noch weiter zurück in die vordialektische Anfangszeit. In der Folgezeit bemüht sich Brunner zunächst um die Vertiefung und Präzisierung dieses Denkmodells und seiner tragenden Begriffe. Die Titel der in dieser Hinsicht bedeutsamen, nahezu gleichzeitigen und eng miteinander verwandten Arbeiten „Gesetz und Offenbarung" (1925) 18 bzw. „Philosophie und Offenbarung" (1925) 19 bringen diese Aufgabenstellung denn auch deutlich genug zum Ausdruck. In dem Aufsatz „Gesetz und Offenbarung", der im wesentlichen die Grundgedanken eines im Januar 1925 in Marburg gehaltenen Vortrags über „Die Menschheitsfrage im Humanismus und Protestantismus" wiedergibt, greift Brunner erneut sein früheres Thema der Grenzen der Humanität auf, nun aber unter dem vorherrschenden Gesichtspunkt des Gesetzes. Das Phänomen der Grenze erscheint ja von seinem Ursprung her am Gesetz und kann daher auch nur durch eine Analyse des Gesetzesbegriffs erläutert werden. Es klingt schon wie die Rekapitulation eines abgeschlossenen und nur noch auf Vereinfachung bedachten Denkvorgangs, wenn Brunner die Sachlage auf die kurze Formel bringt: „Zwei Möglichkeiten der Beziehung zwischen Gott und Mensch gibt es: Die vom Menschen aus zu Gott hin und die von Gott aus zum Menschen hin. Mit der ersten ist der Weg bezeichnet, den der Mensch in seinem Denken und seinem Tun gehen kann, der einzig sinnvolle Menschenweg. Die andere ist keine menschliche Möglichkeit." Sie besteht nur als das Wunder der göttlichen Offenbarung. Zwischen diesen beiden Beziehungsmöglichkeiten oder Wegen gibt es keine Vermittlung, keinen Ubergang, wohl aber eine Grenze, wo sie „wie zwei Heeresspitzen gegeneinander zusammentreffen". Der gemeinsame Punkt, an dem beide, d.h. der Menschenweg und der Weg Gottes und dementsprechend auch Philosophie und Theologie, 18 Gesetz und Offenbarung. Eine theologische Grundlegung. Theol. Blätter 4 1925, Sp. 5 3 — 5 8 , N r . 3, wieder abgedruckt in DialTh I, S. 2 9 0 — 2 9 8 (im folgenden zit.: GesuOff). 19 Darin vor allem die Züricher Antrittsvorlesung „Die Offenbarung als Grund und Gegenstand der Theologie" (1925), wieder abgedruckt in DialTh I, S. 2 9 8 — 3 2 0 (zit.: Off).
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zusammentreffen und „beinahe eins werden, um dann desto heftiger auseinanderzufahren", ist das Gesetz 20 . Die so skizzierte Situation entspricht im wesentlichen der früher analysierten Grenzsituation, nur mit dem Unterschied, daß nun gegenüber dem Menschenweg im Vollzug der Dialektik auch der Weg Gottes, der Vorgang seines Sichoffenbarens mitbedacht wird. Das Zusammentreffen von Gott und Mensch, die Modalität dieser Begegnung, der Berührungspunkt der beiden gegensätzlichen Bewegungen steht jetzt zur Diskussion. Auf diesen „Punkt" konzentriert Brunner seine ganze Aufmerksamkeit, denn jeder Mensch befindet sich auf jenem Menschenweg, und „an diesen Menschen wendet sich die Offenbarung". Von einem Desinteresse am Menschen als dem Gegenüber des Offenbarungsgeschehens ist hier auf einmal nichts mehr zu spüren! Im Gegenteil, er ist unversehens zum Gegenstand eines ausgesprochenen theologischen Interesses geworden: Weil sich die Offenbarung an diesen Menschen wendet, „darum muß der Theologe, indem er zum Bewußtsein bringen will, wie die Offenbarung den natürlichen Menschen trifft, jenen Punkt genau kennen, worin die menschliche Vernunft Gott die Spitze bietet" 21 ! Mit dieser Forderung hat Brunner an einer entscheidenden Stelle prinzipiell den Bann durchbrochen, den er selbst über die Fragestellung der sogenannten anthropologischen Theologie mit verhängt hatte. Daß er es nicht tat, um die verworfene Theologie nachträglich wieder zu rehabilitieren, bedarf keiner Erörterung. Aber es zeigt sich dodi erneut, daß er dabei ist, die einseitige Blickrichtung auf das „Nichtmenschlich-Objektive" und die allzu grobschlächtige Negation des Menschlichen im Banne des Protests gegen den Subjektivismus zu überwinden. Als leitendes Motiv macht sich bei dieser Modifikation der Aufgabe der Theologie wieder das erkenntnistheoretische Interesse geltend. Von daher sieht Brunner sich letztlich doch genötigt, nach dem „Wie" der Begegnung von Gott und Mensch zu fragen und nach der Tragweite der Vernunft in diesem Begegnungsgeschehen. Freilich darf hierbei die theologische Begründung nicht übersehen werden, die sich mit dieser Fragestellung verbindet und sie legitimieren muß: Gott trifft, indem er sich offenbart, mit dem Menschen auf seinem Menschenweg zusammen und nimmt ihn so in seine Offenbarung mit hinein. Und darum kann auch die Theologie als das „durchreflektierte Bewußtsein des auf Offenbarung begründeten Glaubens" nicht darauf verzichten, sich auf das, was da eigentlich geschieht, zu besinnen, wenn sie auf der Spur des wirklichen Offenbarungsgeschehens bleiben will. Nicht einem neuen Anthropozentrismus soll also hier der Weg bereitet werden, sondern einer Theologie, die ihre Aufgabe erkennt und wahrnimmt, indem sie Gott auf seinem Weg zum Menschen 20 21
DialTh I, S. 290. Ebenda (Hervorhebung von mir). 93
folgt. Darin liegt die Bedeutung dieser neuen Fragestellung Brunners: Es ist ein Schritt, der von einer abstrakten Offenbarungstheorie zu einer wirklichen Offenbarungstheologie hinführen könnte, in der die Frage nach der Grenze des Menschenwegs, nach der Funktion des Gesetzes, nach der rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ihren legitimen Ort hat. Die Art, wie Brunner dabei den Begriff des Gesetzes aufnimmt und argumentierend gebraucht, läßt ihn allerdings von vornherein in einer gewissen Zweideutigkeit erscheinen; denn er verbindet ohne weiteres den biblischen heilsgeschichtlichen Gesetzesbegriff mit dem allgemeinmenschlichen, wie er der philosophischen Reflexion zugrunde liegt. Die Identität beider, die einfach vorausgesetzt und als theologisch verbürgt angenommen wird, bildet die Grundlage des ganzen Gedankengangs. Der Mensch kennt, eben weil er Mensch ist, das Gesetz Gottes. Er ist mit seinem natürlichen Selbstverständnis, mit seinem Wissen um das Gesetz hineingenommen in die Dialektik von Gesetz und Evangelium. Nur so läßt sich begreifen und begreiflich machen, wie es zu jenem gemeinsamen Punkt kommt, an dem Gott und Mensch zusammentreffen. Der allgemeinste Gesichtspunkt, den Brunner zum Verständnis des Gesetzes beibringt, ist der der Ordnung und der Notwendigkeit. Das gilt für das Naturgesetz ebenso wie für das sittliche Gesetz. Indem es den Menschen in seinem Erkennen und in seinem Handeln der Idee der Wahrheit und der Idee des Guten verpflichtet, macht es ihn aus einem Naturwesen zu einem geschichtlichen Wesen. Es drückt damit „unserem Dasein den Stempel der Humanität" auf 22 . Das Gesetz wird so zum zentralen Begriff des Menschlichen. Und es bezeichnet als solcher zugleich die bewegende, anziehende Kraft, die zum Unbedingten hinführt. Der Weg, auf den das Gesetz den Menschen bringt, hat also von vornherein dieses Ziel, den Menschen über sich hinauszuführen. Der Gesetzesweg ist der Weg des Menschen zu Gott. In seinem Denken und Handeln ist ihm dieser Weg vorgezeidinet! Aber weder im Denken noch im Handeln erreicht er sein Ziel. Denn das Gesetz bezeichnet ja auch die Grenze des Menschen: „Er erkennt immer nur Gesetze, aber nie den Gesetzgeber!" Alles Hinausgehen über das Gesetz zum Gesetzgeber muß innerhalb des strengen Denkens daher als mythologisch angesehen und abgewiesen werden. Zwar zielt all dieses Erkennen auf Gott hin, aber es erfaßt nur die „leere Idee des Absoluten", nur den „Gott", von dem man nichts aussagen kann. Es gibt, so faßt Brunner das Ergebnis des menschlichen Denkwegs zusammen, „keine Er22
S.ll. 94
Vgl. zum Folgenden GesuOff, a.a.O., S. 291 ff.; ähnlich Off, a.a.O., S. 304, PhuOff,
kenntnis des Absoluten, keine Gotteserkenntnis" 2S . Ebensowenig gelangt der Mensch auch im Handeln zum Tun des Willens Gottes. Die sittliche Besinnung — darauf wurde bereits hingewiesen — kommt nicht an der Erkenntnis der allem menschlichen Tun innewohnenden Schuldhaftigkeit vorbei. Ob sie aus sich heraus dabei wirklich bis zur Erkenntnis des radikalen Bösen vorstößt, läßt Brunner auch hier offen; jedenfalls müßte sie es, wenn sie das Gesetz in seiner ganzen Strenge versteht. Die natürliche Vernunft „führt mit Notwendigkeit zur Anerkennung von Schuld" — aber sie ist dodi nicht imstande, diese ihre tiefste Erkenntnis des Menschen ganz ernstzunehmen24. Sie spricht zwar von Sünde und Schuld; sie kann jedoch „nichts wissen vom wirklich Bösen, vom Urbösen", von der Katastrophe des Sündenfalls, in der sich der Mensch von seinem ursprünglichen In-Gott-Sein losgerissen hat. Es ist der Vernunft nicht gegeben, diesen Anfang zu setzen, den der Sündenfall voraussetzt, den persönlichen Gott, der sich seinem Geschöpf mitteilt. Darum kann sie auch nicht im strengen Sinn von Schuld und Sünde sprechen, und ihre Aussagen werden hier notwendig unsicher. Gerade in dieser Unsicherheit, in diesem Wissen und Doch-nicht-Wissen zeigt sich die Grenze ihrer Möglichkeiten, die Grenze des Gesetzes. Hier ist jene „Spitze" erreicht, von der Brunner sprach, der Punkt, an dem die menschliche Vernunft „Gott die Spitze bietet", 2 3 Vgl. PhuOff, S. 40 (Gnosis und Glaube) : „Denn der Glaube weiß, daß das, zu. dem hin der Mensch kommt, nicht Gott ist, weil alles, was nicht Anfang ist, sondern nur Ende, alles was nicht zu uns kommt, was nicht sich selbst zuerst setzt und uns nur in dieses Erste hineinnimmt, alles also, was nicht sich uns beweist als das selbst Beweisende und darum nicht Beweisbare — nicht Gott ist." Eine gewisse Einschränkung dieser These macht sich allerdings bei Brunner sogleich wieder bemerkbar: Die Gesetzeserfahrung ist ja, wie wir noch sehen werden, als Gotteserfahrung deutbar. Freilich begegnet darin Gott nicht wie er für uns sein will, sondern wie er sich gegen uns behauptet. Aber als der richtende Gott ist er kein unbekannter Gott mehr (vgl. dazu oben S. 68 f. und Anm. 107). Brunner formuliert seine These offensichtlich im Blick auf jenes Offenbarwerden Gottes, das erst auf Grund seiner persönlichen Selbstmitteilung im Evangelium dem Menschen sagt, wer er für ihn ist. Es ist die Gotteserkenntnis „abgesehen von allem Gesetz, nicht durch unseren Geist, sondern durch Gottes Geist" (Off, a.a.O., S. 319 = PhuOff, S. 27). Zur Frage, ob es der Philosophie erlaubt sei, dem Erstletzten, das unser Geistsein begründet, den Namen Gott zu geben, äußert er sich gleichzeitig sehr zurückhaltend (vgl. Off, a.a.O., S. 302 f. = PhuOff, S. 9 f.). Jedenfalls kommt der Gottesgedanke „nicht zu seinem Recht, wenn er nur durch das Gesetz gedacht ist". Zu seinem Recht kommt er erst, wenn der Schritt von der philosophischen Erkenntnis zum Glauben getan wird (Off, a.a.O., S. 318 = PhuOff, S. 26). 2 4 Brunner exemplifiziert dies immer wieder am Beispiel Kants, der zwar zur Erkenntnis des radikalen Bösen vorstieß und damit unmittelbar vor der Tür des christlichen Glaubens steht, dann aber doch wieder den Rückzug antritt; vgl. etwa E E G 2 , S . 8 8 ; ZZ 1924 H . 6 , S . 4 3 f . ; PhuOff, S. 11; Mi, S . 9 9 f f . ; MiW, S . 1 1 7 f f . ; OuV, S . 3 5 8 f . ; D II, S. 109 f. Aber Brunner sagt andererseits auch wieder einschränkend, daß die Lehre vom Bösen bei Kant „nicht rein aus Vernunfteinsicht gewonnen, sondern im Zusammenhang mit dem Gedanken des christlichen Offenbarungsglaubens" entstanden sei (PhuOff, S. 44).
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indem sie „im Zwiespalt mit sich selbst aufhört". Das Gesetz führt sie bis an diesen Punkt, aber es hält sie auch an ihm fest. Es steht insofern „zwischen uns und Gott" 2 5 . Der Weg des Menschen kommt also nicht zum Ziel, sondern nur an sein Ende. Er mündet auch nicht in einen neuen Weg, der etwa die Fortsetzung des alten mit neuen Mitteln wäre im Sinne des scholastischen Satzes gratia supponit et perficit naturam. Brunner hält insofern auch hier an dem strengen Begriff der unüberbrückbaren Grenze fest, die den Menschen von Gott gerade auch in seiner Selbstoffenbarung trennt. Offenbarung bedeutet nicht die Fortsetzung und Vollendung des Menschenweges, sondern die prinzipielle Bestätigung, daß dieser Weg am Ende ist und nicht weiterführt. Der Weg Gottes zum Menschen ist als der Gegensatz zum Gesetzes weg der „Gegenpol des Menschenweges". Nicht wir finden hier Gott, sondern Gott findet uns und teilt sich uns mit. Er überbrückt die Kluft, die wir nicht überbrücken können, und schafft die Unmittelbarkeit, in der sein Wort gehört und verstanden wird. Nicht die Forderung des Gesetzes regiert diesen Augenblick, sondern das Wort der Vergebung, der Versöhnung, das in Jesus Christus gesprochene Wort. Und nicht das Zu-Gott-Hin des Menschen setzt sich hier durch, sondern das Für-uns-Sein Gottes in Jesus Christus. Brunner kann im Zuge dieser Beschreibung des Offenbarungsgeschehens, in dem es um das sola gratia und das soli Deo gloria geht, auch jetzt nodi sagen: „Es ist hier wirklich keine Spur mehr von einem Zu-Gott-Hin des Menschen!" Es geht ja um das, was dem Denken Torheit, dem sittlichen Denken ein unüberwindliches Ärgernis ist: um die Rechtfertigung des Sünders. Und der Glaube, der hierzu Ja sagt, vollzieht damit „das Gegenteil aller Gedankenbewegung-von-uns-aus" 2e . Aber aus dieser Erkenntnis des Glaubens heraus ergibt sich nun doch auch wieder ein neues Verständnis des Menschen unter dem Gesetz und der darin gegebenen Gottesbeziehung. Hier gewinnt die Gesetzesdeutung Brunners erst eigentlich ihre theologische Tiefe, wenngleich ihre exegetische Begründung nur am Rande erscheint und nicht immer überzeugend mit ihr in Einklang gebracht werden kann. Das Gesetz verweist den Menschen auf sich selbst, auf seine eigene Entscheidung, auf seine Eigenverantwortung. Das gibt ihm seinen Stolz und das Bewußtsein der Autonomie; aber es macht ihn auch zum Sünder. Denn hier wird die „Urbeziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf" verkannt. Das Geschöpf ist ja gesetzt durch die Selbstmitteilung Gottes, es ist zu seinem Bild geschaffen. Damit ist ein indikativisches Urverhältnis gegeben, in dem der Mensch 25 GesuOff, a.a.O., S. 294; vgl. Off, a.a.O., S . 3 0 5 f . ( = PhuOff, S. 12 f.). Brunner beruft sich hierbei ausdrücklich auf Luthers Satz: Coepi judicare decalogum esse dialecticam Evangelii. 29 GesuOff, a.a.O., S. 295 f.
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sich, von Gott empfängt. Brunner spricht in diesem Zusammenhang geradezu von einer „Urgleichheit von Gott und Mensch" in dieser „Urungleichheit" — ein weiterer Hinweis auf die sich, bereits jetzt entwikkelnde Imago-Lehre27. Indem nun der Mensch das, was er als Geschenk hat und haben soll, als seine Tat haben will, emanzipiert er sich von Gott. Damit „hat er Gottes Gnadenwillen in sein Gesetz verwandelt"! Denn das „Ich kann's" ist nur zu haben um den Preis des Du sollst! Das Gesetz ist also in Wahrheit nichts anderes als die „strafende Selbstbehauptung Gottes gegenüber der lügenhaften Selbständigkeit des Menschen". In der Unbedingtheit, mit der es den Menschen auffordert, lebt sich die Absolutheit Gottes aus! Und in dem ausweglosen Widerspruch, in dem es den Menschen enden läßt, enthüllt es die Verkehrung seiner Beziehung zu Gott. Das Sein unter dem Gesetz ist also durchaus auch eine Weise des Gottesverhältnisses! Gott begegnet im Gesetz dem Menschen auf seinem Menschenwege — man kann in diesem Sinn vom Göttlichen in der Geschichte sprechen —, aber es ist eine Begegnung mit dem zornigen, richtenden und vernichtenden Gott, der im Gesetz den Menschen bei seiner Sünde behaftet, die ihn gerade von Gott trennt. So gewinnt das Gesetz in Gestalt der erkennenden und sittlichen Vernunft eine eigentümliche Doppelbedeutung. Brunner beschreibt sie mit einer deutlichen Anspielung auf die platonische Anamnesis: Es ist einerseits „Erinnerung an Gott" und gibt damit der menschlichen Existenz ihre Würde, ihren Ernst und ihren Sinn. Aber es ist zugleich auch „Erinnerung an den Fall" 28 . In dieser doppelten Funktion spielt das Gesetz seine Rolle, indem es die Humanität als Grenze, aber auch als in Gott begründete Verheißung sichtbar werden läßt. Weil es das Dokument des Menschenweges ist, muß es aufgehoben werden, indem Gott seinen Weg zum Menschen geht. Damit ist das Gesetz als das, was „zwischen hineingekommen" ist, charakterisiert. Es wird durch das Wort der Barmherzigkeit Gottes, der den Sünder gerecht spricht, entmachtet, außer Kraft gesetzt. Aber es verliert dadurch keineswegs seine dokumentarische Bedeutung. Denn in seiner Forderung begegnet ja Gottes Rechtsanspruch, und sein Urteil über den Menschen ist Gottes Urteil. Darum kann es nur so aufgehoben werden, daß es dabei zugleich bestätigt wird. Die Erkenntnis der Sünde, die das Gesetz voraussetzt und zu der das Gesetz den Menschen mit Notwendigkeit bringt, zeigt, wie es im Gesche2 7 Vgl. audi PhuOff, S. 4 5 : „So steht also der Glaube der Philosophie durchaus nicht eindeutig gegenüber. E r wird die Philosophie anerkennen so gut wie das menschliche Leben. E r wird sich an ihr als einem besonders unverkennbaren Hinweis auf die göttliche Schöpfung, auf die Gottebenbildlichkeit der ursprünglichen Menschenschöpfung, freuen.. 2 8 GesuOff, a.a.O., S . 2 6 9 f . Zur Anamnesis vgl. E E G , S. l l l f . ; Relph 2 , S. 44.
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hen des Glaubens dabei ist und dabei sein muß. Brunner hat bisher keinen Zweifel daran gelassen: Die durch das Evangelium bezeichnete Wende im Gottes Verhältnis des Menschen kann nicht von uns aus kommen; sie kommt nicht kraft des Gesetzes, sondern kraft der Selbstoffenbarung Gottes. Aber das Gesetz ist an dieser Wende dodi nicht unbeteiligt. Denn „wie könnte der Mensch", fragt Brunner, „ ,umgewendet' werden anders als dadurch, daß er seine Verkehrtheit erkennt, dadurch also, daß ihm im selben Akt Gottes die Geltung der Gesetzesgerechtigkeit und ihre Aufhebung geofienbart wird" 2 9 ? Das Gesetz führt also in die Krisis hinein, aus der der Glaube herausführt. Es schafft und erhellt die Situation, in der Gottes Gnadenwort als Evangelium erscheint, als Vergebung der Schuld. Brunner kann darum sagen, daß in der Sünde „die menschliche Voraussetzung der göttlichen Offenbarung sichtbar" wird, und er fügt in der Konsequenz dieses Gedankens hinzu: „Die Erkenntnis der Sünde ist die Krisis, die Wende, wo immanentes Erkennen und Glauben sich berühren." 30 Damit hat Brunner jenen kritischen „Punkt", an dem die menschliche Vernunft Gott die Spitze bietet, und den der Theologe kennen muß, wenn er zum Bewußtsein bringen will, wie die Offenbarung den natürlichen Menschen trifft, vorläufig genauer bestimmt. Es ist nicht ein Punkt, an dem die „Endlichkeit in die Unendlichkeit einmündet" — finitum non est capax infiniti! Es handelt sich vielmehr um eine „Berührung nur in diesem Negativen", nämlich in der Erkenntnis der Sünde. Er ist darum nichts anderes als ein „Punkt der Verzweiflung" 3 1 . Brunner gebraucht hier noch nicht den Begriff des „Anknüpfungspunktes", aber es kann kein Zweifel bestehen, daß er mit der geschilderten Dialektik von Gesetz und Evangelium bereits jenen Sachverhalt ins Auge faßt, den er später als dialektische Anknüpfung bzw. als Anknüpfung der Buße bezeichnet. Wenn er nach den Auseinandersetzungen um seine Theorie der Anknüpfung 1937 noch einmal sein Verständnis präzisiert und dazu bemerkt: „Von einer anderen als von einer solchen dialektischen Anknüpfung habe ich nie etwas gelehrt; sie ist seit 12 Jahren (vgl. meinen Aufsatz über das Gesetz in den ,Theologischen Blättern', 1925!) der sich gleich bleibende Mittelpunkt (!) meines theologischen Denkens . . . " , dann hat er zumindest mit diesem Hinweis auf den frühen Ursprung seiner Fragestellung, die sich ja im einzelnen noch weiter zurückverfolgen ließ, recht32. A.a.O., S. 298 Off, a.a.O., S. 314 f. = PhuOff, S. 22 f. (Hervorhebung von mir). 3 1 Vgl. Off, S. 312. 315. 306 ( = PhuOff, S. 20. 23. 13). 32 MiW Beilage I, S. 531. Brunner definiert hier die in der humanitas gegebene Gottesbeziehung „als die zum Evangelium dialektisch sich verhaltende Gesetzlichkeitsstruktur des jetzigen Menschseins, die erstens das menschliche Leben einigermaßen zu ordnen vermag, die zweitens den Menschen notwendig in der Gottesbeziehung — ob29
30
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Bedeutsam im Hinblick auf die spätere Entwicklung sind dabei vor allem nodi zwei Gesichtspunkte. Brunner betont in den beiden Schriften aus dem Jahre 1925 mehrfach, daß es sich bei dieser Deutung der Funktion des Gesetzes, die zu einer Dialektik von Gesetz und Evangelium, von Sündenerkenntnis und Glaube führt, um Glaubenserkenntnis handle, d.h. um eine aus der Offenbarung Gottes hervorgehende Erkenntnis. „Nur von dorther ist es möglich, das Gesetz so zu sehen, wie es jetzt dargestellt worden ist." Diese Beurteilung des menschlichen Lebens, die volle Erkenntnis der Sünde, „ist nur möglich durch die Offenbarung". Insofern verstehen sich die Aussagen über den Menschenweg zu Gott, über seine Voraussetzungen und Grenzen nicht als selbständig aus der Analyse des Phänomens der Humanität gewonnene, sondern als theologische Sätze, die vom Offenbarungsgeschehen ausgehen. Sie sind Ausdruck einer theologischen Anthropologie. Aber andererseits lebt Brunners Argumentation doch auch davon, daß die Christusoffenbarung die „unüberbietbare Geltendmachung des Gesetzes" ist, die „Antwort auf jene Frage, die vom Menschen aus unbeantwortbar, die Lösung jenes tiefsten Lebenskonflikts, der für menschliches Tun unlösbar ist" 3S . Sie lebt somit auch davon, daß die menschliche Vernunft zumindest auf die Spur der Sündenerkenntnis bzw. der Gotteserkenntnis kommt und in ihrer Krise auf das erlösende Wort Gottes wartet. „Die Philosophie wäre nicht wahr, wenn sie nicht etwas davon merkte." 34 Man könnte ebensogut sagen: Die theologische Gesetzeserkenntnis wäre nicht wahr, wenn nicht auch der Mensch in seinem natürlichen Selbstverständnis „etwas davon merkte". Das sogenannte Wirklichkeits- oder Erfahrungskriterium, das von Brunner später im Hinblick auf die Bewahrheitung theologischer Sätze geltend gemacht wird, hat seinen Rückhalt in dieser Dialektik des Verstehens von Vernunft und Glaube. Der christliche Glaube steht demnach in einer „dialektischen Doppelstellung" zur Vernunft. Sofern sie ihre Grenze überschreiten und sich Gottes bemächtigen will, steht er zu ihr im Verhältnis des schon in der verkehrten — erhält, die drittens dem Evangelium als Anknüpfungspunkt dient, die aber zugleich, viertens, der Punkt des höchsten Gegensatzes und der Abstoßung ist". Diese Beschreibung des Sachverhalts deckt sich in der Tat weitgehend mit unserer Analyse von „Gesetz und Offenbarung". 33 Off, a.a.O., S. 307. 34 Brunner fügt bezeichnenderweise jedoch hinzu: „Aber sie wäre nicht Philosophie, sondern Offenbarung, wenn sie es wirklich verstünde" (GesuOff, a.a.O., S. 298, vgl. S. 292 f. 296, sowie Off, a.a.O., S. 315). In „Gnosis und Glaube" spricht Brunner von einer „Selbstbewegung der Vernunft", die bis an die Buße heranführt: „je ernster die sittliche Besinnung ist, destomehr nähert sie sich dem Punkt zuinnerst, w o nicht mehr Einzelnes, sondern das Ganze gefordert wird", und w o die Grenze des Menschen erfahren wird. „Kritische Philosophie ist die bußfertige Gesinnung in der Sprache des Philosophen ausgedrückt." Der Glaube wird daher eine Philosophie, die zur Besinnung und Nüchternheit aus Ehrfurcht vor dem Absoluten ruft, „als einen Beginn der Buße erkennen, die sich erst im Glauben vollendet"! (PhuOff, S. 43ff.).
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ausschließenden Gegensatzes. Der kritischen Vernunft gegenüber, die das Gesetz in seiner Strenge bewahrt und die ihr gesetzte Grenze respektiert, verhält er sich hingegen „anerkennend". Ja, er setzt deren kritische Grenzerkenntnis und vor allem „ihr entscheidendes sittliches Resultat, die Erkenntnis des Bösen, voraus; er nimmt es in sich auf . . . " 3 5 . Brunners Versuch, das „anerkennende" Verhältnis auf die Berührung im Negativen (der Sündenerkenntnis) zu beschränken und die Vernunft an der Paradoxie des Offenbarungsgeschehens scheitern zu lassen, wirkt dabei allerdings gekünstelt und kommt letztlich doch zu sehr in die fatale Nähe einer Rationalisierung des unverrechenbaren Geschehens von Offenbarung und Glaube. Die Spannung der beiden Denkansätze ist auch hier noch nicht überwunden. Sie bleibt weiterhin wirksam in dem Nebeneinander der Aussagen, die dem Menschen einerseits alle Gotteserkenntnis absprechen und andererseits doch ein indikativisches Urverhältnis behaupten, in dem der Mensch mit Gott ursprünglich verbunden ist. b) Die Aufgabe
der
Theologie
Der andere Gesichtspunkt steht in engem Zusammenhang mit dem vorigen: Mit dem Aufweis dieser Dialektik von Gesetz und Evangelium, von Offenbarung und Vernunft, ist schon der Hinweis auf die Aufgabe der Theologie gegeben, wie sie sich Brunner darstellt. Er teilt den Fragenkreis, um den es in der Theologie geht, in zwei Gruppen: in diejenigen Fragen, „die sich um die genauere Bestimmung des Begriffes Offenbarung bemühen", und in „diejenigen, die vom allgemeinen Bewußtsein aus von diesem Glauben Rechenschaft verlangen" 36 . Die sachliche Priorität der zuerst genannten Aufgabe ergibt sich hierbei von selbst. Der Glaube, das Christentum steht und fällt damit, daß in Christus Gott selbst mit der Menschheit handelt und zu ihr redet, „und zwar nur dort: er selbst". Um dieses Unerhörte, dieses Exklusive, dieses Wunder, dieses kontingente Ereignis der göttlichen Tat geht es. Darum ist diese Offenbarung „nicht nur Inhalt, sondern zugleich Grund aller Theologie", und die Abgrenzung und Sicherung des christlichen Begriffs der Offenbarung bildet daher „das große Thema des christlichen Denkens" 37 . In der Konsequenz dieser Bemühung gehört für Brunner aber auch dies zur Aufgabe der Theologie, die „klare Einsicht zu schaffen, daß und warum Offenbarung Torheit und Ärgernis für die Vernunft ist" 38 ! D.h. er bezieht das allgemeine Wahrheits- und Wirklichkeitsbewußtsein mit ein in die Aufgabe der Bezeugung des Offenbarungsgeschehens. Der Horizont für die theologische Besinnung ist das Wort Gottes. Aber weil dieses Wort dem Menschen gilt, umfaßt er auch die vom Menschen herkommenden Fragen an dieses Wort. Theologie ist darum verpflichtet, angesichts dieser Fragen Rechenschaft 35 37
100
Off, S. 317. Off, S. 307 f. 319.
M 38
Off, S. 308. GesuOff, S. 296.
zu geben von der Wahrheit des Glaubens. Sie hat die Glaubensgedanken weiterzudenken „vor allem nach der Seite hin, wo sie jeweils durch das allgemeine Zeitbewußtsein in ihrem Sinn oder in ihrer Geltung bedroht sind". Lebendige Theologie ist darum immer audi polemisch, weil sie „Angriff auf die sündig-verkehrte Intellektualität" sein muß. Sie hat den Glaubensgehorsam „im Reich des Gedankens" auszubreiten; sie hat scheinbar gesicherte Erkenntnispositionen zu erschüttern und vermeintliche Lösungen in Frage zu stellen, mit einem Wort: zu ihrer Aufgabe der Bezeugung des Wortes Gottes gehört audi die „Hinführung des Denkens an den Punkt, wo der Mensch aus sich nichts mehr weiß" 3e . Brunner greift damit auf die alte Aufgabenbestimmung der Theologie als Polemik und Apologetik zurück, freilich unter entschiedener Zurückweisung dessen, was nach seinem Urteil in der Nachfolge Schleiermachers unter apologetischer Theologie verstanden wurde: der Einbeziehung der Offenbarung in das Vernunftsystem. Nur einem Glauben, der keiner mehr ist, könne es einfallen, „sich von der Vernunft vor ihren Gerichtshof ziehen zu lassen und dort ein kluges und zugleich bescheidenes Plaidoyer zu führen". Die einzig mögliche Form einer christlichen „Apologetik" besteht nach ihm gerade umgekehrt darin, daß „das Vernunftsystem in die Offenbarung hineingenommen wird, wobei das Vernünftige, die ,Lex naturae', kritisch zweideutig wird" 4 0 . Mit diesem Hinweis lenkt Brunner erneut auf das grundsätzliche Problem von „Gesetz und Offenbarung" zurück. Hier hat er in der Tat den Mittelpunkt seines theologischen Denkens erfaßt und eine wenn auch „embryonale Urform" seiner späteren „Christlichen Lehre vom wahren und vom wirklichen Menschen" geschaffen41. Sie trägt im Hinblick auf die spätere Entwicklung mit Recht den Untertitel: „Eine theologische Grundlegung". Denn sie enthält bereits im Verein mit dem Aufsatz „Die Offenbarung als Grund und Gegenstand der Theologie" das Programm der Eristik als Konsequenz der Dialektik von Gesetz und Evangelium.
C) Das Programm der Eristik — die Entwicklung des Gegensatzes zu K. Barth 1. Mittlerglaube und allgemeine Offenbarung Von der ersten richtungweisenden Formulierung der eristischen Aufgabe der Theologie bis zum Entwurf eines theologischen Programms der Eristik war der Weg nicht mehr allzu weit. Wer hier nach einem Wende38 40 41
Off, S. 319. GrHu, S. 273; PhuOff, S. 45; Off, S. 317 Anm. 8; Relph 2 , S. 25. 77. Vgl. Brunners Bemerkung in MiW, S. IX. 101
punkt, nach einem radikalen Bruch im Denken Brunners sucht, der wie ein Sündenfall den reinen Impuls der dialektischen Theologie verkehrte, sucht vergeblich. Die Arglosigkeit, mit der Brunner immer wieder darauf hinwies, daß er sich keiner Kehrtwendung, keines Abfalls von der eigentlichen Aufgabe der Theologie bewußt sei, ist echt; denn er folgte hier einer Fragestellung, deren Voraussetzungen schon in den frühesten Anfängen seines Denkens wirksam waren und deren Notwendigkeit sich ihm schließlich auch innerhalb der dialektischen Theologie aufdrängte, auch wenn sie zunächst in einer gewissen Eigenständigkeit neben ihr herlief. Es ging ihm nach wie vor um eine Beschreibung und Auslegung des Offenbarungshandelns Gottes, in dem Gott zu seinem Recht kommen sollte — gerade darin, daß nun auch der Mensch als Mensch Gottes mitbedacht wurde. Barths vielzitierte Äußerung: „Als Brunner ,Die andere Aufgabe der Theologie* zu proklamieren für nötig hielt, da wußte ich, daß wir geschiedene Leute seien" 1 , hat viel zu dem Vorurteil beigetragen, als habe Brunner gegen Ende der zwanziger Jahre plötzlich die Stellung gewechselt. Man kann der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Theologen jedoch unmöglich gerecht werden, wenn man nicht der Tatsache Rechnung trägt, daß Brunner hier lediglich eine Stellung auszubauen suchte, die, wie auch Barth nicht übersehen konnte, schon lange vorher projektiert war, und daß er dabei nicht ganz ohne Grund auf die Nähe zu gewissen früheren Äußerungen Barths hinweisen konnte. Brunners Weg verläuft nicht ohne jene innere Logik, die das Kennzeichen eines beharrlichen Im-Auge-Behaltens der gleichen Sache unter verschiedenen Aspekten ist. Ging es ihm zunächst vor allem um die Herausarbeitung des Glaubens- und Offenbarungsbegriffs in seiner jenseitigen, göttlichen Objektivität, so konnte es gar nicht ausbleiben, daß sich dabei auch der andere Aspekt auf die Dauer nicht leichthin überspielen ließ, inwiefern die Wirklichkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes betroffen ist. In der Analyse des Geist- und Wortbegriffs begegnete uns diese Problematik ebenso wie in der Reflexion über die Grenzen der Humanität und in dem Aufweis der Dialektik des Gesetzes. Der Weg Gottes zum Menschen und der Weg des Menschen zu Gott bilden gewissermaßen die beiden Pole, von denen sein Denken immer wieder angezogen wurde. Mochte es bisweilen scheinen, daß diese Polarität sich aufzulösen drohte in der Gottunmittelbarkeit der Intuition, des lebendigen ursprünglichen Denkens, oder auch in der Ichlosigkeit des Glaubens: die eigentliche Intention der theologischen Denkbemühung Brunners richtete sich doch auf das rechte Verständnis des Zusammenhangs und des 1
102
Nein, S. 57 f.
Gegensatzes von Gott und Mensch, auf jenes Begegnungsgeschehen, das er als „Wort-Geschehen" beschreibt2. Es ist daher kein Zufall, daß das eigentliche Hauptwerk dieser Denkphase „Der Mittler" heißt und daß er seine theologische Anthropologie unter Voraussetzung des „Mittlerglaubens" in Angriff nimmt. „Es gibt nur eine Frage, die ganz ernst ist: die Gottesfrage." An ihr scheiden sich nicht nur die Geister, sondern an ihr fällt die Entscheidung über den Menschen. Aus ihr gewinnen alle anderen menschlichen Fragen erst ihren Sinn und ihr Gewicht. Aber Brunner fügt diesem ersten Satz mit Bedacht sogleich den zweiten hinzu: „Die Gottesfrage, als Entscheidung erkannt, ist die Christusfrage." 3 Damit ist nicht nur der Einsatz- und Zielpunkt eines einzelnen Werkes charakterisiert, sondern der Ausgangspunkt und das Ziel jeder theologischen Aussage. Sie ist gebunden an das Faktum der Fleischwerdung des Gotteswortes, des Mittlers. Der Glaube an den Mittler, an das einmalige Ereignis der versöhnenden Offenbarung in Jesus von Nazareth, ist das Wesen des christlichen Glaubens. Was das heißt, was man damit von sich selbst und von Gott bekennt, will Brunner gerade am Begriff des Mittlers klarmachen. Im Mittler kommt Gott zum Menschen und begegnet der Mensch Gott — nur hier in der Einzigkeit und Einmaligkeit dieser Selbstoffenbarung Gottes. Dieses Exklusive, dieses Wunder meint der Christ, wenn er von Offenbarung spricht, daß in Christus Gott selbst mit der Menschheit handelt und redet, „und zwar nur dort". Er ist darum der Ort, an dem wirklich Offenbarung geschieht, an dem Gott dem Menschen in seiner menschlichen Wirklichkeit wirklich begegnet. In seiner Existenz wird die Kreaturgrenze von Seiten Gottes zum Menschen hin überschritten. In ihm erscheint das göttliche Wort von jenseits der menschlichen Möglichkeiten. Der Mittler steht also als die neue Kategorie, als die neue Dimension des „von Gott her" allem Innermenschlich-Innergeschichtlichen gegenüber. Aber er steht gerade so dafür ein, daß Gott sich zum Menschen bekennt. Er ist die dem Menschen von Gott her eröffnete Wahrheit und Lebensmöglichkeit4. Aber er ist dies als die Krise aller menschlichen Möglichkeiten. Denn die Anerkennung des wirklichen Offenbarungsfaktums bedeutet nichts anderes als die völlige Kapitulation des Menschen vor Gott, die Einsicht, daß der Mensch vor Gott scheitern muß. Der Glaube an den Mittler bestreitet die Möglichkeit einer direkten, ungebrochenen Gottesbeziehung vom Menschen aus. Er enthüllt ja die unüberbrückbare Kluft zwischen Gott und Mensch: die Sünde.
2
Mi, S. 178 f. 353. Mi, S. V. 4 Vgl. Mi, S. 6 f. 15. 21 ff. 125. 195 f. 203. 213. 216. 265. 318. 445; ebenso DiaITh I, S. 295. 307 f. 316. 3
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Die Sünde ist der Schlüssel zum Verständnis unserer Existenz. In ihrer Radikalität verstanden, dokumentiert sie die Gottlosigkeit des Menschen außerhalb Christus. Der natürliche Mensch, der Vernunftmensch, der religiöse Mensch, der moralische Mensch kann sich in keinem Augenblick über seine faktische Trennung von Gott hinwegsetzen, auch wenn er dazu neigt, sie zu verharmlosen oder ganz zu übersehen. Seine Existenz ist als solche Widerspruch gegen Gott, Gottferne, Trennung vom Ursprung. Und kein Weg führt ihn dahin zurück, sondern die Bewegung, in der er selbst begriffen ist, ist die des Weggehens 5 . Wer es anders meint, hat nodi nicht verstanden, quanti ponderis sit peccatum. Dieses Mißverständnis der menschlichen Wirklichkeit und der ihr gegebenen Möglichkeiten macht Brunner in eingehender Auseinandersetzung mit dem idealistischen „humanistischen" Offenbarungsverständnis in Philosophie und Theologie deutlich: „Die Religion unserer Klassiker" ist eine mittlerlose Religion. Hinter ihr steht die Uberzeugung, daß es immer noch eine Kontinuität, ein unmittelbares Verhältnis gibt zwischen Gott und Mensch, das es dem Menschen erlaubt, sich Gott zu vergegenwärtigen. Menschliches und göttliches Bewußtsein werden nach dem Credo dieses Selbstverständnisses unmittelbar eins, der göttliche Untergrund schimmert durch alle Erscheinungen hindurch, Naturanschauung wird zur Gottesanschauung, die Geschichte wird zur Offenbarung, die menschliche Geistesgeschichte wird zur Offenbarungsgeschichte, Gott wird Mensch nicht im Mittler, sondern in der Menschheit als ganzer und so auch im einzelnen Menschen. Er offenbart sich in der Tiefe des Menschengeistes e . Hier wird die Kluft, die den Menschen von Gott trennt und die nur im Mittler überbrückt ist, einfach übersehen. Der Gegensatz zum christlichen Verständnis des sich im Mittler offenbarenden Gottes könnte nicht größer sein. Denn hier bedeutet Offenbarung nicht ein In-sich-Hineinschauen des Menschen, auch nicht ein Die-Augen-Aufmachen, so daß er mit einemmal sieht, was er schon immer hätte sehen können, sondern sie ist ein einmaliges Ereignis, das ein für allemal geschehen ist — „damals und nur damals", „Er und nur er". Sie ist das Bekenntnis: Es ist in keinem andern Heil und ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben. Also ein kontingentes Ereignis in aller Ausschließlichkeit, kein allgemeinmenschliches Phänomen, nicht ein Natürliches und Humanes, sondern das Wunder und Paradox, das als Offenbarung Gottes nur geglaubt werden kann im Widerspruch zu dem Widerspruch, unserer Existenz. Das Mißverständnis Gottes, das sich im idealistisch-humanistischen Offenbarungsverständnis äußert, ist zugleich ein Mißverständnis der 5 Mi, S. 9 8 — 1 2 8 . 311 u.ö. « Mi, S. 9 ff. 21 ff. 49ff. 77ff. 98 ff.; vgl. DialTh I, S. 263. 310 f.
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menschlichen Existenz. Dieses Mißverständnis scheint freilich unvermeidlich, denn wir erkennen die Tiefe des Widerspruchs unserer Existenz gar nicht aus uns selbst. Brunner bestreitet zwar nicht, wie wir mehrfach feststellten, daß es auch außerhalb von Christus eine Selbsterkenntnis der Sünde gibt; aber wie es eigentlich um uns steht, das erkennen wir nur in dem, was Gott für uns und an uns tun muß. Nur in der Person und im Werk des Mittlers erkennen wir uns daher wirklich als die, die wir sind. Was es bedeutet, daß wir eine Versöhnung und Erlösung nötig haben, erschließt sich uns darum erst eigentlich in dem Ereignis, das sie bezeugt, in dem Wort vom Kreuz 7 . Hier kommt das Gewicht unserer Sünde an den Tag. Hier erstarrt jede Bewegung des Menschen, der am Kreuz vorbei zu Gott kommen will, zu einer leeren Geste. Der Glaube an den Mittler weist dem Menschen seinen Platz unter dem Kreuz an und verweist ihn damit in die Schranke, die seine Sünde zwischen ihm und Gott aufrichtet. Wer den Mittler erkennt, erkennt sein Gefangensein in der Sünde, und nur „in dem Maß, als Verständnis der Schuld da ist, ist die Möglichkeit da, den christlichen Mittlergedanken zu verstehen" 8 . Es ist nicht unsere Absicht, Brunners Entfaltung der Christologie als Entscheidungsfrage der Theologie hier weiterzuverfolgen, sosehr viele seiner Aussagen dazu herausfordern und zumal Brunner gerade dieses Werk als ein „Probestück der eigentlichen theologischen Arbeit" gewertet wissen möchte. Die Bedeutung, die diesem Probestück für den Gang unserer Untersuchung zukommt, liegt zunächst vor allem darin, daß es noch einmal eindrucksvoll und unzweideutig die grundlegende Voraussetzung einschärft, an der jede theologische Aussage über den Menschen ihren Orientierungspunkt hat. Die Voraussetzung des Mittlerglaubens darf auch im Hinblick auf die weiteren Überlegungen nicht aus dem Auge verloren werden. Insofern kann man den „Mittler" als das notwendige theologische Vorwort zum Programm der Eristik verstehen. Daß Brunner mit seiner Hervorhebung der Einmaligkeit, der Exklusivität und Unverfügbarkeit der Selbstoffenbarung Gottes im Mittler jene andere Aufgabe keineswegs dementieren wollte, bringt er im ersten Buch deutlich genug zum Ausdruck. Es ist ein meist übersehenes weiteres Glied in der Kette, die zur Formulierung der Frage nach dem Anknüpfungspunkt hinführt. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen kommt Brunner darauf zu sprechen. Er versucht, sich gegenüber dem Vorwurf Haitjemas zu rechtfertigen, er beginne mit den Begriffen Glaube, Offenbarung, Wort, Paradoxie, antirational usw. leider schon zu operieren wie mit dinglichen Größen, in der Haltung eines unbeteiligten Zuschauers9. Brunner ' Mi, S. 125. 5 4 7 f . ; vgl. DialTh I, S. 312. Mi. S. 260. 9 Mi, S . 6 A n m . l ; vgl. Th. L. Haitjema, K . Barths „Kritische" Theologie, 1926, S. 109. Das verständnisvoll und mit außerordentlichem Scharfblick gesdiriebene Buch 8
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versteht diesen Vorwurf wohl, aber er gibt zu bedenken, daß dies geschehe und geschehen müsse, sobald man vergleichend über den christlichen Glauben spricht. Man könne sich dieser Gefahr nur dadurch entziehen, daß man sich dieser Aufgabe entziehe. Das tue Barth „bis jetzt mit gutem Grund" (!), während er selbst sich darüber klar sei, „daß man es nicht tun darf, will man nicht die Theologie der Gefahr aussetzen, allmählich einem geistigen Chinesentum zu verfallen". Das ist nicht ohne polemische Schärfe gesagt, und es ist nicht zu übersehen, daß sie sich nicht nur gegen Haitjema, sondern auch bereits gegen Barth richtet, den er im Vorwort als „Freund" angesprochen hatte. Das Zugeständnis, Barth entziehe sich mit gutem Grund dieser Aufgabe, klingt wenig überzeugend, wenn man es auf dem Hintergrund der geäußerten Uberzeugung Brunners sieht. Er faßt diese Überzeugung zusammen in dem programmatischen Satz, der früher Gesagtes aufnimmt und Zukünftiges vorwegnimmt: „Die Auseinandersetzung mit der Zeit, mit Philosophie und Religion ist zwar sicherlich nicht die erste und wichtigste Aufgabe der Theologie, aber darum nodi nicht eine zu vernachlässigende oder der nächsten Generation zu überlassende." Innerhalb dieser Aufgabe aber sei es unvermeidlich, gewisse fertige christliche Grundbegriffe schon mitzubringen, „nicht weil man die eigentliche theologische Arbeit für getan hält, sondern weil diese zweite Arbeit anders nicht getan werden kann". Mit dieser „zweiten Arbeit" ist Brunner sofort vollauf beschäftigt, denn er geht nicht einfach zur Darstellung der Christusoffenbarung aus sich selbst heraus über, sondern er stellt gleichzeitig die Frage nach der allgemeinen Offenbarung und entwickelt den Gegensatz von allgemeiner und besonderer Offenbarung! Allerdings will er sich damit nicht auf eine apologetische Fragestellung einlassen, vielmehr im Gegenteil alle Apologetik überflüssig machen, die gegen das Gespenst eines allgemeinen Relativismus kämpft, weil ihr der prinzipielle Gegensatz zwischen der Christusoffenbarung und dem, was sonst noch Offenbarung genannt wird, nicht klar ist. Brunner unterscheidet hierbei zwei Grundformen der Berufung auf Offenbarung. Einerseits die mancherlei Offenbarungen mit massivem Geschehnischarakter, auf die sich die volkstümlichen Religionen beziehen; andererseits das Verständnis der Offenbarung, wie es sich in der Mystik, in der religiösen Spekulation, in der Religionsphilosophie, in der „Reliist u.E. eine der besten Darstellungen der dialektischen Theologie aus der Unmittelbarkeit ihrer eigenen Zeit heraus. H . urteilte schon damals über Brunner: „ich fürchte, er wird seinen eigenen Weg gehen, den beiden anderen (Barth und Gogarten) nahe verwandt und doch nicht eines Geistes mit ihnen" (S. 108). Es entbehrt nicht der Pikanterie, daß H., obgleich er sidi mit dem zitierten Satz insbesondere auf Brunners Broschüre „Philosophie und Offenbarung" (1925) bezog, sich hier gerade auf Barths Kritik an Brunners Sdileiermadierbuch beruft.
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gion der Gebildeten" ausspricht. Hier ist Offenbarung das Innewerden des Göttlichen, wie es immer schon da ist und wahrgenommen werden kann: als ein Allgemeines. Der christliche Glaube gehört nun weder zur ersten noch zur zweiten Gruppe. Er steht zu beiden im Gegensatz, wenngleich ihn auch mit beiden etwas verbindet. Mit den lebendigen Religionen verbindet ihn der Hinweis auf ein wirkliches Offenbarungsereignis in seiner geschichtlichen Besonderheit, der Widerspruch gegen das Fichtewort, daß nur das Metaphysische, nicht aber das Historische selig mache. Aber gerade darin, daß er sich auf ein einziges, prinzipiell einmaliges Ereignis gründet, steht er auch wieder in unversöhnlichem Gegensatz zu allen Volksreligionen, deren Offenbarungsfacta die Kategorie der Einmaligkeit ausschließen und die darum letztlich dodi auch nur individuelle Konkretionen eines Allgemeinen sind. So reduziert sich für Brunner der entscheidende Gegensatz letztlich auf den zwischen der grundsätzlichen Unmittelbarkeit und der Wiederholbarkeit der Allgemeinreligion bzw. Allgemeinoffenbarung und dem christlichen Glauben an die einmalige entscheidende Offenbarung im Mittler Jesus Christus 10 . Das eigentlich Bedeutsame an dieser Gegenüberstellung der allgemeinen und besonderen Offenbarung für unsere Fragestellung liegt jedoch darin, daß Brunner das Verhältnis zwischen beiden nicht nur als Gegensatz sieht, obgleich ihm an dieser Stelle gerade an der Herausarbeitung des Gegensatzes gelegen ist. Aber ihm liegt ebenso an der Feststellung, daß der christliche Glaube jene allgemeine Offenbarung nicht überhaupt leugnet! Diesem Mißverständnis will Brunner gerade wehren. Die Gegner der dialektischen Theologie haben es sich seiner Meinung nach mit ihrer Kritik zu leicht gemacht, wenn sie ihr die Ablehnung jeglicher allgemeinen Offenbarung in Natur, Geschichte und Menschengeist unterstellen. Sie haben nicht verstanden, „daß die Dialektik des Glaubens ja gerade darin ihren Grund hat, daß der Mensch in sich selbst ein — verdorbenes — Gottesbild trägt, das die ursprünglich gute Schöpfung, also die gottoffenbarende Schöpfung ist" 11 ! Die strittige Frage kann also nach Brunner nicht lauten, ob es überhaupt allgemeine Offenbarung gibt und ob sie vom christlichen Mittlerglauben aus anzuerkennen ist, sondern in wel10
Mi, S. 3 ff. Die Art, wie Brunner die Volksreligionen in das Schema der Allgemeinoííenbarung einordnet und den Gegensatz zwischen dem Mittlerglauben und der mittlerlosen Religiosität bestimmt, wirkt oft gekünstelt und gewaltsam konstruiert. Er versucht, das Christentum, koste es, was es wolle, für sich zu bekommen, und tut dabei genau das, was audi die alte Apologetik tun wollte. Ein Satz wie dieser: „Offenbarung ist als das Einmalig-Geschichtliche das, was seinem Wesen nach entweder nie oder nur einmal geschehen kann" (S. 8) ist kennzeichnend für dieses theoretische Konstruieren. Er zeigt, daß Haitjema zu Recht bei Brunner die Gefahr einer Rationalisierung des kontingenten Offenbarungsgeschehens vermutete. 11 Mi, S. 12 Anm. 2. 107
chem Sinne sie zu verstehen ist, d. h. wie sich die Christusoffenbarung zu dem Faktum der allgemeinen Offenbarung verhält. Damit hat Brunner ausdrücklich der Frage nach einer allgemeinen Offenbarung innerhalb der dialektischen Theologie ihr Recht zugestanden. Und er hat zugleich deutlich gemacht, daß er sie nicht als ein opus alienum versteht, das sich mit dem christlichen Glaubens- und Offenbarungsverständnis nicht verträgt, sondern er sieht sie von vornherein im Zusammenhang des Glaubens. Sie ist im Phänomen des Glaubens gewissermaßen im Hegeischen Sinn aufgehoben. In der Dialektik des Glaubens selbst kommt sie notwendig zum Vorschein, und es wäre also wiederum ein Mißverständnis des Glaubens, wenn man diesen inneren Zusammenhang bestreiten wollte. Wir erinnern uns, daß Brunner einmal ganz anders vom Phänomen des Glaubens gesprochen hat und daß ihm diese Dialektik dabei höchst unwichtig war. Sie schien ganz unterzugehen in der jenseitigen Objektivität, in der reinen Sachlichkeit des Glaubens. Aber wir erinnern uns ebenso, daß er von einem anderen Denkansatz her längst den Boden für das Erfassen dieser Dialektik des Glaubens bereitet hat: in der Darstellung der Dialektik des Gesetzes. Seine Analyse und theologische Würdigung des Gesetzes als Vernunftgesetz und als sittliches Gesetz, die auf jenen Punkt hinführte, in dem Gesetz und Offenbarung sich berühren, bedeutete im Grunde nichts anderes als die energische Inangriffnahme des Problems der allgemeinen Offenbarung im Zusammenhang des Glaubens, und zwar in seinem Herzstück: dem ins Herz geschriebenen Gesetz. Nun fügen sich beide Denkansätze zusammen als die notwendigen Elemente der wirklichen, unaufhebbaren Dialektik des Glaubens. Diese schließt die Dialektik von Gesetz und Evangelium in sich ein und damit die Voraussetzung einer allgemeinen Offenbarung, wie immer diese auch im einzelnen näher bestimmt werden mag. Brunner betont nun: Sosehr dem christlichen Glauben alles am prinzipiellen Gegensatz zur mittlerlosen Allgemeinreligion gelegen ist, sowenig bestreitet er, daß „in aller Religion Spuren der Wahrheit, und in allem Sein und Denken Spuren Gottes anzuerkennen" sind. Ja, „man kann gar nicht christlich an die einmalige Offenbarung, an den Mittler glauben, ohne an eine allgemeine Offenbarung Gottes in der Schöpfung, in der Geschichte und besonders im Gewissen zu glauben" 12 . Sonst könnte ja überhaupt nicht nach Gott gefragt werden. Freilich, nimmt man die Einmaligkeit der Selbstoffenbarung Gottes in Christus ernst, dann kann man nur christlich an die allgemeine oder natürliche Offenbarung „glauben", d. h. ihre Anerkennung ist eine „gebrochene", weder ein schlechthinniges Leugnen noch ein unbedingtes Bejahen ihrer Wahrheit, sondern ein Wissen um die Verzerrtheit und Verkehrung dieser Wahrheit, die ihren ursprünglichen Sinn verloren hat. 12
108
Mi, S. 13.
Mit dieser begrifflich wie sachlich noch redit unbefriedigenden Verhältnisbestimmung knüpft Brunner an ein Denkmodell an, das ihn schon in E E G von der „vorläufigen Halb Wahrheit" der Erlebnis- und Erkenntnisreligion sprechen ließ und das ihm immer wieder zur Kennzeichnung des schwer zu definierenden Sachverhalts dient, daß etwas nicht wahr, aber auch nicht schlechthin unwahr ist 1 3 . So ist ihm keine Religion der Welt, auch nicht die primitivste, ganz ohne Wahrheit. Alle philosophische, mystische und allgemeinreligiöse Gotteserkenntnis ist voll tiefer, in ihrem Wesen begründeter Unwahrheit, Verkehrung der Wahrheit; aber sie ist darum doch „nicht schlechtweg Nicht-Wahrheit, sondern sie ist Stückwahrheit, Halbwahrheit". Das gebrochene dialektische Verhältnis zwischen ihr und dem christlichen Glauben kann eben darum niemals das einer Ergänzung sein, etwa im Sinn einer Grundoffenbarung, auf der die Heilsoffenbarung aufbaut. Die Lex naturae, die natürlichen Ordnungen, das natürliche Erkennen, die natürliche Theologie können nicht das Fundament sein für die Christusofienbarung — so würde „das Christusfaktum entleert und das Bild des natürlichen Menschen' verfälscht". Vielmehr muß das Verhältnis so gesehen werden, daß der christliche Glaube die allgemeine Offenbarung und die Allgemeinreligion „als verzerrte Wahrheit in sich als seine eigene Voraussetzung einschließt" 14 ! Was heißt hier „Voraussetzung"? Ist sie so zu verstehen, wie etwa die Wirklichkeit des Gesetzes und der Sünde die Voraussetzung für das Evangelium, wie die Not der Existenz als Frage nach Gott Voraussetzung für die Antwort Gottes ist? Brunner kann, wie wir sahen, durchaus in diesem Sinn von Voraussetzungen für den Verstehensvorgang des Glaubens sprechen. Die Verzweiflung am unheilbaren Widerspruch der eigenen Existenz, das Unvermögen, die Kluft selbst zu überbrücken, die Erkenntnis von Sünde und Schuld ist „die im Glauben selbst enthaltene Voraussetzung des Glaubens". Sie ist in gewisser Weise vorgängig, insofern der Mensch seiner eigenen Existenznot bewußt ist und nur die Grenze seiner Möglichkeiten erfährt. „Gott ist nur de profundis zu erkennen." Aber andererseits erkennt der Mensch doch „nur an der Botschaft von der Versöhnung" seine Schuld. Die wirkliche Erkenntnis der Sünde „ist nur mög1 3 Für die Entscheidung unserer Fragestellung hängt viel davon ab, ob man es für theologisch sinnvoll hält, hier, wo es um Offenbarung und Glaube geht, so von einer verkehrten Wahrheit zu sprechen, daß das „Verkehrte" immer noch unter dem Oberbegriff der Wahrheit angesprochen werden kann. Brunner verdeutlicht sein Verständnis nodi einmal in OuV, S. 9 0 : „Die Sünde bedeutet also nicht die Vernichtung, sondern die Verkehrung des Ursprünglichen. Darum sind alle quantitativen Bestimmungen des noch vorhandenen Ursprünglichen — ,etwas Weniges, ein Rest des Ursprünglichen' — untauglich. Das Verhältnis von Ursprung und Verkehrung ist kein quantitatives, sondern ein dialektisches, darum, weil es sich um ein geistiges, nicht um ein naturhaftes Verhältnis, nicht um .beinahe völlige Beseitigung', sondern um Wider-spruch handelt." 14
Vgl. Mi, S. 13 ff. 372 f.
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lieh auf Grund der Offenbarung". Und nur an der Botschaft von der Offenbarung Gottes in Christus wird er „der Fragwürdigkeit seiner natürlichen Gotteserkenntnis inne" 15 . Brunner versteht die im Glauben selbst enthaltene Voraussetzung hier also in einem doppelten Sinn. Sie ist einerseits die zum Glauben notwendig gehörende Voraussetzung, sofern er Antwort und ein „Rückruf des Verirrten" ist. Sie ist andererseits die Voraussetzung, die der Glaube selbst schafft, indem er erst die wahre Selbst- und Gotteserkenntnis ermöglicht, die in ihm vorausgesetzt ist. Im Hinblick auf die Tatsache einer allgemeinen Offenbarung Gottes in der Schöpfung, in der Geschichte und im Gewissen ist es naheliegend, hier an eine Voraussetzung im ersten Sinn zu denken, also an ein faktisch vorgängiges Wissen um Gott, auf das sich der Glaube — wie auch immer — bezieht. Brunner begründete den Zusammenhang des Glaubens mit der allgemeinen Offenbarung ja mit dem Hinweis darauf, daß der Mensch in sich selbst ein (verdorbenes) Gottesbild trägt, das die ursprünglich gute, gottoffenbarende Schöpfung ist und so überhaupt erst das Fragen nach Gott ermöglicht. Die Schöpfungsoffenbarung und die durch sie bestimmte Situation des Menschen ist hier als die sachliche Voraussetzung der Versöhnungsoffenbarung verstanden. Sie scheint damit in gewisser Weise audi ihre noetische Voraussetzung zu sein. Wenn diese Deutung zutrifft, dann käme der allgemeinen Offenbarung als der im Glauben enthaltenen Voraussetzung des Glaubens ein unaufhebbares Eigengewicht zu, dem auch in der theologischen Reflexion Rechnung zu tragen wäre. Dabei ist freilich von vornherein zu beachten, daß Brunner sie letztlich doch nicht selbständig als eine Wahrheit sui generis der in Christus offenbar gewordenen Wahrheit vorordnet oder zuordnet, sondern daß er auch sie im Zusammenhang seiner Logoschristologie bzw. Logosspekulation auf Christus zurückführt! Wir begegneten diesem Gedankengang bereits im Zusammenhang seiner Metaphysik des Wortes, in der er zwischen dem Logos der Vernunft, d. h. dem Worthaben des Menschen, und dem Offenbarer-Logos des Johannesprologs, der im Anfang war und durch den alles geschaffen ist, eine innere Beziehung herstellte. Es ist der umfassende Rahmen einer Schöpjungschristologie, in den die allgemeine Offenbarung nun eingeordnet und damit auch von ihrem Ursprung her christologisch abgesichert wird. „Es gibt nur einen Logos. Dieser Logos ist der in Christus allein erkennbare. Aber dieser Logos ist das Prinzip alles Erkennens und vor allem: der Wahrheitskern aller Religion." 16 Mit diesem gewaltigen, die ganze Weltgeschichte, Geistesgeschichte und Heilsgeschichte durchmessenden Dreischritt hat Brunner die Wahrheit der natürlichen Offenbarung, wie überhaupt alle Wahrheit, eingeholt und 15 18
110
Mi, S. 266 f. 115. 126. Mi, S. 371 fi. (von mir hervorgehoben).
auf Christus zurückgeführt. Er ist die Wahrheit und das Leben und darum die Quelle alles Erkennens. „Alle Wahrheit ist letztlich Christuswahrheit. Was wahr ist, ist wahr durch den Logos, der im Anfang war." So wird der sogenannten natürlichen Wahrheitserkenntnis der Boden einer gleichsam naturhaften Autonomie entzogen: An ihrem Ursprung steht Christus, wie er audi ihr Ziel ist. Dabei hängt alles an der richtigen Reihenfolge bei dieser christologischen Wahrheitsbegründung. Es muß heißen: „Christus ist die Wahrheit aller Philosophie und Religion" — nicht aber: „alles, was in der Philosophie und Religion wahr ist, ist ,Christus'". Darum ist Plato von Johannes aus zu verstehen und nicht Johannes von Plato aus, denn der Piatonismus ist „abgespaltene Christuswahrheit"17. Allgemeine und besondere Offenbarung sind in dieser ganz im Stil der altkirchlichen Apologeten vorgenommenen Zusammenschau in ihrem Wahrheitsgrund in Christus eins. Der speziellen Christologie korrespondiert hier nicht eigentlich eine natürliche Theologie, sondern eine „natürliche" Christologie, die als solche allerdings erst von der geschichtlich einmaligen Christusoffenbarung her aussagbar wird. Die Formulierung Brunners, die allgemeine Offenbarung sei die im Glauben selbst enthaltene Voraussetzung des Glaubens, wäre also im Blick auf die Schöpfungschristologie so zu interpretieren, daß in dieser Voraussetzung Christus selbst begegnet, daß er selbst seine Voraussetzung ist. Dies wäre dann nichts anderes als die christologische Variation des Satzes, mit dem Brunner sein Buch über den Mittler eröffnet: „Gott kann nur durch Gott erkannt werden!" Dieser christologischen Verhältnisbestimmung von allgemeiner und besonderer Offenbarung kommt für die Klärung der späteren Streitfrage große Bedeutung zu. Es wird in ihr letztlich darum gehen, ob der christologische Zirkel, der hier allgemeine und besondere Offenbarung umschließt, wirklich eingehalten oder durchbrochen wird. Der Weg zu dem „Christomonismus" des späteren Barth liegt jedenfalls bei diesem christologischen Ansatz Brunners durchaus nodi im Bereich des Möglichen. Aber die relative Selbständigkeit, die das Problem der Anthropologie schon jetzt innerhalb dieses übergeordneten Rahmens im Denken Brunners einnimmt, deutet auf eine andere Entwicklung, die zwar nicht als ein Beiseitelassen der Christologie auf dem Weg von der Christologie zur Anthropologie beschrieben werden kann ohne ihren Sinn zu verkehren, in der aber die christologische Begründung der Anthropologie faktisch immer mehr zurücktritt. 1 7 Mi, S. 372 f. Brunner weiß natürlich um die historische Problematik einer solchen Behauptung. Aber sie kann ihn in dem, was er sagen möchte, nicht beirren. „Das geschichtliche Verhältnis der Wörter tut nichts zur Sache . . . Die alte Theorie, daß Plato eine Vorstufe zur christlichen Erkenntnis sei, oder daß Plato aus Moses seine Weisheit geschöpft habe, ist historisch ebenso falsch als sachlich wahr: Es ist Christus, den er sozusagen von ferne schaut" (a.a.O., S. 373, vgl. S. 1 8 0 f . ) !
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Die Konturen der theologischen Anthropologie, die nun immer stärker in den Vordergrund tritt, zeichnen sich schon im „Mittler" deutlich ab. Das Bild des „natürlichen Menschen", d. h. des Menschen außerhalb Christus, das Brunner entwirft, erscheint dabei in einer dreifachen Ausprägung: 1. Einmal als das Selbstverständnis des in seinem Selbstvertrauen ungebrochenen Menschen, der sich in seinem Autonomiebewußtsein zum Mitgesetzgeber des göttlichen Gesetzes macht und dessen ganzes Selbstvertrauen getragen wird von der Überzeugung: der Mensch ist gut; du kannst, denn du sollst. In der Tiefe dieses Selbstvertrauens lebt das Bewußtsein einer unmittelbaren Einheit mit dem Göttlichen. Gott als die Tiefe der eigenen Existenz ist hier dem Menschen nicht unerreichbar, sondern er glaubt sich ihm verbunden in der Kontinuität des eigenen Denkens, Fühlens und Wollens. Das Phänomen des Bösen wird zwar auch hier nicht ganz übersehen, aber es wird letztlich nicht ernstgenommen. Die Leugnung des radikalen Widerspruchs der Existenz ist der Preis, den dieser Geist der Selbstbehauptung des Menschen fordert 18 . 2. Demgegenüber erschließt sich im Glauben an Jesus Christus ein ganz anderes Verständnis der Wirklichkeit des Menschen. Der wirkliche Mensch, mag er auch in seinem Selbstvertrauen das nicht wahrhaben wollen, ist der von Gott geschiedene Mensch, der Mensch unter dem Zorn Gottes, der von der Sünde beherrschte und durch sie qualifizierte Mensch. Denn die Sünde, wie der Glaube sie erkennt, bedeutet nicht etwas Akzessorisches, sondern eine Totalitätsbestimmung der Existenz. Sie reißt einen unüberbrückbaren Abgrund zwischen dem Menschen und Gott auf, den nur Gott selbst überbrücken kann. „Wesentlich ist unsere Gottgeschaffenheit. Aber wesentlich ist jetzt auch unsere Sündhaftigkeit."19 Das ist die Wirklichkeit, in der der Mensch lebt, auch wenn sie sich als solche nicht in das Erfahrungsbild, das wir „Welt" nennen, einzeichnen läßt. Denn diese Existenzbestimmungen „Geschöpf" und „Sünder" haben Transzendenzcharakter. Sie sind Wirklichkeitserkenntnis des Glaubens. Aber sie manifestieren sich in mannigfacher Weise in der erfahrbaren Wirklichkeit. Denn der christliche Glaube projiziert nicht ein unwirkliches Menschenbild in den Menschen hinein, sondern er erhebt den Anspruch, „die er fahrbare Wirklichkeit realistischer, wirklicher zu verstehen als jede andere Religion oder Weltanschauung"20. 3. Dieses wahre Bild vom wirklichen Menschen ist nun allerdings ein dialektisches. Damit kommt Brunner zu dem für unsere Fragestellung entscheidenden Punkt. Denn die Christusoffenbarung sieht im Menschen 18 19 20
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Vgl. Mi, S. 98 ff. 123 ff. Mi, S. 116 ff. Mi, S. 123.
nicht ein manichäisch verstandenes Wesen, dessen Existenz als solche böse ist. Sie verkündigt „keine absolute Neuschöpfung, sondern die Neuschöpfung des Gottgeschaffenen" ! Sie ist ein Rückruf des Verirrten, indem sie sich an den Menschen wendet, „der zwar nicht mehr bei Gott ist, aber bei Gott war". Dieser durch Gott selbst legitimierte und ermöglichte Rückruf gilt dem Menschen, der im Wort und zum Wort Gottes hin geschaffen ist und dem darum das Wort gegeben ist. Er hat zwar nicht mehr das Wort des Ursprungs, denn der Sündenfall besagt, daß er „aus dem Wort gefallen" ist. Aber er vermag das Wort, in dem Gott sich ihm mitteilt und zusagt, wenn es ihm wiedergeschenkt wird, als das Wort des Anfangs, als das Wort von seiner Gottgeschaffenheit, als das Wort seiner Bestimmung zu erkennen. Darin äußert sich, sein Wissen um Gott, und dies ist die im Glauben enthaltene dialektische Voraussetzung, auf die Brunner hinauswill: Der Mensch ist in seiner Sünde absolut von Gott getrennt, aber er ist audi in seinem sündigen Zustand „nicht ohne Gott, nicht ohne Gottesoffenbarung". Die im Logos geschaffene Schöpfung trägt weiterhin Spuren dieses Ursprungs. So ist die Vernunft nicht ohne Gotteserkenntnis, wenn es auch eine „wirre und unsichere", eine verfälschte und zweideutige Gotteserkenntnis ist, die nur ein verworrenes Bild vom göttlichen Ursprung gibt. Es ist eine Erkenntnis, die unter dem Zorn Gottes geschieht und als Gottsuchen immer zugleich ein Gottfliehen ist. Sie ermöglicht „keine ,theologia naturalis', die sich als Basis für eine christliche Theologie eignete". In ihr verwirklicht sich auch nicht eine analogia entis. „Die analogia entis wäre wohl das normale Verhältnis zwischen Gott dem Schöpfer und seinem Geschöpf. Aber dieses normale Verhältnis existiert nicht, ,nicht mehr'." 21 Dieses angedeutete Wissen um Gott, das im Glauben mit vorausgesetzt ist, darf also nicht so verstanden werden, als führte von ihm aus ein menschlich-natürlicher Weg direkt zum Glauben. Alles, was Brunner bisher über den Glauben als Ende des Menschenwegs und als Werk Gottes gesagt hat, soll auch hier seine Geltung behalten. Das menschliche Auge ist als solches nicht imstande, das Geheimnis Gottes, sein Offenbarsein in Jesus Christus, zu erfassen, sondern nur das vom Heiligen Geist erleuchtete Auge. Offenbarung als Selbsterschließung des lebendigen, persönlichen Gottes heißt, „daß Gott redet und der Mensch schweigt". An diesem Alleinreden Gottes hängt alles. Wir können sein Wort nicht begutachten und ihm unser Plazet geben. Wir können nicht einmal antworten und von uns aus „Ja" dazu sagen. Das heißt Offenbarung und das heißt dementsprechend Glaube, daß Gott antwortet, wo wir antworten sollten, aber nicht antworten können, daß er selbst in uns sein Wort spricht22. 21 22
Mi, S. 126 ff. 264. 311 Anm. 1. 373. Mi, S. 136 f. 251. 479.
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Brunners theologische Hermeneutik will hier auf jeden Fall im entscheidenden Verstehensvorgang Hermeneutik des Heiligen Geistes sein. Die Frage stellt sich allerdings sogleich, ob sie das wirklich ist und sein kann, ob das von ihm bejahte Element der Existentialität im Glauben, d.h. die echte Frage-Antwort-Beziehung, nicht doch eine zweite, damit konkurrierende Hermeneutik ins Spiel bringt, und ob diese „zweite" Hermeneutik ihren Sinn nur im Rahmen der ersten hat oder nicht doch dahin tendiert, wenigstens ζ. T. an die Stelle der ersten zu treten. Die Schwierigkeiten, die das Nebeneinander bzw. Ineinander der beiden Verstehensaxiome mit sich bringt, sind deutlich: Glaube soll Antwort des Menschen sein, aber „Gott selbst muß antworten". Er soll persönlichste Entscheidung sein, aber diese Entscheidung muß geschenkte Entscheidung sein. Er soll das Bekenntnis sein „ich glaube", aber: „Gott selbst tritt auf den Plan, und du trittst ab von der Bühne." 23 Immer wieder sieht es fast so aus, als ob Brunner seiner eigenen Frage nach der Dialektik des Glaubens den Boden entzöge, sobald er auf die Jenseitigkeit des Offenbarungsgeschehens zu sprechen kommt. Aber man wird diese Schwierigkeit gerade als ein Zeichen dafür ansehen müssen, daß ihm alles an der Wahrung der Souveränität Gottes, der sein Wort selbst spricht und hörbar macht, gelegen ist, und daß alle anderen Überlegungen diese Voraussetzung nicht aufheben und auch nicht einschränken sollen. Vor der Frage nach der menschlichen Voraussetzung steht die göttliche Voraussetzung. Und sie besagt für Brunner an dieser Stelle, daß Gottes Wort „nicht kraft seines Einleuchtens als göttlich erkannt wird, sondern rein nur kraft seines Göttlichseins einleuchtet". Kein vermittelndes Medium stellt die Verbindung her zwischen dem autoritativ ergehenden persönlichen Machtwort Gottes und seinem Gehörtwerden im Glauben. Der Mensch ist hier ganz darauf angewiesen, daß ihm das Wort als einleuchtendes gegeben wird, daß „der Blitz vom göttlichen Auge zum menschlichen" zuckt. Wie sollte er den Gott erkennen können, der sich nur in der Verhüllung offenbart? Die Erkenntnis des Wortes als Wort Gottes ist immer autoritative Erkenntnis. In ihr handelt Gott allein. Der Mensch ist dabei „das, was für Gottes Gegenwart die Voraussetzung ist: leer" 24 . Das menschliche Ich 2 3 Mi, S. 251. 4 7 9 ; vgl. Relph 2 , S. 12. 38. J. Cullberg kommt in anderem Zusammenhang ebenfalls zu dem Urteil, daß Brunner zwar prinzipiell den Glauben als Entscheidungsantwort des Mensdien verstehen möchte. Aber der Gedanke der göttlichen Souveränität erlaube es nicht, diese Antwort als menschliche Möglichkeit zu bestimmen. Das sola fide würde dann in einen Konflikt geraten mit dem soli Deo gloria. In dieser Situation wird von Brunner „der Gedanke der historischen Persönlichkeit als des Subjekts des Glaubens (der Entscheidung) geopfert". Damit wird jedodi der Glaube „ein Mirakel, das der ,Ur-End-Geschichte' angehört und folglich nicht unter die Persönlichkeitskategorie gebracht werden kann". Von dem Entscheidungsgedanken bleibt „nur der Ausdruck übrig", der Persönlichkeitsgedanke hat sich „faktisch aufgelöst" (in: Das Du und die Wirklichkeit, 1933, S. 68). 2 4 Mi, S. 303.
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kann hier darum nicht handelndes Subjekt sein, sondern nur „Resonanz für Gottes Reden", und die Innerlichkeit, um die es beim Innerlichwerden seines Wortes geht, ist „ganz und gar nicht unser Eigenes". Das menschliche Verhalten der Offenbarung gegenüber läßt sich weder als naturhaft passiv noch als geistig aktiv kennzeichnen. Wie aber dann? Brunner antwortet: „Göttliche Offenbarung können wir weder erfahren noch verstehen, sondern — eben nur glauben." 25 Dieser Satz scheint jeder tieferen hermeneutischen Besinnung Hohn zu sprechen, und er ist vielleicht auch ein Indiz dafür, daß Brunner das wirkliche Verstehensproblem im Glauben noch gar nicht voll erfaßt hat. Aber vor dem Hintergrund seines eigenen Denkens erscheint diese Formulierung immerhin nodi verständlich, wenn man sich der alten Frontstellung gegen Psychologismus und Intellektualismus erinnert und beachtet, daß es Brunner im Glauben um eine eigene Kategorie des Verstehens geht. Darum immer wieder die Verneinung jeder menschlichen Verstehensmöglidikeit, die im Grunde den Begriff der Offenbarung aufhebt und zu einem „es sich selber Sagen" wird. Gottes Anrede an den Menschen ist kein Wort, das der Mensch sich selber sagen könnte. Es stammt nicht aus unserem tiefsten Ich. Wir können es nicht durch ein a-priori-Wissen uns wieder in Erinnerung rufen und es uns selbst beglaubigen. Es kann nur autoritativ gegeben werden. Erst nachdem dies klargestellt ist, wagt Brunner den Schritt, der auf die dem Glaubensgeschehen immanente dialektische Verstehenssituation hinführt. Dabei zeigt sich sofort das Ungenügen jener negativen Situationsbestimmung, daß der Mensch weder naturhaft passiv noch geistig aktiv am Verstehen beteiligt sei. Denn das autoritativ gegebene Wort Gottes fordert ja nicht blinde Unterwerfung, sondern es nimmt den Geist innerlich gefangen. Es hat die Form der evidenten Erkenntnis 26 , d.h. es leuchtet ein. Der menschliche Geist wird also keineswegs völlig ausgeschaltet, sondern in Anspruch genommen durch die Wahrheit, die sich ihm selbst bezeugt und die er nun doch im Glauben als Wahrheit anerkennt. Brunner möchte mit diesem Evidenzbegriff zwar nicht der Vernunft außerhalb des Glaubens eine primäre Verstehensfunktion einräumen. Aber er will sie doch in das Verstehen des Glaubens mit hineinnehmen 27 . Von die25
Relph 2 , S. 38.12. 57. Relph 2 , S. 10. 27 Ober den Evidenzbegriff äußert Brunner sidi am ausführlichsten in My 1 , S.385 f.: Es gibt letztlich kein anderes Wahrheitskriterium als die Evidenz, das unmittelbare Einleuchten der Wahrheit. Insofern ist Wahrheit nicht schlüssig beweisbar. Sie muß einfach einleuchten. Evidenz ist immer ein Glaubenschenken, ein Gefangengenommenwerden des Subjekts durch die Wahrheit. Brunner unterscheidet dabei verschiedene Evidenz, je nach der Art der Wahrheit, um die es geht. So gibt es die Evidenz des theoretischen Bewußtseins, die Evidenz des Sittlichen und die Evidenz der Offenbarung, des Glaubens. Interessant für unseren Zusammenhang ist seine Verhältnisbestimmung 26
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sem Hineingenommensein aus, wie es im Akt des Glaubens geschieht, kommt nun die mit dem Menschsein gegebene Voraussetzung in den Blick und zu ihrem Recht. Im Glauben ereignet sich die Rückkehr des Menschen zu seinem Ursprung, der Gehorsam gegenüber dem Wort, in dem er und zu dem hin er geschaffen wurde. In der Neuschaffung des Gottgeschaffenen gibt Gott die Antwort auf des Menschen Frage, die er mit seiner ganzen Existenz im Widerspruch ist, mit seinem „unüberwindlichen Schwanken zwischen Erkennen und Niditerkennen, zwischen Gottähnlichkeit und Widergöttlichkeit, zwischen Skepsis und Schwärmerei". Auch wenn der Mensch die Frage, die er ist, selbst gar nicht richtig stellen kann, wenn er die Tiefe des Rätsels seiner Existenz gar nicht erkennt, bleibt diese Voraussetzung gültig: Nur „wo der Mensch wirklich nach Gott fragt, wird ihm die Antwort" 2 8 . Glaube ist als eigene Antwort Gottes die ureigenste Antwort des Menschen, die dem Menschen zukommende Antwort. Hier kommt er zu sich selbst; hier versteht er sich selbst in seiner Wirklichkeit und in seiner Wahrheit, wie er sich zuvor noch nicht verstand. Aber damit ist der Verstehensvorgang im Glauben noch nicht zu Ende gedacht. Noch ist ja jenes vorgängige Verstehen als solches nicht mit einbezogen, das bereits mehrfach ins Blickfeld trat, zunächst in der Dialektik von Gesetz und Evangelium, dann in dem von Brunner bejahten Faktum einer allgemeinen Offenbarung. Brunner greift auf diese Überlegungen zurück, wenn er nun erneut von der Frage nach Gott und von der Buße spricht, die der Glaube zu seiner Voraussetzung hat. Auch wenn dabei die Einschränkung nicht übersehen werden soll, daß auch die Buße letztlich Gottes Werk ist und sich erst im Glauben „vollendet", so gibt doch schon diese Formulierung zu verstehen, daß sie in ihrem Anfang dem Glauben vorangeht. In der Tat: „Sie gehört in ihrem Anfang zum ,Humanen', zum Gesetz" — eben als jene Situation der Krisis des Humanen, in der der Mensch seine Grenze erfährt als Erkenntnis seiner Schuld und seiner Gottbedürftigkeit. Dieses menschliche Selbstverständnis findet im Glauben seine Bestätigung und Vertiefung. Es gehört in seiner kritischen Negativität schon mit zu der Bewegung, um die es im Glauben geht: dieser verschiedenartigen Evidenz zueinander als Stufenordnung. Wie die sittliche Evidenz für die niedrigere Evidenz des theoretischen Bewußtseins paradox, ein Incredibile ist, so ist „die Evidenz des Glaubens ein Incredibile für alles Bewußtsein, wie es abgesehen von der Offenbarung bestimmt ist, für den ,natürlichen' Menschen". Andererseits ist die Problematik der niederen Evidenz in der höheren aufgehoben. „Wie in der sittlichen Evidenz die N o t des Intellektuellen — die darin besteht, daß es ohne das Sittliche kein sinnvolles ist — .gewendet' wird, so wird audi durch die .Evidenz' des Glaubens die sittliche N o t .gewendet': Christus ist des Gesetzes Erfüllung." Audi hier soll dieser Sachverhalt keine Sicherung der Vertrauenswürdigkeit des göttlichen Wortes außerhalb seiner selbst bedeuten. 28 Mi, S. 480. 311. Relph 2 , S. 48. 116
zur „Abwärtsbewegung", in der Gott zum Menschen kommt. Brunner sprach früher von dem „gemeinsamen Punkt" der Begegnung, von dem negativen kritischen „Berührungspunkt", an dem die menschliche Vernunft in der Schulderkenntnis „Gott die Spitze bietet", und er nannte ihn einen „Punkt der Verzweiflung". Nun gibt er ihm erstmals den Namen, der zum Symbol des Streites werden sollte: „Um dieser Richtung willen ist die Buße, die Schulderkenntnis, die Erkenntnis des Nichtrechtseins, der Gottbedürftigkeit, der Armut — der Anknüpfungspunkt für den Glauben, für das Wort. Sie ist die Offenheit für Gott."29 Nicht mehr, aber auch nicht weniger, will Brunner zunächst mit diesem Begriff sagen. Er ist keine eigene Wortprägung Brunners. Es wird meist übersehen, daß der Begriff des Anknüpfungspunktes eine aufschlußreiche Vorgeschichte hat, dieBrunner nicht ganz unbekannt gewesen sein dürfte 3 0 . So weist er später selbst einmal darauf hin, daß er ihn „im theologischen Sprachgebrauch bis mindestens hundert Jahre zurück, so bei J. Müller", gefunden habe 31 . Es überrascht, daß Brunner nicht noch ein wenig weiter zurückgeht und nicht auch den Namen nennt, der hier auf jeden Fall genannt werden muß. Konnte es ihm entgangen sein oder war es ihm peinlich, in dieser Frage nun doch Schleiermacher in seine theologische Ahnenreihe aufzunehmen? Denn schon Schleiermadier verwendet das Wort nicht nur im Zusammenhang seiner allgemeinen „Hermeneutik als Kunst des Verstehens" und in seiner Ethik zur Kennzeichnung des ursprünglichen und pflichtmäßigen Handelns als Anknüpfen an das Gegebene, sondern beschreibt in seiner Glaubenslehre auch den durch das verkündigte Wort vermittelten „Eintritt in die Lebensgemeinschaft mit Christus", der sich in der Buße als Reue und Sinnesänderung und im Glauben bekundet, als einen Anknüpfungsvorgang: Das glaubenweckende Wort setzt die Fähigkeit zu seiner Auffassung voraus, das Tätigwerden der „inneren Funktionen des Bewußtseins", eine „Zustimmung des Willens", eine „lebendige Empfänglichkeit", ein „Vorgefühl", eine „Erlösungsbedürftigkeit", ohne die kein Bewußtsein der Sünde möglich ist, ein ursprüng29 Mi, S. 480, vgl. S. 458: „Darum ist das Schuldbewußtsein der Ansatzpunkt für die Offenbarung." 30 Vgl. dazu meinen Artikel über „Anknüpfung" im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J.Ritter, Bd. 1 1971, Sp. 320 ff. Der Artikel über den Anknüpfungsbegriff in RGG 3 I, Sp. 392 ff. (H. Kraemer) ist für die begriffsgeschiditliche Fragestellung völlig unergiebig und in seiner theologischen Beurteilung des Problems in sich selbst widersprüchlich. 31 MiW, S. 546; vgl. J.Müller, Lehre von der Sünde II, (1844) 1867 5 , S. 320. In Auseinandersetzung mit den manichäischen Konsequenzen des Flacianismus und ihrer Abwehr durch die Konkordienformel bemerkt J. Müller: „Ja selbst um nur begreiflich zu machen, wie sich Jemand zum äußern Gebrauch des Gnadenmittels, ohne weldies der heilige Geist sein inneres Werk nicht beginnt, zu entschließen vermag, muß nothwendig ein innerer Anknüpfungspunkt für die Erneuerung im natürlichen Menschen angenommen werden." (Hervorhebung von mir.)
