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German Pages [367] Year 2018
Martin Hailer
Stellvertretung Studien zur theologischen Anthropologie
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar, David Fergusson und Christiane Tietz
Band 153
Martin Hailer
Stellvertretung Studien zur theologischen Anthropologie
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-3253 ISBN 978-3-666-56457-4 © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar
In memoriam Nils-Olaf Pülschen 1966–2014
Vorwort
Menschen treten füreinander ein: Eltern für ihre Kinder, Freundinnen für einander, genauso und doch anders Liebespaare, Lehrer und Lehrerinnen für ihre Schüler, eine gewählte Politikerin für die, die sie repräsentiert – und es gibt Stellvertretung vor und von Gott. Ein katholische Priester, mit dem zusammen ich vor nicht langer Zeit eine ökumenische Trauung hielt, erklärte mir die Motivation für die völlig überbordende Arbeitsbelastung in seinem Pfarreiverbund so: »Mir ist eingeräumt, für all diese Menschen vor Gott treten zu dürfen«. Um Rechtfertigung oder Kritik des römisch-katholischen Amtsverständnisses ist es mir hier nicht zu tun, wohl aber um das mit dieser kleinen Aufzählung verbundene Phänomen: Gelingendes menschliches Leben gibt es offenbar nicht, ohne dass Menschen füreinander eintreten. Gewiss kennen wir auch Fehlformen von Stellvertretung, bei denen sich etwa der Vertretene beklagt, jedenfalls ›so nicht‹ vertreten werden zu wollen oder Stellvertretung einfordert, wo sie nicht geschieht. Ohne Stellvertretung aber keine Erziehung, keine Freundschaft, keine Liebe, kein demokratisches Gemeinwesen, keine Diakonie, keine Kirche – und so weiter! Personen werden allererst durch Stellvertretung zu dem, was sie sind, und es sind Personen nötig, um Akte der Stellvertretung zu vollziehen. Personsein und Stellvertretung gehören jedenfalls zusammen. In diesem Buch unterziehe ich dies gleichermaßen große wie vielfältige Feld einer näheren Betrachtung: Wie gehören Personsein und Stellvertretung denn des Näheren zusammen? Kann man vielleicht verschiedene Typen oder Formen von Stellvertretung unterschieden? Und: Welchen genuinen theologischen Beitrag gibt es zum Thema Stellvertretung? Der Topos von der Stellvertretung Christi wird diskutiert und dabei immer wieder auch scharf kritisiert: Brauchen wir ihn und, falls ja, wie verhält er sich zur Stellvertretung, die für Menschen möglich ist und zu der sie aufgerufen sind? Vor einigen Jahren hatte ich einige kleinere Studien zum Begriff der Person entworfen, sie aber zur Seite gelegt, denn was da stand, war vielleicht nicht falsch, ging aber über begriffsgeschichtliche Erklärungen nicht hinaus. Erst eine Reihe
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Vorwort
von Vortrags- und Beitragseinladungen in letzter Zeit brachte mich auf die Spur, die zu diesem Buch führte: Ich wurde bei unterschiedlichen Gelegenheiten gebeten, zu Themen der Anthropologie wie Freundschaft, Liebe und Gebet zu sprechen, und merkte im Lauf der Ausarbeitung, dass ich diese Themen nur darstellen konnte, wenn ich sie als Fälle stellvertretenden Handelns verstand. So entstand der Gedanke, die ungeplant entstandene Reihe von anthropologischen Konkretionen zu bündeln und sie durch eine Grundlagenreflexion zu hinterfangen. Entsprechend ist das hier Vorgelegte eine Kombination: Die meisten Kapitel aus den Teilen I und III gehen auf Vorträge oder Beiträge zu Sammelbänden und Zeitschriften zurück und wurden teils separat veröffentlicht. Teil II hingegen, der die Konzeption Stellvertretung zu klären und biblisch-theologisch zu konturieren versucht, entstand aus dem Bedürfnis heraus, hinter der Vielzahl der Ausprägungen deren mögliche Grundlage sichtbar werden zu lassen. Vielleicht steht in diesem Buch nicht viel Neues – mein Ziel ist ausdrücklich, zu verstehen, nicht zu konstruieren. Es ist mir gänzlich recht, wenn Argumente wieder zum Vorschein kommen, die bereits in das große Gedächtnis der Theologie gehören, die aber neues Interesse in neuer Situation verdienen. Ein Forschungssemester WS 2015/16 bot die Möglichkeit, die schon vorhandenen Kapitel zu überarbeiten und die noch fehlenden zu verfassen. Ich konnte mich auf einige Monate wie weiland Hieronymus ins Gehäus’ zurückziehen und danke den Heidelberger Kolleginnen und Kollegen für ihre dadurch entstehende Mehrarbeit sowie den Studentinnen und Studenten für ihre Geduld bei mancher verzögerten Antwort auf ihre Anliegen. Unterstützt haben mich durch Formatierungsarbeiten und Korrekturlesen Anna Christina Wagner und Achim Hofmann in Heidelberg sowie durch rasche Literaturbeschaffung und manchen Rat Dr. Nadine Hamilton in Erlangen. Den Kollegen Erwin Dirscherl (Regensburg), Wolfgang Schoberth (Erlangen) und Joachim Weinhardt (Karlsruhe) danke ich für fruchtbare Diskussionen und wertvolle Hinweise. Nicht nur, weil wir in diesen Jahren neue Formen familiärer Stellvertretung erproben und erlernen müssen, gilt der wichtigste Dank Brigitte Gallé, meiner geliebten Frau. Das Buch ist dem Gedächtnis eines viel zu früh verstorbenen Freundes gewidmet, der zuletzt Pfarrer in Fürth-Burgfarrnbach war. Um ihn zu trauern und ihn gleichzeitig bei Gott geborgen zu wissen, will sich mir immer noch nicht recht zusammenfügen. Aber in einer theologia viatorum kann es wohl nicht anders gehen. Heidelberg, im Herbst 2016
Martin Hailer
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das eigentümliche Themenfeld ›Anthropologie‹ und die Aufgabenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welchen Ort hat die theologische Anthropologie? . . . . . . . . . . Anregungen aus der katholischen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . Grundentscheidungen, Aufgabenstellung, Gang der Untersuchung 2. »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?« Ein Bericht über Anthropologie in evangelischer Wahrnehmung . . . . . . . . . . . Um den Ort der Anthropologie: Von der Apologetik zur Schöpfungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthropologie, theologisch neu verortet . . . . . . . . . . . . . . . Neue Wege der Wahrnehmung und des Handelns: Zwei Beispiele theologischer Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontinuität und Verborgenheit des Lebens vor Gott. Ein Hinweis auf die weitergehende Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel I. Person und Personalität. Ausgewählte Diskurse in Philosophie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Person und Wiedergeburt in Friedrich D.E. Schleiermachers Glaubenslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gravitationszentrum der Glaubenslehre . . . . . . . . . . . . . . Der Personbegriff in der Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Personbegriff in der Rechtfertigungslehre: Wiedergeburt und neuer Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stetigkeit und Ereignishaftigkeit der Person. Thesen zu einem systematischen Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Noch einmal: Schleiermachers kirchliche Dogmatik . . . . . . . . . .
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Inhalt
2. Widerspruch und Anknüpfung zugleich. Karl Barth über die Person und ihr Neuwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Merkposten zur Anthropologie in der Schöpfungslehre . . . . . . . . Anthropologie, christologisch begründet . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die soteriologische Offenheit der Anthropologie . . . . . . . . . . . Neuwerden der Person: Barths Konzeption von ›Wiedergeburt‹ in der Versöhnungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuwerden als Widerfahrnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Person und Personkriterien. Peter Singers aufschlussreiche Extremposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Bemerkung zur Struktur der philosophischen Debatte um »Person« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Singers Persontheorie: ein aufschlussreiches Extrem . . . . . . Person und Anerkennung. Umriss der theologischen Klärungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. »Die Person ist vor ihren Zielen da«. John Rawls’ Personkonzept in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Anlage der Theorie der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . ›Die Person ist vor ihren Zielen da‹ oder ›Christus in mir‹? . . . . . . Rawls’ frühe Theorie von der Natur des Menschen . . . . . . . . . Die Konstitution der Person aus theologischer Sicht . . . . . . . . . Zur theologischen Kritik der philosophischen Naturkonzeption . . Die Person: gesellschaftlich bestimmt oder am Leib Christi? . . . . . Veränderungen in Rawls’ Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein ekklesiologischer Aspekt im theologischen Personkonzept . . . Zwei Beispiele für diese ›Sachlichkeit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel II. Stellvertretung und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Phänomen »Stellvertretung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Person: »Etwas« oder »jemand«? . . . . . . . . . . . . . . . Personale Identität als narrative Identität . . . . . . . . . . . . Erkennen der Person als Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . Stellvertretung. Bericht über Besichtigungen eines Konzepts . . . »Die Behauptung, das Ich sei Stellvertretung« – E. Levinas . . . »Der den christlichen Glauben summierende Satz ›Gott tritt an meine Stelle‹« – C. Gestrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das »Opfer der Kirche als ›Mit-Stellvertretung‹ mit und in Christus« – K.-H. Menke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Stellvertretung durch Christus . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Vermeidungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biblische Merkposten mit systematischen Konsequenzen . . . . . . . Der große Versöhnungstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sühnetat im Tode Christi (Röm 3,21–26) . . . . . . . . . . . . . 3. Das Neuwerden der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur finnischen Lutherinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuwerden der Person durch Teilhabe an Gott? Zur systematischen Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel III. Felder der Anthropologie, stellvertretungstheologisch betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Seele. Zur Wiedergewinnung eines Konzepts . . . . . . . . . . . . . . Vorläufige Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seele und Exteriorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fremde im Eigenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freundschaft. Über Selbstsein mit und aus dem Anderen . . . . . . . Allgemeine Bemerkungen zur Lage des Diskurses . . . . . . . . . . . Aristoteles zum Thema Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rezeption bei Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . Freundschaft und Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick: Ökumene als Freundschaft von Konfessionen . . . . . . . 3. Liebe. Theologische Anatomie des »unordentlichen Gefühls« . . . . . Liebe – nach Platon … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . … adaptiert in der christlichen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . Eine theologische Gegengeschichte I: Grundgedanke . . . . . . . . . Exkurs: Liebe als Hinneigung zum Anderen und die Konzeption des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine theologische Gegengeschichte II: Biblische und trinitätstheologische Schlaglichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Liebe als Hinneigung zum Anderen und als Ereignis . . . . . . 4. Vorbilder. Ein Lehrstück in öffentlicher Theologie . . . . . . . . . . Kleine Anatomie eines Vorgangs öffentlicher Theologie . . . . . . . Der Mythos vom Engelssturz und der Sündenfall . . . . . . . . . . . Theologie der Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung: Zweierlei öffentliche Theologie . . . . . . . . . . 5. Lehren. Warum darf in den Lebensvollzug anderer eingegriffen werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der normative Charakter von Erziehungszielen. Erste Näherung im Dialog mit der Erziehungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie und Vortheorie. Eine Klassikerlektüre . . . . . . . . . . . . .
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12 Lebenswelt und Autonomie. Ein Beitrag aus der praktischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wege zur Mündigkeit in theologischer Perspektive. Eine Skizze . . 6. Interzession. Dogmatische Erwägungen zum stellvertretenden Fürbittgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die fundamentaltheologische Funktion des Gebets . . . . . . . . . Die Struktur der Interzession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die mehrfache Öffentlichkeit der Stellvertretung . . . . . . . . . . Fürbittwürdige Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Subjekt der Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Adressat der Interzession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Anthropologie der Stellvertretung: Stelle und Wesen Die Katastrophen der Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stellvertretung Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interzession als Hineingenommensein in Gottes Stellvertretung . .
Inhalt
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Ausblick. Stellvertretung, Anerkennung, Gabe. Leitbegriffe im interdisziplinären Diskurs der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
1.
Das eigentümliche Themenfeld ›Anthropologie‹ und die Aufgabenstellung
Welchen Ort hat die theologische Anthropologie? Dietrich Ritschl beschrieb einmal die »theologischen Nachteile einer separaten Pneumatologie«.1 Mit der theologischen Anthropologie verhält es sich ähnlich: Als separates Thema innerhalb der Dogmatik hat sie bedeutende theologische Nachteile. Das ist freilich nicht auf den ersten Blick erkennbar. Lehrbücher der Dogmatik beinhalten wie selbstverständlich ein Kapitel bzw. einen Paragraphen über die Lehre vom Menschen. Er ist gewöhnlich nach der Gottes- und allgemeinen Schöpfungslehre einsortiert und wird als spezielle Schöpfungslehre angelegt: Ein solches Kapitel bzw. ein solcher Paragraph behandelt die Geschöpflichkeit des Menschen, diskutiert seine Stellung unter den anderen Geschöpfen und ihnen gegenüber, thematisiert die Gottebenbildlichkeit, den häufig umstrittenen Begriff der Seele, des Menschen Leiblichkeit, die Zweigeschlechtlichkeit und anderes mehr. Zumeist schließt der entsprechende Abschnitt mit der Rede von der menschlichen Sünde, die zugleich zu Christologie und Soteriologie überleitet.2 Gesamtdarstellungen dieses Typs sind die Jetztgestalt der evangelischen LociDogmatik, die eine Reihe mehr oder weniger isolierter oder verknüpfter Themen an einem Leitfaden, der das alte exitus-reditus-Schema erkennen lässt, darbietet. Seine Wurzeln liegen in der Reformationszeit selbst, und dann vor allem in den 1 D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988, 197. 2 Unter den mehrfach aufgelegten evangelischen Lehrbüchern in der Gegenwart vgl. R. Leonhardt, Grundinformation Dogmatik, Göttingen 42009, 257ff; W. Härle, Dogmatik, Berlin/ Boston 42012, 440ff.468ff; H.-M. Barth, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Ein Lehrbuch, Gütersloh 32008, 479ff; W. Joest/J. von Lüpke, Dogmatik II. Der Weg Gottes mit dem Menschen, Göttingen 52012, 11ff.
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Einleitung
wissensorganisatorischen Entscheidungen, die nach der vorläufigen konfessionellen Konsolidierung beginnen. Diese sind freilich weit komplexer, als die klassischen dogmatischen Kompendien vermuten machen.3 Die heutigen Vertreter dieses Typs theologischer Wissensorganisation sehen die Anthropologie also in einer Scharnierfunktion, die Schöpfungslehre und Hamartiologie verknüpft, und dadurch den Übergang zur Rechtfertigungslehre organisiert. Diese Stoffanordnung ist zum einen evident und selbstverständlich, denn unbestreitbar ist alles, was über Menschen gesagt wird, eine Aussage über Geschöpfe. Der antignostische Zug, es tatsächlich nur mit Geschöpfen zu tun zu haben und das ›Besondere‹ am Geschöpf Mensch – was immer das im Einzelnen sein soll – eben als Besonderheit eines Geschöpfs unter Geschöpfen auszusagen, ist nicht nur mit Blick auf die Theologiegeschichte des 2. und 3. Jahrhunderts sinnvoll, sondern auch in der Gegenwart des Erinnerns würdig. Ähnliches gilt doch wohl von der thematischen Zusammenführung von Anthropologie und Theologie der Sünde: Dass man von Menschen jedenfalls als von sündigen Menschen zu sprechen hat, ist richtig, auch wenn die augustinische Fehlableitung der grundsätzlichen Sündverfallenheit aus der Leiblichkeit mit guten Gründen weniger und weniger Vertreter findet. Die Frage freilich lohnt, was denn durch diese herkömmliche Stoffanordnung verloren geht oder doch ins Hintertreffen gerät. Hier geht es etwa um die Frage nach dem Erkenntnisgrund der Sünde. Folgt die Hamartiologie auf die Schöpfungslehre, muss sie auch vor diesem Forum verständlich gemacht werden können. Die klassisch-lutherischen Lösungen, es etwa mit einer Matrix von Gesetz und Evangelium zu versuchen oder eine Uroffenbarung zu postulieren, die zugleich die Kriteriologie der Sündenlehre abgibt, sind bekannt. Sie haben aber den Nachteil, dass die Entscheidung Gottes für den Menschen in Christus dann als der Erkenntnis der Sünde nachrangig gelten muss. Die – nicht nur – von Karl Barth präferierte Lösung, die Hamartiologie entsprechend in die Versöhnungslehre zu integrieren, statt sie ihr vorzuschalten, ist hier aussichtsreicher. Sie irritiert die Abfolge der Loci-Dog3 In Ph. Melanchthons Loci Communes (zuerst 1521/22) findet sich eine recht lockere Verknüpfung der vorgetragenen Themen. Gerhard Sauters Vermutung dazu ist ansprechend: »offensichtlich muß die Dogmatik keinen Beziehungszusammenhang schaffen, der durch das christliche Reden von Gott nicht schon vorgegeben wäre.« (G. Sauter, Art. Dogmatik I, TRE 9, 41–77, 44.) Das Bild von der fest gefügten Loci-Dogmatik als Kennzeichen evangelisch-(lutherischer) Lehrbildung geht nicht zum wenigsten auf eine weit verbreitete Sentenzensammlung zurück: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt von H. Schmid, Erlangen 1843, zahlreiche Nachauflagen, u. a. Gütersloh 91979. Differenzierter bei der Berücksichtigung der Diversifizierung der Lehrbildung ist E. Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Göttingen 1937 und Nachaufl., freilich geht auch Hirsch ungefragt davon aus, dass es »[d]ie reformatorische Dogmatik« gebe, (1) was gewiss nicht der Fall ist.