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liches, im Selbstbewußtsein gegebenes allgemeines Wissen um Gott, ein Verlangen nach Gemeinschaft mit Gott, das zur ursprünglichen Vollkommenheit der menschlichen Natur gehört und in dem sich das zeigt, was die menschliche Natur konstituiert: das sich im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl meldende Von-Gott-her-Sein und Auf-Gott-hin-Sein des Menschen. Indem Schleiermacher dies „als den ersten Anknüpfungspunkt für alle göttlichen Gnaden Wirkungen" bezeichnet, will er diese natürliche Selbsttätigkeit des Menschen nicht eigentlich als Mitwirkung verstanden wissen und sie nicht der Priorität des Handelns Gottes entziehen, sondern dem Mißverständnis wehren, das dem Menschen in seinem Zum-Glauben-Kommen eine falsche, ihn zum leblosen Ding degradierende Passivität zuschreibt, in der die Einheit seines Personseins nicht mehr gewahrt ist 32 . Noch stärker profiliert erscheint der Begriff bei R. Rothe. Er betont, daß die offenbarende Wirksamkeit Gottes nicht auf mechanisch-magische Weise geschieht, sondern so, daß dabei der Mensch als „mithandelnde Person" in seiner denkenden Tätigkeit, in seinem Selbstbewußtsein in Anspruch genommen wird. Sie muß vom Menschen, soll sie ihm nicht schlechthin fremd bleiben, verstanden werden. Rothe stellt dies geradezu als den charakteristisch-protestantischen Kanon auf, daß die offenbarende Wirksamkeit Gottes sich als übernatürliche zugleich moralisch, d. h. persönlich vermittelt, „daß sie in der Seele des Menschen selbst einen bestimmten Anschließungs- und Anknüpfungspunkt vorfindet und benutzt". Nur eine solche Offenbarung entspreche dem Begriff des Menschen, nur so sei die christliche Religion die wahrhaft menschliche, die wirklich geistige, die allein wahre 33 . M. Kähler legt seiner „Wissenschaft der christlichen Lehre" die Frage nach den allgemein-menschlichen Voraussetzungen des rechtfertigenden Glaubens zugrunde (Christliche Apologetik, Theologische Anthropologie) und sieht in der menschlichen Anlage zur Religion und zur Sittlichkeit, im Gottesbewußtsein, im Bewußtsein der Verantwortlichkeit (Gewissen) und im Schuldbewußtsein die entscheidenden inneren Voraussetzungen, die „Anknüpfungen" bzw. „Anknüpfungspunkte" für das glaubende Verstehen und für die missionarische Verkündigung34. Nun tritt der missionsmethodische, missionspädagogische Sinngehalt des Begriffs in den Vordergrund, der sich auf die konkrete Situation missionarischer Verkündigung bezieht. G. Warneck verwendet ihn einerseits in dem allgemeinen, nicht spezifisch theologischen Sinn des Ins-GeVgl. Glaubenslehre (1830 2 ) § 108, 5. 6; § 4 ; § 29, 1; § 6 0 ; § 70, 2 ; § 94, 2; § 1 0 6 , 1 . R . R o t h e , Zur Dogmatik, 1863, S . 5 7 — 7 0 (vgl. audi seine Kritik der Inspirationstheorie im Artikel über die Heilige Schrift). 3 4 M. Kähler, Die Wissenschaft der christlichen Lehre, (1883) 1905 3 , § 7 6 ; §80ff.; Dogmatische Zeitfragen II, 1908, S. 3 5 8 ; vgl. dazu meine Arbeit über M. Kähler: Offenbarung und Geschichte als Problem des Verstehens, 1962, S. 10 ff. 32
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spräch-Kommens, der Kontaktaufnahme zur Kommunikation, wobei die verschiedensten Gelegenheiten und Gegebenheiten als Anknüpfungsmittel dienen können. Andererseits erfaßt er auch das theologische Problem der Anknüpfung, wenn er das heidnische Leben, die Lebenspraxis und Lebenserfahrung als „missionarisches Textebuch" ansieht, das der Verständigung über den Sinn des Evangeliums dient. Der missionarische Appell richtet sich auf die Dokumentationen des religiösen Sinnes, auf die Phänomene, in denen sicii religiöses Bedürfnis, tastendes Suchen, aber auch das Unerfülltbleiben und Scheitern der Gottesbeziehung äußern. Dabei geht es nicht um die Anerkennung und die weiterführende Übernahme heidnischer Bräuche und Vorstellungen, sondern um die Kritik des heidnischen Selbstverständnisses, um den Nachweis, daß allein das Evangelium die Not des Menschen überwindet und sein religiöses Bedürfnis befriedigt. Es handelt sich hier also um eine Anknüpfung im Gegensatz, die als allgemeiner Grundsatz formuliert wird: „das ist die natürlichste und wirkungsvollste Anknüpfung, welche von dem religiösen Leben der Heiden ausgeht und durch Antithese in das christliche Leben eine Brücke schlägt, und zwar durch eine solche Antithese, welche ebenso in sich die positive christliche Heilsbotschaft trägt wie die Polemik gegen den heidnischen Irrtum zur Halieutik macht" 35 . In der missionstheologischen Diskussion taucht dieser Begriff der Anknüpfung in der Folgezeit immer wieder auf, oft in Verbindung und kritischer Auseinandersetzung mit dem verwandten und doch auch wieder gegensätzlichen Begriff der Akkommodation, der vor allem ein Grundbegriff katholischer Theologie ist 86 . Das Recht zur Anknüpfung wird dabei behauptet unter Hinweis auf die Notwendigkeit der Ubersetzung der Botschaft in die Sprache und Denkweise des Hörers, der Anpassung an seine Verstehensmöglichkeiten, des solidarischen Eingehens in seine Situation, der Berücksichtigung seiner „urtümlichen Bindungen" (B. Gutmann) als gottgesetzter Beziehungen (Schöpfungsgegebenheiten) 37 . Wird hier die Notwendigkeit der Anknüpfung mehr auf 35
G. Warneck, Evangelische Missionslehre 111,2 (1900), S. 65 ff. 94 ff. LThK 2 I, S. 239 fi.; Handbuch Theologischer Grundbegriffe, hrsg. v. H.Fries, Bd. I 1962, S. 25ff.; vgl. aber audi RE 3 I, S. 127ff.; RGG 3 I, Sp. 209 f. (P. Althaus). 37 Vgl. S. Jacob, Das Problem der Anknüpfung für das Wort Gottes in der deutschen evangelischen Missionsliteratur der Nachkriegszeit, 1935 (Lit.); S. Knak, Die Mission und die Theologie in der Gegenwart, ZZ 10 1932, S. 331 ff.; F. K. Schumann, Das Wort und die Heiden. Zur Frage der „Anknüpfung" in der missionarischen Verkündigung, Deutsche Theologie 5 1938, S. 49 ff.; G. Rosenkranz, Der „Heilige" im Konfuzianismus und das Problem der Anknüpfung, ZMR 49 1934, S. 2 ff.; G. Heinzelmann, Evangeliumsverkündigung und Apologetik, ZSTh 14 1937, S. 588 ff.; K. Deißner, Anpassung und Abwehr in der ältesten Missionspredigt, ZSTh 16 1939, S. 516 ff.; A. Köberle, Die Frage der Anknüpfung in der christlichen Verkündigung, 1958 (in: Sammlung und Sendung, Festgabe für H . Rendtorff, 1958, jetzt auch in seiner Aufsatzsammlung „Christliches Denken", 1962, S. 92 ff.). 30
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Grund einer praktischen Nötigung bejaht, so zeigten sich von daher wie von einer neuen religionswissenschaftlichen Sicht der nichtchristlichen Religionen auch die Gefahren einer falschen Anknüpfung oder Anpassung (Relativismus, Synkretismus, Assimilation, Säkularisierung), in denen die Mission selbst in die Krise geriet 38 . Der Begriff der Anknüpfung bzw. des Anknüpfungspunktes lag also, überblickt man seine Begriffsgeschichte, im Zusammenhang der von Brunner verfolgten Fragestellung keineswegs so fern, und auch die um diese Zeit geführte missionstheologische Diskussion mag Brunner mit veranlaßt haben, ihn aufzunehmen, zumal er mit seiner Fragestellung in diese Diskussion eingriff, um das hier bestehende Problem in systematisch-theologischer Besinnung zu klären. Angesichts des Sinnzusammenhangs, in dem Brunner ihn erstmals verwendet, wird man zugeben müssen, daß die Versuchung zu einer theologia naturalis kaum auf diesem Wege lauern konnte, wenn es dabei blieb, daß jenes Vorverständnis gerade als Ausdruck der Gottbedürftigkeit, als Notruf des Menschen an der Grenze und im Scheitern seiner Existenz verstanden werden sollte. Solange es nur darum ging, den im Glaubensgeschehen selbst sich ereignenden Verstehensvorgang existential zu interpretieren, blieb die anthropologische Aussage unmittelbar bezogen auf dieses Geschehen, und ihr Sinn konnte nie dahin verkehrt werden, daß aus dieser „Offenheit" des Menschen für Gott die Möglichkeit wurde, sich den Weg zu Gott selbst zu öffnen. Nicht der Mensch sollte hier groß gemacht werden, sondern Gott, der sich des Menschen annimmt. Freilich drohte diesem übergeordneten soteriologischen Gesichtspunkt gerade von einer methodischen Inangriffnahme des Anknüpfungsproblems Gefahr — eine Gefahr, um die Brunner wohl wußte, der er sich aber nicht entzog: die Gefahr des Systems. Haitjemas Warnung, er beginne mit den entscheidenden theologischen Begriffen leider schon zu operieren wie mit fertigen dinglichen Größen, sollte schon bald auch in diesem Zusammenhang aktuell werden. Deutliche Spuren einer solchen, aus der systematischen Besinnung hervorgehenden Systematisierung finden sich bereits in seiner fast gleichzeitig mit dem „Mittler" publizierten „Religionsphilosophie evangelischer Theologie". Brunner bestimmt hier nämlich die Aufgabe einer christlichen Religionsphilosophie als Teil der Theologie dahingehend, daß sie von der Voraussetzung des Glaubens aus das Verhältnis zwischen Offenbarung und Vernunfterkenntnis sowie zwischen Offenbarung und Religion begründend darzustellen habe. Sie ist also mit dem Problem der Offenbarung im Hinblick auf das Problem des Menschen befaßt. Und sie ist damit der Bereich der Theologie, „in dem das Gespräch mit dem allgemeiM Die Weltmissionskonferenzen in Jerusalem (1928) und in Tambaram stehen im Zeichen dieser Problematik.
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(1938)
nen Wahrheitsbewußtsein, mit der Philosophie geführt wird". Ihre spezifische Aufgabe in diesem Gespräch sieht Brunner darin, daß sie „die Offenbarung, wie sie im Glauben erfaßt wird, als Antwort auf die Lebensfrage des Menschen, wie sie sich in seinem geistigen Suchen und in seiner Religion ausspricht, deutlich" zu machen habe 39 . Es ist praktisch die Aufgabe der Eristik, die hier der Religionsphilosophie zufällt! Daß diese Aufgabenstellung möglich ist, ergibt sich für Brunner ohne weiteres aus jenem im Offenbarungsgeschehen vorausgesetzten Verstehenszusammenhang als einem Anknüpfungsgeschehen 40 . Offenbarung ist „immer Antwort auf menschliche Frage". Wenn das Bewußtsein der Lebensnot, die Fragwürdigkeit der Existenz im Widerspruch der negative Berührungspunkt und also der Anknüpfungspunkt für das Heilshandeln Gottes ist, dann hält Brunner es sogar für sinnvoll, diesen Sachverhalt dadurch zum Ausdruck zu bringen, „daß der Darstellung des Offenbarungsglaubens eine solche der allgemein menschlichen Selbstbesinnung vorausgeschickt würde, die bis zu jenem Punkt führte"! Das soll nicht besagen, daß der Offenbarungsglaube aus dem allgemeinen menschlichen Bewußtsein verstanden werden müßte — er kann in jedem Fall nur „ganz und gar aus sich selbst" verstanden werden. Aber so ganz überzeugend klingt das von dieser Voraussetzung aus dodi nicht mehr! Freilich darf wiederum nicht übersehen werden, daß Brunner es auch hier für notwendig ansieht, von der Offenbarung, so wie der Glaube davon weiß, auszugehen, d.h. die Darstellung des menschlichen Selbstverständnisses ist schon vom Glauben geleitet. Und wenn es wahr ist, daß nur da das andere, das wahrhaft Rettende wieder vernehmbar wird, wo der Mensch sich in seiner Gottesferne erkennt, wo er seiner humanitas als seiner verlorenen Gottesnähe bewußt wird, wo er durch sein Bestes erst recht in die Krise geführt wird — so gilt doch auch umgekehrt: „Nur wo dieses wahrhaft Rettende sich selbst ihm vernehmbar macht, ereignet sich auch jene Selbsterkenntnis." Und auch dies gibt Brunner weiterhin zu bedenken: ob nicht die menschliche Frage selbst in der Offenbarung gründet und nur in ihr 38
Relph 2 , S. 6 f. 94. Seine nähere Erläuterung ist nur ein Resümee des bereits Gesagten: Die Offenbarung trifft das menschliche Bewußtsein, d.h. sie setzt den Menschen als Menschen voraus. („Es ist nicht gleichgültig, daß dieses als menschliches bestimmt i s t . . . " ) Sie bezieht sich dabei nicht auf einen besonderen psychologisch faßbaren „Ort" im Menschen, sondern packt ihn in seiner Ganzheit als der Mensch, der er ist. „Dieser Mensch, als ganzes, gerade in dieser Fragwürdigkeit und mit einem gewissen, wenn auch nie klaren Bewußtsein von ihr, ist der sogenannte Anknüpfungspunkt der Offenbarung." Will man den Ort, an dem Offenbarung und Menschengeist zusammentreffen, noch näher bestimmen, so kann er nicht positiv, sondern nur negativ angegeben werden als die „Offenheit", als die Lebens-Frage bzw. „Lebensnot". „Nicht ein besonderes Sensorium, sondern das Bewußtsein von sich selbst als Humanus" in seiner Zwiespältigkeit ist die .Anlage', die offenbar dem göttlichen Schöpfer genügt, um daran ,anzuknüpfen' " (Relph 2 , S. 7. 48 f.). 40
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ihren Sinn erfährt; ob nicht auch sie also „in der göttlichen Anrede ihr Prius habe" 41 . Unsere Darstellung des gedanklichen Zusammenhangs, der auf den Begriff eines Anknüpfungspunktes hinführte, dürfte deutlich gemacht haben, daß es Brunner dabei keinesfalls darum ging, die Gottesfrage in ihrer entscheidenden Bedeutung als Christusfrage weniger ernst zu nehmen. Er fragt nach dem Menschen vor dem Glauben und im Glauben „vom Glauben aus", wie er immer wieder betont, d.h. er fragt nach Voraussetzungen, die im Glaubensgeschehen selbst vorausgesetzt sind. Er möchte in keinem Augenblick diesen Zusammenhang, daß es hier um die Explikation des Wortes Gottes als des dem Menschen zugesprochenen Wortes geht, suspendieren. Insofern gehört die Frage nach dem Anknüpfungspunkt nodi zur speziellen Bestimmung des Begriffs der Offenbarung. Von da aus gewinnt sie dann allerdings noch eine besondere Funktion. Sie wird zum Mittelpunkt der theologischen Aufgabe der Eristik. Daß sie jedoch von Haus aus durchaus ihren Ort in einer christlichen Lehre von der Offenbarung hat, sollte nicht übersehen werden. Leider hat Brunner selbst einiges dazu getan, daß dies bald vergessen wurde. Sie geriet als Programm in die Isolation und lenkte so den Blick einseitig auf den Menschen vor dem Glauben, so daß der Verdacht entstehen konnte, als ginge es hier letztlich doch um eine Offenbarungsmächtigkeit des Menschen. 2. Die Aufgabe der Eristik a) Theologie und
Verkündigung
Theologie und Verkündigung gehören zusammen. Eine Verkündigung des Wortes Gottes, die sich der theologischen Verantwortung entzieht, mißversteht sich ebenso wie eine Theologie, die sich der kerygmatischen Verantwortung entzieht. Brunners vordialektische Fragestellung verriet noch wenig von dieser Einsicht. Das Verkündigungsgeschehen, das zum Glauben rufende Wort als Grund und als Aufgabe der Theologie schien überhaupt noch nicht ins Blickfeld seiner Überlegungen zu treten. Und auch seine dialektischen Frühschriften erfassen die Aufgabe der Theologie noch nicht eigentlich als Problem aktueller Verkündigung. Dies ist um so erstaunlicher, als ja auch Brunner wie Barth aus dem Pfarramt kommt. Wenn Eduard Thurneysen mit gutem Recht zumindest vom jungen Barth sagen konnte, daß ihm die Situation des Pfarrers die Probleme stellte, daß seine Theologie aus der Predigtarbeit erwuchs und der Predigt dienen wollte und darum die Schriftauslegung als wesentliches Element in sich 41
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Relph, S. 57. 8.
einschloß42, so spürt man bei Brunner damals kaum diese der konkreten Verkündigung zugewandte Bewegung. Natürlich versteht auch er dies als den Sinn des theologischen Aufbruchs, der Theologie ihre Sache wiederzugeben, und das kann ja nur heißen: zur rechten, verantwortlichen Verkündigung zuzurüsten. „Vielleicht aber ist der Tag nicht mehr so fern", hofft Brunner in jenen Jahren, „wo es wieder wie im Reformationszeitalter gesagt werden darf: Das wahre Licht scheint jetzt, wo das Wort wieder verstanden und nicht entweder ausgelaugt oder bloß konserviert wird." 4 3 Dem soll gewiß seine Arbeit dienen. Aber seine weit ausholende Reflexion mit ihrem dominierenden erkenntnistheoretischen Interesse konnte dem kaum entsprechen. Sie führte zwar auf das Wort als Zentralbegriff des Geistes wie des Glaubens, aber mehr im Sinne einer kategorialen Besinnung als der wirklichen Ausrichtung auf das zu verkündigende Wort. Zudem wirkte der frühdialektische Offenbarungs- und Glaubensbegriff mit seiner einseitigen Betonung der Jenseitigkeit des Deus dixit und der Formelhaftigkeit, mit der es geltend gemacht wurde, wie ein Hemmschuh, der den in der Verkündigung stattfindenden Dialog nicht zur Geltung kommen ließ, weil die Frage nach dem Menschen, der hier hören, antworten, verstehen soll, mit dem Deus dixit schon hinreichend beantwortet schien. Wir haben verfolgt, wie Brunner diese Einseitigkeit überwand und gerade vom Glaubensgeschehen aus auf das Recht und die Notwendigkeit der Frage nach den menschlichen Voraussetzungen des Verstehens stieß. Es war die neue Frage nach dem Menschen vor Gott, mit der sich ihm audi das Problem der Verkündigung neu stellte. Das ist kein zufälliger Zusammenhang. Denn wer sich der Aufgabe einer theologischen Anthropologie zuwendet, faßt damit zugleich die Situation der Verkündigung ins Auge. Jede theologische Anthropologie impliziert eine Theorie der Verkündigung, ja, sie ist wesensmäßig Theorie der Verkündigung. So kann es nicht überraschen, daß Brunner von dem Augenblick an, als ihm die anthropologische Frage als der Ort der Entscheidung zwischen dem christlichen Glauben und dem modernen Menschentum bewußt wurde, auch die Aufgabe einer speziellen Theorie der Verkündigung in Angriff nahm. Darum ging es ihm bei seiner Analyse der Dialektik von Gesetz und Evangelium, bei seiner Inanspruchnahme einer allgemeinen Offenbarung als der im Glauben selbst enthaltenen Voraussetzung des Glaubens. Und darum geht es ihm auch in jenem umstrittenen Aufsatz über „Die andere Aufgabe der Theologie", in dem er in der Konsequenz dieser Fragestellung schließlich das Programm einer eristischen Theologie entwirft 44 . 4 2 Vgl. Ed. Thurneysen, Die Anfänge. K . B a r t h s Theologie in ihrer Frühzeit, in: Antwort, S. 831 f. 44 Z Z 7 1929, S. 255 ff. (im folgenden zitiert: Aufg). « E E G 2 , S. V.
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b) Die zwei Aufgaben der Theologie Was ist damit gemeint? Und inwiefern geht es hier um eine „andere" Aufgabe? Es läßt sich kaum übersehen, daß Brunner demonstrativ diese Formulierung wählt, um damit einen Sachverhalt bewußt zu machen, der ihm in der bisherigen Fragestellung der dialektischen Theologie, vor allem aber in der Art, wie K. Barth in seinen Prolegomena zur Dogmatik die theologische Aufgabe bestimmte, nicht in seiner wirklichen Bedeutung erkannt schien. Brunner wollte zweifellos nicht nur einen neuen Akzent setzen, sondern einen Richtungshinweis für die jetzt notwendige Fragestellung der Theologie geben. Der Wink an die Adresse Barths, der ihn vor einem neuen Weg in die Orthodoxie, vor einer allzu einseitigen Beschäftigung mit der „reinen Lehre" warnen sollte, war nur zu deutlich. Aber hinter dieser, auf die aktuelle Situation bezogenen Notwendigkeit steht die davon unabhängige Einsicht in die prinzipielle Notwendigkeit der hier erkannten Aufgabe. Die Verquickung des zeitgeschichtlichen mit dem sachlichen Anliegen war wohl unvermeidlich. Sie gab jedoch auch Veranlassung genug, die Diskussion vorwiegend vom zeitgeschichtlich bedingten Interesse aus zu führen und von ihm her die Sachfrage zu beurteilen, die so kaum der polemischen Verzerrung entgehen konnte. Doch folgen wir hier den Überlegungen Brunners. Er unterscheidet zwei Aufgaben der Theologie45. Die erste Aufgabe besteht darin, die Kirche immer wieder „zur Besinnung zu rufen über das ihr gegebene Wort Gottes, indem sie den Sinn der Botschaft, die sie der Welt auszurichten hat, nach allen Seiten hin im Zusammenhang darstellt". Hier geht es also um den eigentlichen Grund und Inhalt des Glaubens, um das Verstehen des Wortes Gottes selbst und um die Explikation dieses Verstehens, wie es insbesondere in der dogmatischen Darstellung seinen Ausdruck findet. Brunner nennt diese erste Aufgabe der „besinnlichen Darstellung" denn auch die dogmatische. Ihr kommt der Vorrang zu. Sie ist „die erste und wesentliche" Aufgabe der Theologie46. In engstem Zusammenhang mit dieser besinnlichen Glaubensdarstellung und nicht loslösbar von ihr, ergibt sich jedoch nodi eine andere, „nicht weniger wichtige" Aufgabe! Brunner geht — dies darf nicht übersehen werden — vom Vorgang der Verkündigung aus, um verständlich zu machen, was er damit meint. Das Wort Gottes wird ja nicht in einen leeren, sondern in einen geschichtlich erfüllten Raum hineingesprochen. Es trifft auf Menschen mit einem bestimmten Selbstverständnis, mit einem bestimmten Vorverständnis. Sie haben ja immer schon irgendwie Stellung bezogen und sich den Sinn ihrer Existenz auf ihre Weise zurechtgelegt. 45 Vgl. dazu den Aufsatz „Die Offenbarung als Grund und Gegenstand der Theologie" (1925), w o er die Aufgabe der Theologie in analoger Weise in zwei Gruppen einteilt (siehe oben S. 100). 46 Aufg, S. 255. 257.
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Im Bilde gesprochen: Das Haus ist schon bewohnt, in dem das Wort Gottes Wohnung machen will. Es kann sich darum nur so Geltung verschaffen, indem es sich mit den Geistern, die es hier vorfindet, einläßt. Es muß sich mit ihnen auseinandersetzen, es muß sie überwinden und „sich auf ihre Kosten Raum schaffen". Der Gehorsam, den Gottes Wort fordert, wird „zum Auswanderungsbefehl für solche Geister, die mit ihm unverträglich sind". Oder anders ausgedrückt: Das verkündigte Wort fordert zur Sinnesänderung, zum Umdenken auf. Es will als Bußruf verstanden werden. Es begegnet als Angriff auf den Menschen, den es gefangennehmen will, und setzt sich im Kampf durch. Es ist also polemisch. Und dies bedeutet für die Theologie: Auch sie muß polemisch sein, weil und sofern sie sich ja nur in der Teilnahme an diesem Kommen des Wortes vollziehen kann 47 . Mit diesem Begriff einer polemischen Theologie möchte Brunner nicht nur dem Vorgang des Verkündigungsgeschehens selbst Rechnung tragen, sondern auch auf eine von der dogmatischen zu unterscheidende Aufgabenstellung hinweisen: Die Theologie hat hier eine andere Aufgabe wahrzunehmen, die, so scheint es jedenfalls, mit der ersten Aufgabe keineswegs identifiziert werden kann, auch wenn sie unlösbar mit ihr verbunden ist. Dort geht es um die Verständigung über die Sache des Glaubens, um die vorwiegend thetische und explikative Darlegung der Wahrheit des Glaubens in ihrem Zusammenhang, „ohne geflissentlich oder ausdrücklich auf die dieser Wahrheit entgegenstehenden Gedanken einzugehen" 48. Hier, in der polemischen Theologie, geht es hingegen um den Angriff auf den Menschen, um das Geschehen der Begegnung und Auseinandersetzung des Wortes Gottes mit dem Selbstverständnis des Menschen, um die Erhellung der Situation, die das Wort antrifft und die es schafft. Die nähere Bestimmung dieser Situation zeigt indes, daß es hier keineswegs nur um eine polemische Zielrichtung gehen kann. Der Auswanderungsbefehl trifft ja nur solche Geister, die mit dem Glauben unverträglich sind, d.h. da, wo der Mensch dem Worte Gottes widersteht, wo er sich vor ihm verschließt, wo er sich in seinem Vernunftgebrauch von Gott distanziert und sich über ihn erhebt, da muß er überwunden werden. Aber der Gegensatz zwischen Vernunft und Glaube, so tiefgreifend und prinzipiell er sich auch darstellt, darf doch nicht so verstanden werden, als ginge es in diesem Angriff des Wortes Gottes auf den Vernunftwahn um die Austreibung der Vernunft — „dieser Exorzismus würde den Menschen vernichten" ! Vielmehr geschieht die Uberwindung des menschlichen Widerspruchs zugleich als Inanspruchnahme seiner Vernunft: Die widerstrebende Vernunft wird da, wo es zum Gehorsam des Glaubens kommt, 47 48
A.a.O., S. 255 f. A.a.O., S. 259. 125
mit einbezogen in diesen Gehorsam, sie wird von ihrem Wahn befreit und gehorsam gemacht. Darin zeigt sich erst die eigentliche Intention des Polemischen. Es geht in ihm nicht nur um Verneinung, sondern letztlich um das Gewinnen der Bejahung, nicht nur um ein Töten, sondern um ein Lebendigmachen, nicht um Überwältigung und Vergewaltigung, sondern um eine innere Überwindung, die zugleich Befreiung ist. Denn das im Glauben vernommene Wort Gottes bestätigt sich dem Menschen „als die Erfüllung des Sehnens der vorher gebundenen und jetzt befreiten Vernunft selbst" 49 . Das ist die Wirklichkeit, die hier wahrgenommen werden soll. Der Mensch versteht, indem er sich verstanden fühlt. Er kommt im Gehorsam des Glaubens nicht unter ein fremdes Recht, sondern auch zu seinem eigenen Redit, zur Wahrheit, die er insgeheim als seine Wahrheit sucht. Die „andere" Aufgabe der Theologie stellt sich also, wenn sie diesem Kommen des Wortes Gottes entsprechen soll, als eine Doppelaufgabe dar. Sie hat teilzunehmen an diesem Kampf, in dem die dem Wort Gottes sich verschließende Vernunft niedergerungen wird. Sie hat zu zeigen, inwiefern durch das Wort Gottes die menschliche Vernunft „als Quelle lebensfeindlichen Irrtums enthüllt" wird 50 . Sie hat der Vernunft am Wort Gottes ihren Wahn aufzudecken. Das ist das eigentlich polemische Element in ihr. Aber sie darf nicht in der Einseitigkeit des Polemischen steckenbleiben. Sie muß ihr Augenmerk ebenso auf das Geschehen der Verkündigung richten, in dem der Mensch sich als befreit, als verstanden, als bejaht erfährt. Dies bedeutet: Die Theologie hat in der Wahrnehmung ihrer „anderen" Aufgabe auch zu zeigen, wie durch das Wort Gottes die menschliche Vernunft nicht nur als Quelle des Irrtums enthüllt, sondern in ihrem eigenen Suchen zum Ziel gebracht wird. Sie hat der Vernunft „ihre Erfüllung im Wort Gottes zu zeigen" 51 . In diesem Sinne könnte man 49
A.a.O., S. 257. Dieses „Wie" ist nicht psychologisch, sondern theologisdi gemeint, vgl. „Theologie und Kirche" (in: ZZ 8 1930, S. 398 Anm. 1): „Nicht um das psychologische Wie handelt es sich da, sondern um die durchaus theologische Frage, inwiefern denn und worin der Mensch vom Worte Gottes ansprechbar sei." 51 A.a.O., S. 257 f. 260. Wenn H. Zahrnt im Anschluß an Formulierungen Brunners diese theologische Eristik nur als eine Art christlicher Sokratik auffaßt, die von der philosophischen dadurch unterschieden ist, „daß sie aus dem Menschen nicht die Wahrheit herausfragt, sondern daß sie ihm das Geständnis der Unwahrheit entlockt" (in: Die Sache mit Gott, 1966, S. 86), dann ist damit nodi nicht der volle Sinn der Eristik erfaßt. Die Dialektik der theologischen Eristik beruht ja darauf, daß der Mensch in seiner Unwahrheit auf die Wahrheit bezogen ist. Sie fragt nicht die Wahrheit aus ihm heraus — dann hätte sie ihm ja nichts mehr zu sagen —, aber sie lehrt ihn seine Frage nach der Wahrheit verstehen im Hinblick auf die im Christusgeschehen gegebene Antwort. Es geht also gerade auch um die Erfüllung, um die Beantwortung der Frage des Menschen, und insofern um ein Zur-Geltung-Kommen der eigenen Wahrheit des Mensdien, um die er als Fragender, als Sudiender weiß. 50
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durchaus von einer mäeutischen Funktion bzw. von einer propädeutischen Aufgabe der Theologie sprechen, audi wenn dies unter anderen Voraussetzungen geschieht als die sokratische Mäeutik. c) Das Verständnis der Eristik aa) Begriff und Sache Diese doppelte Aufgabe bezeichnet Brunner mit dem Begriff der Eristik. Er führt diesen Begriff ein, weil er die Eigentümlichkeit der Aufgabe, um die es hier geht, nicht durch falsche Assoziationen belastet und weil er ihr auch eher zu entsprechen scheint als etwa der Begriff „polemische Theologie". Denn dieser bringt nur das Moment des Angriffs zum Ausdruck. Der Begriff „eristische Theologie" weist hingegen nicht nur auf das polemische Moment hin, auf den Streit zwischen Vernunft und Glaube, sondern auch auf die Kunst zu disputieren, auf das Dialogische des Streitgesprächs und damit auf „die Doppelseitigkeit des Vorgangs, der im Deutschen mit,Auseinandersetzung' gemeint ist" 52 . Insofern kommt der Begriff Eristik dem Sachverhalt zweifellos näher, zumindest in formaler Hinsicht. Freilich kann auch der Eristikbegriff diesem Sachverhalt, wie Brunner ihn beschrieben hat, nicht ganz entsprechen. Denn audi er bringt ja nicht von Hause aus das Moment der Erfüllung, das Nein und das J a zum Ausdruck. Hierzu wäre der Begriff der Dialektik wohl besser geeignet. Brunner muß ihm erst durch seine eigene Definition diese positive Bedeutung mitgeben! Und außerdem wäre zu fragen, ob die Art der Auseinandersetzung, wie er sie bei der „anderen" Aufgabe der Theologie vor Augen hat und wie er sie selbst praktiziert, wirklich in diesem Sinne eristisch-dialogisch genannt werden kann. Zu einem echten Streitgespräch gehören zwei wirkliche Gesprächspartner als Kontrahenten. In dieser theologischen Eristik übernimmt jedoch der Eristiker — so jedenfall scheint es bisher gemeint — als Angreifer zugleich die Vertretung des Angegriffenen, indem er selbst den Streit zwischen dessen Selbstverständnis und dem Worte Gottes aufzeigt und austrägt. Er „zeigt" ja der Vernunft, wie es mit ihr steht und wie sie sich zu verstehen hat. Es ist jedoch keineswegs von vornherein ausgemacht, ob die „Vernunft", oder besser: ob der wirkliche Mensch mit diesem Zeigen, mit dieser Interpretation seiner selbst einverstanden sein kann, ob er sie nicht als Manipulation ablehnen wird. Mag er dabei nun im Recht oder im Unrecht sein — man wird hier jedenfalls zunächst nur von einer theoretischen, hypothetischen Auseinandersetzung sprechen können, nicht von einem wirklichen eristischen Dialog. Und überdies meldet sich hier sogleich ein grundsätzliches Bedenken: Kann der Theologe als Eristiker gewisser52
A.a.O., S. 259 f.
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maßen als erklärten Programmpunkt die Rolle mit übernehmen, die in der Auseinandersetzung zwischen Gott und Mensch zugestandenermaßen doch allein dem Worte Gottes selbst zukommen kann? Kann er sich in diesem eristischen Gegensatz als Mensch so auf die Seite Gottes stellen? Das sind keineswegs nur hypothetische Fragen, denn Brunner betont ja ausdrücklich, daß die Theologie nicht etwa nur die Aufgabe hat, diesen Vorgang des Niederringens und der Befreiung der Vernunft lediglich zu beschreiben — sie hat „ihn mit zu vollziehen" 5 3 ! Ihr „Zeigen" ist nicht nur ein Verifizieren ihrer Aussage am Wort Gottes und am Geschehen der faktischen Verkündigung, sondern es soll zu einem Verifizieren des Wortes Gottes selbst werden. Aus der hypothetischen Eristik soll wirkliche Eristik werden als Aufgabe der Theologie. Offensichtlich enthält Brunners Programm der Eristik, wie er es zunächst formuliert, beides: eine theoretische und eine eminent praktische Aufgabe. Und das ungeklärte Nebeneinander beider wie die damit verbundene unterschiedliche Zielsetzung erschweren ungemein das Urteil über seine eigentliche Intention. Diese verschiedenartige Verwendung des Eristikbegriffs ergibt sich schon aus dem Unterschied zwischen Verkündigung und Theologie. Der Akt der Wortverkündigung ist selbst ein eristisches Geschehen, Eristik im konkreten Eingehen auf den Hörer, im Ringen mit „des Herzens Gedanken", im „existentiellen Akt des Ansprechens" 54 . Man könnte hier von einer praktischen oder kerygmatischen Eristik sprechen. Was in der Predigt geschieht, hat nun seine Entsprechung in der Theologie, in der theologischen Reflexion. Um den Vollzug der Eristik in der Sphäre der gedanklichen Reflexion geht es Brunner zunächst, wenn er von der anderen Aufgabe der Theologie spricht. Die Fragestellung verwickelt sich jedoch dadurch, daß diese Reflexion nicht nur als Hilfsdienst für die eristische Predigt gedacht ist, sondern daß sie zu einer eigenen Form der Verkündigung wird und so neben die Predigt tritt, bzw. zu einem vorbereitenden Akt der Verkündigung, der als besondere Aufgabe wahrzunehmen ist 55 . 5 3 A.a.O., S. 257. Vgl. dazu Ankn, S. 529 f.: Audi die direkteste Verkündigung des in Christus offenbaren Gottes ist „zugleidi ein Versuch, dem nichtglaubenden Menschen den wahren Charakter seiner ungläubigen Existenz, die Verzweiflung als die ,Grundbefindlichkeit des Daseins' aufzudecken". Dort fügt Brunner allerdings sogleich einschränkend hinzu, daß das Gelingen dieser Aufdeckung „allein der heilige Geist Gottes bewirken kann". 5 4 Aufg, S. 258 f. 5 5 Vgl. hierzu Ankn, S. 531 f. : „Die Verwandtschaft aber von Predigt und Theologie, der auch jeder guten Theologie eigene ,erweddiche' Charakter liegt besonders darin, daß audi die Theologie nicht darauf verziditet, an das natürliche Selbstverständnis anzuknüpfen und seine Erfüllung in der Glaubenserkenntnis, jenes Auslaufen in der negativen Spitze vom Glauben aus deutlich zu machen. Das ist das im besonderen Sinne .eristische' Moment der Theologie, die Hinwegräumung aller ideologischen, weltanschaulich-metaphysischen .Vorwände', die der Mensch sich schafft, um
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Einerseits hat die theologische Eristik nicht den einzelnen Menschen vor Augen, sondern das menschliche Selbstverständnis als solches, „sein in der Theorie formuliertes Existenzverständnis". Ihr Thema ist „das Existentielle als solches"5β. Sie redet über das Wort Gottes und über den wirklichen Menschen, wenn audi „mit dem Blick auf das wirkliche Wort und den wirklichen Menschen". Sie verkündet das Wort nicht als direkte Anrede an den Menschen, sondern führt die Auseinandersetzung bewußt als denkerische, indem sie ihn bei seinem Selbstverständnis behaftet. Das ist das Programm einer theologischen Anthropologie, die Besinnung auf den wirklichen und auf den wahren Menschen, wie er im Worte Gottes und im menschlichen Selbstverständnis zur Aussage kommt. Und dodi will Brunner, wenn er die Aufgabe der „Eristik" beschreibt, etwas anderes als eine theologische Anthropologie, die sich lediglich als Lehre vom Menschen darstellt. Es geht ihm hier ja gerade nicht um eine „besinnliche Darstellung", sondern um die Verbindung von Besinnung und Aktion, um ein Umsetzen der Reflexion in konkrete Auseinandersetzung, um ein angreifendes, überführendes, dialogisches Denken. Die eigentliche Aufgabe der Eristik liegt in dieser besonderen Zuspitzung: Sie hat „zu zeigen, daß der Mensch sich selbst nur im Glauben richtig verstehen kann und daß er nur durch das Wort Gottes das bekommt, was er heimlich sucht". Sie hat den Menschen „seine eigene Frage nach Gott verstehen zu lehren". Das kann sie nicht mit abstrakten Formeln, sondern nur, indem sie höchst konkret wird und ihn in seiner Situation aufsucht und darin zur Entscheidung, zur Verantwortung nötigt. In diesem Moment der inneren Nötigung, der existentiellen Uberführung, der zwingenden Hinführung an den Punkt, wo der Mensch sich wirklich vor die Entscheidung des Glaubens gestellt sieht, liegt das eigentliche Ziel und Pathos der Eristik. Sie will den Nichtglaubenden aus seiner theoretischen Haltung herauslocken, indem sie sich auf sein Denken einläßt; sie will ihn „zum existentiellen Denken zwingen"; sie hat ihm die Zweideutigkeit seiner Existenz, den durchgreifenden Widerspruch in ihr — die Sünde — „zur Anschauung zu bringen, und zwar so, daß er sich dabei nicht aus ihm davonstiehlt, indem er den Widerspruch denkend objektiviert" 57. Insofern redet sie also keineswegs nur über den Menschen, sondern gerade ad hominem. Ja, Brunner möchte eben dies als wesentliches sich nicht so sehen zu müssen, wie er sidi eigentlich sieht. Eristische Theologie ist ,Aufdeckung' des wahren Existenzcharakters durch Auflösung der weltanschaulichen Fiktionen." 54 A.a.O., S. 269 f. 57 A.a.O., S. 261 f.; vgl. auch Ankn, S. 5 2 9 f . : „Den Hörer dorthin zu führen, w o er gewissensmäßig, nicht bloß theoretisch von sich und dem verzweifelten Charakter seiner Existenz weiß, das ist die Anknüpfung, von deren Gelingen, menschlich gesprochen, der Erfolg der Verkündigung ebenso abhängig ist als wie von der ,reinen Lehre'." 129
Kennzeichen der eristischen Theologie im Unterschied zur dogmatischen gewertet wissen, daß sie mehr auf den konkreten Menschen und seine Widerstände eingeht, daß sie „mehr ad hominem redet", daß sie zeitnäher und damit auch wirklichkeitsnäher ist als die Dogmatik! Zum Charakter echter theologischer Eristik gehört es, daß sie immer „hart am ,Feind' (!) bleibt", daß sie, weil sie sich mit ihm auseinandersetzt, in ihrem Stoff und in ihrer Art „viel beweglicher und ,weltlicher' sein muß als die Dogmatik". Der Eristiker kann es sich nicht leisten, in der Sprache der Dogmatik zu reden. Er will die Botschaft der eigenen Zeit sagen in denkerischer Auseinandersetzung mit ihr. Darum muß er „die Sprache der Welt und seiner Zeit kennen, er muß sogar selbst in ihr reden und darf nur indirekt, versteckt das Christliche sagen". Ja, in der Regel soll er es „gar nicht sagen, sondern es nur im Rücken haben und ständig vom Wissen um es begleitet sein, indem er den ,Feind' in den Engpaß treibt" 58 . bb) Die Vorbilder Brunner hat, wenn er die Aufgabe der Eristik und den Eristiker so beschreibt, vor allem das Vorbild Pascals und Kierkegaards vor Augen, und er macht kein Hehl daraus, daß er in ihnen die eigentlichen Lehrmeister für das Verständnis und die Bewältigung der anderen Aufgabe der Theologie sieht. Er würdigt sie als die großen Eristiker der Neuzeit, die den Gegner zur existentiellen Frage, d. h. zur Frage nach dem Verständnis des eigenen Lebens, zwingen und die den Angriff auf die dem christlichen Glauben entgegenstehenden Ideologien ihrer eigenen Zeit mit genialem Scharfblick vorgetragen haben59. Wenn Brunner in einer späteren Formulierung die eristische Theologie als „die denkerische Auseinandersetzung des christlichen Glaubens mit den der kirchlichen Botschaft entgegengesetzten Lehren und Ideologien der jeweiligen Gegenwart" defiA.a.O., S. 269 f. 272. Vgl. a.a.O., S. 260 f. 271. Brunner gibt später in D I, S. 107 f. einen knappen Überblick über die Geschichte der „Apologetik oder ,Eristik' ". Pascal und Kierkegaard sind ihm die eigentlichen Kronzeugen für die Art, wie er selbst Eristik treiben möchte. Sie werden immer wieder zur sachlichen und methodischen Rechtfertigung seines Programms angeführt. Pascals Pensées sind ihm das glänzendste Beispiel und unerreichte Vorbild der Auseinandersetzung mit dem gebildeten Unglauben, aufgebaut auf dem Gedanken der misère de l'homme sans Dieu. Brunner greift gerade diesen Gesichtspunkt des menschlichen Widerspruchs auf, den Pascal als Elend und als Größe des Menschen beschreibt: daß wir ein Bild der Wahrheit in uns tragen und doch nicht in der Wahrheit sind (vgl. MiW, S. 171. 195. 203. 438, wo er ausdrücklich auf Fr. 443. 409. 418. 170. 171. 434. 72 hinweist. Zur Deutung Pascals vgl. P. Brunner, Pascals Anschauung vom Menschen, in: Imago Dei, Festschrift für G.Krüger, 1932, S. 111— 146). — Brunner sieht die Größe des Eristikers darin, daß er sich nicht schlechthin auf den Boden seines Gegenübers stellt, sondern dieses zwingt, „die Frage so zu stellen, wie sie vom christlichen Glauben aus gestellt werden muß und vom Boden der Vernunft aus wenigstens als Frage gestellt werden kann" (Aufg, S. 260). 58
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niert 60 , dann ist auch hier noch die Beziehung auf diese geschichtlichen Vorbilder deutlich. Pascal baut seine Apologie auf dem Gedanken der misère de l'homme auf, Kierkegaard analog auf dem Gedanken des Widerspruchs mit sich selbst oder der Verzweiflung. Damit sind entscheidende Ansatzpunkte der theologischen Eristik bezeichnet, wenn sie auch im einzelnen neu zu durchdenken sind. Kierkegaard hat nach Brunners Urteil auf protestantischem Boden im Durchdenken dieses Sachverhalts Pionierarbeit geleistet. Kein anderer Denker hat wie er „mit solcher Klarheit und Intensität den Gegensatz zwischen dem christlichen Glauben und allen .immanenten' Denkmöglichkeiten herausgearbeitet". E r ist gewiß kein Dogmatiker 61 , aber er ist darum noch nicht als Nichttheologe anzusehen, sondern eben als „theologischer Eristiker, wie die Kirche kaum je einen zweiten gehabt hat". Sein Werk zeige den Wert einer wahrhaft eristischen Theologie, die noch immer darauf warte, als theologische Aufgabe erkannt und in Angriff genommen zu werden 82 . cc) Eristik und Apologetik Angesichts dieser Orts- und Aufgabenbestimmung der Eristik überrascht es zunächst, daß Brunner sich gleichzeitig leidenschaftlich gegen die kirchliche Apologetik ausspricht. Er will auf keinen Fall sein Unternehmen im Zusammenhang einer Apologetik sehen, die nach einem Wort Kierkegaards einem zweiten Verrat an Christus gleichkommt und deren D I, S. 107. Der in diesem Zusammenhang spürbar werdenden Reserve gegenüber der dogmatischen Arbeit, die als Ausbau der reinen Lehre, als Versuchung zum bloß theoretischen, zeitfremden Denken einen negativen Akzent erhält, steht eine in dieser Form kaum noch sachlich zu nennende Betonung des Wertes der Eristik gegenüber: „Wenn einmal die Bilanz gemacht wird über die Frucht menschlichen Lehrens in der Kirche, dann wird das, was ein Pascal in seinen ,Pensées' an Hilfe zum Gläubigwerden geleistet hat, das meiste, was im Namen kirchlicher Dogmatik getan wurde, bei weitem überstrahlen. Und ebenso ist mir nicht zweifelhaft, daß die missionarische Theologie eines Kierkegaards im letzten Jahrhundert mehr getan hat als irgendein Dogmatiker, vielleicht mehr als sie alle miteinander" (D I, S. 111). 8 2 D I, S. 108; Aufg, S. 271. Gegen die Inanspruchnahme Kierkegaards für ein derartiges Programm der Eristik meldete H. Diem schärfsten Protest an: „Das ist nicht mehr der Kierkegaard, der vor 10 Jahren hinter Barths Römerbrief stand und damals nodi gelesen wurde. Heute muß Kierkegaard schon beim Wiederaufbau helfen und bei einer neuen Art von Apologetik Pate stehen, die sich von der alten, so sehr verpönten, nur dadurch unterscheidet, daß sie aus einer stärkeren Position heraus und deshalb sicherer reden zu dürfen glaubt, in Wahrheit aber bloß hinterlistiger ist." Brunners „existentielles Denken" sei „nicht nur keine legitime Fortsetzung von Kierkegaards Werk, sondern umgekehrt ein Versuch, alle Beziehungen und Abgrenzungen zwischen Denken und Existieren, wie Kierkegaard sie gegen die Spekulation herausgearbeitet hat, wieder von Grund aus zu verwischen und alle dialektischen Bemühungen Kierkegaards illusorisch zu machen" (Zur Psychologie der Kierkegaard-Renaissance, in: ZZ 10 1932, S. 217 f. 224). 60
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Schwächen Overbeck so treffsicher gegeißelt und mit Hohn und Spott überschüttet hat, so daß der Begriff einer apologetischen Theologie nur noch im Sinn einer theologischen Disqualifikation verwendbar schien63. Kein Wunder, daß Brunner hier zurückschreckte und daß eine Theologie, der es darum ging, wirkliche Theologie zu sein, die Apologetik als eine Entartung der theologischen Aufgabe bekämpfte, sofern sie sich lediglich als kläglicher Versuch einer Selbstrechtfertigung des geschichtlichen Christentums vor einer skeptisch gewordenen Welt erwies, als Anpassung an das jeweilige Weltwissen, um sich so der Weisheit der Welt zu empfehlen und die eigene Stellung möglichst zu halten. Apologetik als Rechtfertigung des Glaubens vor dem Gerichtshof der Vernunft, als Unterwerfung der Offenbarung unter ein System der Vernunft, als Buhlen der Theologie um die Gunst einer sich als mündig verstehenden Welt unter Preisgabe des Skandalons des Glaubens — das wollte Brunner gerade nicht. Sein Programm der Eristik bedeutet nicht Kapitulation des Glaubens vor einer so oder so bestimmten Vernunft, sondern Angriff auf die Vernunft in ihrer Eigenmächtigkeit und Selbstverschlossenheit, ein In-dieEnge-Treiben der Vernunft, so daß sie schließlich kapitulieren muß und sich befreien läßt zur Offenheit des Glaubens. Um den Gegensatz deutlich zu machen, der zwischen dieser Eristik und einer verweltlichten, kompromißbereiten Apologetik besteht, die das Vertrauen in ihre eigene Sache verloren hat, hatte Brunner ja schon früher dies als die einzig mögliche Form einer christlichen Apologetik bezeichnet, daß in ihr das Vernunftsystem in die Offenbarung hineingenommen werde. So verständlich also die Abgrenzung gegenüber der üblichen Apologetik ist, die sich für Brunner prinzipiell mit dem Namen Schleiermachers verbindet 64 — ganz überzeugend erscheint sie dennoch nicht. War nicht auch Schleiermacher in gewissem Sinn Eristiker? Und wenn er bei dem Versuch, den Glauben im Denken seiner Zeit zu wagen, den Weg zwischen der Scylla einer erstarrten Orthodoxie und der Charybdis der modernen Weltanschauung nicht gehen konnte, ohne dieser seinen Tribut zu zollen — ist der theologische Eristiker, wie Brunner ihn fordert, auf seinem Weg dieser Gefahr nicht ausgesetzt? Er entgeht ihr zwar per definitionem 83
Fr. Overbeck in: Uber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie; vgl. die beiden Kapitel „Verhältnis der Theologie zum Christentum überhaupt" und „Die apologetische Theologie der Gegenwart". Zur Situation der Apologetik zu diesem Zeitpunkt vgl. F. K. Schumann, Neue Wege der Apologetik?, in: ThR N F 1 1929, S. 289ff. 84 Vermutlich ist dies audi der Grund, weshalb Brunner den Begriff der polemischen Theologie durch den der Eristik ersetzte. Er wollte den Anklang an Schleiermachers grundlegende Bestimmung der Apologetik und Polemik als Disziplinen der philosophischen Theologie vermeiden. Dies hätte die Begriffsverwirrung auch nur vergrößert, denn die Polemik richtet sich nach Sdileiermachers Definition nur nach innen (KD 2 § 4 1 ; KD 1 , S. 20 § 5 ) . Andererseits enthält Brunners Verständnis der Eristik durchaus Elemente, die Schleiermacher der Apologetik subsumiert. 132
und solange die Aufgabe lediglich postuliert wird. Aber kann er ihr entgehen, wenn er sich auf die Stimme der Vernunft wirklich einläßt, wenn er das Denken so ernst nimmt, wie es in einem ernsthaften eristischen Dialog genommen sein will, wenn es also nicht nur zu einer hypothetischen, sondern zur wirklichen Eristik kommen soll? So prinzipiell, wie Brunner es wahrhaben möchte, kann also der Unterschied zwischen dieser Eristik und dieser Apologetik wohl doch nicht sein, auch nicht in der Intention e5. Auch Pascal ging es um das Problem einer Vertretung des christlichen Glaubens vor der menschlichen Vernunft. Audi er faßte ihn als eine dem Menschen notwendige Lebensform auf. Auch er suchte das Christentum vom Standpunkt des Menschen aus zu verteidigen und nahm daher seinen Ausgangspunkt in der menschlichen Situation. Es ist unverkennbar, daß Brunner von Overbecks Kritik der Apologetik beeindruckt ist und sich dessen Urteil über Pascal als „den größten Apologeten des Christentums in der Neuzeit" zu eigen macht ββ . Konnte es ihm dabei entgehen, daß Overbecks Kritik prinzipiell aller Apologetik das Urteil spricht — auch der Pascals (und also auch der Eristik Brunners!)? Denn das Lob Pascals steht innerhalb einer Klammer, die als solche ein negatives Vorzeichen bekommt. Pascal ist ihm nicht nur der Höhepunkt aller christlichen Apologetik, sondern zugleich das überzeugendste Dokument ihres Scheiterns! Pascal arbeitet sich nach Overbecks Urteil als Apologet des Christentums „an einem hoffnungslosen Problem" ab. Er versteht, „in wahrhaft großartiger Weise in seinen Pensées das Christentum als die Lösung des Welträtsels erscheinen zu lassen" — aber nur, weil er das Lebensrätsel, wie es im Christentum anschaulich wird, „von dorther ins Leben legte und nun natürlich im Christentum gelöst fand. Insofern läuft Pascals Apologie auf ein Kunststück sophistischer Rhetorik hinaus und ist nicht mehr wert als die übrigen apologetischen Versuche, die das Christentum veranlaßt hat!" 67 Soweit das Urteil Overbecks. Auch wenn man geneigt ist, in dieser Beurteilung Pascals nur das Vorurteil des Agnostikers zu sehen — ein lehrreiches Beispiel, wie die Vernunft versuchen kann, sich dem eristischen „Zwingen" zu entziehen, bleibt es auf jeden Fall. Und so mußte Brunner durch diese Stimme davor gewarnt 65 Der prinzipielle Unterschied liegt vielmehr in der Bestimmung der ersten Aufgabe der Theologie. D a ß die zweite Aufgabe von daher determiniert ist, liegt auf der Hand. Aber gerade diesen Gesichtspunkt läßt Brunner nicht zur Entfaltung kommen, indem er auf die Selbständigkeit der zweiten Aufgabe alles Gewicht legt und die Eristik sogar als Prolegomena der Dogmatik verstehen möchte. 68 Vgl. Overbecks Bemerkungen über Pascal, a.a.O., S. 45 ff. 67 Fr. Overbeck, in: Christentum und Kultur, S. 126ff. Als Gegenstück zu den emphatischen Äußerungen Brunners über die Wirkung Pascals sei Overbecks Urteil angeführt: „Pascals Uberzeugungskraft ist verblüffend, doch liegt darin auch ihre bedenkliche Schwäche. Er überwältigt seinen Leser, der trotzdem kopfschüttelnd von dannen g e h t . . . er kann eben so viele Menschen dem Christentum zutreiben, als davon abschrecken . . . " (a.a.O., S. 128).
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sein, das Programm der anderen Aufgabe der Theologie mit allzu großem Pathos zu verbinden. Er mußte sich ernsthaft fragen, ob und inwiefern das Programm der Eristik etwas anderes ist als Apologetik, ob es gelingen kann, sich so eng neben der Apologetik anzusiedeln und doch zu behaupten, man befinde sich in einer ganz anderen Wohnung, und ob die Rechtfertigung der Eristik noch möglich ist, wenn man Overbecks Kritik prinzipiell anerkennt. Barth hat darum auch nicht gezögert, ihm die peinliche Frage zu stellen, ob er die alte Apologetik nicht schlechter mache, als sie war, „um nur ja von ihr abrücken zu können", und ob es in seinem Fall nicht klärender wäre, sich ohne falsche Scham ruhig auch zum Begriff der Apologetik wieder zu bekennen 68 . In der Tat ist Brunner sich von Anfang an darüber im klaren gewesen, daß die Doppelaufgabe, wie er sie beschrieb, durchaus unter den Begriff der apologetischen Theologie einzuordnen ist, wenn man diese recht versteht: nicht als Verteidigung, sondern als Angriff auf den Menschen. So erklärt sich der scheinbare Widerspruch, daß er einerseits „Wort und Sache" der apologetischen Bemühung endgültig den Abschied geben möchte, d. h. einer Apologetik, die vor der Vernunft kapituliert und nur noch Selbstrechtfertigung ist, daß er aber andererseits nicht umhin kann festzustellen: „Jedoch jene Aufgabe b l e i b t . . . " ! Die Aufgabe des Eingehens auf den Widerspruch des Denkens gegenüber dem Glauben bekommt auf dem Grund einer dialektischen Theologie, die prinzipiell davon ausgeht, daß der Mensch vor Gott immer Unrecht hat, allerdings „einen neuen Sinn" 6 9 . Hier kann es nicht mehr um Selbstrechtfertigung gehen, um heimlichen oder aufdringlichen Pharisäismus, denn die Nichtglaubenden wie die Glaubenden bleiben immer die vom Wort Gottes Angegriffenen. Die eristisch-apologetische Auseinandersetzung darf also niemals jene „verräterische Defensivhaltung" annehmen. Sie hat ihre Norm darin, daß nicht die Vernunft das Wort Gottes in die Schranken fordert, sondern das Wort Gottes die Vernunft. dd) Das Kriterium der eristischen Aufgabe Aber gerät nicht auch diese Aufgabenstellung von vornherein in ein Dilemma, in dem sie letztlich zum Scheitern verurteilt ist? Der Eristiker darf sich nicht auf den „Boden der Vernunft" stellen — das wäre Verrat am Evangelium. Als Mensch könnte er sich dort ohne weiteres hinstellen, ja, dort steht er auch stets als der Mensch, der vor Gott immer Unrecht « 8 Vgl. K D I, 1, S. 25 f. Aufg, S. 258. Es ist für die Sachlage bezeichnend, daß Brunner später die Konsequenzen zieht und unbefangen von der „Apologetik oder Eristik" spricht (vgl. D I, S. 107; OuV, S. 24 ff.). Brunner glaubt, mit dem Hinweis auf die Intention der dialektischen Theologie der Kritik Overbecks entronnen zu sein, ein offenkundiges Mißverständnis. ω
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hat. Steht er aber dort nicht audi als Eristiker, indem er der Vernunft zu zeigen versucht, wie sie wirklich ist? Muß er, wenn er das will, nicht dort stehen, und zwar nicht nur zum Schein, nicht nur, indem er lediglich so tut, als ließe er sich auf die Vernunft ein? Und führt dies dann, gerade wenn er Aussicht auf Erfolg haben möchte, nicht zwangsläufig zu einer Rationalisierung des Widerspruchs der Existenz wie audi des Glaubensgeschehens? Eine neue Reihe von Fragen schließt sich an: Wenn er sich auf diesen Boden stellt und sich so auf die Vernunft einläßt, steht er dann noch im Gehorsam des Glaubens, in der genuinen Bewegung, die die Vernunft in die Schranken fordert? Wo also steht er eigentlich als Eristiker? Kann er sich bei seinem Unternehmen, wie es gefordert ist, auf den „Boden des Glaubens" stellen? So selbstverständlich dies die Voraussetzung jeder theologischen Aussage ist, daß sie aus dem Grund des Glaubens hervorgehen und auf das Ziel des Glaubens gerichtet sein muß — kann man das Vom-Glauben-her-Reden so zu einem Standpunkt und zu einer wahrnehmbaren Aufgabe machen, wie es hier als Niederringen und Befreien der Vernunft gefordert ist? Muß das ganze Unternehmen nicht doppelt aussichtslos genannt werden, sowohl im Hinblick auf die Wirklichkeit des Glaubens, der sich nicht einfach geltend machen, anwenden, verifizieren läßt, als auch im Hinblick auf die Wirklichkeit der Vernunft, die sich auf ihrem Boden nicht überzeugen läßt? Brunner hat um dieses Dilemma gewußt. Er wertet es jedoch keineswegs als prinzipiellen Einwand gegen das, was er die „andere Aufgabe" der Theologie nannte. Für ihn handelt es sich hierbei nur um ein scheinbares Dilemma. Denn der Knoten, der sich hier schürzt, ist ja in jedem Akt der Verkündigung als die unmögliche Möglichkeit dessen, was da geschieht, vorhanden — und er löst sich dennoch gerade im Akt der Verkündigung 70 . Die hier geforderte Auseinandersetzung geschieht im Gehorsam des Glaubens. Sie ist „ein Moment des wunderbaren Glaubensgeschehens selbst". Und „rechte eristische Theologie nimmt darum Teil an jenem Geschehen, das wir gewöhnlich nur der Predigt zuerkennen" 71 . Mit diesem Hinweis auf die Verkündigungswirklichkeit gibt Brunner zweifellos den entscheidenden Wink für das Verständnis der „anderen" Aufgabe. Und man wird sich daher immer wieder auf dieses Kriterium des Verkündigungsgeschehens beziehen müssen, wenn man seinem Anliegen gerecht werden will. Ohne diese innere Koordination der anderen Aufgabe mit der Aufgabe der Predigt läßt sich das Recht und die Grenze der Fragestellung Brunners überhaupt nicht verstehen und würdigen. Mag sich auch bisweilen der Eindruck aufdrängen, daß er selbst dieses Kriterium nicht mit der nötigen Konsequenz geltend gemacht hat, daß es ihm erst in der Verteidigung seiner Position zum entscheidenden Argu'» Aufg, S. 260. 71 Aufg, S. 269. 135
ment wurde, während er in der Ausarbeitung seines Programms ganz andere Wege ging, so ist darin doch nur eine zu MißVerständnissen und zur Kritik Anlaß gebende Schwäche der Durchführung zu sehen, nicht aber der Hinweis auf einen ganz anderen Ausgangs- oder Zielpunkt seiner Überlegungen. Brunner wollte mit seiner Bestimmung der anderen Aufgabe der Theologie nicht eine sekundäre oder tertiäre Aufgabe aufzeigen, die man, solange es um die Hauptsache geht, getrost anstehen lassen kann, sondern eine unlösbar mit der ersten Aufgabe verbundene: Der gemeinsame Beziehungspunkt ist der Akt der Wortverkündigung. Hier ist beides in seiner Einheit da — das Verkündigen der Botschaft im Ringen mit dem Widerspruch des Hörers. Echte Predigt ist immer dogmatisch, denn sie verkündigt das Wort, das der Mensch sich nicht selbst sagen kann, das er hören muß. Aber echte Predigt ist audi immer eristisch, denn sie sagt das Wort dem Menschen, den sie vor sich hat. „Sie geht auf ihn ein und holt ihn aus seinem Versteck hervor. Sie beleuchtet ihn und seine Illusionen mit ihrem unerbittlichen Scheinwerfer. Tut sie das nicht, so ist sie schlecht, und wenn sie tausendmal,reine Lehre' böte." 72 Diese Orientierung am Predigtgeschehen als der eigentlichen Ursprungssituation seiner Fragestellung ist also nicht ein erst nachträglich beigebrachtes Argument, sondern der übergeordnete Gesichtspunkt. Sie ist als solcher auch nicht nur der mehr oder weniger zufällige Reflex der Tatsache, daß die ordentliche Professur, die Brunner seit 1924 in Zürich innehatte, ihm sowohl einen Lehrauftrag für systematische wie für praktische Theologie übertrug. Das hieße, den prinzipiellen theologischen Rang dieser Aufgabe verkennen. Es geht ihm eben nicht nur, wie viele den Sachverhalt miß verstanden, um eine so oder so zu entscheidende Methodenfrage, sondern um eine schon im Ansatz der Verkündigung mitgegebene und darum prinzipiell zu bedenkende theologische Aufgabe, die zwar sachlich die 72 Aufg, S. 258 f. 275; vgl. S. 259: „Der rechte Prediger sucht das denkende Herz des Hörers in den Engpaß zu treiben, w o es nur noch zwei Möglichkeiten gibt: das leere, verzweifelt-trotzige Neinsagen der an die Wand gedrückten Vernunft, oder das Eingehen durch die enge Pforte des Glaubens." H. Diems kritische Frage, w o denn bei diesem Vorgang das Wirken des Heiligen Geistes einsetze, das dodi den Glauben schafft, und sein scharfes Urteil, daß hier das Ärgernis ausfalle, daß diese Art „existentiellen" Denkens in einer viel gefährlicheren Weise theozentrisch geworden sei als Hegels „reines Denken" (ZZ 10 1932, S . 2 2 5 f . ) , wird von Brunner wiederum durch den Hinweis auf das wirkliche Predigtgeschehen beantwortet: „Der Prediger tut tatsächlich — wenn er seine Sache irgendwie redit macht — nichts anderes, als das, was Pascal zum Motto seiner Eristik gemadit hat: Er zeigt dem Menschen die misère de l'homme sans dieu, um ihn dadurch empfänglich zu machen für die Botschaft vom Leben und der Freude in Christus. Das kann er und soll er; aber das Gelingen ist einzig und allein Sache des heiligen Geistes. Er allein kann diesen ,homiletischen Beweisen', in denen, nochmals, alle redite Predigt jederzeit bestanden hat, das Verständnis und die Überzeugungskraft geben, die zum Glauben führt" (in: Ankn, ZZ 10 1932, S. 517 Anm. 8).
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dogmatische voraussetzt, die aber zugleich mit ihr gegeben ist und im Blick auf die Verkündigung nicht als zweitrangig angesehen werden darf. Es geht letztlich um die Frage, wer der Mensch eigentlich ist, den das zu verkündigende Wort, weil und indem es ihn ansprechen will, voraussetzt, d. h. um die Frage nach der Situation, in der der Adressat des Wortes ihm in seiner Verschlossenheit oder Aufgeschlossenheit gegenübersteht. Es geht also um die Situations- und Ortsbestimmung des Wortes Gottes in seinem Zum-Ziel-Kommen, oder, wie man ebensogut sagen könnte, um die Ortsbestimmung des Menschen im Hörbereich des Wortes Gottes. Der Ort des Wortes Gottes ist ja der Mensch. Die Frage nach dem Ort des Menschen hat also einen doppelten Aspekt. Sie stellt sich als Auslegung des Wortes, das dem Menschen seinen Ort anweist. Und sie stellt sich als Auslegung des Menschen, wie er sich selbt an seinem Ort versteht. Beide Aspekte müssen in ihrer gegenseitigen Bezogenheit gesehen werden. Nur in ihrem Miteinander wird die Frage nach dem Menschen richtig formuliert. ee) Eristik als Anknüpfung Brunner hat sich, wie wir sahen, schon früher um die Bestimmung dieses Ortes bemüht, an dem es zum Glauben kommt in der Zuwendung Gottes zum Menschen und in der Selbsterkenntnis des Menschen vor Gott. Und er hatte diesen Versuch der Ortsbestimmung in aller Unbefangenheit bereits als Frage nach dem Anknüpfungspunkt definiert. Es kann daher nicht mehr überraschen, wenn er diesen Begriff bei der Verständigung über die andere Aufgabe der Theologie erneut aufgreift und in den Mittelpunkt rückt. Jetzt kommt es ihm vor allem darauf an, die menschliche Verstehenssituation im Zusammenhang der Aufgabe der Eristik zu verdeutlichen. Damit wird nun allerdings das Problem der Anknüpfung in besonderer Weise akut. Denn die Aufgabe der Eristik ist gar nicht denkbar ohne die Möglichkeit der Anknüpfung. Sie ist geradezu zu definieren als die Notwendigkeit der Anknüpfung! DerEristiker soll ad hominem reden. Er soll das menschliche Selbstverständnis zur Auseinandersetzung mit dem Worte Gottes nötigen. Er muß also ständig darauf bedacht sein, den Punkt zu treffen, an dem es zu dieser Auseinandersetzung kommen kann. Brunner verweist wiederum auf Pascal und Kierkegaard. Diese Eristiker haben „mit genialem Instinkt an dem Punkt eingesetzt, der in der Tat der Anknüpfungspunkt der göttlichen Botschaft im Menschen ist: die menschliche Frage nach Gott"73. Hier, in seiner eigenen Frage nach Gott, oder noch vorsichtiger formuliert, in seinem Infragegestelltsein, das als Hinweis auf die ihn angehende Wirklichkeit Gottes interpretierbar ist, ist der Ansatzpunkt bezeichnet, bei dem das Wort Gottes den Menschen behaftet. 73
Aufg, S. 261 f.
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Brunner ist sich bewußt, daß diese Fragestellung Gefahren heraufbeschwört, daß sie leicht verwechselt werden könnte mit irgendeiner Form des Pelagianismus 7 4 . Aber sowenig er diesen Weg beschreiten möchte, sosehr liegt ihm an der klärenden Feststellung, daß der Fehler der pelagianisierenden synergistischen Theologie nicht darin besteht, „daß sie einen Anknüpfungspunkt für das göttliche Wort im Menschen sucht", sondern wie und wo sie ihn sucht, nämlich „im Positiven statt im Negativen" 7 5 . Das Vorhandensein eines Anknüpfungspunktes überhaupt zu leugnen oder außer acht zu lassen, erscheint ihm als „im höchsten Grad unsinnig und unbiblisch". Es widerspräche „dem einhelligen Zeugnis der Erfahrung, der Bibel und aller klassischen christlichen Theologie". Das ist freilich noch ein allzu pauschales kategorisches Urteil und eine etwas verwunderliche Selbstverständlichkeit, mit der hier Bibel, Theologie und Erfahrung in einem Atem genannt und zu Kronzeugen für die eigene Fragestellung erklärt werden. Aber entscheidend ist auch hier der Hinweis auf das Verkündigungsgeschehen: Ist nicht das Evangelium selbst der unverdächtigste Zeuge für diese Art Anknüpfung? Wendet es sich an einen Menschen, der von Gott überhaupt nichts weiß, oder setzt es nicht vielmehr immer ein Wissen um Gott voraus, gerade indem es dieses als ein Nichtwissen, als ein Nichtrechtwissen oder als ein nicht heilvolles Wissen beurteilt? Wenn Brunner so fragt, dann will er nicht die Dialektik bis zur Absurdität treiben, sondern er möchte auf einen Sachverhalt aufmerksam machen, der nur in seiner Dialektik recht zu verstehen ist. Diese negative Qualifikation bedeutet ja keineswegs, daß es hier nichts zu beachten gäbe. Sie zeigt im Gegenteil, daß audi das fragwürdige Wissen des Menschen um Gott für das Verstehen des Evangeliums von Bedeutung ist; denn könnte der Mensch nicht nach Gott fragen, dann „wäre er für das Wort Gottes unerreichbar. Für das Tier gibt es kein Wort Gottes." Und müßte er nicht nach Gott fragen, dann brauchte er keine Erlösung. Das W o r t Gottes selbst setzt darum als Anrede, als Gericht, als Verheißung und als Erfüllung immer dieses fragwürdige Wissen im Leben, im Sichverstehen des Menschen voraus. Eben „diese Fragwürdigkeit ist der Anknüpfungspunkt" 7 ", d.h. der Zwiespalt, der die Existenz des Menschen nun einmal kennzeichnet, ist schon der Ausdruck dafür, daß er im H ö r 7 4 Der Synergismus ist „nicht etwa die notwendige Konsequenz der Anerkennung eines Anknüpfungspunktes, sondern die notwendige Konsequenz seiner falschen Bestimmung, nämlidi seiner Bestimmung vom Menschen, statt von Gottes Schöpfungsgnade her" (Aufg, S. 267 Anm. 6). 7 5 Aufg, S. 262. Brunner gesteht Ritsdil und Herrmann an dieser Stelle zu, daß sie etwas Richtiges gesehen haben, wenn sie bei der Bedürftigkeit des Menschen einsetzen. Der Fehler Ritschis sei jedoch, daß er das Bedürfnis zum konstitutiven Prinzip madie, der Fehler Herrmanns, daß er die Anknüpfung undialektisch-direkt verstehe (a.a.O., Anm. 2). 7 « Aufg, S. 262.
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bereich dieses Wortes existiert. Um dieser Zwiespältigkeit willen ist ja die göttliche Botschaft Verneinung und Bejahung, Angriff und Erfüllung, Frage und Antwort. Und um dieser Zwiespältigkeit willen ist sein Leben als solches Frage nach Gott, auch wenn er diese Frage nicht richtig artikuliert oder sie für sich selbst verneint. Die Frage nach Gott, wie sie hier von Brunner ins Auge gefaßt wird, muß also noch bei einem atheistischen Selbst- und Weltverständnis vorausgesetzt werden77. Die Existenz des Atheisten hält in ihrem Widerspruch diese Frage offen, auch wenn er sie in seinem Bewußtsein verdrängt, anders deutet oder für überwunden hält. Das ist ein für die Theorie der Verkündigung bedeutungsvoller Gesichtspunkt, der von Brunner zwar nicht in dieser Richtung entwickelt wird, der aber in dem Grundsatz seiner Anthropologie enthalten ist und für jede Verkündigungssituation gilt: daß das Menschsein identisch ist mit dem Bezogensein auf Gott, mit dem Inanspruchgenommensein durch Gott. Die Humanität bleibt also immer ein „theologisches" Phänomen78. Die Frage der Anknüpfung darf daher nicht nur vordergründig aufgefaßt werden, als ginge es hier lediglich um die Feststellung eines menschlichen fundus an Gottesbewußtsein, der durch das verkündigte Wort in Anspruch genommen werden könnte. Daß auch diese bisweilen peinlich wirkende Fragestellung damit verbunden ist, wird sich noch zeigen. Zunächst aber ist dies festzuhalten, daß es hier nicht nur um das so oder so entwickelte Selbstverständnis des Menschen geht, nicht nur um seine konkrete individuelle Bewußtseinslage, sondern um die Signatur seines Wesens als Bestimmtsein durch Gott. Nur weil der Mensch seiner „Konstitution" nach — nicht notwendig auch seinem Bewußtsein nach! — auf Gott bezogen ist, ist er Mensch. Und nur weil er Mensch ist, und nicht „truncus et lapis", fragt er nach Gott 79 . 77 Vgl. audi MiW, S. 93 f.: „So sehr ist die Vernunft auf das Vernehmen des Gotteswortes hin eingerichtet, so sehr ist ihr die Gottesbeziehung eingesenkt, daß sie audi in ihrer Gottlosigkeit nodi Gott denken muß — freilich einen Vernunftgott, der nicht der lebendige ist." 78 Vgl. die Erörterung des Humanitätsproblems oben S. 87 ff. Brunner nimmt diese Voraussetzung als entscheidenden Gesichtspunkt mit in die Diskussion um die Anknüpfung hinein. Die Gottbezogenheit kann nicht vom Mensdisein getrennt werden, da sie die Humanität überhaupt erst begründet: „Das Fragen nach Gott ist identisch mit der Humanität" (Aufg, S. 262). Darum ist die Gottbezogenheit gerade audi im Hinblick auf solche Phänomene auszusagen, in denen der Mensch in aller Profanität er selbst zu sein versucht: „daß er Mensch ist, daß er Kultur hat, daß er um Sinn sich müht, in Kunst und Wissenschaft, in Philosophie, Recht, Sittlichkeit und Religion, in welcher Gottesferne das audi immer geschehen mag: es ist dodi die Folge seiner Gottbezogenheit, der Gott entstammenden imago Dei" (a.a.O., S. 264). 79 Aufg, S. 263 f. Zu dem in der Diskussion häufig gebrauchten Bild vom „Klotz und Stein" vgl. Konkordienformel SD II, 19. 24.
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Nur wenn diese Grundvoraussetzung gilt, kann es überhaupt erst sinnvoll sein, nach einem Anknüpfungspunkt zu fragen. Es ist die Voraussetzung der Geschöpflichkeit des Menschen, die seine bleibende Gottbezogenheit konstituiert und die Frage nach Gott ermöglicht und fordert. Darauf zielt die Frage der Anknüpfung. Sie hat also nicht die Absicht, den Menschen an irgendeinem Punkt dem Gericht des Wortes Gottes zu entziehen, ihm ein Sein in der Wahrheit zu bescheinigen, das die Verkündigung der Wahrheit, wie sie im Christusgeschehen offenbar wird, entbehrlich macht. Sie ist als anthropologische Frage „theozentrisch" gemeint und immer schon falsch verstanden, wenn sie anders verstanden wird. Brunner versucht denn auch, dieses Mißverständnis von vornherein abzuwehren, indem er in einer allerdings auch wieder mißverständlichen Formulierung das Gottsuchen des Menschen auf die Schöpfungsgnade zurückführt und feststellt: „Darum ist der Anknüpfungspunkt' für Gott im Menschen nichts anderes als Gottes eigenes Schöpfungswerk." 80 Von daher wird es auch verständlich, weshalb für ihn der Hinweis auf die imago Dei in diesem Zusammenhang von so prinzipieller Bedeutung ist, daß er die Frage der Anknüpfung, wie überhaupt die theologische Anthropologie, aus ihr herzuleiten und an ihr zu orientieren versucht 81 : Sie soll gerade die Priorität der Gnade, des Handelns Gottes und damit die theologische Legitimität dieser Frage klarstellen, indem sie den Fragehorizont nicht einfach am empirischen Menschsein orientiert, sondern an der Voraussetzung dieses Menschseins, an Gott selbst. 80 Aufg, S. 267 Anm. 6, vgl. S. 273 : „ . . . das auch dem sündigen Menschen als Schöpfungsgnade verbliebene Gottesbewußtsein . . . " Mit dieser Argumentation nimmt er den Gedanken wieder auf, den er schon im Rahmen der Lehre vom Logos entwickelt hatte: Der Logos der Schöpfung, der Logos der Vernunft und der Ofienbarer-Logos stehen im gleichen Wahrheitszusammenhang. 81 Die eigentliche Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen wird erst in den späteren Schriften entfaltet, der imago-Begriff taucht jedoch schon früh bei Brunner auf (siehe oben S. 28. 61 f. 65. 86. 96 f. 110) und spielt auch im Zusammenhang dieses Aufsatzes bereits eine wichtige Rolle. Die Gottbezogenheit des Menschen, wie sie oben beschrieben wurde, ist eben .„die imago Dei, die durch keine Sünde einfach ausgetilgt ist". Brunner betont schon hier: „Wir dürfen um keinen Preis, um dem katholischen Semipelagianismus oder dem idealistischen Pelagianismus zu entgehen, die Irrlehre des Flacius wiederholen, daß die Erbsünde die Substanz der menschlichen N a t u r geworden sei, noch auch gewisse aus der Kampfsituation heraus verständliche Entgleisungen Luthers gegen einen absoluten Determinismus hin" (Aufg, S. 263 f.). Es kommt also alles auf das rechte Verständnis der imago Dei an. „Die Lehre von der imago Dei bestimmt das Schicksal jeder Theologie. Der ganze Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus hat hier seinen Ursprung. Werden wir hier dem Idealismus, der allgemeinen Offenbarung überhaupt nicht gerecht, so verzerren wir den Gedanken der Gnade ins Magische . . . Andererseits, räumen wir der allgemeinen Offenbarung und der auch durch die Sünde nicht zerstörten imago Dei zu viel ein, so fallen wir entweder in den katholischen oder gar in den idealistischen Pelagianismus. Die richtige Mitte ist die, daß der Mensch als solcher von Gott weiß, was der Sünder von ihm wissen kann" (a.a.O., Anm. 3).
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Dieses Verständnis, das die Qualifikation des Menschen zum Hören des Wortes begründen und doch zugleich begrenzen will, zeigt sich vielleicht am überzeugendsten in jenem Begriff, mit dem Brunner den Sachverhalt der Anknüpfung von Anfang an verdeutlicht: am Begriff der Ansprechbarkeit. Wir stießen auf diesen Begriff schon im Zusammenhang der früheren Überlegungen zur Metaphysik des Wortes. „Daß der Mensch das Wort hat", wurde dort bereits als Ursprung seiner Vernünftigkeit, als unzerstörte Gottebenbildlichkeit, als Voraussetzung des Angesprochenwerdens und des Vernehmenkönnens bestimmt. Dieses zum Menschsein gehörende „Worthaben", in dem er Sinn erfährt, Wahrheit erkennt, sich selbst versteht, qualifiziert ihn als Hörenden und setzt ihn darum auch dem Angesprochenwerden durch Gott aus. Denn Gott nimmt den Menschen, indem er ihn anspricht, beim Wort. Menschsein heißt eo ipso: ansprechbar sein — mag der einzelne Mensch sich nun als Idealist oder Naturalist, als Skeptiker oder als Glaubender bekennen. Ansprechbar „ist der Mensch auf diesem oder jenem Standpunkt, solang er noch Mensch ist". In dieser Ansprechbarkeit „besteht die Anknüpfung" — „nicht mehr soll damit gesagt sein" 82 . Brunner verwahrt sich auch hier gegen falsche Konsequenzen aus dieser Voraussetzung: „Es darf nun nicht durch irgendeine dialektische Kunst aus dieser Ansprechbarkeit mehr herausgeschlagen werden!" Denn im Blick auf den wirklichen Menschen entspricht seiner Ansprechbarkeit sein Angewiesensein auf das Wort der Gnade, über das er nicht verfügt. Brunner präzisiert die hier sichtbar werdende Grenze erneut als die Grenze des unverfügbaren Glaubens. Die hier vorausgesetzte und geforderte Anknüpfung wäre demnach völlig mißverstanden, wenn mit ihr ein natürlicher, vollziehbarer Ubergang vom in Anspruch genommenen Selbstverständnis des Menschen zum glaubenden Verstehen geschaffen werden sollte. Sie ist keine Methode, die den nichtglaubenden Menschen aus sich heraus auf den Weg des Glaubens bringt; sie ist nicht der säkularisierte Ersatz für das, was im Zeugnis des Glaubens allein dem unverrechenbaren Wirken des Heiligen Geistes zugesprochen wird; sie ist nicht der Versuch, die Möglichkeit des Glaubens innerhalb der Grenzen der Humanität zu verwirklichen. Ansprechbarkeit bedeutet in diesem Zusammenhang nicht: „Sie können hören. Es heißt bloß: Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Wort sich in ihnen Gehör verschafft. Das Hörenkönnen ist nicht ihre Qualität." Das wirkliche Hören, Verstehen, Glauben, Jasagen ist, wo es dazu kommt, „ganz allein Gottes Werk". Denn hier wird der Kreis der immanenten Möglichkeiten durchbrochen, in dem der Mensch als Sünder gefangen ist: „Das Jasagen ist selbst die Wirkung des Wortes, das in diesen Kreis, in die Vernunft82
Aufg, S. 267 f.
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einsamkeit des nur sich selbst hörenden Menschen eindringt, indem es ihn, wirklich, als Gottes eigenes Wort anspricht." 83 Was folgt aus dieser Sinngebung und Begrenzung der Frage nach dem Anknüpfungspunkt für das Verständnis der anderen Aufgabe der Theologie? Nimmt man die vorgetragene Interpretation mit ihren Kautelen ernst, so besteht wohl Anlaß zu der verwunderten Frage, warum diese Fragestellung überhaupt zu einem leidenschaftlichen theologischen Streit ausarten konnte. Handelt es sich hier nicht um das Bewußtmachen von Voraussetzungen, die sich als harmlose Selbstverständlichkeiten entpuppen, als „Banalität" 84 bzw. als Abstraktheiten, mit denen sich in der konkreten Auseinandersetzung nichts anfangen läßt? Wenn Brunner wirklich nur dies sagen wollte, daß der Mensch als Mensch nicht ohne Gott gedacht werden kann, daß die Verkündigung Ansprechbarkeit voraussetzt, das wirkliche Hören jedoch allein Gottes Tat bleibt, dann ist nicht leicht einzusehen, warum aus diesem Sachverhalt mit solchem Nachdruck ein Programm der Anknüpfung postuliert werden sollte. Will Brunner nicht doch eigentlich mehr oder etwas anderes sagen? Ist die Aufgabe der Eristik nur als Konsequenz dieser Überlegungen entworfen, oder sind die unmittelbar leitenden Motive doch anderer Art? Brunner hat selbst einiges dazu getan, zumindest diesen Verdacht zu wecken, und er hat den unglücklichen Verlauf der Diskussion damit zu einem nicht geringen Teil mit verursacht. Der Verdacht, daß er insgeheim doch noch ein ganz anderes Hörenkönnen des Menschen voraussetzt und methodisch fruchtbar machen möchte, wird durch manche unbedachte Formulierung genährt, vor allem aber durch ein auffälliges Pathos, das er mit dem Hinweis auf die andere Aufgabe verbindet. Auch wenn man den leidenschaftlichen Ton als Reaktion auf den erwarteten bzw. schon erfahrenen Widerspruch Barths wertet oder ganz einfach als Ausdruck der Uberzeugung Brunners, hier eine theologische Bresche für eine zu Unrecht vernachlässigte Aufgabe der Theologie schlagen zu müssen, es bleibt dodi ein befremdlicher, zwielichtiger Rest, der sich dieser Erklärung zu entziehen scheint. Die Dringlichkeit, mit der er die Eristik gerade jetzt in den Vordergrund rückt, findet ihre Erklärung ja nicht nur in der Tatsache, daß damit einem in der Verkündigung immer schon gegebenen Sachverhalt entsprochen werden soll, sondern es geht ihm dabei insbesondere auch um das Gebot der Stunde: um das Eingehen auf die besondere Situation des Menschen in der modernen Welt und um die damit gegebene besondere Herausforderung der Verkündigung. Die Botschaft der eigenen Zeit aus83
Aufg, S. 268. Vgl. Brunners Antwort an U. Gutersohn: „Banalität oder Irrlehre? Zum Problem der Anthropologie und des Anknüpfungspunktes." Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, 96. Jg. 1940, Nr. 17. 84
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zurichten — das bedeutet hic et nunc: sie dem Menschen nahebringen, der ihr weithin verständnislos, zweifelnd oder gar feindlich gegenübersteht. Der Kampf um diesen Menschen muß darum zunächst Dienst an diesem Menschen sein. Brunner nennt es geradezu eine Lieblosigkeit, wenn man ihm diesen nötigen Dienst nicht tut 8 5 . Worin besteht er? Er besteht, ganz allgemein gesprochen, darin, daß man dem heutigen Menschen, „der es durch die ganze Entwicklung des geistigen und kulturellen Lebens und obendrein durch die geringe Lebendigkeit der Kirche schwer genug hat, überhaupt ,irgend etwas zu glauben'", diesen Glauben nicht „noch schwerer macht, indem man die Brücken, die Gott dem sündigen Menschen zum Glauben hin gelassen hat, in falschem Eifer für die Ehre Gottes abbricht" 8e . Nirgends zeigt sich der Tendenzumschwung in Brunners Denkrichtung deutlicher als in dieser Formulierung. Während er in dem anfänglichen dialektischen Denkansatz gerade allen Wert auf die Feststellung des radikalen Brückenabbruchs legte — es kann keine Brücke vom sündigen Menschen zum Glauben, zu Gott geben —, kommt es ihm nun auf das Gewahrwerden und Respektieren der Brücken an, die dennoch da sind. Gott hat dem sündigen Menschen Brücken zum Glauben hin gelassen! Es soll hierbei gewiß nicht übersehen werden, daß das Bestehen dieser Brücken auch hier dem Menschen nicht so zugeschrieben wird, daß er selbst als Brückenbauer oder als einer, der von sich aus über diese Brücken zum Glauben kommt, erscheint. Aber was hat dann der Hinweis auf solche Brücken zu bedeuten, die offensichtlich dazu dienen, den Glauben „leichter" zu machen, und die jedenfalls in Anspruch genommen werden müssen, wenn es zum Glauben kommen soll? Besagt dieser Hinweis nur, daß es nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, daß der Mensch zum Glauben kommt, weil Gott ihn sich verbunden hat und ihn im Zeichen dieser Verbundenheit auch in seinem Widerspruch existieren läßt als ansprechbares Wesen? Will er nur daran erinnern, daß der Weg zu Gott als die eigentliche Zielprojektion über den Wegen des Menschen stehenbleibt? Oder setzt die Tatsache, daß es Brücken gibt, und die Aufforderung, sie zu benutzen, doch etwas anderes voraus, das seinen Sinn nur darin haben kann, die Geltung jenes Satzes einzuschränken: „Das Hörenkönnen ist nicht ihre Qualität"? Die Antwort auf diese Frage wird nur durch eine konkretere Bestimmung dieser Brücken und des Brückenhilfsdienstes des Eristikers gegeben werden können. Einige Möglichkeiten der Verdeutlichung gibt bereits die bisherige Erörterung der Aufgabe der Eristik an die Hand, vor allem den Hinweis auf das Verkündigungsgeschehen als Kriterium dessen, was hier gefordert wird. Dieses Kriterium soll offenbar auch hier in Geltung 85 86
Aufg, S. 273; vgl. auch Ankn, S. 532 Anm. 21, sowie N u G 2 , S. 43. Aufg, S. 273.