Das eigentümliche Themenfeld ›Anthropologie‹ und die Aufgabenstellung
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matik, aber sie hat den eminenten Vorteil, das Kaleidoskop menschlicher Verfehlungen Gott und den Menschen gegenüber direkt im Dialog mit der Entschiedenheit Gottes für den Menschen entwickeln zu können.4 Ein ähnlicher theoriestrategischer Nachteil zeigt sich im Rahmen der theologischen Behauptung, die Begegnung mit Gott spreche Menschen an und verändere sie. Wird sie nach einer schöpfungstheologischen Anthropologie vorgetragen, dann muss sie entweder etwas ihr gegenüber gänzlich Neues vortragen, was die schöpfungstheologischen Aussagen entsprechend ex post abwertet, oder aber bereits potentialiter in der Schöpfungstheologie angelegt werden, was das Verhältnis von schöpferischem und rettendem Handeln Gottes freilich entscheidend präformiert. Die Anthropologie einer Loci-Dogmatik kann nicht zureichend in den Blick rücken, dass die Einsicht in die Geschöpflichkeit des Menschen allererst aus der rechtfertigenden Begegnung Gottes erwächst und also von ihr her nicht nur reparierte sondern Geschöpflichkeit überhaupt aussagbar wird. Das sind zwei Beispiele für spezifische Blindheiten, die entstehen, wenn der Usus der am exitus-reditus-Schema orientierten Loci-Dogmatik das Theoriedesign der Anthropologie bestimmt. Hinzu kommt vielleicht noch, dass eine so bestimmte Anthropologie dazu neigt, die besondere geschöpfliche Ausstattung des Menschen in den Mittelpunkt zu rücken: Körperlichkeit, Leib und Seele, Vernunft, Sprachfähigkeit, Gottebenbildlichkeit und anderes mehr. Es könnte aber nun sein, dass eine Anthropologie, die nicht im Rahmen der vermuteten Seinsordnung angelegt wird, ganz andere Schwerpunkte setzt, etwa in der Gottoffenheit des Menschen oder darin, dass sein eigentliches Wesen verborgen sei und nicht durch inventaristische Kriterien bestimmbar ist. Überdies neigen inventaristische Anthropologien dazu, Kriterien des Personseins zu vergeben und anhand ihrer Personen von Nichtpersonen zu unterscheiden. Es gibt freilich Diskussionslagen, die dies als mindestens bedenkliches Vorgehen erweisen (s. u. I.3, II.1). Es gibt demnach gute Gründe, die theologische Rede vom Menschen nicht konzeptuell im Rahmen der Loci-Dogmatik zu verankern. Im Gegensatz zum beträchtlich weit verbreiteten Trend in der Lehrbuchliteratur sind auch immer wieder konzeptuelle Gegenvorschläge gemacht worden.5 Eine Auswahl evangelischer Stimmen aus den letzten Jahren in Stichworten: 4 K. Barth, KD §§ 60.2 (Hochmut), 65.2 (Trägheit), 70.2 (Lüge). 5 In einigen Lehrbüchern wird freilich bewusst anders optiert: So verzichtet Gunda SchneiderFlume in ihrer Gesamtdarstellung gänzlich auf einen Paragraphen zur Anthropologie, vgl. ihren Grundkurs Dogmatik, Stuttgart 22008, sie legte gleichwohl eine für breite Leserkreise gedachte Anthropologie vor: Wenig niedriger als Gott? Biblische Lehre von Gott, Leipzig 2013. In Tom Kleffmanns Werk gibt es ebenfalls keinen eigenen Paragraphen zur Anthropologie, freilich schaltet er der Christologie eine Betrachtung zur (Erb-)Sünde vor, vgl. Grundriß der
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Einleitung
1. Eschatologie als Letztbezug der Anthropologie: Nach Gerhard Sauters Überzeugung handelt die Theologie davon, dass Gott sich den Menschen gegenüberstellt und Menschen dadurch wieder neu ›ich‹ und ›wir‹ sagen lernen. Entsprechend gibt es keinen fixen Ort der Anthropologie in der Dogmatik, vielmehr gibt es kein Thema, das nicht auch anthropologisch durchzuführen wäre. Ein Prae der Eschatologie besteht dennoch, weil das Leben, das vor Gott gilt und durch ihn beginnt, in ihm verborgenes Leben ist. Das aufgetane Antlitz aber ist Gottes eschatologische Tat, nicht des Menschen Möglichkeit.6 2. Verortung der Anthropologie in der Ethik: Wolfgang Schoberths Einführung in die theologische Anthropologie thematisiert ebenfalls den eigentümlichen nicht-Ort der Lehre vom Menschen in der Dogmatik und weist u. a. darauf hin, dass es in der klassischen evangelischen Lehrentwicklung einem zählebigen Missverständnis zum Trotz kein Lehrstück ›De homine‹ gibt. Die theologische Rede vom Menschen zentriert sich für ihn in der Ethik: Die Frage nach einem ›Wesen des Menschen‹ ist unentscheidbar, vielmehr ist die Frage nach dem menschlichen Leben nur reflexiv stellbar und damit zugleich immer die Frage nach dem guten menschlichen Leben. Menschliches ›esse‹ ist ohne sein ›bene esse‹ nicht beschreibbar.7 Ethik wird hierbei wesentlich nicht als Normenethik, sondern als Erkundung des vor und von Gott möglichen guten Lebens verstanden. 3. Trinitätslehre als Matrix: In David Kelseys opus magnum wird die Anthropologie vielleicht am entschlossensten aus der Fixierung der Loci-Dogmatik entschränkt. In drei großen Teilen wird der Stoff der Anthropologie entlang der Selbstkundgabe Gottes als Vater, als Geist und als Sohn verstanden. In allen drei großen Themenbereichen ist es nun so, dass Menschsein vor Gott nicht aus sich selbst und für sich selbst ist. In der großen Themenfülle ist es regelmäßig so, dass Menschen nur außer sich bei sich sind, eben eine ›eccentric existence‹ führen und führen dürfen.8 Allen drei Entwürfen ist der entschlossene Abschied der Anthropologie aus der Loci-Dogmatik eigen. Zu erwarten ist dann nicht nur ein reicherer Blick auf anthropologisch tangierte Themenbestände. Zu erwarten ist auch, dass die für Systematischen Theologie, Tübingen 2013, 83ff. Dietrich Ritschl und ich lehnen eine der Gotteslehre und Christologie vorausliegende Anthropologie ab und thematisieren sie vor allem im interdisziplinären Diskurs der Theologie, vgl. Grundkurs Christliche Theologie. Diesseits und jenseits der Worte, Neukirchen-Vluyn 42015, 18–25.252–265. 6 G. Sauter, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh 2011, hier 362f.365–369. Mehr im hier folgenden Kapitel der Einleitung. 7 W. Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006 (2. Auflage in Vorbereitung), 76–79.84–90. 8 D. H. Kelsey, Eccentric Existence. A Theological Anthropology, Louisville KT 2009. Auch hierzu noch einige Bemerkungen in Einleitung 2.
Das eigentümliche Themenfeld ›Anthropologie‹ und die Aufgabenstellung
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die Loci-Dogmatik typischen argumentativen Gefälle – christologisch nicht informierte Hamartiologie, vermeintlich zeitliches Prae als sachliches Prae usw. – nicht oder nicht im gleichen hinderlichen Umfang auftreten werden.
Anregungen aus der katholischen Dogmatik Zu diesen heilsamen Irritationen aus der evangelisch verantworteten systematischen Theologie treten in jüngerer Zeit auch noch Entwicklungen aus der Ökumene, die in der Frage, wie anthropologische Wissensbestände denn nun zu organisieren sind, interessante Impulse setzen. Für die konziliare und nachkonziliare Periode der römisch-katholischen Theologie hatte Karl Rahners transzendentale Anthropologie die Themen gesetzt und war nichts weniger als stilbildend geworden. Er hatte – wichtige Motive des Konzils sowohl vorwegnehmend als auch später bündelnd – die Wiedereinführung des Subjekts in die Theologie betrieben. Der Abschied gegeben wurde einer Theologie der Lehrsätze, die die Kirche als Hüterin der Menge wahrer Sätze versteht und in der der Glaube wesentlich zur gehorsamen Entgegennahme dieser Sätze und ihrer lehramtlich verwalteten Schlussfolgerungen wurde. Rahners Motiv dagegen: Zum Menschsein an sich gehört es, sich in Offenheit auf Gott hin wiederzufinden. Diese Offenheit auf Gott hin ist die Möglichkeit jedes Menschen, also nicht etwa nur der Katholiken. Sie ist auch insofern die Möglichkeit jedes Menschen, als sie nicht den Geweihten vorbehalten ist. Dies in mehreren Blickrichtungen emanzipatorische Moment liegt den filigranen Rahner’schen Analysen zugrunde. Ich erinnere an den Grundzug von Rahners Argument: Die menschliche Erkenntnis ist nach Rahner vorgreifende Erkenntnis. Menschen können alles infrage stellen. Auf diese Weise erfahren sie sich – soweit irgend bekannt, im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen – als endliche Wesen. Wer aber seiner Endlichkeit innewird, ist bereits über sie hinaus: »Indem er [der Mensch, M.H.] seine Endlichkeit radikal erfährt, greift er über diese Endlichkeit hinaus, erfährt er sich als Wesen der Transzendenz, als Geist. Der unendliche Horizont menschlichen Fragens wird als ein Horizont erfahren, der immer weiter zurückweicht, je mehr Antworten der Mensch sich zu geben vermag.«9 Wer das tut, hat aber schon einen unthematischen Vorgriff auf das Ganze unternommen, das traditionell ›Sein‹ genannt wird. Mehr noch: Solche Vorgriffe überhaupt unter-
9 K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Sonderausgabe Freiburg 61984, 42f.
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nehmen zu können, macht Menschen allererst zu dem, was sie sein können, nämlich zu Personen.10 Wer nun aufs Ganze aus ist, weil er beim Innewerden seiner Endlichkeit diese schon überschreitet, ist eigentlich auf Gott aus. Das ist transzendentale Erfahrung Gottes, aber Erfahrung Gottes strikt als Geheimnis: »Die Transzendenz mit der – wenn auch unthematisch und ohne Begrifflichkeit – schon Gott gegeben ist, darf nicht als ein eigenmächtiges aktives Erobern der Erkenntnis Gottes und so auch Gottes selbst aufgefaßt werden. Denn diese Transzendenz erscheint nur als sie selbst in dem Sicheröffnen dessen, woraufhin die Transzendenzbewegung geht.«11 Das ist die eigentümlich unthematische Präsenz Gottes in der transzendentalen Erfahrung, die sehr sprechend als »leere Verwiesenheit auf Gott hin« bezeichnet wurde.12 Diese ›leere Verwiesenheit‹ ist aber kein Negativum. In ihr kommen zwei für Rahner wesentliche Motive zusammen: Einerseits wird durch sie die Geheimnishaftigkeit Gottes gewahrt und nicht zuletzt einem mitunter wissensseligen Lehramt entzogen, andererseits ist in dieser unthematischen Verwiesenheit auf Gott präzise die Würde des Menschen angezeigt: Weil jeder Mensch dazu fähig ist, ist er je individuell unendlich kostbar. »Der Mensch ist der unableitbare, nicht aus anderen verfügbaren Elementen adäquat Herstellbare; er ist derjenige, der sich selbst immer schon überantwortet ist.«13 Wichtige Arbeiten aus den auf Rahners Neuansatz folgenden Jahrzehnten können als Beitrag zu dem Projekt gelesen werden, den von ihm eröffneten Freiheitsspielraum zu wahren und zugleich zu konkreteren Aussagen in der Anthropologie zu gelangen. Otto H. Pesch etwa greift die Freiheitsthematik bewusst auf, um sie in einen Aufriss einzuzeichnen, der die Anthropologie ganz von der Gnadenlehre her beleuchtet. Der Mensch ist für ihn »Frage nach Gnade«, wogegen er den schöpfungstheologischen Aspekt weitgehend in den Hintergrund treten lässt.14 In der gegenwärtigen katholischen Anthropologie zeichnen sich zwei distinkt verschiedene Trends ab, von denen zumindest derzeit nicht absehbar ist, ob sie auf ein integriertes Konzept zulaufen könnten: Auf der einen Seite gibt es die freiheitstheoretische Grundlegung der Anthropologie, die Thomas Pröpper und eine Reihe seiner Schüler vorlegten, auf der anderen steht die Rezeption von Denkfiguren der Passivität, die etwa Josef Wohlmuth und Erwin Dirscherl im Rahmen ihrer Rezeption der Werke Emmanuel Levinas’ erarbeiteten. Pröppers monumentale Anthropologie ist – zumindest in ihrer Grundlegung – Anthropologie und Fundamentaltheologie in einem. Pröpper will die Mög10 Rahner, Grundkurs 44f. 11 Rahner, Grundkurs 67. 12 E. Dirscherl, Grundriss Theologischer Anthropologie. Die Entschiedenheit des Menschen angesichts des Anderen, Regensburg 2006, 217. 13 Rahner, Grundkurs 42. 14 O.H. Pesch, Frei sein aus Gnade. Theologische Anthropologie, Freiburg 1983, 72.
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lichkeit, Gott zu denken, zeigen, und zugleich Freiheit als Leitthema der Anthropologie einspielen. Grundzüge seiner verzweigten Argumentation gehen so: Die Behauptung von Freiheit ist unhintergehbar. Keine wie auch immer geartete Erfassung eines Gegenstands kann davon absehen, dass es ein Bewusstsein ist, das diesen Gegenstand erfasst und dass es sich dieses Vorgangs bewusst werden kann. Ein gegebener Gegenstand kann erfasst oder aber auch negiert und gedanklich überschritten werden. Das ist die grundsätzliche, die transzendentale Freiheit, die sich in jedem Bewusstseinsakt zeigt, so sehr Freiheit in aktuellen Vollzügen von allen möglichen Gegebenheiten eingeschränkt sein mag. Zu ihr gehört außerdem die Einsicht in die »Kontingenz ihres Daseins und in dessen Nichtbegründbarkeit aus der Welt«.15 Mit dieser philosophischen Kerneinsicht sind zwei wesentliche Aspekte zugleich erreicht: (a) Die Rede von einem Gott, der der Welt in Freiheit gegenübersteht, ist vor dem Forum autonomer Vernunft als möglich erwiesen; (b) »Freiheit« legt sich als Leitbegriff für die Explikation des theologischen Menschen- und Gottesverständnisses nahe. Das theologische Programm heißt entsprechend, Gott nicht in den Begriffen der traditionellen Ontologie zu denken und diese nachträglich theologisch modifizieren zu müssen, sondern »Offenbarung und freie Mitteilung, freies schöpferisches und geschichtliches Handeln als primäre Prädikate für den Gottesbegriff« einzusetzen.16 Für die materiale Anthropologie ergibt sich dann der Grundsatz: Der freie und gnädige Gott begegnet dem freien und zur Freiheit gerufenen Menschen. Das führt Pröpper u. a. dazu, die Lehre von der Erbsünde zu bestreiten: Die augustinische Theorie des peccatum originale setzt, dass göttliche und menschliche Freiheit nur im Schema konkurrierender Ursachen zu denken sind und hat darin eine gewaltige Nachgeschichte bis in die Gegenwart.17 Um die Unbedingtheit der göttlichen Freiheit zu retten, wird die menschliche als durch Erbsünde zerstört reklamiert. Pröpper geht den umgekehrten Weg und führt aus, dass die universale Heilsbedeutung Christi auch ohne Rekurs auf Erbsünde einsichtig gemacht werden kann, womit die schlechte Konfrontation göttlicher und menschlicher Freiheit entfällt und die Erbschuldtheorie entbehrlich wird.18 Das ist eine der Provokationen, die von Pröppers Position ausgehen. Eine andere ist direkt mit dem von ihm in Anschlag gebrachten Freiheitsbegriff verbunden: Er steht weitgehend in der Tradition des sog. negativen Freiheitsbegriffs, nach dem Freiheit wesentlich als Abwesenheit externer Wirkung und Zwecksetzung verstanden wird. Freilich könnte man sie auch als Freiheit zu etwas verstehen, was zugleich bedeuten würde, nicht bei Selbstbewusstseinstheorien zu 15 16 17 18
Th. Pröpper, Theologische Anthropologie, Freiburg 22012, 598, vgl. 477f. Pröpper, Anthropologie 654. Pröpper, Anthropologie 1014f. Pröpper, Anthropologie 1089.
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beginnen, sondern bei der sozialen Vernetzung des Menschen in Vorgängen der Anerkennung.19 Diese selbstkritische Gestalt moderner Theorie spielt in dem Werk, das doch ausdrücklich der Modernität und Zeitgenossenschaft verpflichtet ist, eigentümlicherweise keine Rolle. Das ist bei Josef Wohlmuth und Erwin Dirscherl programmatisch anders. Sie setzen bei Erfahrungen von Passivität und Gegebensein ein und erkunden das menschliche Subjekt vorzüglich als eines, das sich empfängt und das sich je schon als in Gemeinschaft mit anderen seiend vorfindet. Das Subjekt ist primär nicht Handelndes/Erkennendes und darin frei, es findet sich vor alldem als sich gegeben vor: »Ihm wird gegeben, ist gegeben worden, ehe es sich selbst konstituiert und zu denken beginnt. Somit ist das Subjekt, dem das Widerfahrnis der Gabe zuteil geworden ist, die jenseits aller Ökonomie liegt, das von dem ›Gott über alle Gaben‹ berührte Subjekt.«20 Der Ton der Untersuchungen liegt auf dem Umstand, dass das Primäre im Subjekt eben nicht die Selbstkonstitution ist, sondern der Umstand, dass es vor jeder möglichen Selbstkonstitution sich als gegeben vorfindet. Wer so ansetzt, hat einen originären Zugang zur Schöpfungstheologie bereits gefunden. Entsprechend nimmt sie in Dirscherls einschlägiger Monographie breiten Raum ein. Er thematisiert – hier durchaus mit Nähen zu Karl Rahner – die Unvordenklichkeit des Gegebenseins: »Wir stehen in einer Beziehung zu unserem Anfang und zu unserem Ende, die uns aufgegeben ist. Die Beziehung bleibt rätselhaft und durchbricht die Grenzen des Kontrollierbaren und des sicheren Wissens. Die Frage nach unserem Ursprung führt uns (…) in eine unvordenkliche Vergangenheit. (…) Wir sind auf unsern Anfang und auf unser Ende bezogen in einer rätselhaften Verfügtheit oder Passivität. Angesichts dieser Bezogenheiten leben wir unser Leben in Beziehungen, ohne die wir nicht leben könnten, aber derer wir nicht Herr sind.«21 Nicht nur, aber besonders durch die Rezeption von Arbeiten Emmanuel Levinas’ gelangt Dirscherl zu einer vertieften Analyse der eben genannten ›Beziehungen, ohne die wir nicht leben könnten‹. Levinas arbeitet heraus, dass das Ich nicht zu denken ist ohne den Anderen. Primär ist nicht das isolierte Subjekt, das seiner selbst durch Selbstbewusstsein innewird, primär ist, dass ich mich je schon als vom Anderen angesprochen du in Anspruch genommen vorfinde. Levinas »stellt die Subjektivität als etwas dar, das den anderen empfängt, (…) stellt sie als
19 Als nachgelagertes Phänomen im Blick in Pröpper, Anthropologie 1458–1462. 20 J. Wohlmuth, »Geben ist seliger als Nehmen« (Apg 20,35). Vorüberlegungen zu einer Theologie der Gabe, in: Einander zugewandt. Die Rezeption des christlich-jüdischen Dialogs in der Dogmatik, hg. von E. Dirscherl u. a., Paderborn u. a. 2005, 137–159, 153. Zu neueren Arbeiten zum Phänomen der Gabe einige Bemerkungen im Ausblick. 21 Dirscherl, Grundriss 49f.
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Gastlichkeit dar.«22 Dirscherl adaptiert das u. a. in seiner Interpretation der Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen: Ebenbild Gottes zu sein, ist nicht ein abstrakter Herrschaftsauftrag; vielmehr bedeutet es, Gott angesichts des Anderen und für ihn zu vertreten. »[D]ie Gottebenbildlichkeit bedeutet, die menschliche Existenz als Proexistenz angesichts und für den Anderen zu verstehen.«23 An diesem Punkt zeigt sich eine interessante ökumenische Gemeinsamkeit: Existenz als Proexistenz zu entwickeln, ist ganz zweifellos eine Aufgabe, die auch in der theologischen Ethik zu verorten ist. Hier ist Dirscherls Ansatz ganz nahe bei dem von Wolfgang Schoberth, der die Anthropologie als Erkundungsgang des guten menschlichen Lebens auslegt. Ob Gemeinsamkeiten wie diese geeignet sind, die theologische Anthropologie als Achillesferse der Ökumene zu beseitigen, muss sich zeigen und ist hier nicht zu entscheiden.24 Als Gemeinsamkeit ist sie aber zweifellos bemerkenswert.
Grundentscheidungen, Aufgabenstellung, Gang der Untersuchung Die in diesem Band folgenden Erwägungen schließen sich einigen der hier kurz erwähnten Entwicklungen an und gewinnen aus ihnen ihre Grundentscheidungen. Ich stelle sie in Thesenform vor; den Beleg für sie kann allererst die Durchführung erbringen. Eine theologische Argumentation kann aus inneren Gründen nicht axiomatisch-deduktiv sein. Sie hat viel eher den Charakter eines Netzes, das sukzessive dichter wird und das als Ganzes einzuleuchten beginnt oder aber als Ganzes unplausibel wird.25 In diesem Sinne: 1. Die Behandlung der theologischen Anthropologie im Rahmen der herkömmlichen evangelischen Loci-Dogmatik hat darstellungspragmatisch deutliche Nachteile, die in der Fehlisolierung eines Topos kulminieren, der sich per se nicht auf einen locus theologicus zusammendrängen lässt. Zu begrüßen sind demnach die neueren Ansätze, die die Anthropologie anhand einer aus ihr selbst entwickelten Leitperspektive (Sauter, Schoberth) oder aus einer theologischen Zentralmatrix (Kelsey) heraus entwickeln. 22 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 4 2008, 28. 23 Dirscherl, Grundriss 117. 24 M. Seewald, Die Lehre vom Menschen: Achillesferse der Ökumene?, in: Das Menschenbild der Konfessionen. Achillesferse der Ökumene?, hg. von B. Stubenrauch und dems., Freiburg 2015, 12–15. 25 »Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.« L. Wittgenstein, Über Gewißheit, Werkausgabe Bd. 8, 113–257, 149.