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bleiben. Denn das Urbild des Dienstes am Menschen, den Brunner hier fordert, ist für ihn ja die Art, wie Gott selbst mit dem Menschen umgeht: Er geht auf ihn ein, ja, er geht so auf ihn ein, daß er Mensch wird. Es ist „der herrliche Gedanke, der seit Irenaus in der großen christlichen Theologie immer lebendig war, daß die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, diese Kondeszendenz selbst ein pädagogischer Akt, der Akt der Herablassung auf unser Verständnisvermögen sei, den wir in unserer Haltung nachzuahmen haben" 87 . So bedeutsam dieser christologische Gesichtspunkt ist und sosehr sich von daher sofort die Frage nahelegt, was denn dieser Akt der Menschwerdung für das Menschsein bedeutet, wie er sich im Verkündigungsgeschehen und im Zum-Glauben-Kommen auswirkt, inwiefern er der menschlichen Nachahmung bedarf und fähig ist — Brunner scheint an dieser Stelle nicht daran interessiert, seine anthropologische Frage konsequent von diesem christologischen Ansatz her zu verfolgen. Das Christusgeschehen bleibt für sich. Es hat lediglich die Funktion des verpflichtenden Beispiels. Die andere Aufgabe als Frage des Eingehens auf das menschliche Verständnisvermögen wird damit nodi nicht der christologischen Verantwortung unterworfen. Sie ist ja auch primär bereits in der Geschöpflichkeit begründet und nicht erst in der Kondeszendenz Gottes in der Christusoffenbarung. Das will beachtet sein und darf nicht mit der christologischen Begründung der auszurichtenden Botschaft verwechselt werden. Worin aber besteht nun der sich am Beispiel Gottes orientierende Dienst am Menschen? Welches sind die Brücken, die gar nicht erst gebaut werden müssen, sondern die darauf warten, daß man sie in Anspruch nimmt? Brunner meint audi hier nichts anderes als das menschliche Wissen um Gott in all seiner Fragwürdigkeit, wie es ausgesprochen oder unausgesprochen die Existenz des Menschen bestimmt. Es ist theologisch illegitim und praktisch ein selbstverschuldetes Verkündigungshindernis, wenn man dieses Gottesbewußtsein bestreitet oder nicht beachtet88: „Damit verbauen wir uns nur selbst das Gehörtwerden, denn der, der ohne Christ zu sein Aufg, S. 273. „.. . es ist niemals zu rechtfertigen — und ganz besonders nicht in einer Zeit, wo alles Gottesbewußtsein schwindet (!) — das auch dem sündigen Menschen als Schöpfungsgnade verbliebene Gottesbewußtsein als nicht vorhanden oder nichts bedeutend zu behandeln" (Aufg, S. 273). Brunner scheint sich hier selbst zu widerlegen: wie kann das Gottesbewußtsein schwinden, wenn es als Schöpfungsgnade verblieben ist? Und wie kann man andererseits der Anknüpfung an das Gottesbewußtsein ein so prinzipielles Gewicht verleihen, wenn doch „alles Gottesbewußtsein schwindet"? Es handelt sich hier um eine ungenaue Formulierung. Der Widerspruch löst sich, wenn man unterscheidet zwischen der bleibenden Gottbezogenheit (in der der Mensch faktisch existiert und aus der sein Gottesbewußtsein hervorgeht) als einem unausgesprochenen, verdeckten Gottesbewußtsein, und dem bewußtgewordenen Gottesbewußtsein. 87
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etwas von Gott weiß, läßt sich nicht ausreden, daß er wirklich etwas von Gott wisse, und mag nicht auf die hören, die ihm das im Eifer für den christlichen Glauben einfach bestreiten. Er wird aber vielleicht auf uns hören, wenn wir an sein Gottesverständnis anknüpfen, ja wenn wir ihm zeigen, wie er auch im Zweifel, im Protest, im Haß gegen Gott aus seiner Gottbezogenheit schöpft."89 Was ist mit dieser doch, recht ungewissen Erwartung und mit diesem nicht eben zuversichtlich stimmenden Nachweis gewonnen? Was soll hier gewonnen werden? Brunner bezeichnet dieses Eingehen auf das Selbstverständnis und Verständnisvermögen des Hörers, der der Botschaft noch verständnislos gegenübersteht, als das propädeutische Moment innerhalb der Eristik. Man könnte audi sagen: Es handelt sich um ein das Verstehen des Glaubens erst vorbereitendes Verstehen. Denn in dieser eristischen Propädeutik geht es ja um das Durchbrechen der Mauer des Mißtrauens, des Mißverständnisses, der inneren und äußeren Glaubenshindernisse, die die Entscheidungsfrage des Glaubens gar nicht erst unverfälscht an den Menschen herankommen lassen, um all die menschlichen, nichttheologischen oder pseudotheologischen Faktoren, die das wirkliche Hören erschweren oder verhindern, aber auch um das Inanspruchnehmen des Vorverständnisses, wie es sich als Wissen um Gott artikuliert. Wenn es hierbei letztlich auch nur um das Ziel des Glaubens gehen kann, so ist das erklärte Ziel dieses Anknüpfens dodi zunächst dies, den Menschen als wirklichen Hörer zu gewinnen, den Weg zu bahnen, der als solcher nicht zum Glauben, sondern vor die wirkliche Glaubensentscheidung führt 90 . Daß die Bedeutung der propädeutischen Anknüpfung sich darin nicht erschöpft, weil die im Ereignis des Glaubens sich vollziehende Anknüpfung sich ja auf den gleichen Sachverhalt bezieht, dürfte ebenso deutlich sein wie die Grenze, die allem menschlichen Anknüpfen hier gesetzt ist91. Brunner 89
Ebenda. Ähnlich urteilt R. Roessler, a.a.O., S. 47; vgl. audi D I, S. 11Ö: (Eristische) „Missionarische Theologie räumt die Hindernisse aus dem Weg, die zwischen dem Evangelium und dem Hörer liegen — die Hindernisse nämlich, die der gedanklichen Reflexion zugänglich sind. 91 Strenggenommen bezieht sich die Grenze des Unverfügbaren nicht nur auf den Glauben, auf das Handeln Gottes in seinem qualitativen Unterschied zu allem menschlichen Handeln, sondern auch auf das menschliche Gegenüber, also audi auf den Versuch, den Menschen als wirklichen Hörer zu gewinnen. Diems Frage an Brunner, ob der ganze eristische Vorgang nicht ebenso unter der Voraussetzung des Heiligen Geistes begriffen werden müsse (a.a.O., S. 225 f., siehe oben S. 136 Anm. 72), weist auf die Problematik hin, die audi der begrenzten Zielsetzung der propädeutischen Eristik innewohnt. Brunner bejaht diese Frage, und er gesteht später auch in der Auseinandersetzung mit E. Sdilink zu: „Richtig ist, daß diese Bemühung an sich, ohne die besondere Mitwirkung des Heiligen Geistes, das nicht vermag, was sie soll: den Menschen unter Gottes Wort zu stellen." Aber darum sei diese Bemühung noch nicht sinnlos oder notwendig ergebnislos zu nennen, wie Schlink es tut, weil Gott sich des menschlichen Handelns als Instrument seines eigenen Handelns bediene (MiW, S. 547ff.). 90
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weist auf die Grenze pflichtschuldigst hin; aber sie scheint ihm jetzt zu einem selbstverständlichen letzten Vorbehalt geworden zu sein, der keiner besonderen Betonung bedarf. Der eigentliche Ton liegt ohne Zweifel auf dem eristischen Handeln, das den Menschen seine eigene Frage nach Gott verstehen lehrt, das ihm zeigt, daß er sich selbst nur im Glauben richtig verstehen kann, und das ihm die Offenbarung als Antwort auf die eigene Lebensfrage verständlich macht 92 . Diese eristische Theologie, die dem Menschen das Evangelium zunächst nur indirekt sagt, indem sie seine Illusionen zerstört und ihm zeigt, daß er eigentlich etwas ganz anderes sucht — sie ist das Gebot der Stunde. Sie ist „ungeheuer wichtig". Sie ist „wahrhaftig keine kleine, sondern eine ganz große Sache. Sie ist ,das bißchen Zimt', sie ist das Salz, ohne das auch jede korrekte Dogmatik faul wird." Sie ist das „dringlichste Erfordernis" in einer Situation, in der auch das richtigste christliche Reden der „ästhetisch-theoretischen Verseuchung des modernen Geistes zum Opfer fällt". Darum ist es „höchste Zeit", sich dieser Aufgabe wieder mit vollem Bewußtsein zuzuwenden 93 . ff) Kritische Würdigung Der eigentliche Impuls dieser gewiß emphatischen Äußerungen zielt, das dürfte deutlich geworden sein, nicht in die Richtung einer Aufwertung der menschlichen Möglichkeiten, zunächst auch nodi nicht in die Richtung einer Umformung der Botschaft durch eine kritische Neuinterpretation, sondern er drängt auf die Nähe zum Hörer, auf das Eingehen in seine Situation, auf die Begegnung mit ihm selbst, weil nur in solchem Nahekommen das Wort, das zum Glauben ruft, ihm als zugesprochenes Wort nahekommt. Dieses Ernstnehmen der menschlichen Situation als Aufforderung zum situationsgerechten Handeln geschieht um der Botschaft wie um des Menschen willen, der sie hören, verstehen, glauben soll. Es geht Brunner also nicht nur um das Problem der Verkündigung in der modernen Welt, da die Aufgabe, von der hier die Rede ist, jederzeit mit der Aufgabe der Verkündigung gegeben ist, zur Zeit des Apostels Paulus genauso wie in der Gegenwart. Aber es ist doch dieses zum Wesen der Verkündigung gehörende Moment der Gegenwärtigkeit, ihr Anspruch auf „Gegenwart", weil sie dem gegenwärtigen Menschen die Gegenwart Gottes bezeugen will, der ihm die Eristik als das dringlichste Erfordernis 62
Vgl. Aufg, S. 261 f.; Relph, S. 94. Aufg, S. 273 Anm. 7. 275; vgl. audi den ähnlich appellativen Schluß des Anknüpfungsaufsatzes: „In dem Maße als die moderne Welt heidnisch wird, hat die Kirche nicht nur in ihrer Predigt und in ihren Verkündigungsmethoden, sondern audi in ihrer Theologie die Konsequenzen zu ziehen und darf sich nicht mehr bei ihrer beinahe schon zur Fiktion gewordenen Anschauung, zu Christen zu reden, beruhigen." Sie muß der neuen Situation Rechnung tragen und den Menschen dort aufsuchen, „wo er steht". Eine Theologie, die das nicht tut, „ist hochmütig, lieblos und lebensfremd" (ZZ 10 1932, S. 532). 93
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in der Zuspitzung der Verstehenssituation in der modernen Welt erscheinen läßt. Wenn das christliche Reden von den Menschen vor den Toren der Kirche nicht mehr aufgenommen und verstanden wird, wenn die Theologie sich auf ihre eigenen Probleme zurückzieht und so Gefahr läuft, einem geistigen „Chinesentum" zu verfallen 94 , wenn die Verantwortung gegenüber der Botschaft nicht in der Begegnung mit der eigenen Gegenwart wahrgenommen wird, dann ist es „höchste Zeit", sich dieser Aufgabe mit vollem Bewußtsein zuzuwenden. Damit ist der innere Zusammenhang zwischen jener im Glaubensgeschehen immer vorausgesetzten Inanspruchnahme menschlichen Verstehens und dem programmatischen Hinweis auf die Aufgabe der Eristik unter Berufung auf die besondere Zeitsituation aufgewiesen. Allerdings wird man an Brunner die Frage richten müssen, ob er diese Aufgabe nicht überakzentuiert. Wird bei ihm die „andere" Aufgabe nicht doch unter der Hand zur wichtigsten Aufgabe der Theologie, vor der die „erste" Aufgabe faktisch zurücktreten muß ins zweite Glied? Erhält sie nicht ohnehin als Vorbereitung des glaubenden Verstehens unweigerlich den Charakter des Primären, des Grundlegenden? Man kann durchaus den Eindruck gewinnen, daß Brunner die Rangordnung in der Unterscheidung der beiden Aufgaben, wie er sie am Ausgangspunkt seiner Überlegungen noch als selbstverständlich voraussetzt, im weiteren Verlauf immer mehr aus den Augen verliert und schließlich in ihr Gegenteil verkehrt. Hieß es im „Mittler" ausdrücklich, daß die Auseinandersetzung mit der Zeitsituation, mit Philosophie und Religion „sicherlich nicht die erste und wichtigste Aufgabe der Theologie" sei95, so wird sie bald darauf immerhin als eine im Vergleich zur dogmatischen „nicht weniger wichtige" Aufgabe bezeichnet96. Die Tendenz der theologischen Rangerhöhung erreicht ihren Höhepunkt in der Identifikation der Eristik mit dem, was in der Theologie als Prolegomena, als Grundlegung der Dogmatik zur Sprache 94
Vgl. zu diesem Ausdruck neben Mi, S. 6 (Anm.) Aufg, S. 274: Die „Abwendung von der eristisdien Aufgabe der Theologie müßte mit der Zeit — und diese Zeit ist nahe — zu einem gefährlichen Chinesentum führen und den Zustand schaffen, daß zwar die zünftigen Theologen sich heftig über das extra Calvinisticum und das filioque ereifern, die ganze übrige Welt aber an diesen Gesprächen verständnislos und verächtlich vorübergeht". Die Theologie würde dann nicht mehr zum heutigen Mensdien reden. „Dieser Gefahr muß die dogmatische Theologie verfallen, wenn sie nicht die eristische neben sich hat" (Aufg, S. 275)! Die eristisdie Theologie soll also der dogmatischen zur Wirklichkeitsnähe verhelfen. 95
Mi, S. 6 Anm. 1. Aufg, S. 259. In dem Anknüpfungsaufsatz heißt es dann allerdings wieder unmißverständlich: „Wer sie zur ersten, grundlegenden Frage macht, hat schon das Evangelium an die Welt verraten. Sie kann niemals die erste, sondern nur die zweite Frage sein" (ZZ 10 1932, S. 505); vgl. auch „Die Christusbotschaft im Kampf mit den Religionen (1931), S. 20, sowie D I, Vorwort, S. IX. ββ
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kommt 97 . Damit ist der Eristik zweifellos ein theologischer Vor-Rang zugesprochen, der nach einer sachlichen Begründung verlangt, wie sie nur durch die präzise Bestimmung des Verhältnisses der Eristik zur dogmatischen Aufgabe gegeben werden kann. Gerade hier zeigt sich nun freilich die eigentliche Schwäche der Konzeption Brunners. Denn diese Verhältnisbestimmung bleibt durchaus unklar. So besteht zwischen der Ortsbestimmung der Eristik im Verkündigungsgeschehen, die ihre systematische Nachordnung gegenüber der dogmatischen „besinnlichen Darstellung" voraussetzt, und der Ortsbestimmung der Eristik im Zusammenhang der theologischen Wissenschaft, die zu ihrer systematischen Vorordnung vor die Dogmatik führt, eine auffallende Spannung. Sie macht deutlich, wie unausgeglichen und unsicher Brunners eigenes theologisches Urteil in dieser Frage noch ist und wie wenig es ihm gelingt, sie unter einem einheitlichen theologischen Gesichtspunkt zur Geltung zu bringen. Das Fehlen einer wirklichen systematischen Klärung des Verhältnisses der Eristik zur dogmatischen Aufgabe macht sich bereits in der Unterscheidung der beiden Aufgaben der Theologie verhängnisvoll bemerkbar. Zwar läßt Brunner keinen Zweifel daran, daß beide Aufgaben unlösbar miteinander verbunden sind, daß sie in der Verkündigung eine Einheit bilden als „zwei charakteristisch voneinander verschiedene, aber auf dieselbe Sache bezogene Vorgänge" 98 . Aber die Unterscheidung kann so, wie er sie vornimmt, kaum überzeugen. Die dogmatische Aufgabe läßt sich ja nicht gänzlich ohne das eristische Element und die eristische Aufgabe nicht ohne das dogmatische Element begreifen. Als ob es in der dogmatischen Besinnung in ihrem vordringlichen Bemühen um das „Die-Sache-Sagen" nicht auch wie in der Eristik um die Aufgabe des Verstehens ginge mit ihrer ganzen Problematik, um das eigene Hören wie um das ständige ImBlick-Haben des Menschen, dem die Sache gesagt werden soll. Audi sie 9 7 Bereits im Vorwort zum Mittler bezeichnet er seine „Religionsphilosophie", die ja die Aufgabe der Eristik wahrnimmt, als „Prolegomena" (a.a.O., S. V I I I ; vgl. Relph 2 , S. 8), und in seinem Eristikaufsatz betont er in einer kritischen Bemerkung gegen Barths Verständnis der Prolegomena: „innerhalb der Theologie selbst ist Eristik dasselbe wie Prolegomena" (Aufg, S. 274). Daß hier Anlaß zu stärksten theologischen Bedenken gegeben war, gibt Brunner später in seiner Dogmatik selbst zu in der wohl bedeutsamsten Revision seines Standpunktes. E r erkennt darin an, daß „die Auseinandersetzung mit dem nichtchristlichen Denken nicht die Basis und nicht der Ausgangspunkt für die Dogmatik selbst sein kann". Hier habe Barths Widerspruch seine Berechtigung gehabt. „Seine Opposition gegen die Eristik war darum wohl so lange nötig, als diese selbst sich zugleich als ,Grundlegung' der Dogmatik ausgab." Beide Aufgaben — die der theologischen Prolegomena und die der eristischen Auseinandersetzung — , an deren Identität er in seinen ersten Sdiriften geglaubt habe, müßten „säuberlich voneinander geschieden werden" (D I, S. 1 0 9 ; vgl. Vorwort S. I X , aber auch NuG, S. 21 f.; NuG 2 , S. 50 v.). 98
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Aufg., S. 259.
kommt also nicht daran vorbei, ad hominem zu reden, wenn sie ihrer Sache gerecht werden will Und ebenso kommt auch die eristische Theologie in ihrer polemischen wie in ihrer propädeutischen Ausrichtung nicht daran vorbei, die Sache selbst zu sagen, „über" sie zu reden, von ihr her und auf sie hin zu reden. Was sollte denn sonst der Inhalt ihres ad-hominem-Redens sein? Ihr geht es ja nicht nur um den allgemein offenbaren, sondern um den in Christus offenbaren Gott. Sie will in ihrem „weltlichen" Reden nicht irgendeine religionslose Verkündigung treiben, sich nicht im Eingehen auf das Selbstverständnis des Menschen verlieren, sondern sie will auch in ihrer indirekten Art Verkündigung Jesu Christi sein 100 . Das „Die-Sache-Sagen" und das „ad-hominem-Reden" läßt sich also nicht auseinanderreißen und prinzipiell auf zwei verschiedene theologische Unternehmungen verteilen. Nur eine abstrakte schematische Betrachtungsweise kann die beiden Aufgaben in dieser Weise voneinander scheiden. Brunner ist dieser Gefahr nicht ganz entgangen, sowohl in der merkwürdigen Befangenheit, mit der er die dogmatische Fragestellung einengt und hinter ihr gleich das Schreckgespenst einer sich in ledernen Definitionen erschöpfenden „reinen Lehre" auftauchen sieht, als auch in der nicht minder merkwürdigen Unbefangenheit, mit der er die eristische Aufgabe von der dogmatischen Fragestellung befreit 101 . Sie hat sie 9 9 Noch in seiner Dogmatik hält Brunner daran fest, daß „der Dogmatiker als solcher nicht tun soll und nicht tun k a n n " , was die eristische (missionarische) Theologie tut. „Seine Aufgabe ist streng Sach-bezogen, nicht Hörer-bezogen (!). E r hat genug damit zu tun, den Inhalt der Botschaft in ihrem eigenen Zusammenhang klarzumachen" ( D I, S. 109 f.). 1 0 0 O b sie das sdion ist, wenn sie „predigt, indem sie einfach den Menschen zur Besinnung ruft", wenn sie „ihm zunächst nur indirekt das Evangelium sagt, indem sie ihm seine Illusionen zerstört", wenn sie „sich darauf beschränkt, aus ihm das Geständnis der Unwahrheit herauszulocken" (Aufg, S. 275), muß allerdings bezweifelt werden. Dies wäre allenfalls Predigt des Gesetzes, die durch keine dialektische Kunst zu einer indirekten Predigt des Evangeliums gemacht werden kann. Verkündigung wird die Eristik überhaupt erst dadurch, daß sie dem Menschen „am W o r t Gottes" seinen Vernunftwahn aufdeckt und ihm seine Sinnerfüllung „im Wort Gottes" zeigt (vgl. Aufg, S. 257). Dem wird die spätere Definition besser gerecht: (Eristische)„Missionarische Theologie ist eine solche gedankliche Entfaltung des Evangeliums von Jesus Christus, die von der geistigen Situation des Hörers aus- und auf sie zugeht" ( D I, S. 110). 1 0 1 Brunner spricht später selbst von einem „leicht rationalistischen Anstrich" seines Aufsatzes über „Die andere Aufgabe der Theologie" ( N u G 2 , S. 50. v), und er sieht sich genötigt klarzustellen: die Eristik „hat keinen anderen Inhalt und keine andere Grundlage als die Dogmatik, aber die Darstellung der christlichen Lehren vollzieht sich hier unter Gesichtspunkten, die der eigentlichen Dogmatik fremd sind, nämlich in Auseinandersetzung mit ,dem Heidentum' . . . " . Sie setzt also „die dogmatische Anthropologie durchaus voraus", entwickelt sie aber „nach gewissen Seiten hin", „die außerhalb des Rahmens einer schlichten Dogmatik (!) fallen" (ebenda). In seiner Dogmatik spricht er dann von der doppelten Lehraufgabe, von denen die eine „nach innen, auf die Kirche selbst" gerichtet, die andere „nach außen, der ungläubigen oder zweifelnden W e l t " zugewandt sei ( D I, Vorwort S. I X , vgl. audi S. 109 f.). Nun bleibt auch die
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allenfalls „im Rücken", bzw. sie ist genötigt, mit „fertigen Begriffen" zu arbeiten. Wer gibt ihr dazu die Freiheit und das gute Gewissen? Demgegenüber wäre sehr wohl zu fragen, ob die sogenannte „andere" Aufgabe überhaupt eine andere Aufgabe sein kann! Ob sie nicht streng in ihrer inneren Einheit mit der ersten Aufgabe gesehen werden muß, so daß eine eigenständige Begründung unmöglich ist 102 . Der Sache, um die es geht, wäre wohl besser gedient gewesen, wenn Brunner nicht versucht hätte, sie als „die andere Aufgabe der Theologie" verständlich zu machen. Denn daß die Theologie im Vollzug ihrer einen Aufgabe hier in der Tat ihre Aufgabe hat, wird nicht gut bestritten werden können. Rangordnung der beiden Aufgaben nicht mehr zweifelhaft: „Mag in einer Zeit wie der unsrigen die zweite, die Auseinandersetzung und der Kampf mit der glaubenslosen und von falschen Ideologien erfüllten Menschheit als die dringlichere erscheinen, so ist dodi die erste zu allen Zeiten die grundlegende. Denn wie soll die Kirche ihrem missionarischen Auftrag in einer undiristlidien Welt gerecht werden, wenn sie sich nicht über den Inhalt ihrer Botschaft im klaren ist?" (D I, Vorwort S. I X . ) 102 Von einer eigentlichen eigenständigen Begründung kann man bei Brunner nach allem zuvor Gesagten freilich nicht reden. Der Hinweis auf die Einheit der beiden Aufgaben im Verkündigungsgeschehen widerlegt jede dahingehende Deutung (vgl. etwa Barth, K D I, 1, S. 29). Daß eine prinzipielle Scheidung gar nicht beabsichtigt ist, sondern nur eine Unterscheidung in dem, worauf der eigentliche Akzent der jeweiligen Aufgabe liegt, verrät sich audi in Brunners Formulierung: „Die eristische Theologie aber unterscheidet sich von der dogmatischen dadurch, daß sie mehr darauf acht hat, mit wem sie vom Glauben redet, daß sie mehr auf seine Widerstände . . . eingeht, insofern also mehr ad hominem r e d e t . . . " (Aufg, S. 269; von mir in Kursiv). Die Tendenz, die Selbständigkeit der anderen Aufgabe zu betonen, ist jedoch unverkennbar. Ähnlich urteilt R. Roessler: „Eine unter diesen Voraussetzungen vollzogene sachliche Trennung beider Aufgabenbereiche meinen wir bei Brunner jedoch nicht erkennen zu können. Gegen eine rein technische .Arbeitsteilung' aber (Aufg, S. 259) scheinen uns Barths Einwendungen nicht zwingend zu sein (a.a.O., S. 45 Anm. 4). Roessler übersieht die Problematik, die in dem Verständnis der beiden Aufgaben als einer „rein technisdien Arbeitsteilung" steckt. Eine solche Arbeitsteilung könnte man allenfalls in der Gal. 2 , 9 genannten Zuweisung verschiedener Arbeitsgebiete sehen („daß wir zu den Heiden, sie aber zu den Beschnittenen gehen sollten").
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IV. Das Problem der Anknüpfung — die Behauptung des Gegensatzes zu K. Barth A) Zur Theorie und Praxis der Anknüpfung 1. Differenzierung und Präzisierung der Fragestellung Die Bedeutung dieses ersten Versuchs einer systematischen Besinnung auf das anthropologische Problem der Verkündigung soll mit der Kritik an Brunners Verständnis der „anderen" Aufgabe in keiner Weise eingeschränkt werden. Im Gegenteil, es ist erstaunlich, wie sehr dieser Aufsatz nahezu alle Probleme, die die spätere Diskussion bestimmen, bereits in sich enthält 1 . Mag manches auch nur angedeutet oder noch zu ungeschützt vorgebracht sein und manche Formulierung über das Ziel hinausschießen — was Brunner sagen wollte, hat er hier bereits gesagt. Es konnte ihm in der Folgezeit daher nur darum gehen, die diesem Sachverhalt angemessenen theologischen Kategorien zu erarbeiten, die theologische Argumentationsbasis im Zusammenhang damit zu vertiefen und das Recht bzw. die Notwendigkeit dieser Fragestellung von den verschiedensten Seiten aus darzustellen. Die Veröffentlichungen der folgenden Jahre zeigen denn audi, wie Brunner diesen Weg der weiteren Ausarbeitung, der Konkretisierung, der Differenzierung und Präzisierung konsequent verfolgt 2 . Bereits in „Theologie und Kirche" nennt er mehrere Gesichtspunkte, die der Frage nach dem Anknüpfungspunkt ihr Gewicht verleihen 3 . 1 Brunner stellt hier die Frage nach der humanitas, nadi dem geschöpflichen Sein, nach der imago Dei, nach der Schöpfungsoffenbarung, nadi der Existenz im Widerspruch, nach dem dialektischen Verhältnis von Offenbarung und Vernunft, nadi der Ansprechbarkeit und Verantwortlichkeit des Menschen. Er erkannte in der Anthropologie den K a m p f p l a t z der Theologie und versucht mit seinem Programm der Eristik und seiner Theorie des Anknüpfungspunktes den Weg zu markieren, den die Theologie hier gehen muß. 2 Zu nennen wären hier schon: Gott und Mensch. Vier Untersuchungen über das personhafte Sein, 1930 (Arbeiten aus den Jahren 1929 und 1930); Theologie und Kirche (in: ZZ 8 1930, S. 397—420); v o r allem aber Theologie und Ontologie — oder die Theologie am Scheidewege (in: ZThK 12 1931, S. 1 1 1 — 1 1 2 ) ; Die Christusbotsdiaft im Kampf mit den Religionen (Basler Missionsstudien NF H. 8 ,1931 = EMM N F 75, 1 9 3 1 ) ; Das Gebot und die Ordnungen, 1932; Die Frage nach dem „Anknüpfungspunkt" als Problem der Theologie (in: ZZ 10 1932, S. 505—532); Natur und Gnade. Zum Gespräch mit K . Barth, 1934, 2. Aufl. 1935. 3 Vgl. zum Folgenden: Theologie und Kirche, S. 398 Anm. 1.
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1. Sie ist einmal „von entscheidender Bedeutung für die Methodik aller Theologie"; denn die Theologie als Denkakt beruht ja immer schon auf der Voraussetzung einer Inanspruchnahme der Vernunft als Sprach- und Verständigungsmittel des Glaubens. Die Vernunft steht hier im Dienste des Gotteswortes, d. h. das Unternehmen der Theologie ist in sich selber bereits ein Anknüpfungsgeschehen. In ihrem eigenen logicein, in ihrem Denken, Reden, Begründen bezeugt sich nicht nur der Logos der Offenbarung, sondern audi der Logos der Vernunft4. 2. Mit dieser elementaren Inanspruchnahme der Vernunft innerhalb der Theologie selbst ist das Problem bereits berührt, das der Fragestellung in all ihren Variationen zugrunde liegt: das Verhältnis des glaubenden zum natürlichen Selbstverständnis. Alle Gesichtspunkte, die Brunner beibringt, verweisen letztlich auf diesen Sachverhalt. Er nennt zur weiteren Verdeutlichung zunächst die Auseinandersetzung zwischen Vernunft und Offenbarung, die jetzt das theologische Hauptthema sei. Damit erinnert er an den Kernpunkt seiner bisherigen Überlegungen. Die Aufgabe der Eristik hat ihren Ort ja innerhalb des Bereichs, der nach traditionellem Sprachgebrauch als das Problem von Vernunft und Offenbarung bezeichnet wird. 3. Ein dritter Gesichtspunkt für die entscheidende Bedeutung der Frage nach dem Anknüpfungspunkt ist schließlich „die Auseinandersetzung mit den anderen Religionen", wie sie sich dem Missionar als unumgängliche Aufgabe stellt. Was hier als besondere Aufgabe erscheint, ist jedoch in Wahrheit nur eine besondere, exemplarische Situation, die die prinzipielle Bedeutung des Anknüpfungsproblems erhellt. Es geht hier letztlich um „das Zentrum der homiletischen Fragestellung: Was heißt es, das Wort Gottes einem Menschen sagen? Oder anders ausgedrückt: Inwiefern und worin ist der Mensch vom Worte Gottes ansprechbar? Bemerkenswert an dieser beiläufigen Aufzählung verschiedener Argumente ist das zwanglose Nebeneinander und Ineinanderübergehen von theoretischen und praktischen Gesichtspunkten. Dem entspricht es, daß Brunner dieser Doppelseitigkeit immer stärker Rechnung trägt, indem er einerseits von einem theologisch-theoretischen, andererseits von einem kirchlich-praktischen Problem spricht und seine Aufmerksamkeit bald mehr dem einen, bald mehr dem anderen Bereich zuwendet. Sachlich gesehen geht es ihm hierbei natürlich nicht um verschiedene Dinge, sondern um den gleichen Sachverhalt. Die kirchliche Praxis, die konkrete Verkündigungssituation mit ihren Erfordernissen und Voraussetzungen bildet gewissermaßen das Wirklichkeitskriterium für den in systematisch4 Brunner verdeutlicht diesen Gesichtspunkt später am Wesen des „dogmatischen Beweises" (Ankn, S. 531).
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theologischer Reflexion zu erörternden Zusammenhang. Damit erinnert Brunner nicht nur erneut an den unaufhebbaren Zusammenhang von Theologie und Verkündigung in ihrer identischen Verantwortung für das rechte Hören des Wortes Gottes, er macht vielmehr das Wirklichkeitskriterium auch zugleich als Wahrheitskriterium geltend. Die theologische Frage nach dem Anknüpfungspunkt ist praktisch schon vorentschieden im konkreten Vorgang der Verkündigung. Sie kann darum nicht im Absehen vom wirklichen Verkündigungsgeschehen entschieden werden, sondern muß sich von daher rechtfertigen lassen. Dies bedeutet nicht, daß die Theologie sich hier schlechthin der Macht der Tatsachen unterwerfen soll. Sie hat ja ihrerseits eine kritische Funktion im Hinblick auf die faktisch geschehende Verkündigung, die entarten kann und zur Sache gerufen werden muß. Die Wirklichkeit der Verkündigung, die Praxis der Kirche kann also nicht einfach als solche Kriterium sein, sondern nur als von der viva vox evangelii bestimmte Wirklichkeit. So ist das eigentliche Wirklichkeits- und Wahrheitskriterium nicht die Situation als solche und auch nicht der Mensch als solcher, sondern das situationserfassende, situationsbestimmende, situationserhellende Wort Gottes, das in die jeweilige Situation eingeht und in ihr den Menschen in Anspruch nimmt. Der Hinweis auf die Verkündigungswirklichkeit, wie er bei Brunner hier begegnet, ist also keineswegs als ein Ausweichen vor der streng theologischen Verantwortung — etwa als Flucht in die kirchliche Praxis — zu verstehen, sondern als ein Versuch, wirklich bei der Sache zu bleiben, indem die theologische Reflexion auf jenen Vorgang bezogen bleibt, den sie mit zu verantworten hat. 2. Die Anknüpfung
als kirchlich-praktisches
Problem
a) Christliche Theorie des Heidentums Am Beispiel der Missionssituation läßt sich wohl am eindrücklichsten das Problem der Anknüpfung in seiner eigentlichen Bedeutung klarmachen 5 . Denn hier läßt sich die Frage nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten des Verstehens nicht mehr bagatellisieren oder umgehen. Sie ist einfach mit der Situation gegeben und fordert ihr Recht, mag man sich theologisch dazu stellen wie man will. Es überrascht daher nicht, daß Brunner sehr bald schon die Gelegenheit benutzt, seine Fragestellung unter dem Gesichtspunkt der missionarischen Verkündigung zu verdeutlichen. In dem Vortrag „Die Christusbotschaft im Kampf mit den Religio5 Vgl. S. Jacob, Das Problem der Anknüpfung für das Wort Gottes in der deutschen evangelischen Missionsliteratur der Nachkriegszeit, 1935 ( = Allgemeine Missionsstudien, H . 18).
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nen" 6 versucht er, auf der Linie von Rom. 1,18 ff. eine allgemeine christliche Theorie des Heidentums zu entwickeln, die davon ausgeht, daß in allem Heidentum — wie immer verdunkelt—eine gewisse Gotteserkenntnis vorhanden ist. Sie ist dem Menschen von der Schöpfung her „unausrottbar eingepflanzt". Es kann daher nicht die Frage sein, ob der Mensch überhaupt um Gott weiß, sondern nur, ob er Gott wirklich als Gott kennt und ehrt. Dies muß als der erste Grundsatz einer christlichen Theorie des Heidentums gelten. Der zweite Grundsatz qualifiziert nun allerdings dieses faktische Wissen um Gott als ein pervertiertes, fragmentarisches und widerspruchsvolles. An der ganzen Art der Beziehung zum Göttlichen, am Gottesbegriff, am Bewußtsein von Schuld und Sünde zeigt sich die Verkehrung und Verzerrung, die es dann doch wieder fraglich macht, ob die Gottesvorstellung des Heidentums und der Gott des Christentums überhaupt etwas miteinander zu tun haben 7 . Brunners Argumentation scheint hier auf einen Widerspruch hinauszulaufen. Einerseits ist ihm der Gott des Heidentums der „Gott von der Welt her und vom Menschen her", d. h. das Göttliche, wie es aus der Natur, aus der geistigen Anlage des Menschen selbst erkannt wird. Und das bedeutet: Man kennt hier den Gott nicht, der als ein ganz anderer der Welt gegenübersteht, der nicht aus der Welt erkannt wird, sondern sich erst in seiner besonderen geschichtlichen Offenbarung als der Gott zum Menschen hin und zur Welt hin zu erkennen gibt. Andererseits geht Brunner doch davon aus, daß dieser Gott sich auch dem Heiden bezeugt, daß er also in dem „Gott von der Welt her und vom Menschen her" irgendwie mitgegeben ist. Zugespitzt ausgedrückt: Auch der Abgott bleibt ein Zeuge für die Gegenwart Gottes. Gerade das Sündersein verrät die Gottbezogenheit des Menschen, sein Wissen um Gott 8 . In diesem Sachverhalt ist der Anknüpfungspunkt zwischen Heidentum und Christentum gegeben. Er verweist nicht nur auf einen bestehenden Zusammenhang zwischen der besonderen geschichtlichen Offenbarung Gottes und dem natürlichen Wissen des Menschen um Gott, sondern er enthält zugleich den Hinweis auf eine grundlegende Solidarität zwischen Christen und Heiden: die Solidarität, „daß wir, was uns betrifft, selbst Heiden sind".
* Basler Missionstudien, N F H. 8 1931; vgl. hierzu den in seinen grundsätzlichen Gedanken verwandten Vortrag von S. Knak: Die Mission und die Theologie in der Gegenwart. Eine Antwort an K.Barth (in: ZZ 10 1932, S.331—355), sowie die gegensätzliche Stellungnahme K.Barths: Die Theologie und die Mission in der Gegenwart (ZZ 10 1932, S. 189—210). 7 Vgl. den Satz: „Christliche Mission ist nur legitim und auch nur dann möglich, wenn sich das Evangelium zu den heidnischen Religionen nicht verhält wie eine species derselben Gattung zu anderen, sondern wie die heilbringende Botschaft zu dem dieses Heiles bedürftigen Gottsuchen" (a.a.O., S. 3). 8 Vgl. a.a.O., S. 1. 11 ff. 14.
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Das ist, wie Brunner bemerkt, der erste und wichtigste Anknüpfungspunkt 9 . In der Näherbestimmung dessen, was Anknüpfung hier besagt, unterscheidet er eine negative und eine positive Seite des Vorgangs, analog jenem polemischen und erfüllenden Moment, das die eristische Aufgabe kennzeichnet. Die negative Seite der Anknüpfung bezieht sich darauf, daß Heidentum immer Flucht vor Gott, vor dem rechten Gottesverhältnis ist, ein Sich-vor-Gott-sichern-Wollen, Religion der Selbstgerechtigkeit, ein Stehen unter Gottes Zorn. Hier wird der Anspruch der Verkündigung zum Bußruf, zur Gerichtsansage, zur Aufklärung des natürlichen „frommen" Selbstverständnisses als eines SelbstmißVerständnisses. Das „du bist der Mann", in dem der Mensch sich hier vom verkündigten Wort betroffen weiß, bedeutet für ihn Gottes Gericht, die Verneinung seiner Selbstbejahung, die Bestätigung seiner Existenzverfehlung, die Enthüllung seiner Gottlosigkeit in seinem Wissen um Gott. Nimmt man dieses Nein Gottes, das den Menschen hier trifft, in seiner vollen Bedeutung ernst, läßt man es ohne den Versuch einer Abschwächung gelten, dann scheint die Frage nur allzu berechtigt, ob denn hier überhaupt noch Raum für einen „positiven" Anknüpfungspunkt bleibt. Wird hier nicht alles dem Gericht unterworfen? Kann es hier nicht nur um eine einzige Aufforderung gehen: umzukehren, aufzubrechen, wahrzunehmen, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist? Brunner ist sich der Schwierigkeit bewußt, angesichts des im Worte Gottes ergehenden Gerichts über den ganzen Menschen dennoch weiterzufragen nach einem positiven Anknüpfungselement. Eine „gefährliche Aufgabe", wie er selbst zugesteht, denn „hier pflegt es, wenn irgendwo, mit der Theologie und dann auch mit der Praxis schiefzugehen" — und dennoch eine Aufgabe „von größter Wichtigkeit" 10 ! Die Gefahr besteht in der falschen Auffassung der Anknüpfung als einer direkten Akzeptation des Vorhandenen. Hierbei wird verkannt, daß das in dem Anknüpfungsgeschehen vorausgesetzte positive Element „nicht im Menschen als solchen" liegen kann, sondern nur in seinem Inanspruchgenommensein durch Gott, also darin, „daß Gott sich auch den Heiden nicht unbezeugt gelassen, daß auch der Heide in seinem Heidentum . . . 9
A.a.O., S. 15.
A.a.O., S. 10. 17. Audi zu Beginn seines Aufsatzes über den Anknüpfungspunkt erinnert Brunner zunächst daran, daß diese Frage „mehr als einmal zur heillosesten Verfälschung der Botschaft verführt hat. Das katholische ,gratia perficit naturam', die mystische Lehre vom Seelenfünklein und die modern-liberale Auffassung von der Kontinuität zwischen allgemeiner und besonderer Offenbarung, zwischen Kirche und Kultur, zwischen Gottesgeist und Menschengeist sollen als Warnsignale vor unserer Untersuchung stehen. Aber abusum non tollit usum; die Gefährlichkeit der Frage darf uns für ihre Dringlichkeit nicht blind machen" (Ankn, S. 506). 10
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nodi immer Gottes Geschöpf ist und die Spuren der Schöpfung, wie immer verzerrt, an sich trägt". Ohne eine derartige Anknüpfung, an die auch in der negativen Qualifikation noch mitgegebene Voraussetzung eines Inanspruchgenommenseins durch Gott, einer Gottbezogenheit und darum auch der Möglichkeit eines Wissens um Gott, hält Brunner eine missionarische Wirkung für undenkbar. Die Areopagrede ist ihm das klassische Zeugnis dafür. Sie ist paradigmatisch für die missionarische Verkündigung überhaupt. Denn überall, wo das Evangelium wirksam verkündigt wurde, geschah dies in der Anknüpfung an das, was der Hörer schon von Gott, Sünde, Schöpfung, Liebe wußte, im Eingehen auf seine Not und seine Sehnsucht nach Befreiung 11 . Brunner weist darauf hin, daß auch im primitiven Heidentum Gott als handelndes Du erfahren wird, daß seine Allmacht, Verborgenheit und Heiligkeit geahnt, sein Zorn gefürchtet, seine Liebe gesucht wird, daß man hier um Schuld und um Schöpfungsordnungen weiß. Dies alles sind ihm konkrete Hinweise auf ein Vorverständnis, das die Verkündigung in Anspruch zu nehmen hat, wenn sie verständliche Rede und nicht „ins Blaue hinaus" gesprochen sein will. Der Heide flieht nicht nur Gott, er sucht ihn auch, er muß ihn suchen, sonst bliebe ihm die Botschaft von Gott etwas Nichtssagendes. Darum gehört es zu den wichtigsten Aufgaben des Missionars, „dieses Suchen im Fliehen zu entdecken und praktisch daran die Verkündigung anzuknüpfen". Gelingt ihm das nicht, dann ist seine Arbeit umsonst 12 ! Von daher wird es verständlich, wenn Brunner sich gelegentlich zu Äußerungen veranlaßt sieht, in denen solche Anknüpfung als die conditio sine qua non für eine verantwortliche Verkündigung erscheint, so daß die von ihm behauptete Zweitrangigkeit dieser Aufgabe jedenfalls im Hinblick auf die Praxis der Verkündigung durchaus eine erstrangige, fundamentale Bedeutung gewinnt 13 . Das kommt nodi deutlicher in jenem Aufsatz zum Ausdruck, den Brunner ganz der systematischen Klärung der Frage nach dem Anknüpfungspunkt gewidmet hat 14 . Auch hier steht zunächst der Gesichtspunkt ihrer faktischen Notwendigkeit ganz im Vordergrund. Was sich als Bedingung der missionarischen Verkündigung erwies, ist ja im Grunde die Bedingung allen kirchlichen Handelns. Die Frage nach dem Anknüpfungspunkt kann 11 A.a.O., S. 17. In scharfem Ton weist Brunner darauf hin, daß audi der, der diese Anknüpfung theoretisch leugne, sich praktisch über diese Leugnung hinwegsetze: „nur der blanke Doktrinarismus kann das Vorhandensein solcher positiver Anknüpfungspunkte in jeder heidnischen Religion leugnen". 12 A.a.O., S. 18 ff. 13 Vgl. auch Ankn, S. 530: „ . . . das ist die Anknüpfung, von deren Gelingen, menschlidi gesprochen, der Erfolg der Verkündigung ebenso abhängig ist als wie von der reinen Lehre'." 14 Die Frage nach dem „Anknüpfungspunkt" als Problem der Theologie (in: ZZ 10 1932, S. 505—532).
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darum nicht als eine bloß akademische Frage, als ein theologischer Einfall behandelt werden, sondern sie ist „ein praktisches Anliegen der Kirche, eine Frage, die aus dem Handeln der Kirche, aus der Verkündigung allein (!) entsteht und verständlich ist und über die der Handelnde den Theologen befragt" 15 . Denn auch das schlichteste Zeugnis vom Heil in Christus setzt die Beziehung auf die Existenzwirklichkeit, auf die Existenzerfahrung des zum Glauben aufgerufenen Menschen voraus. Wie sollte er sonst von dem „du bist der Mann" getroffen werden, wenn davon nicht seine Selbsterkenntnis mit betroffen wäre? Auch die „direkteste" Verkündigung des in Christus offenbar gewordenen Gottes ist darum immer zugleich ein Versuch der Existenzerhellung, in der das Um-sich-selbst-Wissen des nichtglaubenden Menschen vor die Entscheidung gestellt und in die Krise geführt, aber eben damit auch in Bewegung gesetzt und insofern „mitgenommen" wird 16 . Das, was hier geschieht, führt unvermeidlich zur Frage nach dem Selbstverständnis des „natürlichen" Menschen, nach seiner Beziehung zum Worte Gottes und in eins damit zur Frage nach der „Möglichkeit und Erlaubtheit des Handelns der Kirche" überhaupt. b) Anknüpfung
als hermeneutisches Geschehen
Es ist also nichts anderes als das Problem der Hermeneutik, das Brunner mit seinem Begriff der Anknüpfung bewußt zu machen und zu erhellen sucht, oder, wie er selbst es formuliert, die Frage nach der Möglichkeit der Bibelübersetzung im wörtlichen und übertragenen Sinn, d. h. nach der Möglichkeit der Verkündigung überhaupt 17 . Daß diese Möglichkeit im Handeln der Kirche immer schon in Anspruch genommen und verwirklicht ist 18 , ergibt sich aus dem Wesen des Wortes, das sie zu verkündigen hat: Gottes Wort als Menschenwort, als jedem Menschen zugesprochenes und zuzusprechendes Wort. Wort fordert Verstehen und setzt Ansprechbarkeit voraus. Das ist, wie nun in der Wiederaufnahme früherer Überlegungen gesagt werden kann, die elementarste Form der Anknüpfung. Darum steht alles, was mit diesem Wort zu tun hat, im Zeichen eines An15 Ankn, S. 505; vgl. S. 529: „Die Frage nach dem Anknüpfungspunkt ist nur für den ganz verständlich und dringlich, der als Verkünder, als Missionar, als Seelsorger oder Religionslehrer am kirchlichen Handeln Teil hat." 16 Vgl. Ankn, S. 529. 17 Ankn, S. 505 f. Brunner kann darum im Hinblick auf die missionierende Kirche sagen, sie schule ihre Missionare „in der Kunst der Anknüpfung, die hier Übersetzung heißt" (Banalität oder Irrlehre? in: Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, 96. Jg. 1940 Nr. 17 S. 261). Von „missionarischer Anknüpfungskunst" spricht übrigens bereits G. Warneck, Evangelische Missionslehre II, 2, S. 95 ! 18 „Wo ein Prediger seiner Gemeinde den Text des Neuen Testamentes in Luthers Übersetzung vorliest, da hat er, noch ehe er seine Predigt beginnt, die Frage, ob es Pflicht der Kirche sei, nach jenem Anknüpfungspunkt zu fragen, schon mit Ja beantwortet (Ankn, S. 505).
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kniipfungsvorgangs. Also nicht nur die Sprachfähigkeit des Menschen als solche im allgemeinsten Sinn, sondern sein konkretes Sprachvermögen ist hineingenommen in den Vorgang der Anknüpfung. Brunner verweist auch hier zunächst auf die Heilige Schrift selbst, um an ihr die Notwendigkeit, den Grund und die Grenze der Anknüpfung deutlich zu machen. Die Bibel ist schon durch die Tatsache, daß in ihr Gottes Wort in der Gestalt verschiedenartigster menschlicher Sprache erscheint, selbst ein Dokument der Anknüpfung19. Und wenn das Neue Testament sich der griechischen Sprache bedient, wenn es also in der möglichst vielen verständlichen Sprache spricht und dabei den Vorgang des Ubersetzens, des Eingehens in eine ganz andere Sprachwelt bewußt vollzieht, dann ist dies wiederum ein Vorgang der Anknüpfung, der sich in der Bibelübersetzung der Kirche und in jeder Predigt als Aufgabe der Ubersetzung der Botschaft in die Sprache des Hörers fortsetzt20. Rechte Hermeneutik — das zeigt sich sdion in der Ursprungssituation der Verkündigung — hat immer eine doppelte Fragerichtung. Sie fragt einerseits nach dem zu verkündigenden Wort, nach dem Sachverhalt des Glaubens. Sie fragt aber zugleich damit nach dem Hörer des Wortes, dem sie es zusagen soll. Das „Wie" des Sagens ist darum nicht nur vom „Was" her bestimmt, sondern auch vom „Wem". Dieses anknüpfende Zusagen des zu verkündigenden Wortes macht „tausend verschiedene Arten des Sagens nötig". In ihm erweist sich die Geschichtlichkeit der Verkündigung als die notwendige Gestalt des Wortes, das in jeder menschlichen Wirklichkeit vernommen sein will. Dieses Eingehen der Verkündigung in die vorhandene Sprache, das Angewiesensein auf ihre Möglichkeiten, zeigt sich in seiner ganzen Tragweite vor allem aber darin, daß sie auch für ihre ureigenste Aussage keine neuen Wörter erfindet, sondern sich dazu einer vorgeprägten Begrifflichkeit bedient21. Offenbar konnten „auch die Apostel auf keine andere Weise als 19 Vgl. zum Folgenden Ankn, S. 507 fi., sowie die spätere Zusammenfassung aller Gesichtspunkte in OuV, S. 449 ff. 20 Brunner verweist in diesem Zusammenhang schließlidi nodi auf die Besonderheit des Katechetenamtes neben dem Predigtamt. Die katechetische Bemühung, „ ,den U n mündigen ein Unmündiger' zu werden, um ja etliche zu gewinnen", ist nichts anderes als ein erneuter Ausdruck der Notwendigkeit der Anknüpfung. Man könnte also sagen: Die Katechismusfrage ist die Anknüpfungsfrage! Die „große Gefahr, die gerade in dieser weitestgehenden Hingabe an das Suchen nach dem Anknüpfungspunkt liegt, hat die Kirche nicht abgehalten, sich dieser Aufgabe mit größtem Ernst anzunehmen. Die Katechismusfrage wird zu einer Hauptfrage gerade in der Kirche der Reformation und der Katechismus auch tatsächlich zu einem Hauptwerkzeug des Gottesreiches" (Ankn, S. 509). 21 Die im Wesen des Wortes begründete Anknüpfung wird von Brunner also in einer dreifachen Argumentation verwandt: 1. als Voraussetzung und Inanspruchnahme der Wortfähigkeit des Menschen; 2. als Eingehen in die dem Menschen eigene Sprache; 3. als Ingebrauchnahme des vorgegebenen religiös-sittlichen Wortschatzes, der gewissermaßen die mit dem Menschsein gegebenen Urbegriffe enthält. Der erste Gesichtspunkt
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durch solche Anknüpfung an das vorhandene religiöse Sprachgut, d. h. an das vorhandene religiöse Bewußtsein ihre so ganz andere Botschaft" ausrichten. Sie sind also in ihrem apostolischen Zeugnis zugleich Zeugen einer „geflissentlichen" Anknüpfung 22 . Brunner weiß natürlich um den radikalen Bedeutungswandel der Begriffe, der sich hierbei vollzieht, und er bezieht diesen entscheidenden Gesichtspunkt, wie wir noch sehen werden, durchaus in seine Überlegungen mit ein. Aber das Problem, um das es ihm geht, ist damit ja keineswegs erledigt, sondern behauptet sich auch in der faktisch neuen Sinngebung der übernommenen Sprache. Denn diese neue Sinngebung wäre ja wiederum nicht verständlich, wenn sich nicht in den übernommenen Begriffen — ζ. B. Gott, Sünde, Gesetz, Schöpfung, Erlösung — ein Verstehenshinweis, ein „Vorverständnis" fände, in dem der eigentliche Sinngehalt sich als „irgendwie bekannt" andeutet. Die Tatsache der Anknüpfung und ihre Notwendigkeit in der Verkündigung steht also von vornherein fest und läßt sich nicht bestreiten. Dies ist das vorläufige Fazit und der Ausgangspunkt der weiteren Fragestellung 23 . 3. Die Anknüpfung
als theologisches Problem
Das eigentliche theologische Problem, das sich für Brunner aus diesem Sachverhalt ergibt, ist die kategoriale Bestimmung des Anknüpfungspunktes, d. h. die Aufgabe einer streng theologischen Begründung und Beschreibung der Beziehung, die zwischen dem Sich-selbst-Verstehen des Menschen und dem Verstehen des Wortes Gottes besteht. Daß diese Aufgabe schon längst im Blickfeld seines Interesses stand, noch ehe sie ausdrücklich — das „überhaupt Reden-Können" — besagt in seiner bloßen Formalität noch nichts über das eigentliche Problem der Anknüpfung, obgleich Brunner gerade ihn sehr betont. Erst der zweite und vor allem der dritte Gesichtspunkt führen auf den zu diskutierenden Sachverhalt (vgl. hierzu auch: Banalität oder Irrlehre? und O u V , S. 4 9 9 f f . ) . 2 2 Ankn, S. 508, ähnlich S. 5 1 0 : „Die Apostel können ihre Botschaft nicht verkündigen ohne Benutzung der allgemeinen Logik und Grammatik, eine im Sprachschatz niedergelegte Welterfahrung, und ohne das in ihm gegebene religiöse Vorverständnis all der Wörter, die ihnen die entscheidenden waren." 2 3 D i e Bedeutung, die Brunner der Feststellung der faktischen Anknüpfung im H i n blick auf die theologische Diskussion dieses Sachverhalts beimißt, zeigt die gegen Barth gerichtete polemische Bemerkung: „Die Theologie aber soll nicht mit ihrer Theorie, vermeintlich im Interesse ,reiner Lehre', das in Abrede stellen, ohne was weder zu der Apostel Zeiten noch sonst wann Verkündigung möglich war, noch auch tatsächlich geschehen ist" (Ankn, S. 531). Vgl. auch die spätere Entgegnung auf U . Gutersohns K r i t i k , in der Brunner sich über die Gedankenlosigkeit beklagt, „mit der man etwas leugnet, dessen Vorhandensein man täglich im tatsächlichen Verhalten bestätigt . . . Meine B e hauptung ist, daß der sog. Anknüpfungspunkt eine Tatsache ist, die von aller theologischen Meinung völlig unabhängig ist, so daß niemals das Ob, sondern immer nur das genauere Was überhaupt Problem sein k a n n " (in: Banalität oder Irrlehre?, Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, 96. J g . 1940 N r . 17 S. 260).
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mit dem Begriff des Anknüpfungspunktes definiert wurde, hat die Entwicklung der anthropologischen Fragestellung im Denken Brunners gezeigt. Aber die konsequente Hinwendung zur theologischen Anthropologie findet doch in der Frage der Anknüpfung ihren Fixierungspunkt. a) Brunners Verhältnis zu Fr. Gogarten und R. Bultmann Diese Zuspitzung auf das Anthropologische, die im Zuge der Dialektik zur Eristik und in eins damit zur Betonung der Personhaftigkeit des Menschen führte, verleugnet nicht die EinwirkungGogartenscherGedanken24. Nicht von ungefähr verweist Brunner gerade in dem entscheidenden Gedankengang seiner theologischen Eristik auf das Vorbild Fr. Gogartens. Gogarten erscheint ihm mit seinem leidenschaftlichen Aufgreifen der anthropologischen Frage als Eristiker, der die Arbeit Pascals und Kierkegaards fortsetzt 25 . Die Anthropologie, das Sich-selbst-Verstehen des Menschen 24
Vgl. dazu vor allem: Das Gebot und die Ordnungen, aber audi NuG, S. 36 f. Im Vorwort zu MiW weist Brunner noch einmal ausdrücklich darauf hin, daß die ersten Anfänge seiner theologischen Anthropologie in die Zeit zurückreichen, in der ihm „unter dem gewaltigen Eindruck der anthropologischen Arbeit Kierkegaards klar wurde, daß die Entscheidung zwischen dem modernen Menschentum und dem christlichen Glauben hier, im Verständnis des Menschen, fallen müsse. Die Bekanntschaft mit Ebner, Gogarten und Buber half mir weiter auf dem einmal eingeschlagenen Wege" (MiW, S. VIII). Ähnlich MiW, S. 529: „Das neue Verständnis des anthropologischen Problems beginnt mit F. Ebner, M. Buber und Friedrich Gogarten." Bereits im „Mittler" bemerkt Brunner zu Gogartens dialogischem Personalismus: „Das ist der Punkt, wo ich in Gogartens, sonst vielfach verwandten Gedankengängen, eine nicht unbedenkliche Direktheit, eine direkte Identifikation mit dem Geschichtlichen wahrzunehmen glaube. Der ganze Gedankengang Gogartens ist anthropologisch — gewiß mit der theologischen Absicht, aber doch so, daß das Mißverständnis, das in aller vom Menschen ausgehenden Theologie nie völlig überwunden wird, nicht genügend deutlich beseitigt wird . . . Gogarten hat das große Verdienst, in seinen letzten Schriften den Nachdruck darauf gelegt zu haben, daß es keine Glaubensbeziehung zu Gott geben kann, die nicht über den Menschen geht. Ebenso notwendig ist aber das andere, daß es keine wirkliche Beziehung zum Menschen gibt — keine Realisierung des Du —, die nicht über Gott geht" (Mi, S. 183 Anm. 1). Der bedeutsame Vorbehalt, den Brunner hier geltend macht und in dem sich seine eigene Konzeption des personalen Beziehungsgeschehens zwischen Gott und Mensch schon ankündigt, soll nicht übersehen werden. Andererseits ist es gerade die Zuwendung zur Anthropologie, in der Brunner sich Gogarten verbunden weiß. 25 Aufg, S. 260 f. Anm. 1. Den früheren Vorbehalt glaubt Brunner jetzt anscheinend nicht mehr geltend machen zu müssen: „Wenn ich ihn recht verstehe, handelt es sidi ihm gar nicht darum, den theozentrischen Ausgangspunkt des theologischen Denkens als solchen durch den anthropologischen zu ersetzen — wie er vielfach mißverstanden wird; sondern darum, die Auseinandersetzung mit der Zeit an dem Punkt zu führen, wo sie einzig fruchtbar sein kann. Es geht ihm wie Kierkegaard um das Problem der Existentialität; aber er hat uns, über Kierkegaard hinaus, den Zusammenhang der Bezogenheit auf Gott und auf den .Nächsten', der im Glauben an Jesus Christus allein gegeben ist, in ganz neuer Weise zu zeigen vermocht. Sein Kampf gegen die ideenhafte .Deutung', und für das neue Verständnis der konkreten Wirklichkeit vom .Nächsten' her gehört zweifellos zum Bedeutungsvollsten im gegenwärtigen Geistesleben" (Aufg,
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als „der gemeinsame Boden des Glaubens und des Nichtglaubens" ist der Ort, an dem allein die Auseinandersetzung mit der Zeit fruchtbar sein kann. Diese Überzeugung bildet die gemeinsame Grundlage, von der aus für Gogarten wie für Brunner das Problem der Anthropologie in den Mittelpunkt rückt. Daß hierbei „nie vom Menschen allein, nie vom Menschen an und für sich", sondern immer nur von dem Menschen die Rede sein kann, „dem Gott sich verbunden hat, auf den Gott in seiner Offenbarung bezogen ist", der also „ gar nicht ohne Gott gedacht werden kann" 2 e , das ist die von beiden bejahte Voraussetzung. Und auch die eigentümliche Spannung, die zwischen dem Insistieren auf einem Verständnis des Menschen vom Evangelium aus und dem Inanspruchnehmen einer „von der Schöpfung her" geschehenen Offenbarung — wie immer diese auch gedacht sein mag — besteht, ist für das Denken beider charakteristisch. Von daher erscheint es nur allzu verständlich, wenn Brunner in der beginnenden Auseinandersetzung mit Barth sich zunächst in eine Frontlinie mit Gogarten gedrängt sah. Freilich nicht im Sinne einer Allianz auf Gedeih und Verderb, sondern im Behaupten einer gemeinsamen Fragestellung und in der Abwehr eines, wie er zunächst noch glaubt, sie beide gemeinsam betreffenden MißVerständnisses. Die bei aller Selbständigkeit des eigenen Denkweges empfundene Verbundenheit mit der von Fr. Gogarten und R. Bultmann aufgeworfenen Frage der Anthropologie zeigt sich unter anderem darin, daß Brunner den Begriff des Selbstverständnisses bzw. des Vorverständnisses ohne weiteres akzeptieren und im Sinn seiner eigenen Fragestellung verwenden kann 2 7 . Ihm war die Bundesgenossenschaft hochwillkommen, die sich ihm hier in der prinzipiellen Erörterung und Bejahung der theologischen Frage nach dem natürlichen, geschichtlichen Dasein bot. „Es ist ein Verdienst R. Bultmanns, daß er die Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen — die S. 261 A n m . 1). — N o c h in seiner letzten Ä u ß e r u n g über G o g a r t e n s Theologie wiederholt Brunner sein früheres Urteil, d a ß G o g a r t e n in seiner Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist „ v o n keinem anderen erreicht sei" und d a ß seine „anthropozentrische Wend u n g " v o n Luther her zu verstehen sei. A b e r auch der ursprüngliche V o r b e h a l t taucht nun in neuer Gestalt wieder auf : Seine „ g r o ß e O r i g i n a l i t ä t und T i e f e " sei zugleich seine G e f a h r . Sie bestehe darin, d a ß die Sicht des E v a n g e l i u m s , wie sie in seiner Interpretation v o n Gesetz u n d E v a n g e l i u m vorliegt, „ z u einer Existentialphilosophie eigener P r ä g u n g w i r d und so den Z u s a m m e n h a n g mit der O f f e n b a r u n g der Schrift u n d die richtige Gebundenheit an sie v e r l i e r t " ( D I I I , S. 250 f.). 26
F r . G o g a r t e n , D a s P r o b l e m einer theologischen Anthropologie, in Z Z 7 1929, S.
493. 2 7 Ausdrücklich erstmals in Theologie und K i r d i e (1930): „ J e d e r m a n n weiß, w a s mit O f f e n b a r u n g gemeint ist. A u f diesem ,Vorverständnis' (Bultmann) beruht die M ö g lichkeit, den G l a u b e n in der allgemeinen menschlichen Sprache auszusprechen, Christus zu v e r k ü n d i g e n u n d theologisch die B e g r i f f e zu klären . . . D a s v o n B u l t m a n n mit dem Ausdruck ,Vorverständnis' formulierte P r o b l e m ist ein Z e n t r a l p r o b l e m aller T h e o l o g i e " (S. 398).
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Frage Pascals, Kierkegaards und Gogartens — so energisch in den Mittelpunkt der theologischen Besinnung gerückt hat." Diese Feststellung steht vor aller Kritik, die Brunner im einzelnen an der Unterscheidung und Aufeinanderbeziehung des natürlichen und des glaubenden Daseins bei Bultmann zu üben hat 28 . In der Ablehnung einer natürlichen Theologie, die nicht vom Glauben aus entworfen ist, weiß er sich mit Bultmann einig. Um so mehr freut er sich, daß Bultmann gleichwohl „eine natürliche Theologie', die vom Glauben aus das ,natürliche' (vorgläubige) Dasein verständlich macht, so wie Paulus es Rom. 1,18—3,20 unternimmt", für legitim und notwendig ansieht 29 . Das ist die Bejahung einer theologischen Lehre vom natürlichen Menschen, die prinzipielle Anerkennung jenes Sachverhalts, den Brunner als das Problem des Anknüpfungspunktes beschreibt. Denn die theologische Anthropologie kann ja das Um-sich-selbstWissen des natürlichen Menschen nicht außer acht lassen. Sie hat zwar mehr über den natürlichen Menschen zu sagen, als dieser von sich weiß und wissen kann. Aber sofern es in ihr wirklich um den Menschen in seiner Vorfmdlichkeit geht, und sofern dabei sein natürliches Sein und Wissenkönnen theologisch beurteilt wird, müssen sich ihre Aussagen im Einklang mit dem wirklichen um sich selbst und um Gott Wissen des natürlichen Menschen befinden. Das bedeutet, daß in der theologischen Anthropologie glaubendes und profanes Wissen zusammentreffen, allerdings „ohne sich zu decken". Und damit sieht sich Brunner innerhalb des Bultmannschen Denkzusammenhangs eben an den Ort geführt, an dem die Frage nach dem Anknüpfungspunkt gestellt ist. In Bultmanns Begrifflichkeit ausgedrückt: „dasjenige Von-sich-selbst-Wissen des Menschen, das der Mensch als nichtgläubiger haben kann, und das als solches ins gläubige Wissen aufgenommen wird, — ist der Anknüpfungspunkt.. ." 30 . 28 Theologie und Ontologie — oder die Theologie am Scheidewege, ZThK 12 1931, S. 111. In diesem Aufsatz beschäftigt sich Brunner vor allem mit R. Bultmanns Anschluß an die Ontologie M.Heideggers. Unmittelbarer Anlaß ist Bultmanns Aufsatz: Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube. Antwort an G. Kuhlmann (ZThK 11 1930) und die voraufgegangene Diskussion (Kuhlmann, Löwith, Heim). 29 ThuOnt, S. 112; ZThK 11 1930, S. 350 Anm. 1. 80 ThuOnt, S. 113. Gegen diese Inanspruchnahme R. Bultmanns meldete W. Link scharfen Protest an: „Die Frage Bultmanns nach dem ,Wortverständnis' ist völlig anders gerichtet und hat einen völlig anderen Ursprung und ein völlig anderes Anliegen als Brunners Frage nach dem .Anknüpfungspunkt'. Bultmann hat an der bei Brunner zutage getretenen theologischen Verwirrung keinen Anteil. Die Meinung Brunners: .Dieses Vorverständnis also ist: Anknüpfungspunkt' (ZZ 1932, S. 508) ist ein Irrtum" („Anknüpfung", „Vorverständnis" und die Frage der „Theologischen Anthropologie", in: ThR N F 7 1935, S. 207). Link wird mit diesem Urteil weder Brunner noch Bultmann gerecht. Daß Brunners Fragestellung sich mit der Bultmanns in der Tat berührte, zeigt die spätere Stellungnahme Bultmanns; vgl. vor allem: Das Problem der „natürlichen Theologie", G V I (1933) 1954 2 , S. 294 if.; Die Frage der natürlichen Offenbarung, 1941, GV II 1952, S. 79ff.; Anknüpfung und Widerspruch, ThZ 2 1946, G V II, S.
1 A?
Die Kritik Brunners an Bultmanns Konzeption, wie sie sich in dessen Aufsatz „Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube" darbot, richtet sich nun allerdings gerade auf die Bestimmung des vorgläubigen Daseins, konkret auf die unkritische Übernahme der existenzialen Daseinsanalyse Heideggers. Nicht daß Bultmann sich einer philosophisch geprägten Begrifflichkeit bedient und sich auf das Gespräch mit der Philosophie einläßt, wird ihm zum Vorwurf gemacht, sondern daß er die Aufgabe der Analyse des natürlichen Daseins der Philosophie überläßt. Trifft es denn wirklich zu, daß das natürliche Dasein allein das Thema der Philosophie ist, oder müßte in einer theologischen Anthropologie nicht auch diese Daseinsanalyse eine theologische Aufgabe sein? Das ist die kritische Frage Brunners. Bultmanns Einwand, es gehe hier um rein formal-ontologische Bestimmungen, die theologisch neutral seien, um ein vorgläubiges Dasein, kann Brunner ebensowenig überzeugen wie Löwith und Kuhlmann, die frühzeitig darauf hinwiesen, wie sehr in der Heideggerschen Ontologie in angeblich rein ontologischen Aussagen Ontisches mitspricht. Kuhlmanns Feststellung, „daß eine rein formale Methodologie als Aufgabe der Philosophie ein Phantom ist" 3 1 , verdient in diesem Zusammenhang ebenso Beachtung wie die Bemerkung Löwiths, daß es kein vorgläubiges, sondern nur ein so oder so bestimmtes ungläubiges Daseinsverständnis gibt 32 . Es muß also fraglich bleiben, ob eine philosophische Daseinsanalyse je die theologische Frage nach dem „natürlichen" Dasein ersetzen 117ff.; Das Problem der Hermeneutik, ZThK 47 1950, G V II, S. 211 f.; Ist voraussetzungslose Exegese möglich? ThZ 13 1957, G V III, 1960, S. 142ff.; Allgemeine Wahrheiten und christliche Verkündigung, ZThK 54 1957, G V III, S. 166 ff. — So sinnlos es für Bultmann ist, von einem religiösen Apriori, von einem Organ für das Göttliche im Menschen zu sprechen, das als Anknüpfungspunkt für die Offenbarung in Frage käme, so unabweisbar ist dodi ein in der Tatsache des Verstehens der christlichen Verkündigung vorausgesetztes Vorverständnis, ein Lebenszusammenhang, „in dem der Verstehende und das Verstandene von vornherein zusammengehören" (GV I, S. 296 ff.). Gottes Handeln am Menschen durch sein Wort bedarf freilich keines Anknüpfungspunktes. Er macht den Menschen, den er lebendig machen will, vorher zunichte. Er stellt ihn in seinem Selbstverständnis radikal in Frage. Sein Handeln ist Widerspruch gegen den Menschen gerade auch in seiner Religion. Aber hier wird doch nur in Frage gestellt, was schon in Frage steht. Die Offenbarung aktualisiert und radikalisiert die Fragwürdigkeit, in der die menschliche Existenz mit ihrem natürlichen Selbstverständnis immer schon steht. Und gerade im Widerspruch zeigt sich in paradoxer Weise das Phänomen der Anknüpfung: „Die Sünde des Menschen ist der Anknüpfungspunkt für das widersprechende Wort der Gnade"; die den Menschen bewegende Frage nach seiner Eigentlichkeit in ihrer jeweiligen Ausgelegtheit, seine Religion, sein Gottesbegriff, seine Ethik, seine Philosophie — mit einem Wort: „der Mensch in seiner Existenz, als ganzer, ist der Anknüpfungspunkt", und es ist die Aufgabe einer verantwortungsbewußten Verkündigung, nach diesem Anknüpfungspunkt zu fragen (GV II, S. 119 ff.). 3 1 G. Kuhlmann, Zum theologischen Problem der Existenz. Fragen an R. Bultmann, ZThK 10 1929, S. 42. 3 2 K . Löwith, Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie, ZThK 11 1930, S. 365—399, vor allem S. 383.
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oder auch nur maßgebend leiten kann, weil schon die Ausgangsfrage, um welchen Menschen es eigentlich geht, ebenso strittig wie theologisch relevant ist: Geht es um den gottgeschaffenen Menschen, um den sündig gewordenen, oder um ein Mensdisein jenseits von gut und böse? Kann die theologische Fragestellung sich mit der Unterscheidung des Formalen und Materialen zufriedengeben, wenn hier im Ansatz der Mensch nicht als gottgeschaffener begriffen ist? Muß sie nicht vielmehr davon ausgehen, daß das Menschsein des Menschen nicht aus sich selbst heraus, sondern „nur von Gott aus verständlich" ist? Dann aber bedeutet eine prinzipiell atheistische oder angeblich neutrale Anthropologie in jedem Fall bereits ein Verkennen und Verleugnen des Wesens des Menschen33. b) Das principium
cognoscendi
In diesen Fragen meldet sich immer wieder ein bestimmtes sachliches Anliegen. Es geht Brunner offenbar nicht nur um eine Warnung vor der Heideggerschen Ontologie, obgleich sie den konkreten Anlaß der Kritik liefert 34 . Sondern es geht ihm vor allem darum, daß die Theologie sich in allem ihrer theologischen Voraussetzung bewußt bleibt. Sie steht mit ihrer Frage nach dem natürlichen Sein — das erkennt Brunner an — offensichtlich wieder einmal an jenem Scheideweg, an dem für sie alles auf dem Spiel steht, weil es sich hier entscheidet, ob sie „wieder ins Diensthaus der Philosophie, d. h. in die Abhängigkeit von einem immanenten Selbstverständnis des Menschen, zurückkehren will", oder ob sie auch in ihrer Anthropologie Theologie bleiben will 35 . Man wird also nicht sagen können, daß Brunner sich der Gefahr nicht bewußt gewesen sei, die auf die Theologie in ihrem Eingehen auf die anthropologische Frage lauert. Er war sich der Situation, an einem Scheideweg zu stehen, durchaus bewußt. Aber gerade weil er um die Gefahr wußte, glaubte er, ihr auch begegnen zu können, indem er die Frage nach dem Sein des Menschen als streng theologische Frage durchzuhalten suchte. „Streng theologisch" — das bedeutet für ihn nicht, daß dem natürlichen Selbstverständnis keinerlei Relevanz zuzubilligen wäre. Damit ThuOnt, S. 113 ff. 119. „ . . . Wir haben allen Grund, uns vor allzu naher Verbindung mit ihr zu hüten, nicht nur weil sie atheistisch, sondern auch, weil sie heimlich theologisch ist." Die Heideggersche Ontologie könne zwar dazu dienen, das Selbstverständnis des „natürlichen" Menschen schärfer zu erkennen, man dürfe sie jedoch keineswegs „zu einem integrierenden Bestandteil unserer theologischen Arbeit" machen (ThuOnt, S. 121 f.). Brunner wundert sich, daß Bultmann nicht zu bemerken scheine, daß sein Postulat einer theologischen Anthropologie mit der atheistischen Anthropologie Heideggers im Grunde unvereinbar ist. Zu Brunners Urteil über Heidegger vgl. audi Ankn, S. 527 ff. 3 5 ThuOnt, S. 122. 33
34
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würde er ja seiner eigenen Frage nach dem Anknüpfungspunkt den Boden entziehen. Es bedeutet jedoch, daß die entscheidende Aussage über den Menschen die Glaubensaussage ist, die Erkenntnis des Evangeliums36. Das ist die Voraussetzung der theologischen Anthropologie. In ihr hat sie ihr Kriterium. Brunner verdeutlicht dies an den beiden fundamentalen Aussagen über den Menschen, daß er von Gott nach seinem Bilde geschaffen und daß er Sünder sei. Beide Aussagen geben nicht eine dem natürlichen Selbstverständnis entnommene Erkenntnis wieder, sondern sie sind Glaubenserkenntnis. Denn der Erkenntnisgrund für die Schöpfung und für die Sünde ist die „Erkenntnis Gottes in seiner Offenbarung, in seinem Wort". Und er fügt den für unsere Fragestellung sehr bedeutsamen Satz hinzu: „Wie alles, was wir theologisch über Schöpfung und Sünde aussagen, in Jesus Christus allein seinen Grund und sein Kriterium hat (!), so ist auch das, was hier über die Frage des Anknüpfungspunktes verhandelt wird, durch das im Glauben vernommene Offenbarungswort bestimmt und nur von da aus zu verstehen!"37 Ohne Zweifel sucht Brunner hier der bereits laut gewordenen Kritik Barths zu begegnen38. Insofern könnte man versucht sein, das Bekenntnis zu diesem principium cognoscendi mehr dem Zwang zur Selbstrechtfertigung zuzuschreiben als der gewissenhaften Verantwortung des eigenen Erkenntnisweges. Es wäre dann allerdings nur eine theologische Pflichtübung, der fatale Ausdruck theologischer Rhetorik, die sich der sachlichen Verantwortung entzieht. Der formelhafte Hinweis auf das im Glauben vernommene Offenbarungswort könnte diesen Verdacht eher nodi bestärken als entkräften. Gleichwohl ist diese Deutung ein MißVerständnis, das den Ausgangspunkt der Fragestellung Brunners, wie wir ihn von Anfang an verfolgten, im Entscheidenden verkennt. Auch wenn das Echo auf die Kritik Barths hier mitzuhören ist und wenn die Selbstsicherheit seltsam berührt, mit der Brunner in einem Pauschalurteil von vornherein seiner Fragestellung ihr Bestimmtsein durch das im Glauben 38 Vgl. Ankn, S. 5 0 6 : „Wohl fragen wir nach dem, was audi Gegenstand der Philosophie und alles menschlich-natürlichen Selbstverständnisses ist — eben nach der Seinsweise des natürlichen Menschen, dessen, der die Botschaft noch nicht vernommen hat. Aber das will nicht heißen, daß wir ihn oder seine Philosophie vor allem darüber befragen. Denn es gehört zur Erkenntnis des Evangeliums, daß die Aussage, die der Mensch über sich selbst macht, gerade im entscheidenden Punkt nicht nur unzulänglich, sondern falsch sei." Diese Einsicht macht freilich die Arbeit einer natürlichen oder philosophischen Anthropologie nicht überflüssig. Denn „was wir natürlicherweise von uns wissen, hören wir ja audi als Glaubende nicht auf zu wissen".
Ankn, S. 5 0 7 ; vgl. audi NuG 2 , S. IV. Vgl. K. Barth: Zur Lehre vom Heiligen Geist, Beiheft 1 Z 2 1930 (Der heilige Geist und das christliche Leben); Die Theologie und der heutige Mensch, 2 2 8 1930; Kirchliche Dogmatik I, 1 1932; Die Theologie und die Mission in der Gegenwart, 2 Z 10 1932. 37
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vernommene Oííenbarungswort attestiert, spricht er hier doch nur aus, was als Kanon für eine theologische Anthropologie zu gelten hat und was von Anfang an seine Überlegungen in dieser Richtung bestimmte: vom Glauben aus nach dem im Glauben selbst vorausgesetzten menschlichen Verstehensvorgang zu fragen. So ist es nur folgerichtig und ein nicht zu übersehender hermeneutischer Wink, daß er vor der eigentlichen systematischen Erörterung des Anknüpfungspunktes auf diese Voraussetzung, auf das principium cognoscendi, hinweist und damit den theologischen Zusammenhang angibt, innerhalb dessen die Fragestellung allein ihren Sinn und ihre Legitimität haben kann. c) Die kategoriale Bestimmung des
Anknüpfungspunktes
aa) Kontinuität und Diskontinuität Jede Näherbestimmung des Verhältnisses zwischen dem Sich-selbstVerstehen des Menschen vor dem Glauben und im Glauben stößt auf das Problem der Kontinuität und der Diskontinuität. Am Verständnis dieser dialektischen Beziehung wird sich jeweils das Urteil über Recht und Grenze der Anknüpfung entscheiden. Brunner formuliert das vorliegende Problem in schärfster Zuspitzung in den beiden sich scheinbar widersprechenden Thesen: 1. „Die Verkündigung des Evangeliums geschieht nicht, kann und soll nicht geschehen, es sei denn in einer bestimmten Kontinuität mit dem allgemein-menschlichen und insbesondere einem vorausgesetzten allgemeinreligiösen Vorverständnis." 2. Diesem Satz ist nun aber sofort ein zweiter hinzuzufügen, der ihn allerdings nicht aufheben, sondern präzisieren soll: „Das Evangelium kann nicht verkündet werden, es sei denn in der völligen Durchbrechung dieser Kontinuität!"39 Denn der Inhalt des Evangeliums „korrigiert" nicht nur jenes Vorverständnis, er „negiert" es in der schärfsten Weise. Im Hinblick auf den Inhalt des Evangeliums erweist sich nämlich die natürliche Gotteserkenntnis nicht als wirkliche Gotteserkenntnis, nicht als heilsame, lebenschaffende Erkenntnis, sondern als „ todbringende Nichterkenntnis". Das Evangelium vom gekreuzigten Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit, um dessentwillen Paulus den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche wurde, ist gleichwohl den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit. Wenn Brunner zuvor alles Gewicht auf die Feststellung legte, daß es keinen religiösen Begriff im Neuen Testament gibt, der nicht dem vor39
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Ankn, S. 510.
handenen Sprachschatz entnommen ist 40 , so verweist er nun auf den radikalen Bedeutungswandel, den alle diese Begriffe mit ihrer Indienstnahme durch die Verkündigung durchmachen. Sie bekommen einen neuen Sinn analog jenem Vorgang, den Paulus 2.Kor. 5,17 beschreibt. Das Wort, das Christus verkündigt, ist ein neues Wort. Es manifestiert eine neue Wirklichkeit. Luther hat diesen Sachverhalt bereits treffend erfaßt, wenn er sagt: Omnia vocabula in Christo novam significationem accipere41. Das, was das Evangelium an- und zusagt, das, was es als Besonderes sagt, das kann man nicht anders wirklich verstehen als indem man ein Glaubender wird in einem Akt der Umkehr. Der Akt des wahren Verstehens ist darum identisch mit dem Akt des Glaubens. Nichtglaube bedeutet notwendig Mißverstehen. Nur durch den Bruch mit dem bisherigen religiösen Selbstverständnis kommt es zum neuen Selbstverständnis des Glaubens. Brunner beschreibt diesen Bruch fast in ähnlicher Weise wie in seiner frühen dialektischen Darstellung des Glaubens: „So wenig als Auferstehen die Fortsetzung des Sterbens, so wenig als Gnade eine höhere Form der Sünde, Freiheit eine Steigerung der Knechtschaft ist, so gewiß handelt es sich im Evangelium nicht um ein perficere, sondern um ein regenerare oder reparare oder restituere natu ram." 42 Freilich scheint sich in den Begriffen reparare, regenerare und restituere, nimmt man sie für sich, nicht ein qualitativer Gegensatz wie Tod und Leben anzudeuten, nicht die Diskontinuität eines radikalen Bruches, der keinerlei Verbindung mehr zuläßt, sondern vielmehr gerade der positive Rückbezug auf ein Vorgegebenes. Verrät sich hier erneut eine Inkonsequenz, die den Verdacht rechtfertigt, daß Brunner es mit dem Bruch, von dem er hier spricht, doch nicht so ernst gemeint haben kann? Wird die „völlige Durchbrechung der Kontinuität" damit faktisch nicht doch wieder eingeschränkt, wenn nicht gar zurückgenommen, so daß schließlich doch wieder die Kontinuität und mit ihr die natürliche Theologie triumphiert? Wenn dieser Vorwurf tatsächlich gegen Brunner erhoben wurde, dann nicht zuletzt wegen seiner Verwendung des reparatio-Begriffs in diesem 40 „Der Inhalt der nt. Wörter ist ein wahres Kompendium nicht bloß natürlicher Lebens- und Welterfahrung, sondern audi eines ethischen und religiösen Selbst-Weltund Gottesverständnisses" (Ankn, S. 508). 41 W A 39 I, S. 231 AI Z. I f f . : Omnia vocabula fiunt nova, quando e suo foro in alienum transferuntur. A H I Z. 18ff.: Omnia vocabula fiunt nova, quae transferuntur a philosophia in theologiam. Vgl. W A 39 I, S. 229, Ζ. 6 ff. : Si volumus uti philosophicis terminis, müssen wir sie erst wohl zum Bade führen. W A 36, 184, 16: Quando loquimur de D e o nostris vocabulis, tum fiunt aliena. Siehe dazu audi ThuOnt, S. 116 f., w o Brunner zum Bedeutungswandel der Worte bemerkt: Sie bekommen einen anderen Sinngehalt „durdi ihr Bezogensein auf das, was den immanenten Zusammenhang des Bewußtseins sprengt, dadurch, daß das göttliche D u selbst als Subjekt sidi setzt, durch ihre Bezogenheit auf die Offenbarung. D a ß in der Offenbarung Gott sich selbst als das uns ansprechende D u setzt, das madit plane nova omnia vocabula". 42 Ankn, S. 511.
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Zusammenhang. Er wurde in der ganzen Auseinandersetzung fast zu einer Art Schibboleth für die anthropologische Frage in der Theologie. Ob er wirklich dazu geeignet ist, das Problem zu erhellen, eine Unterscheidung der Geister herbeizuführen und Brunners Anliegen zu diskreditieren, muß allerdings bezweifelt werden. Gerade hier kommt es auf den Kontext an, auf den ganzen Zusammenhang der theologischen Uberlegungen, in dem er seinen Sinn erhält. Ein gerechtes Urteil wird sich darum nur aus der Klärung des Verständnisses der natura gewinnen lassen, die restituiert werden soll. Es ist deutlich, daß Brunner jedenfalls an dieser Stelle das reparare naturam bewußt als Gegensatz zur Vorstellung eines perficere naturam versteht, also gerade nicht im Sinne einer vollendenden Weiterführung des Menschen auf seinem Weg, sondern im Sinne seines Neuwerdens, seines Wiedergeborenwerdens43. Und er legt allen Wert auf die Feststellung, daß da, „wo dieser Gegensatz um des Anknüpfens willen auch nur im mindesten abgeschwächt wird", nicht mehr von einer Anknüpfung des Evangeliums die Rede sein kann 44 . Die Diskontinuität als Ausdruck des schöpferischen Handelns Gottes, der Rechtfertigung allein aus Gnaden, der Verlorenheit des Menschen in seinem Widerspruch, soll also in keiner Weise abgeschwächt werden. Und jene mit dem Begriff des Vorverständnisses angedeutete Kontinuität kann nur als „im Dienst dieser Diskontinuität" stehend redit verstanden werden. Sie hebt die Diskontinuität nicht auf. Sie macht sie nicht unwirksam, sondern sie läßt sie gerade zur Geltung kommen. Das Anknüpfungsgeschehen ist dann nichts anderes als das Inanspruchnehmen des Kontinuierlichen, um das Diskontinuierliche zur Geltung kommen zu lassen! 1 3 Brunner hat offensichtlich den Sprachgebrauch Luthers und Calvins vor Augen, vgl. Ankn, S. 523 Anm. 15: „Darum heißt bei ihm (sc. Luther) wie bei Calvin die Wiedergeburt immer reparatio imaginis." Die nicht gerade glückliche Formulierung in N u G : „Man kann nichts reparieren, was überhaupt nicht mehr da ist. Aber man kann allerdings etwas so reparieren, daß man sagen muß: das ist ja ganz neu geworden" (NuG, S. 21), wird durch Brunners Erläuterung (NuG 2 , S. 50) ebenfalls in dieser Richtung interpretiert. Aber hier hat der Kontinuitätsgedanke das stärkere Gewicht bekommen. Was Brunner meint, hat er schon im „Mittler" ausgesprochen: „Der Sinn der Christusoffenbarung ist die Wiederherstellung der Schöpfungsordnung und ihre Vollendung, restitutio, reparatio, recapitulatio. Dieses ,re', diese Rückkehr ins Heile, ist das Entscheidende in der nt. Verkündigung, nodi mehr als in der alttestamentlichen. Es ist hier noch vollkommener in seiner Grundsätzlichkeit kundgetan. Es ist das Zurück zum allerersten Anfang —, aber freilich zugleich noch ein darüber Hinaus. Dieses Zurück heißt: Buße, Wiederaufnahme, Versöhnung; es heißt aber zugleich: Herauskommen aus widergöttlichem Banne, Erlösung" (Mi, S. 502). Zur Kritik am reparatio-Begriff vgl. K. Barth, Nein, S. 30. 4 4 Das würde zur „heillosesten Verfälschung der Botschaft" führen. Hier ist noch einmal auf die Warnsignale hinzuweisen, die Brunner ausdrücklich am Anfang seiner Überlegungen in Erinnerung ruft, und an die er sich zu halten gedenkt (siehe oben S. 155, Anm. 10).