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2. Der wichtigste Impuls aus der Ökumene besteht in der Herausforderung, die Anthropologie konstitutiv dialogisch zu entwickeln (Dirscherl, Wohlmuth). Menschen sind je Mitmenschen, so dass der Anfang einer Theorie der Person dort zu machen ist und nicht bei einer Theorie des Selbstbewusstseins. Hier geht es auch um eine konfessionelle Selbstkritik, da die evangelische Dogmatik sich neuzeitlich nahezu schrankenlos des Paradigmas des Subjekts und seines Selbstbewusstseins bediente. Subjektivistischer Glaube ist aber in der Tat eine religiöse Falle.26 3. Aus These 2 folgt unmittelbar, dass die Ausarbeitung der Anthropologie Denkfiguren erkunden muss, mit denen die Interaktion von Menschen als für sie konstitutiv beschrieben werden kann. Hierfür sind mehrere Kategorien denkbar, wie die gegenwärtig breiter werdenden Diskussionen zum Thema Anerkennung oder zur Metaphorik der Gabe deutlich machen. Der Leitbegriff ›Stellvertretung‹ gehört in diese Reihe, ohne allerdings Ausschließlichkeit zu beanspruchen. 4. Möglicherweise hat die Anthropologie auch eine fundamentaltheologische Funktion (Pröpper). Sie darauf zu beschränken oder hier auch nur den Schwerpunkt zu setzen, wäre jedoch falsch. Insbesondere beim Thema der Stellvertretung wird sich zeigen, dass sie allererst unter Thematisierung der Stellvertretung Gottes für Menschen sachgerecht in den Blick kommt. Ohne Gotteslehre und ohne Christologie ist die Anthropologie nicht zu haben. Diese Grundannahmen also stehen zur Bewährung aus. Ich wähle dafür den Weg, ein in sich vielfältiges Themenfeld unter Zuhilfenahme einer Leitperspektive zu betrachten. Der Zugang ist also deutlich ›monothematischer‹ als es bei der umfassenden trinitätstheologischen Matrix der großen Studie von David Kelsey (s. o.) der Fall ist. Damit verbindet sich freilich die Hoffnung auf Orientierungsgewinne. Wer nur eine Perspektive anlegt, wird ziemlich sicher manches übersehen und/oder verzerrt darstellen. Dieses Risiko ist unausweichlich. Es bietet sich aber die Chance, Konkretes in den Blick zu bekommen. In diesem Sinne frage ich: Welches Bild von verschiedenen Themen der theologischen Anthropologie ergibt sich, wenn man sie unter der Leitvermutung bearbeitet, menschliches Leben sei ohne Akte der Stellvertretung nicht zu denken? Ich ziele ausdrücklich nicht auf die Behauptung, Stellvertretung sei ein ›Existential‹ oder eine ›anthropologische Konstante‹ und schon gar nicht ist eine Daseinsanalyse Heidegger-Bultmann’schen Zuschnitts im Blick. Die Diskussion hat doch recht deutlich werden lassen, dass es lohnt, sich vor raschen Essentialisierungen zu hüten. Entsprechend handelt es sich um eine heuristi26 M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 39ff.
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sche Perspektive: Kommt Bedenkenswertes in den Blick, wenn Menschsein (auch) als Stellvertreten, Stellvertreten-werden, Stellvertreten-können betrachtet wird? Über das hier eben Angedeutete hinaus informiert das zweite Kapitel der Einleitung über einige wichtige Bücher, die die evangelisch-theologische Diskussion seit Wolfhart Pannenbergs großer Monographie von 1983 bestimmt haben. Es schlägt also den Bogen von einer fundamentaltheologisch geprägten Anthropologie, die manche Nähen zu Karl Rahner nicht verleugnet, hin zu den betont materialdogmatischen Arbeiten unserer Tage. Sie interessieren sich für die Begründungsproblematik, die bei Pannenberg durchaus zentral ist, provozierend wenig. Dass und warum das kein Nachteil ist, sollte deutlich werden: Die materiale Durchführung dogmatischer Themen entscheidet über ihre Plausibilität, nicht jedoch eine ihnen vorgelagerte und notwendig aussagearme Plausibilisierungsbemühung. In Teil I werden einige begriffsgeschichtliche Klärungen zum Terminus ›Person‹ vorgestellt. Die Leitvermutung, dass Friedrich D.E. Schleiermacher, Karl Barth und John Rawls etwas zu sagen hätten und dass darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit Peter Singer zur Klarheit beiträgt, ist wohl einigermaßen ungefährdet. Schon die Auswahl sollte aber klar machen, dass an eine Begriffsgeschichte nicht gedacht ist. So instruktiv und lehrreich solche Längsschnitte sind, verleiten sie doch immer wieder zu der Annahme, die systematische Erklärungsbemühung in der Theologie sei lediglich die Fortsetzung der neuesten Theologiegeschichte. Das aber unterbietet die gegenwartsdiagnostischen Aufgaben, die sich der systematischen Theologie jeweils aufs Neue stellen. Ob etwas von dem, was sich solcher Anstrengung verdankt, dann wert sein sollte, künftig zur Theologiegeschichte zu zählen, kann getrost denen überlassen werden, die sie einst zu schreiben haben. An Friedrich Schleiermacher (I.1) und Karl Barth (I.2) werden jeweils zwei gleichlautende Fragen gestellt: (a) Wie ist der Umriss der jeweiligen Anthropologie beschaffen, soweit sie – durchaus traditionell – in der Schöpfungslehre verankert ist? (b) Theologische Anthropologie hat es so oder so mit der Behauptung zu tun, Menschen würden durch die Begegnung mit Gott anders. Gerechtfertigt, geheiligt, neuer Mensch, getröstet, Hörer des Wortes Gottes, Zeuge Christi … der Bezeichnungen sind viele, aber die Aufgabe dahinter gleich: Welches theologische Beschreibungsinstrumentarium wird in Anschlag gebracht, um dies Neu- und Anderswerden des Menschen vor und mit Gott zu verstehen? Schleiermachers Leitvermutung geht auf einen stetigen Prozess, Barth denkt im relativen Gegensatz dazu deutlich aktualistischer. Wer denn nun ›recht hat‹ wird sich auf der Basis dieser nicht sehr umfangreichen Überlegungen kaum zeigen lassen, auch wenn meine Neigung zu Barth’schen Grundentscheidungen
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unübersehbar sein dürfte und ja auch keineswegs neu ist.27 Ich stelle eine Schleiermacher-Lesart zur Diskussion, die ihn betont als Materialdogmatiker liest und die die viel diskutierte Theorie des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit als das nimmt, was mit Schleiermacher als ›Vorausbefreundung‹ mit Methode und Anlage des Werks bezeichnet werden kann – als mehr aber eben nicht. Im Barth-Kapitel leitet mich die Vermutung, dass Barth mit der doppelten Verankerung der Anthropologie in Schöpfungs- und Versöhnungslehre durchaus recht hat, dies aber jeweils zugunsten einer monographischen Behandlung nicht methodisch reflektiert. Die Kapitel zu den Philosophen John Rawls (I.4) und Peter Singer (I.3) sollen eine persontheoretische Entscheidung plausibilisieren: Ich halte es für aporetisch, die Entscheidung ›x ist eine Person‹ auf Basis der Überprüfung von Eigenschaften vorzunehmen. Peter Singers provokante Unterscheidung von Mensch und Person macht die Verlockung eines solchen Zugangs und zugleich seine nichts weniger als desaströsen Konsequenzen deutlich. Zugleich ist hier zu zeigen, dass viele Antworten auf Singer selbst nicht überzeugen, weil sie zwar andere und gleichsam weichere Personkriterien einführen, an der Idee, Personen kriteriengeleitet zu erkennen, jedoch festhalten. Wer das tut, macht, kurz gesagt, Personen zu Dingen spezieller Art. Das kann nicht wohlgeraten sein, wenn denn der Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹ irgend sprechend ist. Mit John Rawls’ epochaler Theorie der Gerechtigkeit und ihren späteren Modifikationen scheint hingegen ein Entwurf vorzuliegen, der die Singer’schen Aporien vermeidet, wenn er auch an einer Sachstelle in unbehagliche Nähe zu ihnen gerät. Im Gespräch mit dieser Theorie wird ein theologischer Begriff der Person im ersten Umriss entwickelt. Hier zeigt sich zum erstenmal, was im Verlauf der Untersuchung wichtiger wird: Personen sind, theologisch gesprochen, gerade außerhalb ihrer bei sich; Exzentrizität gehört wesentlich zu einer theologischen Theorie der Person. Teil II hat eine doppelte Funktion. Zum einen werden philosophische und theologische Theorien vorgestellt, die das Phänomen Stellvertretung direkt ins Zentrum rücken, zum anderen wird die Behauptung bearbeitet, theologisch von Stellvertretung zu reden, sei nur unter der Bedingung möglich, die Stellvertretung Gottes für den Menschen zu thematisieren. Für die erste Aufgabe beginne ich mit einer neuerlichen Thematisierung des Themas ›Person‹ und stelle m. E. bedenkenswerte Argumente vor, die den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹ scharfstellen und dafür auf die begriffliche Tradition des ens morale zurückgreifen. Hier gibt es gewiss Überspitzungen, aber dass Personen entia 27 Vgl. M. Hailer, Die Unbegreiflichkeit des Reiches Gottes. Studien zur Theologie Karl Barths, Neukirchen-Vluyn 2004; jetzt auch die Beiträge von dems. in: Barth Handbuch, hg. von M. Beintker, Tübingen 2016, 121–126.295–301.386–397.
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eigener Kategorie sind, die mit den Mitteln der Dingerkenntnis nicht erfasst werden können, scheint mir der verteidigenswerte Kern der hier aufzurufenden Tradition zu sein. Um ihn zu plausibilisieren, folgen Berichte zu drei prominenten Theorien der Stellvertretung: Ein close reading zum gleichnamigen Kapitel aus Emmanuel Levinas’ zweiten Hauptwerk ›Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht‹ macht den Anfang. Levinas behauptet, dass Person und Stellvertretung ein- und dasselbe sind und zeigt dies in dichten phänomenologischen Analysen und unter anderem durch ideenreiche Rückgriffe auf Texte Platons. Eine der Spitzenaussagen bei Levinas ist, dass Stellvertretung schon vor jedem Aktvollzug als Vorfindlichkeit da ist. Lässt sich das plausibilisieren – was ich hoffe –, dann wäre die Zentralität des Stellvertretungsthemas für die Frage nach der Person fürs erste gesichert. Christof Gestrichs Buch ›Christentum und Stellvertretung‹ hat vielleicht nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die es verdient. Ich entnehme ihm vor allem sehr hilfreiche Unterkategorien für den Begriff, namentlich das Gegenüber von Wesen und Stelle: Wesen sind auf Stellen aus, brauchen aber just Stellvertretung, um zu ihnen gelangen zu können. Hilfreich ist ebenso die Unterscheidung zwischen Vikariat (Ersatzhandlung) und Repräsentation (Vertretung an einem Ort, an den der Vertretene gehört, an dem er aber derzeit nicht sein kann). Mit diesen und anderen Näherbestimmungen sollte es möglich sein, Akte von Stellvertretung näher zu beschreiben. Das scheint mir nötig; mit dem Levinas’schen Instrumentarium allein ist es aber nicht zu bewältigen. Schließlich suche ich das ökumenische Gespräch mit Karl-Heinz Menke. Er entwickelt einen konsistenten Begriff von inklusiver Stellvertretung, der vor allem für die Auseinandersetzung mit Positionen wichtig ist, die die Idee der Stellvertretung überhaupt, vorzüglich aber in der Christologie verabschieden möchten. Das von ihnen Perhorreszierte ist jedoch zumeist das Zerrbild einer Ersatzhandlung, nicht jedoch Stellvertretung, die die Vertretenen in den Prozess hineinnimmt. Menkes ekklesiologische Grundentscheidungen und seine Verbindung von Stellvertretung und einer neuen Emphase auf die analogia entis geben freilich zu einigen Rückfragen Anlass. Kapitel II.2 ist der Behauptung gewidmet, man könne, ja man müsse von der Stellvertretung Gottes für Menschen sprechen, wenn man das Phänomen Stellvertretung theologisch adäquat in den Blick bekommen möchte. Das geschieht auf dem Wege zweier Exegesen, einmal der des großen Versöhnungstages Lev 16 und dann von dessen paulinischer Aufnahme und christologischer Interpretation in Röm 3,21–26. In beiden Fällen, so will ich zeigen, zeigt sich die Berechtigung des Konzepts inklusiver Stellvertretung: Gottes Handeln für Menschen – im komplexen Ritusgeflecht des Versöhnungstages wie im Todesschicksal seines Sohnes – ist nicht distanzierter Ersatz, sondern Neuanfang und Weiterweg für
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die, an deren Statt dort geschieht, was geschieht. Auch lässt sich in beiden Fällen eine Leitannahme aus der jüngeren Exegese erhärten: Sühne, von der beide biblische Texte sprechen, ist keine Strafe, sie ist vielmehr pointiert als Heilsgeschehen verstehbar. Paulus hatte – und er brauchte wohl auch – die Vorstellung von der Wiederannäherung der durch ihre Sünde sich von Gott entfernenden Israeliten an den heiligen Gott, um das grundstürzende Ereignis des Karfreitags zu verstehen. Christus ist der Ort, an dem Gott und Mensch aufs Neue zusammenkommen, auch und gerade, weil im menschlichen Handeln an Karfreitag das exakte Gegenteil geschieht. – Diese exegetischen Erwägungen sind gewiss riskant, schon, weil ich auch hier close readings vornehme und ganz auf den Erkenntnisgewinn aus bin, den die genaue Betrachtung nur jeweils eines einzelnen biblischen Abschnitts erbringt. Riskant sind sie sicher auch, weil der systematische Theologe hier auf weniger vertrautem Terrain unterwegs ist. Ich halte es dennoch für richtig, die argumentierenden Versuche durch beharrliche exegetische Rückfragen zu unterbrechen.28 Stellvertretung ist inklusive Stellvertretung: Sie nimmt die Stellvertretenen hinein in einen Prozess. Die Stellvertretung Gottes und Christi für Menschen muss also die ›Empfängerseite‹ mit bedenken. Das geschieht in Kapitel II.3 und zugleich in einem Gespräch mit der sog. finnischen Lutherforschung. Sie provozierte die etablierte Diskussion nicht wenig mit der Behauptung, Luther lehre die ontische Gegenwart Gottes bei dem, den er rechtfertigt und komme der östlichen Lehre der Anähnelung des Menschen an Gott zumindest nahe. In Auseinandersetzung mit dieser These, die nicht weniger als eine heilsame Provokation darstellt, soll wahrscheinlich werden, dass es richtig ist, von der gnadenhaften Teilhabe des Menschen an Gott zu sprechen. Der Begriff Partizipation sagt etwas Richtiges. Freilich plädiere ich – durchaus im Gegensatz zum finnischen Programm – für eine pneumatologische Interpretation der Rede von der Teilhabe an Gott. Gelingt das, dann wäre eine Implikation der Rede von der inklusiven Stellvertretung erläutert und zugleich der Anschluss an die Informationen darüber, wie Friedrich Schleiermacher und Karl Barth über das gnadenhafte Neuwerden der Person sprechen, hergestellt. In Teil III des Buches werden anthropologische Konkretionen aufgesucht. Wenn es so ist, dass Stellvertretung zum Menschsein gehört (II.1) und wenn es 28 Neben den exegetischen Passagen in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik – und der Verdikte von berufener Seite gegen manche von ihnen wohl eingedenk – dachte ich hier vor allem an Friedrich Mildenbergers Biblische Dogmatik (3 Bd.e, Stuttgart 1991–1993): Weit entfernt davon, einen Entwurf dieser Größenordnung vorlegen zu wollen, beeindruckt mich, wie Mildenberger dem systematischen Argument gleichsam immer wieder den Spiegel von Einzelexegesen vorhält. Dass sich das zu einer Gesamtdarstellung nicht recht runden will, ist ihm gelegentlich vorgeworfen worden. Darin liegt aber, der immer wieder neuen Begegnung mit der Schrift wegen, womöglich genau die Stärke dieses durchaus sperrigen Werks.
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ferner so ist, dass die Theologie zu Recht von der Stellvertretung Gottes und Christi spricht (II.2–3), dann legt sich die Rückfrage mehr als nahe, wie das denn nun im menschlichen Leben aussehe und welche Konsequenzen es habe. Die Kette der hier gebotenen Beispiele ist einigermaßen bunt und selbstverständlich unabgeschlossen, auch dürfte man ihnen die unterschiedlichen Entstehungskontexte anmerken. Es handelt sich zunächst um den Begriff der Seele (III.1). In meiner Heidelberger Antrittsvorlesung von 2012 werbe ich für eine neue Konjunktur des mitunter ziemlich geschundenen Begriffs. ›Seele‹ soll dabei als das unabschließbare Identitätsverlangen eines Menschen verstanden werden. Dies Identitätsverlangen nun kommt ohne ein Moment der Gastbereitschaft nicht aus, welches – die Levinas’schen Denkmittel sind erahnbar – das Momentum von Alterität und Stellvertretung auch und gerade da zur Sprache bringt, wo von eines Menschen Eigenstem die Rede ist. Dass das Phänomen der Freundschaft (III.2) eines ist, das stellvertretungstheologisch beschrieben werden kann, ja soll, ist womöglich naheliegender. Der Freund unterschiedet sich doch vom Kumpel dadurch, dass er an der Person des Freundes selbst Interesse hat und dass er an ihr mehr und anderes zu sehen vermag, als dieser selbst. Das Kapitel, das auf einen Vortrag bei einem Symposion zum Thema Freundschaft an der Universität Bern im Jahr 2011 zurückgeht, sucht die Spuren eines solchen Verständnisses von Freundschaft bei Aristoteles, Thomas von Aquin und in der neueren Debatte und stellt Freundschaft als wechselseitige Stellvertretung vor. Anders muss man es wohl für die Liebe sagen (III.3). Der Beitrag exponiert die Idee, das Liebesverständnis der platonischen Tradition und das der biblischen deutlich zu unterscheiden. Für Platon und in vielen seiner Adaptionen sucht in der Liebe Gleiches das Gleiche. Das biblische Liebesverständnis hingegen berichtet davon, dass Gott sich dem von ihm genau Unterschiedenen zuneigt, und trotz mannigfacher Enttäuschung ihm liebevoll zugetan ist. Das Alteritätsmodell der Liebe scheint mir aussichtsreicher, zumal es stellvertretungstheologisch leicht anschlussfähig ist. Dass der Beitrag auf eine Ringvorlesung für Hörer/innen aller Fakultäten (Universität Lüneburg, 2010) zurückgeht, ist wohl an manchen theologisch eher allgemeinbildenden Passagen spürbar. Vorbilder in der Öffentlichkeit (III.4) sind prekäre Stellvertreter. Im Stil einer akademischen Fingerübung (Beitragseinladung, 2010) versuche ich die Entstehung, die Funktion und den eventuellen Sturz von Vorbildern zu verstehen. Sind sie wirklich Stellvertreter im hier gemeinten Sinn des Wortes oder geht ihre Funktion ganz im Ersatz und in der Projektion von Träumen auf ? Wie immer man hier entscheidet, es handelt sich jedenfalls um ein Stück öffentlicher Theologie von einiger Wichtigkeit.
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Dass Lehrerinnen und Lehrer Stellvertretung ausüben (III.5), dürfte einigermaßen evident sein. Die Frage ist freilich, ob sich das auch hinreichend begründen lässt: Wer einen anderen über viele Jahre hinweg an einen Ort und zu nicht unerheblichen Anstrengungen nötigt, sollte schon robuste Gründe dafür haben. Der Beitrag diskutiert sie im Gespräch mit dem Bildungswissenschaftler Micha Brumlik, nimmt dies zum Anlass für einen Rückgang zu Immanuel Kants ›Anthropologie in pragmatischer Hinsicht‹ und kehrt zu philosophischen und theologischen Theorien der Gegenseitigkeit zurück. Wer betet, handelt womöglich zuerst im eigenen Namen. Freilich kennt die christliche Kirche das stellvertretende Gebet (III.6). Was tut, wer vor Gott für andere eintritt? Das Kapitel – entstanden im Nachgang zu einer Tagung des Interkonfessionellen Theologischen Arbeitskreises im Jahr 2014 – bietet zunächst eine Phänomenologie des stellvertretenden Gebets, vernetzt sie dann mit den wichtigsten Aussagen von Kap. II und versteht das Gebet wesentlich als Hineingenommenwerden in Gottes Stellvertretung für uns. Die gottesdienstliche, betende Stellvertretung ist gewiss nicht die einzige Form menschlicher Stellvertretung coram Deo. Ohne sie aber wäre dies kleine Panorama der Stellvertretungen noch unvollständiger als es vermutlich ohnehin ist. Der Band leistet sich die Konzentration auf eine anthropologische Perspektive. Im Ausblick wird angedeutet, zu welchen anderen gegenwärtig diskutierten Konzepten bzw. Metaphern über diese Konzentration hinaus wohl der Anschluss gesucht werden müsste. Es handelt sich einerseits um die Theorien der (wechselseitigen) Anerkennung und andererseits um die in der Theologie dieser Tage und Jahre besonders viel beachteten Phänomene der Gabe. Wer die Stelle eines anderen um seinet-/ihretwillen vertritt, erkennt ihn oder sie an und überreicht eine wie auch immer näher zu beschreibende Gabe. Hier dürften sich Diskussionen von einigem Reiz anschließen.