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Es ist damit zugleich Ausdruck des Zusammenhangs und des radikalen Gegensatzes. Worin besteht aber nun das Kontinuierliche in diesem Geschehen? So sinnvoll es ist, von einer Kontinuität im Handeln Gottes als Schöpfer und Erlöser zu sprechen, von einer Kontinuität seiner Treue und Gnade, aus der der Mensch immer lebt und die den Gegensatz zwischen dem alten und dem neuen Menschen überspannt45 — die Frage nach dem Kontinuierlichen im Selbstverständnis des Menschen, das als Anknüpfungspunkt in Anspruch genommen werden könnte, ist damit noch nicht beantwortet. Auch die naheliegende Antwort, daß der ganze Mensch der Anknüpfungspunkt sei, ist in diesem Zusammenhang ebenso wahr wie nichtssagend, da ja speziell nach dem Verhältnis dessen, „was der natürliche Mensch ,mitbringt' und was auch im Glauben irgendwie ,erhalten' bleibt, zu dem Neuen, das ihm im Glauben geschenkt wird", gefragt ist 46 . Als grundlegend für die rechte Bestimmung dieses Verhältnisses muß die Tatsache angesehen werden, daß es hier um ein personhaftes Geschehen geht. Der persönliche Gott begegnet dem Menschen, indem er ihn anredet, personhaft. Er nimmt ihn nicht als truncus et lapis, er setzt ihn nicht als eine tabula rasa voraus, sondern als ein Gegenüber, dem sein Wort gilt und von dem er Antwort fordert. In diesem Geschehen, in dem es um das Neuwerden des Menschen geht, bleibt der Mensch das angesprochene und antwortende Gegenüber; er bleibt Subjekt als um sich selbst wissendes, nach sich selbst fragendes, von Gott in Frage gestelltes, sich selbst Gott überantwortendes Ich. Die Frage nach dem Kontinuierlichen hat also darin ihren Rückhalt und Orientierungspunkt: Die Identität des Subjektes muß auf jeden Fall gewahrt bleiben, wenn vom alten und vom neuen Menschen recht gesprochen werden soll 47 . Das „natürliche" Selbstverständnis und das glaubende Selbstverständnis sind miteinander verbunden in dieser Identität des menschlichen Subjekts. Es gibt ein Identisches, das im Sterben des alten Menschen nicht untergeht, sondern mit zu seinem Neugeschaffensein gehört. In dem Bekenntnis „ich glaube" wahrt das Ich dieses Bekennens seine Identität. Wäre es anders, könnte nicht mehr vom Inanspruchgenommensein, vom Hören, Antworten, Bekennen, Gehorchen, Sich-Entscheiden des Menschen gesprochen werden. Der Hinweis auf den Heiligen Geist als die allein in Gottes Handeln begründete Möglichkeit und Wirklichkeit des Glaubens qualifiziert dieses Geschehen gerade nicht als ein Ankn, S. 511 f. Ankn, S. 514. 4 7 Ganz ähnlich schon J.Müller, Die christliche Lehre von der Sünde, 2. Bd. 1867 5 , S. 3 1 9 : „Wenn diese geistige Empfänglichkeit durdi die Sünde vernichtet sein soll, wo wäre dann audi ein Band zu finden zwischen dem alten und neuen Menschen, eine Bürgschaft für die Identität des Subjektes in beiden Zuständen, wie sie der Begriff der Erlösung in seinem Unterschiede von der Schöpfung im strengen Sinne fordert?" 45
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impersonales, in dem der Mensch sich selbst in der mystischen Ekstase verliert oder einer überpersönlichen Kausalität ausgesetzt sieht, sondern der Geist Gottes bezeugt sich dem Geist des Menschen und bewegt ihn zum Glauben, so daß in dieser Bewegung das Ich mit seinem Um-sichselbst-Wissen nicht ausgelöscht wird. Es wird zu einem neuen, ohne seine Identität zu verlieren 48 . Die sich hier zeigende Kontinuität bedeutet freilich noch nicht die Antwort auf die gestellte Frage. Sie macht nur das Faktum sichtbar. Sie fordert eine prinzipielle Besinnung auf das sich darin ausdrückende Wesen der auf Gott bezogenen und von Gott in Anspruch genommenen Wirklichkeit des Menschen. Wie ist das „Bleibende" näher zu bestimmen? Was wird hier im Hinblick auf das Glaubensgeschehen als vorausgesetzte Verwirklichungsbedingung des Glaubens in Anspruch genommen und dabei positiv oder negativ qualifiziert? Und wo verläuft die Grenze zwischen dem, was hierbei bejaht bzw. verneint wird? Läßt sich diese Grenze prinzipiell festlegen, d. h. läßt sich das Anknüpfungsgeschehen so präzisieren, daß es einer kategorialen Klärung zugänglich ist? Das ist das Problem, das Brunner nun unter Zuhilfenahme aller bisher erarbeiteten Gesichtspunkte als die anthropologische Grundfrage zur Entscheidung stellt, und zwar, wie er betont, im Anschluß an „die reformatorische Theologie"! bb) Formale und materiale Personalität Da es sich im Glaubensgeschehen um ein personhaftes Geschehen handelt, zielt die Frage nach den anthropologischen Voraussetzungen, die sich hier als wirksam erweisen und das Verhältnis zwischen dem „natürlichen" und dem glaubenden Selbstverständnis bestimmen, auf das Personsein des Menschen. Der Gesichtspunkt der Personalität leitet darum alle weiteren Überlegungen Brunners. Seine Theorie der Verkündigung als methodische Frage nach den Voraussetzungen des Hörens, nach der Möglichkeit des Verstehens, ist nichts anderes als die Herausarbeitung der Gehalte personhaften Seins. Das Personsein als solches, das also, worin der Mensch seine Menschlichkeit hat, findet seinen ursprünglichen Ausdruck im Selbstbewußtsein, im Subjektsein — man könnte ebenso sagen: in der Vernunft als Vernehmen-Können, als Bewußt-Sein, als Sprachfähigkeit. In diesem Sinne versucht Brunner bereits eine erste Antwort auf die gestellte Frage zu geben: „Die Vernunft ist die formale Voraussetzung des Glaubens." Damit soll nicht gesagt sein, daß wir durch die Vernunft oder mit der Vernunft 48 Vgl. dazu Ankn, S. 511; N u G , S . 2 0 f . ; Vom Werk des hl. Geistes, S . 4 3 ; MiW, S. 5 5 0 f . : „Die Bibel versteht den Menschen nie, am allerwenigsten im Glaubensvorgang, als truncus et lapis, . . . sondern sie betrachtet ihn immer als verantwortliches Subjekt. Dieses verantwortliche Subjekt wird nicht erst in der Predigt geschaffen, sondern von der Predigt vorausgesetzt."
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glauben, wohl aber, daß wir nicht ohne die Vernunft glauben. Das Humanuni, das Menschsein des Menschen, das, was ihn vom Tier unterscheidet, ist notwendig, „damit Glaube zustande kommt". Denn Gottes Wort kann — auch wenn es sich als "Wort Gottes von allem unterscheidet, was der Mensch von sich aus erkennt und als sein eigenes Wort sagt — eben doch „nur dem gesagt werden, der überhaupt des Wortes fähig ist". Dieses „überhaupt Vernehmenkönnen", das allerdings noch etwas anderes ist als das tatsächliche Vernehmen, ist darum der „Anknüpfungspunkt" für das Vernehmen der Christusbotschaft49. Brunner versteht also unter dieser Fähigkeit zum Wort, wie wir bereits sahen, zunächst nur das „Sagen- und sich Sagenlassenkönnen" im allgemeinen Sinn, d. h. das Geschaffensein des Menschen durch das Wort auf das Wort hin, so daß er sein Wesen im Wort hat. Es ist die Ansprechbarkeit als Voraussetzung für das Hörenkönnen des Gotteswortes, um die es ihm hier geht, nicht das Verfügen über Gottes Wort, wie der von ihm in diesem Zusammenhang ebenfalls gern gebrauchte Begriff der Wortmächtigkeit mißverstanden werden könnte 50 . Die Empfänglichkeit 4
» Ankn, S.514. K. Barth hat in der Tat Brunners Begriff der Wortmächtigkeit als „Offenbarungsmächtigkeit des Mensdien" verstanden (Nein, S. 16. 24 ff. 42. 62) — nicht ganz ohne Zutun Brunners, der in N u G auch den Begriff der dauernden „Offenbarungsmächtigkeit", die Gott seinem Werk verliehen hat, gebraucht (NuG, S. 15. 2 IV). Da ja auch der Mensch Gottes Werk ist und da dem Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit „irgendwie" dodi ein Wissen um Gott zugesprochen wird, erscheint auf den ersten Blick Barths Interpretation gar nicht so völlig aus der Luft gegriffen, wie Brunner es hinterher darzustellen sucht. Immerhin bedeutet bei F. Ebner das „Worthaben" des Menschen audi dies, daß er darin sdion sein „heimliches Wissen um Gott" hat (vgl. „Das Wort und die geistigen Realitäten", 1921, S. 26. 49. 56. 186. 244)! Man wird zumindest von einem unbedachten Gebrauch des Begriffs der „Mächtigkeit" bei Brunner sprechen müssen. Jedenfalls verwahrt sich Brunner sehr entschieden gegen die ihm von Barth unterstellte Deutung: „Den mit Redit perhorreszierten Ausdruck ,Offenbarungsmächtigkeit des Mensdien' habe ich nie gebraucht. Er würde ja besagen, daß der Mensch ,der Offenbarung mächtig' sei, während der obige Ausdruck aussagt, daß die Werke Gottes seit der Schöpfung mächtig seien, Gott zu offenbaren. So wie ich ihn brauche, ist er objektiv, so wie ihn Barth mir zur Last legt, ist er subjektiv gebraucht, .Mächtigkeit des Menschen für Gott' " (NuG 3 , S. 47; vgl. MiW, S. 541). — Wie sehr Brunner an der Beseitigung dieses Mißverständnisses gelegen war, zeigt sich nodi anläßlich des Wiederabdrucks von N u G in der Theologischen Bücherei, dem Brunner eigens eine Anmerkung zum Begriff der Wortmächtigkeit hinzufügte, in der er auf den „verhängnisvollen Irrtum" Barths hinweist. Sein „Falschzitat" habe viele erschreckt und seinen Namen bei vielen „stinkend gemacht". Immerhin erklärt Brunner nun den Ausdruck „Wortmächtigkeit", der nur besagen soll, daß der Mensch des Wortes mächtig ist, d. h. mit der Gabe des Redens und Verstehens ausgestattet sei (vgl. audi NuG 2 , S. 45 b), für eine unglückliche Bildung — von dem Begriff der Offenbarungsmächtigkeit ganz zu schweigen: „Weder habe ich jemals von ,Offenbarungsmächtigkeit des Menschen' gesprochen . . . , noch war mir ein solcher Gedanke je möglich" (Theologische Bücherei Bd. 34: „Dialektische Theologie" in Scheidung und Bewährung 1933—1936, 1966, hrsg. v. W. Fürst, S. 183 Anm. 12 a). 50
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für das Wort sagt noch nichts aus über das Ja- oder Neinsagen zum Wort Gottes. Sie ist zu verstehen als „die rein formale Ansprechbarkeit". Allerdings interpretiert Brunner diese formale Ansprechbarkeit in ihrem Sinn und in ihrer Konsequenz dahin, daß der Mensch also „nie außerhalb des Anspruchs", nie außerhalb des Wortes Gottes steht. Die Sprachoder Wortmächtigkeit dokumentiert das „unverlierbare Stehen unter dem Wort Gottes, in der Verantwortlichkeit, entweder als Nein- oder als Jasager" B1. All die genannten Elemente des Personseins — Selbstbewußtsein (Subjektsein), Vernunft, Geistigkeit, Wortfähigkeit —, in denen zugleich das Geheimnis der Transzendenzbezogenheit, der Nichtwelthaftigkeit und die Freiheit zum Ausdruck kommen, faßt Brunner zusammen in dem Begriff der formalen Personalität (persona-quod). Ihm kommt als dem eigentlichen Grundbegriff der ontologischen Anthropologie eine entscheidende Bedeutung zu. Am Verständnis des mit diesem Begriff bezeichneten Sachverhalts entscheidet es sich, was vom Sein des Menschen als solchem auszusagen ist. Er verweist auf das, worin menschliche Existenz gründet und worin sie geschieht, auf die Existenz-„Struktur" als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Existierens. 50 sehr Brunner in der Auseinandersetzung mit Bultmann davor warnte, die formal-ontologische Bestimmung des Menschseins der Philosophie zu überlassen, weil dabei das theologische Wesen des Menschseins, seine Geschöpflichkeit, seine Gottbezogenheit, sein von Gott Inanspruchgenommensein womöglich verfehlt werde, so sieht er doch gerade in der genaueren Ausarbeitung des Begriffs der formalen Personalität, d. h. im Aufweis der formalen Strukturen, die eigentliche Aufgabe einer kritischen Philosophie. Hier ist eine echte Arbeitsgemeinschaft zwischen Philosophie und Theologie nicht nur möglich, sondern notwendig, indem einerseits die Philosophie den Gehalt der formalen Personalität, der auch einer theologischen Anthropologie zugrunde liegt, expliziert, während die Theologie die Momente der natürlichen Existenz im Hinblick auf das Sein-im-Worte-Gottes zu interpretieren und insbesondere darüber zu wachen hat, daß die Philosophie die Grenze der formalen Bestimmung nicht überschreitet 52 . 51
Ankn, S. 522; vgl. N u G , S. 18. Vgl. Ankn, S. 514 f. 519. 525 ff. Der Konflikt der Grenzüberschreitung ist von beiden Seiten her möglich. D i e Theologie überschreitet ihre Grenze, wenn sie z.B. im vermeintlichen Interesse der Gnadenlehre die formale Freiheit faktisch „in der materialen Unfreiheit untergehen läßt und aus der Passivität des Menschen gegenüber der Gnade die Passivität des truncus et lapis macht" (Ankn, S. 526) — eine Gefahr, die Brunner offensichtlich nicht nur als historische Erinnerung aufgefaßt wissen möchte, sondern die er bei Barth erneut gegeben sieht. Die Versuchung der Philosophie wie überhaupt des natürlichen Selbstverständnisses besteht demgegenüber in einer immanenten Auslegung dessen, was nur aus dem Schöpfungshandeln Gottes zu verstehen ist, in 52
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Wenn Brunner diese formale Personalität als Anknüpfungspunkt für das Vernehmen der Christusbotschaft bezeichnet — sie ist ja „die Voraussetzung dafür, daß ich sagen kann: Christus hat mich erlöst" —, dann scheint hiermit allerdings nodi nicht viel zur Klärung der konkreten Problematik der Anknüpfung erreicht zu sein. Wenn man audi nicht sagen kann, es handle sich bei solchen formalen Bestimmungen lediglich um leere Begriffe, um Abstraktionen, in denen die Problematik des wirklichen, aktuellen Existierens mit seinen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten noch gar nicht in den Blick gekommen ist 53 , so bleibt dodi die Frage, was diese formale Personalität nun eigentlich in der konkreten Verkündigungssituation besagt. Daß der Mensch sein Menschsein in Entscheidung, in Verantwortung, im Antworten auf Angesprochensein verwirklicht, sagt ja noch nichts aus über seine innere Beziehung zu dem spezifischen Inhalt der Verkündigung, der ihn in eine ganz bestimmte, einmalige Situation der Entscheidung und Verantwortung bringt. Nicht das überhaupt Vernehmenkönnen, nicht das formale sich überhaupt Entscheidenkönnen steht hier zur Diskussion, sondern das verstehende Hören dieses bestimmten Wortes, das sich von ihm zur Verantwortung Rufenlassen. Gewiß ist darin auch die Voraussetzung mitgegeben, daß der Mensch zur Verantwortung berufen ist, daß er Wort vernehmen, Sinn begreifen kann, aber zwischen der rein formalen ontologisdien Bestimmung menschlicher Existenz und dem geschichtlichen aktuellen Existieren klafft ein Abgrund, der sich zwar kategorial als Ubergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit beschreiben läßt, der aber mit dieser Beschreibung noch nicht überwunden ist. Dies bleibt darum zunächst die an Brunner zu richtende Frage, ob in der so beschriebenen formalen Personalität wirklich schon ein ausreichender Reditstitel und Stützpunkt für die Möglichkeit der Anknüpfung gefunden ist, wie sie als „praktisches Anliegen der Kirche", das sich auf die Verkündigungssituation bezieht, zur Diskussion steht. Die bisherige Antwort, daß die formale Personalität der Anknüpfungspunkt sei, ist nicht mehr als eine formale Antwort, deren Richtigkeit sich gegenüber einer Verwechslung der formalen Menschlichkeit mit der eignen Wirklichkeit, in dem Mißverständnis der formalen Freiheit als materialer Freiheit, der Gottbezogenheit als Göttlichkeit, der Theonomie als Autonomie des Menschentums (vgl. Ankn, S. 5 2 6 ; NuG, S. 2 9 ; MiW, S. 166 ff.). In MiW, S. 557 verwirft Brunner schließlich die Auffassung einer Arbeitsteilung zwischen Theologie und Philosophie, da es keine neutrale Ontologie des Seins oder des Daseins gebe. Das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie könne darum nur ein dialektisches sein. 5 3 R. Roessler gibt einen guten Überblick über die formalen Strukturen der Personalität, die Brunners Interpretation der Offenbarung, der Erkenntnis und der E x i stenz zugrunde liegen. Die Struktur der Existenz wird kategorial beschrieben als Seinin-Bezogenheit, als Sein-in-Entscheidung, als Sein-in-Verantwortung, als Sein-als-Person, als Sein-in-Abhängigkeit und Freiheit (a.a.O., S. 96).
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dem wirklichen Problem der Anknüpfung nodi als wenig hilfreich erweist. Deutlicher wird diese Beziehung allerdings in Brunners weiterer Überlegung, die sich auf den „materiellen Kern" der Person richtet, auf die materiale Personalität (persona-quid), auf das natürliche Selbstverständnis als solches, wie es sich als Weltbewußtsein in der Erfahrung der Begrenztheit und Endlichkeit, als sittliches Bewußtsein und als Gottesbewußtsein darstellt. Materiale Personalität bedeutet also „das Zusichkommen der Person als Person", den Durchbruch des Sittlichen, die Erfassung des Lebens unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung, der Freiheit, der Entscheidung, der Verantwortlichkeit 54 . Wenn im Personsein bereits die Bezogenheit auf Gott gegeben ist, dann muß sich das Selbstverständnis in seiner Korrelation zur Gotteserkenntnis aufweisen lassen. Hier geht es nun um die Sache selbst, die im Glauben zur Entscheidung steht, und hier wird, wie Brunner gesteht, das Problem „am schwierigsten und brennendsten". Immerhin glaubt er, in der reformatorischen Theologie entscheidende Hinweise für die gerade hier notwendige Klärung zu finden. So habe keiner der Reformatoren dem natürlichen Menschen jegliche Gotteserkenntnis abgestritten, und keiner habe „das Vorhandensein einer solchen theologia naturalis als belangloses Faktum hingestellt. Im Gegenteil, gerade dieses zur menschlichen Natur als solcher gehörige Wissen um Gott ist ihnen die notwendige Voraussetzung aller Evangeliumspredigt." 55 Es wird gewissermaßen in die Glaubenserkenntnis „eingeschmolzen", ohne daß damit eine inhaltliche Kontinuität dieser natürlichen Gotteserkenntnis mit der Offenbarung Gottes in Christus gegeben ist. Diese wird vielmehr ausdrücklich verneint 56 . Das Negative und das Positive in diesem Vorgang sieht Brunner in Luthers Begriff der cognitio legalis in genialer Weise zum Ausdruck gebracht. Im Gesetz ist der Inhalt und die Grenze dieser Gotteserkenntnis gegeben. Es beschreibt den Kreis der „immanenten religiösen Möglichkeiten". Das allgemein-menschliche sittliche Bewußtsein, d. h. das Bewußtsein der Verantwortlichkeit, der Verpflichtung gegenüber dem Anspruch des Gesetzes, signalisiert das Gottesbewußtsein. Indem der Mensch sich „irgendwie" in seiner Existenz durch ein heiliges, göttliches Gesetz gebunden weiß, hat er „irgendwie" auch Gotteserkenntnis 57 . Im Begriff des Gesetzes ist also, wie wir bereits früher feststellten, das Sittliche und 54
Vgl. Ankn, S. 515; GuO, S. 12. Ankn, S. 515 f. Brunner führt als Beweis Äußerungen Luthers an, wie sie H . Voßberg in seinem Buch über „Luthers Kritik aller Religion" (1912) zusammengetragen hat. 50 Vgl. WA 40 I, S. 607, Z. 28 ff. : Duplex est cognitio Dei, Generalis et propria. Generalem habent omnes homines, scilicet, quod Deus sit, quod creaverit coelum et terram . . . Sed quid Deus de nobis cogitet . . . homines non noverunt. 57 Ankn, S. 516; vgl. dazu N u G , S. 12 f.; GuO, S. 12ff. 39 ff. 97. 100. 123 ff. 579 f. 55
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das Religiöse vereint, wobei allerdings die Frage, wie sich der Inhalt dessen, was hier allgemein unter Gesetz verstanden wird, zum „Gesetz Moses" und zum „Gesetz Christi" verhält, noch einer genaueren Prüfung bedarf 58 . cc) Das Gewissen als „Ort" der Anknüpfung In diesen beiden, für die Problemstellung entscheidenden Aussagen über die Existenz bzw. das Selbstverständnis des natürlichen Menschen, die ihm ein Wissen um Gott in seinem Wissen um das Gesetz zusprechen, ist schon der Hinweis auf den eigentlichen Mittelpunkt des natürlichen Selbstverständnisses enthalten: das Gewissen. Denn im Gewissen erfährt der Mensch überhaupt erst seine Verantwortlichkeit. Es ist das Bewußtsein und der „Ort" der Verantwortlichkeit, ein Wissen, das uns beim Gesetz behaftet als der richtigen Ordnung unseres Lebens. Aber es ist ein Wissen, das diese Ordnung als gestörte Ordnung meldet, ein Wissen um den Widerspruch der eigenen Existenz, das Bewußtsein der verfehlten Verantwortung. Im anklagenden Gewissen erfährt der Mensch sich selbst in seinem Widerspruch. Es ist „das unheimlich wider ihn selbst sich aufdrängende negative Facit seines Selbstverständnisses" 5e . Da dieses alarmierende Wissen um sich selbst im Zentrum der eigenen Existenz die Verantwortlichkeit überhaupt erst bewußt macht, ist hier audi der Ort, an dem das Gottesverhältnis zur Sprache kommt. Brunner möchte zwar das Gewissen nicht als die Stimme Gottes aufgefaßt wissen — es redet als Gewissen ja nicht von Gott, sondern vom Gesetz; und es ist in seiner Menschlichkeit selbst vom Widerspruch gezeichnet, in die Sünde verwikkelt. Aber in ihm meldet sich doch Gottes-Angst und Gottes-Sehnsucht, auch wenn der Mensch in seinem Wissen um Schuld und Verantwortlichkeit nicht weiß, daß er es hierbei immer mit Gott zu tun hat. Im Gewissen begegnet der zornige Gott, der deus absconditus 60 . 58 Brunner geht dieser Fragestellung insbesondere in GuO nach, vgl. auch die Zusammenfassung in MiW Beilage II: „Zur Dialektik des Gesetzes" (S. 534ff.), Beilage III, 4.: „Gesetzeserkenntnis und Schöpfungsordnung" (S. 544 f.), sowie OuV, S. 86 ff. 351 ff. — I . H . Pohl, Das Problem des Naturrechtes bei E. Brunner, 1963; G. H. Hubbeling, Natuur En Genade bij E. Brunner, 1956 (§ 7). 59 Ankn, S. 516 f.; vgl. GuO, S. 140ff.; N u G , S. 12 f.; MiW, S. 182. 201 f.; OuV, S. 367. Brunner ist in seiner Beschreibung und Deutung des Gewissensphänomens vor allem dem Werk M. Kählers (Das Gewissen, 1878) und dem Gewissensbegriff Luthers verpflichtet, wie er von Th. Harnack und G. Jacob (Der Gewissensbegriff in der Theologie Luthers, 1929) im Gegensatz zu Holls Deutung herausgestellt wurde (vgl. GuO, S. 586 f. Anm. 6—12). Vgl. aber audi Fr. Gogartens Hinweis auf das im Gewissen gebundene Selbstverständnis als Ort der Auseinandersetzung in: Das Problem einer theologischen Anthropologie, ZZ 7 1929, S. 509 f. 60 GuO, S. 140ff.; vgl. MiW, S. 203: „Das böse Gewissen ist die Art, wie wir als Sünder die Gegenwart Gottes erfahren. Es ist sozusagen der negative heilige Geist, der Zorn Gottes als Erfahrung, das Leben unter dem Fluch des Gesetzes als seelische Wirklichkeit."
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Wenn Brunner also das natürliche Wissen des Menschen um Gott im Wissen um das Gesetz und dieses wiederum im Gewissen gegeben sieht, dann ist es ein Wissen, das ihn anklagt und verurteilt, ein Wissen um die Wirklichkeit Gottes, in dem Gott selbst anonym bleibt. Dies trifft freilich nur für das Phänomen des Gewissens zu. Denn die natürliche Gotteserkenntnis, wie Brunner sie allgemein voraussetzt, artikuliert sich ja nicht nur als ein anonymes Wissen um Gott, sondern sie hat durchaus einen Begriff von Gott. Davon wird noch die Rede sein. Entscheidend für das Gottesverhältnis, für den Ort und für die Situation der Gottesbegegnung des Menschen ist jedoch jene Gewissenserfahrung, in der der Mensch in seiner Verantwortlichkeit aufgerufen ist. Hier zeigt sich zugleich seine Gottesferne und seine Gottesnähe, sein Gottabgewandtsein und sein Gottzugewandtsein. Hier hat er es immer schon mit Gott zu tun, wenn auch in der Weise der Anonymität, und hier bekommt er es mit Gott zu tun in seinem ihm zugesprochenen richtenden und rettenden Wort. Auf diesen Mittelpunkt des natürlichen Selbstverständnisses zielt das Wort Gottes. Er spricht den Menschen im Gewissen an — man könnte auch sagen, er spricht ihn auf sein Gewissen an. Wenn also nach dem Anknüpfungspunkt gefragt wird, in dem der Mensch sich als von Gott angesprochen erfährt, dann ist er im Gewissen zu suchen: „Die Gebundenheit im Gewissen ist der Ort, wo einerseits die entscheidende Anknüpfung, andererseits der entscheidende Gegensatz stattfindet." 81 Mit dieser Präzisierung des Anknüpfungspunktes bleibt Brunner nun nicht mehr in der Unbestimmtheit einer rein formalen Ansprechbarkeit, sondern er bezieht sich damit bereits auf das wirkliche Verkündigungsund Glaubensgeschehen. Der Gewissensbezug ist für dieses Geschehen konstitutiv, denn eine „Verkündigung, die nicht beim Gewissen anknüpft, verfehlt den Menschen; Verkündigung, die nicht das Gewissen zum Schweigen bringt, ist nicht Evangelium" 62 ! Es ist deutlich, daß diese Art der „Anknüpfung" weder etwas bloß Formales sein kann noch daß sie den Menschen unverwandelt läßt. Das zeigt sich im Geschehen des Glaubens. Das Geschehen des Glaubens reflektiert sich nicht nur im Gewissen, es ist selbst ein Vorgang im Gewissen. Die notwendige Unterscheidung von Glauben und Gewissen wird dadurch keineswegs aufgehoben. Denn der Glaube, in dem der Spruch der Rechtfertigung vernommen und das Gewissen zum Schweigen gebracht wird, ist Gottes Werk und Gottes Gabe. Seine „Objektivität" wird also nicht aufgelöst in eine subjektive menschliche Befindlichkeit. Er wird gerade nicht identifiziert mit dem gewissensmäßigen Selbstverständnis des Menschen! Brunner betont auch weiterhin, daß es wahrhafte Selbsterkenntnis nicht schon durch das Gewissen als solches gibt, sondern „nur dort, wo die Schuld als Sünde, wo das Gesetz als das Gebot des gnädigen Gottes, « Ankn, S. 517.
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62
Ebenda; vgl. NuG, S. 19 f.
wo das, ,wozu man nicht mehr gehört', als die Verbundenheit des Geschöpfes mit dem Schöpfer verstanden wird, und das heißt: im Glauben". Der Glaube geschieht im Gewissen — aber als Spruch gegen das Gewissen. Hier vollzieht sich die Wende vom alten zum neuen Selbstverständnis. Dabei wird das gewissensmäßige Selbstverständnis des Menschen durch das neue Selbstverständnis im gnädigen Wort Gottes in Christus „überdeckt", d. h. das Nein des Gewissens wird durch das Ja der Vergebung aufgehoben63. Aber auch dieses neue Selbstverständnis des Glaubenden bleibt ein gewissenhaftes Selbstverständnis in seinem dialektischen Gewissensbezug. Indem der anklagende Ruf des Gewissens gehört und beantwortet wird, wird das Gewissen im Glauben zwar „korrigiert", aber darin dodi zugleich auch bestätigt und geschärft, weil es nun als Anklage Gottes verstanden wird und so erst die Situation der radikalen Verlorenheit des Menschen zum Bewußtsein bringt64. In dieser Dialektik der im Glauben gegebenen Gewissensbeziehung kommt das Wesen der Anknüpfung zum Vorschein. Das „böse" Gewissen als entscheidendes Signum des natürlichen Menschen behaftet den Menschen bei seinem Nein, bei seinem Schuldigbleiben. Es ist der homo incurvatus in se, der sich hier seiner selbst bewußt wird. Diese „unheimliche Verschlossenheit" wird im Glauben aufgebrochen, überwunden, indem er das Nein des Gewissens im Hören des Versöhnungswortes Gottes zum Schweigen bringt. Und dieser Vorgang ist es, den Brunner im ent63 Vgl. GuO, S. 142 ff. Brunner gerät hier allerdings mit sich selbst in einen gewissen Widerspruch, wenn er bemerkt, der Glaube habe es zwar mit dem Gewissen zu tun, „aber nicht so, als ob er ,im Gewissen' stattfände . . . " . Er möchte ihn nicht zu einer Möglichkeit, zu einem Attribut des Menschen werden lassen : „Er findet nicht ,im Gewissen, sondern in der Stillegung des Gewissensalarms statt" (a.a.O., S. 142). Aber audi dies beschreibt ja eine Weise des Im-Gewissen-Seins, vgl. OuV, S. 367: „Im Gewissen muß der Mensch, vom Gesetz getroffen, Buße tun; im Gewissen muß der vom Gesetz getötete Mensch vom Wort Gottes getroffen werden, damit er lebendig gemacht werde. ,Getröstetes Gewissen' ist darum die erste Formel, mit der der evangelische Glaube umschrieben werden muß." — Diese Formel würde es erlauben, vom Glauben als Gewissen zu sprechen, um so seinen innersten Bezug, seine personbildende Macht zum Ausdruck zu bringen. 84 Brunner beschreibt die Gewissensfunktion und Gewissenserhellung im Glaubensgeschehen als eine dreifache. Erstens wird sein Ruf jetzt „als die Anklage Gottes, als der ,Eindruck', den der fordernde und richtende Gott ,im Herzen' des Menschen macht", verstanden. Zweitens wird diese Anklage als „von Gott selbst .niedergeschlagen' verstanden". Und drittens bekommt das Gewissen, das als solches eine menschliche Funktion bleibt, durch den Glauben einen neuen Sinn und neue Möglichkeiten: es wird „als das dem Menschen selbst eigene Selbstverständnis in seiner kritischen Funktion durch das Mit-Wissen um Gottes Gebot neu ausgerüstet" als die „Instanz, die das zu Gott Gehörige und Nichtgehörige auseinander scheidet". Dieses Geschehen im Mittelpunkt der menschlichen Existenz, „im Wissen des Menschen um sich selbst, in dem ihm seine neue Stellung zu Gott bewußt wird, ist die Wiedergeburt" (GuO, S. 143).
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scheidenden Sinn, der alles zuvor Gesagte in sich schließt, als Anknüpfung bezeichnet. Man könnte also sagen: Der Anknüpfungspunkt des Gotteswortes ist der Mensch als Gewissen! Nur so kommt es zum Glauben: durch diesen Mittelpunkt der menschlichen Personexistenz hindurch, in der Anknüpfung an das Schuld-, Sünde- und Verlorenheitsbewußtsein des natürlichen Menschen. Da geschieht der Glaube, „in diesem diakritischen Punkt, wo das, was wir uns selbst sagen müssen, zugleich auf seine Spitze getrieben und vernichtet wird". Brunner spricht im Hinblick auf diese „Anknüpfung im Gegensatz" davon, daß hier das fragliche Bewußtsein des Menschen durch Gottes gnädiges Wort und den Glauben als ein Negatives „zur Reife gebracht wird". Wo es durch Gottes Wort und Geist zum Glauben kommt, da kommt dieses Negative zur Reife, da wird es zuvor auf die Spitze getrieben, in der ihm von der entgegengesetzten Seite die „Spitze des Gotteswortes" entgegenkommt 65 . dd) Vorläufiges Ergebnis Wenn hier von einer Kontinuität gesprochen werden kann, dann ist es einerseits die Kontinuität des Schuldbewußtseins, das durch Gottes überführendes Wort radikalisiert wird zur Erkenntnis der Sünde coram Deo — also eine Kontinuität in dem, was den Menschen negativ qualifiziert, in dem, was ihn verurteilt 66 . Andererseits handelt es sich um eine Kontinuität im Gegensatz, indem das menschliche Gewissensurteil durch das Urteil Gottes gerade aufgehoben, außer Kraft gesetzt wird, aber doch zugleich in seiner Radikalisierung auch bejaht und beantwortet wird. In 6 5 Ankn, S. 517 ff.; vgl. dazu sdion GesuOff (siehe oben S. 92 ff.). Die bemerkenswerte Differenz, die in diesen Formulierungen steckt, scheint Brunner nicht bewußt geworden zu sein. Einerseits betont er ja, daß dieses Negative durch Gottes Wort „und den Glauben" zur Reife gebracht wird; andererseits kommt da, wo es „durch Gottes Wort und Geist zum Glauben kommt", dieses Negative „dem Glauben vorausgehend" zur Reife. Für A. Szekeres ist dies ein entscheidender Hinweis darauf, daß Brunners Lehre vom Anknüpfungspunkt von vornherein in einem Kontinuitätsschema gedacht sei. „Der Gedanke, der in dem ,Zur Reife Bringen' liegt, weist selbst auf einen Wachstumsprozeß der negativen Möglichkeit unter der Wirkung von Glaube und Gnade. Hier ist nicht die Rede von einem Wunder der Wiedergeburt, aber von einer Entwicklung von der Natur zur Gnade" (De Structuur van E. Brunners Theologie, S. 31 — übersetzt). Szekeres verrät mit diesem Urteil nur, daß er das Problem, um dessen Aufhellung Brunner sich müht, überhaupt nicht begriffen hat. 4 6 Brunner übernimmt den Begriff der Radikalisierung von R. Bultmann, weist jedoch ausdrücklich darauf hin, daß dieser Ausdruck „nicht eine bloße Steigerung, ein ,Mehr des Selben', sondern das Unbedingte gegenüber dem Bedingten meint". Er enthält also „mit der Kontinuität zugleich die Diskontinuität, mit der Anknüpfung zugleich den Gegensatz". So verstanden sei dieser Begriff allerdings der Schlüssel zur rechten Verhältnisbestimmung zwischen dem natürlichen und dem gläubigen Selbstverständnis bzw. zwischen der natürlichen und der gläubigen Gotteserkenntnis (Ankn, S. 525).
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beiden Fällen ist diese Kontinuität jedoch nicht Ausdruck einer immanenten Möglichkeit des Menschen! Hier wurzeln viele MißVerständnisse im Urteil über Brunners Verständnis des Anknüpfungspunktes, daß man das, was er als Kontinuität in der Diskontinuität zu beschreiben sucht, als eine dem Menschen verfügbare Möglichkeit versteht 67 — eine völlige Verkehrung des Denkansatzes Brunners, der diese Kontinuität prinzipiell an das Handeln Gottes bindet und in ihr niemals den Menschen selbst sich durchhalten läßt. Er kann in seinem Schuldbewußtsein nicht von sich aus zur wirklichen Erkenntnis der Sünde coram Deo kommen. Und er kann nicht sein eigenes Gewissensurteil aufheben und sich selbst rechtfertigen. Er kann von sich aus nur immer wieder das Nein Gottes bekräftigen und sich darin in seinem Inanspruchgenommensein durch Gott und in seinem Angewiesensein auf Gottes unbegreifliches Ja erfahren. Erst „im Glauben an den Gekreuzigten" wird das Gewicht der Sünde gewogen, der Zorn Gottes erkannt — „dort, wo er audi versöhnt ist" 68 . Gleichwohl nennt Brunner jenen diakritischen „Punkt" die Spitze der immanenten Möglichkeiten, da er als der generelle Anknüpfungspunkt generelle immanente Möglichkeit sein muß, d. h. er muß grundsätzlich im Bereich des natürlichen Selbstverständnisses liegen. Voraussetzung des Glaubens ist die Buße, die allerdings selbst wiederum erst im Glauben „völlig" ist. Und auf die Buße weist die Seinsweise des natürlichen Menschen als latente Verzweiflung an sich selbst hin. Aber diese Verzweiflung „reift erst zum Aufbrechen unter der gnädig öffnenden Wirkung des göttlichen Wortes". Daß also diese immanente Möglichkeit wirklich wird, d. h. daß es faktisch zur Erkenntnis der Sünde, zur wirklichen Verzweiflung an sich selbst kommt, in der jener diakritische Punkt erreicht wird, das ist dennoch „nichts Generelles mehr, sondern das ist ein Geschehen, das wir nur als Gnade verstehen können". Es ist Gottes Wort selbst, „das jene immanente negative Möglichkeit zur Wirklichkeit werden läßt". Sein Wort „schafft" sich also selbst innerhalb der immanenten Möglichkeit „die entscheidende wirkliche Anknüpfung" 6 9 ! Diese für das Verständnis des ganzen Vorgangs ungemein wichtige, ja entscheidende Aussage ist zum Leidwesen Brunners immer wieder übersehen worden. Sie macht deutlich, daß Brunner in seinem Verständnis der Anknüpfung durchaus daran festhalten möchte, daß Gott selbst sich seinen Anknüpfungspunkt schafft. Aber er schafft ihn, indem er sich des Menschen in dessen eigenem Selbstverständnis annimmt. Damit durchkreuzt Brunner keineswegs alle bisherigen Überlegungen, die der Behauptung und Klärung eines natürlichen allgemein-menschlichen Vorverständnisses dienen sollten. N u r dem oberflächlichen Blick kann es so scheinen. 87 89
Vgl. K. Barth, Nein, S. 55 f. Ankn, S. 518.
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Ankn, S. 524.
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Vielmehr geht es ihm darum, an beidem festzuhalten: an der Notwendigkeit dieser menschlichen Voraussetzung im Geschehen des Glaubens als eines den Menschen beanspruchenden, gewissenbewegenden Geschehens, aber auch an der Wahrheit, daß Gott selbst den Glauben wirkt und darum auch die Voraussetzungen des Glaubens schafft. So verwickelt und paradox der Sachverhalt erscheint, beides ist wiederum nur ein Ausdruck der Dialektik des Glaubens bzw. die Dialektik von Gesetz und Evangelium 70 .
B) Die Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Frage nach dem Anknüpfungspunkt 1. Imago Dei im bisherigen Denken Brunners Im Zusammenhang dieser Überlegungen, die der begrifflichen Klärung und der theologischen Begründung des Verstehensvorgangs dienen sollen, wie er in der Verkündigung und im Glaubensgeschehen vorausgesetzt und in Anspruch genommen wird, gewinnt nun die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen eine besondere Bedeutung. In dem Begriff der imago Dei sieht Brunner das ganze Problem der Anknüpfung zusammengefaßt 1 ! Er wird für ihn zu einer Art SchlüsselbegrifF, von dem aus sich die verschiedenen Aspekte der Fragestellung erschließen und in dem sie ihren übergeordneten Sinnzusammenhang haben. Diese Einbeziehung des Anknüpfungsproblems in den Zusammenhang der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen kommt nicht von ungefähr, sondern sie ergibt sich aus der Sache selbst. Die Frage nach dem Menschsein des Menschen, die personhafte Existenz, das Geschaffensein durch das Wort und für das Wort, der Widerspruch der menschlichen Existenz vor Gott als Geschöpf und als Sünder, die Verantwortlichkeit, die bleibende Gottbezogenheit des Menschen — all dies gehört ja mit zu dem, was in dem Begriff der Gottebenbildlichkeit seinen Ausdruck gefunden hat. Insofern ist es durchaus naheliegend, wenn Brunner auf diesen Grundbegriff christ70 Vgl. hierzu: Vom Werk des heiligen Geistes, S. 44ff. und N u G , S. 18 f.: „Nur das ansprechbare Wesen kann sündigen. Aber indem es, verantwortlich, sündigt, weiß es audi irgendwie um die Sünde. Dieses irgendwie um die Sünde Wissen ist durchaus Voraussetzung für das Verständnis der göttlichen Gnadenbotsdiaft. Man darf die Dialektik dieses Wissens um die Sünde nicht damit totschlagen, daß man sagt: Erkenntnis der Sünde komme nur aus der Gnade Gottes. Dieser Satz ist ebenso wahr wie der andere, daß die Gnade Gottes nur dem verständlich sei, der schon um die Sünde wisse . . . Diese Dialektik darf nicht einseitig aufgehoben werden; sie muß im Gegenteil möglichst scharf zur Geltung gebracht werden. Denn in ihr allein kann die Verantwortlidikeit des Glaubens zur Geltung gebracht werden. Wer nicht glaubt, der ist selbst schuld. Wer glaubt, der weiß: es ist reine Gnade." 1
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Ankn, S. 519.
lieber Anthropologie zurückgreift, um an ihm das vorliegende Problem zu verdeutlichen. Dies um so mehr, als wir ja in seinem theologischen Denken von seinen Anfängen an durch alle Entwicklungsphasen hindurch bereits dem Hinweis auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen begegneten. Daß Gott im geistigen Wesen des Menschen irgendwie mitgegeben ist, daß sich hier eine Gottbezogenheit ausdrückt, das war schon eine grundlegende Voraussetzung seiner vordialektischen Erkenntnistheorie. Und schon hier stellte sich das Problem der „Teilhabe" an der Wirklichkeit Gottes in der qualitativen Differenz von Sein und Bestimmung, von Seinsmöglichkeit und Seinswirklichkeit 2 . Vom paradoxen Nichthaben und Dochhaben Gottes, das zugleich unsere Gottesferne und unsere Gottesnähe ausdrückt, vom ursprünglichen Gottesebenbild, das als „unverlorene Schöpfungsgnade" in jedem Menschen ist und „unter oder fast in seinen Lastern durchschimmert", konnte, wenn auch ganz im Vorbeigehen, in der Frühzeit der dialektischen Theologie ebenso die Rede sein wie von dem Worthaben des Menschen, in dem sich der Ursprung seiner Vernünftigkeit, seine unzerstörte Gottebenbildlichkeit, seine Urbeziehung zum Schöpfer ausdrückt 3 . Darin wird also dort bereits die Gottebenbildlichkeit des Menschen gesehen: daß er ansprechbar, d. h. jenseitsbezogen ist, daß der persönliche Gott sich ihm im Wort selbst mitteilt, ihn an seinem persönlichen Sein teilhaben läßt und ihn so zur verantwortlichen Person macht 4 . Wie sehr Brunner sich in diesem Verständnis der imago als geistigen Personseins, als Sein im Wort, mit der idealistischen Philosophie einig wußte, zeigt noch die Bemerkung im „Mittler" : „Die Lehre von der imago Dei ist von Plato bis Hegel der Grundgedanke des Idealismus." 5 Freilich vergißt er auch nicht, auf den garstigen Graben hinzuweisen, den der Idealismus nicht anerkennt: „Wir sind aus dem Wort gefallen, in welchem wir geschaffen sind." Es gibt keine direkte, ungebrochene Gottesbeziehung mehr, die radikale Sünde hat das ursprüngliche persönliche Verhältnis zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf verkehrt. Aber selbst wenn der Mensch jenes indikativische Urverhältnis, in dem er sich von Gott empfängt, verkehrt hat in ein Schuldverhältnis, so bezeugt doch auch dieses Verhältnis noch, daß er „in sich selbst ein — verdorbenes — Gottesbild trägt, das die ursprünglich gute Schöpfung, also die gottoffenbarende 2
Siehe oben S . 2 7 f . EEG, S.47. 123 ff. My 1 , S. 90; siehe oben S.62. 66 f. 86. 4 GesuOff, DialTh I, S.293 ff.; siehe oben S . 9 6 f . 5 Mi, S. 311 Anm. 1: »Das Wort ist einerseits der Offenbarer Gottes, aber andererseits audi das Urbild der menschlichen Bestimmung. Der Mensch i s t , i m Wort' geschaffen. Das Wort ist sein persönliches Seinsprinzip. N u r im Wort sind wir persönlich. Hier trifft der ethische Idealismus und der christliche Glaube zusammen, wie ja überhaupt die Lehre vom Urständ der gemeinsame Boden beider ist." Es folgt das Zitat. 3
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Schöpfung ist" β . Darum ist die Existenz als solche in Bewegung als Frage nach der Wahrheit Gottes; darum hat sie in ihrem Fragen Anteil an der Gotteswahrheit; darum gibt es ein Wissen um Gottes Ofienbarsein in der Schöpfung, in der Geschichte, im Gewissen. Daß der Mensch schöpfungsmäßig auf Gott bezogen ist und irgendwie um Gott weiß — das macht ihn überhaupt erst zum Menschen. Seine Gottebenbildlichkeit, sein Wissen um Gott „ist sein Menschsein" — wie entstellt und fragwürdig auch dieses Wissen sein mag 7 . In diesem Satz gipfelt das Verständnis der imago, wie es sich von den dialektischen Frühschriften bis hin zum Programm der Eristik durchgehalten und entfaltet hat. Es ist die Divinität der Humanität, die hier durch den Begriff der Gottebenbildlichkeit begründet und erläutert wird, die humanitas als Ausdruck der Gottesbeziehung. Und alles, was das Besondere der humanitas ausmacht — daß der Mensch sich um Sinn müht, Sinn erfährt und gestaltet in seiner Kultur, in Kunst und Wissenschaft, Philosophie, Recht, Sittlichkeit und Religion —, das ist darum „die Folge seiner Gottbezogenheit, der Gott entstammenden imago Dei" 8 . Es ist bemerkenswert, daß dieser Hinweis auf die ursprüngliche Gottbezogenheit des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit von Anfang an in diesem Zusammenhang auftaucht, sich aber noch nicht voll entfalten konnte, sondern vom Interesse an der Jenseitigkeit Gottes und der Betonung des Abgrundes zwischen Gott und Mensch immer wieder zurückgedrängt wurde. Darum überrascht es nicht, daß er mit der eristischanthropologischen Fragestellung zunehmend an Bedeutung gewinnt und auf eine selbständige Erörterung hindrängt 9 . In seiner Programmschrift zur anderen Aufgabe der Theologie weist Brunner erstmals ausdrücklich auf die entscheidende Rolle hin, die dem Verständnis der imago zukommt: „Die Lehre von der imago Dei bestimmt das Schicksal jeder Theologie." Hier hat der Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus seinen Ursprung. Hier droht eine doppelte Gefahr: einerseits die Mißachtung der allgemeinen Offenbarung, wodurch die Gnade Gottes ins Magische verzerrt wird, andererseits die Uberschätzung der allgemeinen Offenbarung, indem der durch die Sünde nicht zerstörten imago Dei zuviel eingeräumt wird. Es geht also darum, hier die richtige Mitte zu finden, die Brunner einstweilen mit dem sibyllinischen Satz kennzeichnet: „Die richtige Mitte ist die, daß der Mensch als solcher von Gott weiß, was der Sünder von ihm wissen kann." 10 « Mi, S. 12 f. Anni. 1. 7 Aufg, S. 264, siehe oben S.139 Anm.78 und S.140 Anm.81. 8 Aufg, S. 264. 9 Diese Entwicklung läßt sich gut an den Anmerkungen zu diesem Begriff verfolgen, vgl. Mi, S. 12 Anm. 1, Aufg, S. 264 Anm. 3, GuM, S. 56 Anm. 1, Ankn, S. 519 Anm. 9. 523 Anm. 15. 10 Aufg, S.264 Anm.3, siehe oben S.140 Anm.81. 182
Soviel ist jedenfalls hier schon deutlich, daß er mit seiner Frage nach dem Anknüpfungspunkt zugleich die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des Menschen aktualisiert und die Auseinandersetzung als Lehre von der imago Dei zu führen gedenkt. Einen weiteren Schritt in dieser Richtung bilden seine Untersuchungen über das personhafte Sein Alle früher genannten Gesichtspunkte der Gottebenbildlichkeit — der Bezug auf das Jenseitige im Ursprung in Gott, der Bezug zum Geschaffensein im Wort, die Personhaftigkeit und Geistigkeit, die bleibende Gottbezogenheit in aller Verkehrung des Gottesverhältnisses — werden erneut aufgenommen und zusammengefaßt in dem nun ganz in den Vordergrund tretenden Begriff des personhaften Seins, der unmittelbar hinführt zu der systematischen Entfaltung der „personalen Korrespondenz" in „Wahrheit als Begegnung". Der Mensch hat sein Sein im Wort. Im personhaften Ansprechen Gottes gewinnt er selbst personhafte Existenz. Diese Existenz durch das Wort, im Wort und für das Wort, dieses Aufgerufensein zur Verantwortung, dieses Angesprochensein und Antworten dokumentiert sein Geschaffensein zum Bilde Gottes. Das menschliche Ich ist also nicht ein für sich bestehendes, nicht eine Eigenschaft des Menschen, sondern „ein Verhältnis zum göttlichen D u " . Darin hat es sein Wesen. Nur in der „Beziehung zum göttlichen ansprechenden D u " ist es wirkliches Ich. Aber audi wenn der Mensch die Antwort verweigert, wenn er sich von Gott abwendet und sich seinem Anspruch verschließt, steht er nicht außerhalb dieser Beziehung. Denn seine Gottebenbildlichkeit besteht gerade darin, daß er Gott antworten kann — oder nicht antworten kann! Er hört ja nicht auf, ein von Gott angesprochener zu sein: „Durch die Sünde ist nicht aufgehoben, daß Gott zu uns redet." Nur redet er jetzt anders. Es wird „durch unser Nichthörenwollen ein undeutliches und verkehrtes, ein für uns unheilvolles", zu einer „Geoffenbartheit, die zugleich Verschlossenheit ist". In diesem Sinn gibt es für uns keine schlechthinnige Verborgenheit Gottes, sondern lediglich eine Verborgenheit, „in der uns die Wahrheit und der Heilssinn des göttlichen Wortes verborgen ist". Daß der Mensch Sünder ist und sündigen kann, erscheint geradezu als „Beweis dafür, daß die imago Dei nicht ausgetilgt ist". Sie ist also nicht zerstört, die Personexistenz ist „nicht vernichtet" („wir sind nicht Un-menschen geworden"), aber das wahre persönliche Sein ist im Sündersein abhanden gekommen und durch eine „falsche Personhaftigkeit" ersetzt 12 . Die erste Skizze, die bereits das Verständnis der imago in den Kategorien personhaften Seins in Richtung auf die aktuelle Anknüpfungsproblematik entwickelt, ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Brun1 1 Gott und Mensch. Vier Untersuchungen über das personhafte Sein (1930); vgl. zum Folgenden daraus vor allem: Kirche und Offenbarung (1929), S. 54—57; Biblische Psychologie (1930), S. 83. 94. 1 2 GuM, S. 54—57. 83.
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ner setzt sich hier schon mit Barth auseinander, der die Gottebenbildlichkeit nicht als eine Eigenschaft des geschaffenen Geistes versteht, sondern als Wirklichkeit des Heiligen Geistes 13 . Brunner erkennt durchaus die Berechtigung des Interesses an, die imago nicht als Besitz des Menschen, sondern als Gottes Gnadentat zu verstehen. Aber er sieht dieses Interesse gerade in ihrer Beschreibung als Personhaftigkeit gewahrt! Denn die humanitas und personalitas des Menschen beruht ja „auf Gottes aktuellem Ansprechen". Sie ist nicht etwas, was der Mensch in sich selber hat, sondern worin er dem Aufgerufensein durch das Wort entspricht und sich so empfängt. Er ist Bild Gottes, indem er Gottes Wort vernimmt und antwortet, also ganz von Gott her, nicht aus sich heraus, ganz in diesem „entsprechenden" Verhältnis. Allerdings gehört für Brunner dieses aktuelle Ansprechen Gottes konstitutiv zum Menschsein als solchem, und er steht damit vor der Schwierigkeit, beides in seiner Unterschiedenheit verständlich zu machen: daß der Mensch das, was ihn zum Menschen macht und ohne das er nie ist, dennoch nicht in sich selber hat als seine Eigenschaft, als seine Substanz. Es ist die Paradoxie des ständigen Sichverfügens des Unverfügbaren, in dem die Humanität Konstanz hat, ohne doch zu einer natürlich sich durchhaltenden Gegebenheit zu werden. Läßt sich dieser Sachverhalt behaupten, ohne daß die Gottbezogenheit des Menschen zu einer natürlichen Gegebenheit wird? Daß die imago als Wesen der Humanität unverlierbar ist, scheint unweigerlich zu ihrer Naturalisierung zu führen. Und dodi prangert Brunner gerade dieses substantialstatische Verständnis als ein völliges MißVerständnis der Humanität an, 13 Vgl. K.Barth, Der heilige Geist und das christliche Leben (in: Zur Lehre vom heiligen Geist, Beih. N r . 1 ZZ 1930), S. 39: (1. Leitsatz) „Der heilige Geist im Ereignis seines Daseins für den Menschen ist die alleinige Wirklichkeit von dessen Gottebenbildlichkeit. Diese ist also nicht und wird nicht eine Eigenschaft des geschaffenen Geistes, sondern sie ist und bleibt das freie nur als Gnade begreifliche, vom Menschen aus immer unbegreifliche Werk des Schöpfers an seinem Geschöpf." Sie ist nicht als datum, sondern als dandum zu verstehen, nicht als eine ihm ruhend und gesichert eignende, sondern ihm im Ereignis der Offenbarung immer erst zukommende (S. 44). Der heilige Geist bedeutet demnach auch „die subjektive Seite im Ereignis der Offenbarung", und der Erkenntnis Gottes als Offenbarung eines radikal Neuen steht „kein ursprüngliches Schongewußthaben" gegenüber (S. 43). — Brunner hält Barth entgegen, daß er in seinem „durchaus berechtigten Interesse, die imago Dei nicht zu einem Besitz des Menschen werden, sondern sie als Gottes Gnadentat erkennen zu lassen", weit über das Ziel hinausschieße und den Sachverhalt verfälsche, indem er den Unterschied „zwischen dem Wort Gottes, in dem der Mensch geschaffen ist und von dem er auch nach seinem Fall noch etwas — wenn auch nichts Genügendes — weiß und dem Wort Gottes in Christo, in dem der Glaubende seine Gottesgeschaifenheit erkennt", übersehe. Weder Luther noch Calvin leugneten darum eine revelatio generalis und ihr entsprechend eine natürliche Gotteserkenntnis, wenn sie auch ihren Wert streng begrenzten. Die Unterscheidung der Schöpfungsoffenbarung von der Versöhnungsoffenbarung mache erst eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der allgemeinen Religionsgeschichte und mit der Philosophie möglich (a.a.O., S. 56 Anm. 1).
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und er sieht in ihrer Deutung als eines aktualen Verhältnisses die allein sachgemäße Beschreibung14. Daß er hier erstmals das Wesen der imago im Gegensatz zu einem substanzhaften Verständnis als aktuale Relation erkennt oder, wie er später diese Beziehung nennen wird, als „responsorische Aktualität", darin liegt die besondere Bedeutung dieser ersten Überlegungen zum imago-Begriff. Noch ein weiteres hat der bisherige Überblick gezeigt: Brunner hat sein Verständnis der imago bisher nahezu ausschließlich im Hinblick auf das Menschsein des Menschen, auf sein Geschaffensein im Wort, also auf seine Personalität interpretiert, man könnte auch sagen: im Hinblick auf die Schöpfungsoffenbarung. Es ist die imago Dei, die auch der Idealismus „von Plato bis Hegel" als Grundgedanken erfaßt hat! Die christologische Wurzel und Relevanz dieses Begriffes kommt dabei entweder überhaupt nodi nicht in den Blick oder sie tritt gegenüber einem anderen Interesse zurück! Selbst im „Mittler", der ja den christologischen Sachgehalt des neutestamentlichen imago-Begriffs in der Lehre von Person und Werk des Mittlers als des Gottmenschen ausführlich zur Geltung bringt, taucht der christologische imago-Begriff nur wie im Vorbeigehen auf 15 . Hier weist Brunner zwar betont darauf hin, daß wir das Geheimnis unserer Person nicht sehen, solange wir nicht das Geheimnis der Person des Christus sehen, und daß in ihm das Gottesebenbild, die Wahrheit des Menschen, wiederhergestellt ist zur göttlichen Schöpfungsgemäßheit. Aber der tatsächliche Ausgangspunkt der Reflexion über die Gottebenbildlichkeit ist gleichwohl nicht „der Christus", sondern das Menschsein als solches in seiner Geistigkeit, in seinem Worthaben, in seinem Transzendenzbezug, in seiner Personalität. 2. Die Gottebenbildlichkeit des homo peccator und das Problem des imago-Restes Diese Feststellung erweist sich audi im Hinblick auf die Überlegungen in seinem Anknüpfungsaufsatz und in „Natur und Gnade" als bedeutsam, denn audi hier liegt das eigentliche Gewicht zunächst nodi ganz auf der Personalität des Menschen. Die Gottebenbildlichkeit scheint danach geradezu identisch zu sein mit der formalen Personalität. Das bedeutet nicht, daß es hier lediglich um etwas Formales und nicht um ein Inhaltliches ginge. Jedenfalls versteht Brunner den Begriff der imago so, daß in ihm „das Formale wie das Inhaltliche des gottgeschaffenen aber sündig gewordenen Personseins zum Ausdruck gebracht ist" 16 . Er umfaßt also 14 Vgl. zum Gegensatz substantial—aktual Ankn, S.520 9). 526 17; WaB, S. 147 f.; MiW, S. 86. 88. 126. 521. D i l , S . 7 0 f . 15 Vgl. Mi, S. 285. 311. 438 f. 502. 547 ff. 18 Ankn, S. 519.
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in jedem Fall die Personganzheit des gottgeschaffenen Menschen. Doch damit ist das eigentliche Problem, wie es sich im Hinblick auf den wirklichen, d. h. den sündig gewordenen Menschen stellt, noch nicht erfaßt. Inwiefern kann oder muß gerade auch vom Sein des homo peccator Gottebenbildlichkeit ausgesagt werden? Das ist die entscheidende Fragestellung, um die es nun Brunner geht. Wenn das Gottesverhältnis nicht etwas ist, das zum Menschsein hinzukommt, sondern wenn das Menschsein selbst nichts anderes ist als das Sein im Worte Gottes, dann kann die Gottebenbildlichkeit ja nicht nur auf die Vorstellung eines Urstandes oder Endstandes beschränkt werden, sie ist im wirklichen Menschsein auszusagen als das wahre Wesen des wirklichen Menschen. Die Schwierigkeit, die in dieser Einbeziehung des sündigen Menschseins in die Gottebenbildlichkeit liegt, ist ebenso offenkundig wie die Notwendgkeit, an dem Zusammenhang des Menschseins auch in seinem Sündersein mit der Gottebenbildlichkeit festzuhalten — wenn man die Voraussetzung akzeptiert, daß mit der Ebenbildlichkeit das Menschsein überhaupt definiert ist. Brunner verdeutlicht diese Nötigung am Beispiel der „reformatorischen" Lehre, deren eigentliche Intention ja gerade dahin geht, den Verlust der imago zu behaupten. Daß Luther mit der traditionellen, seit Irenäus maßgebend gewordenen und in der Scholastik zum System von Natur und übernatürlicher Gnade entwickelten Unterscheidung von imago und similitudo sowohl exegetisch wie dogmatisch bradi 17 , war nach Brunners Urteil „eine Tat von unermeßlicher Tragweite". Hier wurde die Natur des Menschen nicht mehr vom aristotelisch-scholastischen Substanzdenken her erfaßt, sondern der Mensch wurde wieder konsequent als „theologisches" Wesen gesehen, das nur aus dem Wort Gottes, aus seiner Gottesbeziehung verstanden werden kann. Seine Ebenbildlichkeit ist sein wahres Menschsein, in dem er dem schaffend anredenden Wort des Schöpfers mit seinem ganzen Sein entspricht 18 . Sie ist identisch mit der justitia originalis. Im Gegensatz zur katholischen Auffassung gilt sie insofern nicht mehr als ein donum supernaturale, als sie das Menschsein konstituiert und der Begriff der Natur des Menschen darum nicht ohne sie gedacht werden darf. Andererseits führt aber ihre Identifikation mit 17
In Verkennung des Parallelismus der beiden Begriffe wird aus Gen. 1,26 eine doppelte Ebenbildlichkeit gefolgert. Die imago bezeichnet danadi die Menschennatur: der Mensch als das vernunftbegabte und darin Gott ähnliche, Gott erkennende Wesen, das in seinem Willen frei ist (animal rationale). Die imago ist in dieser Identifikation mit der Natur des Menschen notwendig unverlierbar. Der sündige Mensch ist als animal rationale immer nodi imago Dei. Demgegenüber bezeichnet die similitudo die justitia originalis, die als donum superadditum, als donum supernaturale zur Natur hinzukommt. Diese übernatürliche gnadenhafte Gottebenbildlichkeit ist mit dem Sündenfall verlorengegangen. 18 Vgl. W A 42, S. 46 1 (Rörer) : „Similitudo et imago dei est vera et perfecta dei noticia, summa dei dilectio, aeterna vita, aeterna leticia, aeterna securitas."
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der justitia originalis unweigerlich zu der Konsequenz, daß sie mit dem Sündenfall absolut zerstört ist. Die Verkehrung des ursprünglichen Gottesverhältnisses bedeutet eine radikale Verkehrung des Menschseins: Der Mensch hat seine Freiheit zu Gott verloren. Die theologische Tiefe dieser reformatorischen Lehre vom Verlust der imago Dei liegt in der Radikalität, mit der hier der Mensch als Sünder verstanden ist. Sie hat ihren Rückhalt in der Rechtfertigungslehre, in der konsequenten Interpretation des Gottesverhältnisses des Menschen vom solus Christus, sola gratia, sola fide her. Und darin sieht audi Brunner ihr unaufgebbares Recht, denn hier vertritt sie die eigentliche Sache der Theologie, die es zu wahren gilt. Darum bekennt er sich zu ihr als der Voraussetzung, innerhalb derer auch die Frage nach den menschlichen Verstehensbedingungen des Glaubens gesehen werden muß 19 . Der Zugang zu dieser Fragestellung scheint nun allerdings von diesem reformatorischen Ansatz her kaum möglich. Aber der Schein trügt. Denn fast gegen die eigene Intention drängt sich auch hier hinter dem theologischen Kernsatz, daß die imago Dei mit dem Verfallensein an die Sünde verloren sei, jene Frage nach der humanitas des Sünders auf. Wie ist das auch in der Sünde nicht aufgehobene Menschsein mit der Tatsache der verlorenen Gottebenbildlichkeit zusammenzudenken? Daß hier doch noch ein Zusammenhang besteht und daß von daher die strikte Aussage, die imago sei verloren, einer gewissen Modifikation bedarf, veranlaßte bereits Luther, von einer publica similitudo im Unterschied zur privata similitudo zu sprechen. Er anerkennt „in vulgo non minus relictam esse scientiam praedestinationis et praescientiae Dei quam ipsam notitiam divinitatis" 20 , und er stellt ausdrücklich fest: „haec similitudo . . . manet sub peccato adhuc, non abstulit earn similitudinem ab Adam" 21 . Damit ist zweifellos, wie Brunner bemerkt, der Weg bereits beschritten, der zu einer Art doppeltem imago-Begriff, zum Begriff eines imago„Restes" hinführt, der auch in der sündigen Existenz erhalten geblieben ist. Bei Calvin nimmt dieser Gedanke eine noch fester gefügte Form an — 19 Auch in NuG weist er vor der Erörterung des Anknüpfungsproblems darauf hin : „Es geht nicht um Luther und das Luthertum, sondern es geht um die harte, dem Denken unserer Zeit so entgegengesetzte Wahrheit und Botschaft Luthers von der sola gratia, vom gekreuzigten Christus als dem alleinigen Heil der Welt und von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben. Es geht um die Lehre, daß in allen Fragen der kirchlichen Verkündigung allein die Schrift Richterin sei. Es geht um die Botschaft von der souveränen, frei wählenden Gnade Gottes, der dem Mensdien, der aus sich selbst nichts tun kann zu seiner Errettung, dem Menschen, dessen Wille nicht frei, sondern geknechtet isj;, sein Heil aus freiem Erbarmen schenkt im Kreuz des Christus durch den Heiligen Geist, der ihm dieses Wort vom Kreuz zur lebendigen Erkenntnis macht" (NuG, S. 5 f.). 20 WA 18, 618,13 (De servo arbitrio), von Brunner zitiert in Ankn, S. 523 Anm. 15; vgl. audi WA 56, 237, 6. 21 WA 42, 51, 3.
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Brunner nennt ihn wohl allzu forsch geradezu einen Lieblingsgedanken, eine der tragenden Säulen seiner Theologie 22 . E r identifiziere mit dem Begriff des imago-Restes die humanitas, die Vernunftnatur, die unsterbliche Seele, die Kulturfähigkeit, das Gewissen, die Verantwortlichkeit, die Sprache des Menschen, den Trieb zur Wahrheit, die auch in der Sünde noch vorhandene Gottesbeziehung des Menschen. In dem allen manifestiert sich demnach noch etwas von seiner auch in der Sünde nicht völlig zerstörten gotterschaffenen Natur, die schöpfungsmäßige Bestimmung, die den Menschen über jede andere Kreatur erhebt 23 . Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, daß die ursprüngliche imago, die sich hier als doch nicht gänzlich ausgelöscht und zerstört erweist, nur in einer schrecklichen Deformation in Erscheinung tritt und anscheinend nichts mehr mit der justitia originalis gemein hat. Sie hat dagegen in ihrem Inhalt sehr viel gemein mit der alten aristotelisch-scholastischen imago, mit der anima rationalis, so daß sie wie ein nachträgliches, 2 2 Ankn, S. 524; NuG, S. 28; vgl. zum Ganzen Ankn, S. 520. 523 Anm. 15; NuG, S. 26ff. 52 f.; MiW, S. 85 f. 103. 525 ff. — Daß Brunner hier den Akzent der in diese Richtung weisenden Aussagen Calvins etwas verschiebt, indem er sie wie eine selbständige Reflexion aufnimmt und ihnen so ein stärkeres systematisdies Gewicht verleiht, mag der Kritik redit geben, die er mit seiner Calvindeutung herausgefordert hat. Audi das prinzipielle Bedenken K. Barths verdient Beachtung, daß in der Frage der natürlichen Theologie die theologiegeschiditlidie Situation der Reformatoren nicht außer acht gelassen werden dürfe, die sie nicht dazu aufforderte, das formale Verhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung in derselben grundsätzlichen Weise zu klären wie das inhaltliche zwischen dem menschlichen Willen und Werk und dem Werk Christi — m.a. W.: die reformatorische Erkenntnis der Gnade müßte nicht nur auf die moralische, sondern auch auf die intellektuelle Werkgereditigkeit, auf die tatsächliche Gotteserkenntnis schärfer angewandt werden, als es die Reformatoren in ihrer Situation vermochten (vgl. Nein, S. 37 ff.). Mit der Rezitation reformatorischer Äußerungen ist es also noch nicht getan: Die systematische Aufgabe fordert nicht nur eine theologiegeschiditlidie, sondern eine systematische Begründung. Diese Problematik, die sich insbesondere in der Inanspruchnahme Calvins durch Brunner zeigt, soll uns hier jedoch nicht weiter beschäftigen. Das, was Brunner zunächst aufzeigen wollte: daß auch Calvin sich genötigt sah, von einem übriggebliebenen „Rest" der imago zu sprechen, kann auch von P. Barth in seiner Gegendarstellung nicht bestritten werden (vgl. P. Barth, Das Problem der natürlichen Theologie bei Calvin, ThExh H. 18 1935, S. 29 bis 36). 2 3 Stellennachweise NuG, S. 28 ff. Aufsdilußreich ist die Ausdrucksweise Calvins. Er spricht von einigen übriggebliebenen „Zeichen" oder „Linien", in denen in vielfacher Weise die imago durchschimmere. Sie ist „nicht vollständig ausgewischt", „nicht völlig vernichtet und zerstört". Aufgehoben ist die Gerechtigkeit, die Rechtschaffenheit, die Freiheit, das Gute zu erstreben. „Es bleiben aber viele ausgezeichnete Gaben, durch die wir über die Tiere hinausragen." Andererseits sind die einzelnen Züge dieses Bildes „doch so verderbt und verstümmelt, daß man wohl sagen darf: es ist zerstört" — es ist „nichts als Verwirrtes, Verstümmeltes" und vom „Schmutz der Sünde Infiziertes" zurückgeblieben (vgl. Inst. I I 2,17 op. sei. I I I , 2 6 0 , 2 4 — 2 6 ; Comment, zu Gen. 1,26 C R 2 3 , 2 7 ; Comment, zu Ps 8,6 C R 3 1 , 9 3 ; Inst. I 15,4 op. sei. I I I , 179, 8ff. 180,19ff.; Comment, zu Jac. 3 , 9 C R 55, 411).
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nur widerwillig eingeräumtes, die eigene imago-Lehre theologisch störendes Zugeständnis erscheint. Natürlich bedeutet sie kein Zugeständnis im Verständnis der Möglichkeiten der menschlichen Vernunft-„Natur" in ihrem Gottesverhältnis. Die Herrschaft der Sünde bleibt uneingeschränkt. Aber es ist doch bemerkenswert, daß es zu dieser Spannung innerhalb der reformatorischen imago-Lehre kommt. Was führt zu dieser Spannung? Offensichtlich die anthropologische Relevanz, die in dem Begriff der imago selbst enthalten ist und es nicht erlaubt, das Sein des Menschen ohne sein Bestimmtsein durch Gott zu denken 24 . Das, was den Menschen zum Menschen macht, darf nicht von der Gottebenbildlichkeit getrennt werden, d. h. der Zusammenhang zwischen der Personhaftigkeit des sündigen Menschen und dem wahren Personsein als Ebenbild Gottes muß in der theologischen Anthropologie festgehalten werden. Sie ist genötigt, die humanitas und die justitia originalis wenigstens aus demselben Ursprung zu verstehen, wenn sie sie auch nicht mehr miteinander identifizieren kann. Daß die reformatische Theologie dieses Bestimmtsein der humanitas durch Gott nur als imago-.Resi bezeichnen kann, ergibt sich aus dem ganzen Ansatz ihrer eigenen imago-Lehre und dem heilsgeschichtlichen Schema, in das sie eingefügt ist, nicht zuletzt auch aus der Konzentration auf den Gegensatz von Sünde und Gnade. Gerade von diesem Gegensatz 2 4 Die gleiche Spannung zeigt sich nodi verstärkt innerhalb der altprotestantischen Orthodoxie (vgl. dazu F. K. Schumann, Imago Dei, Festschrift für G. Krüger, 1932). Selbst J . Gerhard, der am entschiedensten die Unsicherheit in der Bestimmung der imago Dei zu überwinden suchte, sieht sich schließlich dodi wieder zu Aussagen genötigt, in denen die Gleichsetzung von imago und justitia originalis auseinanderbricht — in dem Eingeständnis, daß tenues quaedam reliquiae . . . divinae imaginis supersunt (Loci I, 4 Preuß) sowie unter der Voraussetzung eines andersartigen Imago-Begrifis, der sich z. B. auf die essentia animae oder auf gewisse principia nobiscum nata bezieht. Auf dem „Rest" der imago beruht auch hier die ganze humanitas, die justitia civilis, die naturalis cognitio Dei, das dictamen conscientiae. Dieser „Rest", diese Erkenntnisse sind uns von Gott bewahrt worden, damit sie seien „rectrices externae disciplinae qua velut paedagogia quadam Deus utitur ad instaurationem imaginis suae partam nobis per Christum" (Loci II, 141 Preuß; IV, 292 Cotta) — eine Überlegung, in der Brunner bereits die Lehre vom Anknüpfungspunkt angedeutet sieht, so fragwürdig ihm auch ihre Begründung erscheint (MiW, S. 526 f.). — Das eigentliche Motiv für diese Ausweitung des Imago-Verständnisses auf die schöpfungsmäßige Wesensstruktur, auf die Seinsweise auch des gefallenen Menschen, liegt nadi Schumann nicht in dem Eindringen philosophischer Gottesspekulation mit ihrem Kontinuitätsdenken zwischen Gott und Mensch, ebensowenig in der „Tendenz auf eine semipelagianische Erweichung der Erbsündenlehre", sondern hier äußere sich „eine echte und ursprunghafte dogmatische Notwendigkeit", die von jenen Dogmatikern mehr dunkel empfunden als erkannt wurde: daß zur Lehre von der Sünde, zur theologischen Lehre vom Menschen, unmittelbar „die Lehre von der von Gott in den Umkreis menschlichen Wesens hineingelegten göttlichen Intention auf den Existenzvollzug von Gott her, mit Gott und auf Gott hin" gehört. Sie sichert „Recht und Sinn der Bußpredigt angesichts der existenzmäßigen dira nécessitas peccandi" (a.a.O., S. 172. 176 f.).
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her erweist sich jedoch der Begriff eines „Restes" als höchst fragwürdig, weil er nun einmal ein quantitatives Verständnis der Gottebenbildlichkeit nahelegt und im Hinblick auf die totale Siindverfallenheit des Menschen wie eine Einschränkung anmutet, die er gewiß nicht ist und nicht sein kann. Brunner lehnt darum diesen Rest-Begriff als in sich selbst unklar und mißverständlich, ja als gefährlich ab 25 . Aber in dem Sachverhalt, der sich in ihm andeutet, erkennt er seine eigene Fragestellung: die Frage nach der Beziehung der Existenz bzw. des natürlichen Selbstverständnisses des Menschen zum glaubenden Verstehen, nach dem Zusammenhang von humanitas und Gotteswort. Die Klärung dieser Problemstellung geht darum für ihn Hand in Hand mit der Klärung des Problems der imago — sie ist das Problem der imago! Das wurde schon deutlich bei der Aufzählung der einzelnen Merkmale des imago-Restes, die sich ja genau mit den Merkmalen der humanitas, des Personseins, der sogenannten formalen Personalität deckten. Und das ist nun auch der Ausgangspunkt für seinen Versuch, die Gottebenbildlichkeit des homo peccator in ihrem Zusammenhang mit der ursprünglichen imago einer sachlich wie begrifflich befriedigenden Lösung zuzuführen. 3. Formale und materiale imago Den entscheidenden Gesichtspunkt zur Klärung des schwierigen Sachverhalts hat Brunner bereits in der bisherigen Analyse des Personseins angedeutet. Er faßte ja die einzelnen Elemente des Personseins, also das, worin der Mensch seine Menschlichkeit hat — wie Subjektsein, Wortfähigkeit, Vernünftigkeit, Geistigkeit, Freiheit, Transzendenzbezogenheit, Verantwortlichkeit — zusammen in dem Begriff der formalen Personalität, und er streifte in diesem Zusammenhang audi schon den Begriff der materialen Personalität. Beide Bestimmungen lieferten wichtige Aufschlüsse über sein Verständnis des Anknüpfungsvorgangs als Kontinuität in der Diskontinuität. Diese Unterscheidung des Formalen und Materialen innerhalb des Personbegriffs liefert nun auch das Begriffsmodell für das Verständnis der imago. Von der Gottebenbildlichkeit ist danach „sachlich in zweierlei Sinn zu sprechen, in einem formalen und einem materialen" 26 . Das, was den Menschen zum Menschen macht, was seine 25 N u G , S. 10. 11; MiW, S. 84ff. Die Formulierung: „Ich lehre also wie Luther, daß diese jetzige humanitas ein bloßer ,Rest' der ursprünglichen sei" (MiW, S. 531), soll lediglich die sachliche Übereinstimmung mit der reformatorischen Lehre hervorheben. 26 N u G , S. 10. Diese Unterscheidung deutet Brunner bereits im Anknüpfungsaufsatz an (vgl. S. 519. 523 Anm. 15. 526), wird aber erst in N u G , S. 10 f. prinzipiell durchgeführt. Für das Verständnis dieser Unterscheidung ist der spätere Hinweis Brunners auf A. v. Oettingen nicht unwichtig, der in seiner Dogmatik schon vor ihm von einer imago Dei im formalen Sinn gesprochen habe (vgl. MiW, S. 521 b); v. Oettingen postu-
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Sonderstellung gegenüber der übrigen Kreatur begründet und ihn audi als Sünder noch Mittelpunkt und Höhepunkt der Schöpfung sein läßt, also das „Humanuni" schlechthin, nennt Brunner die formale imago. E r sieht in diesem formalen Sinn des Begriffs das Spezifische des alttestamentlichen Verständnisses der imago, wie es in Gen. 1,26 f., aber auch in 5,1 ; 9,6, implizit auch in Ps. 8 und geradezu klassisch in dem apokryphen Text Sir. 17,3 zum Ausdruck kommt. Hier bezeichnet dieser Begriff das Besondere des Menschseins auf jeden Fall als etwas, was der Mensch nicht verlieren kann. Er ist dazu geschaffen, Bild Gottes zu sein. Darin gründet sein Wesen, darin hat er sein besonderes Verhältnis zu Gott und seine Sonderstellung gegenüber aller Kreatur. Diese Bildträgerfunktion oder -bestimmung wird durch die Sünde nicht aufgehoben, im Gegenteil, sie „lebt gerade in der Sünde". Denn sie dokumentiert sich nach Brunners Interpretation eben im Subjektsein, in der Wortfähigkeit, in der Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen, also in der formalen Personalität. Darin besteht seine Bildträgerfunktion, die abbildliche Gottähnlichkeit, daß er dies mit Gott gemein hat: Subjekt (abbildliches Subjekt), Vernunftwesen zu sein, d. h. einer, „mit dem man reden kann, mit dem auch Gott reden kann", den Gott zum Antworten und eben damit zum Verantwortlichsein bestimmt hat 2 7 . Diese Bestimmung als das „Urwesen" des Menschen lebt auch in seinem Sündersein. Denn er bleibt auch als Sünder Subliert zunächst im Hinblick auf die „ontologische Eigenart" des gottgeschaffenen (Ur-) Menschen, daß er von vornherein als geistig-persönliches Wesen eine „Anlage und Begabung" besaß, die ihn zur Gotteskindschaft befähigte und ihm die Erfüllung seiner gottgewollten Aufgabe ermöglichte. Diese Gottesbildlichkeit „im Sinne der Fähigkeit zur Gottesgemeinschaft" muß als nodi „gegenwärtig vorhanden oder realisierbar nachgewiesen werden können . . . " . Sie wird nun näher bestimmt: „Die sogenannte formale, d. h. zur Daseins/orm des Menschen wesentlich gehörende, deshalb unverlierbare und thatsächlidi unverlorene Seite seiner Gottesbildlichkeit liegt in dem geistig-persönlichen Wesen des Menschen, sofern er nicht blos die Idee Gottes zu erfassen das Bedürfniß hat, sondern kraft des unaustilgbaren Freiheitsdurstes und der unausrottbaren Gewissensstimme sich immer wieder auf eine göttliche Vollmacht und göttliche Lebensnorm hingewiesen sieht." Sie muß also vor allem „in seinem geistig gearteten Personleben (Selbstbestimmung und Selbstbewußtsein, Wollen und Erkennen, formale Freiheit) gesucht werden" und tritt demzufolge „entwicklungsgeschichtlich innerhalb der menschlichen Gemeinschaft in Sprache und Sitte, in Wort und That, im Cultur- und Rechtsleben, in Kunst und Wissenschaft und vor allem in religiös-sittlicher Selbstbetätigung und Gemeinschaftspflege zu Tage" (in: Lutherische Dogmatik, 2. Bd. l . T e i l , 1900, S. 363 ff. 380. 392). v. Oettingen entwickelt neben diesem Person- und Geistsein als der „psychisch-formalen" Gottesbildlichkeit dann auch den Begriff der materialen, d.h. der inhaltlich bestimmten, wahren Gottesbildlichkeit, die er auch als die ethisdimateriale bezeichnet, als Ausdruck des Gut- und Gerechtseins, in dem der Mensch in ursprünglicher „Liebes- und Lebensgemeinschaft" mit Gott lebt (a.a.O., S. 373 ff. 381). 2 7 NuG, S. 1 0 f . ; vgl. dazu die späteren Ausführungen zur Imago-Lehre in WaB, S. 145 ff.; MiW, S. 71 ff. 519ff. 545 f.; D II, S . 6 4 f f . Zur Identifikation dieser Gottebenbildlichkeit mit der Ichheit, mit dem personhaften Wesen des Menschen, vgl. schon J . Müller, Die christliche Lehre von der Sünde, 2. Bd. (1867 s ), S. 498 f.
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jekt, und er hört auch in seinem Sündigen nicht auf, verantwortlich zu sein. Er existiert als Mensch coram Deo und entrinnt nicht dem Wort, in dem er geschaffen ist, auch wenn er dieses Wort verneint, überhört oder in ein eigenmächtiges, widergöttliches Wort umlügt. Wenn Brunner dies als die „formale Seite" der imago Dei auffaßt, so glaubt er, damit nun auch der (materialen) Bestimmung der imago als justitia originalis ganz im reformatorischen Sinn Rechnung tragen zu können, ohne in den fragwürdigen Begriff eines imago-Restes ausweichen zu müssen. Denn nun bleibt jene andere Aussage uneingeschränkt gültig, daß die justitia originalis „absolut verloren" sei. Dies bedeutet eben: Die imago in ihrem materialen Sinn ist verloren, da der Mensch als Sünder nicht den Sinn seiner schöpfungsmäßigen Bestimmung erfüllt. Er lebt nicht gemäß seiner göttlichen Bestimmung. Die Wirklichkeit seines Personseins entspricht nicht dem Willen Gottes, da er Gott nicht die Antwort gibt, zu der er in seiner Personhaftigkeit vom Schöpfer bestimmt wurde. Denn der Sinn seines Personseins, auf den die formale Personalität hinweist, ist ja die Gemeinschaft mit Gott, das Bleiben in Gottes Wort, das gehorsame Sein, in dem der Schöpfer geehrt wird, das Sein-in-GottesLiebe, in dem der Mensch Gott mit Liebe antwortet. Wahrhaftes Personsein ist wirkliches Sein in Liebe oder, wie Brunner es später gelegentlich ausdrückt, „verantwortliches Sein-in-Liebe", „erfüllt verantwortliches Sein" 28 . Die Gottebenbildlichkeit in ihrem materialen Sinn, in ihrer inhaltlichen Bestimmung, in ihrer sinnerfüllenden aktuellen Verwirklichung ist also identisch mit dem wahrhaften Personsein, d. h. mit dem wirklichen Sein-im-Worte-Gottes, während die Gottebenbildlichkeit in ihrem formalen Sinn identisch ist mit der formalen Personalität. Und so kann Brunner auf Grund dieser begrifflichen Differenzierung zwischen einer formalen und einer materialen Personalität beide Aussagen je in ihrem eigenen Recht und in ihrem sinnvoll Aufeinanderbezogensein festhalten: „Formal ist die imago auch nicht im mindesten angetastet — der Mensch ist, ob sündig oder nicht, Subjekt und verantwortlich. Material ist die imago völlig verloren, der Mensch ist durch und durch Sünder, und an ihm ist nichts, was nicht von der Sünde befleckt wäre." 29 Diese Unterscheidung und Aufeinanderbeziehung einer formalen und einer materialen Bestimmung der Gottebenbildlichkeit hat auf den ersten Blidc etwas Bestechendes. Sie scheint in der Tat das Zwielichtige und Widersprüchliche, das mit der Lehre von der doppelten imago und mit der Annahme eines imago-Restes gegeben ist, aufzulösen. Die Gott28
N u G , S. 11; MiW, S. 222 f. 95. NuG, S. 11; in anderer Ausdrucksweise: das „quid des Personseins ist durch die Sünde negiert, während das quod des Personseins, das Humanum überhaupt, auch das des Sünders, ausmacht" (a.a.O.). 29
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bezogenheit des homo peccator bleibt gewahrt, ohne daß die Wirklichkeit der Sünde an irgendeinem Punkt verharmlost würde. Der Gegensatz von Sünde und Gnade wird nicht abgeschwächt, die Lehre von der Rechtfertigung sola gratia erscheint nicht im mindesten gefährdet, und auch für das Verständnis der Anknüpfungsproblematik ergibt sich anscheinend im Rahmen dieser Unterscheidung eine weitere Klärung. Der Anknüpfungspunkt, auf den sich die Gnadenbotschaft Gottes bezieht, ist eben nichts anderes als „die audi dem Sünder nicht abhanden gekommene formale imago Dei", das Menschsein des Menschen in seinem wortempfänglichen, verantwortlichen Wesen, also die „rein formale Ansprechbarkeit"80. Das immer wieder auftauchende Mißverständnis in der Frage der Anknüpfung und der theologische Argwohn ihr gegenüber hängt nach Brunner aufs engste mit dem Nichtverstehen bzw. mit der Nichtunterscheidung dieser formalen und materialen Bestimmungen zusammen. Denn wendet man sie konsequent auf diese Fragestellung an, dann wird nicht nur das Recht, sondern auch die Grenze dessen, was mit dem Begriff der Anknüpfung umschrieben ist, deutlich. So wie es unter den angegebenen Voraussetzungen sinnvoll und notwendig ist zu sagen, daß es material keine imago Dei mehr gibt, während sie in formaler Hinsicht das Menschsein als etwas Unveräußerliches bestimmt, so muß dementsprechend auch gesagt werden, „daß es material keinen Anknüpfungspunkt gibt, während er formal unbedingte Voraussetzung ist" 31 . Beides steht nicht im Widerspruch zueinander, sondern verweist auf den jeweiligen Gesichtspunkt, unter dem das eine wie das andere sinnvoll und notwendig ist. Denn das Wort Gottes, das in der Verkündigung des Evangeliums den Menschen anredet, schafft ja nicht erst die auf das Wort ausgerichtete und im Wort als verantwortlich begründete Existenz — es setzt diese Wortfähigkeit voraus. Es akzeptiert sie als die im Schöpfungswort begründete Voraussetzung für das Hörenkönnen des Gotteswortes. Wohl aber schafft das in der Gnade des Evangeliums den Menschen zur Buße rufende Wort selbst „die Fähigkeit des Menschen, Gottes Wort zu glauben, also die Fähigkeit, es so zu hören, wie man es nur glaubend hören kann" 32 . Diese WortEmpfänglichkeit, das glaubende Verstehen, kann dem Menschen nicht als eigene Voraussetzung zugestanden werden, d. h. seine Existenzwirklichkeit als homo peccator macht diese Möglichkeit zunichte. Sie ist ja geradezu die Verneinung dessen, was glaubendes Verstehen meint. In diesem Sinn gibt es material keinen Anknüpfungspunkt. Andernfalls wäre in der Tat der Bruch zwischen dem natürlichen und dem glaubenden Selbstverständnis aufgehoben, die Vernunft käme von sich aus zum Glauben, der Mensch wäre schon immer in der Voraussetzung solcher materialer Anknüpfung dem Geschehen des Glaubens unmittelbar ver30 32
NuG, S. 18. NuG, S. 19.
31
NuG, S. 19.
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bunden, und zwar nicht nur als Erschlossensein für das, was da geschieht, sondern in einer wirklichen Partizipation, die nur noch der Vollendung bedürfte. Das will Brunner mit seiner Theorie vom Anknüpfungspunkt, wie wir von Anfang an deutlich zu machen suchten, gerade nicht sagen. Und es ist darum ein arges Mißverständnis, wenn man seine Absicht in dieser Richtung interpretiert. 4. Zum Verständnis a) Seinsstruktur und
des
Formalbegriffs
Existenzwirklichkeit
Allerdings gibt die Unterscheidung des Formalen und des Materialen nun dodi audi wieder Anlaß zu kritischen Fragen. Sie richten sich einerseits auf die Erfassung des Anknüpfungsproblems unter diesem doppelten Aspekt, andererseits auf den Begriff des Formalen. Gibt Brunner diesem Begriff einen eindeutigen Sinn? 1. In den späteren Schriften, die hier zur Interpretation herangezogen werden müssen, weil Brunner in ihnen den Sachverhalt verdeutlicht, aber auch auf die Kritik bereits reagiert, gebraucht er den Begriff „formal" durchweg wechselweise mit dem Struktur-BegriS. Er spricht z. B. von der formalen Schöpfungsstruktur des Menschseins, vom Menschlichen als Form oder als Struktur, von der unabänderlich gegebenen Seinsstruktur, von der formalen Menschlichkeit oder der formalen Wesensstruktur, vom Personsein als Struktur oder von der formalen Personalität 33 . 2. In all diesen Variationen des Struktur- oder Formbegriffs bedeutet das Formal-Strukturelle etwas, das unverlierbar, konstitutiv zum Menschsein gehört und darum von dem Gegensatz Schöpfung-Sünde bzw. SündeGnade oder Sünde-Gehorsam nicht betroffen ist 34 . 3. Als Bezeichnung der formalen Struktur des Menschseins wird der Begriff näher bestimmt durch die einzelnen schon genannten Elemente der formalen Personalität: durch den formalen Begriff der Wortfähigkeit, der Verantwortlichkeit, der Gottbezogenheit, des Subjektseins, der Selbstbestimmung (Freiheit), der Gemeinschaftlichkeit. 4. Der entscheidende Gesichtspunkt, unter dem diese Bestimmungen als formal bezeichnet werden, liegt in ihrer Intentionalität, in ihrer Be3 3 Vgl. z . B . MiW, S. 131. 166. 230. 5 3 0 f . 546. 551 f.; D II, S. 66. 71. Zur Analyse des Begriffs des Formalen bei Brunner vgl. vor allem R. Roessler, a.a.O., S. 99 ff. 110 ff. 3 4 Vgl. Brunners Erläuterung des Begriffs der formalen imago in MiW, S. 5 3 0 : „er bezeichnet das Menschliche als Menschliches, die unverlierbare Struktur des Menschseins, die also durch den Gegensatz Schöpfungsursprung — Sünde nicht betroffen ist". Ähnlich in D II, S. 6 7 : „Diese formale Wesensstruktur ist unverlierbar. Sie ist mit dem Menschsein identisch, und zwar mit dem Menschsein, das alle Menschen gleichermaßen kennzeichnet und nur dort aufhört, wo das Mensdisein aufhört — also an den Grenzen der Idiotie oder des Wahnsinns."
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ziehung auf das Materiale. „Formal und material sind relative Begriffe." 35 Das, was hier in der Analyse des Personseins unter dem doppelten Aspekt des Formalen und Materialen ausgesagt wird (persona quod und persona quid), gehört zusammen als Wesenseinheit: Im Menschsein als verantwortlichem Sein, als Sein-in-Liebe, „ist das Formale und das Materiale ursprünglich eins" 3e . Diese ursprüngliche Einheit qualifiziert das Formale und das Materiale in seinem Aufeinanderbezogensein als Identitätsbezug, d. h. die formale Bestimmung des schöpfungsmäßigen Seins des Menschen ist sein „Sein-/«r-die-Liebe", die materiale Bestimmung dementsprechend sein „Sein-m-der-Liebe" 37 . Unter dem Begriff des Formalen ist also die schöpfungsmäßige bzw. die ontologische Voraussetzung des wahren Personseins verstanden, die Seinsbestimmung, die Verwirklichungsbedingung, das Sein-Können. Dieses Verständnis deutet sich auch da noch an, wo Brunner vom Formalen als Voraussetzung in einem allgemeineren Sinn spricht 38 . Man kann die Begriffe formal und material darum durchaus „in Analogie zu den geläufigen Begriffen ,ontologischc —,on tisch'oder,existential'—,existentiell'" verstehen 39 , allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, daß das Formal-Ontologische bei Brunner nicht als eine neutrale Seinsstruktur gedacht ist, die sich als solche philosophisch erheben und mit diesem oder jenem Gehalt verbinden ließe, sondern für ihn ist die ontologische Kategorie ja zugleich eine theologische. Darin sieht er geradezu einen Hauptgedanken seines Buches „Der Mensch im WiderMiW, S. 530. MiW, S. 556; vgl. auch D II, S. 72: „Von Gott aus besteht also diese Scheidung des Formalen und Materialen nicht, sie besteht nicht zu Recht. Aber sie besteht — zu Unrecht. Das heißt von uns, den sündigen Menschen aus gesehen, erscheint die Gottebenbildlichkeit notwendig unter diesem doppelten Aspekt der formalen, d.h. unverlierbaren Verantwortlichkeit und der materialen, verlorenen wahren Bestimmung, dem verlorenen Sein in der Liebe Gottes." 3 7 Vgl. D II, S. 76. Dem entspricht es, wenn Brunner vom „Menschlichen als Form" (Verantwortlichkeit) und vom „Menschlichen als Inhalt" (Sein in Liebe) spricht, vom „Gehalt" (Liebesgehalt) des Personseins und von der „Einheit von Sein und Bestimmung" (MiW, S. 166. 230 f.). 3 8 Vgl. die Erläuterung, die Brunner in NuG 2 S. 49 s gibt: „Mit formal meine ich also das Humanum, das als solches die Voraussetzung für das Vernehmen von Wort, also auch für das Vernehmen des Predigtwortes von Jesus Christus ist." Dem widerspricht nur scheinbar die Bemerkung in MiW, S. 556: „Die formale humanitas ist nicht die Voraussetzung des Seins-im-Wort-Gottes, sondern umgekehrt: das, was vom Seinim-Wort auch nach dem Sündenfall nodi übrigbleibt." Hier ist — in der Abwehr einer philosophischen Ontologie, die einen eigenen Begriff der Verantwortlichkeit in der Bestimmung der Humanität voraussetzt — an das schöpferische Wort Gottes als der eigentlichen Voraussetzung des Seins im Wort gedacht. 35 30
3 9 R . Roessler, a.a.O., S. 100. 110. Roessler weist mit Recht darauf hin, daß dabei nicht außer acht gelassen werden darf, daß bei Brunner die beiden Begriffe formal und material als aktuale Relation verstanden sind.
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spruda", daß „die Struktur des Menschseins als solche theologisch, nicht (oder nicht bloß) philosophisch verstanden werden müsse" 40 . 5. Mit diesen Hinweisen ist bereits angedeutet, daß die Unterscheidung zwischen den formalen und materialen Bestimmungen oder, wie mit dem nötigen Vorbehalt erläuternd hinzugefügt werden kann, zwischen existential-ontologischen und existentiell-ontischen Bestimmungen kategorial zu verstehen ist. „Wir scheiden kategorial", erklärt Brunner selbst ausdrücklich in „Natur und Gnade", um damit von vornherein dem Mißverständnis zu begegnen, als handle es sich bei der Unterscheidung einer formalen und einer materialen imago um ein quantitatives Verhältnis 41 . Ohne diesen kategorialen Sinn wäre die ganze Unterscheidung audi undurchsichtig, verwirrend und theologisch unhaltbar, denn wie sollte die paradoxe Behauptung, die imago sei formal nicht im mindesten angetastet, material hingegen völlig verloren, dann nodi einen Sinn haben können? Sie ist ja jeweils als Totalitätsaussage gemeint, d. h. im Aspekt des Formalen wie des Materialen ist jeweils der ganze Mensch erfaßt, sei es im Hinblick auf seine unveräußerliche Existenzstruktur als Seinsbestimmung und Seinsmöglichkeit, in der das Menschsein als solches verfaßt ist, sei es im Hinblick auf das wirkliche Sein, auf den faktischen Vollzug menschlicher Existenz, in dem die Seinsbestimmung verwirklicht — oder auch verfehlt wird. b) Der Begriff der formalen
Freiheit
Man muß sich also, wenn man Brunner hier recht verstehen will, vom aristotelischen Denkschema von materia und forma freimachen. Brunner gebraucht nicht den thomistisch-aristotelischen Formal-Begriff, sondern er übernimmt, wie er selbst angibt, den „moderne(n) Gebrauch des Wortes formal". Sein Begriff der formalen imago ist bewußt in Analogie zu dem Begriff der „formalen Freiheit" gebildet, wie er in der theologischen und philosophischen Diskussion der Willensfreiheit entwickelt wurde und audi im theologischen Denken des 19. Jahrhunderts begegnet42. Der 4 0 MiW, S. 555. Darum sieht er in dem Satz Bultmanns: „da es kein anderes Dasein gibt, als dieses in seiner Freiheit sich konstituierende, sind die formalen Strukturen des Daseins, die in der ontologisdien Analyse aufgewiesen werden, ,neutral', das heißt sie gelten für alles Dasein" (GV I, S. 312) das ,proton pseudos' (MiW, S. 556). 4 1 NuG, S. 11; vgl. audi die Fragestellung in Ankn, S. 514. Zum Problem der kategorialen Unterscheidung vgl. Y. Salakka, a.a.O., S. 161. 164; R. Roessler, a.a.O., S. 110 f. 4 2 MiW, S. 336 Anm.l. 530. 272 ff.: „Wie er audi als Sünder nodi das hat, was die Reformatoren justitia civilis heißen, so ist audi noch eine libertas civilis, jene Freiheit geblieben, die man seit alters die formale Freiheit nannte. Diese „Form", die vom Menschsein unzertrennlich ist, die Struktur des Menschseins als Sein-in-Entsdieidung, ist durch die Sünde nicht aufgehoben" (MiW, S. 272) ; vgl. dazu J. Müller, Lehre von der Sünde (1838—1844), 1867 5 , 2. Bd. ( l . K a p . : „Formale und reale Freiheit"); Chr. E.Luthardt, Die Lehre vom freien Willen..., 1863. Vor allem in Luthardts Darstellung
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Begriff der formalen Freiheit bezeichnet strenggenommen die Wahl- und Entscheidungsfreiheit, das Vermögen des Auchanderskönnens, des Jaoder Neinsagenkönnens. Sie ist als Freiheit im Ursprung (nicht in der Ausführung) des Willensaktes die notwendige Voraussetzung und Bedingung des sittlichen Personseins, weil zum Personsein die Selbstbestimmung, das Sein-in-Entscheidung gehört. Nur so kann das Gute als sittlich Gutes gewollt werden, kann die Sünde als Schuld, der Mensch als verantwortlich erklärt werden. Der Sinn dieser formalen Freiheit ist „die Freiheit-in-Verantwortung, die Freiheit-in-und-zur-Liebe", zur Gemeinschaft mit Gott 43 . In ihrem wirklichen Vollzug (reale Freiheit) verwirklicht sich das wahre Wesen des Menschen, die Einheit von Existenz und Bestimmung, das wahre Ebenbild Gottes. Man könnte also sagen: Es ist die Bestimmung der formalen Freiheit, in die reale Freiheit überzugehen, in der der Mensch wahrhaft Mensch ist. Darum handelt es sich auch hier im Grunde genommen gar nicht um zwei Freiheitsbegriffe, sondern um die beiden Momente eines Begriffs. In der Verwirklichung des Seins-in-Entscheidung als konkrete Entscheidung erweist sich nun die reale eigentliche Freiheit jedoch als verwirkt, als verloren. Hier, in seinem faktisch Sichgegen-Gott-Entscheiden, zeigt sich die Unfreiheit des Sünders im non posse non peccare. Die formale Freiheit bleibt hingegen als die „Form" des Menschseins, als die ontologische Voraussetzung alles Sichentscheidens und aller Verantwortung bestehen. c) Die inhaltliche Bestimmtheit
des
Formalen
aa) Die Kritik an Brunners Unterscheidung von formal und material Von der Analogie zu diesem Verständnis der formalen Freiheit aus wird erst eine Eigentümlichkeit in Brunners Gebrauch des Formalen begreiflich, die immer wieder Zweifel an der kategorialen Strenge, an der „Reinheit" seiner Unterscheidung des Formalen vom Materialen geweckt hat. Ist bei ihm das Formale wirklich ein „bloß Formales"? Kann das, was er tatsächlich unter der formalen Personalität bzw. der formalen imago versteht, noch der Kategorie des Formalen zugerechnet werden, oder hat es nicht selbst auch wieder einen materialen Einschlag, wie Barth mit größtem Argwohn bemerkt44? Ist die Trennung der beiden Aspekte nicht schon darum äußerst bedenklich, weil hier „rein philosophische der formalen und der realen Freiheit wird die Analogie zu Brunners Unterscheidung der formalen und materialen imago deutlich. 4 3 MiW, S. 265. 4 4 Die Polemik Barths findet gerade hier immer wieder ihre Nahrung, „daß Brunner leider gar nicht daran denkt, bei diesem Formalen stehen zu bleiben und zwar darum nicht, weil es bei ihm auch bei dem Satz, daß der Mensch ,durch und durch ein Sünder' sei, in Widerspruch zu der vorangeschickten Erklärung faktisch nicht bleibt. Längst hat er ja diesen Menschen in seinem Verhältnis zu Gott audi ,material' aufs Erstaun-
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Kategorien" in Anspruch genommen werden, „um den theologischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit zu bestimmen" (Stange), und diskreditiert sie sich nicht von vornherein in ihrem Anspruch auf theologische Legitimität, „wenn in ,Natur und Gnade' immer wieder betont ist, in Ausdrücken, denen man schon von ferne das materiale Gewicht ansieht, daß das Formale auch schon etwas sei" (Link)? Der Verdacht, daß sich hinter dem schillernden Begriff des Formalen ein neuer theologischer Sündenfall verbirgt, glaubt, sich auf zahlreiche Indizien stützen zu können, auf quantitative Ausdrücke, auf unbestimmte Formulierungen („irgendwie" gibt es allgemeine Gotteserkenntnis), auf Abschwächungen (die Sünde macht den Menschen einerseits blind, andererseits „trübt" oder „verdunkelt" sie nur den Blick), vor allem aber auf die Behauptung einer natürlichen Gotteserkenntnis und der Anknüpfung an sie. „Gab es denn gar keinen guten Geist, der Brunner, als er jenen Einfall von der Unterscheidung der formalen und materialen imago hatte, warnend zugeflüstert hätte, daß er sich eben damit das geradezu klassische Denkschema der Theologie des 18. Jahrhunderts anzueignen im Begriff stehe?" fragte K. Barth, und selbst Fr. Brunstäd stimmt hierin Barth zu: „Brunner ist mit seiner Unterscheidung von Form und Inhalt und seiner Behauptung vom unversehrten formalen humanum geradezu auf dem Wege zur katholischen Lehre von den pura naturalia, die erhalten seien, und dem donum superadditum, das verlorengegangen sei . . . Er betritt eben damit den Weg der natürlichen Theologie." 45 Solche Urteile, die meist mit einem eigenen, oft redit merkwürdigen Begriff vom Verhältnis des Formalen zum Materialen verbunden sind und dieses Verständnis audi Brunner unterstellen, ließen sich leicht vermehren. Aber selbst wenn sie auf mancherlei MißVerständnissen beruhen, wie die bisherige Analyse des Sachverhalts bereits gezeigt haben dürfte — die Udiste bereichert und ausgeschmückt . . . Es war wohl schon dort so streng nicht gemeint mit solchen Sätzen, mit der auf den ersten Blick so eindrucksvollen Unterscheidung von ,formaler' und ,materialer' imago Dei. Die Form war wahrscheinlich schon dort heimlich eine reichlidi gefüllte Form. Unter ,formaler imago Dei' hätten wir schon dort verstehen müssen: den Menschen, der den Willen Gottes auch ohne Offenbarung ,irgendwie' und einigermaßen' erkennen und tun k a n n . . . " (Nein, S. 26 f. 16 ff. 24 ff. 48). — Vgl. dazu I. N . Pohl, Das Problem des Naturrechtes bei E. Brunner, 1963, S. 74ff. 82ff. (Anm. 50 Lit.); Y. Salakka, a.a.O., S. 159ff. 164; B. E. Benktson, Den naturliga theologiens Problem hos K.Barth, Lund 1948, S. I f f . l l f f ; A . H o f f m a n n , Zur Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in der neueren protestantischen Theologie und bei Thomas v. Aquin, 1941, S. 3 ff.; Fr. Traub, Zur Frage der natürlichen Theologie, in: ZSTh 13 1936, S. 46; C. Stange, Natürliche Theologie, in: ZSTh 12 1935, S. 380; F.Brunstäd, Allgemeine Offenbarung, 1935, in: Ges. Aufs. (1957), S. 125 f.; W. Link, „Anknüpfung", „Vorverständnis" und die Frage der „Theologischen Anthropologie", in: ThR N F 7 1935, S. 206 ff. 45 Zitate (vgl. Anm. 44): Stange, a.a.O., S. 380; Link, a.a.O., S. 206 f.; Barth, Nein, S. 48; Brunstäd, a.a.O., S.125.
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Frage bleibt: beruhen sie mir auf einem MißVerständnis? Oder gibt es nicht dodi Hinweise, die zumindest dieses Mißverständnis begünstigen, „daß ihm die formale imago unter der Hand in die materiale übergeht"4e? Man muß Brunner darum nicht gleich dem Verdacht aussetzen, er gebrauche den Begriff des Formalen gewissermaßen nur als „trojanisches Pferd", um in seinem Schutz dodi nodi den einen oder anderen Gehalt des natürlichen Menschseins theologisch unangefochten in das Anknüpfungsgeschehen hineinzubringen. Es könnte ja sein, daß die kategoriale Unterscheidung, wie er sie versteht, gar nicht lediglich in der Alternative „leere Form — bestimmter Inhalt" gedacht ist, sondern daß die Aussagen über die formale Struktur des Menschseins ihrerseits auch einen inhaltlichen Aspekt haben. Bereits im Anknüpfungsaufsatz löst ja die These, die Verkündigung des Evangeliums setze als Anknüpfungspunkt alles Formale voraus, das mit der Sprachfähigkeit und Verständigungsmöglichkeit überhaupt gegeben ist, bei Brunner sofort audi die Reflexion aus, „daß die Trennung des Formalen und Inhaltlichen in der Sprache ein Ding der Unmöglichkeit ist". Und er fragt: „Sollte es nicht schon etwas sehr Inhaltreiches sein, daß die allgemeine Logik, d. h. die Gültigkeit des rationalen Denkens als notwendige Voraussetzung anerkannt ist, daß die Sprachfähigkeit nicht weniger als die Humanität überhaupt in sich schließt?"47 Nicht von ungefähr kommt Brunner gerade in diesem Zusammenhang auf das inhaltliche Vorverständnis zu sprechen, das die Verkündigung als Anknüpfungspunkt voraussetzt, wenn sie sich der vorhandenen Sprache bedient, um darin ihr Eigenes zu sagen. Und zeigt sich nicht die gleiche Ausrichtung auf das Inhaltliche ebenso in der Näherbestimmung des Anknüpfungspunktes, die ihn zunächst in der formalen Personalität begründet, dann aber gerade den „materiellen Kern" des Personseins ins Auge faßt, das konkrete natürliche Wissen um Gott, um das Gesetz, das Gewissen? Die Präzisierung des Anknüpfungspunktes drängt Brunner offensichtlich von der Unbestimmtheit einer rein formalen Anknüpfung (die Ansprechbarkeit als solche) auf den darin liegenden inhaltlichen Sinn und auf die konkrete Äußerung des Angesprochenseins. Es geht ihm also nicht um die Feststellung einer abstrakten neutralen Potentialität, die das wirkliche Menschsein noch gar nicht in den Blick kommen läßt, sondern um die Aktualität der formalen Seinsstruktur, um die Gottbezogenheit und Verantwortlichkeit nicht als einer bloßen Möglichkeit des Menschen, sondern als der Seinsbestimmung, ohne die er gar nicht Mensch sein kann. Die formale Personalität ist also nicht so etwas wie eine frei über dem Menschen schwebende Bestimmung, die auch ohne den wirklichen Menschen sinnvoll gedacht werden könnte. Sie ist kein vorexistentielles Sein, 4 8 Fr. Traub, Zur Frage der natürlichen Theologie, a.a.O., S. 47. « Ankn, S. 508.
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nicht etwas An-sich-Seiendes, sondern das, was das Menschsein konstituiert 48 . Es liegt im Wesen dieses Formalen, daß es als solches gar nicht ohne einen bestimmten Inhalt gedacht werden kann: „Jedes Formale ist, selbstverständlich, auch ein Inhaltliches." 49 bb) Der teleologische Inhalt des Formalen Mit dieser Deutung des Formalen sind die aufgeworfenen Fragen allerdings noch keineswegs erledigt. Sie bekommen nun erst ihr volles Gewicht. Denn es geht hier ja letztlich nicht um diese oder jene Deutungsmöglichkeit des Formalbegriffs, sondern um das, was Brunner mit Hilfe dieses Begriffs bedeuten will. Und hier wird nun gerade das in seinem Begriff des Formalen mitgedachte oder intendierte Inhaltliche zum eigentlichen Kriterium dafür, ob es ihm gelingt, einen einheitlichen Begriff der imago durchzuhalten, oder ob er sich in der Tat auf dem Weg zur katholischen Theorie der doppelten imago befindet und mit ihr auf dem Weg zu einer natürlichen Theologie. Worin also besteht das Inhaltliche der formalen imago bzw. der formalen Personalität, und wie verhält es sich zur materialen imago? Die nächstliegende Antwort ergibt sich ohne weiteres aus der bisherigen Interpretation: Die formale Gottebenbildlichkeit hatte ja nie den Charakter eines leeren Formbegriffs, sondern sie hat seinsgründenden und seinsbestimmenden Charakter. In ihr ist also bereits die inhaltliche Bestimmung des Menschseins gewissermaßen als Zielprojektion gegeben: das Sein-/¿>-die-Liebe, die Berufung zur Gottesgemeinschaft. Das Inhaltliche der formalen imago entspricht hierin ganz der materialen imago als Sein-zw-der-Liebe. Dieses Aufeinanderbezogensein von Bestimmung und Sein in der Identität des Inhaltlichen bildet gewissermaßen das reine Modell der kategorialen Unterscheidung und Zuordnung des Formalen zum Materialen. In ihm ist die innere Einheitlichkeit der Gottebenbildlichkeit unter zwei besonderen Aspekten gewahrt. In ihm muß aber auch 48
Vgl. dazu MiW, S. 306: „Das Personsein, Geist und Freiheit sind Bestimmungen, die dem Menschen als Menschen zukommen, an denen man also durch die bloße Tatsache, daß man als ein Mensdi geschaffen ist, teilhat. Und doch sind sie alle drei von der Art, daß sie die reine Gegebenheit ausschließen. Person, Geist und Freiheit sind nur in actu wirklich. Sie schließen ein Um-sidi-selbst-Wissen und ein Sich-selbst-Bestimmen in sich." — Diesen Gesichtspunkt sieht auch R. Roessler als entscheidend für das rechte Verständnis des Formalen bei Brunner an: „Das Formale ist immer durch das Materiale qualifiziert, ja nur als ein im Materialen Realisiertes existent . . . Formale Personalität kommt dem Menschen also immer nur in Hinsicht auf seine faktische — in der Sünde oder im Glauben gelebte — Existenz zu" (a.a.O., S. 100 f.). 49 NuG 2 , S. 49 s. Ähnlich MiW, S. 530, w o Brunner sich darüber beklagt, daß „offenbar unserem Theologengeschlecht die logische Schulung, die zum Verständnis eines solchen Begriffes notwendig ist, weithin abgeht. Wie könnte sich sonst ein Theologe darüber aufhalten, daß mein Begriff der formalen Imago sich ,hinterher als etwas sehr Inhaltreiches' entpuppe!"
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im Hinblick auf den wirklichen Menschen als homo peccator gesagt werden: Dieser Inhalt ist „verloren"! Er wird im aktuellen Menschsein nicht verwirklicht. Er kommt erst in jener Wirklichkeit zur Geltung, die sich in Jesus Christus ereignet, in der restitutio imaginis. cc) Die Aktualität des Formalen in der materialen Humanität Der Anstoß an der inhaltlichen Qualifizierung des Formalen richtet sich denn auch nicht auf diesen teleologischen Inhalt, sondern auf jene andere materiale „Füllung" des Begriffs, die sich auf das wirkliche Menschsein des homo peccator bezieht. Die formale Personalität bestimmt ja den Menschen auch in seinem Sündersein. Sie ist gar nicht anders denkbar als in der Aktualität menschlichen Seins, und das wirkliche Menschsein ist gar nicht anders denkbar als in der Aktualität der formalen Personalität, d. h. es ist und bleibt auch in seinem aktuellen Widerspruch gegen Gott von Gottes Wort getragen und zur Verantwortung aufgerufen, und es zeigt gerade in seinem Widerspruch die Spuren seiner Gottbezogenheit. Das will nicht heißen, daß also doch noch ein kleiner Abglanz, ein kleiner Rest des Seins in der Liebe, in der Gemeinschaft mit Gott sichtbar wird, daß der Mensch wenigstens einen Zipfel der unverfälschten Wahrheit ergreifen und Gott darin wenigstens „mit ein bißchen Schwimmkunst" (Barth) näherkommen könnte. Diese Deutung verkennt, daß alles, was Brunner in dieser Hinsicht anführt, zugleich als Ausdruck der Sünde erscheint, den Menschen also nicht in irgendeinem Ja zu Gott und seiner Bestimmung aufweist, sondern gerade in seinem Nein! Er existiert in Verantwortung, aber er bleibt sich darin Gott schuldig; er existiert als Person, aber er erfüllt sein Personsein „mit einem dem ursprünglichen entgegengesetzten Gehalt"; er bleibt humanus, aber „er verliert mit der göttlichen Liebe und dem Sein in der Liebe den eigentlich menschlichen Gehalt der Humanität"; er bleibt Mensch vor Gott und als solcher in einer unentrinnbaren Gottbezogenheit, aber er realisiert sie „inhaltlidi" als Gottesfeindschaft und Gottesflucht. Es gibt nichts Menschliches, das nicht die Verkehrung des Menschenwesens anzeigt. Und gleichwohl — oder eben darum — gibt es „nichts Menschliches, das nicht zugleich die ursprüngliche imago Dei andeutet". Brunner kann die Art dieser materialen Andeutung auch in der paradoxen Formulierung zum Ausdruck bringen: Daß mit der Zerstörung der Gottesbeziehung auch die Gottebenbildlichkeit zerstört ist, bedeutet nicht, „daß sie nicht mehr da ist, sondern genau dies: daß sie als zerstörte da ist" 50 . Klingt aber das Lob der Humanität bei Brunner nicht doch ganz anders? Daß der Mensch das Wort hat, daß er fähig ist, Vernünftiges zu denken und zu tun, daß er Kultur schafft, die Wahrheit um der Wahrheit willen sucht, die Idee Gottes bildet und ein moralisch-religiöses Bewußt50
MiW, S. 129; vgl. zum Ganzen NuG, S. 19. 49f.; MiW, S. 165ff. 230f. 201
sein entwickelt — fällt dies alles faktisch wirklich nur unter das vernichtende Urteil der Sünde? Wird die Größe des Menschen zugleich als sein Elend bestimmt oder wird sie nur von seinem Elend her eingeschränkt? Man wird hier wiederum sehr differenziert urteilen müssen. Brunner versucht, in seiner Lehre vom wahren und wirklichen Menschen beides deutlich zu machen, daß die Wahrheit des wirklichen Menschen nur in dem Zugleich seines Geschöpfseins und seines Sünderseins erfaßt werden kann. Auch wenn das, was den Menschen auszeichnet, in seiner formalen Humanität (Personalität) gesehen wird, die noch außerhalb des Gegensatzes Schöpfung—Sünde steht, so trägt doch die materiale Humanität in ihrem Gegensatz dieses Auszeichnende als ihre Voraussetzung in sich. Das, was als Größe des Menschen gerühmt wird, erscheint also in der Tat im wirklichen Menschen und meint den wirklichen Menschen. Das Urteil über ihn kann darum nicht nur negativ sein. Sein Menschsein ist auch als korrumpiertes nur aus dem ursprünglichen Gottesverhältnis zu verstehen. Andererseits zieht das Urteil, daß der innerste Kern seines Personseins, das Gottesverhältnis, verderbt ist und der Mensch seine Freiheit nur als Freiheit zum Sündigen gebraucht, das andere Urteil nach sich: Vor Gott als der entscheidenden Instanz „ist auch die Tatsache, daß dem Menschen nicht nur die Fähigkeit, Kulturschöpfer zu sein, sondern auch moralisch Gutes zu tun geblieben ist, letzten Endes bedeutungslos" ! Die Sünde umschließt alles. Das moralisch Gute, das, was den Menschen in seinen höchsten Möglichkeiten auszeichnet, das, „was der natürliche Mensch wirklich sieht und als wahr weiß", soll damit nicht verneint werden. Aber es bleibt im Zusammenhang der Sünde. Es kann diesen Abgrund zwischen Mensch und Gott nicht überwinden. Es ist immer auch der Ausdruck des cor incurvatum in se ipsum. „Daran ändert alle Moralität nichts." Und darum gibt es hier nichts, was das Urteil Gottes über den homo peccator revidieren müßte 5 1 . Der Einwand, daß Brunner in seinen früheren Äußerungen das „Materiale" des Menschseins anders verstanden hätte, weil er sich weigerte, der natürlichen Gotteserkenntnis ihre Bedeutung abzusprechen, verkennt diese theologische Qualifizierung, in deren Rahmen alle diese Aussagen zu sehen sind. Man wird Brunner in dieser Hinsicht zustimmen müssen, wenn er über das Verhältnis der in „Der Mensch im Widerspruch" vorgetragenen Anschauung, zu der in „Natur und Gnade" urteilt: „Es ist genau dasselbe, was ich hier und dort vertrete, aber ich habe es hier mit anderen Worten zu sagen versucht.. . " 5 2 So ist die inhaltliche „Füllung" der formalen imago im Hinblick auf den wirklichen Menschen immer unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten: Das Materiale behaftet den 51 52
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Vgl. MiW, S. 83. 276. 531. MiW, S. 530; vgl. audi MiW, S. IX, NuG 2 , S. III. 45 c.
Menschen bei seinem Sündersein 53 . Das, was der natürliche Mensch von Gott weiß, ist das, was ihn gerade als Sünder qualifiziert. Daß Brunner in „Natur und Gnade", wie überhaupt in seiner Frage nach dem Anknüpfungspunkt, gerade nach diesem Wissen fragt und seine Bedeutung im Zusammenhang des Verkündigungs- und Glaubensgeschehens klarzustellen sucht, rückt den Aspekt der Schöpfung und der bleibenden Gottbezogenheit naturgemäß in den Mittelpunkt der Überlegungen — eben als Mittelpunkt der Problemstellung. Dies geschieht nun allerdings mit einer besonderen Akzentuierung, die den Verdacht wecken konnte, hier sei doch noch etwas anderes gemeint. Ob es der vielleicht etwas übertriebene und bisweilen vielleicht auch etwas naive Eifer des Neuentdeckers war, der ein verkanntes, vernachlässigtes und nur unzureichend theologisch formuliertes Problem bewußt machen und theologisch klären wollte, oder ob ihn die Reaktion auf die scharfe Ablehnung von Seiten Barths darin bestimmte, mag dahingestellt bleiben. Es ist eine Frage von mehr oder weniger biographischem Interesse. Die sachliche Analyse dessen, was Brunner sagen will und wirklich sagt, macht jedenfalls deutlich, daß das Gewicht und der Ernst der Sünde hier an keinem Punkt eingeschränkt und an der Rechtfertigung des Sünders sola gratia festgehalten wird 54 . Dies gilt namentlich auch da, wo er die formale Ansprechbarkeit am auffälligsten auf den Bereich des Inhaltlichen bezieht: bei der Behauptung eines natürlichen Gottesbewußtseins. Er gebraucht den Begriff offenbar nicht mehr rein ontologisch, wenn er von der Ansprechbarkeit sagt, daß sie nicht nur das humanum im engeren Sinne umfasse, sondern „alles, was mit der ,natürlichen' Gotteserkenntnis zusammenhängt". Die Gottbezogenheit äußert sich eben als (richtige oder verkehrte) Gottesbeziehung, und diese konkrete Ausprägung des Wissens um Gott gehört mit zu dem, woraufhin der Mensch in der Verkündigung angesprochen wird. Einen Menschen ohne jegliches Gottesbewußtsein 53
Vgl. audi Ankn, S. 523: „Der Mensch ist als ganzer: Sünder. Aber daß er als ganzer Sünder ist, setzt eben v o r a u s . . . , daß auch jetzt seine Gottbezogenheit nicht vernichtet (annihiliert), daß aber ihre Richtung und Qualität verkehrt ist; er ist nodi immer verantwortlich, aber die Verantwortlichkeit trägt jetzt den Charakter der Schuld. Er ist nicht einfach von Gott los, sondern er steht unter dem göttlichen Zorn." 54 Zu Brunners eigener Feststellung: „Daß durch eine solche Lehre vom Anknüpfungspunkt die Lehre von der sola gratia nicht im mindesten gefährdet ist, ist evident" (NuG, S. 19), bemerkt Fr. Traub, der im übrigen Brunners Auffassung nahesteht: „Aber eben diese Evidenz ist zu vermissen" (ZSTh 14 1936, S. 49) — ein kaum zu rechtfertigendes Urteil. Vgl. dazu audi Brunners Erläuterung in: „Banalität oder Irrlehre?": „Was der Mensch .mitbringt', ist durchaus nichts von dem, was ihn rettet. Die ,Anknüpfung' steht mit der souveränen Gnade Gottes in keinem Konkurrenzverhältnis. Der Mensch, an den die Botschaft ergeht, ist schlechtweg ein verlorener. Er wird gerettet sola gratia, allein durdi Christus. Er bringt nichts ,mit', was die Ausschließlichkeit der Gnade auch nur im mindesten beeinträchtigen könnte. Trotzdem wird er in dem, was er ,mitbringt', durchaus in Anspruch genommen . . . " (a.a.O., S. 263, 8).
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„könnte das Wort Gottes nicht mehr erreichen". Und ein Mensch ohne Gewissen wird von dem Ruf zur Buße überhaupt nicht getroffen: „Das, was der natürliche Mensch von Gott, vom Gesetz und seiner eigenen Gottzugehörigkeit weiß, mag noch so konfus und verzerrt sein: auch so ist es der notwendige unerläßliche Anknüpfungspunkt der göttlichen Gnade . . . " 5 5 Es ist der gleiche Sachverhalt, den Brunner im Anknüpfungsaufsatz als „materialen Kern" der Personalität beschrieb, die cognitio legalis, das Wissen um die Forderung Gottes im (bösen) Gewissen. Im Vergleich zum materialen Sinn der imago als Sein in der Liebe, als Gottesgehorsam und Gottesgemeinschaft, bedeutet dieser materiale Kern oder, wie wir auch sagen können, diese materiale Humanität jedoch gerade die Verkehrung in ihren Gegen-Sinn, so daß auch hier von einem qualitativen Gegensatz gesprochen werden muß. Nur meint die qualitative Differenz hier nicht den Unterschied von ontologisdi-struktureller Bestimmung und wirklichem Sein, von Möglichkeit und Wirklichkeit, von formaler und materialer imago oder wie immer man diese kategoriale Unterscheidung benennen will, sondern sie meint den fundamentalen Gegensatz im wirklichen Personsein selbst, den Gegensatz zwischen dem alten und dem neuen Menschen, zwischen dem Menschen im Widerspruch und dem Menschen, der das wahre Bild Gottes ist. Hier ist also das an der Unterscheidung eines formalen und materialen Aspekts der imago orientierte Bezugsmodell von formal und material, dessen Charakteristikum ja gerade das Identitätsmerkmal war, preisgegeben! An die Stelle der inhaltlichen Sinneinheit ist der Sinngegensatz getreten, die faktische Perversion des Gottesverhältnisses im Gegenüber zum wahren Menschsein, das sich neu aus Gottes Wort empfängt. Diese negativ qualifizierte materiale Bestimmung des Personseins in seinem natürlichen Wissen um Gott fügt sich nicht unmittelbar ein in das Modell der formalen und materialen imago. Denn in diesem ist die Verkehrung der ursprünglichen Bestimmung im Sündersein des Menschen etwas Unbegreifliches. Sie erscheint ja als ein Zerbrechen der notwendigen Einheit von Bestimmung und Sein und bedeutet darum Existenzverfehlung, einen Bruch im Menschsein, der das Wesen des Menschen verkehrt. Wie verhält sich diese pervertierte Existenz, die an die Stelle der materialen imago tritt, zur formalen imago? Hat auch sie in der formalen imago ihre ontologische Voraussetzung oder muß nicht gerade die ontologische Unmöglichkeit der sündigen Existenz behauptet werden, weil 5 5 NuG, S. 19 f. 2 4 9 f . Brunner erinnert an Luthers Formulierung, daß der Mensch „entweder Gott oder Abgott" hat. E r steht entweder im Glauben oder im Unglauben — beides der Ausdruck seiner Gottbezogenheit. Sie äußert sich im Gott-Lieben oder im Gott-Hassen. Vgl. audi Ankn, S. 522 : „Die Religion ist — audi wenn sie wüstestes Heidentum ist — unverkennbares Merkmal der Gottbezogenheit des Menschen und zugleich notwendiger Anknüpfungspunkt für die wahre Gotteserkenntnis."
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sie die Einheit von Bestimmung und Sein sprengt und das eigentliche, ursprüngliche, wahre Menschsein gerade verhindert? Es ist gewiß sinnvoll, den Widersinn der Sünde als Widerspruch gegen die geschöpfliche Bestimmung des Menschen daran deutlich zu machen, daß man sie ontologisch unmöglich nennt. Sie kann ja in der Tat nur als eine Verneinung des intentionalen Sinnes der formalen imago begriffen werden. Andererseits legt Brunner jedoch Wert auf die Feststellung, daß die unverlierbare Struktur des Menschseins von dem Gegensatz Schöpfungsursprung—Sünde nicht betroffen ist. Der Begriff des Formalen wird „in strenger Korrelation zu dem Gegensatz Sünde—Glaube (Wiedergeburt) gebraucht"56. Gleichwohl steht audi das korrumpierte „natürliche" Wissen um Gott in einer unmittelbaren Beziehung zur formalen imago. Auch in der negativen Qualifikation des Gottesverhältnisses ist ja die formale imago vorausgesetzt in einer bestimmten Aktualisierung. Die formale Ansprechbarkeit äußert sich in einem Angesprochensein, dessen Zeuge eben das konkrete Gottesbewußtsein ist. So ist es zu verstehen, wenn Brunner im Hinblick auf das Verkündigungsgeschehen dieses Angesprochensein mit einbezieht in den Begriff der Voraussetzung für das Hörenkönnen des Gotteswortes. Es gehört als die Konkretion eines ursprünglichen Wissens um die Wirklichkeit Gottes, als der elementare Ausdruck des Betroffenseins von Gott, als die Weise, in der der natürliche Mensch, der homo peccator, um sich in seiner Verantwortlichkeit weiß, mit zu dem, was die Verkündigung des Wortes Gottes, indem sie den Menschen anredet, voraussetzt und in Anspruch nimmt. Eben dies, daß Brunner hier die „Ansprechbarkeit" als Verstehensvoraussetzung in dieser Weise ausdehnt auf das wirkliche „Wissen" um Gott und damit über die rein formale Ansprechbarkeit hinausgeht, hat zu Mißverständnissen und anscheinend unüberwindlichen Verstehensschwierigkeiten geführt, zumal er selbst diesen Vorgang nicht in seinem prinzipiellen Unterschied und in seinem prinzipiellen Zusammenhang mit dem ontologisch-strukturellen Begriff der formalen Voraussetzung klärt 57 . Für das rechte Verständnis des Anknüpfungsgeschehens ist die Klärung dieses Sachverhalts allerdings entscheidend; denn hier geht es ja in der Tat NuG 2 , S. 49 s; vgl. audi MiW, S. 530 und D II, S. 67. 71 f. H . Volk quält sich mit der Unterscheidung eines aktualen und eines formalen Strukturbegriffs, ohne damit das eigentliche Problem zu erfassen (E. Brunners Lehre von der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit, S. 100); Y . Salakka konstatiert, daß Brunners Unterscheidung der formalen und materialen imago „zu großen Interpretationsschwierigkeiten führt, insofern man nicht entschlossen an seiner kategorialen Teilungsgrundlage festhält" (a.a.O., S. 164) — eine überzeugende Klärung des wirklichen Sachverhalts gelingt auch ihm nicht; R. Roessler sieht am schärfsten von allen die Spannung in Brunners Begriff der Verstehensvoraussetzung. Aber er hält sich in seiner Interpretation entschlossen an die so einleuchtende und unproblematische kategorial fundierte Linie seines Denkens, d.h. an die Unterscheidung eines existential-ontologischen Formalbegriffs und eines existentiell-ontischen Materialbegriffs (a.a.O., S. 110 ff. 141). 58 57
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um beides, um die lediglich formale Ansprechbarkeit und um das konkrete Schon-angesprochen-Sein, wie es im Vorverständnis als dem natürlichen Selbstverständnis zum Ausdruck kommt. Beides ist zu unterscheiden. Und es muß dabei sowohl in seinem Aufeinanderbezogensein als in der ihm je eigenen Funktion im Vorgang der Anknüpfung verstanden werden. Man wird darum weder Brunner noch dem fraglichen Sachverhalt der Anknüpfung gerecht, wenn man lediglich den formalen, nicht aber den materialen Aspekt gelten läßt 5 8 . 5. Kritische
Würdigung
Was ergibt sich nun aus diesen Überlegungen im Hinblick auf die Frage der Anknüpfung? Inwiefern erfährt der umstrittene Sachverhalt hierdurch eine weitere Klärung? 1. Zunächst ist festzustellen, daß Brunner hier mit anderen begrifflichen Mitteln den gleichen Sachverhalt auszudrücken versucht, um den es ihm auch in seinen früheren Aussagen geht. Insofern bleibt er mit seiner Analyse und Deutung grundsätzlich im Rahmen der bisherigen Darstellung des Anknüpfungsproblems. 2. Die besondere Bedeutung der Einbeziehung der imago-Lehre in diese Fragestellung liegt einmal darin, daß er diese damit in ihren theologie5 8 R . Roessler ζ. B. ist sich durchaus bewußt, daß er sich nur auf der einen Linie des Brunnerschen Gedankengangs bewegt, daß im Zusammenhang des Problems der A n knüpfung bei Brunner „noch ein zweiter durchaus nicht übersehbarer Aussagenkomp l e x " auftaucht, den man „als Frage nach dem sog. ,Vorverständnis' des natürlichen Menschen' bezeichnen k a n n " (a.a.O., S. 112). Aber seine Reserve gegenüber diesem Komplex ist deutlich spürbar. D a ß Brunner von Wortmächtigkeit, von einem Vorverständnis spricht und nach der Beziehung zwischen dem natürlichen Menschen und dem Worte Gottes fragt, leiste dem Mißverständnis Vorschub. E r fragt: „Soll man dabei im Verständnis Brunners nun aber von jenen ,überhängenden', unregulierten Äußerungen oder vom Gesamtzusammenhang seiner kategorial begründeten Konzeption ausgehen?" (a.a.O., S. 110 Anm. 3 9 ; vgl. S. 141), und er entscheidet sich für das letztere. Es ist sicher richtig, wenn Roessler die Frage nach dem Gottesverhältnis des Mensdien im Glauben als zentrale Problemstellung der Theologie Brunners auffaßt, d.h. daß es ihm um die Klärung und Beantwortung der Frage nach der „Wirklichkeitsform des Offenbarungsgeschehens überhaupt", nach dem „ontologischen O r t der Gottesbeziehung" ging, also darum, eine „kategorial-ontologische" Grundlegung zu schaffen, die das Wirklichkeitsganze des Beziehungsgeschehens G o t t — Mensch in seiner spannungsvollen Einheit zusammenhängend zu deuten v e r m o c h t e . . . " (a.a.O., S. 140). Aber kann man dabei wirklich „jenen ganzen umfangreichen und umstrittenen Materialkomplex um die Frage nach dem sog. ,Vorverständnis des natürlichen Mensdien' (die Frage der Schöpfungsoffenbarung) weitgehend ausgrenzen?" W o ist denn das Beziehungsgeschehen G o t t — Mensch in seiner spannungsvollen Einheit faßbar, wenn nicht in diesem Aussagenkomplex? Roessler hält im übrigen das Anknüpfungsproblem für einer gründlichen eigenen Erörterung bedürftig und gibt dazu den guten Hinweis, daß hier zwischen den formalen Voraussetzungen und den materialen Inhalten der Anknüpfung zu unterscheiden sei, aber er ist der Auffassung, daß dieser Fragestellung im Denken Brunners nur eine vorübergehende Bedeutung zukomme (a.a.O., S. 141).
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geschichtlichen Zusammenhang einfügt. Vor allem aber gewinnt sie nun ein klareres theologisches Profil. Denn nun wird prinzipiell klargestellt, daß und inwiefern es hier um den Menschen als „theologisches" Wesen geht, sowohl in der ontologischen Bestimmung seiner formalen Personalität wie in seiner faktischen Existenz als Mensch im Widerspruch. Im Rahmen der Lehre von der Gottebenbildlichkeit, in der Brunner das Hauptthema der christlichen Anthropologie sieht, erweist sich die Frage nach den anthropologischen Voraussetzungen des Verstehens als theologisch legitim, ja zentral. Der Gesichtspunkt der unverlierbaren Gottbezogenheit des Menschen auch in seinem Sündersein, des von Gott Inanspruchgenommenseins auch in der Verkehrtheit seines Wesens, tritt mit dieser systematischen Begründung in der Gottebenbildlichkeit als die grundlegende Voraussetzung des Anknüpfungsvorgangs deutlicher hervor. 3. Mit der Unterscheidung eines formalen und eines materialen Aspekts gewinnt Brunner zudem die Möglichkeit einer präziseren Bestimmung dessen, worum es in dem behaupteten Anknüpfungsvorgang geht. Der Hinweis auf die Inanspruchnahme einer von Gott geschaffenen, auch durch die Sünde nicht aufgehobenen formalen Voraussetzung für das Hören des Gotteswortes faßte nicht nur eine ganze Reihe von Einzelmerkmalen (formale Personalität) unter einem ihre Eigenart kennzeichnenden Begriff zusammen, er verwies damit zugleich auf die ontologische Dimension der Anknüpfungsfrage. Hier erschien sie am unverfänglichsten, in ihrer Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit unbestreitbar — aber, daran ändert die starke Betonung ihrer Wichtigkeit nichts, im Hinblick auf die konkrete Verkündigungssituation mußte sie in ihrer reinen Formalität letzthin doch wohl auch als eine „Banalität" erscheinen, um die es sich nicht zu streiten lohnte, mit der jedenfalls das eigentliche Problem des aktuellen Verkündigungsgeschehens noch gar nicht sichtbar gemacht war 59 . Denn das Vorverständnis, das die Verkündigung voraussetzt und 59 Barth bemerkt denn audi zu diesem das Menschsein des Menschen kennzeichnenden Formalen (Subjektsein, Vernünftigkeit, Anspredibarkeit, Verantwortlichkeit, Entscheidungsfähigkeit als formale Voraussetzung des Glauben- wie des Sündigenkönnens): „Wenn man das den ,Anknüpfungspunkt', wenn man das ,die objektive Möglichkeit für die göttliche Offenbarung* nennen will, daß der Mensch Mensch und keine Katze ist, dann ist jeder Widerspruch gegen diese Begriffe sinnlos; denn diese Wahrheit ist nicht zu bestreiten." Er fragt jedoch, was denn die unbestreitbare Tatsache der formalen Verantwortlichkeit und Entscheidungsfähigkeit mit einem dem Menschen „selbst eigenen und schon zuvor in ihm vorhandenen .Anknüpfungspunkt' für Gottes Offenbarung zu tun" habe? (Nein, S. 25. 16. 28). Brunners Antwort in „Banalität oder Irrlehre?" trifft nicht den Nerv der polemischen Frage Barths, wenn er erwidert: „Man wende nicht ein: Das versteht sidi ja doch von selbst, wer wollte davon ein Aufhebens machen! . . . Darauf antworte ich: Gerade diese sog. Banalität, daß es um den Menschen und nicht um Katzen geht, habe jedenfalls ich immer mit dem Anknüpfungspunkt gemeint und darum immer behauptet, daß man einen solchen nicht leugnen
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in Anspruch nimmt, beruht zwar auf einer formalen Wortmächtigkeit und Verantwortlichkeit, aber es begegnet ja hier jeweils als ein ganz bestimmtes Worthaben, als ein bestimmtes Selbst-, Welt- und Gottesverständnis, und eben in dieser Bestimmtheit als Wissen oder Nichtwissen, in der Beziehung dieses Wissens zum Inhalt des verkündigten Wortes, steckt das Problem. Also nicht darin, daß man mit dem Menschen überhaupt reden kann, sondern darin, daß man mit ihm wirklich von Gott reden kann. Darum geht es, wenn nach der rechten oder falschen Anknüpfung gefragt wird, d. h. wenn die Verkündigung verständliche Rede sein soll 60 .
C) Dialektische Anknüpfung Darum fällt das entscheidende Gewicht in der ganzen Frage der Anknüpfung ohne Zweifel auf jenen anderen Aspekt, den Brunner den materialen nennt. Brunners in Analogie zur Imagolehre getroffene prinzipielle Feststellung, „daß es material keinen Anknüpfungspunkt gibt, während er formal unbedingte Voraussetzung i s t " s c h e i n t hier zunächst eine klare Abgrenzung zu schaffen. Der Sinn dieses Satzes ist ja ohne weiteres verständlich. Er ergibt sich als logische Folge aus dem Urteil, daß die materiale imago völlig verloren, d. h. daß der Mensch ganz und gar der homo peccator ist, der mit seiner ganzen Existenz unter dem Gericht des Zornes Gottes steht. Hier gibt es keinen heilen Rest der menschlichen Natur mehr, kein vom Verderben unberührt gebliebenes Seelenfünklein, das nur vom Worte Gottes angefacht werden muß, kein Akzeptieren eines schon vorhandenen Wissens oder Seins. Hier muß vom Menschen gesagt werden: „Das einmal geblendete Auge kann man nicht mehr sehend machen, den einmal zerschnittenen Zusammenhang mit Gott kann man nicht wieder anknüpfen, die einmal verlorene Liebe Gottes kann man nicht mehr gewinnen." 2 Die ganze Person, der ganze Mensch in seiner materialen Personalität muß neu werden. Und doch ist damit der materiale Aspekt der Anknüpfung noch nicht zureichend beschrieben. Denn faktisch geht es hierbei doch um einen Vorkönne, weil er — ja eben selbstverständlich sei" (a.a.O., S. 261). Hingegen verweist die scheinbar gleichlautende Bemerkung in MiW, S. 530 („im Gegensatz zu Barth und in Übereinstimmung mit allen bisherigen Theologen der Kirche, auch mit den Reformatoren, habe ich dieses Formale, das Menschsein, als etwas aufgefaßt, das nicht nur keine Banalität, sondern im Gegenteil eine theologisch relevante Größe i s t . . . " ) auf den springenden Punkt: auf die dialektische Ursprung und Humanität-des-Sünders". Vgl. dazu N u G , S. 41 f. 1 N u G , S. 19. 2 MiW, S. 275.
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„Aufeinanderbeziehung von
Imago-
gang, der sich insbesondere auf die materiale Personalität bezieht, d. h. auf das natürliche Vorverständnis, auf das Gewissen, auf das irgendwie um Gott, um die Sünde, um die Erlösung wissende Selbstverständnis. In diesem Sinne nannte Brunner ja die Religion, auch wenn sie „wüstestes Heidentum" ist, ein unverkennbares Merkmal der Gottbezogenheit und darum einen „notwendigen Anknüpfungspunkt für die wahre Gotteserkenntnis". Die Anknüpfung, die hier geschieht, muß freilich in ihrer Besonderheit gesehen werden. Sie vollzieht sich faktisch als „Kampf Gottes gegen die Götzen", als Kampf des Evangeliums „gegen alle menschliche Religion", als Kampf des Wortes von der Versöhnung „gegen das böse Gewissen" 3 . Denn alle natürliche Gotteserkenntnis ist zugleich Ausdrude des Gottlosseins, Erkenntnis des zornigen Gottes, also eine verzweifelte Erkenntnis, audi wenn der natürliche Mensch dies nicht einsieht und sich in ihr gesichert glaubt. Gerade darum muß die Anknüpfung an sie zugleich Kampf gegen sie sein, Gegensatz gegen das natürliche Selbstverständnis. Es ist der Mensch unter dem gnadenlos verdammenden Gesetz, der an das Gesetz gebundene, vom Gesetz verfluchte, sich in seiner Gesetzlichkeit mißverstehende Mensch, um den es hier geht. Aber er wird vom Verkündigungswort gerade als der, der er ist, in Anspruch genommen: als ein Sünder, als ein unentschuldbarer Verantwortlicher, als einer, der zu Gott zurückgerufen werden muß. Wenn hier Anknüpfung geschieht, dann nicht an ein Neutrales oder positiv Bestimmtes, sondern an ein negativ Qualifiziertes4. Es ist eine „Anknüpfung, die zugleich Nichtanknüpfung, Gleichsetzung, die zugleich Ungleichsetzung ist", Anknüpfung an die negativ-positive dialektische Tatsache, daß der angesprochene Mensch in seinem Wissen oder Nichtwissen um Gott „ein schuldhaft Nichtwissender, ein wissend Nichtwissender, ein schuldhaft Gottloser, d. h. ein auf Gott bezogener Gottloser, kein unbeschriebenes Blatt, kein ,Klotz und Stein' ist" 5 . Brunner bezeichnet denn auch schließlich diesen für das eigentliche Anknüpfungsgeschehen charakteristischen und entscheidenden Vorgang als dialektische Anknüpfung und hat damit den Begriff gefunden, in dem Kontinuität und Diskontinuität, Inanspruchnahme und Gegensatz zugleich zum Ausdruck kommen6. Er will Ankn, S. 522 f.; vgl. audi GuO, S. 47 f. Ankn, S. 525; MiW, S. 536. 540. Wenn Brunner in MiW, S. 552 sagt, daß „die materiale Bestimmtheit dieses Menschseins, das Gottlos- oder Sünder- oder Unter-demGesetz-Sein", dasjenige sei, „an was nicht angeknüpft, sondern was verneint wird", dann verrät sich in diesem auf die Anknüpfung an die formale Struktur eingeschränkten Begriffssinn vielleicht eine Reaktion auf Barths Kritik. Daß auch im Verneinen eine „anknüpfende" Inanspruchnahme liegt, hat Brunner im übrigen mehrfach ausgesprochen, und gerade dies kennzeichnet die eigentliche „materiale" Anknüpfung. 5 Banalität oder Irrlehre? S. 261 (3.). 264 (8.); vgl. GuO, S. 100; OuV, S. 79. « Vgl. MiW, S. 531. 536—540; Banalität oder Irrlehre?, a.a.O., S. 261 (3. u. 4.). 264 f. Die Begrifisbildung gewinnt allerdings keine besondere Bedeutung mehr, da 3 4
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mit dieser Begriffsbildung die Unterscheidung eines formalen und eines materialen Aspekts nicht aufheben, im Gegenteil, diese erweist sich nur als ein bestimmtes Ausdrucksmittel des dialektischen Sachverhalts. Die Unterscheidung des Formalen und Materialen reicht nun allerdings zur Beschreibung dieses Anknüpfungsvorgangs offensichtlich nicht aus. Denn das Dialektische in diesem Vorgang läßt sich nicht einfach, wie Brunner es wohl möchte und auch wiederholt versichert, mit der Aufeinanderbeziehung des Materialen und Formalen identifizieren, wobei die Inanspruchnahme des Formalen als direkte oder positive (bejahende) Anknüpfung zu denken wäre, die Inanspruchnahme des Materialen als das verneinende Moment. Oder anders ausgedrückt: Im Blick auf den Sünder als Menschen ereignet sich Kontinuität, im Blick auf den Menschen als Sünder hingegen Diskontinuität. Diese dialektische Beziehung gehört gewiß dazu, sofern die formale imago in dem Sündersein vorausgesetzt und mit ihm in Anspruch genommen wird. Aber genauer betrachtet findet doch audi innerhalb des Materialen ein dialektischer Vorgang statt! Wenn schon ein Irgendwie-um-Gott-Wissen des Menschen in Anspruch genommen wird und wenn dies auch als ein nicht heilvolles, sondern schuldhaft Verkehrtes zu bezeichnen ist, so ist doch in diesem Wissen auch ein wirkliches Um-Gott-Wissen vorausgesetzt, das als solches nicht verneint wird. Es ist das gnontes ton theon von Rom. 1,21. Dieses Element des wirklichen Wissens, ohne das gar nicht Gott gewußt werden kann, ist etwas anderes als die in der formalen Personstruktur des Menschseins zum Ausdruck kommende unverlierbare Gottbezogenheit. Es ist nicht eine formale (ontologische) Voraussetzung, sondern aktuelles Wissen. Und darum wird dieses Wissen noch nicht mit erfaßt, wenn Brunner in seinem Anknüpfungsaufsatz definiert, „daß die Kontinuität immer nur das formale Daß, die Diskontinuität aber immer das inhaltliche Was betrifft" Das formale Daß kann hier eigentlich, wenn der Begriff sinnvoll sein soll, nur ein faktisches Daß sein. Das faktische Daß jedoch kann wiederum, wenn der Begriff sinnvoll sein soll, nur das Daß eines inhaltlich bestimmten Was sein, von dem es nicht ablösbar ist. Wir stießen schon früher im Zusammenhang der Theorie des Heidentums auf diesen bestimmten Inhalt der natürlichen Gotteserkenntnis, aber auch auf eine gewisse Unsicherheit in seiner Bewertung. Kann das, was der „Heide" von Gottes schöpferischer Allmacht, Verborgenheit, Heiligkeit, von seinem Zorn und seiner Liebe „weiß" oder ahnt, nur unter dem Gesichtspunkt der Diskontinuität, der Verneinung erfaßt werden? Besagt die Feststellung, daß Gott sich auch an den Heiden nicht unbezeugt gelassen hat, Brunner durch die Auseinandersetzung mit Barth sich veranlaßt sieht, auf den Begriff der Anknüpfung (nicht auf den damit gemeinten Sachverhalt!) überhaupt zu verzichten (vgl. MiW, S. 546; Der neue Barth, Z T h K 48 1951, S. 97). 7 Ankn, S. 525.
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nicht mehr, wenn ihnen damit nicht nur das allgemeine Wissen quod Deus sit, sondern auch eine cognitio legalis zugestanden wird? Es geht hierbei wohlgemerkt zunächst nicht um die Frage einer inhaltlichen Kontinuität dieses Wissens zur Christusoffenbarung, sondern um das eigene Wahrheitsmoment dieser Erkenntnis, das durch die Christusoffenbarung nicht einfach aufgehoben, sondern eben in einer dialektischen Beziehung zugleich bestätigt und überwunden wird. Brunner hat diesen Sachverhalt gerade in der Dialektik des Gesetzesbegriffes, in der dialektischen Aufeinanderbeziehung von Gesetz und Evangelium im Anschluß an Luther eindrucksvoll herausgearbeitet. Das ins Herz geschriebene Gesetz (die lex naturae) steht danach in einer antithetischen, unaufhebbaren dialektischen Beziehung zur Christusoffenbarung, und dieses Wissen ist in diesem Zusammenhang eben „nicht einfach negativ zu werten" (!) — obgleich das Gesetz und die Sünde zusammengehören8. Denn es ist und bleibt der göttliche Faktor in der verlorenen Situation des Sünders. Es bildet ein notwendiges Moment im Heilsgeschehen in seiner pädagogischen Funktion, die es im Heilshandeln Gottes gewinnt. Ohne dieses zur Erkenntnis der Sünde und in die Verzweiflung treibende Gesetz gibt es keine Bekehrung, keine Buße, keinen Glauben. Und gerade im Wissen um die Wahrheit des im Gesetz begegnenden Anspruchs und des im Gewissen vernommenen Urteilsspruchs des Gesetzes trifft das natürliche mit dem glaubenden Selbstverständnis zusammen. Brunner betont zwar auch hier, daß es dabei vom Menschen aus keinerlei Kontinuität zu dem im Glauben vernommenen Wort der Gnade gibt: „Keine immanente Dialektik führt über dieses schreckliche Negativum hinaus." Es kann also nicht von einer dem Menschen möglichen praeparatio evangelii gesprochen werden. Nur in Gottes Hand wird das Gesetz zu einem Moment im Heilsgeschehen; nur durch ihn wird der Mensch auf seinem Gesetzesweg „vorbereitet" auf das Wort der Gnade. Wenn man hier von einer Kontinuität sprechen kann, dann nur von einer Kontinuität „abwärts, von Gott aus", nicht von einer vom Menschen aus sich entwickelnden Kontinuität 9 . Aber innerhalb der von Gott her sich ereignenden Kontinuität kommt dem menschlichen Wissen um das Gesetz und dem sich darin verbergenden Wissen um Gott dodi eine Bedeutung zu, die kaum noch den Satz zu rechtfertigen scheint, daß es „material keinen Anknüpfungspunkt" gibt. Strenggenommen bezeugt die innere Dialektik von Gesetz und Evangelium, die unaufhebbare dialektische Beziehung zwischen dem (immanenten) natürlichen gesetzlichen Selbstverständnis und dem glaubenden Verstehen des Evangeliums durchaus einen Anknüpfungsvorgang im Bereich des Materialen. Auch wenn dieses Materiale als ein Negatives qua8 MiW, S. 535; vgl. OuV, S. 86ff. 351—367. » MiW, S. 535 ff.
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lifiziert wird, weil es gerade die Sünde ans Licht bringt und den Menschen in seiner verzweifelten Situation festhält: Es bleibt dodi Bezugspunkt des richtenden und verheißungsvollen "Wortes Gottes. Und sofern der Mensch in der Not seiner Existenz selbst nach Gott ruft, sofern er selbst die Frage ist, die im Christusgeschehen beantwortet wird, wird man diese „materiale" Voraussetzung nicht einmal als eine nur negativ zu qualifizierende ansehen dürfen, die vom Evangelium her nur als zu Verneinendes, als zu Überwindendes in Betracht käme. Das gnädige, verheißungsvolle Ja des Evangeliums gibt ja der Unruhe des menschlichen Herzens recht. Es anerkennt das Urteil des Gewissens, indem es dieses radikalisiert. Und wenn es mit seiner Botschaft das Gewissen zum Schweigen bringt, dann bestätigt es doch zugleich die Wahrheit der Gewissenserfahrung. Darin zeigt sich erst die wirkliche Dialektik dieses Geschehens. Wenn Brunner diese „positive", d. h. sich durchhaltende Voraussetzung innerhalb des negativ qualifizierten Materialen gleichwohl nicht im Sinne eines materialen Anknüpfungspunktes interpretiert, so mag dabei die Furcht vor dem Vorwurf, damit sei eben doch der Ansatzpunkt für eine natürliche Theologie gegeben, eine Rolle gespielt haben. Seine Interpretation der dialektischen Anknüpfung gewinnt dadurch bisweilen den Anschein, als werde der Sachverhalt hier nicht mehr beschrieben und gedeutet, wie er sich darstellt, sondern einer schablonenhaften dogmatischen Konzeption unterworfen. Dies ist um so verwunderlicher, als Brunner im Rahmen seiner theologischen Konzeption durchaus die Freiheit zu einer unbefangeneren Würdigung besaß. Jedes Mißverständnis mußte ja seine Schranke finden an den beiden entscheidenden Feststellungen, daß das im Anknüpfungsgeschehen vorausgesetzte positive Element nicht im Menschen als solchen liegen kann, sondern allein in seinem Inanspruchgenommensein durch Gott, und daß die materiale, d. h. die aktuelle konkretinhaltliche Bestimmtheit der Existenz den Menschen immer bei seinem Sündersein behaftet. Dieses völlige Unterworfensein unter die Macht der Sünde und das völlige Angewiesensein auf das neuschaffende Wort der Gnade läßt keinerlei Raum für eine natürliche Theologie, in der der Mensch auf seinem Weg zum Ziel kommt. Wohl aber muß es Raum lassen für die Frage nach dem inneren Zusammenhang zwischen dem natürlichen und dem glaubenden Selbstverständnis. Nichts anderes möchte Brunner mit seinen Überlegungen deutlich machen als dies: Das sola gratia darf nicht mißverstanden werden als die Ausschaltung des menschlichen Subjekts in seinem Wissen um sich selbst, und das totus peccator bedeutet nicht, daß dem menschlichen Vorverständnis keinerlei Bedeutung zukäme. Die „Aneignung" der Botschaft im glaubenden Verstehen geschieht eben „in einem Verstehen seiner selbst als verantwortlicher Sünder" 10 . Und darin drückt 10
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Banalität oder Irrlehre?, a.a.O., S. 265.
sich ein Kontinuum innerhalb der menschlichen Existenz vor dem Glauben und im Glauben aus. Brunner hat versucht, im Rahmen seiner Theorie des Verkündigungsgeschehens die Neuschöpfung des Menschen durch das Wort Gottes auszusagen. Sie besteht darin, daß aus dem in sich verschlossenen Herzen das für Gott geöffnete Herz wird. Nicht bloß um einen neuen Inhalt des Geistes, der Vernunft geht es hierbei, sondern um eine neue Seinsweise: Das in Jesus Christus ergehende Tat-Wort Gottes macht den Menschen zu einer neuen Person. Verwandelt, neu wird hierbei also das, was Brunner die materiale Personalität nannte. Aus dem ungläubigen, ungehorsamen Menschen wird der glaubende, aus dem selbstgerechten der auf Gottes Gnade vertrauende, aus dem an sich selbst verzweifelnden der in Gottes Wort geborgene Mensch. Diese Schöpfung des neuen, des glaubenden, gehorsamen, verantwortlichen, des in der Freiheit zur Liebe lebenden Menschen ist allein Gottes Tat und kann nur als ein Sich-ausGott-Empfangen begriffen werden. Aber dies geschieht in der „Inanspruchnahme geistiger Akte des Verstehens", im Angesprochenwerden und Hören, im Sich-Hingeben und Gehorchen. Die actio Gottes vollzieht sich also „unter Beanspruchung der höchsten Aktivität des Menschen, die freilich ihrem Sinn nach (nicht ihrer psychologischen Form nach) passiv ist: sich hingeben, alles hingeben, sich in den Tod geben, von sich gänzlich absehen und allein auf Gottes Wort hören" l l . Alle diese, auf den Menschen im Geschehen der Verkündigung gerichteten Überlegungen bedeuten nicht, daß Brunner mit seiner Theorie des anknüpfenden Verkündigungsgeschehens dieses Geschehen selbst rational erklärbar oder gar manipulierbar machen möchte. Jede Theorie des Verstehens, jeder Versuch einer kategorialen Beschreibung dessen, was im Vorgang der Verkündigung und des glaubenden Hörens geschieht, hat seine Grenze in diesem Geschehen selbst, in dem unauflösbaren Geheimnis der wirklichen Begegnung zwischen Gott und Mensch, in der der Mensch sich selbst Geheimnis bleibt. Auch Brunner will jedenfalls, wenn er die andere Aufgabe der Theologie proklamiert und auf die Notwendigkeit der Anknüpfung hinweist, diese Grenze respektieren. Darum bedeutet es keine Kapitulation auf dem eingeschlagenen Weg, wenn er am Ende dieses Weges schließlich feststellt: „Wie aber das, dieses höchste Aktivwerden des Menschenherzens, des Menschengeistes, in der göttlichen actio, die die actio des Menschen als passio in Anspruch nimmt, möglich sei und geschehe, das ist und bleibt immer Geheimnis." 12 Die Theologie, die sich darum müht, das Verstehbare verstehbar zu machen, versteht darum ihre Aufgabe nur dann recht, wenn sie zugleich dieses Geheimnis des Handelns Gottes bezeugt. Sie kann nur von ihm 11 12
MiW, S. 5 5 0 f . ; vgl. auch OuV, S. 4 5 4 f. MiW, S . 5 5 2 (von mir hervorgehoben); vgl. auch OuV, S . 4 5 1 .
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ausgehen und auf es zugehen im Wissen um die Grenze. Aber — und dies ist Brunners Anliegen — sie hat den Charakter dieses Geschehens doch insoweit zu verdeutlichen und zu wahren, daß sie in ihm ebenso „unzweideutig die Priorität Gottes zum Ausdruck bringt" wie die Tatsache, daß „auch das göttliche Handeln am Menschen immer das Subjektsein des Menschen respektiert" 13 . Gottes Gnadenhandeln ist, wie Brunner in deutlicher Anspielung auf die sonst seltsamerweise von ihm kaum gewürdigte Gedankenwelt Wilhelm Herrmanns formuliert, eben kein „Behandeln", sondern ein „Verkehr", in dem das responsorische Wesen des Menschen als ein Sein von Gottes Wort her und auf Gottes Wort hin sich verwirklicht. Daß Gottes Wirken am Menschen „durch An-rede" geschieht, das ist darum nach Brunners abschließendem Urteil „das Entscheidende, was über Anknüpfung gesagt werden kann" 14 . Von daher bestimmt sich das Recht und die Grenze alles Redens von einem Anknüpfungspunkt. Es kann im Sinne Brunners nur dann theologisch legitim sein, wenn es nicht außerhalb des Handelns Gottes verstanden wird. Denn es geht hier um nichts anderes als um das, was Gott selber im Menschen in Anspruch nimmt, wenn er in seinem Wort und Geist an ihm handelt, um ihn zum Glauben zu bringen. Und alles, was er so in Anspruch nimmt, wird wiederum nur dann recht verstanden, wenn man es als schon zuvor im göttlichen Tun begründet erkennt. Denn Gott „nimmt nichts anderes als das von ihm schon Geschaffene in Anspruch" 15 . Der theologische Ort des legitimen Redens vom Anknüpfungspunkt ist darum noch nicht zureichend beschrieben, wenn man ihn einfach als das Problem der Anthropologie bezeichnet. Es geht hier um die rechte Lehre vom Worte Gottes. So jedenfalls möchte Brunner seine Erörterung des Anknüpfungsproblems verstanden wissen: „Darum, weil der Glaube nicht allein Gotteserkenntnis, sondern zugleich Selbsterkenntnis ist, ist eine rechte Lehre vom Gotteswort immer zugleich Lehre vom Anknüpfungspunkt." 18 Gottes Wort als dem Menschen zugesprochenes Wort ist beides in einem: schöpferisches Wort, das das Nichtseiende ins Sein ruft, und zur Verantwortung rufendes Wort, das den Menschen in Herz und Gewissen trifft 13
MiW, S. 553 (von mir hervorgehoben). MiW, S. 553. 15 MiW, S. 549. 552 f. le Banalität oder Irrlehre? S. 265. Brunner bezeichnet in diesem Zusammenhang als Anknüpfungspunkt im entscheidenden Sinn „das Herz des Menschen, das zu Gott hin erschaffene und von Gott entfremdete, das durch diesen Widerspruch gespaltene, darum friedlose Herz. In dieser seiner Friedlosigkeit muß es getroffen und bloßgelegt, muß es sich selbst verständlich gemacht, zur Selbsterkenntnis gebracht werden, wenn es zu lebendigem Glauben, nicht bloß zur Übernahme einer vorgetragenen Lehre kommen soll." Auch hier meldet sich also wieder, wie auch am Ende des Anknüpfungsaufsatzes und in dem Schlußabschnitt von N u G , der Gedanke der Eristik. 14
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und beansprucht. Sein Ziel ist der antwortende Mensch. Darum ist eine Verkündigung, die am Menschen vorbeiredet, alles andere als Verkündigung des Wortes Gottes. Sie muß Anrede sein, den Lebensnerv des Menschen treffen, wenn sie als Gottes Wort verstanden sein will. Denn Gottes Wort proklamiert nicht nur ein Betrofiensein des Menschen, es „betrifft" ihn, es spricht ihn an als ein „Richter der Gedanken und Sinne des Herzens". Es fordert den bekennenden Menschen, d. h. den Menschen, der sich Gott verdankt, der seine Sünde bekennt, aber audi die Barmherzigkeit Gottes. Wenn Brunner betont, daß „das Treffen des Anknüpfungspunktes . . . wahrhaftig nicht etwas Belangloses, sondern schlechterdings entscheidend" sei17, dann will er damit auf diesen existentialen wie existentiellen Sinn des zu verkündigenden Wortes hinweisen, wie er sich im Glauben fordernden und Glauben weckenden Verkündigungsgeschehen manifestiert und wie er darum audi als Aufgabe von Theologie und Verkündigung mit zu bedenken ist.
D) Schöpfungsoffenbarung und Christusoffenbarung l. Der christologische Sinn der imago Dei a) Das christologische
Kriterium
In der bisherigen Darstellung des Anknüpfungsproblems im Rahmen der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen trat ein Gesichtspunkt nodi weithin zurück, von dem von vornherein zu vermuten ist, daß er für das Verständnis des Ganzen von entscheidender Bedeutung sein muß, weil sich an ihm jede theologische Anthropologie zu bewähren hat: der Gesichtspunkt der Christologie. Wir erinnern uns an jenen betonten Hinweis, mit dem Brunner am Beginn seiner systematischen Erörterung der Frage nach dem Anknüpfungspunkt auf die grundlegende Voraussetzung aufmerksam machte, daß „alles, was wir theologisch über Schöpfung und Sünde aussagen, in Jesus Christus allein seinen Grund und sein Kriterium hat", und daß darum auch alles, was in der Frage der Anknüpfung ausgesagt wird, von dem im Glauben vernommenen Offenbarungswort bestimmt sein muß und von daher zu verstehen ist 1 . In auffallender Spannung zu dieser prinzipiellen Feststellung kam jedoch bisher der christologische Ausgangspunkt der Reflexion über Wahrheit und Wirklichkeit des Menschseins noch kaum zur Geltung. Nicht das geschichtliche Christusgeschehen, sondern eine am allgemeinen Menschsein orientierte Reflexion stand jedenfalls im Vordergrund der Überlegungen, die formale Personalität in ihrem schöpfungsmäßigen Sinn, die Aktualität die17 1
Ebenda. Ankn, S. 507, siehe oben S. 165. 215
ser Seinsbestimmung in der konkreten materialen Humanität, mit einem Wort: die Gottebenbildlichkeit des homo peccator. Es war also im wesentlichen die Humanität in ihrer eigenen Gottbezogenheit, die zur Diskussion stand, nicht das In-Christus-Sein. Darum kann die Frage nicht übergangen werden, wie sich der Gesichtspunkt der Schöpfungsoffenbarung zur Christusoffenbarung verhält. Erweist sich in all diesen anthropologischen Aussagen das christologische Kriterium als leitend und entscheidend, oder hat Brunner bei dem, was er hier im Zusammenhang einer Schöpfungstheologie geltend macht, jenes principium cognoscendi nicht mehr beachtet? Das würde bedeuten, daß er im Vollzug seiner anthropologischen Überlegungen seiner eigenen theologischen Voraussetzung untreu geworden ist. An der Beantwortung dieser Frage, ob Brunner hier faktisch von einer allgemeinen Offenbarung aus oder vom Christusgeschehen aus denkt, wird sich also zu guter Letzt entscheiden müssen, ob ihn der Vorwurf, er sei auf dem Weg zur natürlichen Theologie, trifft oder nicht. Dabei kommt seinem eigenen Hinweis auf den theologischen Zusammenhang, in dem diese Fragestellung erscheint und ihre Legitimität erweist, größte Bedeutung zu. Auch wenn beispielsweise in der Analyse der formalen Personalität zunächst nicht unmittelbar einsichtig ist, inwiefern das, was hier über das Wesen des Menschen gesagt wird, im Christusgeschehen seinen Grund und sein Kriterium haben soll, so wird doch alsbald deutlich, daß es seine entscheidende Qualifikation erst im Rahmen dessen gewinnt, was in diesem Geschehen offenbar wird: Das hier dem Menschen begegnende Wort Gottes, das ihn zur Entscheidung ruft, ihn in seiner Sünde entlarvt und ihm ein neues Sein zuspricht, setzt diese Personalität voraus, enthüllt das Personsein des Menschen in seinem Widerspruch gegen seinen schöpfungsmäßigen Sinn und eröffnet ein neues Gottesverhältnis, die Möglichkeit des wirklichen, wahren, gehorsamen, verantwortlichen Person-Seins in der Liebe als das Sein-in-Jesus-Christus. Davon geht Brunner aus, wenn er bei dem zum Glauben rufenden Wort einsetzt, um nach den Bedingungen des glaubenden Verstehens zu fragen, und auf diese in der Verkündigung gegebene Voraussetzung und Zielsetzung bleibt seine Analyse bezogen, wenn er dabei den Menschen als den zum Glauben aufgerufenen vor Augen hat. Seine Deutung des Menschseins will verstanden sein als im Glauben begründete Deutung — darum seine Ablehnung einer angeblich neutralen Ontologie und sein Beharren auf einer theologischen Anthropologie. Und die scheinbare Inkonsequenz, daß der natürliche Mensch einerseits schon um sich selbst und um seine Sünde weiß, andererseits aber erst im Glauben die Sünde wirklich erkennt, erweist sich gerade als der Versuch, diesem Anspruch gerecht zu werden. Es geht darum, „jegliches Denken gefangen zu führen in den Gehorsam gegen den Christus" (2.Kor. 10,5). Aber dieses Gefangenfüh216
ren des Denkens, des menschlichen Selbstverständnisses, kann sich nur so vollziehen, „daß der Mensch sich in dem, was ihm von Christus her über sein natürliches Sein gesagt wird, wiedererkennt, so, daß er sich damit zu identifizieren vermag" 2 . Darin, daß die theologische Anthropologie das Wissen des Menschen um sich selbst aufnimmt, dieses Wissen aber zugleich dem Gericht und der Verheißung des Wortes Gottes in Jesus Christus unterwirft, folgt sie dem christologischen Kriterium. Und gerade in ihrem Urteil über den Menschen als homo peccator zeigt es sich, ob sie diesem Kriterium wirklich folgt. Wir hatten keine Veranlassung, an Brunners Lehre von der Sünde irgendeine Abschwächung festzustellen, die der konsequenten Interpretation des menschlichen Seins vor Gott vom solus Christus, sola gratia, sola fide her Abbruch täte. Schon darin liegt ein beachtliches Indiz dafür, daß Brunner auch im Duktus seiner anthropologischen Erörterungen der christologischen Voraussetzung eingedenk ist. Sie kommt, auch wenn sie hier nicht im Vordergrund steht, gleichwohl zum Vorschein in der grundlegenden Unterscheidung und Aufeinanderbeziehung der formalen und der materialen imago. Denn die materiale imago verweist ja auf das Christusgeschehen. Sie ist geradezu die begriffliche Umschreibung des wahren Menschseins als des In-Christus-Seins. Daher ist es nun an der Zeit, auch diese Linie der bereits im „Mittler" und in „Gott und Mensch" faßbaren Aussagen zu verfolgen, in denen der Begriff der imago als christologischer Begriff verstanden wird. Die wahre Erkenntnis dessen, was der Mensch ist, aber auch das wahre Sein dessen, was der Mensch sein soll, ist gegeben in Christus. Er ist der mit dem Wort Gottes geeinte Mensch, in dem die wahre Gottebenbildlichkeit offenbar wird und durch den die restitutio imaginis geschieht3. Dieser auf die Christologie und Soteriologie verweisende Sinn der imago kam im Anknüpfungsaufsatz und in „Natur und Gnade" nur in der knappen kategorischen Aussage zur Geltung, daß die materiale imago völlig verloren sei. Das besagt jedoch keineswegs, daß die formale imago ohne diesen Sinn zu verstehen ist. Sie ist gewiß als solche nicht ohne Sinn. Aber sie gewinnt ihren eigentlichen Sinn doch erst in jenem Geschehen, in dem der Mensch zum Glauben und das heißt zugleich zur Liebe Gottes kommt. b) Das exegetische Problem der systematischen Zuordnung von formaler und materialer imago Brunner liegt alles an dieser Verklammerung der formalen und materialen imago, so schwierig sie auch auszudrücken ist und sosehr manches s
Vgl. Ankn, S. 530. Siehe oben S.185 und S.185 Anm.15; vgl. dazu NuG, S . 2 6 f . 41; MiW, S . 5 2 0 f . ; D II, S. 68 f.; WaB, S. 146ff. 3
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für eine völlige Trennung der beiden Aspekte zu sprechen scheint4. Es besteht ja Anlaß genug zu fragen, ob sich der alttestamentliche und der spezifisch neutestamentliche imago-Begriff überhaupt systematisch miteinander verbinden lassen. Der Lösungsversuch Brunners, mit Hilfe des Begriffsschemas formal—material beide aufeinander zu beziehen und so zu ihrem Recht kommen zu lassen, bleibt schon darum fragwürdig, weil es gar nicht sicher ist, ob der alttestamentliche Begriff wirklich in diesem Sinn lediglich die formale Wesensstruktur des Menschen bezeichnet, das Subjektsein, die Personhaftigkeit, die Freiheit und Verantwortlichkeit als Seinsbestimmung5. Viel naheliegender scheint dodi die Annahme, daß er das Formale und das Materiale in sich vereint. Die Tatsache, daß diese Gottebenbildlichkeit als unverlierbar gedacht ist, mithin auch dem sündigen Menschen zukommt, ist noch kein hinreichender Grund, in ihr lediglich die formale Wesensbestimmung des Menschen zu sehen, die erst in Christus ihre „materiale Füllung" erfährt. Noch schwerwiegender sind die Bedenken, die sich aus dem exegetischen Sachverhalt ergeben. Der Begriff der Gottebenbildlichkeit spielt im Alten Testament nicht eben eine bedeutende Rolle, wie die spärliche Bezeugung beweist. Genaugenommen kommt als Quelle nur die Priesterschrift in Frage, und hier wiederum kann nur Gen. 1,26 ff. den entscheidenden Aufschluß geben. Das exegetische Ergebnis ist für die systematische theologische Anthropologie nicht gerade ermutigend, wenn sich sprachlich nur die Deutung halten läßt, „daß Gott die Menschen so schafft, daß sie allein, im Unterschied zu den Tieren, eine aufrechte Gestalt haben" e , oder wenn der Sinn der Gottebenbildlichkeit vor allem im Herrschaftsauftrag 4 Brunner greift diesen Gedanken gleich am Anfang der Darstellung seiner Position in N u G auf: „Es könnte also belanglos scheinen, ob wir diese Fähigkeiten, die audi der natürliche Mensch hat, mit dem ursprünglichen Gottesbild in Beziehung bringen wollen oder nicht" (NuG, S. 10 f.). Entscheidend sei jedoch, daß dieser Zusammenhang nicht aufgegeben werde: „Des Menschen unverlierbares Wesen, das Humanum, und des Menschen Stellung zu Gott und zum Menschen sind nicht zwei, voneinander einfach zu scheidende Dinge; auch wenn sie durchaus nicht dasselbe sind, stehen sie dodi in einer hochbedeutsamen inneren Verbindung. Sowohl nach seiner (formalen) Menschennatur wie nach seiner materialen, durch Entscheidung entstandenen geschichtlichen Bestimmtheit ist der Mensch ,νοη Gott her', ja vom ursprünglichen, schaffend-offenbarenden Gotteswort her zu verstehen." Vgl. OuV, S. 85; WaB, S. 146 f. 5 Vgl. die systematische Gegenüberstellung und Verbindung des alttestamentlidien und neutestamentlichen Begriffs der Gottebenbildlichkeit in WaB, S. 145 ff.; MiW, S. 519£F.; D II, S. 64ff. 8 L . K ö h l e r , Theologie des Alten Testaments, 1953 s , S. 135; ähnlich bemerkt schon H . Gunkel in seinem Genesiskommentar (1901) zur Stelle: „der erste Mensch ist Gott ähnlich an Gestalt und Aussehen" (S. 102), und auch G. von R a d betont, daß „die Gottebenbildlichkeit des Menschen vornehmlich leiblich zu verstehen" sei (ThW II, S. 3 8 9 ; vgl. A T D 2 1953®, S. 4 5 : „Daß man bei diesem Wort von der realen, massiven Bedeutung des .Bildes', der ,Plastik' nicht abgehen d a r f . . . " ) .
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über Natur und Kreatur zu sehen ist, in dessen Erfüllung der Mensch als Mandatar Gottes, als Hoheitszeichen Gottes in der Welt erscheint. Freilich wird darin audi das geistige Sein des Menschen enthalten sein 7 , aber auf ihm liegt dann doch kaum ein besonderer Ton, und das Gewicht, das die christliche Dogmatik auf diesen alttestamentlichen Begriff als Spitzensatz christlicher Anthropologie gelegt hat, erscheint angesichts der exegetischen Situation als reichlich spekulativ 8 . Gleichwohl sieht Brunner in dieser Unsicherheit, d. h. der Eindeutigkeit oder auch der Vieldeutigkeit der Auslegung, kein Hindernis für sein Verständnis der formalen imago, da der Begriff der Gottebenbildlichkeit in jedem Fall auf das verweist, was den Menschen in seinem Menschsein auszeichnet, d. h. auf sein besonderes Bezogensein auf Gott. Und dies kommt in seinem Personsein zum Ausdruck. Denn der Mensch ist, im Unterschied zur übrigen Kreatur, nicht bloß „durch Gott, sondern in und zu Gott geschaffen . . . Darum kann und soll er sich auch nur in Gott verstehen." Er hat sein Sein nicht nur aus dem Wort, sondern im Wort als das für den Wortempfang bestimmte Wesen, das hören, verstehen, antworten, sich verantworten, in seiner Antwort als einer freien geistigen Tat Gott entsprechen soll 9 . Dieses Per7 von Rad z.B. lehnt zwar die Deutungen ab, die die Gottebenbildlichkeit „einseitig auf das geistige Wesen des Menschen beschränken" im Sinne der selbstbewußten, selbstmächtigen Persönlichkeit, des freien Ichs, des freien Gebrauchs der menschlichen Anlage, der Würde des Menschen (zu nennen wären hier etwa die alttestamentlichen Theologien von E. Riehm, 1889, S. 170; A. Dillmann, 1895, S. 354; G. Oehler, 18 8 22, S. 221; E.König, 1922, S. 234), aber er will doch „das Leibliche und Geistige" nicht zerreißen (ATD 2, S. 45), wie auch Gunkel einräumt, daß sich die Ebenbildlichkeit zwar in erster Linie auf den Körper des Menschen beziehe, jedoch das Geistige dabei nicht ausgeschlossen sei (a.a.O., S. 102). 8 Die diffizilen Distinktionen der traditionellen imago-Lehre und die dabei hervorgetretenen Differenzen in ihrer Verbindung mit der Lehre vom Urständ und Fall erscheinen jedenfalls im Hinblick auf Gen. 1,26 ff. weitgehend als willkürlich. Die exegetische Sachlage zwingt zu dem Eingeständnis, daß der imago-Begriff der Schöpfungsgeschichte als Grundlage einer theologischen Anthropologie kaum geeignet ist. Er ist einerseits zu undurchsichtig, andererseits gibt er, soweit sein historischer Sinn erkennbar ist, Anlaß genug zu kritischem Vorbehalt. Das Verführerische an diesem Begriff liegt gerade in seiner Undurchsichtigkeit, in der geheimnisvollen, die höchste Würde des Menschen bezeichnenden Andeutung, die zur eigenen Deutung herausfordert und das Nachdenken über das Wesen des Menschen ungemein befruchtet, aber auch auf Irrwege geführt hat. » Vgl. MiW, S.520.82; WaB, S.103Í. 145; OuV, S.452ff.; D II, S.65ff.; H.Gunkel hält auch die Deutung der imago als die „Fähigkeit des Menschen, mit Gott in Gemeinschaft zu stehen und nach seinem Willen zu handeln" (R. Smend, Alttestamentliche Religionsgeschichte, 18992, S. 439) für eine Modernisierung. Ganz im Sinne Brunners hingegen interpretiert W. Zimmerli den Menschen als das Wesen, in dem die Rede Gottes Antwort finden soll, das seine Bestimmung nur erfüllt, wenn es in der Nähe Gottes bleibt, dessen Gottesbildlichkeit also „in seiner Beziehung zu Gott" besteht (Prophezei, l.Mose 1—11, 1943, S. 75—82).