2.
»Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?« Ein Bericht über Anthropologie in evangelischer Wahrnehmung
Damit zu beginnen, die evangelische Anthropologie habe sich im Laufe der Jahre verändert, wäre eine vergleichsweise banale Feststellung. Denn wenn es stimmt, dass systematische Theologie wesentlich die Aufgabe hat, die Zeitgenossenschaft von Theologie und Kirche zu verstehen und zu organisieren, dann kann es kaum anders sein, dass diese Aufgabe Veränderungen mit sich bringt: die nötigen Anpassungen, von außen neu heran getragene Herausforderungen, und vor allem das je neu auf die Ursprünge gerichtete Verstehenwollen. Wer daran ar-
»Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?«
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beitet und bliebe doch in allem gleich, hätte die übertragene Aufgabe wohl kaum verstanden. Entsprechend wenig Neuerungswert hat der Satz, evangelische Anthropologie ändere sich mit der Zeit. Freilich genügt er auch nicht. Auf den folgenden Seiten möchte ich wahrscheinlich machen, dass es in der theologischen Anthropologie evangelischer Machart nicht nur um teils recht erhebliche Veränderungen geht. Es wird sich zeigen, dass zur Frage steht, was theologische Anthropologie denn eigentlich ist bzw. sein kann. Sie ist kein schon gewusster Bereich, sondern in sich selbst eine Frage. Es geht nicht darum, überkommene Wissensbestände in neuer Situation nur neu zu sichten. Vielmehr ist durchaus nicht klar, wonach eigentlich fragt, wer vor Gott nach dem Menschen fragt. Im Gespräch der letzten Dekaden ist nicht immer so fundamental gefragt worden. Aber es geschah zumindest auch, dass in produktiver Verunsicherung die Frage gestellt wurde: Was kann das Proprium theologischer Anthropologie, gar unterscheidend evangelischer Anthropologie eigentlich sein, wenn sie denn mehr ist als die Wiedergabe von traditionalen Beständen? Bedeutende Beiträge aus den letzten Jahrzehnten haben diese Unsicherheit gespürt und sind ihr nachgegangen. Davon wird gleich zu berichten sein, was die ausdrückliche Meinung einschließt, es sei richtig, einem solchen Eindruck der Verunsicherung gründlich nachzugeben. Denn die Sache der Theologie überhaupt ist zutiefst nicht selbstverständlich. Das gilt auch, wenn sie scheinbar so offensichtlich zur Hand ist, wie man das bei Menschen immer wieder behauptet hat. Auch hier gilt eine Grundregel des Theologietreibens, die Karl Barth in seiner Abschiedsvorlesung so formulierte: »Aus der Verwunderung, die die gesunde Wurzel der Theologie bildet, wird der Mensch nie entlassen. Ihm begegnet ja deren Gegenstand nie als ein Hausutensil, vielmehr immer wieder genau an der Grenze seines ganzen, noch so erweiterten Vorstellungskreises. Fortschritt der Wissenschaft kann hier nur bedeuten, dass das Stutzen und Fragen angesichts ihres Gegenstandes, dass also die Verwunderung […] immer noch überhand nimmt.«29 Das Titelzitat aus Ps 8 wird sich nicht nur als vom Thema her zentral erweisen. Auch sein Gestus, eben der der Verwunderung, gehört zu einer theologischen Anthropologie essentiell dazu. Der Bericht auf den folgenden Seiten geht folgenden Weg: Im 1. Abschnitt wird ein profilierter Ansatz der Anthropologie aus evangelischer Feder vorgestellt, der 29 K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 31985, 74, Herv. M.H. Barth bezieht die ausdrücklich auch auf die Menschen, die selbst Theologie betreiben und hat also in Subjektperspektive bereits Anthropologie thematisiert: »Wer bin ich denn (…), dass ich mich getraut habe und noch getraue, mich der Theologie auch nur von ferne zuzuwenden, bei dieser Sache mindestens potentiell und vielleicht sehr aktuell als kleiner Forscher, Denker, Lehrer mitzutun, im Dienst und im Sinn der Gemeinde die Wahrheitsfrage aufzunehmen und mich um ihre Beantwortung zu bemühen?« (79)
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allerdings eher ein Solitär blieb. Ihm wird das, was man in aller Vorsicht als das evangelische Normalverständnis in Sachen Anthropologie nennen könnte, als Kontrast beigesellt. Der 2. Abschnitt informiert über die eben skizzierte Verwunderung und die mit ihr einher gehende Neuausrichtung der Anthropologie. Im dritten Abschnitt wird diese Neuausrichtung vertieft und diversifiziert: Zwei wichtige Publikationen, erst kürzlich erschienen, zeigen ein faszinierend facettenreiches Bild. Auch hier dominiert, wie bei den Abschnitten zuvor, der Gestus der Darstellung und des Berichts, freilich soll nicht verborgen bleiben, dass ich vieles von dem, worüber in den Abschnitten 2 und 3 informiert wird, für sinnvoll und weiterführend halte. Die drängende systematische Frage, die sich aus ihnen ergibt, wird in Abschnitt 4 deshalb für die weitere Bearbeitung vorgestellt.
Um den Ort der Anthropologie: Von der Apologetik zur Schöpfungslehre Ein Großwerk evangelischer Rede vom Menschen ist die »Anthropologie in theologischer Perspektive« von Wolfhart Pannenberg.30 Sein Buch ist in der Tradition der Werke von Max Scheler, Hellmuth Plessner und Arnold Gehlen konzipiert und unternimmt also einen Gesamtentwurf der Lehre vom Menschen. Schon der Titel » … in theologischer Perspektive« weist dabei auf die Eigenart des Werks. Pannenberg, evangelischer Theologe, legt eine allgemeine Anthropologie vor, die in reicher Weise auf Werke der Philosophie, Psychologie und der Gesellschaftswissenschaften zurückgreift und also nicht aus dem Binnenraum der Theologie kommt. Freilich weist eine allgemeine Anthropologie nach seiner Ansicht aus sich selbst heraus auf theologische Themen und verlangt letztlich nach einem auf Gott bezogenen Verstehen des Menschseins. Für diesen Begründungsansatz führt Pannenberg den Unterschied zwischen einer dogmatischen und einer fundamentaltheologischen Anthropologie ein: Eine dogmatische Anthropologie »setzt die Wirklichkeit Gottes schon voraus, wenn sie von der Gottebenbildlichkeit des Menschen spricht, und sie entwickelt diesen Begriff nicht aus den Befunden der anthropologischen Forschung , sondern aus den Aussagen der Bibel.«31 Eine fundamentaltheologische Anthropologie dagegen »wendet sich den Phänomenen des Menschseins zu, wie sie von der Humanbiologie, der Psychologie, Kulturanthropologie, oder Soziologie untersucht werden, um die Aufstellung dieser Disziplinen auf ihre religiösen und theologisch relevanten Implikationen zu befragen.«32 Das Werk ist zu zeigen bestrebt, dass die genannten nicht-theologischen Disziplinen in der Tat ohne eine religiöse 30 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. 31 Pannenberg, Anthropologie 21. 32 Ebd.
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Dimension und damit ohne Bezug auf theologisch zu diskutierende Inhalte nicht auskommen. Dieses anspruchsvolle Begründungsprogramm ist gleichsam die Gegenseite von Pannenbergs theologischem Interesse. Er will den Allgemeingültigkeitsanspruch des christlichen Glaubens so weit wie möglich mit allgemein nachvollziehbaren Argumenten einsichtig machen. Theologie soll nicht ›in ihrem Lager‹ bleiben, sondern in der Öffentlichkeit zeigen, dass ihre Grundannahmen vernünftig sind: »… muß die christliche Theologie in der Neuzeit ihre Grundlegung auf dem Boden allgemeiner anthropologischer Untersuchungen gewinnen. Das ist keine Frage einer Position, die man einnehmen oder auch nicht einnehmen kann.«33 Dieser hohe Anspruch wird so eingelöst, dass Pannenberg allgemeine Phänomene des Menschseins beschreibt und dabei zeigt, dass sie nicht in sich selbst bestehen, sondern auf eine religiöse Dimension ausgreifen. Ein Beispiel ist etwa das von der Entwicklungspsychologie oft beschriebene Grundvertrauen. In der engen Verbindung mit der Mutter entwickelt das Un- und Neugeborene eine Vertrauensbasis, die ihm das Leben überhaupt ermöglicht. Im Prozess des Heranwachsens wird dies Vertrauen auf andere Träger – etwa den Vater oder andere nahe stehende Personen – ausgeweitet. Es verschwindet also nicht einfach in einer bestimmten Entwicklungsphase, sondern muss zur sich entwickelnden und verändernden Selbständigkeit in Beziehung gesetzt und immer neu justiert werden. Von der Anwesenheit von Grundvertrauen zu sprechen ist also nicht regressiv, vielmehr ist es so, dass auch reife Persönlichkeiten mit einem wohl austarierten Grundvertrauen leben. Die für Pannenberg interessante Frage ist nun, worauf genau sich das Grundvertrauen richtet. Er fasst es so auf: »Das Grundvertrauen richtet sich auf eine Instanz, die ohne Einschränkung fähig und bereit ist zur Bergung und Förderung des eigenen Selbstseins. Solche grenzenlose Fähigkeit und Bereitschaft manifestiert sich zwar für den Säugling in der Zuwendung der Mutter, übersteigt aber objektiv immer schon die in jedem Falle in der einen oder anderen Weise vorhandenen Schranken in Fähigkeit und Bereitschaft der Mutter.«34 Damit aber steht fest, dass das Grundvertrauen nicht auf die Personen begrenzt ist, auf die es sich primär richtet: »Obwohl das Grundvertrauen primär an den nächsten Bezugspersonen hängt, ist es durch seine Unbeschränktheit implizit doch immer schon über die Mutter und über die Eltern hinaus auf eine Instanz gerichtet, die die Unbegrenztheit solchen Ver-
33 Pannenberg, Anthropologie 15. Für die weitere Entfaltung dieses anspruchsvollen und umstrittenen Begründungsprogramms vgl. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/M. 1973, bes. 299–348; ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 2, Göttingen 1980, 160ff.174ff. 34 Pannenberg, Anthropologie 224.
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trauens zu rechtfertigen vermag.«35 Welche Instanz aber sollte Vertrauen rechtfertigen können, von dem nichts weniger gesagt werden muss, als dass es unbegrenzt ist? Für Pannenberg bleibt hier nur eine Lösung: Es verweist auf Gott. Und so ist zu schließen, »daß das Thema ›Gott‹ unveräußerlich mit dem menschlichen Lebensvollzug verbunden ist (…). Es gibt eine ursprüngliche, zumnidest implizite Verwiesenheit des Menschen auf Gott, die mit der strukturellen Weltoffenheit seiner Lebensform zusammenhängt und sich in der Schrankenlosigkeit des Grundvertrauens konkretisiert.«36 Das ist ein Beispiel von vielen, wie Wolfhart Pannenberg seinen Argumentationsanspruch einzulösen bestrebt ist. Andere sind etwa die Integration von Verfehlungen in die eigene Lebensgeschichte, die Fähigkeit, umfassende Entwürfe zu machen oder der Entwurf einer nicht auseinanderstrebenden Gesellschaft.37 Sie und weitere dienen dem doppelten Beweisziel: (a) Nichttheologische Theoriebildung vom Menschen hat einen religiösen Bezug, und (b) Theologie setzt mit ihrer Rede von Gott nicht einfach wilde Behauptungen, sondern agiert im Feld des Vernünftigen. Die Begründungen können in beide Richtungen gelesen werden: Weil allgemeine Anthropologie religiöse Themen anspricht, agiert die Theologie nicht einfach außervernünftig. Und umgekehrt: Weil Theologie nicht einfach außervernünftig agiert, bleibt es gar nicht aus, dass allgemeine Anthropologie früher oder später auf religiöse Themen zu sprechen kommt. Diskutiert wurde und wird in Hinblick auf diesen großen Entwurf nun vor allem zweierlei: Einmal, lässt sich sagen, ob das anspruchsvolle Begründungsprogramm als eingelöst betrachtet werden kann? Und zweitens, kommt die Eigenart theologischer Anthropologie in genügender Weise zur Sprache? Zu beiden kurze Bemerkungen, beginnend mit der Begründungsfrage. Sieht man sie näher an, so enthält sie mindestens zwei Aspekte, die diskutiert werden müssen: Einmal ist zu fragen, ob aus der Tatsache, dass das Grundvertrauen über seine möglichen Träger hinaus weist, schon ein Beleg für die Existenz Gottes folgt. Es könnte ja immerhin sein, dass das Grundvertrauen zwar grenzenlos ist, in seiner Grenzenlosigkeit aber sozusagen alleine steht und auf nichts verweist. Diesen Aspekt räumt Pannenberg unumwunden ein, und deswegen ist in den eben gegebenen Zitaten auch immer von einem ›Verweisen‹ auf Gott die Rede, mit Absicht jedoch nicht von einem Beleg oder dergleichen. Unabweisbar ist, dass jeder Mensch einen Bezug auf ein Ganzes, den »Ganzheitssinn« hat.38 Damit ist Gott nicht bewiesen, wohl aber, dass es vernünftigerweise einen Gottesbezug gibt. – Diskutiert wird nun, ob sich hier in hinreichender Deutlichkeit zeigt, dass Pan35 36 37 38
Pannenberg, Anthropologie 226. Pannenberg, Anthropologie 226f. Pannenberg, Anthropologie 90.73.500f.469–471. Pannenberg, Anthropologie 234.
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nenbergs Begründungsprogramm nicht einlösen kann, worauf es doch angelegt ist. Zumindest im Rahmen der Anthropologie kann Pannenberg nicht weiter gehen als die Vernünftigkeit des Gottesbezugs aufzuweisen. Über die Wirklichkeit der Instanz namens ›Gott‹ ist damit noch nichts gesagt. Der zweite Kritikpunkt geht damit einher: Gesetzt, es ließe sich erfolgreich die Offenheit des Menschen auf Gott hin zeigen, ist das nicht eine außerordentlich vage Theologie? Wie ist sie denn mit der Konkretion Gottes in Jesus zu verknüpfen, mit der Trinitätslehre, mit den konkreten Aussagen über Gottes Dabeisein in der Welt? Zur Frage nach Jesus und zur Trinitätslehre hat Wolfhart Pannenberg anspruchsvolle Argumentationen vorgelegt, auf die hier nicht eingegangen werden kann.39 Die Frage freichlich bleibt, ob von diesen abstrakten und allgemein ansetzenden Argumentationsfiguren her die Konkretheit der biblisch inspirierten Rede von Gott wirklich eingeholt werden kann. Vor allem vermittels der beiden zuletzt genannten Argumente – hier nur sehr verkürzt und summarisch vorgetragen – bedingt, ist Pannenbergs Buch unbestritten seiner hohen akademischen Klasse eher ein Einzelgänger geblieben. Es steht für einen Typus von Anthropologie, der sie vor allem zur Verteidigung und Erläuterung der Rede von Gott überhaupt einsetzt, also in apologetischer Tradition. Dies Denken hat auf katholischer Seite deutlich mehr Spuren hinterlassen, auch wenn Pannenberg nicht der einzige evangelische Theologe ist, der in dieser Richtung denkt. Mit Blick auf die jetzt vorzustellenden Werke dürfte klar werden, dass die Funktion der theologischen Rede von Gott auch merklich anders und durchaus nicht apologetisch bestimmt werden kann. Blickt man dafür in verbreitete Lehr- und Standardwerke der Dogmatik, so ergibt sich folgendes Bild: Anthropologie hat einen relativ festen Ort innerhalb der Dogmatik – und nicht vor ihr, wie bei Pannenberg. Sie wird zumeist nach der allgemeinen Schöpfungslehre verortet, die ihrerseits auf die Gotteslehre – also die großen Explikationen über Gottes Existenz, Wesen und Eigenschaften – folgt. In der Anthropologie geht es vor allem um die Ausrichtung des Menschen auf Gott, um seine Ausstattung als Geschöpf, um Seele und Leib, seine Endlichkeit und die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Fast regelmäßig folgt auf eine so umrissene Anthropologie die Hamartiologie, also die Lehre von der Sünde. Der strukturierende Gedanke ist also dieser: Gottes erstes Werk nach außen ist die Erschaffung dessen, was er nicht ist, also die Schöpfung. In oder nach ihr ist, weil er zum Partner Gottes berufen ist, in besonderer Weise über den Menschen als Geschöpf zu berichten. Deshalb ist der Kern der Anthropologie auch die Bezogenheit des Menschen auf Gott, die vor allem mit der Rede von der Gottebenbildlichkeit ausgesagt wird. Dazu gehört aber unweigerlich, dass die Menschen 39 Vgl. summarisch W. Pannenberg, Systematische Theologie Band 1, Göttingen 1988, 283–364; Band 2, 1991, 315–364.
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ihrer Bezogenheit auf Gott nicht entsprechen, weshalb die Anthropologie zur Sündenlehre übergeht.40 Im Blick auf ein weit verbreitetes und mehrfach aufgelegtes Standardwerk unserer Tage folgen hier noch einige weitere Informationen zu dieser Verortung der Anthropologie. Wilfried Härle ordnet in seinem Lehrbuch den Stoff der Anthropologie folgendermaßen ein:41 Das ganze Werk hat zwei Hauptteile, zunächst eine Rekonstruktion des Wesens des christlichen Glaubens und dann – umfangsmäßig in etwa doppelt so groß – die Darlegung des Wirklichkeitsverständnisses des christlichen Glaubens. Hier nun wird noch einmal fundamental unterschieden, und zwar zwischen dem Gottesverständnis und dem Weltverständnis des christlichen Glaubens. Letzteres beginnt mit der Schöpfungslehre, auf die Sündenlehre und Rede vom Heil folgen. Die Anthropologie – und das ist als erstes bemerkenswert – ist auf dieser Gliederungsebene kein eigener Hauptpunkt. Selbstverständlich kommt sie vor! Aber sie ist in den Unterpunkt »Die Geschöpfe« eingeordnet.42 Härle wehrt sich also schon von der Stoffanordnung her gegen eine klassische, aber durchaus falsche Wendung, nämlich die, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Diese Wendung ist schon aus dem schlichten Grund falsch, dass nach Auskunft des ersten Schöpfungsberichtes der Sabbat, nicht jedoch der Mensch Schluss- und damit Höhepunkt der Schöpfung ist. (Gen 2,3) Das »Zentrum der theologischen Anthropologie«43 ist also nicht eine vermeintliche Sonderstellung des Menschen und damit auch nicht seine Begabung mit Sprache und Vernunft, dies Zentrum ist vielmehr die Bestimmung zum Ebenbild Gottes. Härle legt unter Bezug auf die einschlägigen Stellen aus dem 1. Schöpfungsbericht Wert darauf, dass es nicht etwas im Menschen ist, was ihn zum Ebenbild mache. Sie ist also keine Eigenschaft und kein Teil des Menschen. Vielmehr: »Gottebenbildlichkeit ist die dem Menschen zugesagte, zugedachte und zugemutete Bestimmung zur Liebe (…), die freilich als solche unverbrüchlich für ihn gilt.«44 Auch mit dieser Festlegung – Ebenbildlichkeit als Bestimmung für den Menschen, nicht als seine Eigenschaft – unterstreicht Härle das was man eine bescheidene Anthropologie wird nennen dürfen. In der Darlegung geht es dann noch kurz um Mitgeschöpflichkeit45 und dann sogleich, im nächsten Unterabschnitt, um die Theodizeefrage als Brückenproblem zur Sündenlehre.