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sonsein des Menschen ist für Brunner der eigentliche anthropologisch bedeutsame Inhalt des alttestamentlichen Begriffs der imago Dei. Für die theologische Anthropologie geht es hier zweifellos um die grundlegende Aussage über das Wesen des Menschen. Sie steht und fällt jedoch keineswegs mit dem imago-Begrifï der priesterschriftlichen Schöpfungsgeschichte, sondern ergibt sich aus dem Gesamtverständnis des biblischen Zeugnisses von Gott und Mensch. Darauf bezieht sich in Wahrheit auch Brunner in seiner Auslegung des Personseins. Und hier kommt gerade dem spezifisch neutestamentlichen imago-Begriff als dem Inbegriff der Christusverkündigung eine entscheidende Bedeutung zu. Bereits in „Natur und Gnade" weist Brunner auf diesen eigentlichen Ausgangspunkt der Erkenntnis der Gottebenbildlichkeit hin, wenn er feststellt: „Die Menschwerdung Gottes ist der Erkenntnisgrund der Gottebenbildlichkeit des Menschen nach ihrer Wahrheit und Tiefe; aber die Gottebenbildlichkeit des Menschen in ihrer Unzerstörtheit nach der formalen Seite ist die objektive Möglichkeit für die göttliche Offenbarung in seinem ,Wort'." 1 0 Mit diesem Hinweis gibt er gerade innerhalb der Erörterung der formalen imago zu verstehen, daß weder die Selbstauslegung des Menschen noch die alttestamentliche Aussage der Gottebenbildlichkeit den Zugang zum eigentlichen Sinn dieser Bestimmung des Menschseins eröffnen. Was Ebenbild-Gottes-Sein heißt, wird erst in Christus offenbar und nur durch ihn erkannt. Daß die personale Struktur des Menschseins gleichwohl die „objektive Möglichkeit" für die Christusoffenbarung als Wortgeschehen genannt wird, darf darum nicht als eine Möglichkeit verstanden werden, über die der Mensch verfügt. Sie ist als solche nicht die subjektive Möglichkeit des Menschen, sondern die sich allein im Handeln Gottes realisierende Möglichkeit. Nur im Zusammenhang dieses Handelns kann von ihr in sinnvoller Weise gesprochen werden. Es ist eine Möglichkeit, die erst eigentlich von der Wirklichkeit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und von der darin geschehenden Inanspruchnahme des Menschen her in den Blick kommt 11 . Sie erschließt sich erst in diesem Geschehen und ist als solche nicht eine prognostisch, sondern retrospektiv aufzuzeigende Voraussetzung. In der Konsequenz dieser Einsicht geht Brunner denn auch in seiner erst später voll entfalteten Lehre von der GottNuG, S. 41. Ähnlich urteilt R . Roessler: „Nur von der Wirklichkeit der gnädigen Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus, nur vom Ereignis dieser Begegnung her kann auf ihre Möglichkeit geschlossen werden . . . N u r von der geschehenen Descendenz Gottes, von der Menschwerdung des Wortes, von der faktischen Inanspruchnahme des Menschen her kann auf die damit gegebenen ,Bedingungen' dieses Beziehungsgeschehens geschlossen werden. N u r nachträglich, nur retrospektiv kann also auch von Anknüpfung oder Voraussetzung gesprochen werden . . . " (a.a.O., S. 108). 10
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ebenbildlichkeit von der Sinngebung aus, die sie „vom Neuen Testament, von Jesus Christus her", erhält 12 . In Jesus begegnet Gott in der Anrede der Liebe, in der er sich uns ganz mitteilt und uns ganz für sich fordert. Indem er sich so offenbart, offenbart er uns zugleich uns selbst, so wie wir von ihm aus sind: aufgerufen zur Antwort der Liebe, herausgerufen aus dem Fluch der Lieblosigkeit, befreit zur Gemeinschaft der Liebe. Die Wahrheit und Tiefe der Gottebenbildlichkeit ist also diese Gemeinschaft mit Gott, dieses Sein-im-Worte-Gottes, dieses Menschsein, wie es in Jesus Christus wirklich ist und durch die Gnade Gottes in ihm auch uns zukommt. „Zu diesem Bilde werden wir durch Christus erneuert", der Glaube an ihn ist „die restauratio imaginis"13. In dem Wort des Apostels: „Wir aber spiegeln alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden dadurch in dasselbe Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit..." (2.Kor.3,18), sieht Brunner die Besonderheit dieser Gottebenbildlichkeit am deutlichsten ausgesprochen. Sie ist dem Menschen nicht ein für allemal mit der Schöpfung aufgeprägt, so daß er sie in sich „hat", sondern sie entsteht und besteht im aktuellen Gegenüber, in der Einwirkung des Urbildes Christi „auf den diese Einwirkung im Glauben aufnehmenden Menschen". Der Mensch hat seinen Sinn also nicht in sich selbst, sondern in seinem Gegenüber, in Christus, in Gott. Er hat sein wahres Sein extra se. Es ist „exzentrisch", „ekstatisch", ein Sein in Relation. Seine Gottebenbildlichkeit ist darum nicht zu verstehen als eine Eigenschaft, nicht als etwas Statisch-Substanzhaftes, sondern sie ist etwas Akthaftes, „responsorische Aktualität", ein Verhältnis der „personalen Korrespondenz", ein WortAntwort-Geschehen. In diesem Geschehen wird er zum Bild Gottes — „Gott ähnlich dadurch, daß die Liebe Gottes, durch Jesus Christus ihm 1 2 MiW, S. 82; D II, S. 6 4 : „Audi sie (sc. die Gottebenbildlichkeit) haben wir, primär, nicht vom Alten, sondern vom Neuen Testament her, und zwar vom Zentrum her zu verstehen"; vgl. auch die 1. und 2. These zur Anthropologie in „Der neue Barth", Z T h K 48 1951, S. 9 1 : 1. „Die Lehre vom Menschen ist als christliche Anthropologie von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus aus zu entwerfen . . . " 2. „Das Hauptthema dieser Lehre ist die von Gottes Ebenbild, das uns allein in Jesus Christus erkennbar ist, und von dem Verhältnis zwischen diesem und dem wirklichen Menschen, d.h. dem Menschen, wie er tatsächlich ist." — Zur Problematik der nt. imago-Vorstellung, die hier nicht zur Diskussion steht, vgl. u. a. A. Struker, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen in der urchristlichen Literatur der ersten zwei Jahrhunderte, 1913; E. Käsemann, Leib und Leib Christi. Eine Untersuchung zur paulinischen Begrifflichkeit, BhTh 9 1933; T h W II, S. 393 ff. (Kittel), 1935; W . G . K ü m m e l , Das Bild des Menschen im Neuen Testament, A T h A N T 13 1948; H . Lindeskog, Studien zum neutestamentlichen Schöpfungsgedanken I, 1 9 5 2 ; E . Lohse, Imago Dei bei Paulus, in: Libertas Christiana, Festschrift für F. Delekat, BeTh 26 1957, S. 1 2 2 — 1 3 5 ; F. W . Eltester, Eikon im Neuen Testament, Beih. 23, Z N W 1958; I. Jervell, Imago Dei. Gen. 1 , 2 6 f. im Spätjudentum, in der Gnosis und in den paulinischen Briefen, 1960. 13
WaB, S. 147; D II, S. 69.
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geschenkt, durch den Heiligen Geist ausgegossen in sein Herz, nun auch aus ihm widerleuchtet"14. c) Natur als Geschehen der Gnade Die wahre Natur des Menschen als Geschehen der Gnade — so könnte man dieses Verständnis der Gottebenbildlichkeit charakterisieren. Wir kommen damit wohl der Intention Brunners, wie sie in dieser entwickelten Form seiner imago-Lehre ihren Ausdruck findet, am nächsten. Denn darin sieht er das Wesentliche der hier sich zeigenden Gottesbeziehung des Menschen, in der Priorität des Handelns Gottes als einer Priorität der Gnade: „In diesem paulinischen Imago-Begrifï ist in wunderbarer Weise die vorauslaufende Gnade Gottes, aus der alles Leben und alles Gute kommt, die Wirksamkeit dieser Gnade durch das Wort Gottes, die personhafte Gegenwart Gottes in Jesus Christus, die reine Empfänglichkeit des Menschen im Glauben und die freie Rückgabe des Empfangenen in der Wieder liebe miteinander verbunden." 15 In diesem Geschehen der Gnade empfängt der Mensch sich selbst als der, der er von Gott her ist und sein soll. 14 Vgl. MiW, S. 86 f. 521; WaB, S. 147 f.; D II, S. 66. 68 f.; GuO, S. 146. 148. Zu Brunners Verständnis der personalen Korrespondenz vgl. insbesondere WaB, S. 89— 106. — Es fällt auf, daß Brunner in MiW und in WaB darin einen „Gegensatz" bzw. eine „radikale Umformung der neutestamentlichen Vorstellung gegenüber der alttestamentlichen" sieht, daß „der Begriff der Imago aus seiner alttestamentlichen strukturellen oder morphologischen Starrheit herausgerissen" wird, daß er „aus einem statischen Eigensdiaftsbegriff zu einem aktualen Relationsbegriff geworden" ist (MiW, S. 521; WaB, S. 147). In seiner Darstellung der beiden Begriffe in seiner Dogmatik gibt er jedoch diese Unterscheidung wieder auf. In beiden Fällen ist die imago „nicht als eine in sich bestehende Substanz, sondern als eine Relation" zu verstehen. Denn Verantwortlichkeit (als Ausdruck der formalen imago) ist eine Relation, keine Substanz. So schwierig es erscheint, „Struktur und Relation in eins zu setzen" — darin besteht gerade das Eigenartige des Menschseins, „daß seine Struktur eine Relation ist: Verantwortliches Sein, responsorische Aktualität". (D II, S. 70 f. Auch in MiW, S. 551, betont er, daß die unverlierbare Struktur des Menschseins „eine aktuale, nicht eine substantiale, verantwortliches Sein, Sein in Entscheidung ist".) Responsorische Aktualität ist also auch das Kennzeichen der formalen imago! Brunner nimmt damit einen Gedanken auf, der bereits in „Kirche und Offenbarung" (siehe oben S. 185) und in seinem Anknüpfungsaufsatz (Ankn, S. 519 Anm. 9. 526 Anm. 17) anklang, in dem er die Abkehr vom aristotelischen Vernunftbegriff (Vernunft als etwas, was der Mensch besitzt) und ein aktuales Verständnis der Vernunft forderte (Vernunft als Bezogenheit, als Vernehmen). Roessler meint, der Streit um Brunner wäre gegen ihn entschieden, sollte man seine Lehre von der formalen Gottesbildlichkeit als inhärierende qualitas, als „eine Naturgegebenheit des Menschen" deuten müssen. Allerdings: „Von den aufgewiesenen Voraussetzungen Brunners her muß darin jedoch ein Fehlurteil erkannt werden, weil hier der grundlegende Aktualismus dieser Beziehung übersehen wäre" (a.a.O., S. 101). — Zum Aktualismus-Begriff vgl. auch R. Roessler, S. 92 f. 99 ff. 150ff.; H . Volk, a.a.O., S. 99 ff. 15
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WaB, S. 148.
Man könnte nun allerdings hinter dieser Zuspitzung der Lehre Brunners von der Gottebenbildlichkeit auf den obersten Gesichtspunkt der Gnade mehr einen Reflex auf die Auseinandersetzung mit Barth als den originären Ausdruck seiner eigenen Intention vermuten. Nicht von ungefähr stammt der betonte Hinweis auf diesen Sachverhalt ja aus einer Zeit, in der die Diskussion um „Natur und Gnade" ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte und an Brunner offensichtlich auch nicht spurlos vorübergegangen war. Daß Brunner von Anfang an das sola gratia als letztes Kriterium geltend machte, muß noch nicht besagen, daß er auch von Anfang an in allen seinen anthropologischen Überlegungen vom Gesichtspunkt der Gnade aus dachte. Zwar findet sich schon im „Mittler" ganz beiläufig ein bemerkenswerter Satz: „Was Christus ,νοη Natur' ist, das ist — das wird — der Mensch durch Gnade." 16 Darin ist bereits in nuce alles Spätere enthalten. Aber die mit Barth geführte Auseinandersetzung zeigt doch, daß der Dissensus gerade am Verständnis dessen aufbrach, was unter Wahrung des Gesichtspunktes der Gnade von der Natur des Menschen auszusagen ist. Die reformatorische Antithese Natur ( = Menschenwerk) oder Gnade ( = Gotteswerk) erschien Brunner im Zusammenhang seiner Frage nach dem Sein des Menschen als „allzu einfach" und die undifferenzierte Gleichsetzung der „Natur" des Menschen abgesehen von der Christusoffenbarung mit der Sünde als falsch, „weil die Natur auch in ihrer Sündigkeit von Gott getragen und auf Gott bezogen ist" 17 . Der Gesichtspunkt der Gnade, wie Brunner ihn hier vertritt, hat seinen Geltungsbereich nicht nur innerhalb des geschichtlichen Christusgeschehens als Verkündigung der Gnade Gottes, sondern bereits im Bereich der menschlichen Existenz als Ereignis und Bezeugung der Gnade Gottes. Seine Gnade wird ja nicht nur aktuell im Zusammenhang von Versöhnung und Erlösung, sie ist immer schon aktuell im Geschehen von Schöpfung und Erhaltung. Auch der homo peccator lebt „aus Gnade". Er existiert im Zeichen der Gnade, die durch keine Sünde aufgehoben ist. Es ist die „Schöpfungsgnade", die „Langmut-Gnade" oder wie immer man mit Brunner dieses Von-Gott-her-Leben des Menschen, dieses Mitdem-Menschen-Sein Gottes nennen will. Dabei denkt Brunner offensichtlich zunächst gerade auch an die formale Gottebenbildlichkeit. Die humanitas und personalitas ist eben nicht als Besitz des Menschen, sondern als Gottes Gnadentat zu verstehen. Sie beruht ja auf Gottes aktuellem Ansprechen und macht insofern deutlich, daß der Mensch „auch in der Sünde nie außerhalb dieses Ansprechens Gottes und darum nie außerhalb der Gottbezogenheit steht" 18 . 19
Mi, S. 311 Anm. 1. " Aufg, S. 266 Anm. 6. Gott und Mensch, S. 56 Anm. 1. In WaB wiederholt Brunner also nur diesen Gedanken, wenn er audi dort den alttestamentlichen Sinn der imago als Ausdruck 18
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Wenn hier Gnade im schöpferischen Sinn als Gottes Gnadentat, als seine „Alleintat" gedacht ist, so zeigt sich dodi bereits sehr deutlich, warum Brunner die Alternative Natur oder Gnade nicht genügt: Der Mensch hat sein Menschsein nur in dieser Zuwendung Gottes zu ihm, in diesem Aufgerufen- und Getragensein. Er kann nur Mensch sein, indem er diesem Aufgerufensein entspricht, indem er antwortet — auch in seinem Sündersein. Sein eigenes Erkennen und Tun, der mißlingende Versuch seiner Selbstverwirklichung darf darum nicht in der Abstraktion von dieser ursprünglichen Relation zum gnädigen Handeln Gottes gesehen werden. Er ist nur möglich innerhalb des Raumes, den Gottes Gnade schafft und gibt. Die Formel für „Natur", wie Brunner sie hier vor Augen hat, heißt „Menschenwerk auf Grund des göttlichen Schöpfungswerkes, das durch keine Sünde aufgehoben ist" 19 . Der Begriff der „Natur" des Menschen drückt also nicht nur das aus, was der Mensch aus sich selbst heraus ist und sein kann, sondern ebenso das, was er nicht aus sich selbst heraus ist: die Gottbezogenheit, das ebenbildliche Geschaffensein — all das, was der Begriff der formalen imago beinhaltet20. Natur als Ausdruck der Gnade, als Geschehen der Gnade scheint in der Tat die treffendste Umschreibung dieses Sachverhalts21. Die bloße Alternative Natur oder Gnade muß unter diesem Gesichtspunkt als unzureichend empfunden werden. Und es kann von daher nicht überraschen, daß Brunners auf die Gottebenbildlichkeit bezogene Frage nach dem Anknüpfungspunkt geradewegs in die alte Kontroverse um Natur und Gnade hineinführte. Er ließ sich diese Kontroverse nicht aufnötigen, sondern warf mit seinem Rekurs auf die Schöpfungsgnade selbst diesen Fehdehandschuh hin. In scharfem Ton erklärt er in seinem Aufder Gnade begreift: „Gott ist immer der Erste, der Schöpfer, der Geber, von dem der Mensch alles hat, was er hat und ist." Der Bund mit Israel als „Gnadenbund" ist insofern nur eine Fortsetzung dieses Schöpfungsaktes, in dem Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen und ihm darin seine besondere Auszeichnung und Bestimmung gegeben hat. „Die Gnade Gottes ist das erste" — aber sie muß vom Menschen angenommen und beantwortet werden (WaB, S. 145 f.). 18 Aufg, S. 266 Anm. 6. 20 In NuG erläutert Brunner diese Ambivalenz des Naturbegriffs. Natur bezeichnet einerseits die ursprüngliche Schöpfung, das, „was Gott seinem Werke an dauernder Offenbarungsmächtigkeit verliehen, die Züge seines eigenen Wesens, die er in ihm ausgedrückt und zu erkennen gegeben hat". Also z.B. das, was er ebenbildlich in das Wesen des Menschen hineingelegt hat. Natur meint andererseits aber auch das, was der sündige Mensch aus sich macht durch die Sünde. Natur ist also einmal Ausdruck der Schöpfung und insofern ein Normbegriff (natura docet), das andere Mal Ausdruck des status corruptionis (NuG, S. 15. 23 f. Zum Naturbegriff bei Calvin). Der Begriff der Sünde erfaßt nur die „denaturierte Natur" (MiW, S. 84 f.). 21 In diesem Verständnis trifft Brunner sich durchaus noch mit Barths Satz: „Gnade ist unser Geschaffensein, Gnade auch unser zu Gott hin Geschaffensein" (in: „Zur Lehre vom Heiligen Geist, a.a.O., S. 45). Die Differenz beginnt im Verständnis der Konsequenzen dieses Satzes für die theologische Anthropologie.
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satz über die andere Aufgabe der Theologie, es sei „niemals zu rechtfertigen", das „auch dem sündigen Menschen als Schöpfungsgnade verbliebene Gottesbewußtsein als nicht vorhanden oder nichts bedeutend zu behandeln" 22. Wenig später mahnt er erneut: „Wer die Gleichnisfähigkeit des Natürlichen (des sündig gewordenen Gottgeschaffenen) mit der Offenbarungswahrheit bestreitet, der hat auch keine Möglichkeit, begreiflich zu machen, wie die natürliche Sprache zum Gefäß des Gotteswortes werden kann. Die Frage nach dem Anknüpfungspunkt darf nicht durch eine Übertreibung des Gegensatzes von Natur und Gnade verschüttet werden." 23 Und schließlich ruft er in seinem Anknüpfungsaufsatz den consensus christianus gegen Barth zum Zeugen auf: „Es ist bis in die neueste Zeit hinein keinem christlichen Theologen eingefallen, die Bedeutsamkeit dieses ,Restes' (sc. der imago als gottbezogene humanitas) und seinen Zusammenhang mit der Humanität in Abrede zu stellen." Barth verlange auf Grund einer mißverstandenen radikalen „Entgegensetzung von Natur und Gnade" den Bruch mit der Tradition und wolle „reformatorischer sein als die Reformatoren, die auch im heißesten Kampf um das sola gratia nie diese Grenze überschritten haben" 24 . Brunner setzt sich hier gegen ein Verständnis der Gnade zur Wehr, das der Frage nach dem natürlichen Menschen, wie er sie zu stellen versuchte, im Interesse der reinen Gnadenlehre von vornherein ihr Recht bestritt. Hatte er selbst ein anderes Interesse? In dieser Konfrontation mußte es sich zeigen, ob er mit seiner Frage nach dem Anknüpfungspunkt in einen Bereich vorstieß, in dem das sola gratia seine Geltung verlor, oder ob er auch hier das Interesse der reinen Gnadenlehre wahren wollte und konnte. Brunner war sich von Anfang an darüber im klaren, daß sich hier 22
Aufg (1929), S. 273 (von mir hervorgehoben). ThuK, TL 8 1930, S. 398 Anm. 1. 24 Ankn, S. 520. Brunner begegnet dem Vorwurf, die Lehre von der erhalten gebliebenen imago beraube die Gnade Gottes „ihrer Ganzheit und Einzigkeit" (eine sehr vergröbernde, nicht wirklich auf den Sinn der Darlegungen Barths in „Zur Lehre vom Hl. Geist" eingehende Formulierung!) wiederum mit dem Hinweis, daß es hier sehr wohl um Gottes Gnade gehe, allerdings um die Schöpfungsgnade: „Als ob es nicht göttliche Gnade wäre, daß wir Menschen und nicht Tiere sind! Als ob es nicht auch außerhalb der Versöhnungsgnade audi eine Schöpfungsgnade und Erhaltungsgnade gäbe . . . als ob die Sünde nur dann ernsthaft verstanden wäre, wenn sie als Austilgung der Sdiöpfungsgnade verstanden wird . . . Ist es nicht vielmehr die Schöpfungsgnade, durch die der Mensch für seine Sünde überhaupt verantwortlich wird?" (ebenda S. 520 f.). Dieser Hinweis ist nicht nur darum bemerkenswert, weil Brunner hier von vornherein zu erkennen gibt, daß und wie audi er den Gesichtspunkt der Gnade zu wahren gedenkt, sondern er zeigt zugleich den Sinn dieser ganzen Fragestellung: um der Verantwortlichkeit des Menschen willen kommt ihr diese Bedeutung zu. Barths spätere Frage: „Aber in welchem Sinn und mit welchem Recht wird hier von Brunner von einer anderen, besonderen (oder vielmehr „allgemeinen") der Gnade Jesu Christi sozusagen voranlaufenden Gnade geredet?" (Nein, S. 20) ignoriert einfach diese Begründung. 23
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die Legitimität seiner Fragestellung entschied. Und er griff daher mit voller Absicht das nicht unverfängliche Stichwort „Natur und Gnade" auf, um damit das Problem der theologischen Anthropologie zu kennzeichnen, um dessen Klärung er bemüht war. Der keineswegs provokativ gemeinte Titel seiner Streitschrift gegen Barth verweist dabei zunächst nur auf das zur Diskussion stehende Problem. E r sagt noch nichts aus über Brunners Entscheidung. Das berüchtigte „und" ist, wie er selbst bemerkt, „das ,und' der Problematik, der zu erfragenden Beziehung, nicht das ,und' der Koordination" 2 5 . Es erlaubt also nodi kein Urteil darüber, ob Brunner hier den Weg zu einer natürlichen Theologie einschlägt. Wohl aber fixiert es die Aufgabe einer christlichen Lehre vom natürlichen Menschen, in der das geschöpfliche Bezogensein des Menschen auf Gott in dem Zusammenhang der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zur Geltung kommt.
2. Schöpfungsoffenbarung a) Die Tatsache der
und
Christusoffenbarung
Schöpfungsoffenbarung
Damit steht nun das Problem, das uns während der ganzen bisherigen Darstellung beschäftigte, in seiner letzten Zuspitzung vor uns. Die Theorie der Verkündigung als Lehre vom Anknüpfungspunkt hat sich zu bewähren in einer prinzipiellen Klärung des Problems der Schöpfungsoffenbarung in ihrem Verhältnis zur Christusoffenbarung. Daß von einer Schöpfungsoffenbarung und einer mit ihr zusammenhängenden natürlichen Gotteserkenntnis geredet werden muß, ist, wie wir sahen, für Brunner nicht zweifelhaft. Seine eingehende Analyse der formalen imago war ja in Wahrheit nichts anderes als eine Begründung der Schöpfungsoffenbarung 26 . Hier wäre ebenso nodi einmal an die Gegenüberstellung der allgemeinen und besonderen Offenbarung zu erinnern, wie sie bereits im „Mittler" zur Sprache kam. Daß in aller Religion Spuren der Wahrheit, in allem Sein und Denken Spuren Gottes anzuerkennen seien, daß der christliche Glaube die allgemeine Offenbarung und ein vorgängiges Wissen um Gott als seine eigene Voraussetzung in sich einschließt, wurde dort schon deutlich zum Ausdruck gebracht, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis auf diesen Zusammenhang, in dem die Schöpfungsoffenbarung und die durch sie bestimmte Situation des Menschen als die sachliche Voraussetzung der Versöhnungsoffenbarung erscheint: „Man kann gar nicht christlich an die einmalige Offenbarung, an den Mittler glauben, ohne an eine allgemeine Offenbarung Gottes in der Schöpfung, in der NuG, S. 6. „ . . . in der Tat, die imago Dei, so verstanden, ist das wichtigste Zeugnis der Schöpfungsoffenbarung und — da sie als solche nicht zerstört ist — der Ausgangspunkt einer natürlichen' Gotteserkenntnis" (MiW, S. 520). 25
28
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Geschichte und besonders im Gewissen zu glauben." Aber andererseits kann die christliche Anerkennung der allgemeinen Offenbarung nur „eine gebrochene sein" 27 . In diesen beiden Feststellungen sind bereits die entscheidenden Gesichtspunkte enthalten, an denen sich Brunners Denken in dieser Frage orientiert. Von hier aus begreift sich seine Uberzeugung, daß es sinnlos ist, der natürlichen Gotteserkenntnis ihre Bedeutung abzusprechen. Denn: „Fraglich ist nicht die Tatsache selbst, sondern ihre Qualität." 2 8 Diese Fraglichkeit führt allerdings zu so spannungsvollen Aussagen, daß ein natürliches Wissen um Gott auf Grund der Schöpfungsoffenbarung zugleich behauptet und negiert wird. Denn neben der These, die die Existenz und Bedeutsamkeit natürlicher Gotteserkenntnis feststellt, steht die andere: „Gott ist uns als der Schöpfer nur dort offenbar, wo er uns zugleich als der Erlöser sich zeigt." 29 Wir begegneten dieser Spannung immer wieder in dem Programm der Eristik, in der christlichen Theorie des Heidentums, bei der kategorialen Bestimmung des Anknüpfungspunktes in dem Zugleich von Kontinuität und Diskontinuität, von Verneinung und Bejahung, in dem paradoxen Begriff des wissenden Nichtwissens, in dem Verständnis der dialektischen Anknüpfung und der Rolle, die das natürliche Vorverständnis in ihr spielte. Immer ging es hierbei um die Wahrung des theologischen Prinzips, daß die christliche Gotteserkenntnis sich „einzig und allein in der göttlichen Selbstoffenbarung", in dem „göttlichen Tat-Wort Jesus Christus" begründet weiß. Aber dies schloß doch auch immer wieder jenes andere in sich ein, daß diese Gotteserkenntnis zugleich eine positive und polemische Antwort auf die Frage des Menschen ist, daß sie das natürliche Selbstverständnis des Menschen enthält und begründet und dodi auch wieder radikal verneint 30 . Die Tatsache der Schöpfungsoffenbarung blieb dabei in einem Zwielicht, das der Erhellung bedurfte. Denn der Verdacht konnte nicht ausbleiben, daß hier die exklusive Bedeutung der Offenbarung Gottes in Christus letztlich doch durch eine ihr vorauslaufende, unabhängig von ihr sich ereignende allgemeine Offenbarung preisgegeben werde. Dieser Verdacht ließ sich nur abweisen, wenn es Brunner gelang, die Schöpfungsoffenbarung nach ihrem Inhalt, ihrer Tragweite und ihrer inneren Beziehung zur Christusoffenbarung klar zu bestimmen. Der im „Mittler", in der „Religionsphilosophie Evangelischer Theologie" und zuletzt in dem Vortrag „Die Christusbotschaft im Kampf mit den Religionen'' 27
Mi, S. 13, siehe oben S. 107 ff. Ankn, S. 522; vgl. audi „Die Christusbotschaft im Kampf mit den Religionen", S. 1 : „Nidit das kann die Frage sein, ob der Mensch um Gott wisse, sondern nur dies, ob er Gott wirklich kennt und ehrt." 29 GuM, S. 43 (Der Rechtfertigungsglaube und das Problem der Ethik, 1929). 30 GuO, S. 47. 28
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unternommene Versuch ging von der Einzigartigkeit der Christusoffenbarung aus und suchte, diese Einzigartigkeit in der Auseinandersetzung mit dem nichtchristlichen Offenbarungsverständnis „streng wissenschaftlich" nachzuweisen31. So wenig überzeugend dieser „Nachweis" erschien, da er mehr an einen theologischen Schauprozeß als an ein wirkliches Eingehen auf das Phänomen des natürlichen Gottesbewußtseins erinnerte, er machte dodi deutlich, daß Brunner hier nicht daran dachte, der wirklichen natürlichen Gotteserkenntnis seine theologische Reverenz zu erweisen. Sie blieb nicht nur schemenhaft, sie hatte audi eine durchaus negative Bedeutung innerhalb des Glaubensgeschehens, da sie in ihm als Unwahrheit, als Scheinwahrheit erkannt wurde. Das in ihr vorausgesetzte wirkliche Wissen um Gott spielte zwar eine bedeutsame Rolle als Signum der Ansprechbarkeit, aber es schien sich in dieser Funktion audi zu erschöpfen als ein „bloß formales Daß". Jedenfalls war kein Interesse Brunners spürbar, aus diesem Wissen einen Funken herauszuschlagen, der das Feuer des Glaubens entfachen könnte. Insofern bestand kaum eine Veranlassung, hinter diesem Wissen etwas mit der Christusoffenbarung Konkurrierendes zu vermuten. Den eigentlichen Verdacht weckte erst das in diesem Zusammenhang gebrauchte Stichwort der Anknüpfung, das nun einmal in seiner „gefährlichen Anschaulichkeit"32 die Assoziation einer kontinuierlichen Verbindung nahelegte, vor allem aber die Art, 3 1 Vgl. „Die Christusbotschaft.. .", S. 8. Die Einzigartigkeit des christlichen Offenbarungsglaubens bezieht sich danach nicht nur auf den christlichen Versöhnungs-, Sünden- und Erlösungsbegriff, sondern auch auf das Verständnis der Schöpfung. D e r im Evangelium erschlossene christliche Gottesglaube verhält sich zu den heidnischen Religionen nicht „wie eine species derselben Gattung zu andern, sondern wie die heilbringende Botschaft zu dem dieses Heiles bedürftigen Gottsuchen". Brunner läßt sich nicht auf den Weg Troeltschs ein, denn die Frage, ob das Evangelium von Jesus für alle Welt, für alle Völker, für jeden einzelnen Menschen die Soteria, die Rettung aus dem Todesverderben ist — diese Frage ist für den Glauben „vor und unabhängig von aller Prüfung der anderen Religionen" entschieden. „Die Entscheidung kann nicht fallen als Folge einer Religionsvergleichung, sie kann nur fallen im A k t des Glaubens selbst." Dennoch spricht Brunner von einer theologischen Pflicht, den intoleranten Absolutheitsanspruch der Botschaft von Jesus Christus an den Tatsachen der Religionsgeschichte zu prüfen und zu erhärten — um des Verkündigers willen wie auch derer, „denen er durch seine Verkündigung helfen w i l l " . Denn „nur durch die Erkenntnis der Unwahrheit der alten Scheinwahrheit hindurch kann die neue Wahrheit sich uns als wahr bezeugen. Man muß von der Unwahrheit des Heidentums überzeugt sein, um ein Christ werden zu können" (a.a.O., S. 3 f.). Es ist der Gedanke der Eristik, der missionarischen Verkündigung, der die Auseinandersetzung mit dem nichtchristlichen Offenbarungsverständnis motiviert. D a ß dieses als Unwahrheit bzw. als Scheinwahrheit qualifiziert wird, hebt die Voraussetzung jedoch nicht auf, daß „auch der Heide nicht ohne ein Wissen um G o t t (ist), denn ein solches ist ihm von der Schöpfung her unausrottbar eingepflanzt" (a.a.O., S. 11, siehe dazu oben S. 153 ff.). 3 2 F . K . Schumann, Das W o r t und die Heiden. Zur Frage der „Anknüpfung" in der missionarischen Verkündigung, in: D T h 5 1938, S. 50.
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wie Brunner in „Natur und Gnade" von der Schöpfungsoffenbarung redete und sie in den Mittelpunkt stellte. Es gibt eine Schöpfungsoffenbarung! Das ist der immer wieder nachdrücklich hervorgehobene Ausgangspunkt aller Überlegungen. Denn die Welt ist Gottes Schöpfung, und „in jeder Schöpfung ist der Geist ihres Schöpfers irgendwie erkennbar". Der Schöpfer drückt dem, was er tut, den Stempel seines Geistes, seines Wesens auf. „Darum ist die Schöpfung der Welt zugleich Offenbarung, Selbstmitteilung Gottes." 3 3 Diese fast wie ein allgemeines Naturgesetz formulierte Begründung leitet die Tatsache dieser Offenbarung einfach aus der Tatsache der Schöpfung ab. Das geschaffene Werk lobt den Meister, es bezeugt ihn, es läßt etwas von seinem Wesen erkennen. Ist das eine allgemeine Schöpfungswahrheit? Fast scheint es so. Aber Brunner möchte sie doch verstanden wissen als christliche Schöpfungserkenntnis 34 ! D a ß die Schöpfung Gott offenbart, ist nicht ein heidnischer Satz, sondern ein „christlicher Fundamentalsatz". Drückt sich darin nicht bereits eine auffallende Inkonsequenz aus? Müßte die Tatsache der Schöpfungsoffenbarung nach der zuvor behaupteten Selbstevidenz des Schöpfers in der Schöpfung nicht gerade als eine unabhängig von der Christusoffenbarung erkennbare Wahrheit ausgesagt werden? Setzt Brunners Argumentation nicht gerade die Tatsächlichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis voraus? Schon hier deutet sich das eigentliche Problem an: das Verhältnis dieses allgemein gültigen „es gibt" zu der „christlichen" Erkenntnisprämisse. D i e äußere 33
NuG, S. 11 f. NuG, S. 12; vgl. dazu auch OuV, S. 82 f. Noch in D I vertritt Brunner in modifizierter Form diesen Gedanken: „Audi ohne ausdrückliches biblisches Zeugnis mußte ja der christliche Sdiöpfergedanke zur Anerkennung einer Schöpfungsoffenbarung nötigen; denn was wäre das für ein Sdiöpfer, der nicht seinem Geschöpf den Stempel seines Geistes aufdrückte!" (S. 138). Auch hier liegt das Gewicht der Aussage trotz der christlichen Motivierung auf der Schöpfungstatsache als soldier, so daß die Anerkennung der Sdiöpfungsoffenbarung eigentlich kein spezifisch christlicher Gedanke sein kann. Dennoch legt Brunner allen Wert auf diese Feststellung: „Der Schöpfer, den wir erkennen, ist ein anderer als der, den das Heidentum kennt" (GuO, S. 111. 594); vgl. dazu D II, S. 6 f.: (Die Erkenntnis der Schöpfung) „Daß Gott der Schöpfer ist, wissen wir wirklich nicht aus uns selber, so wie wir von den Dingen dieser Welt wissen. Dieser Satz ist nicht Teil einer natürlichen Theologie im Sinn einer dem Menschen als Menschen zur Verfügung stehenden Erkenntnis, sondern auch er ist, genau wie jeder andere Satz des christlichen Bekenntnisses, ein Glaubenssatz, und das heißt ein auf die Offenbarung gegründeter Satz." Audi hier gibt Brunner zu, daß audi anderswo vom Schöpfer und der Schöpfung gesprochen wird, und er sieht gerade darin eine Bezeugung der Sdiöpfungsoffenbarung! Aber nun liegt für ihn der Akzent entschieden auf der Distanzierung: si duo faciunt idem, non est idem. Trotz aller „scheinbaren (!) Übereinstimmung" ist das „etwas anderes als die Erkenntnis Gottes des Schöpfers, wie er sich uns in seiner geschichtlichen Offenbarung bezeugt, weil der sündige Mensch nicht fähig ist, das, was Gott ihm in seinem Sdiöpfungswerk zeigt, aufzufassen, ohne daraus etwas anderes zu machen". 34
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Motivation für den abrupten Ubergang zur christlichen Begründung dieses „es gibt" liegt in der Frontstellung Brunners gegenüber Barth. Er möchte Barth darauf hinweisen, daß es hier um eine notwendige Aussage christlicher Schöpfungstheologie geht. Die innere Motivation zeigt sich in der folgenden Bezugnahme auf „die Bibel", genauer auf Rom. 1 und 2. Denn offensichtlich geht Brunner in seiner Behauptung der Schöpfungsoffenbarung hier nicht von einer phänomenologischen oder rationalen Erkenntnis aus, sondern von dem, was Paulus mit seinem doppelten Hinweis auf das Offenbarsein Gottes in den Werken der Schöpfung und im Gewissen andeutet: daß die Menschen eben darum unentschuldbar sind, weil sie den Gott, der sich ihnen so deutlich in den Werken der Schöpfung manifestiert, nicht erkennen wollen. Es gibt also „irgendwie" Gotteserkenntnis. Dasselbe zeigt sich im Phänomen des Gewissens, im Bewußtsein der Verantwortlichkeit: Alle Menschen sind nicht nur im formalen Sinn zur Verantwortlichkeit bestimmt, sie haben „auch ein Bewußtsein davon", d. h. sie kennen „irgendwie Gottes Willen" 35 . Die lex naturae, um die der Mensch weiß, ist der offenbare Schöpferwille Gottes. Und schließlich legt auch das geschichtliche Leben, sofern sich in ihm Gottes Schöpfungsordnung auswirkt, Zeugnis ab vom Willen und der gnädigen Gegenwart Gottes. Denn die in der Schöpfung begründeten Ordnungen des Lebens sind ein Teil des göttlichen Gesetzes als der „Offenbartheitsform des göttlichen Willens". Sosehr über diesen Ordnungen auch ein unaufhebbares Zwielicht liegt — ohne sie ist dennoch „ein irgendwie menschliches Zusammenleben nicht denkbar". Sie sind „auch dem natürlichen Menschen' als notwendige und irgendwie heilige Ordnungen bekannt", und sie werden denn auch „einigermaßen" von Menschen verwirklicht, „die den in Christus offenbaren Gott nicht kennen" se . 3 5 NuG, S. 12. Das von Barth so sehr aufs Korn genommene „irgendwie" (Nein, S. 26. 36), das bei Brunner in der T a t da auftaucht, wo es darauf ankäme, präzise Aussagen zu machen (vgl. NuG, S . l l . 12. 13), rechtfertigt Brunner als in seiner Unbestimmtheit sachgemäß! Eine wirkliche Analyse dessen, was und wie erkannt wird, ist gar nidit beabsichtigt. Es genügt ihm hierfür die reformatorische Kennzeichnung einer cognitio legalis. Im übrigen erklärt Brunner dieses „irgendwie" lediglieli als eine Verdeutschung des von Calvin in diesem Zusammenhang gerne gebrauchten quodammodo (NuG 2 , S . 4 5 d . 46 f. 480). 3 e N u G , S. 13. 15 f. 17 f. 37ff. Brunner mißt gerade dem Bereich der Schöpfungsund Erhaltungsgnade eine große Bedeutung im Zusammenhang dieser Fragestellung zu. Das zeigte schon sein 1932 erschienener Entwurf einer protestantisch-theologischen Ethik „Das Gebot und die Ordnungen", in dem er sein Verständnis der Schöpfungsordnungen, der Konstanten des geschichtlich-sozialen Lebens, darlegte. Der Wille Gottes tritt uns „aus dem Seienden selbst heraus" entgegen; dem „Gegebenen ist Gottes Wille in seiner Gestalt aufgeprägt. Diese gegebene Gestalt oder Geordnetheit sollen wir als Ausdruck des göttlichen Willens verstehen . . . " (GuO, S. 109. 194). Freilich kommt uns dieser Gotteswille in der sündig gewordenen Welt immer nur als durch die Sünde gebrochen entgegen, d.h. nie direkt, sondern nur indirekt (GuO, S. 110ff.). Der eigentliche Sinn der Ordnungen, der eigentliche Sinn der lex naturae wird darum erst da er-
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Es gibt also in der Tat zweierlei Offenbarung. Das ist für Brunner keine Frage. In Frage steht nur, wie sich die Schöpfungsoffenbarung faktisch auswirkt und wie sie sich zur Christusoffenbarung verhält. Dabei muß von vornherein eine wichtige Differenzierung in Brunners Aussagen über die Schöpfungsoffenbarung beachtet werden. Er spricht zunächst und mit Nachdruck von der Erkennbarkeit Gottes in seinem Werk. Dieser Begriff besagt im Sinne Brunners noch nicht, daß Gott daraufhin auch wirklich erkannt wird. Erkennbarkeit ist etwas anderes als faktisches Erkennen, so wie der Begriff der Offenbarungsmächtigkeit etwas anderes meint, als sich der Offenbarung erkennend bemächtigen. Strenggenommen bedeutet die Erkennbarkeit Gottes in seinem Werk nur dies, daß er darin offenbar ist, daß er sich darin zu erkennen gibt, also die objektiv gegebene Möglichkeit, Gott zu erkennen, das objektive „Offenbarungsmittel", die objektive „Offenbarungsveranstaltung", von der die subjektive Erkenntnisfähigkeit und das tatsächliche subjektive Erkennen zu unterscheiden sind. Dieses Unterscheidung eines objektiven und eines subjektiven Faktors innerhalb der mit der Schöpfungsoffenbarung gegebenen Erkenntnisrelation ist für das Verständnis der Ausführungen Brunners grundlegend. Ihre Nichtbeachtung verwirrt alles und muß zu verhängnisvollen Fehldeutungen führen 37 . Wenn Brunner kategorisch erklärt, daß es Schöpfungsoffenbarung, also „natürliche" Offenbarung, gibt, dann meint er dieses transsubjektive objektiv-göttliche Moment des sich in den Werken der Schöpfung zeigenden Offenbarseins Gottes. Dieses Sichtbarvor-Augen-gestellt-Sein ist durch die Sünde nicht zerstört. Diese Erkennbarkeit ermöglicht es jedermann, den Schöpfer in seiner göttlichen Majestät (Rom. 1,20), in seiner Gerechtigkeit und Weisheit (Rom.2,15; l.Kor. 1,21) zu erkennen. b) Zur Frage der „natürlichen"
Gotteserkenntnis
Aber führt diese objektive Erkennbarkeit auch wirklich zu solcher Erkenntnis? Hier geht es nun nicht mehr um die objektive Wirklichkeit und kannt, „wo Gott als der Schöpfer und der Erlöser im Glauben durch sein Wort erkannt wird", also in der geschichtlichen Christusoffenbarung (GuO, S. 204 f. 110). Aber entscheidend für unsere Frage nach der tatsächlichen Wirklichkeit der Schöpfungsoffenbarung ist doch dies, daß die Ordnungen selbst „Gegenstand rein vernünftiger Erkenntnis" sind. „Etwas vom Lebenssinn dieser Ordnungen weiß auch der primitivste Heide." In ihnen vernimmt „darum auch der Mensch, der Gott nicht kennt, etwas vom Willen Gottes" (GuO, S. 204); vgl. zur Frage der Gesetzeserkenntnis und der Schöpfungsordnungen auch MiW, S. 544 ff. Zum Problem der lex naturae bei Brunner vgl. insbesondere I. H. Pohl, Das Problem des Naturrechts bei Brunner, 1963; H. G. Hubbeling, Natuur en genade bij E. Brunner, 1956. 37 Vgl. zu dieser Unterscheidung von objektiver Erkennbarkeit und subjektiver Erkenntnis, die von Brunner vor allem im Begriff einer objektiven und subjektiven theologia naturalis durchgeführt wird, N u G , S. 13 ff. 17. 23 f. 29. 31 f. 2 V. 4 7 i . k . 50 u. 53; OuV, S. 83 f.; MiW, S. 541. 544 f.
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die von daher sich ergebende Erkenntnismöglichkeit, sondern um die subjektive Verwirklichung der Schöpfungsoffenbarung zur allgemeinen Gotteserkenntnis. Und hier tritt nun der Bruch ein, der es nicht zu einer wahren Gotteserkenntnis kommen läßt. Die Sünde verhindert, daß Gott wirklich als Gott erkannt und geehrt wird. Sie stört den Erkenntniszusammenhang, indem in ihr die Wahrheit verkehrt wird. Brunner betont, wie wir sahen, daß die Erkennbarkeit Gottes durch sie nicht zerstört wird; aber auch sie wird „gestört", zumindest im Bereich der Schöpfungsordnungen, da die Grundordnungen des Lebens unter der Herrschaft der Sünde den Schöpfungswillen Gottes nicht mehr ungebrochen vergegenwärtigen. Die Sünde macht den Menschen unglaublicherweise „blind". Sie „verdunkelt" und „trübt" das Erkennen des Menschen derart, „daß er an die Stelle Gottes Götter ,erkennt' oder ,phantasiert'", „daß er Gottes Schöpfungsoffenbarung in Götterbilder umlügt" 38 . Die Frage, ob der natürliche Mensch nun wirklich Gott erkennt oder nicht, ist damit allerdings noch keineswegs so deutlich beantwortet, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die hier verwandten Begriffe „blind", „verdunkelt", „getrübt" schaffen eher neue Unklarheit. Eindeutig ist nur der Begriff der Blindheit. E r müßte eigentlich besagen, daß der Mensch nichts von Gott erkennt, weiß und sieht. Aber gerade diese Eindeutigkeit heben die beiden anderen Begriffe wieder auf. Ein getrübtes Erkennen ist immer nodi ein gewisses Erkennen! „Irgendwie" wird hier doch noch Gott 3 8 N u G , S. 12. 14 f. Brunner bezieht sich mit diesen nicht unbedenklichen bildhaften Formulierungen auf Calvin (vgl. dazu N u G , S. 24 ff. 2 5 2 f.). Calvin spricht dem menschlichen Geist durch natürliches Ahnvermögen eine Art Empfindung für die Gottheit zu, die im Herzen unzerstörbar „eingemeißelt" ist, und die von G o t t stets aufgefrischt wird. D i e „Natur selbst" verhindert also das Vergessen, und man muß schon aus dem Gesetz der Schöpfung herausgefallen sein, wenn nicht alle Gedanken und alles Tun darauf gerichtet sind, G o t t zu erkennen (Inst. I 3 , 1 — 3 ) . G o t t hat sich auch im ganzen Bau der Welt derart offenbart und bietet sich täglich offen dar, daß die Menschen ihre Augen nicht öffnen können, ohne gezwungen zu sein, ihn, bzw. die Umrisse seines Wesens, zu erblicken, seine Herrlichkeit, seine Weisheit, seine Vorsehung, die Zeichen seiner Barmherzigkeit und des vergeltenden Gerichts (Inst. I 5 , I f f . 6 , 1 ) . Aber die Menschen ergreifen G o t t nicht, wie er sich offenbart, sondern bilden ihn sich ein, wie sie ihn sich selbst in ihrer Unbesonnenheit, in ihrem fleischlichen Stumpfsinn zurechtmachen. Wie klar audi G o t t sich selbst und seine ewige Herrschaft im Spiegel seiner Werke uns vergegenwärtigt — seine klaren Bezeugungen kommen infolge unseres Stumpfsinns nicht zur Geltung. Das menschliche Denken erweist sich im Hinblick auf die Erkenntnis Gottes als „mehr als abgestumpft und blind" (plusquam hebetes ac caecas). A u f dem Wege natürlicher Erkenntnis erkennen die Menschen nichts Gewisses, nichts Festes, nichts Deutliches, sondern sie sind in verworrenen Begriffen befangen, so daß sie den unbekannten G o t t anbeten. All die brennenden Fackeln im Bau der Welt, die die Herrlichkeit des Schöpfers illustrieren sollen, leuchten uns also vergeblich (Inst. I 4 , 1 ; 5 , 1 1 . 1 2 . 1 4 ) . So gipfelt der Gedankengang in der Erkenntnis, die schon seine Voraussetzung w a r : U t ad Deum creatorem quis perveniat, opus esse Scriptura duce et magistra (Inst. I 6 , 1 ) .
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erkannt. Audi wenn dies keine heilsame Gotteserkenntnis ist, so möchte Brunner doch keinesfalls sagen, daß die cognitio legalis „überhaupt keine Gotteserkenntnis" sei. Diese Auffassung schimmert auch noch durch die ganz anders akzentuierte Formulierung hindurch, daß „nur der, dem durch Christus der Star gestochen ist", die Schöpfungsoffenbarung „in ihrer ganzen Größe erkennen kann" 39 . Brunner hat zwar diese Formulierung in der zweiten Auflage „unglücklich" genannt und sie korrigiert 40 . Aber sie verrät dodi wohl, daß er zunächst noch unbefangen von einer zwar depravierten, aber doch noch „irgendwie" wirklichen Gotteserkenntnis sprechen konnte. Das ist zweifellos schon eine wesentliche Modifikation gegenüber einem „ungebrochenen" Verständnis der allgemeinen Offenbarung, das der natürlichen Erkenntnisfähigkeit keinerlei Grenzen setzt und davon ausgeht, daß Gott hier so erkannt wird, wie er sich kundtut. Dies verneint Brunner. Aber er versucht der.noch, der Tatsache Ausdruck zu geben, daß die Schöpfungsoffenbarung außerhalb der Christusoffenbarung zumindest dies bewirkt, daß man um Gott weiß, auch wenn man ihn verkennt. Nicht zufällig erwähnt Brunner, daß Luther gelegentlich den Heiden durchaus die Erkenntnis des Schöpfergottes zusprach und daß auch Cal39 NuG, S. 14; vgl. auch S. 29, wo er im Zusammenhang der Deutung Calvins von der „besseren Erkenntnis" spricht, die wir in Christus haben. Freilich erklärt Brunner auch hier diese als die wahre Erkenntnis im Gegensatz zu jener immer durch Unwahrheit verkehrten. 40 NuG 2 , S. 46 h. K.Barth glaubte Brunner so verstehen zu müssen: „Die in Frage stehende Starkrankheit ist nach seiner Ansicht zwar vorhanden und sehr weit, aber doch nicht bis zur völligen Erblindung fortgeschritten. Wirkliche Erkenntnis Gottes aus der Schöpfung findet also, wenn audi nur ,irgendwie', wenn auch nicht ,in ihrer ganzen Größe' tatsächlich auch ohne Offenbarung statt . . . Nein, Brunner meint leider mit dem aus der Schöpfung ,irgendwie' erkennbaren und erkannten Gott schon den einen wahren Gott, den dreieinigen, Schöpfer Himmels und der Erden, der uns rechtfertigt in Christus und heiligt durch seinen Geist. Er ist es, der, wenn auch durch die Sünde gestört und getrübt und verdunkelt, wenn auch .umgelogen' in Götterbilder (S. 14), tatsächlich auch ohne Christus, auch ohne den Heiligen Geist von jedem Menschen erkannt wird." Barths Kritik trifft zwar eine schwache Stelle Brunners, sie stößt jedoch ins Leere, wenn er fragt: „Ist denn Götzendienst nach ihm nur eine etwas unvollkommene Vorform des Dienstes des wahren Gottes? Besteht denn die Funktion der Offenbarung Gottes in Christus nur darin, uns innerhalb der umfassenden Wirklichkeit göttlicher Offenbarung von jener ersten auf diese zweite Stufe zu führen?" Erst redit an der Sache vorbei gehen Barths in diesem Zusammenhang gestellten Fragen, ob diese natürliche Gotteserkenntnis nicht doch auch ^ei/bringend sei, ob man hier nicht die Möglichkeit einer zumindest negativen Vorbereitung auf die Gotteserkenntnis in Christus zugeben müsse, in der der natürliche Mensch seinem Retter nun doch „mit einigen gar nicht üblen Schwimmbewegungen zu Hilfe zu kommen in der Lage ist?!" (Nein, S. 18 f. 24). — P.Barth sieht gerade in dem Bild vom Starstechen mit seiner Konsequenz, daß nun die Sdiöpfungsoffenbarung „in ihrer ganzen Größe" erkannt werden kann, „eine der nicht unwesentlichen Differenzen zwischen Calvin und Brunner" (Das Problem der natürlichen Theologie bei Calvin, S. 9).
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vin beiläufig dem Gedanken Raum läßt, daß einzelne Fromme unter den Heiden doch den wahren Gott erkannt haben möchten41. Wichtiger noch als dieser zurückhaltende Hinweis auf diese „irgendwie wirkliche" natürliche Gotteserkenntnis, die den Menschen unentschuldbar macht und ihn zugleich schuldig spricht, ist nun freilich die Feststellung, daß der natürliche Mensch „jedenfalls nicht imstande ist, den Gott zu erkennen, der sich ihm in Jesus Christus neu, nach seinem wahren und auch in der Schöpfung teilweise verborgenen Wesen erschließt". Hier liegt für Brunner der Angelpunkt, an dem das Verhältnis der Schöpfungsoffenbarung und der natürlichen Gotteserkenntnis zur Christusoffenbarung seine entscheidende Klärung erfährt. Wie immer die tatsächliche natürliche Gotteserkenntnis in ihrem „Irgendwie" beschaffen sein mag: Sie erkennt nicht den Gott, der sich in Jesus Christus offenbart. Sie erkennt Gott nicht in seinem wahren Wesen. Damit ist wiederum klargestellt, daß sie nicht auf die Christusoffenbarung hinführt, sich nicht in ihr vollendet und auch nicht neben ihr ein eigenes Recht behält. Sie ist zwar faktisch ein Reflex der Wahrheit Gottes, qualitativ jedoch Unwahrheit, Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf, Verkehrung Gottes zum Götzen. Ihr „Schöpfer"-Gott ist „nur ein götzenhafter Schatten des wahren Gottes". Es kann von ihr aus nur die Umkehr von der eigenen Scheinwahrheit zu der in Christus offenbar gewordenen Wahrheit Gottes geben 42 . Das, was Brunner im Zusammenhang der Anknüpfungsfrage 41 NuG, S. 30. 2 46h. Brunner distanziert sidi freilich von dieser Auffassung. Bei Luther handle es sich hier nur um ein Rudiment scholastischer Tradition, und auch Calvin äußere den Gedanken nur im Vorbeigehen. Im übrigen gibt Brunner nun zu verstehen, er sehe deutlicher als Calvin die Zweideutigkeit aller Schöpfungsoffenbarung und sei hinsichtlich eines möglichen Gottesbeweises viel agnostischer (NuG 2 , S. 56 ee). Bezeichnenderweise findet sich diese distanzierende Stellungnahme erst in der 2. Auflage von N u G ! Aber vorbereitet ist auch sie schon durch frühere Äußerungen, vgl. seine (Barth hierin zustimmende!) Kritik an Gogarten: „Auf der anderen Seite aber ist es freilich wahr, daß Gogarten, in seiner berechtigten Geltendmachung des Schöpfungsgedankens und der Sdiöpfungsordnungen für die Ethik, der Verborgenheit der Schöpfung und der Bezogenheit des Gläubigen auf das kommende Reich Gottes zu wenig Rechnung t r ä g t . . ( G u O , S. 594). Nodi deutlicher GuO, S. 100: „Darum können wir das Gute oder den Willen Gottes von uns aus nicht erkennen. Wohl manifestiert sich Gott als der unbegreiflich Mächtige und Weise in den Werken seiner Schöpfung . . . Aber so wie wir sind, und so wie wir sehen, genügt diese Manifestation nicht, um uns den Willen der geheimnisvollen Macht, die in der Natur waltet, zu offenbaren. Die Natur ist . . . zweideutig, gütig und furchtbar . . . Aber audi die menschliche Natur, der menschliche Geist und sein innerstes, das Gewissen, kennt Gottes Wille nicht. Wohl weiß jeder Mensch .etwas vom Göttlichen', wohl macht jeder den Unterschied zwischen gut und böse . . . Aber dieses Wissen ist immer zugleich ein Nichtwissen, ein Mißverständnis." 42 NuG, S. 14. 2 46e. h. In seiner Darstellung der Auffassung Calvins, die ja als Legitimation für seine eigene Auffassung gedacht ist und darum auch zur Interpretation herangezogen werden kann, weist Brunner ausdrücklich darauf hin, daß diejenige Erkenntnis Gottes in der Natur, deren der Mensch abgesehen von der Offenbarung in der
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über die Funktion des natürlichen Gottesbewußtseins sagte, wird durch dieses kritische Urteil nicht aufgehoben, sondern in seiner negativen Qualifikation erneut bestätigt. Für den Christen, für den, der Gott in seiner geschichtlichen Offenbarung im Glauben erkennt, hat diese subjektive natürliche „Gotteserkenntnis" keinen praktischen Wert. Sie ist „außer Kraft gesetzt". Aber im Hinblidk auf die Verkündigungssituation und den Vorgang des Glaubens als notwendiger Ubergang zu einem kritischen Selbstverständnis behält sie ihre Funktion als Wahrzeichen der Ansprechbarkeit, der Verantwortlichkeit und der Sündverfallenheit 43 . c) Das rechte Erkennen der
Schöpfungsoffenbarung
Ganz anders gestaltet sich hingegen das Verhältnis der Schöpfungsoffenbarung im ursprünglichen, „objektiven" Sinn zur Christusoffenbarung. Wenn Brunner davon sprach, daß es zweierlei Offenbarung gebe, dann meinte er ja das Nebeneinander dieser beiden Offenbarungen. Beide stehen nicht beziehungslos nebeneinander, ist es doch der gleiche Gott, der sich in ihnen offenbart. Das begründet ihren inneren Zusammenhang. Allerdings wirft das Urteil über das Scheitern der natürlichen Gotteserkenntnis die doppelte Frage auf, ob die Schöpfungsoffenbarung als solche überhaupt je ihr Ziel erreicht, zur wirklichen Erkenntnis Gottes zu führen, ob ihr Offenbarungssinn ihr also nach wie vor eine selbständige Bedeutung verleiht, oder ob sie nicht durch die Christusoffenbarung erst recht ihre Bedeutung verliert. Ist es von ihr her überhaupt noch sinnvoll, von einer eigenständigen Bedeutung der Schöpfungsoffenbarung zu reden? Brunner spricht ihr diese Bedeutung zu: Gerade im Glauben, gerade „auf Grund der Offenbarung in Jesus Christus, werden wir nicht umhin können, von einer doppelten Offenbarung zu sprechen" 44 . Die Schöpfungsoffenbarung behält den Rang einer „ersten" Offenbarung und einer besonderen Bezeugung Gottes — allerdings unter der Voraussetzung des Christusglaubens! Darin liegt die zweite entscheidende Modifikation gegenüber einer Auffassung der allgemeinen Offenbarung, die ihren Sinn gerade darin sieht, daß sie außerhalb des Glaubens, also unabhängig von der Christusoffenbarung, auf natürliche Weise erkannt wird und hier auch ihr Ziel Schrift oder in Jesus Christus fähig ist (also die subjektive natürliche Gotteserkenntnis), für uns „keinen praktischen Wert" hat. Sie ist als „nicht nur unvollkommene, sondern audi immer durch Unwahrheit verkehrte" Erkenntnis „ganz und gar überflüssig und außer Kraft gesetzt durch die bessere Erkenntnis, die wir in Christus haben" (NuG, S. 29). 43 Vgl. dazu NuG 2 , S. Iff. 44 N u G , S. 14. Brunner betont gegenüber Barth: „Man darf die Zweiheit der Offenbarung Gottes in der Schöpfung und in Jesus Christus nicht dadurdi beiseite schaffen, daß man sagt: die Schöpfung werde ja erst in Christus erkannt, wie Barth dies seit der Schrift über den Heiligen Geist so oft getan hat. Vielmehr: durch Jesus
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erreicht. Allerdings wird es für Brunner nun schwierig, den im Begriff der „Natur"-Offenbarung liegenden ursprünglichen Sinn einer wirklichen natürlichen, „mit den Augen des Verstandes" erkennbaren Offenbarung Gottes beizubehalten. Denn nur der, „dem durch Christus der Star gestochen ist", erkennt sie ja „in ihrer ganzen Größe", sieht sie „erst klar", läßt sie erst „recht gelten". Christus ist es, der uns „die wahre Erkenntnis Gottes in seinem Werk zurückgibt" 45 . Das besagt natürlich nicht, wie P. Barth allzu phantasievoll folgerte: „Der nach Brunner Stargestochene . . . ist selber ein trefflich Sehender geworden, der, ohne sich dauernd nachhelfen lassen zu müssen, erhobenen Blickes nun den Schöpfer und seine Ordnungen aus dem Kosmos ablesen kann; und was er da in wiedergewonnener Selbständigkeit in den Blättern der Offenbarung Gottes in der Natur liest, das wird ihm ,eine wichtige Ergänzung zur Erkenntnis Gottes in der Schrift'." 46 Nein, diese Art Selbständigkeit meint Brunner gerade nicht. Das Sehen ist ein im Glauben begründetes, ein durch den Glauben eröffnetes und nur von ihm her jeweils mögliches. In seinen der zweiten Auflage beigefügten Erläuterungen verschärft Brunner noch dieses christologische principium cognoscendi: „nur diejenigen, denen Gott in Jesus Christus sein wahres Wesen zeigt, können nunmehr auch in den Werken der Schöpfung den wahren Schöpfer erkennen . . . Zur wahren Erkenntnis der ersten Offenbarung kommt man also nur durch die zweite."" Christus erkennen wir, daß sich G o t t uns schon vorher offenbart hat, daß wir aber diese Offenbarung nicht recht gelten ließen" ( N u G , S. 14 Anm. 1). Eine ähnliche K r i t i k an Barth findet sich sdion in G u O , wo Brunner sich gegenüber seinen „theologischen Freunden, (!) K . B a r t h auf der einen, F. Gogarten auf der anderen Seite", und ihren „oft etwas peinlich zum Ausdruck kommenden Differenzen" (!) abzugrenzen sucht: „Wir erkennen den Schöpfer nicht aus der Welt, sondern aus der Offenbarung; diese These (sc. Barths) ist richtig und gut reformatorisch. Aber wir erkennen durch Christus den Schöpfer auch in der Welt — dieser Satz, der den Inhalt der ersten Kapitel der Institutio Calvins bildet, fällt bei Barth unter den Tisch" (a.a.O., S. 5 9 4 ) ; zur K r i t i k an Gogarten siehe oben S. 2 3 4 Anm. 41. 4 5 N u G , S. 1 4 . 2 9 ; Das B i l d vom Starstechen gebraucht Brunner bereits in „Theologie und Kirche", Z Z 8 1930, S. 399 Anm. 2, siehe S. 242 Anm. 65. 4 6 Das Problem der natürlichen Theologie bei Calvin, S. 9 f.; vgl. dazu auch K . Barth, Nein, S . 4 4 : „Es ist richtig, daß die Erkenntnis Gottes in Christus nach Calvin eine wirkliche Erkenntnis des wahren Gottes auch in der Schöpfung in sich schließt. In sich schließt! Also nicht, wie Brunner es darstellt, als eine zweite, relativ selbständige E r kenntnis aus sich entläßt, so daß aus dem Kreis nun nachträglich dodi eine Ellipse würde — als ob unsere Vernunft nach einmal geschehener Erleuchtung nun doch audi von sich aus (per se) sehend geworden w ä r e ! " 47 NuG2, S. 4 6 h (von mir hervorgehoben); vgl. audi N u G 2 , S. I V : „Erst von Christus aus — fidei oculo, sagt Calvin — erkennen wir richtig, was uns die Werke der Schöpfung, vom Schöpfer mit Offenbarungsmächtigkeit ausgestattet, von ihm sagen sollen." Das gilt ebenso von der Erkenntnis der Sdiöpfungs- und Erhaltungsgnade bzw. der Sdiöpfungs- und Erhaltungsordnungen: „es ist erst im Lichte der Christusoffenbarung möglich, von der Erhaltungsgnade richtig zu reden . . . Im Glauben an den
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Hier ist nun endgültig der letzte Zweifel über die eventuell dodi noch zugestandene Möglichkeit eines „irgendwie" wahren Erkennens beseitigt. Die Erkenntnis Gottes des Schöpfers geschieht allein „im Zusammenhang der christlichen Gotteserkenntnis", die Lehre von der Schöpfungsoffenbarung hat ihren Sinn nur als Auslegung des ersten Artikels, sie ist also „kein außerhalb des Credo stehender Vorbau" 4 8 . Es ist wiederum nicht unwahrscheinlich, daß Brunner sich erst durch Barths Kritik zu dieser akzentuierten präzisen christologischen Verdeutlichung, die in den Erläuterungen zur 2. Auflage zur beherrschenden Tendenz wird, gedrängt sah 49 . Aber sie macht doch nur in letzter Konsequenz bewußt, was schon in der 1. Auflage als Fazit feststand: „Die rechte natürliche Gotteserkenntnis hat nur der Christ, d. h. der Mensch, der zugleich in der Christusoffenbarung drinsteht." 50 Ob Brunner recht daran tat, hier noch von einer natürlichen Gotteserkenntnis zu sprechen, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Er hätte sich sicher manche MißVerständnisse erspart, wenn er die prinzipielle christologische Orientierung seiner Interpretation durch den bewußten Verzicht auf diesen Begriff unterstrichen hätte. Es geht bei diesem Erkennen Gottes aus der Natur eben nicht mehr um ein natürliches Erkennen im Sinne der rationalen theologia naturalis, sondern um ein glaubendes Erkennen 51 . Verständlich wird die Beibehaltung dieses Begriffs nur von seinem objektiven, „naturbezogenen" Inhalt, nicht von seiner subjektiven Christus erkennen wir, daß wir, schon bevor wir diese, die erlösende Gnade kennen lernten, von der Gnade Gottes gelebt haben, ohne sie recht zu erkennen . . ( N u G , S. 16). Ebenso verwirklichen sich die von G o t t gegebenen Ordnungen zwar auf natürliche Weise und sind vom natürlichen Menschen als Notwendigkeiten und Güter zu erkennen. Aber „sie können nur vom Glauben aus nach ihrem Sinn vollkommen verstanden und darum auch dem Willen des Stifters gemäß verwirklicht werden" (S. 17). « N u G 2 , S. I V . 4 9 K . Leeses Charakterisierung der theologischen Absicht Brunners und seines Verhältnisses zu Barth (in: Recht und Grenze der natürlichen Religion, 1954) soll in diesem Zusammenhang erwähnt werden, weil sie symptomatisch ist für die verständnislose, oberflächlich-karikierende Art, mit der hier ohne ernsthafte Prüfung des Sachverhalts Urteile gefällt wurden: „Und so sehen wir denn auch Brunner bei seinem Unternehmen, die natürliche Theologie zu rehabilitieren, vornehmlich darauf bedacht, Dedcung hinter dem ,Wort Gottes* und den Aussprüchen der Reformation zu nehmen, um den Schein zu vermeiden, als sei er auf .thomistischen' oder .neuprotestantischen' Schleichwegen (S. 22). Es gilt, an dem theologischen Scharfschützen Barth mit der rechten .Parole' vorbeizukommen" (a.a.O., S. 45 f.). 5 0 N u G , S. 15. 5 1 J . Hessen, Griechische oder Biblische Theologie? 1962 2 , protestiert denn auch gegen die Hereinnahme des Begriffs der natürlichen Gotteserkenntnis bzw. der natürlichen Theologie in die „Glaubenstheologie", in der er als ein „Teilgebiet der theologia revelata" erscheine. Eine solche Auffassung der theologia naturalis bedeute eine U m prägung des Begriffs, die nicht geduldet werden könne. „,Theologia naturalis' ist von jeher als Gegensatz zu ,Theologia revelata' verstanden worden. An dieser Tatsache muß der Versuch einer Umprägung ihres Begriffs scheitern" (S. 30 f.).
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Verwirklichungsform her. Brunner will damit sagen: Hier geschieht das der Naturoffenbarung wirklich entsprechende Erkennen, hier verwirklicht sich die redite Erkenntnis des Schöpfers in seinen Werken. Unklar bleibt dann aber immer noch, inwiefern dabei der Schöpfungsoffenbarung eine eigene offenbarende Funktion zukommt. Wenn Brunner seine These, daß man zur wahren Erkenntnis der ersten Offenbarung nur durch die zweite komme, dahingehend erläutert, dies hindere nicht, „daß sie nunmehr als eine erste erkannt wird und nach ihrem eigenen Wert zur Geltung kommt" 52 , dann erscheint diese verwegene Dialektik zunächst noch recht undurchsichtig, wenn nicht gar widersprüchlich. Es ist ja ein grundlegender Unterschied, ob man die Naturoffenbarung eine erste nennt, weil sie sich vor und unabhängig von der geschichtlichen als solche erweist, oder ob man sie erst nachträglich auf einem ganz anderen Wege als eine „erste" erkennt. Erkenntnismäßig wird sie so nun einmal zu einer zweiten, wenn man konsequent daran festhält, daß in der subjektivnatürlichen Gotteserkenntnis kein wirkliches Erkennen geschieht, wenn man also von ihr als einer „nur dem Christen tatsächlich möglichen" Gotteserkenntnis aus der Natur spricht53. Ja, es fragt sich, ob man sie dann ernsthaft auch nur eine zweite neben der geschichtlichen nennen darf, wenn sie doch nur durch die Christusoffenbarung erkannt wird und Christus es ist, der uns „die wahre Erkenntnis Gottes in seinem Werk zurückgibt"54. Man sieht, wie schwierig es von einer konsequent durchgehaltenen christologischen Orientierung aus wird, weiterhin ein eigenes Recht der Naturoffenbarung als einer wirklichen Offenbarung zu behaupten55. Dennoch möchte Brunner an ihm festhalten. Worin soll es bestehen? Vor allem im Zusammenhang seiner Calvinexegese zeigt sich etwas deutlicher, was er damit meint. Zunächst ganz schlicht dies, daß das Lob Gottes aus der Schöpfung erklingen soll und gerade der Glaubende dazu angehalten ist. Gott erwartet von uns, daß wir ihn in seinen Werken erkennen und ehren. Dazu hat er uns in diesem „Theater" versammelt, daß wir darin seine Herrlichkeit sehen, erkennen und ehren. Zwar erkennen wir hier nicht Gottes Herz, aber doch seine „Hände und Füße", seine Allmacht, seine Wahrheit, seine Güte und seine vergeltende Gerechtigkeit56. Daß dies 52
NuG 2 , S . 4 6 h .
54
NuG 2 ,
53
NuG 2 , 51 aa.
S. 29.
K. Leese macht zumindest dieses Dilemma deutlich, wenn er im Hinblick auf den ähnlichen schöpfungstheologischen Gedankengang F. K. Schumanns bemerkt : „Wo der exklusive Christozentrismus in Geltung steht, muß die natürliche Religion außer Kurs gesetzt werden. Wo die natürliche Religion in ihrer positiven Bedeutsamkeit gewürdigt wird, muß der exklusive Christozentrismus abdanken" (a.a.O., S. 69 f.). 55
5 9 NuG, S. 1 2 . 2 5 . Die von Brunner mehrfach angeführte wichtige Äußerung Calvins findet sidi im Argumentum in Genesin C R 2 3 , 9 ff. Calvin betont darin ausdrücklich,
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alles für den Christen nicht gleichgültig sein kann, leuchtet ein. Doch die entscheidende Frage, wie es zu dieser Erkenntnis kommt, ob ihm dabei wirklich die Schöpfung zur Offenbarung wird oder nur zur besonderen Illustration dessen, was er ohnehin schon im Glauben — und allein im Glauben! — weiß, ist damit noch immer nicht befriedigend geklärt, mit anderen Worten: Das Verhältnis dieser Schöpfungs-„Offenbarung" zur Schriftoffenbarung bedarf nodi einer genaueren Bestimmung. Im Anschluß an Calvin erklärt Brunner, daß die Schrift erst den Blick für die Naturoffenbarung öffnet. Sie dient gewissermaßen als Brille, die das Dunkel durchsichtig macht, uns den wahren Gott auch in der Schöpfung deutlich zeigt und so unser sonst so verworrenes Wissen um Gott in die richtige Ordnung bringt 57 . Durch die Schrift werden wir also recht auf die natürliche Offenbarung „hingewiesen", erst durch sie „kommt sie recht zur Geltung". Brunner versteht dieses die Augen öffnende und verdeutlichende Hinweisen nun allerdings nicht so, daß sie in ihrem eigenen Zeugnis von Gott das Zeugnis der Schöpfung gänzlich vorwegnimmt oder überflüssig macht 58 . Im Gegenteil: Nun erst kommt die Schöpfung selbst zu Wort, nun wird ihre Sprache verstanden. Nun zeigt sie auf ihre Weise das Wesen und Walten Gottes. Sie wird zu einer neuen, zweiten Quelle der Gotteserkenntnis, aufgetan und nutzbar gemacht durch die Schrift, aber daß audi hier nicht anders als durch den Glauben erkannt wird, daß also die Schrift zum Führer und Lehrer werden muß. „Denn Christus ist das Bild, in dem uns Gott nicht nur sein Herz sichtbar macht, sondern auch Hände und Füße. Unter dem Herzen verstehe idi jene Liebe, durch die er uns in Christus umfaßt hat, unter den Händen und Füßen verstehe ich die Werke, die vor unsern Augen liegen. Sobald wir von Christus weichen, ist nichts so groß oder klein, daß wir nicht darüber in Wahnvorstellungen geraten müßten." — Vgl. dazu P. Barth, Das Problem der natürlichen Theologie bei Calvin, S. 6 ff. 5 7 NuG, S. 2 5 . 2 5 1 a a . Zum Bild der „Brille", das P.Barth gerade gegen Brunner ins Feld führt (a.a.O., S. 9 f., vgl. NuG 2 , S. 54), vgl. Inst. I 6,1. Brunner deutet sie als „Linse", d. h. „als Vergrößerungsglas für die natürliche Offenbarung" (NuG, S. 25). Genaugenommen ist mit diesem Bild, das man nicht überfordern sollte, nicht die Sehfähigkeit überhaupt ausgeschlossen. Einem Blinden hilft audi eine Brille nicht. Sie dient dem besseren, deutlicheren Sehen — Ausdrücke, die bei Brunner ja audi begegnen, die aber auch wieder in einer gewissen Spannung zu der Aussage stehen, daß die Schrift den Blick „erst öffnet". 5 8 Darauf läuft praktisch das Urteil E. Sdilinks hinaus: „Die Offenbarung Gottes in seinen Werken gibt allerdings dem Glaubenden nichts zu erkennen, was er nicht durch Gottes Wort erkannt hätte . . . Sie bringt nicht einmal die Konkretisierung des Wortes Gottes, etwa in der Weise, daß wir Gottes konkrete Weisungen aus den konkreten Ereignissen der Natur und der Geschichte um uns her ablesen könnten . . . " Sie ist dem „Hören eines Echos" zu vergleichen, insofern „der Glaubende hier inhaltlich nidits hört, was über die Offenbarung des Schöpfers im Wort hinausginge" (Die Offenbarung Gottes in seinen Werken und die Ablehnung der natürlichen Theologie, ThBl. 20 1941, Sp. 9).
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daraufhin eine Quelle besonderer Erkenntnis 59 . Sie wird und bleibt so „eine wichtige Ergänzung zur Erkenntnis Gottes in der Schrift" 60 ! Darin hat sie ihren eigenen Wert, der es erlaubt, audi weiterhin von einer SchöpfungsOffenbarung zu reden. Diese „Ergänzung" beruht, wie aus dem Gesagten deutlich wird, auf dem allein im Glauben eröffneten Sehen, nicht auf dem natürlichen Erkennen. Sie darf daher mit dem Ergänzungsverhältnis von vernünftiger und geoffenbarter Gotteserkenntnis, wie es der Thomismus lehrt, nicht verwechselt werden. So wenig auch der konkrete Inhalt dieser Ergänzung von Brunner besonders verdeutlicht und genutzt wird, so entschieden betont er hier gleichwohl, daß Gott uns in seiner Werkoffenbarung „offenbar etwas schenken will, was wir sonst, auch als schriftgläubige Christen, nicht hätten" 6 1 ! Die hier verhandelten Fragen der Schöpfungsoffenbarung, die, wie Brunner zugibt, durchaus einer weiteren theologischen Verarbeitung bedürftig sind, greift er einige Jahre später erneut auf in seinem Buch „Offenbarung und Vernunft", das den Ertrag seiner langen, diesem Problem gewidmeten Gedankenarbeit zusammenfaßt und zur weiteren Verdeutlichung und Klärung des zuletzt erörterten Sachverhalts heranzuziehen ist. Natürlich kann eine solche bereits aus der kritischen Diskussion erwachsene Darstellung nicht ohne weiteres als die authentische Interpretation der in „Natur und Gnade" vorgetragenen Auffassung in Anspruch genommen werden. Wer von der ausgereifteren Formulierung ausgeht, wird die innere Bewegung und Entwicklung der Gedanken, die 5 9 „Es ist unzweifelhaft: durch die Schrift wird uns eine zweite, sozusagen verschüttete, Quelle der Gotteserkenntnis aufgetan und nutzbar gemacht" (NuG 2 , S. 54, im Zusammenhang der Calvinexegese). Über dieser Formulierung darf allerdings die am Anfang stehende prinzipielle Feststellung nicht übersehen werden: „Es geht darum, daß die Botschaft der Kirdie nicht zwei Quellen und Normen hat, etwa die Offenbarung und die Vernunft, oder das Wort Gottes und die Geschichte, und daß das kirchliche oder christliche Handeln nicht zwei Normen hat, etwa das Gebot und die Ordnungen" (NuG, S. 6). Zu erinnern wäre hier auch an die Bemerkung im „Mittler", „ . . . daß es sich hier nicht um eine Addition handeln kann. Das Verhältnis zwischen allgemeiner und besonderer Offenbarung kann niemals das einer Ergänzung sein" (S. 13). eo NuG, S.25 (von mir hervorgehoben). e l NuG 2 , S. 53. In OuV drückt sich Brunner vorsichtiger aus. Er vermeidet hier den mißverständlichen Begriff der Ergänzung (vgl. Barths Kritik in Nein, S. 42 ff.) und betont, daß wir „auf das Geschehnis der Offenbarung als einzige Quelle unseres Verstehens angewiesen sind" (S. 73). Statt dessen spricht er von der „Bedeutung", die der Schöpfungsoffenbarung auch nach der Christusoffenbarung zukommt: „Der Mensch, dem durch das besondere geschichtliche Wort Gottes die Augen aufgetan wurden, vermag nun auch wieder das zu sehen, was Gott uns in seiner Schöpfungsoffenbarung zeigt" (S. 92). Dies allerdings darf, wie Brunner nun unter dem Eindruck der inzwischen laut gewordenen Verdächtigungen hervorhebt, nicht so verstanden werden, als ginge es hier um einen anderen Inhalt der Verkündigung. Die Schöpfungsoffenbarung ist als ein integrierender Bestandteil der Botschaft von der rettenden Gnade zu verstehen.
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feinen Nuancen, die stillschweigenden Korrekturen, Modifikationen und Umakzentuierungen kaum wahrnehmen. Gerade ihre Herausarbeitung bzw. der Nachweis der inneren Kontinuität ermöglicht jedoch erst ein Urteil darüber, ob Brunner sich mit Recht lediglich mißverstanden fühlte, oder ob er sich audi unter dem Eindruck der Kritik zu Modifikationen genötigt sah, die nicht mehr bloße Verdeutlichungen, sondern Korrekturen, Retraktationen sind und damit die sachliche Berechtigung der Kritik bestätigen. Eine gewisse Modifikation, zumindest die Tendenz zu einer stärkeren Akzentuierung des christologischen Kriteriums, stellten wir bereits in den Erläuterungen zur 2. Auflage von „Natur und Gnade" fest, obgleich Brunner auch hier gegenüber der 1. Auflage betont, daß er sachlich an seinen Darlegungen nichts zurückzunehmen finde62. Stärker akzentuiert erscheint hier auch der Hinweis auf das Schriftprinzip und vor allem die Zuspitzung auf den letztlich entscheidenden Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit 63 . Das Vorwort zur 2. Auflage, das bereits wesentliche Aussagen des Kapitels über die Schöpfungsoffenbarung in „Offenbarung und Vernunft" vorwegnimmt, versucht gewissermaßen, nachträglich noch einmal die richtige Perspektive für die ganze Fragestellung aufzuzeigen und sie ins rechte Licht zu setzen. Es ist darin schon nicht mehr ganz frei von dem apologetischen Motiv, sie gegenüber dem frontalen Angriff Barths unbedingt als schriftgemäß, als theologisch legitim und notwendig zu behaupten. Daß diese Gesichtspunkte für Brunner jedoch nicht erst jetzt in der Verteidigungsposition ihre Bedeutsamkeit gewannen, ist durch die bisherige Darstellung bereits erwiesen, und man wird ihm darin zustimmen müssen, daß er die Grundlinie seiner Fragestellung insofern durchgehalten hat, als er immer an der Doppelaussage festhielt, „daß 62 NuG 2 , S . V . Ebenso versichert Brunner in der 1. Auflage: „Ich wüßte aber nicht, was ich Wesentliches von dem zurückzunehmen hätte, was ich in der ersten Auflage von ,Der Mittler' über natürliche Gotteserkenntnis geschrieben habe" (S.21); vgl. dazu auch MiW, S. 530. M Auch in der 1. Auflage von N u G spielt der Begriff der Verantwortlichkeit, wie wir sahen, schon eine bedeutende Rolle als Zentralbegriff der formalen Personalität, der formalen imago (vgl. S. 10.11. 12. 18. 41. 43). Subjektsein und Verantwortlichkeit, Wortfähigkeit, Ansprechbarkeit und Verantwortlichkeit, Personalität als Verantwortlichkeit, Verantwortlichkeit als Voraussetzung des Sünderseins — in diesen Korrelationen zeigte sich, daß es Brunner in seinen anthropologischen Erörterungen, in seiner Lehre vom Anknüpfungspunkt, von der imago Dei, um nichts anderes als um die Herausarbeitung der Verantwortlichkeit ging. „Die Explikation des Begriffes Verantwortlichkeit ist das, um was es in der theologischen Eristik geht." Dieser Satz aus den abschließenden Bemerkungen von N u G 1 macht noch einmal auf den entscheidenden Gesichtspunkt zur Beurteilung der ganzen Fragestellung aufmerksam, der nicht aus dem Auge verloren werden darf. Brunner trägt dem in der 2. Auflage Rechnung, indem er hier den Begriff der Verantwortlichkeit ganz in den Mittelpunkt stellt (vgl. auch MiW, S. IX).
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Gott sich wahrlich an den Heiden nicht unbezeugt gelassen hat, daß sie ihn aber trotzdem nicht so erkannt haben, daß es ihnen zum Heil wurde" 6 4 . Wenn er nun nicht mehr nur im Vorbeigehen auf diesen „biblisdien" Rückhalt seiner eigenen Überlegungen verweist 65 , sondern diese geradezu als konsequente Ausführung biblischer Theologie deklariert, dann kündigt sich darin also keine prinzipielle Neuorientierung an, wohl aber ein ernsthafteres Bemühen, die eigene systematische Aussage exegetisdi zu begründen. Warum hat Paulus, der doch nichts zu verkündigen hatte als Jesus Christus, den Gekreuzigten, „die zusammenfassende Darstellung seiner Botschaft im Römerbrief mit einem zweifachen Hinweis auf die Naturoffenbarung Gottes begonnen?" fragt Brunner seine Kritiker und beruft sich auf den Apostel als Kronzeugen für seine eigene Fragestellung. Bevor Paulus seine Botschaft entfaltet, „gibt er sich und seinen Lesern über die Lage der Menschen, an die sie gerichtet ist, Rechenschaft". E r legt hier, mit seinem Hinweis auf das Off enbarsein Gottes in den Werken der Schöpfung und in dem ins Herz geschriebenen Gesetz, „den Grundstein zu einer christlichen Lehre vom ,natürlichen Menschen' und zu einer christlichen Lehre von der heidnischen Religion" 66 ! Und zwar geschieht dies im Zusammenhang seiner Verkündigung des Evangeliums, des Rufes zum GeN u G , S. 15. In „Theologie und Kirche" (ZZ 8 1930) führt er in einer Anmerkung R o m 1 gegen die Verfechter einer theologia naturalis ins Feld: „Sie beachten nicht, daß Paulus wohl sagt, daß G o t t sich selbst in den Werken der Schöpfung offenbare, oder (wie in Acta 1 4 , 1 7 ) daß er sich nicht unbezeugt gelassen habe, aber er behauptet nirgendwo, daß die Heiden wirklich G o t t erkennen. Nicht an der Offenbarung fehlt es, sondern am Auge, sie wahrzunehmen. Es ist durchaus die Auffassung der Schrift — des Alten wie des Neuen Testaments — , daß der natürliche Mensch G o t t wohl erkennen sollte, aber durch seine Sünde ihn nicht erkennt und nicht erkennen kann, ehe ihm durch die besondere Gnadentat der Star gestochen wird . . . W i r sagen damit nicht, daß der natürliche Mensch, der Heide, — der wir, was uns betrifft, alle sind — nichts von G o t t wisse; aber er weiß nichts Heilsames, erkennt nicht den wahren G o t t , er kennt nicht sich selbst in der Wahrheit, als Sünder, in der Schuld" (S. 399 Anm. 2). In „Die Christusbotschaft im K a m p f mit den Religionen" (1931) verweist Brunner mit seiner Forderung einer allgemeinen christlichen Theorie des Heidentums, die davon auszugehen habe, daß G o t t sich nicht unbezeugt gelassen hat, daß dem Menschen von der Schöpfung her unausrottbar ein Wissen um G o t t eingepflanzt sei, ebenfalls auf R o m 1 : die Lösung dieses Problems müsse „auf der Linie von R o m 1" gesucht werden — „Heidentum ist pervertierte, verkehrte, fragmentarische Gotteserkenntnis" (S. 1 1 . 1 7 ) . U n d in G u O (1932) bemerkt er zu Rom 1 , 1 8 f f . : „Es ist ebenso falsch, bei Paulus die Anerkennung einer natürlich heidnischen Gotteserkenntnis zu leugnen, als diese mit einer wirklichen Gotteserkenntnis, wie sie der Glaube hat, in Kontinuität zu setzen. Rom 1 , 1 9 reicht niemals, wie Schlatter will, für eine positive theologia naturalis hin; denn der G o t t , den der Mensch aus sich selbst — ohne Christus — aus der N a t u r erkennt, ist eben: der Götze. Aus dem göttlichen Konditionalis macht die Sünde einen Irrealis. G o t t in seiner Schöpfung zu erkennen ist wohl von Gott, dem Schöpfer, aus, aber nicht vom Menschen aus, der Sünder ist, eine Möglichkeit" (S. 579 Anm. 4). 0 0 N u G 2 , S. I. M
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horsam des Glaubens. Es geschieht im Hinblick auf die Situation der missionarischen Verkündigung, in der der Mensch als der unentschuldbare, für seine Gottesferne verantwortliche, angesprochen wird. Damit ist der Ort und die Grenze der christlichen Lehre von der allgemeinen Offenbarung gegeben: Sie darf sich nicht über das hinauswagen, was im Römerbrief gesagt ist. „Aber innerhalb dieser Grenze hat sie ihren notwendigen Ort im christlichen theologischen Denken und ist um ihrer methodischen Bedeutung willen unentbehrlich." 67 Mit dieser grundsätzlichen Begründung und Begrenzung hat Brunner die entscheidenden Akzente gesetzt, die auch für die weitere Ausführung seiner Lehre von der Schöpfungsoffenbarung bestimmend wurden. Nun beginnt in „Offenbarung und Vernunft" die Erörterung dieses Kapitels mit der ausdrücklichen Feststellung: „Wir lehren eine allgemeine oder Schöpfungsoffenbarung darum, weil die Heilige Schrift sie unmißverständlich lehrt, und wir haben im Sinne, sie auch gemäß der Heiligen Schrift zu lehren." 68 Daß die Heilige Schrift Gottes Offenbarung in seinen Schöpfungswerken lehrt, bedarf danach keines weiteren Beweises. Die Naturpsalmen, Rom. 1,18 ff. 28—32 ; 2,14 f. ; Joh. 1,4—5,9 ff. ; Apg. 14,17; 17,26 ff. sind für Brunner Beweis genug: „Alle diese Stellen sind von den Theologen der Kirche zu allen Zeiten als Quelle (!), Norm und Beweis ihrer Lehre von der allgemeinen oder Schöpfungsoffenbarung verwendet worden", auch von den Reformatoren 69 . Also auf Grund des biblischen Zeugnisses, nicht auf Grund natürlicher Erfahrung wird hier von der Schöpfungsoffenbarung geredet — so jedenfalls will es die auf strenge Schriftgemäßheit bedachte dogmatische Voraussetzung, wobei die theologisch doch nicht unerhebliche Differenz zwischen dieser allgemeinen Berufung auf „die Heilige Schrift" als Quelle und der zuvor allein auf die Christusoffenbarung bezogenen Erkenntnis der Schöpfungsoffenbarung auf eine nicht eben überzeugende Weise überwunden wird: „Als solche, denen Jesus Christus die Augen geöffnet, reden wir, auf Grund des biblisdien Zeugnisses, von der allgemeinen, allen gegebenen Schöpfungsoffenbarung." 70 Fast scheint es, daß es hier gar nicht mehr um eine wirkliche Schöpfungsoffenbarung geht, sondern lediglich um ihre Bezeugung in der Schrift, und ebenso fragt man angesichts des formelhaften „denen Jesus Christus die Augen geöffnet" vergeblich nach einer nicht nur formelhaften Verifizierung dieser doch so grundlegenden Aussage wie auch danach, wer denn den alttestamentlichen Frommen die Augen geöffnet hat. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß bei dieser Art der Berufung auf Schrift und Tradition mehr das Motiv der Apologetik die Feder führt, das einem dogmatischen Soll Genüge tun möchte, als das Zeugnis „der Schrift" selbst. Die wirkliche exegetische Begründung sucht und findet Brunner 07 09
NuG 2 , S. IV. OuV, S. 76 (von mir hervorgehoben).