40 So z. B. stellvertretend für viele Gesamtdarstellungen G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens I, Tübingen 31987, 334–355. 41 W. Härle, Dogmatik, Berlin 32007. 42 Härle, Dogmatik 424ff. 43 Härle, Dogmatik 434. 44 Härle, Dogmatik 436f. 45 Härle, Dogmatik 437–439.
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Bereits dieser kleine Einblick sollte deutlich gemacht haben, wie sehr sich Ton und Thema ändern, wenn die Anthropologie nicht in apologetischer Hinsicht zum Erweis der Wahrheit der Gottesfrage eingesetzt wird, sondern ihren Ort im Rahmen der Schöpfungslehre erhält. Sie fungiert dann gleichsam als spezielle Schöpfungslehre und bearbeitet die Frage, wie vom Geschöpf Mensch zu reden sei, das doch Geschöpf unter Geschöpfen ist, aber als ein solches in einer Weise angeredet und in Dienst genommen wird, wie dies bei den anderen Geschöpfen nicht der Fall ist. So funktioniert die deutliche Änderung in Thema und Funktion der Anthropologie im Rahmen der Schöpfungslehre. Von einer weiteren und wieder sehr deutlichen Verschiebung ist jetzt gleich zu berichten. Die Autoren und ihre Bücher, von denen im nächsten Abschnitt zu reden sein wird, halten nichts von dem für falsch, was in Härles Buch und der großen Zahl verwandter Publikationen als theologische Anthropologie verhandelt wird. Auch den Abschied vom apologetischen Einsatz der Anthropologie gehen sie mit. Und doch treibt sie – bei aller Unterschiedlichkeit untereinander – die gemeinsame Motivation, dass die bei Wilfried Härle und den anderen vorgenommene Verortung der Anthropologie zu einfach ist, ja, dass sie eine gewisse Ruhigstellung darstellt, die ihrer Sache nicht bekommt. So recht es ist, vom Menschen als Geschöpf und Sünder zu sprechen: Das Proprium des Menschseins vor Gott ist damit genau noch nicht ausgesagt! Es zeigt sich allererst, so die jetzt zu entfaltende Überzeugung, wenn Menschen im Licht der Präsenz Gottes in Christus und im Licht der weltverändernden Gnade Gottes gesehen werden. Die Anthropologie gehört deswegen schwerpunktmäßig nicht in die Schöpfungslehre, sondern in die Christologie, die Eschatologie und in die Ethik. Dieser Schwenk des Gedankens ist ziemlich kühn. Ohne Zweifel bedarf er der Entfaltung und Begründung.
Anthropologie, theologisch neu verortet Dafür greife ich auf ein Buch zurück, das in der gegenwärtigen Debatte eher implizit vorhanden ist, für sie aber durchaus Themen und Trends gesetzt hat. Im Jahr 1967 legte Wilfried Joest seine Studie »Ontologie der Person bei Luther« vor.46 Der Band ist als theologiegeschichtlicher Beitrag zur Lutherforschung konzipiert, man bemerkt aber mühelos das gegenwartsbezogene Interesse des Verfassers. Für Luther benennt Joest drei Hauptaspekte, was Menschen von Gott her und vor Gott ausmacht: Personsein hat exzentrischen, responsorischen und eschatologischen Charakter. Alle drei bedürfen der Erläuterung: 46 W. Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967.
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– Exzentrischer Charakter des Personseins: Wenn es um die Beziehung zu Gott geht, ist der Mensch nicht Herr des Verfahrens, und zwar so sehr nicht Herr des Verfahrens, dass der Kern seiner Person dabei in Gott ruht und nicht in ihm selbst. Geht es um die Beziehung zu Gott, dann sind Sätze wie diese richtig: »Ich finde mich vor«, »Gott tritt an meine Stelle«, »ich habe mich nicht selbst«, oder, biblisch gesprochen: »Nun aber nicht mehr ich, sondern Christus in mir.« (Gal 2,20) In Joests Worten: »Was zum Menschen gehört, ist dies, daß er nicht in immanenter Qualität, sondern nur aus dem Mit-Sein Gottes, und nicht in Werken, die aus solcher Qualität hervorgehend die seinen sind, sondern nur mitgenommen im Wirken Gottes geistlich leben kann.«47 – Responsorischer Charakter des Personseins: »Im Menschen ist die Kreatur gerufen, ihrem Sein-Können allein aus der Macht und Gnade Gottes mit einem Amen zu entsprechen; der durch das Wort gerufene Glaube ist dieses Amen. Wir nennen dies den responsorischen Charakter in Luthers Personverständnis, ohne welchen der exzentrische Charakter […] von einer Aussage über geschöpfliches Sein im allgemeinen ununterscheidbar bliebe.«48 Das ist also eine Erweiterungsbestimmung zum ersten Aspekt: In der Beziehung zu Gott ist jede Kreatur exzentrisch. Menschen aber sind zu einer Antwort gerufen. Wie aber kann eine Antwort aussehen, die dem gerecht wird, dass Menschen vor Gott nicht selbstbestimmt und selbstzentriert agieren? Diese Antwort muss offenbar der Glaube sein. Denn Glaube, ›durch das Wort gerufen‹, wie Joest es nennt, ist nun wiederum nicht die souveräne Leistung des Subjekts, sondern etwas, was es als Reaktion auf die Verkündigung vorfindet. Glaube hat auch aktive, handelnde Seiten. Aber er ist Gabe Gottes, also von ihm aufgerufene, veranlasste, bewirkte Antwort. – Eschatologischer Charakter des Personseins: »Wir sind noch nicht, die wir sein werden.«49 Der von Gott bewirkte Glaube verändert Menschen und er ruft sie immer wieder zu Gott entsprechendem Tun. Aber genauso ist die Erfahrung nicht vermeidlich, dass man in alte Handlungsmuster zurückgerät, und dass der Glaube flüchtig ist, von Zweifel und Anfechtung übermalt und verdrängt. Die Verheißung von Gott er ist aber, dass das nicht so bleiben wird: Noch sind wir nicht, was wir einst sein werden, aber es ist gewiss, dass wir es einst sein werden. Luther, so Joest, ist sehr zurückhaltend mit Vorstellungen davon, wie es ›aussehen‹ mag, wenn Menschen zu dem geworden sind, was sie vor Gott sein dürfen. Sie sind dann »endgültig und ganz bei Gott«.50 Mehr zu sagen und zu wissen ist schlicht unnötig. 47 48 49 50
Joest, Ontologie 237. Joest, Ontologie 303. Joest, Ontologie 351. Joest, Ontologie 352.
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Im Glauben habe ich mich nicht, im Glauben antworte ich auf Gottes Zuruf, im Glauben werde ich zu der Person, die ich einst ungebrochen sein darf: Das sind die drei Anstöße, die Wilfried Joest von Luther her der evangelischen Anthropologie gegeben hat. Sie sorgen für die erhebliche Verschiebung des Themas der Anthropologie, von der zu Ende des vorigen Abschnitts die Rede war: Von der apologetischen Abzweckung der Anthropologie im Ansatz Pannenbergs ist hier schlicht überhaupt nicht die Rede. Aber auch gegenüber der Verortung der Anthropologie in der Schöpfungslehre, für die hier stellvertretend aus Wilfried Härles Dogmatik berichtet wurde, verschieben sich die Gewichte. Gewiss sind Menschen Geschöpfe, gewiss Geschöpfe unter anderen Geschöpfen, gewiss per Ebenbildlichkeit zur Gemeinschaft mit Gott gerufen. Der Blick geht nun aber viel mehr auf den Vorgang, also auf das, was mit Menschen passiert, die sich – in welcher Weise auch immer – in Kontakt mit Gott befinden. Die schöpfungstheologisch zentrierte Anthropologie fokussiert auf die Bedingungen und auf den Anfang der Geschichte der Menschen mit Gott. Die hier besprochene Neuausrichtung schlägt eine Fokusänderung vor: Das eigentlich Interessierende, so sagt sie, sind nicht die anfänglichen Bedingungen, das eigentlich Interessierende ist, dass Gott aktiv und verändernd mit Menschen zu tun hat. »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst« – dieser Vers aus Ps 8 leitet als anthropologisches Motto dazu an, nicht nur auf die konstitutiven Elemente zu sehen, sondern den Vorgang namens ›Mensch vor Gott, Mensch mit Gott‹ in den Blick zu nehmen. Darum geht es wesentlich in der produktiven Verunsicherung und der Neuverortung, von der zu Beginn die Rede war. Noch ist das freilich Ankündigung und Programm im Sinne einer Herleitung von den drei Stichworten, die Wilfried Joest aus Martin Luthers Theologie gewonnen hat. Damit es nicht bei der bloßen Nennung von Programmpunkten bleibt, ist ein Blick in die Literatur zur evangelischen Theologie unserer Tage nötig. Unter den Büchern, die in die besagte Richtung gehen, eignet sich die »Einführung in die theologische Anthropologie« von Wolfgang Schoberth besonders gut, weil die Suche nach dem Ort, an den die theologische Anthropologie eigentlich gehört, ihr eigentliches Thema ist.51 Damit gehen wir vom Kurzbericht aus einem primär theologiegeschichtlich orientierten Werk zur Betrachtung der Argumente eines systematischen Theologen unserer Tage über, der seine Argumente mit dem Blick auf die gegenwärtige Verantwortung von Theologie und Kirche formuliert. Mit dieser Perspektive hat Schoberth zunächst einen Aspekt im Blick, der von den bislang referierten Autoren nicht explizit thematisiert wird: die ungeheure Vielfalt des Sprechens vom Menschen. So gibt es die biologische Anthropologie, die die natürlichen Ausstattungsmerkmale des Menschen untersucht und von ihr her das ›unterscheidend 51 W. Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006.
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Menschliche‹ zu benennen sucht. In letzter Zeit ist sie vor allem durch Überlegungen zur Willensfreiheit und zu den gehirnphysiologischen Grundlagen des Denkens und Fühlens in den Brennpunkt des Interesses getreten. Daneben ließe sich die ethnologische Anthropologie nennen: Sie arbeitet mit anderen Mitteln und Voraussetzungen, etwa indem sie fragt, wie bislang unbekannte Ureinwohner-Kulturen durch ihre Sprache und Riten zusammengehalten werden. Auch ganz andere Wissenschaften wie etwa die Wirtschaftswissenschaften haben ihre eigene Anthropologie, deutlich etwa in der Rede vom »homo oeconomicus«. Die Reihe lässt sich fortsetzen. Nach Schoberth zeigt sie vor allem eines an: Je nach wissenschaftlicher Perspektive ist das, was unter »Mensch« verstanden wird, sehr unterschiedlich: ein biologisches Trieb- und Instinktwesen, ein durch Sprache und Ritual sozialisiertes Gemeinschaftswesen oder aber eines, das durch Tausch und Handel zu Lebensunterhalt und Wohlstand kommen möchte. Keine dieser Perspektiven muss falsch sein. Aber, und das ist die entscheidende Einsicht, keine dieser Perspektiven redet über »den« Menschen, über »das Wesen des Menschen«. Wer die Anthropologie mit der Wesensfrage – ›was ist der Mensch als Mensch?‹ – beginnt, wird scheitern, wer sie am Ende beantwortet haben will, wird im Gestrick verschiedener Perspektiven steckenbleiben, die nicht aufeinander abgebildet werden können – und da, wo sie es versuchen, endet das regelmäßig mit der Zurechtweisung, dass es die Perspektive über alle Perspektiven nicht gibt. Was ist in dieser Situation zu tun? Schoberth stellt fest: Anthropologie gibt es nicht außerhalb des Streits um sie, der eben kurz beschrieben wurde. »Der Ort der Anthropologie ist der Streit um das Menschsein, der selbst zu den Bedingungen des Menschseins gehört.«52 Wo aber um das Menschsein gestritten wird, da sind wir bereits mitten in der – Ethik! Die ethische Frage besteht geradezu daraus, wer Menschen sein und wie sie entsprechend handeln sollen. Ist Menschsein also zwischen Perspektiven wissenschaftlicher Art umstritten, so zeigt sich: Die Anthropologie setzt immer die Frage nach dem richtigen Menschsein mit und ist also ein ethisches Unternehmen. Das eben gegebene Zitat geht deshalb auch so weiter: »Der unauflösliche Zusammenhang von Anthropologie und Ethik ist darum auch in der anthropologischen Reflexion zur Geltung zu bringen. Anthropologie und Ethik sind gleichursprünglich.«53 Und für die Frage der theologischen Anthropologie ergibt sich: »Die Theologizität der theologischen Anthropologie besteht demnach nicht in besonderen Definitionen des menschlichen Wesens, sondern darin, dass sie in diesen Streit die Wahrnehmungen des menschlichen Lebens aus Gott und vor Gott einbringt. Ihre Aufgabe ist, in der Arbeit an den klassischen Themen der theologischen Lehre 52 W. Schoberth, Wozu theologische Anthropologie?, in: Verkündigung und Forschung 51 (2006), 38–55, hier 54. 53 Ebd.
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vom Menschen solche Perspektiven zu erarbeiten, die in den aktuellen Herausforderungen neue Wege der Wahrnehmung und des Handelns erschließen.«54 In dieser Bestimmung kommen eine Entlastung auf der einen und eine erheblich große Arbeitsbeschreibung auf der anderen Seite zusammen. Die Entlastung ist die von der Wesensbeschreibung. Die Anthropologien der Pannenberg’schen und der Härle’schen Richtung hatten sie durchaus noch im Blick. Das also muss nicht geleistet werden, schon, weil es unmöglich ist. Die Aufgabenbeschreibung auf der anderen Seite stellt hohe Anforderungen: Welche Perspektiven sind es denn, die ›neue Wege der Wahrnehmung und des Handelns erschließen‹? Das ist der Problempunkt, an dem sich die Aspekte bewähren müssen, die Wilfried Joest von Luther her namhaft gemacht hat. Explizit theologisches Reden vom Menschen – also ein Reden vom Menschen, das von den Anthropologien anderer Provenienz nicht abgebildet werden kann – benennt Exzentrizität, Responsivität und eschatologische Ausrichtung des Menschen als theologisch Entscheidendes. Das muss entfaltet, das muss ins vielfältige Gespräch der Gegenwart eingebracht werden. Wenn sich dann zeigt, dass Menschen neu wahrgenommen werden und ihnen neue Wege des Handelns aufgewiesen werden, ist die theologische Anthropologie auf dem richtigen Weg.
Neue Wege der Wahrnehmung und des Handelns: Zwei Beispiele theologischer Anthropologie Wo stehen wir jetzt? Die neue Verortung der Anthropologie, von der im letzten Abschnitt zu reden war, führt sie weg von der apologetischen und der schöpfungstheologischen Verortung, die beide merklich von der Frage nach dem Wesen des Menschen bestimmt waren. Die auf den ersten Blick gewiss irritierenden Bestimmungen von Luther her – exzentrisch, responsorisch, eschatologisch – entfalten ihren Sinn, wenn sie als Wahrnehmungshilfen gebraucht werden: Aus dem Blickwinkel der Geschichte Gottes mit dem Menschen geht es um neue Wahrnehmungen dessen, was Menschen sind und werden ihnen neue Handlungsmöglichkeiten zugespielt. Diese gilt es zu entfalten. Das ist, in einiger Kürze gesagt, die Programmformulierung der neu verorteten Anthropologie. Programmformulierungen mögen – je nachdem, wie man zu ihnen steht – gut klingen, aber sie müssen eingelöst werden. In diesem Abschnitt ist deshalb von zwei größeren theologischen Werken zur Anthropologie die Rede, die genau diese Einlösung vorhaben. Dass das eine Arbeit von einiger Schwierigkeit ist, lässt sich vorstellen. Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass die beiden Studien, von denen jetzt zu reden ist, von angesehenen Fachvertretern in 54 Ebd.
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jeweils recht hohem Lebensalter zum Gespräch vorgelegt wurden. Es handelt sich um die Werke von Gerhard Sauter (Bonn) und David H. Kelsey (Yale). Ich beginne mit »Eccentric Existence« von David H. Kelsey.55 Das Buch hat das eine von Wilfried Joest benannte Stichwort ja direkt im Titel und wird von vorne bis hinten davon geprägt. Kelsey bezeichnet sein Projekt als »theocentric theological anthropology«.56 In der englischsprachigen Theologie ist damit eine hierzulande so nicht vorhandene Tradition aufgerufen. Ihren Grundgedanken kann man sich klarmachen, wenn man James M. Gustafsons »Ethics from a Theocentric Perspective« zur Hand nimmt:57 Gustafson fragte sich ganz grundsätzlich, ob es eine unterscheidend christliche Ethik überhaupt gebe. Denn schließlich handelt jede Ethik vom Rechten und vom Guten, von Normen, Tugenden und Gewohnheiten, ferner bezieht sich die Ethik gleich welcher Provenienz auf dieselben Handlungsfelder, also auf Politik, Biowissenschaften oder anderes. In diesem Sinne, so Gustafson, gibt es keine spezifisch christliche Ethik. Ja, christliche Ethik soll im öffentlichen Raum zum Austrag kommen und wendet sich an potenziell an alle Menschen. Was also macht sie speziell? Antwort: Nicht Sonderbereiche oder Sondernormen, sondern das Ausschreiten des Wirklichkeitsverständnisses der Gott-Perspektive. Im Hören auf Gottes Verheißung und Tun ergibt sich, wie Christinnen und Christen in der von allen gemeinsam bewohnten Welt handeln sollen. Vergleichbar sagt nun David Kelsey dass es einen isolierten Topos namens »Anthropologie« nicht gibt, sondern dass die theologische Rede vom Menschen im Ausschreiten der Fülle der Themen sichtbar wird, wie Gott an und mit den Menschen handelt. Die Idee, dass man einen isolierten Bereich namens Anthropologie ausweist und ihn etwa in die Schöpfungslehre einsortiert, weist er, nicht ohne Augenzwinkern, zurück. Sie firmiert unter der Rubrik: »The Kinds of Project This Isn’t«.58 Was aber dann? Aus der Perspektive des Lebens mit Gott soll klar werden, was und wie Menschen sind, so die Aufgabe. Das gelingt, wenn man danach fragt, wie Gott mit den Menschen umgeht. Darauf wiederum antwortet nichts Geringeres als die Trinitätslehre: Gott hat sich vielfältig selbst gezeigt und ist absichtsvoll und unterscheidend in seiner Schöpfüng präsent. Diese Vielfalt und absichtsvolle Präsenz ist aber nicht ein bloßes Rauschen vielfältiger Aspekte, sondern zeigt sich als die Präsenz des einen Gottes, neben dem es keine anderen gibt. Also heißt die Aufgabe, jeweils in der Perspektive des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes auszuschreiten, wie Menschsein mit Gott und vor Gott zu stehen kommt. 55 D.H. Kelsey, Eccentric Existence. A Theological Anthropology, Louisville KT 2009. Ich greife für die Darstellung teilweise wörtlich auf meine Besprechung des Buches zurück: Theologische Literaturzeitung 136 (2011), 1231–1234. 56 Kelsey, Existence 78. 57 J.M. Gustafson, Ethics from a Theocentric Perspective, 2 vol.s, Chicago 1981/1984. 58 Kelsey, Existence 80.
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In der Vater-Perspektive geht es vor allem um die alltägliche Erfahrung, ein Geschöpf Gottes zu sein und in einer geschenkhaft von Gott zukommenden geschöpflichen Welt zu leben. Kelsey nennt diese Erfahrungen ein Leben in »God’s attentive delight in creation«.59 Formen des alltäglichen Lebens werden als konkrete Ausgestaltung Gott lobender Dankbarkeit und entsprechend ihre Verdrehung und Zerstörung als Böses und Sünde beschrieben. Kelsey betreibt hier eine Phänomenologie des alltäglichen Lebens, bei der Dogmatik und Ethik wie selbstverständlich ineinander gehen, weil die Beschreibung einer Lebensform von der Beschreibung des in ihr angemessenen Handelns nicht zu trennen ist. Kurzformel: Wir sind »finite creatures called by God to be wise for the well-being of the quotidian, including ourselves; hence our personal identities are appropriately reflected in our responsive loyalty to God’s own loyalty to the quotidian and its well-being.«60 Durchaus überraschend geht das Werk dann mit dem Ausschreiten der Perspektive des Heiligen Geistes weiter. Der zweite Hauptteil ist also pneumatologisch zentriert und entfaltet die Themen der Anthropologie, die in den Blick kommen, wenn man Gottes Werk dahingehend betrachtet, dass er seine Geschöpfe der endgültigen Vollendung entgegenführt. Die Leitvorstellung dabei ist, dass ein solches menschliches Leben aus von Gott geliehener Zeit gelingen kann. Das trägt ein teleologisches Moment – »goal-oriented movement of God’s creative blessing«61 – herein, das vom schöpfungstheologischen Aspekt nicht abgebildet wird. Dem entspricht als menschliche Haltung ein Leben aus freudiger Hoffnung, Vf. entfaltet sie als eine Art Basis-habitus des christlichen Lebens, als »settled and long-lasting […] complex responsive attitude«,62 die aus Gottes Advent kommt und für die, die in ihr leben entsprechend »eccentrically, from outside itself«63 kommt. Das lässt Menschen nicht unberührt. Es verändert ihre intellektuellen, imaginativen, leidenschaftlichen und emotionalen Ressourcen. Die Einzelheiten solcher Veränderungen werden kaum je vollständig zu beschreiben sein, so dass man sich mit einer Richtungsanzeige wird begnügen müssen. Sie lautet: Im weitesten Sinne ist ein solches Leben dankbar nennen dürfen. Ein anderes Wort dafür und zugleich ein ökumenisches Signal von erheblicher Wichtigkeit ist: eucharistisch. Ein dankbares Leben nimmt an der »eucharistic or thankful celebration of the inauguration of eschatological blessing« teil.64 Freilich schließt es das Zugehen auf Gottes Gericht ausdrücklich ein.
59 60 61 62 63 64
Kelsey, Existence 191. Kelsey, Existence 338. Kelsey, Existence 480. Kelsey, Existence 503. Kelsey, Existence 504. Kelsey, Existence 520.
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Drittens schließlich ergibt sich eine weitere Perspektive, wenn man das Handeln Gottes in Christus für die Fragen der Anthropologie berücksichtigt: Kelsey legt hierfür ausführliche Exegesen zur Bergpredigt vor und entwickelt an Hand ihrer Überlegungen, wie die Grundhaltungen eines Lebens in Entsprechung zu Gottes versöhnendem Handeln aussehen könnten. Wie schon in den anderen Teilen ist der Kernbegriff hierfür »flourishing life«, dem deutschen ab etwa den achtziger Jahren üblichen »gelingendem Leben« nicht unähnlich. Dies gelingt, wo Menschen »radically eccentric«65 sind, d. h. in Beziehung zur ihnen äußerlichen Liebe Gottes im Ereignis Christus stehen. Kernpunkt ist demnach der soziale Charakter der christlichen Existenzform. Vf. wehrt sich bündig gegen ein Verständnis des Glaubens als interne Bewusstseinstatsache: »To be ›in Christ‹ […] is something public and observable.«66 So viel und – gemessen an seinem Umfang von 1092 Seiten – so wenig als Bericht aus diesem Werk. Es sollte deutlich geworden sein: In der Tat beschreibt Kelsey eine exzentrische Existenz, denn in allen drei trinitarischen Aspekten kommt das, was das Leben unterscheidend christlich und neu macht, von außen auf den Menschen zu: Sich als Geschöpf zu erleben, ist anders als durch Zuspruch nicht möglich. Dasselbe gilt für das Leben aus der Hoffnung auf Gottes Zukunft. Und – das christologische Moment – eine öffentliche und gemeinsame Existenz ist ja offensichtlich eine, die nicht in sich selbst ruht, sondern ihr Zentrum mit und bei den anderen hat, mit denen sie das Leben als Christin, als Christ teilt. Der zweite hier vorzustellende Band teilt den Ansatz durchaus: Theologisch ist vom Menschen zu sprechen, indem man fragt, wie Gottes Handeln an ihm ihn formt, wozu es ihn ruft und was Gott schließlich aus diesem Leben machen wird. Auch die gleichsam im Hintergrund agierenden drei Stichworte Joests – exzentrisch, responsiv, eschatologisch – sind weiterhin in Geltung. Der Unterschied, den Gerhard Sauter setzt, ist sein Akzent auf der Verborgenheit dieses Lebens. Das hat sein Buch – auch darin dem Werk Kelseys ähnlich – bereits im Titel: »Das verborgene Leben«.67 Bei den Hinweise auf dieses Werk konzentriere ich mich auf den Aspekt der Verborgenheit und bündle die Akzentunterschiede zwischen Kelsey und Sauter zu einer systematischen Schlussfrage. Es wäre wünschenswert, dass sie die Arbeiten der nächsten Zeit bestimmen. Zunächst klingt es durchaus nach Einverständnis. Sauter schreibt: » … dass die Frage ›Was ist der Mensch?‹ sich theologisch einzig und allein beantworten lässt, wenn ihr im Blick auf den Zusammenhang von Gottes Handeln nachgegangen wird: Der Mensch ist geschaffen worden – darum Geschöpf; er ist erwählt 65 Kelsey, Existence 718. 66 Kelsey, Existence 697. 67 G. Sauter, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh 2011.
»Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?«
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– nur darum kann er wollen, was Gott will; er ist befreit worde – daraufhin frei; er wird in die Geschichte Jesu Christi, des Gekreuzigten, Auferstandenen, Erhöhten, Kommenden hineingezogen, geradezu hinein gespannt – so wird er neu geschaffen und geht der vollkommenen Klarheit Gottes entgegen.«68 Oder, noch bündiger gesagt: »Warum also eine theologische Anthropologie? Weil Menschen durch Gottes Handeln sich selber gegenübergestellt werden, sich hier wahrnehmen und neu ›ich‹ und ›wir‹ zu sagen lernen. Zugleich wird ihre Wahrnehmung für Gottes vielfältiges und verheißungsvolles Wirken an und mit seinen Geschöpfen aufgeschlossen. Sie werden achtsam dafür, wie die Fremdheit von Gottes Handeln sie ergreift, wie sie dies erleiden und von ihrer Selbstverschlossenheit, ihrem Eigensinn, ihren Selbstgesprächen und aus allem, womit sie sich und ihre Welt verbissen zusammenfügen, erlöst werden.«69 Sauter nimmt diese grundsätzliche Feststellung zum Anlass für Erkundungsgänge, wie menschliches Leben vor Gott aussehen könnte. Und hier beginnen, erst in leisen Tönen und am Schluss deutlicher, die Unterschiede zu Kelseys großem Entwurf. Der ›leise‹ Unterschied ist, dass er Kelseys Erkenntnisordnung gleichsam umkehrt. Kelsey war trinitarisch vorgegangen, also, wenn man so will, aus dem Blickwinkel der Gott-Perspektive. Sauter ordnet den Stoff anders. Nach der Grundlegung in den ersten drei Kapiteln geht es in den nächsten Kapiteln um allgemeine Aspekte der Anthropologie, unter anderem um die Frage, was eigentlich Lebensorientierung heißt und inwiefern man sagen kann, dass Selbstwahrnemhung und Glaubenserfahrung miteinander zu tun habe. Die Kapitel 7–13 haben dann eine eindeutige Abfolge: Sie schreiten Stufen des Lebens ab, von »Geboren werden und neu geboren werden«70 über »Erleiden – Leiden«71 und »Altern«72 bis zu »Bereitung zur Begegnung im Sterben«.73 Der Stoff ist also eindeutig aus der Perspektive des menschlichen Lebens angeordnet, besonders augenfällig da, wo er lebensgeschichtlich organisiert ist. Das ist für sich genommen noch kein großer Unterschied, doch zeigt er eine Tendenz an: Wer wie Kelsey Gottes trinitarische Identität als Organisationsprinzip des Stoffes nimmt, wird geneigt sein, Gottes Identität und sein Handeln für benenn- und für erkennbar zu halten. Diese Tendenz – und von mehr als einer Tendenz ist, notabene, nicht die Rede – ändert sich, wenn man Sauters Prinzip der Stoff-Orga68 69 70 71 72 73
Sauter, Leben 37. Sauter, Leben 362. Sauter, Leben 205. Sauter, Leben 228. Sauter, Leben 288. Sauter, Leben 312. Zwei programmatische Kapitel – »Ein Blick zurück: Theologische Anthropologie – eine Fehlanzeige?« (Sauter 2011, 330) und »Warum überhaupt und woraufhin eine theologische Anthropologie?« (Sauter 2011, 362) runden den Band ab. Hier finden teils pointierte Auseinandersetzungen mit den Positionen anderer statt, worüber aber andernorts zu berichten wäre.
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nisation nimmt. Er geht gleichsam ›von unten‹ heran. Und so erstaunt es eigentlich nicht, dass für Sauter die Verborgenheit von Gottes Handeln und die Verborgenheit des menschlichen Lebens, sofern es von Gott angefasst und verändert ist, eine wichtige Rolle spielt. Das benennt er auch programmatisch, beginnend beim dem Buch vorangestellten biblischen Motto: »Euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott«. (Kol 3,3) Vielfach wird das sodann ausgeschritten. Die Kernüberzeugung dabei ist diese: Gottes Sein und Wesen ist über menschliches Begreifen hinaus. Entsprechend ist auch Gottes Handeln von der Art, dass es sich menschlicher Anschaulichkeit und Berechenbarkeit entzieht. Es wäre deswegen genau falsch, genau sagen und beschreiben zu können, wer und was Menschen vor Gott sind: »Auf dem Weg zu einer theologischen Anthropologie dürfen wir nicht dem folgen, was Menschen an sich anschauen können, auch wenn sie noch so tief in sich gehen und sich zu einer ausgreifenden Ahnung von allem ausstrecken, was ihnen gegeben und aufgegeben ist.«74 Die Gefahr, die dabei besteht, ist, dass man sich ein Selbstbild konstruiert, an das man sich hält und an dem man womöglich Gefallen findet. Das aber läuft dann doch Risiko, sich an sich selbst zu erbauen, und also das Gefallen am eigenen Selbstbild in die Mitte zu stellen. Ein solches Selbstbild »müsste zwar nicht sogleich ein Götzenbild sein. Aber wie jenes wird es verfertigt, damit Menschen sich daran halten und sich so ihrer selbst versichern können.«75 Dagegen gilt, und das ist entlastend gemeint: Menschen sind sich gerade selbst verborgen. Sie können und müssen keinen vorzeigbaren Selbstentwurf haben, sondern dürfen sich sagen lassen: »Das verborgene Leben ist die Verborgenheit unserer externen Identität: des Lebens mit Christus in Gott.«76 Das Externitätsmotiv, das Sauter mit Kelsey teilt, führt ihn also auf tendenziell andere Wege. Sauter will beides zusammenhalten, die absichtsvolle und wirksame Präsenz Gottes auf der einen Seite und seine Betonung auf der Unanschaulichkeit, ja Verborgenheit dieses Vorgangs. Biblische Typen dienen als Konkretion näherer Ordnung: »Wenn es ein wahrhaft christliches Menschenbild geben sollte, dann könnte es Züge der Maria mit ihrer Empfänglichkeit, des verlorenen Sohnes, der sich selbst überlassen sein wollte und unverdiente Güte erfuhr, des hoffnungslos toten Lazarus, des zweifelnden und verleugnenden Petrus, des Paulus mit seiner körperlichen Schwäche und seinem aufgestörten Geist tragen – und noch vieler, vieler anderer mehr.«77 Die anthropologische Leitfrage im Blick auf diese bibli-
74 75 76 77
Sauter, Leben 24. Sauter, Leben 25. Sauter, Leben 150. Sauter, Leben 25.
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schen Figuren und ihre Übertragbarkeit heißt dann: »Wessen werden sie gewürdigt?«78 Das ist dann nur noch im Durchgang durch die einzelnen Kapitel des Werks und nicht mehr programmatisch-generell zu erheben. Ich greife nur zwei Beispiele heraus: So geht es in Sachen Ethik zum Beispiel nicht allein um die richtigen Handlungsmuster, sondern, so paradox es klingen mag, um das Freiwerden von der engen Handlungskontrolle und damit um eine heilsame Selbstvergessenheit, in der sich jemand dankbar vorfinden mag, der nicht mehr ängstlich auf sich schauen muss, sondern sich dem Geführtwerden überlassen kann.79 Oder, um das Beispiel des Leids aufzugreifen, dem Sauter ausführliche Betrachtungen widmet: Leid und Gebet gehören zusammen. Im Gebet im Leid geht es letztlich darum, dass Gott aus dem Bösen Gutes entstehen lassen möge und dass zustoßendes Leid nicht blindes Fatum ist, sondern seinerseits nicht gottfern: »Erbeten wird, auch und gerade im Leid Gottes Handeln zu erleiden. Gedankt wird dafür, dass in diesem Erleiden Gottes Wille mit uns geschieht und uns zum Handeln erneuert.«80 Ich breche die Reihe der Beispiele hier ab, weil sie in die Diskussion materialer Einzelprobleme führen würde. Der Tendenzunterschied zwischen den beiden Ansätzen, mit der Exzentrizität des Lebens eines Christenmenschen umzugehen, dürfte deutlich genug sein. Mit diesem Tendenzunterschied ist die systematisch drängende Frage, von der zu Beginn die Rede war, bereits benannt.
Kontinuität und Verborgenheit des Lebens vor Gott. Ein Hinweis auf die weitergehende Diskussion In David H. Kelseys Entwurf liegt der Ton auf den Kontinuitäten des Lebens vor und mit Gott. Eine »settled and long-lasting […] complex responsive attitude«81 ist ersichtlich eine Haltung, über die Auskunft gegeben werden kann und die mehr oder weniger offen zu Tage liegt. Das theologische Argument ist, auf die einfachste Form gebracht, dies: Gott ist seiner Verheißung treu, und deswegen darf auch gesagt werden, dass diese Verheißung Effekte aus sich heraus setzt und verlässlich präsent ist. Gerhard Sauters Betonung auf der Verborgenheit des Lebens mit und aus Gott setzt den Akzent anders. Es ergibt sich ein ähnlicher Satz, nur ein wenig anders betont: Es ist Gottes Verheißung, der er treu ist, und
78 79 80 81
Ebd. Sauter, Leben 192f. Sauter, Leben 264. Kelsey, Existence 503.
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weil es Gottes Verheißung ist, gilt für sie zuerst, dass sie unserer normalen Wahrnehmung nicht zugänglich ist. Wie ist damit umzugehen? Steht hier eine Alternative zur Wahl? Ich vermute, dass zumindest letzteres nicht der Fall ist und dass mit dem virtuellen Gespräch zwischen beiden Autoren den genuin evangelischen Beitrag zur ökumenischen Verständigung über die Anthropologie im Blick haben. Dabei handelt es sich um ein work in progress, keinesfalls schon um ein Ergebnis. Einige Hinweise müssen deshalb genügen. Beim Vorliegen einer Alternative wie der hier skizzierten lohnt es sich immer, nach den dahinter liegenden theologischen Motiven zu fragen. Theologische Diskussionen werden nicht nur ›an der Oberfläche‹, also mit Hilfe der offensichtlichen Begriffe und Programmatiken allein entschieden. Vielmehr zeigen sich hinter ihnen regelmäßig Motive und Intuitionen, über die Klarheit vonnöten ist, damit die Auseinandersetzung nicht zu einem Streit um Worte allein verkommt. In der theologischen Wissenschaftstheorie sind diese Motive und Intuitionen auch implizite Axiome genannt worden.82 Nach ihnen zu fragen, ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil implizite Axiome sehr oft konfessionsübergreifend geteilt werden und entsprechend die Besinnung auf sie ökumenische Chancen eröffnet. Die impliziten Axiome, um die es hier geht, können wie folgt benannt werden: – Kelsey: Gott offenbart nicht etwas, sondern sich selbst. Das geht unmittelbar mit der Verlässlichkeit von Gottes offenbarendem Handeln einher. – Sauter: Gott ist niemals Gegenstand menschlichen Wissens. Das geht unmittelbar mit der Verborgenheit des von Gott erneuerten und zurecht gebrachten Menschen einher. Kelseys implizites Axiom speist sich aus der Trinitätslehre einerseits und aus einer Basisüberzeugung der Rede von Gottes Offenbarung andererseits: Gott instruiert Menschen nicht über etwas, er ist vielmehr selbst bei ihnen gegenwärtig. Und weil Gott in sich so ist, wie er sich zeigt, ist er in der Fülle seiner trinitarischen Aspekte bei den Menschen präsent. Das von Gerhard Sauter mit gesetzte Axiom ist von der sog. Negativen Theologie namhaft gemacht worden. Sie schärft ein, dass, wenn Gott Gott ist, kein menschliches Sprechen ihn zureichend benennen kann. Gott wohnt »im unzugänglichen Licht«. (1Tim 6,16) Ist eines dieser impliziten Axiome falsch? Das ist sicher nicht der Fall! Beide Axiome benennen Aspekte der christlichen Rede von Gott, ohne die diese Rede auf der Stelle unverständlich und falsch würde. Die Gegenproben machen das 82 Vgl. D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988, 142ff. u. ö.; Implizite Axiome. Tiefenstrukturen des Denkens und Handelns, hg. von W. Huber u. a., München 1990.
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recht einfach deutlich: Ohne das Sauter’sche implizite Axiom könnte und müsste man von der Möglichkeit einer gänzlich zureichenden Gotteserkenntnis sprechen. Weil Menschen zureichendes Wissen aber von Weltlichem erwerben, bliebe nur der Schluss, dass Gott ein Teil der Welt ist. So aber denken antike Polytheismen, dezidiert aber nicht das Gotteszeugnis des Alten und Neuen Testaments. – Vergleichbares gilt für das von David Kelsey in Anschlag gebrachte Axiom: Würden wir nicht sagen, dass Gott sich selbst offenbart, dann wäre die ganze Rede von Gottes Präsenz in Christus sinnlos, was vor dem Zeugnis des Neuen Testaments evidentermaßen nicht geht. Dieses und das Alte Testament nicht minder sind spielen zudem durchgängig die Vorstellung zu, dass Gott selbst in einer Fülle von Weisen präsent ist. Auch hier also ist ein falscher Ansatz schlicht nicht zu erkennen. Der Schluss aus diesem Befund lautet, dass die beiden Entwürfe theologischer Anthropologie jeweils einen Großaspekt eigenen Rechtes benennen. Theologisches Sprechen ist immer von der Art, dass es mehrere Aspekte oder Dimensionen gleichzeitig präsent halten muss, damit es nicht zu einer falschen und eindimensionalen Aneinanderreihung von für wahr gehaltenen Sätzen verkommt. Ob man diesen Umstand für aporetisch hält oder ob man geneigt ist, in ihm die kreative Unabschließbarkeit der Theologie zu sehen, ist dann eine Folgefrage. Der Befund an sich ist kaum zu bestreiten. Für die weitergehende Diskussion heißt das nun nicht etwa, dass es auf ein allseits abgestütztes und stets abgewogenes Sowohl-als-auch ihnauszulaufen habe. Das würde sich vor der Langeweile des bloßen Richtigkeitswissens kaum noch unterscheiden. Vielmehr: Im Rahmen desjenigen impliziten Axioms ist weiterzuarbeiten, das zunächst als das einleuchtendere und weiterführende erscheinen mag – das allerdings stets wissend, dass es alleine die Fülle der Aspekte einer theologischen Anthropologie nicht wird ausschreiten können. Der Hinweis ist nicht zuletzt ökumenisch von einigem Belang. Denn es ist durchaus möglich, die beiden benannten impliziten Axiome zumindest der Tendenz nach einzelnen Konfessionen oder Konfessionsfamilien zuzuschreiben. Evangelische Theologie hielt und hält es, in der hier nötigen Vergröberung gesprochen, durchaus eher mit dem von Gerhard Sauter gesetzten Axiom. Sie betont die Unanschaulichkeit des Handelns Gottes, sie ist tendenziell bereit, göttliches Wirken und menschliches Handeln stärker auseinander zu dividieren und auch eine entsprechend zurückhaltende Ekklesiologie aufzulegen. Am bezeichnendsten ist vielleicht die gelegentlich bei Martin Luther aufzufindende Formulierung, der Mensch sei bei aller Hoffnung auf erneuerndes Handeln Gottes jederzeit »simul iustus et peccator«, Gerechter und Sünder zugleich.83 Die 83 WA 56,272; WA 57,165; WA 39 I,507.523.542.563f. Eine kurze Erläuterung der Formel mit Blick auf die ökumenische Diskussion bei M. Hailer, Gottes Gnade als Teilgewährung an ihm.