68 70
OuV, S. 74 (von mir hervorgehoben). OuV, S. 78 f. 243
allein in dem „Hauptzeugnis" des Apostels im Römerbrief, dessen Analyse darum im Hinblick auf die Bewährung seiner eigenen Auffassung eine entscheidende Bedeutung zukommt n . Wichtig ist dabei zunächst die orientierende Feststellung, daß der Apostel hier von der im Evangelium offenbar gewordenen Erkenntnis des Glaubens aus spricht. Er spricht also nicht im Sinne einer Theorie natürlicher Theologie von der allgemeinen Schöpfungsoffenbarung, sosehr hier audi Gedanken der Stoa oder spätjüdischer Apokalyptik anklingen mögen, sondern er nimmt so auf sie Bezug, wie sie in der Christusverkündigung als ihre Voraussetzung enthalten ist. Sie ist integriert in die Verkündigung des Evangeliums. Es ist ein vom Glauben aus gesprochenes Urteil über die Situation des Menschen vor Gott außerhalb des Christusgeschehens; ein Urteil also, das nicht davon ausgeht, daß dieser Mensch von sich aus zum gleichen Urteil kommt oder kommen kann, das aber sehr wohl darauf rechnet, daß dieser Mensch von ihm überführt wird, daß er es anerkennen muß, weil es ihm die Wirklichkeit seiner Existenz im Licht der Offenbarung Gottes zeigt. Ebenso wichtig ist zugleich damit die präzisierende Feststellung, daß der Apostel hier über den Menschen spricht, über dem Gottes Zorn offenbar geworden ist, also über den Menschen, der sich im Anklagezustand befindet, und daß er das Ziel verfolgt, die Anklage zu erhärten, daß der Mensch, um den es hier geht, der sich dem Anspruch Gottes versagende, der ungehorsame, gottlose, sich von Gott abwendende und von ihm dahingegebene Mensch ist: Alle sind sie abgewichen, alle sind sie der Sünde verfallen, keiner gibt Gott die Ehre, jeder ist des Gerichtes schuldig, alle sind sie in ihrem Denken, in ihrem Tun, in ihrer Frömmigkeit, in ihrem „Gottesdienst" gescheiterte Existenzen. Es ist also der an Gott gescheiterte, aber für sein Scheitern selbst verantwortliche Mensch, den Paulus hier vor Augen hat und den er als solchen überführen möchte. Diese Intention darf bei dem, was er sagt, nie außer acht gelassen werden. Sie ist der Ausgangspunkt und das letzte Wort im Zusammenhang seines Hinweises auf die Schöpfungsoffenbarung und bildet daher das eigentliche Kriterium 71 Bereits in seinen frühesten Äußerungen über den Gesetzesbegriff spielt dieses Zeugnis eine wichtige Rolle. Eine eingehendere Analyse fehlt indessen audi noch in den Sdiriften zu Beginn der dreißiger Jahre, obwohl Brunner in ihnen sich ausdrücklich auf Rom 1 bezieht und von dort aus argumentiert (siehe oben Anm. 65). In N u G orientiert er sich zwar ebenfalls an Rom 1 und 2 und wirft Barth vor, daß er sich nirgends ernsthaft mit diesen Hauptstellen auseinandergesetzt habe und Paulus hier einfach die Gefolgschaft verweigere (S. 12 Anm. 1) — aber von einer wirklichen exegetischen Analyse kann auch hier noch nidit die Rede sein. Erst im Vorwort zur 2. Auflage geht er etwas näher auf den inneren Duktus des paulinischen Gedankengangs ein. Eine ausgeführte Exegese findet sich jedoch erst in seinem Römerbriefkommentar (Der Römerbrief. Bibelhilfe für die Gemeinde. Neutestamentliche Reihe Bd. 6, 1938), sowie in „Offenbarung und Vernunft", 1941, S. 78 ff.
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für das endgültige theologische Urteil über den hier angesprochenen Sachverhalt. Von dieser Voraussetzung geht Brunner in seiner Interpretation von Rom. 1,18 ff. aus. Er sieht (wie Barth) den ganzen Abschnitt unter dem Gesichtspunkt der Anklage. Die Anklage gegen den sogenannten „natürlichen" Menschen besagt, daß er die Wahrheit Gottes in Ungerechtigkeit niederhält, nicht gelten läßt, oder, wie Brunner früher sagte, daß er sie „verkehrt", „umlügt" (1,18.21 ff.). Dabei ist nun allerdings zweifellos vorausgesetzt, daß diese Wahrheit für den natürlichen Menschen da ist. Denn man kann ja „nicht niederhalten, was für einen überhaupt nicht da ist". Das Erkennbare Gottes ist offenbar, Gott hat es ihnen geoffenbart, er hat sich allen geoffenbart (1,19). Es gibt also „eine allgemeine, jedem Menschen gleichsam vorgelegte Wahrheit, die von ihm Besitz ergreifen will" — in der Gott selbst von ihm Besitz ergreifen will, denn Gott selbst „ist sowohl Subjekt wie Inhalt dieser allgemeinen Offenbarung" 72 . Die Schöpfungsoffenbarung ist eine Realität. Sie kann nicht bestritten werden. Diese objektive Schöpfungsoffenbarung ist nach Rom. 1,20 seit der Schöpfung der Welt da. Sie geschieht durch die Werke der Schöpfung, und sie ist „zugleich eine dem Menschen als vernünftigem Wesen gegebene Offenbarung, weil das, was Gott in seinen Schöpfungswerken zeigt, in einem Akt der noesis, in einem Vernunftakt, angeschaut werden kann". Die subjektive Erkenntnisfähigkeit des Menschen entspricht also diesem Sich-Offenbaren Gottes: Er ist so geschaffen, daß er vermöge des nous Gott in seinen Werken erkennen kann. „Beides ist zueinander hingeordnet, die objektive Offenbarungsveranstaltung oder das objektive Offenbarungsmittel und die subjektive Erkenntnisfähigkeit." 73 Allerdings darf dieses dem Menschen zugeschriebene Erkenntnisvermögen nicht so verstanden werden, daß es hierbei lediglich um einen naturhaften menschlichen Akt geht, der unabhängig vom Handeln Gottes geschehen könnte. Auch hier, in der naturhaften Gotteserkenntnis, handelt Gott! Er ist es, der sich zu erkennen „gibt", sich ins Bewußtsein ruft. Insofern gilt auch hier noch jener Grundsatz, mit dem Brunner sein „Mittler"-Buch er72
OuV, S. 78. OuV, S. 79.84; Brunner trifft sich in dieser Deutung des nous mit P. Althaus, Paulus und Luther über den Menschen, (1938) 1951 2 , S. 44 f. D a ß nooumena kathoratai sich in der Tat auf das Wahrnehmungsvermögen des Menschen bezieht, dürfte — ganz gleich, ob man hierbei lediglich an eine „rein hypothetische" (so W. G. Kümmel in: Römer 7 und die Bekehrung des Paulus, U N T 17, 1929 S. 28; in: Das Bild des Menschen im Neuen Testament, 1948, S.26 Anm. 55 wird diese Deutung von ihm aufgegeben) oder an eine sich verwirklichende Möglichkeit denkt — nicht zweifelhaft sein. Es bleibt demgegenüber unerfindlich, warum O. Michel in seinem Römerkommentar den rationalen Denkvorgang hier ausschließt und erklärt: „Was dem natürlichen Auge verborgen ist, kann in einem Erkenntnisvorgang besonderer Art wahrgenommen werden" (Der Brief an die Römer, 1955, S. 54. 62). 73
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öffnete: „Gott kann nur durch Gott erkannt werden." Es handelt sich in dieser „schöpfungsmäßigen Korrespondenz" zwischen der Selbstmanifestation Gottes in seinen Werken und ihrem Erkanntwerden mittels eines Vernunftaktes um eine „Selbstmanifestation Gottes am und im Menschen, die ihn befähigt, jene äußere Offenbarung als solche zu erkennen" 74 ! Das darf nicht übersehen werden, wenn man den in diesem Zusammenhang gebrauchten Begriff einer „natürlichen" Gotteserkenntnis recht verstehen will. Er ist von vornherein mißverstanden, wenn er als Offenbarungsmächtigkeit des Menschen dem Sichoffenbaren Gottes entgegengesetzt und lediglich in der Alternative Natur oder Gnade gesehen wird. Kommt es also hier zur Gotteserkenntnis, dann nur, weil und sofern Gott sich zu erkennen gibt. Daran läßt Brunner keinen Zweifel, daß nur so theologisch legitim vom Erkennen Gottes geredet werden kann. Wieder werden wir an den Aktualismus des Gottesverhältnisses erinnert. Er charakterisiert nicht nur die in der geschichtlichen Offenbarung sich vermittelnde Gottesbeziehung, sondern auch die Schöpfungsoffenbarung, so wie es im Verständnis der imago als einer aktualen Relation bereits zum Ausdruck kam. Und wieder wäre zu fragen, ob der Begriff einer „natürlichen" Gotteserkenntnis selbst in diesem Zusammenhang den Sachverhalt richtig bezeichnet. Der Mensch, der so durch sich selbst und durch die Welt auf Gott hingewiesen ist, erdenkt sich ja nicht Gott und bemächtigt sich nicht Gottes in einem immanenten autonomen Erkenntnisakt. Er antwortet, indem er den Gedanken Gottes denkt, immer schon der Anrede Gottes, dem Sichverfügen des Unverfügbaren, audi in seinem ureigensten Denkakt, in seiner Vernunft selbst als einer „vernehmenden" Vernunft. Sein „natürliches" Erkennen hat also Gottes Handeln zur Voraussetzung nicht nur in jenem „objektiven" Moment der Schöpfungsoffenbarung, sondern in seiner Subjektivität selbst! Nur darum ist es nicht eine unmögliche Zumutung an den Menschen, Gott zu erkennen, und nur darum kann gesagt werden, daß das Erkennen Gottes vernunftgemäß und vernunftnotwendig ist, weil die Vernunft ihren Sinn eben darin hat, Gott wahrzunehmen, und weil Gott sich in ihrem Vernehmen vernehmen lassen will. Das eigentliche Problem der Exegese von Rom. 1,18 ff. wie überhaupt der sogenannten natürlichen Gotteserkenntnis liegt nun allerdings nicht in dieser Aussage, in der es ja zunächst nur um die Behauptung der Möglich74 OuV, S. 89. Brunner erinnert S. 74 Anm. 1 an die Dogmatik des KohlbrüggeSdiülers Ed. Böhl (1887) als Beispiel, „wie eine streng reformierte und biblizistisdie Theologie vor Barth" von der natürlichen Gotteserkenntnis handelte. Er hätte ebensogut auf die altlutherische Dogmatik verweisen können mit ihrer sehr durchdachten Lehre von der notitia dei naturalis, in der die naturhafte Gotteserkenntnis als im Handeln Gottes begründetes mensdilidies Erkennen begrifflich sehr viel schärfer und konsequenter erfaßt ist, als dies Brunner gelingt (vgl. C. H. Ratsdiow, Gott existiert, 1966, S. 30 ff.).
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keit solchen Erkennens geht, sondern in der Frage, ob es auch tatsächlich dazu kommt, daß Gott auf diese Weise wirklich erkannt wird. An dieser Stelle entscheidet sich erst, welches Gewicht der Aussage über die Möglichkeit der Gotteserkenntnis zukommt: ob sie nur als eine prinzipielle Möglichkeit zu verstehen ist, die in praxi dann doch zu einer faktischen Unmöglichkeit wird 75 , ob sie als tatsächliches Erkennen gedacht ist, das sich aber nicht als Erkenntnis auswirkt, weil der Mensch von ihr nicht den rechten Gebrauch macht, oder ob ein wirkliches Erkennen behauptet wird, das einer natürlichen Theologie den Weg freigibt. Läßt man einmal alle sich hier sofort aufdrängenden theologischen und theologiegeschichtlichen Bedenken und Vorurteile beiseite, um ein unbefangenes exegetisches Urteil zu gewinnen, so kann dem paulinischen gnontes ton theon (1,21) doch wohl kein anderer Sinn abgewonnen werden als der, daß Paulus hier nicht nur von einem möglichen, sondern von einem wirklichen Erkennen spricht: Sie haben Gott erkannt 76 . An 75 So spricht z.B. H . O t t , der in seiner Interpretation von Rom 1,19fi. „teils mit E. Brunner gegen die katholische theologia naturalis, teils mit K. Barth gegen Brunner einig" gehen möchte, von „prinzipieller Erkennbarkeit" und dodi „faktischer Unerkennbarkeit" (Rom 1,19 ff. als dogmatisches Problem, ThZ 15 1959, S. 42 f.) — eine so kaum haltbare Unterscheidung, denn das faktische Nichterkennen bzw. Unerkanntsein oder Verkanntsein Gottes ist etwas prinzipiell anderes als die faktische „Unerkennbarkeit". Hier droht mit einem Verständnis des Uraktes der Sünde als Nichterkennen Gottes die Sünde selbst gegenstandslos und die Schuld wiederum fraglich zu werden. Der Urakt der Sünde ist Nicht-„Anerkennung" Gottes, die Verweigerung des Gehorsams gegenüber dem bekannten Gott, das Nichtrespektieren, Unterdrücken, Verleugnen, Verkehren dessen, was in seiner Erkennbarkeit und Ofifenbartheit audi erkannt ist. Ist nicht dies gemeint, wenn Paulus die Schuld doch offensichtlich darin sieht, daß sie Gott nicht als Gott geehrt und ihm gedankt haben — obwohl sie ihn erkannten?! 78 Bezeichnenderweise geht Paulus nicht von der Voraussetzung aus: „sie haben Gott niât erkannt", sondern umgekehrt gerade von der Voraussetzung, daß sie ihn erkannten (vgl. auch 1,32; 2,15). Das ist die Vorgabe, die ihnen gegeben ist, von der sie herkommen, die ihr Wissen begründet. Daß nun, als Folge ihrer Ursünde, Gott für sie zum unbekannten, verborgenen, zornigen Gott wird, der sie dahingibt in die Konsequenzen ihres eigenen Denkens und Handelns, in die Knechtschaft ihrer Eigenmächtigkeit, ist nur ein weiteres Glied in der Kette der Argumentation, innerhalb derer jedem Glied seine Bedeutung zukommt. 1. Glied: Gott hat sich ihnen zu erkennen gegeben; 2. Glied: sie haben Gott erkannt; 3. Glied: sie haben ihn nicht als Gott geehrt, sondern verfielen in ihrem Denken dem Nichtigen, Törichten, Unverständlichen, Ungehörigen; ihr unverständiges Herz wurde verfinstert; sie unterdrücken die Wahrheit und das Recht Gottes in Unwahrheit, Unrecht, Gottlosigkeit. Das letzte Glied ist darum nur in der Konsequenz der vorhergehenden zu begreifen. Sie alle zusammen begründen erst das Urteil: „unentschuldbar", d.h. verantwortlich für das Stehen unter Gottes Zorn, für die asebeia kai adikia. Das letzte Glied bestätigt freilich, daß im Ergebnis das faktische Erkennen zu einem schuldig sprechenden faktischen Verkennen und Nichterkennen geworden ist, das in der Offenbarung des Evangeliums als solches entlarvt wird. Hier erst hat das Urteil über das Nichterkennen seinen sachlich richtigen Ort, weil es den Erkenntnisvorgang nicht a priori zur Unmöglichkeit erklärt und nur
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dieser Aussage kommt keine den Text ernstnehmende Exegese vorbei77. Sie kann auch nicht durch den an sich richtigen Hinweis entkräftet werden, es gehe dem Apostel im Zusammenhang seiner Argumentation ja lediglich darum, die Unentschuldbarkeit des Menschen zu erweisen, ihn als den Angeklagten aufzurufen, der die Wahrheit Gottes eben nicht gelten läßt, sondern ihr Gewalt antut, sie zur Lüge verkehrt, sich über sie hinwegsetzt, sein eigenes Denken und Fürwahrhalten an die Stelle Gottes setzt, in seiner Verblendung dem Götzendienst verfällt und so, wie er ist, nur unter dem Zorn Gottes existieren kann. So wahr dies alles ist und soso den schuldhaften Charakter des Nichterkennens festhält. Es ist die Destruktion des religiösen Menschen, der Angriff auf das sich dem Gerichtsurteil entziehen wollende natürliche Selbstverständnis. Hier wird also nicht nach dem Motto „ihr wißt dodi schon" ein Schon-in-der-Wahrheit-Sein, ein redites Wissen um Gott, das in der Verkündigung des Apostels nur bestätigt zu werden brauchte, zugestanden. Hier ist in der Tat K. Barth recht zu geben: „Das Alles wird nicht aus den Heiden heraus katechesiert als Inhalt eines Wissens, das sie an das Evangelium schon heranbringen . . . " (KD II, 1, S. 133, vgl. auch I, 2, S. 334 f.). Es geht in der Botschaft des Apostels um die Offenbarung des Verborgenen; um das, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz emporgestiegen ist" (l.Kor2,9), um das, was der natürliche Mensch aus sich heraus nicht begreift, sondern für Torheit hält: Gott in seiner Offenbarung in Jesus Christus. Dennoch behält das nichterkennende Erkennen Gottes des natürlichen Menschen im Zusammenhang dieser Verkündigung die Funktion, das Sich-Gott-schuldig-Bleiben des Menschen und insofern sein Von-Gott-her-Sein unter Beweis zu stellen. 77
G. Kuhlmann macht sich die Sadie am leichtesten, indem er gnontes unbekümmert als gnoston bzw. phaneron interpretiert: „Das gnontes meint also nicht mehr als die Offenbarung Gottes und darin seine Erkennbarkeit. Gott schafft im Kosmos die Wirklichkeit einer Erkenntnis seiner selbst — dies meint das gnontes als phaneron." Damit ist der Weg gewaltsam freigemacht zu einer konsequenten radikalen Verneinung irgendeiner Erkenntnis Gottes, der Mensch stößt die Offenbarung Gottes „immer schon zurück", er lehnt sie „von vornherein ab", er vollzieht nicht irgendeine Erkenntnis Gottes „zur Probe", um sie dann „in Lüge umzutauschen". Die Wahrheit Gottes geht in keiner Weise in die menschliche Existenz ein, „sondern deren aletheia ist immer schon und aussdiließlich pseudos". Diese Vertauschung ist als Vorgang „unumgänglich" ! Sie ist die Grundtatsache menschlicher Existenz, „die der Mensch immer schon geschaffen hat, sofern er sich selbst begreift" (Theologia naturalis bei Philon und bei Paulus, 1930, S. 45 f.). So imponierend die konsequente Beschreibung des natürlichen Seins als eines Gott verfehlenden, Gott feindlichen Seins ist, in dem der Mensch nur nodi als sein eigener Gott erscheint, und so eindrücklich der radikale, jegliche Kontinuität ausschließende Gegensatz zwischen jedem natürlichen Selbstverständnis (audi dem sich als Geschöpf erfassenden, den Gottesgedanken vollziehenden Selbstverständnis) als Weisheit des Menschen und der Offenbarung des wirklichen Gottes herausgearbeitet wird — Kuhlmanns als Exegese vorgetragenes undialektisches Verständnis der menschlichen Existenz, in der der Mensch nicht mehr „vor Gott" ist, in der der Gott des Gesetzes nichts mehr mit dem wirklichen Gott zu tun hat, in der der Mensch nicht mehr von seinem Ursprung her verstanden wird, in seinem Inansprudigenommensein durch Gott, ist nicht mehr das des Apostels Paulus. Kuhlmann deutet die paulinischen Texte um im Sinne einer radikalen atheistischen Anthropologie. K. Barth gesteht immerhin zu, daß die Menschen nach dem Urteil des Apostels von einer „Bekanntschaft mit Gott" auf Grund von Offenbarung „immer schon herkommen" (KD I, 2, S. 334) — ein allerdings merk248
wenig dem Apostel allein schon von dieser Zielrichtung seines Gedankengangs her daran gelegen sein kann, den Menschen in seiner religiösen Möglichkeit zu würdigen oder eine allgemeine abstrakte Feststellung über das Menschsein an sich zu treffen, so unumgänglich bleibt doch die Voraussetzung eines wirklichen Erkennens Gottes, eines faktischen Wissens um Gott. Nur von daher ist die ganze Argumentation stichhaltig. Nur so kann wirklich von einer Verantwortlichkeit und Unentschuldbarkeit geredet werden, wenn es sich nicht bloß um eine hypothetische Möglichkeit, sondern um eine Wirklichkeit handelt, an der und in der der Mensch schuldig wird. Gilt diese Voraussetzung nicht, dann bricht die Argumentation in sich zusammen 78 . würdiges, rätselhaftes, nur widerwillig mit einem kurzen wirschen Seitenblick gestreiftes Erkennen, das sich in Barths Deutung immer wieder schon in seinem Ursprung in ein Nichts zu verflüchtigen, zur bloßen Erkennbarkeit zu werden droht, ein Erkennen, um das die Heiden anscheinend gar nicht wissen: es wird ihnen erst „daraufhin, daß in und mit der Wahrheit Gottes in Jesus Christus audi die Wahrheit des Menschen offenbar geworden" ist, „als Wahrheit über sie selbst zugeschrieben, zugeredinet, imputiert" als eine „Neuigkeit" (KD II, 1, S. 132 f.). Sie sind Erkennende, indem sie „praktisch doch Nicht-Erkennende" sind, „indem sie Gott weder Ehre noch Dank erwiesen, indem ihre Erwägungen (logismoi) ins Leere gingen . . S i e haben die Erkenntnis von Ps 19 „prinzipiell nie auch nur im geringsten realisiert" (KD I, 2, S. 334 f.; IV, 3, S. 215). — Auf eine ähnlidie Weise versucht H. Thielicke das gnontes schon in seiner Wurzel zu paralysieren: die rechte „Anerkenntnis" sei allemal die Voraussetzung der rechten „Erkenntnis" Gottes. Da nadi dem Zeugnis des Apostels gerade diese Erkenntnis verweigert wird, könne man also nicht wirklich von einer Erkenntnis Gottes sprechen. (Kritik der natürlichen Theologie, 1938, S. 19 f.). 7 8 Es liegt nicht in der Absicht dieser Untersuchung, auf die umfangreiche exegetische und dogmatische Diskussion der Problematik von Rom 1,19 ff. näher einzugehen. Genannt seien hier nur M. Lackmann, Vom Geheimnis der Schöpfung, 1952, der die Geschichte der Exegese vom 2. Jahrh. bis zum Beginn der Orthodoxie behandelt und sich insbesondere gegen Barths Deutung wendet; G. Kuhlmann, Theologia naturalis bei Philon und bei Paulus, 1930, S. 39 ff. (S. 43 weitere Lit.), mit dessen origineller aber auch höchst fragwürdiger Auffassung Brunner sich in GuO, S. 579 Anm. 4 auseinandersetzt; W.G.Kümmel, Das Bild des Menschen im Neuen Testament, 1948, S. 26 f.; R . Bultmann, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, (1929) G V I I I 1960, S. Iff., bes. S. 26; ders., Das Problem der „natürlichen Theologie", (1933) GV I 1954 2 , S. 294 ff.; ders., Christus des Gesetzes Ende, (1940) G V I I 1952, S. 32ff.; ders., Die Frage der natürlichen Offenbarung, (1941), GV II, S. 79 f., bes S. 100; ders., Anknüpfung und Widerspruch, (1946) G V II, S. 117ff., bes. S. 125; Zu K.Barths Auslegung von Rom 1,19 ff. vgl. außer den Kommentaren zum Römerbrief nodi K D I, 2, S. 332ff.; II, 1, S. 13Í f.; III, 3, S. 58 f.; IV, 1, S. 434ff.; IV, 3, S. 214; H. Thielicke, Kritik der natürlichen Theologie, 1938 (Bekennende Kirche 6. Reihe H. 53/54); E. Schlink, Die Offenbarung Gottes in seinen Werken und die Ablehnung der natürlichen Theologie, ThBl 20 1941, Sp. 1 ff.; Brunner sieht sich in seiner Auffassung insbesondere bestätigt durch die „ausgezeichneten Ausführungen" (MiW, S. 543) von H. Sdilier, Über die Erkenntnis Gottes bei den Heiden, EvTh 2 1935, S. 9 ff., sowie von G. Bornkamm, Die Offenbarung des Zornes Gottes, Z N W 34 1935, S. 239 ff. (wieder abgedruckt in: Das Ende des Gesetzes, BeTh 19 1952, S. 9ff.); ders., Gesetz und Schöpfung im Neuen Testament, S G V 175, 1934.
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Brunner interpretiert denn auch diesen Akt der Wahrnehmung, der in dem gnontes ton theon vorausgesetzt ist, als ein tatsächliches Erkennen: „Also nicht nur von einer Möglichkeit der Gotteserkenntnis, die einmal vorhanden war, jetzt aber verloren ist, audi nicht nur von einer jetzt gegenwärtigen Möglichkeit der Gotteserkenntnis, sondern von einem faktischen Erkennen ist die Rede ..." 7 9 So deutlich schien er dies nicht einmal in den Schriften der dreißiger Jahre zugestehen zu wollen, wenn er in ihnen immer betonte, daß die Heiden nie wirklich Gott erkennen, daß der natürliche Mensch zwar Gott erkennen sollte, ihn aber in seiner Sünde „nicht erkennt und nicht erkennen kann", so daß die Sünde „aus dem göttlichen Konditionalis" faktisch einen „Irrealis" machte80. Aber es zeigt sich doch sofort, daß Brunner auch hier nicht über das früher Gesagte hinausgehen möchte, denn er fügt der Feststellung, daß bei Paulus von einem faktischen Erkennen die Rede ist, sogleich die Erläuterung hinzu, Paulus rede „von einem Erkennen, das sich infolge der Sünde der Menschen sofort in Wahn verwandelt, also von einer Erkenntnis, die sich nicht als Erkenntnis auswirkt, sondern gleichsam durch das Ferment der Sünde in Götzenwahn umwandelt" 81 . Mit dieser Erläuterung gerät Brunner in die Nähe der Kuhlmannschen These, daß das, was der Mensch erkennt, „immer schon" und „von vornherein" Lüge sei82. Allerdings gerät er nur in ihre Nähe, denn für Brunner kommt, im Gegensatz zu Kuhlmann, alles darauf an, daß das Band zwischen dieser in Lüge verkehrten und der wirklichen Erkenntnis nicht ganz zerschnitten wird, weil nur so das Inanspruchgenommensein des Menschen durch Gott, sein „irgendwie" doch um Gott Wissen und damit seine Verantwortlichkeit gewahrt bleibt. Daß der Mensch „notwendig Götzen hat", das ist für ihn ein unübersehbarer Hinweis auf ein Wissen um die Existenz Gottes, das im Begriff eines faktischen Erkennens festzuhalten ist, auch wenn dieses in seiner Konkretisierung nur als ein Niederhalten der Wahrheit zu begreifen ist. Darum hebt er mit seiner Einschränkung das faktische Erkennen nicht auf, erklärt es aber im gleichen Augenblick zu einem sich nicht auswirkenden Erkennen, da es im 79
OuV, S. 79. Siehe oben Anm. 65. 81 OuV, S. 79. Bereits in NuG 2 , S. 54 ee vertritt Brunner diese Auffassung der gleichzeitigen Verkehrung: „Ich lehre mit den Reformatoren eine Offenbarung Gottes in der Natur (sowohl in der außermenschlichen als audi, objektive, der menschlichen) und lehre mit ihnen, daß diese infolge der Sünde vom Nichtglaubenden nicht richtig, sondern nur mit gleichzeitiger Verkehrung (Verwechslung von Schöpfer und Schöpfung), ,erkannt' werde." 82 Vgl. Anm. 77; Brunner stimmt denn audi in GuO, S. 579 dem Satz Kuhlmanns zu: „So gewiß innerhalb der menschlichen Existenz so etwas wie Gott erkannt wird, so ausschließlich ist dieser Gott je schon ein Erzeugnis des einai sophos und darum nicht der wirkliche Gott, sondern ein Götze" (a.a.O., S. 53). 80
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Denken des Menschen „sofort" verkehrt wird und nur als Wahn in Erscheinung tritt. Es scheint, daß auch hier das Faktische lediglich als ein nicht näher zu bestimmender Grenzbegriff verstanden ist, der nicht eine bewußt zu machende, inhaltlich zu erfassende Wirklichkeit ursprünglicher menschlicher Gotteserfahrung und -erkenntnis bezeichnet, sondern lediglich, wie Brunner früher sagte, ein formales Daß. Es soll nicht als ein leerer Begriff verstanden werden — dann wäre die ganze in ihm begründete Verantwortlichkeit ja ebenfalls nur ein leerer Begriff —, es soll aber auch nicht als eine geschichtlich faßbare, sich im menschlichen Erkennen tatsächlich realisierende wahre Erkenntnis Gottes verstanden werden 83 . Es ist ein seltsames Schillern in diesem nur noch als logisches Postulat ausweisbaren Begriff, dessen Wirklichkeitsgehalt sich nicht im menschlichen Erkennen durchhält, der aber doch dieses Erkennen qualifiziert, in ihm irgendwie vorausgesetzt ist und auch nur in seiner Wirklichkeitsbestimmtheit sinnvoll ist. Jedenfalls läßt Brunner mit der Gleichzeitigkeit, in der isch dieses faktische Erkennen Gottes sofort in Wahn verwandelt, keinerlei Ansatzpunkt für eine positive natürliche Theologie. Es bleibt kein Raum für die Aussage: Hier wird Gott wirklich in Wahrheit erkannt. Das „sie haben erkannt" ist nur faßbar als „sie haben die Wahrheit verkehrt". Ob Paulus in gleicher Weise daran denkt, daß sich die tatsächliche Gotteserkenntnis, von der er spricht, gewissermaßen in statu nascendi sofort in Wahn verwandelt, erscheint zweifelhaft. Zumindest unterscheidet er zwischen einem faktischen Erkennen und einem darauf folgenden Verhalten, das ihm die Anerkennung verweigert, die ihm gebührt, und so erst schuldig macht. Das „sie haben erkannt" hat hier eindeutig den Charakter wirklichen Erkennens und droht gar nicht erst, zu einem leeren Begriff oder zu einem punctum mathematicum zu werden. Im Endergebnis freilich, das heißt im Hinblick auf das theologische Urteil über das wirkliche Gottesverhältnis des Menschen, dem das Evangelium zu verkündigen ist, spielt diese Differenz keine entscheidende Rolle 8 4 . Das gnontes ton theon gibt weder bei Paulus noch in der Interpretation Brunners den Weg frei zu einer natürlichen Theologie im herkömmlichen Sinn; im Gegenteil, die genauere Analyse, die bisweilen geradezu scho8 3 Eine andere Formulierung Brunners könnte allerdings audi in diese Richtung weisen : „Jeder Mensdi ist ein Sünder, weil jeder Mensch Gott erkennen könnte, ja sogar erkennt, aber infolge seines Trotzes diese Erkenntnis ,niederhält', nidit zur Geltung kommen läßt, sondern sie in Wahn umwandelt" (OuV, S. 80). 84 K . Leese sieht in dieser Differenz allerdings einen bedeutsamen Gegensatz zwischen der von Brunner vorgetragenen Theorie und der des Apostels Paulus. „Nach Paulus hat der ,Heide' ganz unabhängig von Christus, kraft göttlicher ,Offenbarung' und eigner ,Vernunft', durchaus die Möglichkeit und Fähigkeit, eine objektiv und subjektiv zutreffende Erkenntnis des Schöpfergottes aus dem Werk seiner Schöpfung zu gewinnen. Die sündige Verderbnis des Menschen macht ihm hierbei keinen Strich durch die
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lastisch anmuten mochte, aber nur so den wirklichen Sinn und die Tragweite der Aussagen Brunners ergründen konnte, führt zu dem klaren Ergebnis: Die Reduktion des faktischen Erkennens in der Paulusinterpretation Brunners auf ein inhaltlich nicht mehr faßbares Daß unterstreicht gerade die Absicht, einer natürlichen Theologie jeden Boden zu entziehen. Auch wenn es von Gott aus zugestandenermaßen zum Sich-zu-erkennenGeben kommt, vom Menschen aus kommt es nur zum Wahn. Das macht eine natürliche Theologie unmöglich. Es soll nicht verschwiegen werden, daß die Art, wie Brunner in diesem Zusammenhang von der Sünde spricht, seltsam berührt. Er ergänzt das schon genannte Bild vom Ferment der Sünde, das die Gotteserkenntnis sofort in Wahn verwandelt, durch ein noch absonderlicheres: „Der sündige Mensch ist ein solches Gefäß, daß der Bodensatz der Sünde den von Gott gegebenen Wein der Erkenntnis sofort in den Essig des Götzenwahns verwandelt." 85 Hinter dieser sprachlichen Entgleisung macht sich doch wohl auch eine theologische bemerkbar, die erneut an den schon früh erhobenen Vorwurf erinnert, Brunner beginne mit theologischen Begriffen zu operieren wie mit dinglichen Größen. Jedenfalls muß hier die Frage gestellt werden: Verwandelt sich das Erkennen „infolge" der Sünde in Wahn, weil die Sünde wie ein Sperriegel „dazwischen steht" — zwischen dem sich zu erkennen gebenden Gott und dem erkennenden Menschen, oder wird der Mensch nicht erst und gerade darin zum Sünder, daß er — wider besseres Wissen — Gott nicht ehrt und ihm nicht dankt? Ein konsequent personales, aktuales Verständnis des Urakts der Sünde erlaubt einen solchen substanzhaft-statischen Ausdruck auch dann nicht, wenn er nur, wie hier bei Brunner, veranschaulichen soll, daß die durch Gottes Offenbarung im Menschen entstehende Erkenntnis durch den Menschen sofort verkehrt wird und sich faktisch nur als Wahn auswirkt. Jedes Wort der Erklärung ist hier ein Wort zuviel! Das, was Brunner sagen will, kann nicht erklärt, sondern nur als Glaubensurteil festgestellt werden: daß faktisch das Wissen des Menschen um Gott nur als Dokumentation seines Sünderseins in Betracht kommt, daß dies also das letzte Wort über die „natürliche" Gotteserkenntnis ist, daß der homo peccator die Wahrheit Gottes „niederhält" 8e. Es ist die Dialektik der Sünde, die hier zum AusRechnung. Erst die nachträgliche (nicht gleichzeitige') Verkehrung des Schöpfers in das Geschöpfliche, trotz besserer Erkenntnis und Einsicht, begründet die Unentschuldbarkeit seiner Sünde. Brunners natürliche Theologie widerstreitet also dem ,klaren Zeugnis der Schrift' und ist nicht von .ganz zweifelloser biblischer D i g n i t ä t ' . . . " (a.a.O., S. 47 f.). 85 OuV, S. 80. 88 In D II wiederholt Brunner den Hinweis auf die negative Bedeutung der Sünde für die Erkenntnis der Schöpfungsoffenbarung: Sie steht „zwischen der Schöpfungsoffenbarung und dem natürlichen Mensdien", so daß dieser nicht in der Lage ist, die Schöpfungsoffenbarung audi als solche, ihrem Wesen und Sinn gemäß, zu erkennen".
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druck kommt. Denn der Mensch könnte nicht Sünder sein, wenn er nichts von Gott wüßte. Indem er aber Sünder ist und sofern er als Sünder sich selbst überlassen bleibt, kann er Gott nicht recht erkennen 87 . Auch im abergläubigsten Götzentum steckt demnach ein Wissen um Gott, in dem sich das Ofïenbarsein Gottes meldet. Aber es meldet sich nicht als richtige, gültige, heilsame Erkenntnis, sondern ist nur nodi als Stimme der Anklage ein testis veritatis. So ergibt sich audi in diesem Versuch einer Klärung des Problems der Schöpfungsoffenbarung kein Anhaltspunkt für eine wesentliche Veränderung der Grundauffassung, wie sie Brunner in den früheren Schriften vertreten hat. Trotz verschiedener gesprächs- und situationsbedingter Variationen, Akzentuierungen und Neuformulierungen bleibt die Kontinuität in der sachlichen Aussage gewahrt. Die Bedeutung der Schöpfungsoffenbarung sieht Brunner gerade durch seine Analyse von Rom. 1,18 ff. erneut unter Beweis gestellt. Es handelt sich ihm hier nicht um eine Nebenlinie biblischen Denkens, wie Barth meint, auch nicht um etwas, was neben die Christusoffenbarung zu stellen wäre. Wer in der Schöpfungsoffenbarung eine derartige Konkurrenz zur Christusoffenbarung erblickt, mißversteht sie von vornherein. Das Verhältnis beider Offenbarungen zueinander ist vielmehr dialektischer Art. Die Schöpfungsoffenbarung hat gegenüber der besonderen geschichtlichen Offenbarung ihre „eigene Bedeutung", ihre „eigene Notwendigkeit", ihren „notwendigen Ort", darin freilich auch ihre Begrenzung 88 . In ihr ist die Verantwortlichkeit des vom Evangelium angesprochenen Menschen verankert. Denn diese Verantwortlichkeit hängt an der Realität einer allgemeinen, „der Versöhnungsoffenbarung in Jesus Christus, ja allem geschichtlichen Leben vorauslaufenden Schöpfungsoffenbarung". Das ist ihre fundamentale Bedeutung, daß durch sie der Mensch erst Mensch ist, d. h. verantwortliche, gottbezogene, vor Gott stehende Person; daß er durch sie als Sünder unentschuldbar ist. Denn nur auf Grund dieser Schöpfungsoffenbarung läßt sich der Mensch überhaupt erst als Sünder verantwortlich ansprechen. Und nur auf Grund dieser Schöpfungsoffenbarung „kann der Bußruf des Evangeliums als Rückruf zu einem Ursprünglichen erfolDie Sünde „ändert ja nicht nur den Willen, sie bewirkt audi eine ,Verfinsterung' des Erkenntnisvermögens da, w o es um Gotteserkenntnis geht". Fazit: „Es ist also einerseits die Realität der Schöpfungsoffenbarung anzuerkennen, andererseits aber die Möglichkeit (!) einer — richtigen, gültigen — natürlichen Gotteserkenntnis zu bestreiten" (D II, S. 138). 87 OuV, S. 80 f.; vgl. N u G , S. 19: „Ohne Wissen um Gott gibt es keine Sünde: Sünde ist immer ,vor Gott'. In der Sünde gibt es kein Wissen von Gott, denn das wahre Wissen von Gott ist die Aufhebung der Sünde. Diese Dialektik darf nicht einseitig aufgehoben werden." 88 8S OuV, S. 77. NuG 2 , S. II. III; OuV, S. 81. 92. 253
Es ist deutlich, wie hier die Lehre von der imago Dei in die Lehre von der Schöpfungsoffenbarung übergeht. Die unverlierbare imago ist ja das wichtigste Zeugnis der Schöpfungsoffenbarung, das Apriori der natürlichen Gotteserkenntnis 90 . Und ebenso kommt hier erneut aufs deutlichste das eigentliche Anliegen zum Ausdruck, das Brunner mit seinem Beharren auf einem nichtwissenden Wissen um Gott vertritt: Es geht um nichts anderes als um die Verantwortlichkeit des Menschen schlechthin. Die Lehre von der imago und der allgemeinen Offenbarung ist die „Lehre von der Verantwortlichkeit"! Sie ist zu verstehen als „die Begründung der Behauptung der Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott und zugleich der Einsatzpunkt der missionarischen Bußforderung". Als solche verweist sie auf „die nicht wegzudenkende Voraussetzung der Christusbotschaft" und gehört als integrierender Bestandteil zur Botschaft von der rettenden Gnade 91 . In dieser Funktion zeigt sich aufs neue die Grenze der Schöpfungsoffenbarung. Sie liegt darin, daß sie zwar den Menschen unentschuldbar macht und ihn bei seiner Sünde behaftet, daß sie ihn aber nicht von ihr frei machen kann 92 . Sie ist eben, um zur Geltung zu kommen, um recht erkannt zu werden, auf die geschichtliche Offenbarung angewiesen, auf den Glauben, in dem der Schöpfer schon als Erlöser, als Richter und als Retter erkannt ist. Es ist der Glaube, in dem die natürliche Offenbarung sich vollendet, weil er sie als Wort Gottes erst recht wahrnimmt. Natur als Geschehen der Gnade wird begriffen im Geschehen der Gnade, die in Jesus Christus ist. Diesen inneren Zusammenhang von Schöpfungsoffenbarung und Christusoffenbarung versucht Brunner schließlich noch in einer letzten Uberlegung theologisch abzusichern. Hinter all diesen Begründungen, in denen die Bedeutung der Schöpfungsoffenbarung als „klares Zeugnis der Schrift", als die den Ruf zu Gott als Ruf zur Buße begründende Voraussetzung der Heilsbotschaft, aber auch als die im Glauben neu vernommene Sprache der Schöpfung geltend gemacht wird, steht als letzter Grund die Einheit Gottes in seinem Handeln: Es ist ja ein und derselbe Gott, der sich in Vgl. MiW, S. 520; OuV, S. 67. 84 f. OuV, S. 80 f.; vgl. NuG 2 , S . 5 6 f . 59, sowie oben Anm.63. In MiW. S . I X weist Brunner, wie sdion in N u G , eindringlich darauf hin, daß es ihm K. Barth gegenüber um nichts anderes gehe als um „die Verantwortlichkeit des Menschen schlechthin. Das allein und nicht irgendeine Erweichung des sola gratia ist es ja, was mich an der biblischen Lehre von einer allgemeinen oder ,Natur'-Offenbarung Gottes allem Widerspruch zum Trotz festhalten läßt. D a ß auch der Ungläubige nicht ohne Gottesbeziehung und eben darum verantwortlich sei und daß diese Verantwortlichkeit auch durch die radikalste Geltendmachung der schenkenden Gnade Gottes nicht außer Kraft gesetzt, sondern im Gegenteil in Anspruch genommen werde: das ist der Grundgedanke meines B u c h e s . . . " Vgl. auch Brunners Beitrag über „Verantwortlichkeit" in der Festschrift Heinrich Zangger, Zürich 1935, S. 1000—1007. 91
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OuV, S. 81.
den Werken der Schöpfung, in dem dem Menschen ins Herz geschriebenen Gesetz und in Jesus Christus offenbart. Die Gestalt der Offenbarung ist zwar jeweils eine andere, aber der sich in ihr offenbarende Gott ist der eine, der dreieinige. „Der Schöpfergott ist kein anderer als der Erlöser." So wird erst im trinitarischen Gottesgedanken die alles umgreifende Klammer sichtbar, die die Schöpfungsoffenbarung und die besondere geschichtliche Christusoffenbarung zusammenhält 93 . Natürlich wird auch diese innere Einheit erst von der Christusoffenbarung her aussagbar. Denn: „Es ist wohl der dreieinige Gott, der sich in seinen Schöpfungswerken und im Gesetz offenbart; aber er offenbart sich da noch nicht als der dreieinige." 94 Der Unterschied zwischen dem principium essendi und dem principium cognoscendi will hier beachtet sein — eine für Brunner in diesem Zusammenhang sehr wichtige Unterscheidung, an der er nochmals das richtige Verständnis des Verhältnisses veranschaulicht. Erkannt wird Gott in Wahrheit nur in Jesus Christus; die Christusoffenbarung ist daher auch der Erkenntnisgrund der Schöpfungsoffenbarung, weil sie erst dem in seiner Sünde verblendeten Menschen eröffnet, wer Gott ist, und ihm so auch die Augen öffnet für das Walten Gottes in seiner Schöpfung. Die Behauptung dieses christologischen principium cognoscendi im Blick auf die Schöpfungsoffenbarung unterstreicht erneut den alleinigen Zugang zur wahren Erkenntnis Gottes in Jesus Christus und damit die Unmöglichkeit natürlicher Theologie. Aber sie bedeutet nicht, daß Gott sich nur in diesem Christusgeschehen offenbart. Das principium essendi verweist vielmehr darauf, daß Gott in seiner Schöpfung offenbar ist, audi wenn er nicht als Gott erkannt und geehrt wird, daß es der dreieinige Gott ist, der sich als Schöpfer offenbart, auch wenn er als solcher nur in Christus erkannt wird 95 . In diesem trinitarischen Gottesgedanken erschließt sich nun eine noch „ursprünglichere" Beziehung zwischen der Schöpfungsoffenbarung und der Christusoffenbarung. Beide sind nicht nur einander zugeordnet in der beschriebenen Dialektik, im Gegenüber einer allgemeinen und der besonderen geschichtlichen Offenbarung — der christologische Gesichtspunkt überspannt auch noch dieses Gegenüber: Er ist bereits in der Schöpfungsoffenbarung mitgegeben. „Trotz der mit ihrer Gestalt gegebenen Begrenzung" erkennen wir auch in ihr „durchaus denselben dreieinigen Gott, denselben Sohn Gottes als den Offenbarer, der im Alten Testament und wiederum in ganz anderer Weise im Neuen Testament zu uns spricht" 9β . Das ewige Wort, in dem alles geschaffen ist, der ewige Sohn, 93
NuG 2 , S. IV; OuV, S. 78. 91. OuV, S. 78 Anm. 1. 05 OuV, S. 96 f. 77 f.; NuG 2 , S. 57 gg; vgl. auch Roessler, a.a.O., S. 91. 96 OuV, S. 78. Brunner bezieht sich hier ausdrücklich auf Calvin: „Denn es sind zwei unterschiedliche Wirkungsweisen des Sohnes Gottes, die erstere, die in der Ardii84
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der in Jesus Christus Mensch wurde, der Schöpfungsmittler ist in Wahrheit das Prinzip der allgemeinen Offenbarung. Er ist das Licht, das in die Welt kommt und jeden Menschen erleuchtet. „Er ist das Prinzip aller Erkenntnis, auch aller rationalen Wahrheitserkenntnis, die die Vernunft, ohne die Botschaft von Jesus Christus zu kennen, gewinnt." 97 So wird auch hier schließlich alles wieder eingespannt in den umfassenden Rahmen einer allgemeinen Schöpfungschristologie, die sich auf l.Kor.8,6; Kol. 1,16f.; 2,3 und Joh. 1,3 ff. bezieht. In ihr klingt das Extra Calvinisticum an und mit ihm auch die frühere Logosspekulation, in der der Piatonismus als „abgespaltene Christuswahrheit" verstanden und der Logos der Vernunft, das Worthaben des Menschen, auf seinen Ursprung im Offenbarer-Logos zurückgeführt wurde 98 . Diese christologische Begründung, die auf den Offenbarer-Logos als das Subjekt aller Offenbarung verweist und alle Wahrheit als Christuswahrheit bestimmt, impliziert die metaphysische Identität von Schöpfungsoffenbarung und Christusoffenbarung 99 . Wenn die Schöpfungsoffenbarung als Voraussetzung der Christusoffenbarung bezeichnet wurde, dann erweist sich also diese Voraussetzung nunmehr durchaus als eine christologische Voraussetzung, d. h. das geschichtlich verstandene christologische principium cognoscendi hat seinen Rückhalt in einem metaphysischen bzw. metahistorischen christologischen principium essendi. Der christologische Zirkel, der zunächst durch die im Rahmen der theologischen Anthropologie gestellte Frage nach einer allgemeinen Offenbarung und einer natürlichen Gotteserkenntnis außerhalb der Christusoffenbarung unterbrochen schien, schließt sich, wieder. tektur der Welt und in der Naturordnung sichtbar wird, die andere, durch die er die zerrüttete Natur erneut und wieder herstellt" (CR 47,7); vgl. auch OuV, S. 91 Anm. 1 und Anm. 2. 97 08 OuV, S. 91; vgl. audi NuG 2 , S. 46 g. Siehe oben S.64ÍÍ., 110 f. 99 Diese Feststellung sdieint unumgänglich. Allerdings sind ihr gewisse Grenzen gezogen, wie die spätere Auseinandersetzung Brunners mit Barth zeigt. Er erklärt seine Übereinstimmung mit Barth darin, daß Christus die ratio cognoscendi des sdiöpfungsmäßigen Menschenwesens sei. Die Meinungsverschiedenheit beginne jedodi in der Art, wie Barth Jesus Christus audi als ratio essendi, als Seinsgrund des gesdiöpflidien Menschenwesens, verstehe. Brunner bekennt seine Unfähigkeit „zu verstehen, was es heißen soll: jeder Mensch — also auch der, der tausend Jahre vor Jesus lebte — ,hat sein Sein in der Jesusgesdiichte' bzw. „Die Geschichte der mensdilidien Existenz folgt auf die Geschichte des Menschen Jesus". Diese Sätze Barths sind ohne den „Regreß auf das vorzeitliche Schöpfungswort" für Brunner sinnlos. N u r durch diesen Regreß werden sie für ihn verständlich, und, wie er zu erkennen gibt, auch richtig. Sie haben dann den Sinn, daß der Bund Gottes der innere Grund der Schöpfung ist. Brunner verneint in der Deutung dieser Aussage jedodi gerade, „daß das Schöpfungswerk und das Heilswerk, der Schöpfungsbund und der Versöhnungsbund identisch sind". Die Tatsache der Sünde steht dazwisdien und läßt eine Identifikation von Schöpfungswort und Versöhnungswort nicht zu (in: Der neue Barth, ZThK 49 1951, S. 98; vgl. dazu Barth, K D III, 2, S. 193 f., sowie Barths Antwort in K D IV, 1, S. 54 ff.).
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Es fällt schwer, ein sicheres Urteil darüber zu gewinnen, ob hier die innere Konsequenz des Brunnerschen Gedankengangs zutage tritt, die sachgemäß durchgehaltene christologische Ausrichtung aller Aussagen über Gott und Mensch, oder ob sich hier lediglich eine theologiegeschichtliche Reminiszenz meldet, die zu guter Letzt auch nodi als ein unterstützender Gedanke eingeflochten wird. Auch wenn sich die Beziehung zu den früheren und allerfrühesten Äußerungen Brunners gerade hier wieder bemerkbar macht, in der speziellen Erörterung der Schöpfungsoffenbarung taucht dieser Gedanke einer allgemeinen Logos- oder Schöpfungschristologie nur am Rande auf und erweckt so eher den Eindruck einer abstrakten rationalistischen Konklusion oder Konstruktion als den eines krönenden Abschlusses. Für die konkrete Fragestellung bleibt dieser Gedanke jedenfalls ohne erkennbare Auswirkung, und ob es theologisch geboten und sinnvoll ist, in diesem Zusammenhang Aussagen über das Wirken des Logos asarkos zu machen, muß Brunner sich nicht zuletzt audi von Barth mit guten Gründen fragen lassen100. 3. Das Problem der „natürlichen
Theologie"
H a t sich Brunner mit seinem Hinweis auf die andere Aufgabe der Theologie, mit seiner Frage nach dem Anknüpfungspunkt, mit seiner Lehre von der Schöpfungsoffenbarung auf einen Weg begeben, der unweigerlich zuletzt doch zu einer natürlichen Theologie hinführt und sich darin von den Voraussetzungen evangelisch-theologischen Denkens entfernt? Diese Frage stand hinter all den Überlegungen, die uns hier beschäftigten. Wenn wir erst jetzt ausdrücklich auf sie eingehen, dann geschieht dies mit voller Absicht: Das, was Brunner sagen wollte, sollte erst einmal in seinem eigenen Kontext und in seiner eigentlichen Intention zur Geltung kommen und nicht von vornherein einem inquisitorischen Verhör unterworfen werden. Auch wenn es sich dabei mitunter als unumgänglich 104 Barth hält Brunner in seiner Erwiderung entgegen, man dürfe sich hier „nicht auf die zweite Person der Trinität als solche, auf den ewigen Sohn oder das ewige Wort Gottes in abstracto und also auf den logos asarkos zurückziehen". Es habe in diesem Zusammenhang keinen Sinn, weder ontologisch nodi erkenntnismäßig noch theologisdi hinter die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zurückzugehen. „Wie soll denn dieser Regreß überhaupt vollzogen werden? Wo soll er anheben und hinführen?" Es gehe hier ja nicht um den deus pro nobis, um den Versöhner, sondern um einen Logos, der noch nicht diesen bestimmten Inhalt und diese Gestalt habe — um um einen Logos also, von dem man „nur träumen" kann, der in seiner Abstraktion vom wirklichen Offenbarungshandeln ein „leerer Begriff" bleiben müßte (KD IV, 1, S . 5 4 f . ) . Nicht übersehen werden soll jedodi, daß Barth selbst sich früher einmal in ähnlicher Weise auf den Logos der Schöpfung, auf das regnum naturae Christi, auf das reformierte Extra Calvinisticum berufen konnte (vgl. „Die Kirche und die Kultur", 1926, in: Die Theologie und die Kirche, Ges. Vorträge, 1928, S. 374, sowie „Die christliche Dogmatik im Entwurf", 1927, S. 270 f.).
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erwies, das Problem der natürlichen Theologie in die Überlegungen mit einzubeziehen, schien es doch für das Verständnis der gemeinten Sache zuträglicher, sie nicht vorweg mit einem Begriff zu belasten, der selbst erst noch einer genaueren Klärung bedürftig ist und überdies von Brunner nur „versuchsweise" eingeführt und bald wieder fallengelassen wurde. Doch damit greifen wir bereits der späteren Entwicklung vor. a) Zur
Vorgeschichte
Zunächst ist jedenfalls daran zu erinnern, daß Brunner von Anfang an seine neue Fragestellung nicht als eine Hinwendung zur natürlichen Theologie im herkömmlichen Sinn des Wortes verstanden wissen wollte. Er hat vielmehr die Möglichkeit einer solchen natürlichen Theologie immer bestritten und ihre Ablehnung gerade durch die Art, wie er das natürliche Vorverständnis, das natürliche Wissen um Gott bestimmte, begründet. Bereits im „Mittler" zeigte er die unüberschreitbare Grenze auf, die seinen Hinweis auf eine allgemeine Offenbarung von jeder natürlichen Theologie trennt: Die Gotteserkenntnis der Vernunft steht unter Gottes Zorn, weil sie immer zugleich ein Gottfliehen ist. Sie ermöglicht „wahrhaftig keine ,theologia naturalis', die sich als Basis für eine christliche Theologie eignete". Werden die natürlichen Ordnungen des Lebens, die lex naturae, das natürliche Erkennen, die natürliche Theologie im katholischen Verständnis zum Fundament eines darauf aufbauenden regnum gratiae erklärt, dann „wird das Christusfaktum entleert und das Bild des natürlichen Menschen' verfälscht" 101 . Auch in seinem Aufsatz über die andere Aufgabe der Theologie versäumt er es nicht, zugleich mit der Bejahung des Anknüpfungspunktes die theologia naturalis zu verneinen: „Vom Evangelium aus erscheint alles von Gott Wissen des Menschen zugleich als ein Nichtwissen, mindestens als ein Nichtrechtwissen und ein nicht heilvolles Wissen, das darum untauglich ist, als theologia naturalis der christlichen Theologie zum Fundament zu dienen." 102 Diese Linie der Ablehnung durchbricht Brunner auch in allen Äußerungen der Folgezeit niemals. Gegen die Verfechter der theologia naturalis führt er gerade die Aussagen von Rom. 1,18 ff. ins Feld, auf die sie sich „fälschlicherweise" beriefen, die aber „für eine theologia naturalis im positiven Sinn" niemals hinreichten 103 . Es gibt eben keine wirkliche inhaltliche Kontinuität zwischen der natürlichen und der christlichen Gotteserkenntnis, weil es keine Kontinuität zwischen einem Götzen und dem wahren Gott geben kann. Die religio naturalis ist nicht so etwas wie eine unvollkommene Vorform des wahren Gottesdienstes, sie erfährt hier nicht ihre Erfüllung und Vollendung, sondern ihr Gerichtsurteil. Darüber 101 103
258
Mi, S. 3 73. 13. ThuK, S. 399 Anm. 2; GuO, S. 579.
102
Aufg, S. 262.
kann nach allem, was Brunner explizit und implizit zur natürlichen Gotteserkenntnis sagt, kein ernsthafter Zweifel mehr bestehen. Das Problem stellt sich ihm von vornherein unter einem ganz anderen Gesichtspunkt, den er in der Auseinandersetzung mit Kuhlmann so formuliert: „Daß aber der Mensch, wenn er den wirklichen Gott nicht hat, notwendig Götzen hat, das ist das Problem meiner theologia naturalis . . ." 104 Hier gebraucht Brunner nun in der Tat den Begriff der theologia naturalis im Zusammenhang seiner eigenen Fragestellung. Er spielt dabei offensichtlich auf jene Bemerkung in seinem Eristikaufsatz an, die weithin Aufsehen erregte und Barths Mißtrauen in seine theologische Absicht kräftig förderte. Im Anschluß an die Beschreibung der propädeutischen Eristik, die die „Brücken" in Anspruch nehmen soll, die Gott dem sündigen Menschen zum Glauben hin gelassen hat, d. h. die an das dem Menschen als Schöpfungsgnade verbliebene Gottesbewußtsein anknüpfen soll, unterstrich Brunner noch einmal nachdrücklich die Notwendigkeit und Dringlichkeit dieser Aufgabe: Nachdem der Gegensatz zwischen Natur und Gnade einigermaßen verstanden sei, sei es nunmehr „höchste Zeit", sich „mit größter Sorgfalt des Problems der revelatio generalis in all ihren Erscheinungen" anzunehmen! Was Brunner darunter verstand, deutete er in dem folgenden Satz an: „Eine theologia naturalis von vornherein und in jedem Sinn abzulehnen, ist weder paulinisch noch reformatorisch, so groß audi die Gefahr vom modernen Kontinuitätsdenken her gerade hier ist." 105 Kein Zweifel, hier wird anders von der theologia naturalis gesprochen als in jenem strikt ablehnenden Sinn. Hier wird das Problem der natürlichen Theologie neu ins Auge gefaßt. Allerdings reiht sich Brunner damit noch keineswegs in die Reihe derer ein, die einer positiven natürlichen Theologie außerhalb der Glaubenserkenntnis das Wort reden. Er nimmt vielmehr nur die bereits im „Mittler" gleichzeitig mit der Ablehnung einer theologia naturalis ausgesprochene These auf, daß man gar nicht christlich an die einmalige Offenbarung glauben kann, „ohne an eine allgemeine Offenbarung Gottes in der Schöpfung, in der Geschichte und im Gewissen zu glauben" 106 . Der Ausgangs- und Zielpunkt der von Brunner verfolgten Fragestellung ist also ein anderer als der einer theologia naturalis vulgaris. Ihm geht es um das im Glauben vorausgesetzte und erschlossene allgemeine Offenbarsein Gottes, d. h. um die allgemeine Offenbarung in ihrem christlichen Verständnis, in dem sie dem Kriterium des Mittlerglaubens unterliegt und so in ihrer „Gebro104 GuO, S. 579. Brunner bezieht sich hier auf eine kritische Anmerkung Kuhlmanns, der Brunners Verständnis der nicht zerstörten imago, des irgendwie um Gott wissenden, im Widerspruch existierenden „natürlichen" Menschen, uneingeschränkt und undifferenziert als „theologia naturalis" bezeichnet (Theologia naturalis bei Philon und bei Paulus, S. 135 Anm. 1 — im Hinblidc auf Brunners Eristikaufsatz in ZZ 1929, S. 264, und GuM, 1930, S. 55 f.). 105 106 Aufg, S. 273 Anm. 7. Mi, S. 13.
259
chenheit" erkannt und anerkannt wird. Es geht ihm um die Wahrnehmung des „göttlichen Faktors", der trotz aller Verkehrung in der menschlichen Gottbezogenheit und Gottesbeziehung, in der Gottesidee, in dem Wissen um die Forderung des Gesetzes, in dem Unterworfensein unter das Urteil des Gewissens mitgegeben ist und den Menschen als das Wesen coram Deo konstituiert. In diesem Sinn umschreibt der hier aufgenommene Begriff der natürlichen Theologie lediglich die Aufgabe der theologischen Anthropologie, das immer schon Von-Gott-her-Sein des Menschen, sein von Gott Inanspruchgenommensein, seinen Existenzwiderspruch und in dem allen seine Ansprechbarkeit und seine Verantwortlichkeit auszusagen. Dies ist der Gesichtspunkt, unter dem Brunner im Hinblick auf sein eigenes Verständnis der theologischen Aufgabe von natürlicher Theologie sprechen kann. Er legt zunächst begreiflicherweise keinen besonderen Wert auf die Übernahme dieses provozierenden, so stark belasteten Begriffs, der nur durch eine kritische Interpretation, nur durch eine von Grund auf neue Bestimmung verwendbar sein konnte, und die Vermutung scheint nicht ganz unbegründet, daß die Art, wie auch Bultmann diesen Begriff aufnahm, ihn zu einem unbefangeneren Gebrauch ermutigte. Denn Bultmann griff in seinem Aufsatz „Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube" expressis verbis die Frage der „sogenannten natürlichen Theologie" neu auf als die Frage, „wie die philosophische ontologisch-existentiale Daseinsanalyse als ontisch-existentielles Unterfangen des Daseins vom Glauben aus negativ und positiv verstanden werden müsse", und er kam zu dem differenzierenden Urteil, daß „eine .natürliche Theologie', die nicht vom Glauben aus entworfen, gleichwohl die Glaubenstheologie begründen (unterbauen) will, illegitim und unmöglich" sei, „legitim und notwendig dagegen eine .natürliche Theologie', die vom Glauben aus das .natürliche' (vorgläubige) Dasein verständlich macht, so wie es Paulus Rom. 1,18—3,20 unternimmt" 107 . Brunner stimmte dieser Differenzierung und Begründung zu und freute sich, in dieser Aufgabenbestimmung einer theologischen Anthropologie seine eigene Fragestellung bestätigt zu finden. Er interpretierte also den Begriff der natürlichen Theologie als die theologische Lehre vom natürlichen Menschen, die vom Glauben aus dartut, „daß der Mensch auch abgesehen vom Glauben, d. h. als natürlicher Mensch, nur von Gott aus verstanden werden könne und daß er audi als natürlicher Mensch sich auf Gott irgendwie bezogen wisse"108. 107 ZThK 11 1930, S. 350 Anm. 1; vgl. zur Sache auch: Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament (1929) und die Kritik Kuhlmanns in Theologia naturalis, S. 117 bis 122, sowie in: Zum theologischen Problem der Existenz. Fragen an R. Bultmann, ZThK 10 1929, S. 28 ff. 108 ThuOnt (1931), S . 1 1 2 f . 119 f.; siehe oben S. 161 f.
260
b) Objektive und subjektive theologia naturalis Von dieser Vorgeschichte und dieser Sinngebung ist auszugehen, wenn man den rechten Zugang zur Frage der natürlichen Theologie, wie Brunner sie in „Natur und Gnade" in den Mittelpunkt stellt, gewinnen will. Es muß also von vornherein bei Brunner mit zwei völlig verschiedenen Bedeutungen des Begriffs der natürlichen Theologie gerechnet werden. Die theologia naturalis im katholischen Verständnis wird in allen seinen Äußerungen zur Sache unzweideutig abgelehnt. Sie ist von den Voraussetzungen seines Denkens aus für ihn indiskutabel. Der andere, von Brunner bejahte Sinn einer theologia naturalis ist so sehr von seiner eigenen Fragestellung bestimmt, daß nur im Zusammenhang dieser Sinngebung eine Diskussion über seine theologia naturalis möglich ist. Man muß sich also darüber im klaren sein, daß er im Verfolg seiner Fragestellung nicht unversehens auf eine abschüssige Bahn gerät, die ihn, womöglich gegen seine eigentliche Absicht, auf den alten, längst als Sackgasse entlarvten Weg einer rationalen natürlichen Theologie hinführt, sondern daß er sich dieser Gefahr durchaus bewußt ist und seinen eigenen Weg im Wissen um den zu meidenden gefährlichen Abweg geht. Wenn er gleichwohl von einer theologia naturalis spricht, dann nicht im Banne jener Bewegung auf einer abschüssigen Bahn, sondern zur Kennzeichnung seines eigenen Weges. Er vollzieht mit der Aufnahme dieses Begriffs keine überraschende Wende und fordert mit ihm nichts, was er nicht längst in anderer Weise, ohne diesen Begriff zu gebraudien, zum Ausdruck gebracht hat. Das Neue besteht lediglich darin, daß er seine früheren Überlegungen unter diesem Begriff zusammenfaßt. „Seine" theologia naturalis meint also nichts anderes als die alte Fragestellung, die um die Dialektik des Gesetzes kreist, um den diakritischen Punkt der Begegnung zwischen Gott und Mensch. Es ist die Frage nach dem Anknüpfungspunkt, nach dem natürlichen Vorverständnis, nach den Voraussetzungen des Verstehens der Verkündigung, nach dem Menschsein des Menschen in seiner Gottbezogenheit und tatsächlichen Gottesbeziehung. Es ist die Frage nach der Notwendigkeit und Wirklichkeit einer allgemeinen Schöpfungsoffenbarung, wie sie in der Botschaft und im Geschehen des Glaubens vorausgesetzt ist. Es ist die Aufgabe der Eristik, die sogenannte andere Aufgabe der Theologie in dem dargelegten Verständnis, die Aufgabe einer theologischen Anthropologie, die das Sein des natürlichen Menschen in seiner theologischen Relevanz erfaßt. Freilich ist damit noch nicht darüber entschieden, ob Brunner sich auch in „Natur und Gnade" strikt an diesen Sinnzusammenhang und seine Interpretation hält. Barth glaubte ja, gerade hier einen entlarvenden Schritt weiter in die falsche Richtung feststellen zu können 109 . Dies wird noch zu 109
Nein, S. 48 f. 51.
261
prüfen sein. Gegen die Vermutung, daß sich hier eine ganz neue Entwicklung anbahnt bzw. ein konsequentes verhängnisvolles Fortschreiten auf dem angeblich beschrittenen abschüssigen Weg, spricht an sich schon die Skizzierung des mit dem Begriff der theologia naturalis bezeichneten Sachzusammenhangs, die Brunner seiner Auseinandersetzung mit Barth in „Natur und Gnade" zugrunde legt 110 . Er nennt 1. die audi im sündigen Menschen erhalten gebliebene Gottebenbildlichkeit in ihrem formalen Sinn, also das Subjektsein (Personsein), die Wortfähigkeit, die Verantwortlichkeit des Menschen; 2. die allgemeine Offenbarung Gottes in der Natur, im Gewissen und in der Geschichte in dem Sinn, wie sie im vorigen Abschnitt erörtert wurde; 3. die Schöpfungs- und Erhaltungsgnade (im Unterschied zur erlösenden Christusgnade), in der Gott seinem Geschöpf nahe ist, audi wenn dieses von ihm ferne ist; 4. die Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen, in denen sich Gottes ordnender Schöpferwille (die lex naturae) manifestiert und die, auch wenn sie in ihrem Sinn nur vom Glauben an Christus aus richtig verstanden werden, doch auch vom natürlichen Menschen als notwendige, heilige Ordnungen anerkannt werden; 5. den in der formalen imago gegebenen Anknüpfungspunkt des erlösenden Handelns Gottes im Menschen, der im Verkündigungsgeschehen vorausgesetzt und in Anspruch genommen wird; 6. die in der Neuschaffung des Menschen bei aller Diskontinuität gewahrte Identität des menschlichen Subjekts, des menschlichen Selbstbewußtseins, die erst das Bekenntnis „ich glaube" zu einem personhaften Akt macht, in dem das Selbstverständnis des ungläubigen („natürlichen") Menschen in die Krise geführt und überwunden, aber auch gehört wird, so daß die neue Schöpfung auch Vollendung ist. Diese sechs Gesichtspunkte „gehören alle zum Problem der theologia naturalis", und in ihrer Behauptung — bei der Wahrung des Gegensatzes von Evangelium und natürlicher Gotteserkenntnis — besteht Brunners „natürliche Theologie" 1U . Es erübrigt sich, auf die einzelnen Thesen hier noch einmal des näheren einzugehen. Sie sind in der bisherigen Darstellung des Problems der Anknüpfung alle bereits zur Sprache gekommen mit dem Ergebnis, daß sie keinen Raum lassen für eine positive natürliche Theologie im herkömmlichen Sinn, sondern dieser gerade den Boden entziehen. Insofern scheint kein Anlaß zu bestehen, in „Natur und Gnade" argwöhnisch eine neue Tendenz zu vermuten, es sei denn die Zuspitzung aller Überlegungen auf den Begriff der natürlichen Theologie, die in Brunners berühmt-berüch110
262
NuG, S. 8
ff.
111
Vgl. NuG, S. 9. 21.
tigtem Schlußsatz ihren Höhepunkt erreicht: „Es ist die Aufgabe unserer theologischen Generation, sich zur rechten theologia naturalis zurückzufinden."112 Für sich genommen konnte ein solcher Satz schon Furore machen und Assoziationen wecken, die gerade nicht geweckt werden sollten. Daß dabei das ganze Gewicht auf der zur Vorsicht und zu kritischem Bedenken mahnenden differentia specifica lag, eben auf der Aufforderung zur „rechten" theologia naturalis im Gegensatz zur falschen, mußte jedoch zumindest hellhörig machen und die Aufmerksamkeit auf Brunners eigenes Anliegen lenken. Er ließ auch in „Natur und Gnade" keinen Zweifel daran, daß es ihm nicht um die Behauptung der Möglichkeit einer heidnischen rationalen natürlichen Theologie ging, sondern um eine christliche theologia naturalis, d. h. um eine „christlich-theologische Besinnung, die sich über das im natürlichen Leben Vorkommende Rechenschaft gibt" 11S . In der 2. Auflage definiert er diese Besinnung in Anlehnung an frühere Formulierungen als „christliche Lehre vom natürlichen Menschen" bzw. als „christliche Lehre von der Schöpfungsoffenbarung oder Naturoffenbarung Gottes" 114 . Unter dem Eindruck des Barthschen „Nein!" bemüht er sich um eine möglichst hieb- und stichfeste umfassende Definition: „Ich verstehe also unter einer christlichen theologia naturalis . . . eine Lehre von der objektiven Erkennbarkeit Gottes in seinem Schöpfungswerk, wie sie nur innerhalb einer christlichen Theologie, d. h. nur auf Grund der Christusoffenbarung, der Heiligen Schrift und der Erleuchtung durch den Heiligen Geist möglich ist, und zu der die Auslegung von Rom. 1 und 2 — wie auch vieler anderer Stellen der Heiligen Schrift — ebenso wie die Auslegung des ersten Artikels Anlaß und Nötigung geben." 115 Diese schon früher geltend gemachte Voraussetzung, die mit dem Anspruch einer rationalen theologia naturalis absolut unverträglich ist, darf auch hier nie außer acht gelassen werden: Die christliche theologia naturalis unterliegt dem Kriterium des Mittlerglaubens. Sie bildet also weder das natürliche Fundament, auf dem er ergänzend oder vollendend aufbaut, noch kann sie je in ein konkurrierendes Verhältnis zu ihm treten. Sie ist nicht eine Möglichkeit des natürlichen Menschen. Sie ist in ihrem Erkennen und Urteilen gebunden an die Christusoffenbarung, an die Voraussetzung des Glaubens. Sie geht davon aus, daß der natürliche Mensch als der homo peccator nicht imstande ist, den wahren Gott zu erkennen, und daß die rechte „natürliche" Gotteserkenntnis nur der Christ hat, d. h. „der Mensch, der zugleich in der Christusoffenbarung drinsteht" 11β . Allerdings gibt es notwendigerweise Berührungspunkte zwischen der christlichen und der rationalen theologia naturalis, denn es geht in der 112 113 115
NuG, S. 44; vgl. dazu die Erläuterungen NuG 2 , S. 59 mm. 114 NuG, S. 17. 32 ff. 2 IVf. 50 u. NuG 2 , S. I. II. V. 60. 119 NuG 2 , S. 50 u. NuG, S. 15. 263
christlichen theologia naturalis ja um das wirkliche Sein des natürlichen Menschen, um sein tatsächliches Gottesverhältnis, um sein Inanspruchgenommensein durch Gott und sein „irgendwie" Um-Gott-Wissen 117 . Und es erscheint daher auch nicht ganz unbegreiflich, daß diese Berührung und die hier entstehende nicht zu leugnende Unschärferelation, die Brunner in Kauf nehmen muß in seinem doppelten Bemühen, die Faktizität einer natürlichen Gotteserkenntnis prinzipiell festzuhalten und sie dennoch zugleich inhaltlich in ihrem Wahrheitsgehalt prinzipiell zu entwerten, das Mißverständnis erleichterte, Brunners „christliche" theologia naturalis lediglich als eine modifizierte Neuauflage der alten natürlichen Theologie zu interpretieren, die in ihrem Kern eben doch die Anerkennung einer natürlichen Gotteserkenntnis bedeute. Daß es sich hier gleichwohl um ein fundamentales Mißverständnis handelt, hat die Analyse seines Verständnisses der Schöpfungsoffenbarung und der natürlichen Gotteserkenntnis gezeigt. Auf die für dieses Verständnis grundlegende Unterscheidung zwischen der objektiven Schöpfungsoffenbarung, d.h. der objektiven Erkennbarkeit Gottes, und dem tatsächlichen subjektiven Erkennen 118 müssen wir hier noch einmal zurückkommen, denn gerade mit ihrer Hilfe sucht Brunner den doppelsinnigen Begriff der natürlichen Theologie zu klären. Es geht hier zunächst um die „bedeutsame Unterscheidung" eines objektiven und eines subjektiven Faktors innerhalb der mit der Offenbarung Gottes und ihrer Wahrnehmung gesetzten Erkenntnisrelation. Der objektive Faktor verweist auf die Schöpfungsoffenbarung als solche, auf Gottes wirkliches Offenbarsein, auf die „allgemeine, jedem Menschen vor Augen gestellte Gottesoffenbarung in seinen Werken, die wahrzunehmen sind, und in seinem Gesetz, das jedem ins Herz geschrieben ist" 119 . Der subjektive Faktor verweist auf die Wirklichkeit des menschlichen Erkennens als das Erkennen des homo peccator. Der Zusammenhang des Objektiven und Subjektiven, aber auch die qualitative Differenz kommt in der Tatsache zum Vorschein, daß der sündige Mensch faktisch „Gottes Schöpfungsoffenbarung in Götterbilder umlügt", daß er Gott nicht in seinem wahren Wesen wahrnimmt. Es muß also prinzipiell unterschieden werden zwischen der allgemeinen Schöpfungs- oder Naturoffenbarung und der natürlichen Gotteserkenntnis. Spricht man von natürlicher Offenbarung und natürlicher Gotteserkenntnis, dann kann demnach der Begriff „natürlich" etwas ganz Verschiedenes besagen, je nachdem, ob man dabei das göttlich-objektive Moment im Sinne hat, die Selbstvergegenwärtigung Gottes in seinem schöpferischen Walten in der Natur, in der Geschichte, in dem ins Herz geschriebenen Gesetz (im Unterschied zu seiner Offen1 1 8 Siehe oben S . 2 3 1 . Siehe oben S. 231 ff. NuG, S. 13 f. 2 I V . Es ist deutlich, daß Brunner bei dieser Unterscheidung Rom. 1 , 1 9 f f . und 2 , 1 4 f . vor Augen hat! 117
119
264
barung im Christusgeschehen), oder ob man mit „natürlich" die subjektiv-menschliche Erkenntnismöglichkeit und das, „was der sündige Mensch daraus erkennend-nichterkennend macht", meint120. Brunner überträgt nun diesen unterschiedlichen Sinn von naturalis auf den Begriff der natürlichen Theologie. Er unterscheidet also zwischen einer theologia naturalis im objektiven Sinn und einer theologia naturalis im subjektiven Sinn121. Die erstere ist nichts anderes als die christliche Lehre von der Schöpfungsoffenbarung Gottes, die „Lehre von der objektiven Erkennbarkeit Gottes", und das heißt zugleich die Lehre vomlnanspruchgenommensein des sich Gott versagenden Menschen durch Gott, wie sie im Glauben, „im Zusammenhang der christlichen Gotteserkenntnis", in der Verkündigung des Evangeliums zur Sprache kommt122. Sie ist gemeint, wenn Brunner von christlicher theologia naturalis oder von rechter theologia naturalis spricht. Sie ist nicht die Gotteserkenntnis, die theologia des natürlichen Menschen, sondern die „christlich-gläubige" Erkenntnis der Naturoffenbarung Gottes123. Christus ist es, der uns „die wahre theologia naturalis, die wahre Erkenntnis Gottes in seinem Werk, zurückgibt..."124! Die theologia naturalis im subjektiven Sinn steht demgegenüber prinzipiell im Bann menschlicher Eigenmächtigkeit, die „an die Stelle Gottes Götter ,erkennt' oder phantasiert'", die sich seinem Anspruch versagt und in ihrem nichterkennenden Erkennen bzw. in ihrem nichtanerkennenden Erkennen das Sündersein des Menschen dokumentiert125. Zwischen ihr und der objektiven theologia naturalis besteht insofern ein wirklicher Zusammenhang, als sie nicht wäre, was sie ist, ohne die Wirklichkeit der Schöpfungsoffenbarung. Und im Hinblick auf das Personsein des Menschen gilt auch von ihr, daß sie selbst in ihrer Verkehrtheit die Gottebenbildlichkeit des Menschen bezeugt. Denn wo es um das verantwortlich Vor-Gott-Gestelltsein, um die Gottesbeziehung des Menschen geht, da geht es um seine Gottebenbildlichkeit. Die Lehre von der imago Dei ist hier der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Die imago Dei ist, sofern es in ihr um das Zentrum des Menschen, um den innersten „Personkern geht, nicht nur der Mittelpunkt der theologia naturalis im objekNuG, S. 15 (siehe oben A n m . 2 0 ) . NuG, S. 23 ff. 29. 32 ff.; NuG 2 , S . V . 47 k. 5 0 ; vgl. MiW, S. 541. 543 f.; OuV, S. 83. 9 5 ; D I, S. 137ff. 1 2 2 NuG 2 , S . I V f . 50 u. 60; siehe dazu oben S. 244 ff. 254. 1 2 8 Brunner weist im Vorwort zur 2. Auflage ausdrücklich darauf hin, daß die für seine Darstellung grundlegende Unterscheidung zwisdien objektiver und subjektiver theologia naturalis „mit der zwisdien einer christlich-gläubigen und einer heidnischrationalen identisch" sei (S. V). Das ist keine nachträglich modifizierende Interpretation, sondern entspricht der sachlichen Aussage der 1. Auflage. 120 121
124 125
N u G , S. 29, im Zusammenhang seiner Calvinexegese. NuG, S. 14 f. 29.
265
tiven Sinn, sondern als formale imago die Voraussetzung und der Ausgangspunkt aller, auch der subjektiv-natürlichen Gotteserkenntnis 126 . Denn sie konstituiert das theologische Wesen des Menschen, seine Humanität als Divinität; sie nötigt ihn — als Ausdruck seiner schöpfungsmäßigen Gottbezogenheit — zur Religion, zur Frage nach Gott, auch wenn sie ihm nicht die wahre Religion, die wahre Gotteserkenntnis ermöglicht127. Das objektive und das subjektive Moment gehen also im Personsein des Menschen ineinander über. So kann Brunner die subjektive theologia naturalis geradezu durch diesen Zusammenhang mit der Gottebenbildlichkeit definieren: „Die dem Menschen verbliebene imago ist das Prinzip der theologia naturalis im subjektiven Sinn, d. h. derjenigen Erkenntnis Gottes in der Natur, deren der Mensch, abgesehen von der Offenbarung in der Schrift oder in Jesus Christus, fähig ist." Mit dieser allgemeingehaltenen Definition, die sich zunächst auf die Auffassung Calvins bezieht, in der aber auch Brunners eigenes Verständnis zum Ausdruck kommt, ist freilich noch nichts über den Wahrheitsgehalt dessen ausgesagt, worin sich diese potentielle „Fähigkeit" des Menschen konkret äußert 128 . Ebenso wie die subjektiv-natürliche Gotteserkenntnis nicht ist, was sie ist, ohne die Schöpfungsoffenbarung, so gilt nach Brunners Begriffsbestimmung ja auch prinzipiell das andere Urteil: Sie ist nicht, was sie ist, ohne die Sünde. Beides zusammengenommen ist für ihn erst die „Generalformel für alle natürliche Gotteserkenntnis' " 12e . Und darin wird für Brunner die Unterscheidung der beiden Sinngehalte natürlicher Theologie zur fundamentalen Scheidung. Die subjektive theologia naturalis ist die eigenmächtige theologia des Gott verfehlenden Menschen. Sie ist durch und durch verkehrte theologia und kann nichts anderes sein, da in ihr der Mensch Gott zu seinem Götzen macht, die Wahrheit Gottes niederhält und verfälscht. Die Subjektivität ist hier gerade nicht die Wahrheit, sondern die Quelle 12e
N u G , S. 43. 24. 29; MiW, S. 520. Sie wird geradezu zum Anlaß für den Menschen, sich selbst mißzuverstehen, das, was nur aus dem Schöpfungsakt Gottes, aus der unverfügbaren Transzendenz zu verstehen ist, immanent auszulegen. Vgl. N u G , S. 29. 128 Vgl, NuG, S. 29. Brunner weist hier darauf hin, daß von dieser theologia naturalis im subjektiven Sinn bei Calvin natürlich nur beiläufig die Rede sei und daß sie für uns „keinen praktischen Wert" habe, da sie „ganz und gar überflüssig und außer Kraft gesetzt" sei durch „die bessere Erkenntnis, die wir in Christus haben". Wenn dies audi zunächst nach einer relativen, wenigstens zeitbedingten Anerkennung dieser natürlichen Gotteserkenntnis aussieht, so zeigt doch schon der folgende Satz, daß es so nicht gemeint sein kann, denn diese subjektiv-natürliche Erkenntnis Gottes ist eine „nicht nur unvollkommene, sondern auch immer durch Unwahrheit verkehrte". Sie wird also nicht als gültig anerkannt, sondern ist durch die Erkenntnis Christi überwunden. Ihre Bedeutung im Zusammenhang des anknüpfenden Verkündigungsgeschehens wird allerdings damit nicht bestritten. U m die Klärung dieses Sachverhalts geht es ja gerade Brunner. 127
129
266
OuV, S. 90 f.; N u G , S. 14 f. 24. 29 u.ö.
der Unwahrheit. Subjektive natürliche Theologie als das vom Menschen ausgehende „Erkennen" Gottes, als die vom Menschen ausgehende Verständigung über Gott, als die vom Menschen ausgehende Vermenschlichung und Verweltlichung Gottes ist der Zugriff der sich selbst mißverstehenden, sich überhebenden, ihre Grenze überschreitenden Vernunft und zeigt den Menschen gerade in seinem Widerspruch gegen den sich offenbarenden Gott. Sie ist der Irrweg, den der Mensch als Sünder beschreitet, der darum nie zu Gott, sondern immer nur in die Sünde hineinund also von Gott wegführt. Subjektive natürliche Theologie ist in ihrem Vollzug und in ihrem Ergebnis nicht nur der Ausdruck des von Gott Inanspruchgenommenseins, sondern zugleich auch des von Gott Dahingegebenseins in die Perversion, in der alles pervertiert wird. Sie ist Existenz unter Gottes Zorn, in der sich der Mensch gerade mit seinem „Gottesgedanken" vor Gott schuldig spricht. Die „rechte" theologia naturalis hingegen, wie Brunner sie versteht, geht in ihrer Gotteserkenntnis den Weg, den die Heilige Schrift weist. Sie geht in ihrem Urteil über das Gottesverhältnis des Menschen den Weg, dessen Ausgangspunkt und unüberschreitbare Grenze im Römerbrief aufgezeigt ist. Brunner könnte, so wie er von Paulus sagt, er habe hier den Grundstein zu einer christlichen Lehre von der heidnischen Religion gelegt130, ebensogut von der (christlichen) natürlichen Theologie des Apostels sprechen, so wie er ja auch in diesem Sinn von der theologia naturalis Luthers und Calvins spricht und die „reformatorische theologia naturalis" immer wieder zur beweiskräftigen Erläuterung seiner eigenen Auffassung heranzieht 131 . 1S
« N u G 2 , Vorwort S. I f f . Dies geschieht nicht erst in dem IV. Abschnitt von N u G („Die reformatorische Lehre und ihr Gegensatz"), in dem er vor allem sein Verständnis der theologia naturalis Calvins entwickelt, während er auf Luther hier und im Vorwort zur 2.Auflage (S. III) nur kurz Bezug nimmt. Bereits in „Kirche und Offenbarung" (1929) wies er darauf hin, daß weder Luther noch Calvin „eine revelatio generalis und also eine natürliche Gotteserkenntnis geleugnet haben" (Gott und Mensdi, S. 56 Anm. 1), und ebenso bedient er sich ihrer in seinem Anknüpfungsaufsatz als Kronzeugen (Ankn, S. 514 ff. 520. 523). Dabei ist er der Meinung, „daß Luther der theologia naturalis viel größere Konzessionen macht als Calvin" (GuO, S. 579 Anm. 4). „In der Tatsache des Götzendienstes sowie eines natürlichen Sittengesetzes anerkennt Luther beides, die theologia und die ethica rationalis. Ja, er anerkennt auch des bestimmtesten das ins Herz geschriebene Gesetz als Anknüpfungspunkt des Gotteswortes" (GuO, S. 580) und ließ „den Schöpferglauben als gemeinsames Gut aller Menschen, als Stammbegriff der theologia naturalis gelten", obgleich er andererseits scharf betonte, daß nur der Christ wisse, was Gott der Schöpfer heiße (GuO, S. 582 Anm. 5). Audi in O u V verweist er in seiner Darstellung des Problems der Schöpfungsoffenbarung zunächst auf Calvin und Luther, bei denen sich die natürliche Theologie „auf eine Lehre vom Heidentum, das heißt auf eine Lehre von der ständigen Verkehrung der in der Schöpfungsoffenbarung gegebenen Erkenntnis" reduziere. Aber dieses Götzentum sei beiden ein Beweis für die Tatsächlichkeit der Schöpfungsoffenbarung. „Die Lehre von der Unvermeidlichkeit 181
267
c) Brunners Gegensatz zur katholischen
Auffassung
Das Befremdliche, ja Schockierende einer solchen Ausdrucksweise für den, der damit das reformatorische Anliegen in sein Gegenteil verkehrt sieht, verliert seinen Schrecken, sobald klar erkannt ist, was Brunner damit meint und was er nicht meint. Er lehnt, indem er eine christliche theologia naturalis fordert, gerade die theologia naturalis als reale Möglichkeit des natürlichen Menschen ab. Er möchte mit der Herausarbeitung des fundamentalen qualitativen Unterschieds zwischen einer objektiven und einer subjektiven theologia naturalis gerade den Gegensatz zur katholischen Auffassung deutlich machen. Darum stellt er dem eben entwickelten Verständnis einer christlichen „natürlichen" Theologie die thomistischkatholische Lehre gegenüber. Die entscheidende Differenz sieht er im Rahmen seines begrifflichen Modells darin, daß im „Katholizismus" der objektive mit dem subjektiven Naturbegriff zusammenfällt, „die beiden decken sich sozusagen völlig" 132. Das zeigt sich seiner Meinung nach aufs deutlichste in der katholischen Lehre von der unverlierbaren imago Dei. Da nach ihr ja nur die dona superaddita verlorengingen, sieht sie in der jetzigen humanitas ungeachtet der Sünde die richtige ursprüngliche Natur (freier Wille und Vernunft). Die natürliche Ausrichtung auf Gott bleibt danach erhalten, denn sie ist nicht an die übernatürliche Gnade gebunden. Eine rationale natürliche Theologie erscheint in der Konsequenz dieses Naturbegriffs nicht nur als möglich, sondern als notwendig: „Es gibt eine ungebrochene theologia naturalis, es gibt ein für sich bestehendes, von der theologia revelata loslösbares, ihr als solider Unterbau dienendes System der natürlichen Theologie, ein Vernunftsystem, das sich selbst genügt" ; denn diese theologia naturalis ist allein auf das Erkennen der Vernunft begründet. Sie ist rein rational und als solche „in sich geschlossen"133. Für die Natur, auch sofern sie als göttliche Schöpfungsordnung in Betracht kommt, ist eben die Vernunft zuständig und völlig genügend. Dem Glauben hingegen ist das Übernatürliche zugeordnet. Brunner sieht in dieser undialektischen Synthese eine einfache und geniale Lösung des anthropologischen Zentralproblems, aber auch den entscheidenden Gegensatz zum reformatorischen Verständnis von Gott und Mensch, Sünde und Gnade, Vernunft und Glaube. Hier liegt auf der natürlichen Gotteserkenntnis kein Zwielicht wie bei den Reformatoren. Hier muß nicht erst „das Licht der Christusoffenbarung auch in die Natur hineinzünden", um dieses Fundament der heidnischen Gottesidee für den Menschen außerhalb von Christus — das ist die reformatorisdie theologia naturalis, die ihrerseits auf ihrer bibelmäßigen Lehre von der Schöpfungsoffenbarung sich gründet" (OuV, S. 75 f.). 132 Vgl. zum Folgenden N u G , S. 32 ff. 2 55cc; MiW, S. 83. 525. 530 f. 133 N u G , S. 32.