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römisch-katholische, besonders aber die Orthodoxie des christlichen Ostens hingegen setzt erkennbar auf das Axiom der verlässlichen Präsenz Gottes, das entsprechend verlässliche Veränderung des gläubigen Menschen mit sich bringt. Das wichtigste Stichwort ist dafür das letztlich auf Irenäus von Lyon († um 202) zurückgehende Motto: ›Gott wurde Mensch, damit wir werden, was er ist‹. Die zuletzt kurz vorgestellten Bücher zeigen nun, dass es sich mitnichten um einen absoluten konfessionellen Gegensatz handelt, denn die unterschiedliche Betonung der Axiome taucht innerhalb einer Konfessionsfamilie selbst auf. Das beseitigt Verstehensschwierigkeiten über die Konfessionsgrenzen hinweg nicht. Aber es verhilft zu einer großen Gelassenheit im Umgang mit ihnen.
Überlegungen zur finnischen Lutherinterpretation, Evangelische Theologie 71 (2011), 35–49, bes. 40–47.
Kapitel I. Person und Personalität. Ausgewählte Diskurse in Philosophie und Theologie
1.
Person und Wiedergeburt in Friedrich D.E. Schleiermachers Glaubenslehre
Das Gravitationszentrum der Glaubenslehre Das Gravitationszentrum der Glaubenslehre ist die Christologie. Dass Gott Mensch wurde zu unsern Gunsten, darum kreisen letztlich alle Gedanken in Friedrich D.E. Schleiermachers theologischem Hauptwerk. Die in den Lehnsätzen aus der Ethik vorgeschaltete Bewusstseins- und Religionstheorie ist in der Tat nur vorgeschaltet, eben, wie er im zweiten Sendschreiben an Lücke schreibt, nur »Eintritt und Vorsaal«, der »unausgefüllte Rahmen« der eigentlichen Dogmatik.1 Entsprechend präsentieren die, die hier den ›eigentlichen‹ Schleiermacher und/ oder das neuzeitkompatible Innovationspotenzial seiner Theologie sehen, nicht mehr als einen einleitenden Gedanken. Es gehört durchaus zum Innovationspotenzial, legte man aber den Schwerpunkt darauf, erklärte man zum Kern, was Schleiermacher nur einleitend wichtig war. Die Indizien sind deutlich genug. Augenfällig zum Beispiel die Veränderung im Aufriss von der ersten zur zweiten Auflage der Glaubenslehre. Schleiermacher kürzt die Zahl der einleitenden Paragraphen und zeigt auch durch die neue Gliederung, dass es sich um mehr als den vorbereitenden Gedanken nicht handelt: Das Kapitel heißt »Zur Erklärung der Dogmatik«, die meistzitierten Paragraphen 3 und 4 stehen in einem Abschnitt der ausdrücklich »Lehnsätze« enthält und in dem es nicht um eine aufs Individuum zugeschnittene Religionstheorie geht, sondern um Voraussetzungen der Ekklesiologie, denn die Lehnsätze er1 F.D. E. Schleiermacher, Über seine Glaubenslehre. An Herrn Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben, in: Schleiermacher-Auswahl, hg. von H. Bolli, Gütersloh 1968, 140–179, 141. Deutlich gesehen wird das in der eingehenden Interpretation der §§ 1–14 der Glaubenslehre von D. Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre. Eine Untersuchung der ›Lehnsätze‹, Berlin 1969, vgl .bes. 1f.12.18.322.331f.
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Person und Personalität. Ausgewählte Diskurse in Philosophie und Theologie
klären den »Begriff der Kirche«.2 Überdies: »Diese Einleitung hat keinen andern Zweck, als teils die dem Werke selbst zum Grunde liegende Erklärung der Dogmatik aufzustellen, teils die in demselben befolgte Methode und Anordnung zu bevorworten.« (GL 1, 8) Der Zweck der Einleitungsparagraphen besteht darin, mit Methode und Anordnung des Werks »im Voraus befreundet« zu werden. (GL 1, 9) So weit also, so klar. Das beinhaltet eine Richtigstellung gegenüber Interpretationsansätzen, die über die Exegese der Einleitungsparagraphen nicht wesentlich hinausgehen, weil in ihnen das neuzeitliche Innovationspotenzial liege. Freilich gilt es umgekehrt auch für das Heerlager der Gegner Schleiermachers. Wer mit dem Karl Barth der »Theologie des 19. Jahrhunderts« meint, Schleiermacher habe Theologie für Anthropologie eingetauscht, hat es mit einer Interpretation zu tun, die ihrerseits wenig mehr als die Selbstbewusstseinstheorie zur Kenntnis nimmt und den Nachweis, das infiziere den Rest der Dogmatik derart, dass alle Anwürfe Bestand haben können, durchaus schuldig bleibt.3 Beide Seiten sind aufgefordert, Schleiermacher als den zu lesen, der er selbst hat sein wollen: als Autor einer kirchlichen Dogmatik. Die Selbstbewusstseinstheorie der Einleitungsparagraphen ist auch ein ›unausgefüllter Rahmen‹ von und eine ›Vorausbefreundung‹ mit Schleiermachers Begriff der Person. Was Person aber vollumfänglich heißt, tritt erst zutage, wenn man zur Kenntnis nimmt, wie der Terminus im Rahmen der Christologie eingeführt wird und welche Theorie der menschlichen Person dann entsteht, wenn die soteriologischen Ergebnisse der Christologie in die Anthropologie eingetragen werden.
Der Personbegriff in der Christologie Schleiermachers materiale Christologie bearbeitet – in der Reihung des Stoffs durchaus konventionell – die beiden Lehrstücke von der Person und vom Werk Christi. Naheliegenderweise interessiert hier vor allem das erste: Schleiermacher unterbreitet einen eigenen Vorschlag, wie die Präsenz und Wirksamkeit Gottes in Christus zu denken sei, problematisiert daraufhin ausführlich die klassische Begrifflichkeit der Christologie und diskutiert die Einzelthemen Auferweckung, 2 F.D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von M. Redeker [auf der Basis der 2. Auflage 1830/31], Berlin 71960, Bd. 1, VI, im Folgenden mit dem Kürzel GL, Band- und Seitenzahl im Text nachgewiesen. 3 K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Band 2, Hamburg 1978 (text- und seitenidentisch mit der Ausgabe Zürich 61994), 384–387 (Auslegung von GL §§ 3f) und 387–400 (abschließende, scharfe Kritik).
Person und Wiedergeburt in Friedrich D.E. Schleiermachers Glaubenslehre
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Himmelfahrt und Wiederkunft zum Gericht. Dann geht die Untersuchung zum Werk Christi über. Freilich ist sie ganz von diesem her gedacht: Schleiermachers eigener Vorschlag ist nämlich an Hand der Leitfrage konzipiert, wie in Christus Gottes Wirksamkeit als auf die Menschen übergehend gedacht werden kann. Die so gewonnenen Bestimmungen dienen dann der zumeist kritischen Diskussion der klassischen christologischen Begrifflichkeit und der Einordnung von Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft zum Gericht als bloß additiver Vorstellungen in der Christologie. Das Vorgehen mag erstaunen, weil es zumindest ungewöhnlich ist, einen großen Teil des Lehrstücks als Kette von reductiones ad absurdum in Sachen der alten Begrifflichkeit vorzufinden. Gleichwohl spiegelt die Anlage einen genuin reformatorischen Impuls wieder: »(…) hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere«, heißt es bei Melanchthon.4 Die Theologie der Person und die Theologie des Werks Christi müssen deckungsgleich sein: »(…) zwei Lehrstücke, das von der Person Christi und das von seinem Geschäft. Beide sind den Sätzen nach ganz verschieden, ihr Gesamtinhalt aber ist derselbe«.5 (GL 2, 33) Und, wie das im melanchthonischen Dictum schon durch die rhetorische Figur des Achtergewichts naheliegt, kommt den beneficia hierbei das erkenntnistheoretische Prae zu: Weil in Christus Gott zu unsern Gunsten handelt, können wir Mutmaßungen darüber anstellen, wie dieser als Person zu denken sei. Das ist eine Grundregel für eine an Gottes Handeln orientierte Christologie und Schleiermacher erweist sich – auch – hier als ein anti-spekulativer Theologe: Die Lehre de persona Christi entfaltet das, was in der Lehre von seinem Tun an uns ungesagt steckt. Deshalb kommt ihr eine kritische Rolle gegenüber der klassischen Begrifflichkeit und der möglichen Verselbständigung von Lehrstücken zu. In der Trinitätslehre am Ende der Glaubenslehre wird Schleiermacher das Verfahren wieder einsetzen. Die Konsequenzen dort sind bekanntlich noch um einiges radikaler als in der antispekulativen Durchmusterung der Christologie.6
4 Melanchthons Werke. Studienausgabe II.1, hg. von R. Stupperich, Gütersloh 21978, 7. 5 Vgl. den Überblick bei V. Weymann, Glaube als Lebensvollzug und der Lebensbezug des Denkens. Eine Untersuchung zur Glaubenslehre Friedrich Schleiermachers, Göttingen 1977, 148–153. 6 Diese steht hier nicht zur Diskussion. Vgl. aus der Literatur zu letzterer bes.: Th. Siegfried, Zur Christologie Schleiermachers, ZThK 40 (1932), 223–235; R.R. Niebuhr, Schleiermacher on Christ and Religion, London 1965 (zuerst New York 1964), 210–259; zur Frühgeschichte der Schleiermacher’schen Christologie W. Sommer, Schleiermacher und Novalis. Die Christologie des jungen Schleiermacher und ihre Beziehung zum Christusbild des Novalis, Bern und Frankfurt a.M. 1973 ; D. Lange, Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher u. David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975; M. Junker, Das Urbild des Gottesbewußtseins. Zur Entwicklung der Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der ersten zur zweiten Auflage der Glaubenslehre, Berlin/ New York 1990.
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Person und Personalität. Ausgewählte Diskurse in Philosophie und Theologie
Man gewinnt einen guten Eindruck von Schleiermachers Argumentationsabsicht, wenn man mit dem Ende der speziellen Christologie beginnt, also mit dem Zusatz zu den §§ 92–105. Schleiermacher bespricht die status-Lehre der klassischen Christologie, also die v. a. an Phil 2,6–9 gewonnene Rede vom status exinanitionis und status exaltationis Christi. Die nicht ganz dreiseitige Argumentation endet mit der Bemerkung, dass das Lehrstück »beiseite gestellt und der Geschichte zur Aufbewahrung übergeben werden« sollte. (GL 2,147) Das lässt an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig. Es müsste, so argumentiert er, die Person Christi zuvor höher gewesen sein als in ihrer irdischen Existenz. Das aber trifft auf den fundamentalen Einwand, dass die Person Christi mit seiner Menschwerdung begann, nicht zuvor und also auch nicht mit einem Akt der Selbsterniedrigung im status exinanitionis. Ergänzend ist zu sagen, dass dann auch die ganze Schöpfung eine Erniedrigung sein müsste, da Gott in allem Endlichen gegenwärtig ist. (GL 2, 145) – Was stört Schleiermacher so sehr, dass ihm nur noch die Historisierung bleibt? Es ist im Wesentlichen sein Personbegriff, der die Reserve auslöst. In der genannten Passage wird sie ganz kurz benannt: Die »Einheit der Person«. (ebd.) Darf man sie setzen, dann ist die Rede von den zwei status Christi nicht nachvollziehbar und dann ist es folgerichtig, den Beginn der Person Christi mit der Inkarnation anzusetzen. In einer definitionsähnlichen Wendung ergänzt Schleiermacher das durch den Aspekt des Werdens: Person zeigt »eine stetige Lebenseinheit« an, bei einer Person ist von »einem in allen aufeinander folgenden Momenten gleichen Ich die Rede«. (GL 2, 53) Die Einheit, die die Person darstellt, ist also nicht als statische Einheit des Sichselbstgleichseins zu denken, sondern vielmehr als eine in der Entwicklung befindliche. Das sind die wesentlichen Momente der Definition: Person ist kein Compositum sondern eine Einheit, wobei diese Einheit als Einheit in Entwicklung zu begreifen ist. Eingebettet sind diese definierenden Sätze in eine kritische Diskussion der chalcedonensischen Zweinaturenlehre. Schleiermacher hält den Grundgedanken von Chalcedon, Christus sei göttliche und menschliche Natur in einer Person, für gedanklich nicht nachvollziehbar. Person ist im beschriebenen Sinne sich entwickelnde Einheit, Natur jedoch »ein Inbegriff von Handlungsweisen oder Gesetzen, wonach die Lebenszustände sowohl wechseln als in einem bestimmten Kreislauf eingeschlossen sind«. (ebd.) Entsprechend ist es absurd, zu denken, dass in einer Person zwei Naturen sein könnten. Auch die chalcedonensischen Privationsformeln können diese Denkschwierigkeit nicht auflösen und müssen deshalb durch angemessenere Formulierungen ersetzt werden. (GL 2, 72f) Das Sein Gottes in Christus zu unseren Gunsten soll ausgesagt werden. Es soll aber so ausgesagt werden, dass die Probleme, die sich beim Zusammendenken von Person und Naturen ergeben, bündig vermieden werden können. Schleiermachers vielfach verflochtene Erwägungen lassen sich im Hinblick auf den
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Personbegriff in zwei Gedankenschritte auseinanderlegen. (1) Die chalcedonensische Begrifflichkeit wird durch die Rede vom Urbildsein Christi ersetzt, und (2) dies wird schöpfungstheologisch näherbestimmt, weil Gottes schaffendes Handeln sich als personbildendes Handeln zeigen wird. Ad (1): Als Kritik also an der chalcedonensischen Begrifflichkeit führt Schleiermacher seine Urbildchristologie ein. Deren Sache will er durch seine Kritik aber vollständig wahren. Schleiermacher scheint ein Entwicklungspotenzial theologischer Begriffe anzunehmen: Die von ihm vorgeschlagene Begrifflichkeit löst die theologischen Probleme besser als die alte Theologie es zu tun vermocht hat. Diese Behauptung allein ist selbstverständlich, da Schleiermacher sie sonst nicht hätte vorschlagen brauchen. Beachtet man aber, dass er es nicht unternimmt, die alte Terminologie im Rahmen der spätantiken Verstehensbedingungen zu rekonstruieren, sondern sie unmittelbar mit dem neuzeitlichen Bedeutungshorizont etwa von ›Natur‹ oder ›Person‹ konfrontiert, dann dürfte mitgesetzt sein, dass allein der neuzeitliche Bedeutungshorizont als wahrheitserschließend in Frage kommt. Nicht mitgedacht wird, dass dieser sich von Vorstellungshorizonten vergangener Zeiten sinnvollerweise in Frage stellen lässt.