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zu erhellen. Hier wird nicht jede Aussage über die Natur „nur von Christus aus ganz richtig". An die Stelle des Zwiespalts ist die Zweiteilung getreten: „Hier Natur, dort Gnade, hier Vernunft, dort Offenbarung, beide wie ein erstes und ein zweites Stockwerk voneinander unterschieden, sauber durch eine Horizontale abgetrennt." 134 Brunner wiederholt mit dieser Charakterisierung der thomistischkatholischen Auffassung sein bereits im „Mittler" ausgesprochenes Urteil 135. Insofern dürfte Barth schwerlich im Recht sein, wenn er Brunner unterstellt, er entwerfe von der thomistischen Lehre ein grobes Zerrbild, um nur ja seine eigene Lehre, die selber thomistisch sei, von ihr unterscheiden zu können, sozusagen „der Deckung der eigenen Blöße halber" 13β . Brunner glaubte in der Tat, die maßgebende katholische Lehre, wie sie im I. Vatikanum formuliert wurde, im Entscheidenden sachlich zutreffend beschrieben zu haben 137 . Im Hinblick auf die Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Gnade und der Möglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis in der neuscholastischen Schuldogmatik wird man denn auch wohl kaum nur von einem Zerrbild sprechen können. Die Selbständigkeit, die hier der Natur des Menschen eingeräumt wird, und die ihm damit zugesprochene Möglichkeit, sein natürliches Ziel, zu dem auch die natürliche Erkenntnis Gottes gehört, wirklich zu erreichen, bestätigen Brunners Darstellung in dem, worauf es ihm ankommt, ebenso wie die harmonische Zuordnung der beiden Bereiche Natur und Gnade, die auf Ergänzung angelegt ist und das bekannte scholastische Axiom auch in seiner noetischen Form zum Kanon hat: Fides non destruit, sed supponit et perficit rationem 138 . 134
N u G , S. 33. „Lex naturae, natürliches Leben, natürliche Ordnungen, natürliches Erkennen, natürliche Theologie als Fundament; darüber sich wölbend das Reich der Gnade, der Kirche, und ihre Offenbarungswahrheit. Durch diese Ubereinanderschichtung der allgemeinen und speziellen Offenbarung wird das Christusfaktum entleert und das Bild des natürlichen Menschen' verfälscht" (Mi, S. 13). Brunner nimmt hier bereits das Bild von der Heilsoffenbarung als „zweitem Stockwerk" auf. Ähnlich kennzeichnet er in seinem Anknüpfungsaufsatz die thomistische Auffassung: „Die natürliche Gotteserkenntnis ist als solche richtig und läßt sich darum durch die übernatürliche einfach ergänzen (S. 522 Anm. 14). 135
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« Nein, S. 33. 39. 137 Ygi s e i n e Antwort in NuG 2 , S. 55 cc, sowie die Darstellung des Gegensatzes in MiW, S. 530 f. iss y g i . hierzu U. Kühn, Natur und Gnade. Untersuchungen zur deutschen katholischen Theologie der Gegenwart, Berlin 1961. Der Wert der informativen Arbeit Kühns liegt einmal darin, daß er nach den jeweiligen Denkvoraussetzungen zurückfragen möchte, um so die in verschiedenen Begriffssystemen fixierten Fronten zu durchbrechen und das kontroverstheologische Gespräch von Grund auf neu zu beginnen; vor allem aber liegt er darin, daß er nicht nur die in den gängigen Lehrbüchern vertretene offizielle Schuldogmatik heranzieht, sondern die zahlreichen eindrucksvollen Versuche katholischer Theologen, abseits von der neuthomistischen Normaltheologie
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Barths scharfe Kritik an Brunners Darstellung der katholischen Lehre von Natur und Gnade ist gleichwohl nicht ganz unbegründet 139 , und zwar nicht nur, weil die vereinfachende Schematik seiner Zeichnung ein Eingehen auf bedeutsame Differenzierungen und auf die tieferen jeweiligen Denkzusammenhänge vermissen läßt, sondern vor allem wegen seiner völligen Ignorierung andersartiger katholischer Entwürfe, die Barth veranlaßt festzustellen: „So wie Brunner und manche Andere die katholische theologia naturalis sich vorstellen, existiert sie in der heute maßgebenden katholischen Theologie nicht."140 Brunners Hinweis auf die Eindeutigkeit der Aussagen des I. Vatikanum mit seinem berühmten Canon: „Si quis dixerit, Deum unum et verum, creatorem et Dominum nostrum, per ea, quae facta sunt, naturali rationis humanae lumine certo cognosci non posse: anathema sit"141, macht gerade deutlich, wie schwierig es ist, sich über die maßgebliche katholische Lehre in der Frage der natürlichen Theologie zu verständigen. Denn wenn auch in aller Eindeutigkeit von den beiden unterschiedlichen Erkenntnisordnungen und Erkenntnisweisen gesprochen wird, der natürlichen Vernunft einerseits und dem normierenden, richtungweisenden übernatürlichen Glauben andererseits, und wenn das Verhältnis beider trotz der Uberordnung des Glaubens so bestimmt wird, daß sie, da sie beide von Gott verordnet sind, in keinem Widerspruch zueinander stehen können 142 , so ist damit doch die in der Interpretation von N a t u r und Gnade neue Wege zu gehen, mit einbezieht. Kühn kennzeichnet die Hauptunterscheidungsmerkmale der verschiedenen Lösungsversuche folgendermaßen: „Natur neben Gnade" (die Auffassung der neuscholastischen Schuldogmatik, vgl. z. B. Sdieeben, Diekamp, Lercher) ; „Natur auf Gnade hin" (K. Eschweiler, R. Guardini, G. Söhngen, M. Schmaus); „Natur in konkreter Einheit mit Gnade" (E.Przywara, K. Rahner, H . U. von Balthasar). Sein Urteil über die neuscholastische Schultheologie weicht nicht wesentlich von dem Brunners ab, wenn er feststellt: 1. daß in der Frage der Gotteserkenntnis das vorausgesetzte natürliche Wissen die „praeambula fidei" liefere, auf der sich das „dogma fidei" des übernatürlichen Glaubens aufbaut; 2. daß „die metaphysische Unterscheidung beider Ordnungen hier zu rein quantitativen Differenzen zwischen Natur und Gnade geführt hat, auf Grund deren es unvermeidlich wurde, daß beide Ordnungen wie zwei Stockwerke übereinander erbaut erschienen" (S. 41 f.). 139 „Wer sich auch nur ein wenig mit Thomas oder mit den Formulierungen des Vatikanums beschäftigt oder mit einem einigermaßen geschulten katholischen Theologen über diese Dinge gesprochen hat, der wird ja gewiß nicht sagen : nach katholischer Lehre gebe es eine ,ungebrochene theologia naturalis', bei der die Sünde .sozusagen außer Spiel' bleibe . . . " „Ganz ohne Gnade ist die Vernunft auch nach katholischer Ansicht unheilbar krank und keiner ernst zu nehmenden theologischen Leistung fähig" (Nein, S. 32 f.). 140 Nein, S. 34. 141 Constitutio de fide catholica, cap. 2, can. 1 (Denz. 1806); vgl. Denz. 1785 ff. 1795 ff. 142 Verum etsi fides sit supra rationem, nulla tarnen unquam inter fidem et rationem vera dissensio esse potest: cum idem Deus, qui mysteria revelat et fidem infundit, animo humano rationis lumen indiderit . . . (cap. 4, Denz. 1797).
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Frage, was hier mit natura oder naturale gemeint ist, nodi keineswegs geklärt, sondern unter katholischen Theologen weiterhin kontrovers. Es scheint, daß diese Frage aus dem konziliaren Text und seinen Intentionen gar nicht eindeutig zu beantworten ist 143 . H. U. von Balthasar stimmt der Interpretation, die M. Schmaus in seiner Dogmatik gibt, vorbehaltlos zu: „Das Vatikanische Konzil behauptet die Möglichkeit, nicht die Tatsächlichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis", d. h. es mache keine Aussage über das faktische natürliche Erkennen Gottes, sondern bejahe lediglich die zur menschlichen Natur gehörende Möglichkeit oder Fähigkeit, „an das Absolute, an Gott als Ursprung und Ende der geschaffenen Dinge zu rühren", ganz im Sinne von Rom. 1,20, worauf ja ausdrücklich in diesem Zusammenhang verwiesen wird. Nur dies sei gemeint: „daß die objektive Offenbarung Gottes durch die Geschöpfe der Verfassung der menschlichen Vernunft angepaßt ist, daß diese die Mittel besitzt, um Gott auf Grund dieser Offenbarung zu erkennen"144. Diese Auslegung, die das cognosci posse im Sinne der schöpfungsmäßigen Bestimmung der Vernunft oder, wie man vielleicht audi sagen könnte, formal-ontologisch versteht, hat ihre Stütze in den Erläuterungen, die mit der Vorlage dieses Textes gegeben wurden. Der Vortragende Gasser weist ausdrücklich darauf hin, daß zwei Dinge nicht verwechselt werden dürfen, die principia rationis und das exercitium rationis, und daß nur von den principia rationis, also von der allgemeinen, abstrakt absolut betrachteten Menschennatur, die Rede sei145. Immerhin, ganz überzeugend scheint die Deutung, daß hier nur die quaestio juris entschieden werde, während die quaestio facti bewußt offengelassen werde, auch nicht. Es gibt zu denken, daß der Verbesserungsvorschlag, daß neben der allgemeinen Möglichkeit, Gott zu erkennen, auch die konkrete Unmöglich1 4 3 Vgl. H . U. von Balthasar, K . B a r t h , S. 314ff., und die von ihm genannten Interpreten. Zur Auslegung der Lehre von der natürlichen Gotteserkenntnis im Vatikanum vgl. audi H . Bouillard, Κ. Barth, 3. Bd., S. 97 ff.; H. Ott, Die Lehre des I. Vatikanischen Konzils. Ein evangelischer Kommentar, ö k u m . Schriftenreihe „Begegnung", Bd. 4, 1963; W. von Loewenich stellt gegenüber allen anders gerichteten katholischen und evangelischen Interpretationsversuchen des Kap. II De revelatione erneut fest: „Kap. II enthält ein klares Bekenntnis zur natürlichen Theologie'. Alle modernen Umdeutungen scheitern am Canon 1 . . ( G l a u b e und Vernunft nach Vaticanum I, in: Reformatio und Confessio. Festschrift für W. Maurer, 1965, S. 239). 1 4 4 H . U . von Balthasar, a.a.O., S. 315. 319. 321 (letztes Zitat: Adnotatio 6 zum Schema). 1 4 5 „Wir sprachen nur von den principia rationis und sagen, daß Gott mit Sicherheit durch diese Prinzipien erkannt werden kann, wie immer es um die faktische Ausübung stehe" (J. M. A. Vacant, Etudes théologiques sur les constitutions du Concile du Vatican, 1895, Dokument X X I C , Bd. II, S. 936, zitiert nach von Balthasar, a.a.O., S. 316).
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keit dieser Erkenntnis festgestellt werde 146 , nicht akzeptiert wurde, obwohl er sachlich doch nichts anderes aussagen will als das, was zu Rom. 1,20 unbedingt hinzugehört, nämlich das Urteil über die faktische Verkehrtheit der natürlichen Gotteserkenntnis (Rom. 1,21 ff.)! Das Mißtrauen gegen die in dem posse angeblich gewahrte Neutralität oder Offenheit, die es jedem katholischen Theologen, der seine Gründe dafür habe, erlauben soll, „auch nach dem Vatikanum daran festzuhalten, daß alle natürliche Gotteserkenntnis de facto innerhalb der positiven und negativen Bedingungen der übernatürlichen Ordnung vor sich geht" 147 , läßt sich so leicht nicht zerstreuen, zumal Gasser nun doch noch einen Schritt weitergeht über das bloß theoretische posse hinaus zu einem faktischen posse, wenn er auf Plato und die Eudemische Ethik hinweist, die jedem Unvoreingenommenen unwiderlegbar (!) bewiesen, daß ihre Verfasser unabhängig von jeder Wortoffenbarung zu einer wahren Erkenntnis Gottes als Ursprung und Ziel der Welt gelangten. Das cognosci posse, mag es noch so zurückhaltend formuliert sein, ist gemeint als ein wirkliches, „physisches", aktives posse, das sich in statu corruptionis nicht in einen bloßen Irrealis verwandelt, sondern eine wirkliche realisierbare und realisierte Möglichkeit bleibt, aus der also eine rationale natürliche Theologie hervorgehen kann. Freilich darf nicht übersehen werden, daß das Vatikanum nicht nur von der für sich bestehenden, sich selbst genügenden Vernunft spricht, sondern gerade im Hinblick auf den faktischen Vollzug der natürlichen Gotteserkenntnis sich genötigt sieht, von einer „vom Glauben erleuchteten" Vernunft zu sprechen. Unter den Bedingungen des tatsächlichen gegenwärtigen Zustands der Menschheit ist die göttliche Offenbarung auch da notwendig, wo an sich die Vernunft imstande wäre, mit ihren natürlichen Kräften und ihrem eigenen Licht zur wahren Erkenntnis der Wirklichkeit und des Willens Gottes zu kommen, d. h. sie ist notwendig, damit dies „von allen mit Leichtigkeit, mit fester Gewißheit und ohne beigemischten Irrtum erkannt werden kann" 148 . Diese erhellende, korrigierende, unterstützende Offenbarung ist nicht absolut, sondern „moralisch notwendig", damit Gott angesichts der Schwächen des menschlichen Verstandes infolge der Erbsünde nun auch wirklich von allen ohne Schwierigkeit, ohne langes Suchen und mit Sicherheit erkannt wird. Ohne Zweifel wird hier das faktische aktuelle Erkennen Gottes im Zusammenhang der Offenbarung Gottes gesehen. Es hängt von ihr ab, 146 „licet omnes fere nationes hominum propter originalem culpam obscuratum habentes intellectum et desideria cordis sui facientes, invanuerunt in cogitationibus suis et honorem soli Deo debitum creaturae tribuerunt" (Collectio Lacensis VII, 1892, S. 121; vgl. H. U. von Balthasar, a.a.O., S. 315 f.). 147 H. U. von Balthasar, a.a.O., S. 318. 148 Denz. 1786. 1796; vgl. dazu die Konzilsakten Collectio Lacensis VII, 134 d bis 135 c.
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ob es zu einem wahren Erkennen kommt 149 . Aber es kann auch hier nicht übersehen werden, daß damit doch keineswegs, weder prinzipiell noch faktisch, der Weg einer subjektiven natürlichen Theologie als völlig aussichtslos und verfehlt angesehen wird. Er bleibt als Weg zur Gotteserkenntnis offen. Er bleibt legitimiert und wird akzeptiert. Es gibt in der Tat auch in praesenti generis humani conditione richtige Schritte auf diesem Weg. Die wahre Erkenntnis Gottes wird nicht nur, nicht ausschließlich in der Voraussetzung der heilsgeschichtlichen Offenbarung begründet. Wie anders soll man sonst jene wohlüberlegten Formulierungen verstehen, die sich bezeichnenderweise sehr davor hüten, die faktische natürliche Gotteserkenntnis zu annullieren oder als völlig negativ zu qualifizieren? Sie dokumentiert trotz aller Unzulänglichkeit und Widersprüchlichkeit offensichtlich nicht nur das Sündersein des Menschen; sie verwandelt sich offenbar nicht durchweg in die Qualität des Götzendienstes. Ihr ist lediglieli Irrtum „beigemischt", ihr fehlt es lediglich an der firma certitudo, an der letzten Gewißheit und Sicherheit. Sie braucht „zu lange", um an ihr Ziel zu kommen, das einige wenige anscheinend dennoch auch auf diesem Weg erreichen. Dies alles ermutigt nicht dazu, jenes posse lediglich als eine Formalaussage zu verstehen, die infolge der Sünde praktisch zu einem non posse wird, das in einem radikalen, qualitativen, unüberwindbaren Gegensatz zur heilsgeschichtlichen Wortoffenbarung steht, so daß es zur wirklichen Erkenntnis Gottes faktisch dann doch nur durch diese Offenbarung kommt und kommen kann. Dann müßte das sola scriptura, das solus Christus, das sola gratia, das sola fide als kritisches Prinzip der wirklichen Gotteserkenntnis gegen jede autonome rationale natürliche Theologie ins Feld geführt werden. Daß die offizielle katholische Lehre es demgegenüber jedoch immer noch auf eine tatsächliche positive inhaltliche Kontinuität zwischen der natürlichen (nicht erst vom Glauben ermöglichten!) Vernunfterkenntnis und der übernatürlichen Offenbarung abgesehen hat, verrät sich in jenen quantifizierenden Bestimmungen, die auch in der Enzyklika Pius' XII. Humani generis wiederkehren, obgleich hier stärker auf die Schwierigkeiten der natürlichen Gotteserkenntnis und ihre weitverbreitete faktische Ver149
H. Bouillard (K. Barth, 3. Bd., S. 98) folgert daraus: „L'Église catholique admet donc officiellement que, dans l'humanité pécheresse, le pouvoir radical de connaître Dieu ne s'exerce guère en fait de façon correcte qu'en dépendance de la révélation chrétienne." Und er fügt hinzu, diese These sei keine verspätete Entdeckung, denn das Vatikanische Konzil beziehe sich damit fast wörtlich auf Thomas von Aquin: „Ad ea etiam quae de Deo ratione humana investigari possunt, necessarium fuit hominem instruí revelatione divina; quia Veritas de D e o per rationem investigata, a paucis, et per longum tempus, et cum admixtione multorum errorum homini proveniret" (S. th. I, q. 1, a. 1. Vgl. Contra Gentes, I, 4; De Veritate, q. 14, a. II).
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leugnung hingewiesen wird 150 . Das Axiom gratia non destruit sed supponit et perficit naturam bestätigt sich in der — wie auch immer eingeschränkten — prinzipiellen Anerkennung einer „subjektiven" natürlichen Theologie. Kehren wir zu der Frage zurück, ob Brunner mit seiner Darstellung der katholischen Auffassung und ihres Gegensatzes zu seiner eigenen ein Zerrbild entworfen hat, das jeder katholische Theologe als Gesprächsgrundlage ablehnen muß, oder ob er den prinzipiellen Gegensatz dennoch richtig erkannt hat, so ist zunächst zuzugestehen, daß die theologia naturalis hier nicht ganz so ungebrochen, das Vernunftsystem nicht ganz so in sich geschlossen und selbstgenügsam, das Verhältnis von Natur und Gnade nicht durchweg so einfach gedacht ist, wie Brunner es darstellt. Der Protest von katholischer Seite blieb denn audi nicht aus. So bezeichnete etwa O. Bauhofer das von Brunner entworfene Bild des Katholizismus als völlig falsch. Was er z. B. im Hinblick auf die Vernünftigkeit des Menschen als katholische Lehre hinstelle, sei nichts als ein grobes Mißverständnis, seine Unterstellung einer unversehrten Natur nach dem Fall „ein großer und unbegreiflicher Irrtum". Fast überall, w o Brunner den Gegensatz zur katholischen Lehre behaupte, ließe sich zeigen, „daß diese Konstruktionen weitgehend irrig sind" 151 . Ähnlich urteilt H. Volk über Brunners Dar150 Pius XII. legt hier nodi einmal die vom Vatikanum vertretene Lehre dar unter Hinweis darauf, „wie hoch die Kirche die menschliche Vernunft einschätzt bezüglich ihrer Fähigkeit, das Dasein eines persönlichen Gottes mit Sicherheit zu beweisen und die Grundlagen des christlichen Glaubens durch göttliche Zeichen unwiderleglich nachzuweisen; ebenso das Gesetz richtig zu umschreiben, das Gott in die Herzen der Menschen hineingelegt hat, und schließlich zu einem gewissen, aber äußerst fruchtbaren Verständnis der Geheimnisse zu kommen". Sie hat „schlechthin gesagt (simpliciter loquendo), die Fähigkeit, mit ihren natürlichen Kräften und ihrem eigenen Lichte zur wahren und sicheren Erkenntnis des einen persönlichen Gottes, der durch seine Vorsehung die Welt schützt und lenkt, sowie des Naturgesetzes, das der Schöpfer unseren Herzen eingegeben hat, tatsächlich zu gelangen; dennoch gibt es manche Hindernisse, welche diese Vernunft im erfolgreichen und fruchtbaren Gebrauch ihrer angeborenen Fähigkeit hemmen". (!) Pius X I I . verweist zur Erläuterung dieses Hemmenden darauf, daß es sich hier um auf Gott bezogene Wahrheiten handelt, die die Ordnung der sinnlichen Welt übersteigen und vom Menschen Selbsthingabe und Selbstverleugnung fordern. „Der menschliche Verstand erwirbt aber solche Wahrheiten nur mit Mühe, einerseits infolge des Andranges der Sinne und der Einbildungskraft, andererseits infolge der bösen Neigungen, die aus der Erbsünde stammen." Darum sei die göttliche Offenbarung moralisch notwendig, „damit all das, was auf dem Gebiet der Religion und der Sittlichkeit der Vernunft an sich nicht unzugänglich ist, audi im gegenwärtigen Zustand der Menschheit von allen mit Leichtigkeit, voller Gewißheit und ohne jeglichen Irrtum erkannt werden könne" (zit. nach der Dokumentensammlung von A. Rohrbasser, Heilslehre der Kirche, 1953, S. 267 [453] und S. 256 [428 f.] ; Hervorhebungen von mir). 151
O.Bauhofer in: Stimmen der Zeit, 68 1938, S.327ff. (Rezension des Brunnersdien Buches „Der Mensch im Widerspruch"). Die angeführte Kritik bezieht sich auf MiW, S. 91. 93. 166. — Auch L. Volken, Der Glaube bei E. Brunner, 1947, möchte
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Stellung der katholischen imago-Lehre. An ihr sei „kaum mehr richtig als dies, daß hier eine doppelte Ebenbildlichkeit angenommen wird". Was aber als deren Inhalte und ihr Verhältnis zueinander beschrieben werde, sei „eine derartige Verzeichnung, daß das Spezifische, der katholische Begriff der Gnade, darin gar nicht enthalten und so die katholische Lehre kaum wiederzuerkennen ist" 1 5 2 . Ganz überzeugt freilich auch diese Kritik nicht, da sie auf die eigentlichen Anfragen Brunners an die katholische Theologie kaum eingeht und sich in ihrer eigenen Interpretation zumeist nicht auf die strenge Schuldogmatik stützt, sondern auf die neueren Versuche personalistischen Denkens, die vielfach unter dem Eindruck des evangelischen Verständnisses von Sünde, Gnade, Rechtfertigung und im Rückgang auf die Heilige Schrift um eine Neuformulierung der katholischen Lehre bemüht sind, die ganz neue Gesprächsmöglichkeiten eröffnet, aber nun auch nicht einfach den Anspruch der offiziellen katholischen Lehre erheben kann. Schließlich gehört auch die These des Molinismus, daß die Natur „in vollkommener Weise" weiterbestehe, oder die These des Thomismus, daß sie nur geringfügig geschwächt sei, mit zum Phänomen katholischer Lehre. Brunner orientierte sich nicht an den unkonventionellen neuen Interpretationsversuchen, sondern hielt sich an den Thomismus und das Vatikanum. Barths Hinweis auf G. Söhngen ζ. B. glaubte er mit der Bemerkung abtun zu können, daß es auch im Katholizismus „unmaßgebliche Einzelgänger" gebe, die eine heimliche Neigung zu den Reformatoren haben. Man dürfe diese Tatsache von protestantischer Seite aus nicht überschätzen 153 . Diese Mahnung verdient jedenfalls Gehör, Brunners Kritik am katholischen Glaubensbegriii als „Lehrglauben" als grobes Mißverständnis abtun, das den Wesenskern des katholischen Glaubensbegriffs verkenne — immerhin mit dem Zugeständnis: „irregeleitet vielleicht durch kirchliche Ausdrücke, die scheinbar das gleiche bedeuten wie jene der Orthodoxie und bestärkt durdi oberflächliche Erklärungen mancher Verfasser von katholischen Handbüchern" (a.a.O., S. 167). 1 5 2 H . Volk, E. Brunners Lehre von der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit des Menschen, 1939, S. 182f.; vgl. S. 188: „Brunners Darstellung der katholischen Lehre enthält gerade das Spezifische des Gnadenbegriffs nicht, Gnade als Gottesbeziehung der Kreatur, aber nicht als naturhaft k r e a t ü r l i c h e . . . " D a s gebräuchliche Bild der „Zweistockwerktheorie" bringt Volk offensichtlich selbst in große Schwierigkeiten. Seine Erklärung, die katholische Lehre über diese Frage erschöpfe sich nicht mit diesem Bilde, es sei nicht gut, N a t u r und Gnade im Menschen mit den zwei Stockwerken in einem Haus zu vergleichen, kann nicht befriedigen. Die Sache wäre erst dann klar, wenn ausdrücklich erklärt würde, daß das Bild nicht nur nicht gut, sondern völlig falsdi sei. Hier gibt es nur ein Entweder-Oder. D a ß dieses Bild gebraucht werden konnte, beweist eben, daß eine dieses Bild ernst nehmende Darstellung nicht nur ein Mißverständnis „katholischer Lehre" ist. 153 N u G 2 , S. 56 cc; vgl. auch OuV, S. 75 Anm. In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, das Urteil Joseph Kleins zu hören, der auf das certo cognosci posse des Vatikanum, auf seine verschärfende Interpretation im Antimodernisteneid und seine nachdrückliche Unterstreichung in Humani generis verweist und darin die Entwicklung
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wenn es um die Frage der „offiziellen" katholischen Lehre geht. Nicht alles, was von katholischen Theologen als Interpretation katholischer Lehre vorgetragen wird, findet die Billigung des Lehramts. Daß Brunners Argument kein Scheinargument ist, beweist ja das unverhohlene Mißtrauen des Lehramts gegenüber der „neuen Theologie" und ihre von Zeit zu Zeit erfolgende Maßregelung. Die Frage, ob wirklich ein fundamentaler Gegensatz zwischen Brunners Verständnis einer christlichen theologia naturalis und der katholischen Auffassung besteht, wird also nur von der lehramtlich gebilligten Auffassung her entschieden werden können. Hier erscheint nun allerdings Barths Vorwurf gegen Brunner, er könne ihn grundsätzlich nicht mehr von einem „Thomisten" unterscheiden154, als unbegründet. Wohl läßt sich darin eine grundsätzliche Gemeinsamkeit feststellen, daß es hier wie dort um die Bejahung der Ansprechbarkeit des natürlichen Menschen geht, und man wird auch die Ähnlichkeit nicht übersehen dürfen, die zwischen Brunners Begriff der formalen Personalität (Humanität, imago) und dem certo cognosci posse, sofern es absolut, prinzipiell, d. h. als Aussage über die schöpfungsmäßige menschliche Natur „an sich" gemeint ist, besteht. Und auf den ersten Blick scheint selbst zwischen Brunners theologia naturalis „vom Glauben aus" und der katholischen theologia naturalis „fide illuminata" kaum ein Unterschied ins Auge zu fallen. Dennoch besteht auch hier ein prinzipieller Gegensatz. Das Urteil über die wirkliche Möglichkeit des Menschen, Gott zu erkennen, d. h. über die faktisch realisierbare und realisierte aktuelle Möglichkeit, Gott wahrhaft zu erkennen, so wie es der Vernunft von Gott aufgegeben ist, lautet bei Brunner eindeutig auf Verneinung, im katholischen Verständnis, trotz aller Einschränkungen und Modifikationen, doch auf Bejahung. Für Brunner wird die wahre zur natürlichen Theologie konsequent bis zur Dogmatisierung durchgeführt sieht — „eine bewundernswerte Bestätigung des Gesetzes, nadi dem die katholische Kirche angetreten ist", aber auch eine Entwicklung, in der der Glaube der Rationalisierung, Theoretisierung, Intelligibilisierung verfällt. Klein wendet sich scharf gegen „einen aufweichenden und die Konturen des Dogmas verwischenden journalistischen Modernismus, der aus durchsiditigen Gründen möglichst viel zu relativieren sucht — solange aus opportunistischen Gründen die oberste Instanz die Zügel etwas locker l ä ß t . . Demgegenüber sei es „geradezu erfrischend, wenn römisch-katholische Theologen klar formulieren und aussprechen, was dogmatisch gilt und was ist". Unbegreiflich sei die irreführende Umdeutung der Bestimmungen des Vatikanum in der Kontroverse um K. Barth: „Man hat den Sachverhalt auf den Kopf gestellt und ihn so darzulegen versucht, als ob das Vatikanum unter Ablehnung eines philosophischen Naturbegriffs die Natur von der Obernatur aus verstanden wissen wolle. Derartige kasuistische Ausweichpositionen, zu denen allzuguter Wille unter Verletzung der wissenschaftlichen Wahrhaftigkeit führt, hat ,humani generis' schon im voraus erbarmungslos hinweggefegt" (Ursprung und Konsequenzen der natürlichen Theologie. In: Hören und Handeln. Festschrift für E. Wolf, 1962, S. 243 f.). 154
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Vgl. Nein, S. 27.
natürliche Gotteserkenntnis durch die Sünde faktisch zu einem Irrealis. Die subjektive theologia naturalis ist ganz und gar Verkehrung Gottes in einen Götzen. Sie ist Unwahrheit, ganz und gar Dokumentation der Sünde, radikaler Gegensatz zur Selbstoffenbarung Gottes. Sie spricht den Menschen nur schuldig. Zwischen ihr und der Glaubenserkenntnis gibt es keine inhaltliche Kontinuität, sondern hier klafft ein unüberschreitbarer Abgrund, den nur Gott überschreiten kann, indem er sich neu offenbart und sich selbst im Glauben gegen das Urteil der Vernunft, des Gewissens, zur Erkenntnis bringt. Die Ansprechbarkeit des Menschen ist also nicht verstanden als ein den Menschen in seinem konkreten Wissen um Gott — sei es auch nur bis zu einem gewissen Grade — positiv qualifizierendes Urteil. Er ist gerade wegen seines konkreten nichtwissenden Wissens, wegen seines konkreten nicht-anerkennenden Erkennens ganz und gar negativ qualifiziert. Auf der subjektiven „natürlichen" Gotteserkenntnis der Vernunft kann die Glaubenserkenntnis nicht aufbauen. Sie erkennt keinen Schritt des Menschen zu Gott hin als gültig an, sondern nötigt ihn zur Umkehr auf seinem Weg. Die rechte (christliche) theologia naturalis kann darum nie den Sinn haben, der rationalen Erkenntnis des natürlichen Menschen zu Hilfe zu kommen, ihn auf seinem eigenen Weg sicherer und schneller zum Ziel zu geleiten, etwa indem sie ihn auf die natürlichen Beweise für die Existenz Gottes hinweist, und sie kann audi nie den Sinn haben, dem Glauben des Christen zu Hilfe zu kommen, indem sie von der rationalen Gotteserkenntnis Gebrauch macht und auf vernünftige Weise „die Grundlagen des christlichen Glaubens durch göttliche Zeichen unwiderleglich nachzuweisen" sucht155. Beides ist jedoch der Sinn natürlicher Theologie nach katholischem Verständnis. Hier bleibt auf jeden Fall das, was Brunner die subjektive theologia naturalis nannte, eine Möglichkeit des Menschen, die nicht nur als eine verfehlte Möglichkeit beurteilt wird. So kommen eben nach ihrem Urteil z.B. Plato und der Verfasser der Eudemischen Ethik unabhängig von jeder Wortoffenbarung zu einer wahren Erkenntnis Gottes, die sich in die Offenbarungserkenntnis integrieren läßt. Und auch das, was Brunner die objektive theologia naturalis nannte, die allein im Glauben ermöglichte Erkenntnis, gewinnt darum innerhalb dieses katholischen Verständnisses der Zuordnung von Natur und Gnade, Vernunft und Glaube einen anderen Sinn. Die theologia naturalis fide illustrata, die der Vernunft im Erkennen dessen, was sie an sich in ihrem eigenen Licht schauen könnte, zu Hilfe kommt, folgt darin eben nicht der Glaubens155 Pius XII. in Humani generis, siehe Anm. 150. Brunner verweist auf den Kommentar des Herderschen Kirchenlexikons zu den Konzilsakten des I. Vatikanum: „Der Christ erkennt den natürlichen Weg zu Gott, nachdem ihn der Glaube erleuditet hat, er geht ihn natürlicher und leichter, wenn er ihn auch . . . mit dem bloßen Lichte der Vernunft finden und einhalten könnte" (NuG 2 , S. 56 cc).
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erkenntnis, daß der Mensch Gott faktisch nicht erkennt und ehrt und auf seinem Weg verloren ist, daß Gott faktisch nur im Glauben erkannt wird und erkannt werden kann, daß die Vernunft zuerst ihren eigenen Bankrott erkennen muß, ehe sie im Glauben zu einem neuen Verstehen kommt. Vielmehr geht es in dieser theologia naturalis grundsätzlich um die Anerkennung des Weges der Vernunft, um die Anerkennung gewisser Schritte auf diesem Wege und den Versuch, ihn zu Ende zu gehen, um die prinzipielle Koordination von Vernunfterkenntnis und Glaubenserkenntnis, so daß sie hier und da zwar korrigierend, aber grundsätzlich doch auch bestätigend und fortführend auf der Vernunfterkenntnis aufbauen kann. Dies ist etwas völlig anderes als das, was Brunner unter der Aufgabe der dialektischen Anknüpfung und der theologischen Eristik verstand. Denn hier wird der Mensch zwar auch auf sein Verständnis von Gott und Welt und seiner selbst angesprochen, aber doch so, daß er zu einer verzweifelten Selbsterkenntnis kommt, kommen muß, so daß er sein non posse, sein endgültiges Scheitern an Gott und an sich selbst einsehen muß. Hier geht es um ein völliges Zunichtewerden vor Gott, um die Aufdeckung der Gottlosigkeit der Vernunft auch in ihrer natürlichen Gotteserkenntnis, nicht um eine anerkennende Vertiefung und Vollendung eines positiven natürlichen Wissens durch ein übernatürliches. Gott wird als der, der er ist, nur im Glauben erkannt. Auch das wirkliche Erkennen Gottes in seiner N a t u r oder Schöpfungsoffenbarung geschieht allein als glaubendes Erkennen. U n d wenn darin audi nach Brunner das eigentlich Vernunftgemäße zur Geltung kommt, wenn im Glauben die Vernunft ihren ursprünglichen schöpfungsmäßigen Sinn, den Anspruch Gottes zu vernehmen, zurückgewinnt, so wird dadurch doch die Vernunft nicht frei, ohne Glauben Gott zu erkennen. Das lumen naturale der Vernunft leuchtet im Glauben nicht auf in eigener Kraft. Es kann nur erhellen, indem es das Licht reflektiert, das dem Glaubenden in Gottes Wort aufleuchtet 15e . Damit dürfte der wirkliche Gegensatz zwischen Brunners Verständnis einer christlichen theologia naturalis und der theologia naturalis katholischer Prägung deutlich geworden sein. Er tritt noch nicht, wie dies bei Barth der Fall ist, in jenem prinzipiell als Aussage über die schöpfungsmäßige N a t u r des Menschen verstandenen posse in Erscheinung 157 , son15» v g l . J a z u a u c }i J a s 27. Kap. in OuV („Offenbarung und Vernunft im Glauben") sowie das 25. Kap. („Problem und Idee der christlichen Philosophie"). 157 Barth sieht bereits darin, daß ein allgemeines „posse" der natürlichen Gotteserkenntnis behauptet wird, die falsche Theologie am Werk. Schon diese Fragestellung bedeute als Abstraktion vom wirklichen Werk und Handeln Gottes die Einführung eines fremden Gottes in den Raum der Kirche. „Wir widersprechen nicht erst der natürlichen Theologie' des Vatikanums als solcher — daß wir das tun, ist nur eine selbstverständliche Folgerung daraus, daß wir zuerst seinem Gottesbegriff widersprechen als einem Gebilde, das seine Existenz offenbar einem Versuch verdankt, Jahve mit Baal, den dreieinigen Gott der heiligen Schrift mit dem Seinsbegriff der aristote-
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dem erst in der Aussage über das konkrete Sein des natürlichen Menschen. Aber hier ist er so eindeutig, daß von einem totaliter aliter gesprochen werden kann 158 . Abgesehen von diesem Grundgegensatz lassen sich allerdings bisweilen geradezu erstaunliche Berührungen feststellen zwischen den Überlegungen Brunners und den Versuchen in der neueren katholischen Theologie, das Verhältnis von Natur und Gnade in der Uberwindung eines schroffen metaphysischen Dualismus neu zu bestimmen. Von G. Söhngen, der in Anlehnung an Bonaventura den Bereich der natürlichen Gotteserkenntnis viel stärker als der Thomismus begrenzt, sagt Brunner selbst, daß sich seine Gedanken mit seinen eigenen stark berühren 15e . Auch bei R. Guardini, der die Gesichtspunkte der seinshaften Bestimmung und der personhaften aktuellen Gottesbeziehung kategorial unterscheidet und aufeinander bezieht, ist die sachliche Nähe zu Brunners Unterscheidung der formalen und materialen imago kaum zu übersehen. Guardinis Feststellung, daß es christlich gesehen „kein unvermitteltes Verhältnis des Menschen zu Gott", dem Schöpfer und Richter, dem Erlöser und Begnadenden gebe — („Ihm gegenüber gibt es kein unmittelbares Erkennen und Bejahen; kein Hingehen und Handeln aus eigener Kraft; kein Teilhaben, Gewinnen und Besitzen vom Menschen her. Das Verhältnis zu ihm ist vielmehr an den Mittler gebunden" 1β0 ) — paßt gewiß nicht zu dem, was Brunner als katholisches Gegenüber vor Augen hat. Dies trifft vor allem auch auf E. Przywaras theologia crucis zu, in der das Zweistockwerkschema zerbricht 1β1 . In diesen Versuchen, die zum Teil stark von der Auseinandersetzung mit K. Barth bestimmt und bestrebt sind, evangelischen Anliegen Rechnung zu tragen, wurde zweifellos eine neue Gesprächssituation geschaffen. Man kann hier evangelischerseits von „Annäherunlischen und stoischen Philosophie zu vereinigen" (KD II, 1, S. 91 f.). Brunner bemerkte zu dieser Auseinandersetzung Barths mit der Lehre des Vatikanum von der Erkennbarkeit Gottes, Barth habe hier seine Kritik an Brunners Auffassung des Katholizismus stillschweigend zurückgezogen (OuV, S. 75). iss Vgl. Brunners eigenes Urteil in NuG 2 , S. 50 u: „Eine rationale theologia naturalis, wie sie die katholische Kirche lehrt . . . — ich nenne sie theologia naturalis im subjektiven Sinne —, ist also hier konsequent abgelehnt." 158 OuV, S. 75 Anm. 160 R. Guardini, Das Wesen des Christentums, (1939) 1958 s , S. 36. 1β1 Vgl. dazu im einzelnen die Arbeit U. Kuhns. Die neueren Lösungsversuche des Verhältnisses von Natur und Gnade streben von der völligen Trennung hin zur engsten Zuordnung. Eine wichtige Rolle spielt dabei durchweg das Schema „Anlage-Erfüllung", das in den verschiedensten Begriffsmodellen („Empfangsbereitschaft der Natur", „Entsprechungsstellen", „Vorentwürfe auf die Gnade hin", „teleologische Ausrichtung der Natur auf die Gnade", „Natur als logische Voraussetzung der Gnade", „schöpfungsmäßige Anlage zur aktuellen Begegnung", „analogia fidei als analogia entis", „Offenheit des Geschöpfes", „konstitutive Hinordnung der Natur auf die Gnade", „verpflichtende Hinordnung auf Gott") überall wiederkehrt.
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gen an evangelisches Gedankengut" sprechen, man kann aber in dieser Situation auch katholischerseits z.B. erklären, daß Brunner dem katholischen Denken näher sei, als ihm selbst bewußt sei 162 . Alles Bemühen um exakte theologische Begriffsbestimmungen findet mit seinen abstrakten Verhältnisbestimmungen von Natur und Gnade schließlich doch immer wieder seine Grenze in der simplen praktischen Frage, wie es denn nun mit der wirklichen Gotteserkenntnis des sündigen Menschen steht und wie er daraufhin in der Verkündigung des Evangeliums anzusprechen ist: als der Sünder, der erst und nur im Glauben Gott wahrhaft erkennt, oder als der in seiner Vernunft zwar geschwächte, aber doch noch immer zur natürlichen Erkenntnis fähige; ob es hier um die Rechtfertigung des Gottlosen, um das sola fide, sola gratia im exklusiv heilsgeschichtlichen Sinn geht oder um ein Sowohl-als-auch; ob also das scholastische Axiom gratia 162 O. Bauhofer in: Stimmen der Zeit, 68 1938, S. 327ff. Nach Bauhofer deckt sich Brunners Intention in seiner Unterscheidung der formalen und materialen imago „sehr genau mit der Unterscheidung von N a t u r und Ubernatur in der wirklichen katholischen Lehre". Audi H . Volk weist Brunners Darstellung der katholischen Lehre von der doppelten imago als falsch zurück. Er übersehe die in dem katholischen Naturbegriff liegende aktuale Gottesbeziehung, die ja erst die Lehre von einer natürlichen Gotteserkenntnis und einem göttlichen Naturrecht möglich madie; und er mißverstehe die hier als Liebeswille Gottes zum Ausdruck kommende allgemeine oder Naturgnade; diese sei von der Natur nicht trennbar und werde von der übernatürlichen Gnade als dem besonderen Liebeswillen Gottes unterschieden. Brunners eigener Gnadenbegriff unterscheide sich von dem von ihm dargestellten katholischen wesentlich »nur dadurch, daß Brunner immer wieder als kreatureigen (!) bezeichnet, was dort als donum superadditum betrachtet werde" (E. Brunners Lehre von der ursprünglichen Gottebenbildlidikeit des Menschen, S. 186 ff.). — Man sieht, wie schwierig es für Brunner war, dem Vorwurf zu entgehen, seine Unterscheidung eines formalen und materialen Sinns der imago Dei laufe letztlich doch auf die katholisdie Lehre von der doppelten imago hinaus. K. E. Skydsgaard machte eine einfädle Rechnung auf : „Das, was Brunner die materiale Ebenbildlichkeit nennt, ist zu einem Teil im übernatürlichen Gottesbild des Thomismus aufgenommen, und dies ist vollständig beim Sündenfall verlorengegangen. Der Unterschied zwischen Brunner und dem Thomismus ist hier nicht groß. Ubrigbleibt das natürliche Gottesbild (die imago), bestehend im rationalen Wesen des Menschen, und das ist nicht sehr verschieden (!) von Brunners formaler Gottebenbildlichkeit, die nach Brunner audi nicht verlorengegangen ist" (Metaphysik og Tro, S. 184, zit. nach Y. Salakka, Person und Offenbarung, S. 154 Anm. 14). In beiden Fällen, in der katholischen wie in der evangelischen Beurteilung, wird — abgesehen von der unzutreffenden Charakterisierung — gerade das übersehen, worauf es Brunner eigentlich ankam: das Wesen des Menschen „einheitlich aus der Gottesbeziehung zu verstehen, ohne Unterscheidung von Natur und Obernatur", und das wirkliche Sein dieses Menschen zugleich radikal als ein Sündersein zu verstehen, d.h. an der unverlierbaren Gottbezogenheit, aber auch an der radikalen Verkehrung dieses einheitlichen „theologischen" Wesens des Menschen durch die Sünde ohne Abschwächung festzuhalten, so daß ihm in seiner sündigen Vernunft nicht mehr die faktische Freiheit zu Gott und darum auch keine wahre natürliche Gotteserkenntnis zugestanden werden kann (vgl. MiW, S. 530 f.). Hier geht es nicht mehr um Natur und Gnade, sondern, recht verstanden, um Sünde und Gnade!
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non destruit sed supponit et perficit naturam im Hinblick auf die faktische Existenz des homo peccator in Geltung bleibt. Es scheint, daß sich hier im letzten, wenn alles auf des Messers Schneide steht, auch weiterhin die Geister scheiden — scheiden müssen angesichts der Grenze, die das katholische Lehramt gezogen hat. d) Ergebnis
War es die Schicksalsfrage der Theologie Brunners, ob sie, aller guten Absicht zum Trotz, zuletzt nicht doch auf eine natürliche Theologie katholischer Prägung hinauslief? So sahen es jedenfalls die Kritiker. Eine differenziertere unvoreingenommene Prüfung des Sachverhalts ergab jedoch, daß Brunner sich hier nicht zu Unrecht mißverstanden fühlte 163 . Es lag sicher nicht nur an der wenig glücklichen, Argwohn und Kritik herausfordernden Terminologie; aber daß der von ihm selbst aufgegriffene Begriff der Anknüpfung und der natürlichen Theologie im Zusammenhang der theologischen Anthropologie erheblich dazu beitrugen, sein Anliegen in Mißkredit zu bringen, ist immerhin wahrscheinlich. Brunner entschloß sich daher bereits in der 2. Auflage von „Natur und Gnade" unter dem Eindruck des Bardischen Angriffs, wenn er schon in der Sache nichts zurücknehmen wollte, wenigstens terminologische Konsequenzen zu ziehen. Daß die für ihn grundlegende Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver, d.h. zugleich zwischen christlich-glaubender und heidnischrationaler theologia naturalis trotz mehrfacher Definition nicht zur Kenntnis genommen wurde, führte er auf das Eigengewicht des Wortes „natürliche Theologie" zurück. Dagegen kam der „eingrenzende Zusatz ,christlich' nicht auf". Und so erklärte er, er werde diesen von der Tradition schwer belasteten und in der Tat irreführenden Begriff fallenlassen und das, was er „versuchsweise" christliche theologia naturalis genannt habe, künftig als „christliche Lehre von der allgemeinen oder Naturoffenbarung" (Schöpfungsoffenbarung) umschreiben1β4. Es scheint, daß diese Korrektur, das demonstrative Fallenlassen des Begriffs der natürlichen Theologie, für den Verlauf der Diskussion zu spät kam. Sie fand nicht die erhoffte Beachtung. Das von Brunner selbst gegebene Stichwort blieb haften und stempelte ihn im Bewußtsein vieler gerade zu einem Vertreter jener natürlichen Theologie, die er selbst als eine Todesgefahr für Theologie und Kirche ansah und verwarf 165 . So sah 163 D ¡ e gleiche Auffassung vertritt audi R. Roessler, wenn er die Frage, ob Brunner den Vorwurf einer theologia naturalis herausfordere, ausdrücklich verneint (a.a.O., S. 141 f.). 164 NuG 2 , S. V. 60; vgl. MiW, S. 541; D I, S. 137. 11,5 In der Beilage III „Zum Problem der natürlichen Theologie' und der .Anknüpfung'" in MiW bemerkt er mit einem resignierenden Unterton: „Durch eine wenig glücklidie Terminologie in meiner Schrift ,Natur und Gnade' bin idi mitschuldig an der seltsamen Tatsache, daß idi heute bei vielen als Vertreter einer natürlichen Theo-
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er sich schließlich genötigt, einen erneuten Versuch der Aufhellung des Problems zu machen. In „Offenbarung und Vernunft" und im 1. Band seiner Dogmatik bringt er noch einmal die entscheidenden Gesichtspunkte zur Sprache, um die es ihm geht. Das Ergebnis aller Überlegungen läßt sich danach abschließend in folgenden vier Thesen zusammenfassen 166 : 1. Zur Klärung des Sachverhalts ist es unbedingt nötig, zwei Fragen auseinanderzuhalten: die Frage nach der Schöpfungsoffenbarung und die Frage nach der natürlichen Gotteserkenntnis (bzw. der natürlichen Theologie). Beides wird immer wieder miteinander verwechselt oder vermengt und ist darum eine der Hauptquellen der Mißverständnisse und Mißdeutungen. Die Anerkennung einer Schöpfungsoffenbarung bedeutet noch nicht die Anerkennung einer theologia naturalis. Und die Ablehnung einer theologia naturalis setzt keineswegs auch die Ablehnung einer Schöpfungsoffenbarung voraus. Die Bejahung einer Schöpfungsoffenbarung hat also an sich mit der Behauptung einer natürlichen Theologie nichts zu tun, und es ist nur ein theologischer Kurzschluß, wenn die Furcht vor der falschen, von der geschichtlichen Heilsoffenbarung unabhängigen und darum mit der christlichen Gotteserkenntnis konkurrierenden rationalen natürlichen Theologie das Thema Schöpfungsoffenbarung von vornherein unter den gleichen Verdacht stellt. 2. Brunner stimmt den Gegnern einer solchen natürlichen Theologie ohne jede Einschränkung darin zu: Natürliche Theologie und biblische Gotteserkenntnis sind unvereinbar. Sie reimen sich nie und nimmer zusammen, sondern stehen in einem exklusiven Verhältnis zueinander. Wer eine theologia naturalis im Sinne richtiger, gültiger Erkenntnis behauptet, leugnet eben damit die Realität und Radikalität der Sünde, d. h. er ignoriert ihre Auswirkung im Bereich der Gotteserkenntnis. 3. Die Realität einer Schöpfungsoffenbarung muß jedoch anerkannt werden. Sie steht nicht im Widerspruch zum biblischen Zeugnis, sondern hat in ihm ihren Rückhalt. Es handelt sich dabei weder um eine biblische Nebenlinie nodi wird durch sie das sola fide, sola gratia, solus Christus beeinträchtigt. Denn sie eröffnet faktisch nicht neben der Christusoffenbarung einen anderen Zugang zur wahren, heilvollen Gotteserkenntnis, sondern steht in einem dialektischen Verhältnis zu ihr, das sie noetisch von ihr abhängig sein und sie dennoch zugleich als ihre Voraussetzung begreifen läßt. Der Glaube nötigt zur Anerkennung einer allen Menschen gegebenen Schöpfungsoffenbarung sowohl in der Konsequenz des christlichen Schöpfergedankens als auch in seinem Urteil über die Verantwortlogie' im üblichen Sinne des Wortes angesehen werde, die ich — im Gegensatz zu dem, was Karl Barth über meine absteigende Entwicklung erzählt . . . — jederzeit bekämpft habe und auch heute bekämpfe" (S. 541; vgl. auch D I, S. 137). 1ββ Vgl. zum Folgenden OuV, S. 75 ff. 91 ff.; D I, S. 137ff. 282
lidikeit des Menschen in seinem Sündersein, der in seiner Selbstverschließung und Selbstübersteigerung, in der Verneinung oder Verkehrung der widerfahrenden Wirklichkeit Gottes sein Wissen um Gott nicht verleugnet, ohne es zugleich zu bestätigen. Es gibt also keine Abgötterei ohne ein „Wissen" um Gott, keine außerbiblische Religion, die nicht das Wissen um Gott verkehrt, keine Sünde, in der nicht das Niederhalten der Erkenntnis vorausgesetzt ist. Das Existieren unter Gottes Zorn bedeutet darum nicht Beziehungslosigkeit zu Gott schlechthin. Es ist nur der den Menschen richtende und verurteilende Ausdruck seiner Gottbezogenheit, d. h. seiner verfehlten, unheilvollen Gottesbeziehung. 4. Nachdem dies klargestellt ist, kann nun ohne Gefahr des Mißverständnisses audi dem Phänomen der tatsächlichen natürlichen Theologie Rechnung getragen werden. Die Möglichkeit einer richtigen, gültigen natürlichen Gotteserkenntnis ist kompromißlos zu bestreiten: Es gibt keine gültige natürliche Theologie, die im Zusammenhang der Gotteslehre zu respektieren wäre. Aber es gibt gleichwohl auf Grund der Schöpfungsofienbarung „eine tatsächliche natürliche Theologie" als eine anthropologische Tatsache, d. h. als Ausdruck der Nötigung des Menschen, den Gottesgedanken zu bilden, sich Gottesvorstellungen zu machen. Die Religionsgeschichte legt davon Zeugnis ab 167 . Welche theologische Relevanz 1 6 7 Brunner räumt an dieser Stelle unter Hinweis auf seine Religionsphilosophie und auf O u V ein, daß die biblische Sicht des natürlichen Menschen und das theologische Urteil über die theologia naturalis am geschichtlichen Tatbestand nachgeprüft werden kann und muß (D I, S. 139). Das Ergebnis dieser Nachprüfung zeugt ihm nicht nur von der Unvermeidlichkeit der religiösen Vorstellungsbildung, sondern zugleich von ihrer sündigen Verwirrung. „Innerhalb der religiösen Gottesvorstellungen einen gemeinsamen Nenner zu finden, ist unmöglich." D e r Hinweis auf die Mannigfaltigkeit und Widersprüchlidikeit außerbiblisdier Gotteserkenntnis kann allerdings nodi nicht als entscheidender Einwand gelten, denn es geht j a nicht nur um einen gemeinsamen Nenner der natürlichen Gotteserkenntnis als Ausdruck eines allgemeinen Wissens um Gott, sondern um die Frage der N ä h e einzelner Vorstellungen zu biblisdien Aussagen, die das prinzipielle theologische Verdikt über die natürliche Gotteserkenntnis als falsch erweisen könnten. Im katholischen Verständnis stehen hier zumindest P l a t o und Aristoteles als testes veritatis einem solchen Verdikt gegenüber. Erinnert man sich der Großzügigkeit, mit der Brunner in seiner dialektischen Frühzeit vom „gemeinsame(n) Zeugnis des richtig verstandenen Evangeliums und des richtig verstandenen P l a t o " sprechen konnte ( E E G , S. 76), und der Aussagen in O u V , daß es hinter die Erkenntnis Piatos von der Gottbezogenheit der Vernunft kein Zurück gebe und daß der Satz Piatos, daß G o t t das Gute sei, audi vom christlichen Glauben aus als wahr anzuerkennen sei ( O u V , S. 344. 346. 384), so mußte er gerade hier die Grenze deutlich ziehen. E r tat dies bereits in O u V mit der Feststellung, daß der „dreieinige G o t t des christlichen Glaubens, der Gott, der in Jesus Christus in Persongegenwart sidi offenbart, ,der G o t t Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht der G o t t der Gelehrten und Philos o p h e n ' " , nicht der G o t t des P l a t o oder Aristoteles sei (OuV, S. 392 f.). „Der G o t t Piatos oder Aristoteles' steht zum G o t t der biblisdien Offenbarung im Verhältnis des Entweder-Oder" ( D I, S. 140). Es gibt keine Synthese zwischen der rationalen Theologie und dem G o t t der Offenbarung. Zwar erkennt Brunner an, daß „ein großer
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dieser anthropologischen Tatsache zukommt, zeigt die maßgebende Deutung in Rom. 1,19 ff. Sie geht aus von der Realität der Schöpfungsoffenbarung. Sie enthüllt die Zweideutigkeit, die sündige Verkehrtheit der Gotteserkenntnis des natürlichen Menschen, in der er nicht Gott in seiner Wirklichkeit und Wahrheit erkennt, sondern mit seinen eigenen Götzen umgeht. Sie disqualifiziert also den natürlichen Menschen in seiner religiösen Möglichkeit, indem sie ihn als Sünder qualifiziert, dem der sich offenbarende Gott verkündigt werden muß. Aber sie spricht diesen Menschen als Hörer des Wortes, als den für sein Verfehlen Gottes verantwortlichen an, als den Menschen im Widerspruch, der in seiner Gottentfremdung nur von seiner Gottbezogenheit her verstanden werden kann und in Jesus Christus zu dem Gott zurückgerufen wird, der ihm als der Schöpfer, Erhalter und Erlöser auch in seiner Gottesferne nahe ist. Von einer Legitimierung der tatsächlichen natürlichen Gotteserkenntnis kann hier also nicht die Rede sein, und Brunner kann darum, indem er sich zu dieser Deutung bekennt, mit vollem Redit sagen: „Wir treiben nicht natürliche Theologie'." 168 Der Sinn seiner Lehre von einer allgemeinen Offenbarung läuft in der Tat gerade auf die Destruktion jeder natürlichen Theologie hinaus. Denn der natürliche Mensch, wie er hier verstanden wird, ist nicht der Gott wirklich erkennende Mensch, sondern der in seinem Erkennen gescheiterte und immer wieder scheiternde Mensch, der Mensch, dessen höchste Möglichkeit nur die verzweifelte Erkenntnis sein kann, der aber gerade darin als der von Gott in Anspruch genommene, von Gottes Wort betroffene Mensch erscheint. Blicken wir von hier aus nodi einmal auf „Natur und Gnade" zurück mit der Frage, worum es ihm mit dieser Schrift eigentlich ging, so ist dort die Ausgangsbasis und das Ziel der Fragestellung im wesentlichen nicht anders bestimmt. Barth hat — bei aller Fehlinterpretation im einzelnen — richtig erkannt, daß der „Nerv seiner Schrift und seines ganzen Unternehmens" in dem zu sehen ist, was Brunner in seinen Schlußausführungen über „die Bedeutsamkeit der theologia naturalis für Theologie und Kirche" andeutet. Das rechte Verständnis der „theologia naturalis" in dem von Brunner definierten Sinn, also der Schöpfungsoffenbarung, gilt ihm als entscheidend für das rechte Verständnis von Theologie und Verkündigung. Hier geht es nach seiner Überzeugung nicht um etwas für Theologie Unterschied zwischen der Religion eines Plato, eines Zarathustra und der eines Epikur oder der Gottesleugnung eines Nihilisten" bestehe; wenn audi alle natürliche Theologie grundsätzlich abgöttisch sei, so sei sie dodi „nicht in gleidier Weise von der Wahrheit entfernt". Aber eins ist ihnen allen gemeinsam: „sie kennen den lebendigen Gott, den heiligbarmherzigen, den Vater Jesu Christi nicht. Sie alle bedürfen der Erlösung durch die wahre Erkenntnis Gottes, wie sie allein das Wort Gottes gibt" (OuV, S. 91). 188 OuV, S. 93.
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und Verkündigung Sekundäres, nicht um etwas bloß Pädagogisches, nicht um etwas im Grunde Nichttheologisches, das nie zugleich mit der Sache der Theologie in den Blick kommt, sondern um etwas, dem innerhalb der Theologie und der Verkündigung eine „fundamentale Bedeutung" zukommt 1ββ. So entscheidet die Stellung zur Schöpfungsofienbarung jeweils über den Charakter der Ethik in ihrem Ja oder Nein zur Wirklichkeit der Schöpfungsordnung, zur Erfahrung des Willens Gottes in dem ins Herz geschriebenen Gesetz. Sie ist audi bedeutsam für den theologischen Denkvollzug in der Dogmatik 170 . Hier wäre noch einmal auf die Ausführungen über die Anknüpfung als theologisches Problem, auf den Begriff der formalen Personalität, auf die Lehre von der imago Dei hinzuweisen. Damit ist schon der andere Aspekt berührt, den Brunner den kirchlichpraktischen nennt. Die Bedeutung dieses Sachverhalts für das Verkündigungsgeschehen in Predigt, Unterricht, Seelsorge, im missionarischen Handeln, kann nicht bestritten werden; denn im Geschehen der Verkündigung und des Zum-Glauben-Kommens wird der Mensch in seinem Personsein zur Antwort, zur Verantwortung aufgerufen, zu einem Verstehen des Wortes und seiner selbst, das nicht an der Vernunft vorbei geschieht, sondern „durch die Vernunft hindurch", durch die Inanspruchnahme seines Selbstverständnisses hindurch, durch seine religiöse oder nichtreligiöse Auslegung der Wirklichkeit hindurch. Verkündigung ist „immer ein Vorgang ganz und gar personhafter, begegnishafter Art" 171 . Hier wird der Mensch nicht zu einem bloßen Objekt des Handelns Gottes, zum truncus et lapis gemacht, sondern als vernehmendes, verstehendes, sich entscheidendes Subjekt angesprochen. Das verkündigte Wort bezeugt als solches Gottes Eingehen in die Menschlichkeit, seine unfaßbare „Anpassung" an den Menschen, seine „Bemühung um den Menschen", sein lockendes und drohendes Werben um ihn, das ihn da sucht, wo er in seinem Denken, 169
N u G , S. 41. 44; vgl. OuV, S. 449 f. Brunner verweist hier (NuG, S. 39 ff.) im Gegensatz zu Barth auf das Redit und die Notwendigkeit des Analogieprinzips in der Theologie. Allerdings nidit in dem Sinne, daß es eine legitime Gotteserkenntnis mittels des Analogieprinzips geben könne — dies verneint er ausdrücklich (NuG 2 , S. 57 gg, vgl. OuV, S. 96 f.) —, sondern unter Hinweis darauf, daß die biblische Offenbarung nicht zufällig als Menschwerdung geschieht, daß das Wort Gottes nicht zufällig als Menschenwort ergeht und nicht zufällig die entscheidenden Begriffe der Verkündigung (Vater, Sohn, Wort, Geist) auf die menschliche Personanalogie verweisen. Das Personsein des Menschen ist in sich analog dem Personsein Gottes, imago Dei, das menschliche Wort ist imago verbi divini (vgl. OuV, S. 453). In der Lehre von der imago Dei zeigt sich daher die eigentliche Bedeutung der Lehre von der Schöpfungsoffenbarung für die Dogmatik (vgl. jedoch die Einschränkung in NuG 2 , S. 59 mm). Audi jener andere Gedanke gehört hierher, den Brunner am Sdiluß seines Anknüpfungsaufsatzes ausspricht: die „Anknüpfung" des theologischen Denkens an das natürlidi begründende Denken im „dogmatischen Beweis" (Anselms sola ratione!) und die Radikalisierung gewisser Begriffe des natürlichen Denkens im Vollzug theologischen Denkens (Ankn, S. 531, vgl. S. 525). 170
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OuV, S. 449; WaB, S. 179. 285
Fühlen, Wissen, Tun existiert und ihn da ergreift, wo er sich Gott zu entziehen versucht. „Evangelium verkündigen heißt von Gott her den Menschen ,entdecken' und für Gott,verhaften' ", heißt auf den Menschen eingehen und leidenschaftlich um ihn, um sein Verstehen ringen. „Nur wer sich mit ganzer unbedingter Leidenschaft um den Menschen kümmert, kann sagen, er verkünde Evangelium." Und darum „ist die Bemühung um den Menschen nicht ein Zweites neben ,der Sache', sondern der Sinn der Sache selbst"172. Wir stießen bereits mehrfach in unserer Untersuchung auf diesen umfassenden Gesichtspunkt der Verkündigung 173 und erkannten in ihm den eigentlichen Ursprung und das Kriterium der Fragestellung Brunners: die Frage, wer der Mensch eigentlich ist, dem das Verkündigungswort gilt, die Frage nach der menschlichen Verstehenssituation angesichts des zum Glauben und zur Buße rufenden Wortes. Mit seiner Lehre von der formalen Gottebenbildlichkeit, mit seiner Theorie des Anknüpfungspunktes, mit seiner Beschreibung der Aufgabe der Eristik versuchte er, dieses Problem theologisch sachgemäß zu erfassen. Alle diese Überlegungen klingen in „Natur und Gnade" erneut an und sind zur Interpretation dessen, was Brunner in diesem für die Intention und das Schicksal seiner theologischen Arbeit so bedeutsamen Schlußabschnitt sagt, mit heranzuziehen. Es ist nicht zu übersehen, daß er in dieser Zusammenfassung der verschiedensten Argumente und Gesichtspunkte seinem Anliegen nicht den überzeugendsten Ausdruck zu geben vermochte. Manche unbedachte Formulierung forderte geradezu zum Mißverständnis und zur Kritik heraus und nötigte Brunner zur Klarstellung 174 . Aber daß hinter seinen Überlegungen und in ihrem Mittelpunkt diese Frage nach dem von Gott angesprochenen und darum in seiner Ansprechbarkeit theologisch ernst zu nehmenden Menschen stand, kam dennoch auch hier zum Ausdruck. Es ging Brunner in seiner Lehre von der allgemeinen Schöpfungsoffenbarung, vom Anknüpfungspunkt, von der eristischen Aufgabe, um die konkrete Explikation der Verantwortlichkeit des Menschen im Geschehenszusammenhang der Verkündigung. Darauf weist er selbst eindringlich hin, und dies erweist sich in der Tat als der theologische Impuls und als der übergeordnete Gesichtspunkt, von dem her die einzelne Fragestellung, die bisweilen der Gefahr einer isolierten Betrachtungsweise und eines abstrakten Ratio172 OuV, S. 450 £.; vgl. zum Ganzen OuV, S. 449ff., und Brunners Aufsatz „Der Zweck der Verkündigung" in dem Sammelbändchen »Vom Sinn der Verkündigung", Zollikon 1941. 173 Siehe oben S . 1 2 2 f . 135 ff. 146. 156 f. 176. 207. 213. 174 v g l . die Erläuterungen zur 2. Auflage, S. 56—60, und MiW, S. 541. Seine eigens eingefügte Anmerkung beim Wiederabdruck von N u G in der Theologischen Bücherei Bd. 34 schließt Brunner 30 Jahre später mit den Worten: „Karl Barth hat inzwischen so vieles von dem, was uns damals trennte, auf seine Weise neu und besser gesagt, und auch ich habe seitdem hinzugelernt" (a.a.O., S. 183 f.).
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nalismus zu erliegen droht, ihre Korrektur und ihre theologische Sinngebung erfährt. Die Frage nach der „Möglichkeit des Verstehens der Verkündigung" als „christliche Lehre von den Voraussetzungen des Hörens" 175 wird von Brunner nicht als „falsche Frage nach dem Erfolg" gestellt, audi nicht als eine abstrakte Frage, die vom wirklichen Menschen und vom wirklichen Verkündigungsgeschehen absieht. Sie kann innerhalb der theologischen Anthropologie nur den Sinn haben, zu erhellen, was das Wort Gottes als Anrede besagt, was an menschlichen Verstehensvoraussetzungen im Geschehen des Glaubens vorausgesetzt und wirksam ist, was darum von einer theologischen Besinnung auf die Verkündigungsaufgabe als Aufgabe erkannt und wahrgenommen werden muß. Es geht nicht darum, das Geheimnis der Selbstvergegenwärtigung Gottes, der Unverfügbarkeit des Glaubens als Geheimnis aufzuheben, rational verständlich zu machen und eine erkenntnistheoretische Methodologie des glaubenden Verstehens zu entwerfen, die audi nur die geringste Manipulation des Menschen, die geringste Möglichkeit, sich jenes verborgenen, unverfügbaren Geschehens zu bemächtigen, erlauben würde. Es kann auch hier nur um den Gehorsam aus Glauben gehen, der die Wahrheit des Evangeliums nur bezeugen kann, der sie aber doch zu bezeugen hat als das situationsbezogene, situationserhellende, situationsbestimmende Wort, das in die Situation des Menschen eingeht, eingreift, ihn als Hörer sucht, ihn persönlich im Gewissen anspricht, ihn bei seinem Angesprochensein und seiner Verantwortlichkeit behaftet. Brunner hat im Vorwort zur 2. Auflage von „Natur und Gnade" dies als den eigentlichen Sinn der Lehre von der allgemeinen Schöpfungsoffenbarung bezeichnet, daß sie die schuldig machende Verantwortlichkeit des Gottfernen für seine Gottesferne begründet und damit auch seine Ansprechbarkeit für das ins Gewissen treffende Wort des Evangeliums. Er verweist auf die vielzitierten Worte aus Aurifabers Bearbeitung der Exoduspredigten Luthers 178 und bemerkt 175
NuG 2 , S. 58 kk. „Wenn aber das natürlich gesetz nicht von Gott ynn das hertz geschrieben und geben were, so müßte man lang predigen, ehe die gewissen getroffen wurden, man müste einem Esel, Pferd, ochssen odder rindt hundert tausent jar predigen, ehe sie das gesetz annehmen, wiewol sie ohren, äugen und hertz haben wie ein mensch, sie künnens auch hören, es feit aber nicht ynns hertz, Warümb? was ist der feel? Die seel ist nicht darnach gebildet und geschaffen, das solchs darein falle, Aber ein mensdi, so yhm das gesetz wird fürgehalten, spridit er bald: ja, es ist also, kan es nicht leucken. Das künde man yhn so bald nicht uberreden, es were denn zuvor ynn seinem hertzen geschrieben, weil es nu zuvor ym hertzen ist wiewol tunkel und gantz verplichen, so wird es mit dem wort widder erwecket, das ja das hertz bekennen muß, es sey also wie die gepot lauten: das man einen Gott ehre, liebe, yhm diene, weil er allein gut ist und gutes thut und nicht alleine den frommen, sondern auch den bösen" (WA 16, 447, 26 ff.). Brunner zitiert diese Lutherstelle mehrfach (vgl. GuO, S. 580; MiW, S. 549), ein Beweis dafür, wie wichtig sie ihm war. 178
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dazu, in diesen Lutherworten sei alles gesagt, worauf es ihm in seiner Schrift ankomme: „Luther spricht hier in großartiger Einfachheit das aus, was ich mit der Lehre vom Anknüpfungspunkt meine, und er sagt es durch die Aufeinanderbeziehung der ,Natur'- oder Schöpfungsoffenbarung und der allein die Verkündigung inhaltlich bestimmenden Versöhnungsoffenbarung in Jesus Christus." 177 Wir haben keine Veranlassung, in dieser nachträglichen Selbstinterpretation eine Verharmlosung oder Abschwächung des Problems der Anknüpfung, das uns von Anfang an beschäftigte, zu vermuten. Die kritische Frage an Brunner wird sich nicht darauf richten können, daß er das anthropologische Problem des Verstehens in der Begegnung von Gott und Mensch, im Geschehenszusammenhang von Wort und Glaube neu aufgegriffen und als Anknüpfungsvorgang beschrieben hat. Dieser mißverständliche, von Brunner jedoch genau bestimmte Begriff kann ohne weiteres fallengelassen werden und wurde audi von ihm schließlich praktisch fallengelassen. Der mit ihm umschriebene Sachverhalt verlangt gleichwohl sein Recht. Er ist nicht Inhalt der Verkündigung 178 , aber er ist aktuell im Geschehen der Verkündigung, weil hier nicht nur Gott zur Sprache kommt, sondern auch der Mensch. Er ist ein Element des Sprachgeschehens zwischen Gott und Mensch, das zwar nicht nach den Regeln menschlicher Dialektik geschieht, das aber doch das wissende Nichtwissen des Menschen in seine Dialektik hineinnimmt: indem es als Wort Gottes in der Sprache des Menschen geschieht und seine Situation bestimmt; indem es als die Offenbarung dessen, was in keines Menschen Herz gekommen ist, ein Ridi ter der Gedanken und Sinne eben dieses Herzens ist; indem es als Anrede an den Menschen ihn zugleich in Frage stellt und ihn in seiner Fraglichkeit beantwortet; indem es die Antwort des Menschen fordert, in der er sich selbst Gott überantwortet. Dies hat Brunner im Sinn mit seiner Frage nach der „anderen" Aufgabe der Theologie, die in Wahrheit keine andere Aufgabe ist, mit seinem Programm der Eristik, das den Menschen in seinem Widerspruch zur Aufmerksamkeit auf das Wort des Glaubens nötigen möchte, ohne ihn doch dazu zwingen zu können, mit seiner Lehre von der Schöpfungsoffenbarung und vom Anknüpfungspunkt, die den Menschen als das auf Gott bezogene Wesen definiert. Es ist der Versuch einer Theorie des Verkündigungsgeschehens oder — um einen Ausdruck zu gebrauchen, in dem Brunner sein Anliegen selbst am treffendsten ausgedrückt fand — es ist in seiner praktischen Ausrichtung auf die Verkündigung der Versuch einer „missionarischen Theologie"17e. Damit hat Brunner auf seine Weise die der Theologie in der krisenhaften Zuspitzung der Verkündigungssituation in der Gegenwart ge177 179
288
NuG 2 , S. III. NuG 2 , S. 50 f. y; D I, S. 109 ff.
178
Vgl. NuG 2 , S. 58 kk.
stellte Aufgabe bewußtgemacht. In diesem Bewußtmachen, in diesem Ernstnehmen der Situation des Hörers als des Adressaten der Botschaft liegt das unbestreitbare Redit Brunners. Die theologische Kritik seiner Fragestellung und ihrer Ausarbeitung wird ihren Ausgangspunkt jedenfalls nicht in dem Vorwurf nehmen können, er habe die Situation des Hörers gegenüber der Botschaft, die er verstehen und glaubend bejahen soll, zu ernst genommen, der menschlichen Seite des Verstehensproblems zuviel Gewicht beigelegt. Im Gegenteil, man wird angesichts der zur Identifikation drängenden Korrelation von Botschaft und Situation, angesichts der konkreten Aufeinanderbeziehung des glaubenden und des natürlidien Selbstverständnisses kritisch fragen müssen, ob Brunner hier innerhalb seiner Fragestellung die menschliche Seite des Verstehensproblems schon ernst genug genommen hat, wenn er im Blick auf den Hörer zwar die Frage nach dem „Wie" der Verkündigung in den Vordergrund schiebt, die Frage nach dem rechten „Was" in diesem Zusammenhang jedoch anscheinend nicht gestellt sieht180. Das eigentlich brennende Problem der Hermeneutik scheint hier noch kaum in den Blick zu kommen: die durch die Situation des Hörers in seinem Wirklichkeits- und Wahrheitsbewußtsein aufgeworfene Frage nach dem „Was", nach dem Inhalt der Verkündigung selbst. Daß Brunner gleichwohl auch um dieses Problem weiß und um seine Lösung ringt, davon zeugen sein Verständnis der biblischen Wahrheit als Begegnungswahrheit, seine kritische Wendung gegen allen Dogmatismus und die Durchführung der dogmatischen Aufgabe. Wir hatten uns mit dieser Untersuchung die Aufgabe gestellt, den Weg Emil Brunners zur theologischen Anthropologie von seinen Denkvoraussetzungen aus in seiner eigentlichen theologischen Absicht und Bedeutung zu klären. In einer von Mißverständnissen, polemischen Verzerrungen und eingefleischten Vorurteilen gekennzeichneten Gesprächssituation liegt darin die einzige Chance, zu einem gerechten Urteil zu kommen und das theologische Gespräch weiterzuführen. Dieses Gespräch kommt auch heute nicht an der Entscheidung vorbei, um die es in der dialektischen Theologie im Streit um die sogenannte natürliche Theologie ging. E. Brunners Versuch einer Theorie des Verkündigungsgeschehens und einer missionarischen Theologie und seine Auseinandersetzung mit K. Barth verdeutlichen das Recht dieser Fragestellung, aber auch die hier drohende theologische Verirrung. Darin liegt die bleibende Bedeutung dieser theologischen Konfrontation. In dieser Arbeit wurde die Gesprächslage und die Sachfrage im Hinblick auf die von Brunner vertretene Position analysiert. Das Ergebnis dieser Analyse rechtfertigt die Feststellung, daß Barths „Nein" gegenüber Brunner in wesentlichen Voraussetzungen und Vermutungen auf einem 2
leo V g l . NUG, S. 4 2 f . 58.
289
Mißverständnis beruht bzw. auf einem Ignorieren bestimmter Probleme der theologischen Anthropologie, denen er sich früher oder später selber stellen mußte. Damit ist allerdings der Streit zwischen beiden noch keineswegs geschlichtet. Wohl aber ist die Grundlage geschaffen, von der aus der wirkliche Streitpunkt zwischen Brunner und Barth präzisiert und die Frage nach, einer möglichen Uberwindung des Gegensatzes zwischen ihnen sinnvoll gestellt werden kann 181 . 1 8 1 Diese weiterführende Untersuchung, in deren Mittelpunkt Barths Auseinandersetzung mit dem v o n Brunner so nachdrücklich geltend gemachten Sachverhalt steht, und deren Ziel die Frage nach einer Annäherung b z w . einer bleibenden Differenz der Standpunkte ist, gedenke ich noch vorzulegen.
290
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Personenverzeichnis Althaus, P. 16, 119, 245 Aristoteles 283 Augustin, Aur. 61, 86 Balthasar, H . U. ν. 270 ff. Barth, H . 54 ff., 58 Barth, Κ. 11 f., 16 ff., 20 f., 34—37, 39, 44, 47, 49, 56 f., 77, 79, 81 f., 86, 91, 102, 106, 111, 122, 124, 131, 134, 142, 148, 150, 154, 159, 161, 165, 168, 171 £., 179, 184, 188, 197 f., 203, 207, 209 f., 223 ff., 230, 233—237, 240 f., 244, 247 ff., 253 f., 256 f., 259, 261, 263, 269 f., 275 f., 278 f., 282, 285 f., 289 f. Barth, P. 188, 233, 236, 239 Bauhofer, O. 274, 280 Benktson, Β. E. 198 Bergson, H . 23, 32, 41 f., 52 Blumhardt, Chr. 37 Böhl, Ed. 246 Bonaventura 279 Bornkamm, G. 249 Bouillard, H . 18, 271, 273 Brunner, P. 130 Brunstäd, Fr. 198 Buber, M. 77, 160 Bultmann, R. 12, 16, 160—164, 172, 178, 196, 249, 260 Calvin, J. 168, 187f., 224, 232ff., 236, 238 ff., 255, 265 ff. Cohen, H . 54 Cullberg, J. 78, 114 Deißner, K. 119 Descartes, H . 62 Diekamp, Fr. 270 Diem, H . 131, 136, 145 Dostojewski, F. M. 86 Ebner, F. 21, 64 f., 75—78, 160, 171 Eltester, F. W. 221 Eucken, R. 24, 26 Fichte, J. G. 56, 107 Flacius, M. 140 Franken, J. C. 58
Fries, H . (Hrsg.) 119 Fürst, W. (Hrsg.) 171 Gerhard, J. 189 Gestrich, Ch. 12 Gloege, G. 19 Gogarten, Fr. 16 f., 36 f., 77 f., 106, 160— 162, 175, 234, 236 Guardini, R. 270, 279 Gunkel, H . 218 f. Gutersohn, U. 142, 159 Gutmann, B. 119 Haitjema, Th. L. 18, 105—107, 120 Hamann, J. G. 65, 77 Harnack, Th. 175 Hegel, G. F. W. 42, 64, 136 Heidegger, M. 162 ff. Heiler, Fr. 39 Heim, K. 77, 162 Heinzelmann, G. 119 Herrmann, W. 138, 214 Hessen, J. 237 Hoffmann, A. 198 Hubbeling, H . G. 20, 175, 231 Humboldt, W. v. 65, 77 Irenäus 144, 186 Jacob, G. 175 Jacob, S. 119, 153 Jervell, I. 221 Jone, H . (Hrsg.) 36, 78 Kahler, M. 118, 175 Käsemann, E. 221 Kant, I. 22, 24, 32, 54, 56, 62 f., 71, 77, 89, 95 Kierkegaard, S. 50, 63, 77 f., 86, 89, 130 f., 137, 160, 162 Klein, J. 275 Knak, S. 119, 154 Köberle, A. 119 Köhler, L. 218 Kraemer, H . 117 Kühn, U. 269, 279 Kümmel, W. G. 221, 245, 249
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Kuhlmann, G. 162 f., 248 ff., 259 f. Kutter, H . 36 f. Lackmann, M. 249 Langemeyer, B. 78 Leese, K. 237 f., 251 Lerdier, L. 270 Lindeskog, H . 221 Link, W. 162, 198 Loewenich, W. v. 271 Löwith, K. 162 f. Lohse, E. 221 Luthardt, Chr. E. 196 Luther, M. 44, 70, 78, 82, 96, 157, 161, 167 f., 186 f., 204, 211, 233 f., 267, 287 Michel, O. 245 Müller, J. 117, 169, 191, 196 Natorp, P. 54 f., 58, 87 f. Oeningen, A. v. 190 f. Ott, H . 247, 271 Overbeck, Fr. 47, 132 ff. Pascal, Bl. 61, 86, 130 f., 133, 136 f., 160, 162 Pius XII. 274, 277 Plato 54 f., 57, 62, 65, 111, 272, 283 f. Pohl, J. H . 175, 198, 231 Przywara, E. 270, 279 Rad, G. v. 218 f. Ragaz.L. 22 Rahner, K. 270 Ratschow, C. H . 246 Reischle, M. 26 Ridkert, H . 23, 26 Ritsdil, A. 49, 138
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Roessler, R. 17, 78, 145, 150, 173, 194 f., 200, 205 f., 220, 222, 255, 281 Rosenkranz, G. 119 Rosenzweig, Fr. 77 Rothe, R. 118 Salakka, Y. 20, 58 f., 196, 198, 205, 280 Schaeder, E. 59 Scheeben, M. J. 270 Schleiermacher, F. D. 22 ff., 30, 32, 40 f., 45, 49, 101, 117, 132 Schleiermacher, Th. 78 Schlier, H . 249 Schlink, E. 11, 145, 239, 249 Schmaus, M. 270 f. Schröder, G. 78 Schumann, F. K. 119, 132, 189, 228, 238 Sigwart, Chr. 23 Skydsgaard, K. E. 280 Söhngen, G. 270, 275, 279 Stange, C. 198 Stephan, H . 46, 48, 54, 63, 77 Struker, A. 221 Szekeres, A. 20, 71, 178 Thielicke, H . 249 Thurneysen, Fr. 81, 122 f. Tillich, P. 12, 16, 22 Traub, Fr. 198 f., 203 Troeltsch, E. 33, 39, 228 Volk, H . 20, 205, 222, 274 f., 280 Volken, L. 20, 274 Voßberg, H . 174 Warneck, G. 119, 157 Windelband, W. 23, 26 Zahrnt, H. 126 Zimmerli, W. 219
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Bd. 9 : Reinhard Slenczka: Ostkirche und Ökumene 1963.316 S., kartoniert Bd. 10: Wolfgang Dietzfelbinger : Die Grenzen der Kirche nach röm.kath. Lehre 1962.229 S., kartoniert Bd. 11 : Horst-Günter Redmann: Gott und Welt Die Schöpfungstheologie d. vorkrit. Periode Kants 1962.167 S., kartoniert Bd. 12 : Reinhard Neubauer: Geschenkte und umkämpfte Gerechtigkeit Zur Theol. und Sozialethik bei Reinh. Niebuhr 1963.223 S., kartoniert Bd. 13 : Harm Alpers: Die Versöhnung durch Christus Zur Typologie der Schule von Lund 1964. X, 225 S., kartoniert Bd. 14: Günter Schnurr: Skeptizismus als theol. Problem 1964.261 S., kartoniert Bd. 15 : Günter Gassmann: Das historische Bischofsamt und die Einheit der Kirche in der neueren anglikan. Theologie 1964.282 S., kartoniert Bd. 17 : Urban Forell: Wunderbegriffe und logische Analyse 1967.461 S., kartoniert Bd. 18 : Reinhard Slenczka : Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi 1967.366 S., kartoniert Bd. 19 : Jörg Rothermund: Personale Synthese Isaak Dorners dogmatische Methode. 1968.250 S.y kartoniert Bd. 20 : Harald Schulze: Lessings Toleranzbegriff 1969.179 S., kartoniert Bd. 21 : Christoph Marczewski: Die Zoi-Bewegung Griechenlands 1970.160 S., kartoniert
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Bd. 22 : Friedrich Beißet : Schleiermachers Lehre von Gott dargestellt nach seinen Reden und seiner Glaubenslehre 1970.265 S., kartoniert Bd. 23 : Hans-Joachim Kosmahl: Ethik in Ökumene und Mission 1970.183 S., kartoniert Bd. 24 : Klaus Rosenthal : Die Überwindung des Subjekt-Objekt-Denkens als philosophisches und theologisches Problem 1970. 170 S., kartoniert Bd. 25 : Hermann Brand: Gotteserkenntnis und Weltentfremdung 1971.269 S., kartoniert Bd. 26 : Hans-Martin Barth: Atheismus und Orthodoxie Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert. 1971.356 S.,Linson Bd. 27 : Adriaan Geense: Auferstehung und Offenbarung Über den Ort der Frage der Auferstehung Jesu Christi und der heutigen deutschen evangelischen Theologie. 1971.235 S., Leinen Bd. 28 : Georg Günter Blum: Offenbarung und Überlieferung Die dogmatische Konstitution. „Dei Verbum" des zweiten Vatikanums im Lichte altkirchlicher und moderner Theologie. 1971.134 S., broschiert Bd. 29 : Heinrich Leipold: Missionarische Theologie Emil Brunners Weg zur theologischen Anthropologie. 1973.298 S., kartoniert Bd. 30 : Klaus Bümlein: Mündige und schuldige Welt Überlegungen zum christlichen Verständnis von Schuld und Mündigkeit im Gespräch mit Paul Tillich und Karl Rahner. 1973.164 S., kartoniert
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