In Christus ist das Gottesbewusstsein schlechthin kräftig ausgebildet und dauerhaft gegenwärtig. Das unterscheidet ihn von allen anderen Menschen auf Erden und setzt ihn zugleich zu demjenigen, der die Kräftigkeit des Gottesbewusstseins an andere Menschen weitergibt. Dieser Gedanke ist die ›Urzelle‹ von Schleiermachers Urbildchristologie. Ihre regulierenden Ideen gemäß § 93 der Glaubenslehre lassen sich in drei Schritten systematisieren. (a) Vollkommenheitsaussage: Christus ist das Urbild des Glaubens, weil in ihm das Gottesbewusstsein schlechthin vollkommen und dauerhaft angelegt ist. In dieser Art ist es nur in ihm angelegt, entsprechend ist dieser Gedanke auch der erste Unterscheidungssatz und zugleich Schleiermachers Grundlegung des solus Christus im Rahmen einer im Ganzen inklusivistisch angelegten Theologie der Religion und der Religionen. Die erste Näherbestimmung dieser Vollkommenheitsaussage ist, dass es sich um die Vollkommenheit eines menschlichen Lebens handelt. Wie erinnerlich lässt Schleiermacher die Person Christi mit seiner Geburt beginnen. Entsprechend bezieht das Prädikat der Vollkommenheit sich nicht auf ein weltjenseitiges Urbild, wie der platonische Begriff ja durchaus hätte nahelegen können. Vielmehr: Christi Vollkommenheit ist die eines menschlichen Lebens. Um aber als Vollkommenheit gedacht werden zu können, muss sie sich auf alle Momente des personalen Lebens beziehen. Sie ist also in allen aufeinander folgenden Momenten dieses menschlichen Lebens gleichermaßen da. Das macht selbstverständlich möglich, dass diese Person sich entwickelt, etwa vom Kind über den Jugendlichen zum Mann, so dass man wird sagen sollen: Die vollkommene Kräftigkeit des Gottesbewusstseins ist in jedem Lebensmoment dieses personalen Lebens so da, dass sie es ihrem Entwicklungsstand gemäß
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vollständig bestimmt. Diese Näherbestimmung ist wichtig, da man sonst lehren würde, die Kindheit Christi sei ein Schein gewesen. Dieses doketische Missverständnis will Schleiermacher im Ansatz ausschließen. (vgl. GL 2, 39) Verständlich genug: Schlösse er es nicht aus, wäre der argumentative Gewinn des provokativen Ansatzes, die Person Christi bei seiner Geburt beginnen zu lassen und entsprechend seine volle Menschlichkeit zu betonen, sogleich vollständig verspielt. (b) Vermittelnde Stellung: Man könnte Argument (a) auch als CompositumArgument bezeichnen. Es ist von einer Vollkommenheit die Rede, aber von einer Vollkommenheit, die in singulärer Weise einen Menschen charakterisiert. Es ist diese Struktur, die auch zu denken erlaubt, dass Christus eine vermittelnde Funktion zwischen der ihm gegebenen Vollkommenheit und allen anderen Menschen ausübt, die dieser Vollkommenheit nicht teilhaftig sind, aber von ihr profitieren und an ihr Anteil erhalten. Schleiermacher drückt diesen Umstand vor allem durch die Wendung aus, dass Christus im alten Gesamtleben, dem der Sündhaftigkeit, ein neues Gesamtleben, das des Gottesbewusstseins, stiftet: »so muß er zwar in das Gesamtleben der Sündhaftigkeit hereingetreten sein, aber er darf nicht aus demselben her sein, sondern muß in demselben als eine wunderbare Erscheinung anerkannt werden (…). Sein eigentümlicher geistlicher Gehalt kann nicht aus dem Gehalt des menschlichen Lebenskreises, dem er angehört, erklärt werden, sondern nur aus der allgemeinen Quelle des geistigen Lebens durch einen schöpferischen göttlichen Akt, in welchem sich als einem absolut größten der Begriff des Menschen als Subjekt des Gottesbewußtseins vollendet.« (GL 2, 38) Auch in dieser Bestimmung ist die Wirksamkeit der Persondefinition zu spüren: Person ist die Kontinuität des Ichs in aufeinander folgenden Momenten. Das bedingt, dass das Hereinkommen von Neuem durch Christus tatsächlich eine als Durchbrechung von zuvor kontinuierlichen Momenten gedacht werden muss, es bedingt aber genauso, dass das Neue in Christus in einem Menschen kommen muss, da es anders zu neuer Kontinuität für Menschen nicht werden kann. (c) Produktivität: Christus ist nicht nur derjenige eine Mensch in der Weltgeschichte, in dem das Gesamtleben des Gottesbewusstseins als Unterbrechung des Gesamtlebens der Sünde beginnt, er ist auch derjenige, der diesen Vorgang tatsächlich bewirken kann. Das ist der Mehrwert des Begriffs des Urbilds gegenüber anderen, etwa dem des Vorbilds. Ein Vorbild ist nicht aus sich heraus wirksam. Es kann anstacheln und zur Nachahmung reizen, ist jedoch nicht aus sich selbst produktiv. Das begründet den Unterschied zum Urbild: Dieses ist selbstwirksam und in denen präsent, die, wie und aus welchem Grund auch immer, sich auf den Kontakt mit ihm eingelassen haben: »(…) da ja schon die Produktivität nur in dem Begriff des Urbildes liegt und nicht in dem des Vorbildes: so ergibt sich wohl, daß nur die Urbildlichkeit der angemessene Ausdruck ist für die ausschließliche persönliche Würde Christi.« (GL 2, 36)
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Die Weiterführung dieser Überlegungen in § 94 hat im Wesentlichen den Charakter wahrheitswertkonservierender Ableitungen. Urbildlichkeit wird in doppelter Weise näher bestimmt. Einmal führt Schleiermacher den Begriff vom Sein Gottes in Christus als Äquivalent für die Urbildlichkeit ein: Urbildlichkeit und schlechthin kräftiges Gottesbewusstsein sind dasselbe, und auch vom Ausdruck ›sein Gottes in Christus‹ ist zu sagen, dass er »ganz eines und dasselbe ist«. (GL 2, 45) Der Zweck dieser Begriffseinführung dürfte vor allem die Erweiterung der Sprachmöglichkeit sein, vielleicht auch der nähere Anschluss an biblische Sprechgewohnheiten. Wichtiger als diese Näherbestimmung ist eine im selben Kontext nahezu lakonisch fallende Bemerkung: »Da nun Gottes Sein nur als reine Tätigkeit aufgefaßt werden kann (…)«. (ebd.) Hier schießt eine Kernbestimmung der Gotteslehre mit der christologischen Aussage von der wesentlichen Produktivität des Urbilds zusammen: Weil Gott in sich nicht anders als tätig sein kann, ergibt sich, dass derjenige, in dem er ist, in dieses Tätigsein mit einbezogen wird. Der Gedanke ist auch anders herum lesbar: Aus der produktiven Urbildlichkeit Christi kann auf das wesentliche Tätigsein Gottes geschlossen werden. Dieses wird sich als wesentlich schöpferische und näherhin personbildende Tätigkeit zeigen. Das leitet über zum nächsten Schritt. Ad (2): Gottes Wesen ist, wie eben zitiert, Tätigkeit. Was für Schleiermachers Bestimmungsreihe noch fehlt, ist der Schluss auf den Modus dieses Tätigseins. Er wird ihn wesentlich als schöpferische Tätigkeit bestimmen. Ein Schlüsselzitat dazu stammt aus der kritischen Besprechung der Zweinaturenlehre: »Und wir haben einen weit besseren Kanon an der Formel, daß in Christo erst die Schöpfung des Menschen vollendet ist. Denn da das ihn von allen andern Unterscheidende sein Innerstes ist: so muß nun das ihm einwohnende Sein Gottes sich zu der gesamten menschlichen Natur verhalten wie das vorher Innerste zu dem gesamten menschlichen Organismus, welche Analogie sich auch schon, wenngleich nicht deutlicher ausgesprochen, durch die gesamte bisherige Darstellung gezogen hat.« (GL 2, 74)
Dass erst in Christus die Schöpfung vollendet sei, ist der Kern von Schleiermachers Reformulierung des Chalcedonense, für die er die Freiheit des christlichen Redners fordert, solange nur der Würde des Erlösers nichts abgemarktet werde. (GL 2, 73f) Im Christusereignis und in dem, was fortwährend von ihm ausgeht, geschieht also nichts anderes als das, was in Gottes schöpferischer Tat auch geschieht und geschah: Freilich geschieht es so, dass der mehr oder weniger deutlich zu Tage liegende Mangel des ursprünglichen Schöpferhandelns ausgeglichen, und das heißt, vollendet wird, wobei aber gilt, dass Gott nicht auf neue Weise handelt: »War die in dem ersten Adam geschehene Mitteilung des Geistes an die menschliche Natur eine unzureichende, indem der Geist in die Sinnlichkeit versenkt blieb, und kaum auf Augenblicke als Ahndung eines Besseren ganz
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hervorschaute, und ist das schöpferische Werk erst durch die zweite gleich ursprüngliche Mitteilung an den zweiten Adam vollendet: so gehen doch beide Momente auf einen ungeteilten göttlichen Ratschluß zurück, und bilden auch im höhern Sinne nur einen und denselben wenn auch uns unerreichbaren Naturzusammenhang.«7 (GL 2, 48) Von diesen Bestimmungen aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur letzten uns aus der Christologie interessierenden Nuance des Personbegriffs. In einer Reflexion darauf, wie die Wirksamkeit Christi beim Einzelnen ankomme präzisiert er die Charakterisierung des göttlichen Handelns als personbildend. Das Argument hat die Form einer Analogie zwischen Gottes Handeln in Christus und Christi Wirksamkeit in den Menschen: Durch die schöpferische göttliche Tätigkeit ist die Person Christi entstanden. Christi Werk ist nun völlig von dem Umstand determiniert, dass Gott in ihm ist und insofern Fortsetzung der Tätigkeit Gottes. Deshalb gilt: »so läßt sich auch alle Tätigkeit des Erlösers als eine Fortsetzung jener personbildenden göttlichen Einwirkung auf die menschliche Natur ansehen.« (GL 2, 92) Das ist nichts weniger als des Menschen »Beseelung«. (GL 2, 93) Hier ist ein zweites wichtiges Momentum des Personbegriffs zum oben genannten – Person als stetige Einheit in der Entwicklung – getreten: Es ist Gottes schöpferisches und in Christus erneut schöpferisches Werk, das das Personprädikat möglich macht. Person ist einerseits vorhanden, wenn von »einem in allen aufeinander folgenden Momenten gleichen Ich die Rede« ist. (GL 2, 53) Zum andern kann das zureichend erst gedacht werden, wenn klar ist, dass dies aus Gottes personbildendem Handeln resultiert, das in Schöpfung und Christusereignis ein- und denselben göttlichen Ratschluss ausagiert. Ob Schleiermachers Theologie der Stellvertretung von den eben referierten Bestimmungen eine Ausnahme macht, ist nicht leicht auszumachen. Im dafür einschlägigen § 104 der Glaubenslehre analysiert er das traditionelle Lehrstück vom hohepriesterlichen Amt Christi und von seinem versöhnenden Tod. Christi Kreuzestod kommt dabei wesentlich als Ereignis des Gehorsams in den Blick. Ohne hier in die Details zu gehen, ist für unsere Frage das Nebeneinander zweier Bestimmungen interessant: Zum einen denkt Schleiermacher, dass Gott die Menschen in Christus anders ansieht, als sie von sich aus sind, zum andern aber verwahrt er sich gegen die Vorstellung, Christus habe Gottes Wille an unserer
7 R.R. Niebuhr hat deshalb recht, wenn er den Schleiermacher’schen Christus als »the second Adam« einführt und schließt: »we have coined the term Christo-morphism to describe the prevalent thrust of Schleiermacher’s theological thinking about the redeemer, redemption and the redeemed.« Niebuhr, Schleiermacher 214 bzw. 215. Nicht recht verständlich ist, wie Wilhelm Gräb zu dem Schluss kommen kann, das Verhältnis christlicher Frömmigkeit zu ihrem Stifter nehme »keineswegs den Stellenwert des Grundthemas« ein. W. Gräb, Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttingen 1980, 98.
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Stelle oder für uns erfüllt. Die Frage, wie sich diese beiden Einzelzüge zueinander verhalten, ist für die Rede von der Person des Christenmenschen ohne Zweifel interessant. Allein Christi Tun entspricht völlig Gottes Wille. Nun darf Christus unser Hohepriester genannt werden, »weil Gott uns nicht jeden für sich, sondern nur in ihm sieht.« (GL 2, 123) So kommt es, »daß wir im Zusammenhang mit ihm auch Gegenstände des göttlichen Wohlgefallens sind. Dies ist der uns eigne und auf christlichem Boden nicht anzufechtende Sinn jenes oft mißverstandenen Ausdrucks, daß Christi Gehorsam unsere Gerechtigkeit sei, oder daß seine Gerechtigkeit uns zugerechnet werde.« (ebd.) Man kann es auch in die Formel fassen, »daß Gott uns in Christo als Genossen seines Gehorsams sieht.« (GL 2, 128) Diese Bestimmung ist aber gegen den zweiten hier interessierenden Argumentationszug zu lesen, »daß, wenn man sich irgend genau ausdrücken will, man auch nicht sagen kann, Christus habe den göttlichen Willen an unserer Stelle oder zu unserm Besten erfüllt.« (GL 2, 125) Das erste wird man als einen stellvertretenden Akt Christi bezeichnen können, weil Gott uns in Christus als die ansieht, die wir nicht – noch nicht – sind. Welchen Sinn hat dann die Zurückweisung des Stellvertretungsgedankens im zweiten Schritt? Schleiermacher wehrt sich gegen Fehlformen der Stellvertretungslehre, vor allem gegen die Idee, durch Christi Gehorsam seien wir vom Gehorsam entbunden und gegen die meritorische Idee, als sei Christi Gottgefälligkeit als Überschuss bei Gott zu unsern Gunsten zu verstehen. Vielmehr gilt für ihn: »(…) Sondern der Gesamtgehorsam – δικαίωμα– Christi gereicht nur insofern zu unserm Besten, als durch denselben unsere Aufnahme in die Lebensgemeinschaft mit ihm bewirkt wird, und in dieser wir von ihm bewegt werden, mithin das ihn bewegende Prinizp auch das unsrige wird (…).« (ebd.) Weil durch Zugehörigkeit zum Gesamtleben Christi unser Gehorsam schon begonnen hat und sich erwartbar fortsetzen wird, darf davon gesprochen werden, dass Gott uns in Christus anders ansieht. Im ersten Argumentationszug wird die Alterität der Person ansatzweise gedacht, dies aber wird im zweiten Zug sofort entscheidend präzisiert: Wohl ist die Person des Christen durch Christus, aber sie ist so durch Christus, dass die Einheit der Lebensmomente im Lebenszusammenhang mit Christus die Einheit der Lebensmomente des Christen selber ist. Die Tür zum Gedanken der Fremdkonstitution außerhalb des Verursachungsgedankens wird ein wenig geöffnet, aber mit dem Blick auf mögliche negative Folgen sofort wieder geschlossen.
Das kann – unter bewusster Hintanstellung vieler Aspekte aus der speziellen Christologie – als vorläufiger Ertrag zum Personbegriff aus der Christologie gelten: Der Personbegriff des Chalcedonense wird verabschiedet und durch eine Bestimmung von Person als Einheit des Ich in den Entwicklungsmomenten ersetzt. In der theologischen Weiterführung dieser Bestimmung wird dann entwickelt, dass es Gottes fortgesetzt schöpferisches Handeln ist, das die Person bildet. Dieser Umstand erklärt zugleich, warum die Freilegung des Personkonzepts mit dem Blick in die Christologie noch nicht abgeschlossen sein kann: Wirkt Gott am Menschen personbildend, so muss nun der Blick darauf erfolgen, wie genau Gottes Werk am Menschen gedacht werden soll. Das ist im Wesentlichen die Aufgabe von Schleiermachers Theologie von Wiedergeburt und vom neuen Menschen.
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Der Personbegriff in der Rechtfertigungslehre: Wiedergeburt und neuer Mensch Es geht, mit einer programmatischen Formulierung aus § 64 zu reden, um die »göttliche Wirksamkeit, durch welche das Gottesbewußtsein zur Herrschaft gelangt«. (GL 1,351) Gottes fortgesetzt schöpferische Wirksamkeit ist für Menschen von der Art, dass sie ihr Bewusstsein von ihm her affiziert und verändert finden, so dass man es wagen kann, von einem Gottesbewusstsein zu sprechen. Widersprechende Anteile finden sich zurückgedrängt und alle weiteren Bestimmungen des christlichen Lebens – so etwa die in der Sittenlehre zu verhandelnden – sind von der Art, dass sie als Konsequenz des so veränderten Bewusstseins aussagbar sind. Damit ist die Frage nach der materialen Rechtfertigungslehre gestellt: Wie stellt sich das veränderte Bewusstsein denn inhaltlich dar? Über die trockene Versicherung, es sei so, will Schleiermacher bewusst hinausgehen. Die wichtigsten Leitbegriffe bzw. Leitmetaphern hierfür sind die biblische Rede von der Wiedergeburt einerseits und, inhaltlich ohne weiteres damit verknüpfbar, die Rede vom Neuen Menschen. Ich beginne mit letzterer und zunächst mit der Beschreibung, wie sie allgemein angelegt ist. Einige Beispiele zeigen, dass es sich um hohe Rede handelt: »Der neue Mensch also eignet sich die Sünde nicht mehr an und arbeitet auch gegen sie als ein Fremdes (…).« (GL 2, 175) Es geht um das »Wachstum des neuen Menschen« (GL 2, 186), ja es geht um nichts weniger als den »göttliche[n] Vereinigungsakt mit der menschlichen Natur«. (GL 2,187) und entsprechend das »Entstehen des göttlichen Lebens in uns«. (GL 2, 170) Kurz und thetisch schreibt er: »der Wiedergeborene [ist] der neue Mensch«. (GL 2, 191) Die Wiedergeborenen und also neuen Menschen wissen um die »Unverlierbarkeit der rechtfertigenden göttlichen Gnade«. (GL 2, 194) Sie sind »Selbsttätige[r]« (GL 2, 202) in Sachen der guten Werke geworden. Das Sein des alten Menschen im Gesamtleben der Sünde hat aufgehört, sein Sein als neuer Mensch in der Lebensgemeinschaft mit Christus hat angefangen. (GL 2, 156.158) Diese Zitatcollage allein ist natürlich noch kein hinlänglich analysiertes Argument. Aber sie macht doch den Ton und den Argumentationsanspruch deutlich, mit dem Schleiermacher die Rede vom neuen Menschen angeht. Und der heißt: Es geht buchstäblich um alles. Dies ›alles‹ ist nun näher zu betrachten. Dabei zeigen sich folgende Aspekte von Schleiermachers Theologie der Wiedergeburt bzw. des Neuen Menschen: (1) Der formale Charakter der Bewusstseinstatsache, (2) die inhaltliche Näherbestimmung als Hemmung und Überwindung des Sündenbewusstseins, (3) der Charakter der Stetigkeit und (4) die mitgesetzten Annahmen über Art und Weise des Handelns Gottes in diesem Vorgang. Ad (1): Die Wiedergeburt ist »der Zustand des Einzelnen im Übergang aus dem Gesamtleben der Sündhaftigkeit zur Lebensgemeinschaft mit Christo«. (GL 2, 150) Damit ist zunächst gesetzt: Wiedergeburt ist als eine Phase zu verstehen,
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wohl nicht als isoliertes Momentum – dagegen wird Schleiermacher sich später noch explizit verwahren –, jedoch als eine Phase, die nicht das ganze Leben des Christen ausmacht. Wie hat man sich diese Phase nun formal vorzustellen? Es handelt sich um eine grundlegende Neuorientierung der passiven wie der aktiven Momente des Selbstbewusstseins. Dem Leser, der Leserin der einleitenden Paragraphen der Glaubenslehre ist vertraut, dass Schleiermacher für das menschliche Selbstbewusstsein ein In- und Miteinander solcher Momente annimmt: Es gibt sowohl Freiheitsakte als auch Momente der Passivitität und die skrupulöse Analyse des Zusammenhangs der beiden führt dazu, die Freiheitsmomente als endlich zu begreifen, dem Momentum der Passivität aber den Status des Grundlegenden einzuräumen: Das Sich-selbst-nicht-so-gesetzt-haben ist unhintergehbar und führt zur Formulierung der wohlbekannten Theorie von der schlechthinnigen Abhängigkeit. Diese beiden Elemente der Passivität und der Aktivität kehren in Schleiermachers Rede von der Wiedergeburt wieder. Der Begriff beschreibt, wie beide Momente des Selbstbewusstseins grundständig neu ausgerichtet werden. Im Zustand der Sünde gibt es sehr wohl einen Bezug der beiden Momente des Selbstbewusstseins auf Gott, dieser ist aber »nicht willenbestimmend, sondern nur durchlaufend«. (GL 2, 150) Das freilich ändert sich beim Wechsel vom Gesamtzusammenhang der Sünde in die Lebensgemeinschaft mit Christus. Das Wovon der Abhängigkeit wird ein anderes und zugleich damit auch die Grundierung der Freiheitsakte. Das Wovon der Abhängigkeit tritt aus dem Gesamtzusammenhang der Sünde heraus und geht über zur Lebensgemeinschaft mit Christus, es wandelt sich von der sinnlichen Bestimmung hin zum Bestimmtseinlassen durch Gottes Aktivität in der Welt. Das hat unmittelbare Konsequenzen auch für die freiheitlichen Akte des Menschen. Sie werden, weil sie auf dem neu gepolten passiven Selbstbewusstsein des Menschen aufruhen, zu Akten der Zustimmung mit dem Werk und Willen Christi und damit zu nichts weniger als zu denen einer cooperatio hominis cum Christo. Schleiermacher ist dabei wichtig – und das als letzte kurze Bemerkung zum bewusstseinstheoretischen Aspekt –, dass das neue Bewusstsein der Gemeinschaft mit dem Lebenszusammenhang Christi nicht völlig unvorbereitet auf den Menschen trifft. Es gibt inferiore Momente des Bewusstseins schlechthinniger Abhängigkeit, an denen das neu geschenkte und gehörte Bewusstsein der Zugehörigkeit zu Christus anknüpfen kann. Was sich von heute aus betrachtet wie ein Vorgriff auf den Streit zwischen Emil Brunner und Karl Barth über den ›Anknüpfungspunkt‹ ausnimmt,8 ist Schleiermachers Parteinahme im synergistischen Streit des Reformationsjahrhunderts: Gegenüber der Gnade Gottes verhalten Menschen sich nicht nicht – also wie der sprichwörtliche Stein – sondern durch eine vorgängige Empfänglichkeit für die Gnade Gottes, die ihrerseits auf
8 Vgl. den Satz: »auch in der menschlichen Natur [muss] die Möglichkeit liegen, das Göttliche, wie es eben in Christo gewesen ist, in sich aufzunehmen.« (GL 1, 89)
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Gottes vorauslaufende Gnade zurückzuführen ist.9 Entsprechend kann sich Schleiermacher den Vorgang Erlösung nur vorstellen, wenn ihm die Anerkenntnis der eigenen Erlösungsbedürftigkeit voraus geht. (vgl. GL 1, 349)
Ad (2): Die inhaltliche Bestimmung des Wiedergeburt genannten Neubeginns besteht in der Hemmung des Sündenbewusstseins und dem Hervortreten des Gottesbewusstseins. Der Vorgang Wiedergeburt ist also darstellungspragmatisch die Schaltstelle des Gegensatzes in der Entwicklung des frommen Selbstbewusstseins – abgesehen von dessen aus einleuchtenden Gründen zuvor zu verhandelnder Grundlegung im Christusereignis. Schleiermacher skizziert den Gesamtzusammenhang der Sünde als eine grundsätzliche Fehlorientierung des Bewusstseins. Diese Fehlorientierung kann aber nicht an sich beschrieben werden, sondern nur in ihrem sowohl fatalen als auch zum gänzlichen Verschwinden bestimmten Verhältnis zum Gottesbewusstsein. Einschlägig ist § 66 der Glaubenslehre:10 »Wir haben das Bewußtsein der Sünde, sooft das in einem Gemütszustand mitgesetzte oder irgendwie hinzutretende Gottesbewußtsein unser Selbstbewußtsein als Unlust bestimmt, und begreifen deshalb die Sünde als einen positiven Widerstreit des Fleisches gegen den Geist.« (GL 1, 355) Der erste Teil dieses Paragraphenleitsatzes erläutert den zweiten. Der seinerseits spricht traditionelle Kirchensprache und ist gewiss als absichtliche Anknüpfung an sie gemeint. Wie stets ist Schleiermacher aber erst zufrieden, wenn der gemeinte Umstand nicht als ›Heilstatsache‹ behauptet ist, sondern wenn diese objektivierende und also falsche Rede in die Phänomenologie der Affektation des Selbstbewusstseins überführt wurde. Und das gelingt, wenn man das Zugleich 9 Die ökumenische Chance dieses Gedankens, vgl. die Rede von der gratia praeveniens bei Thomas v. Aquin, Summa totius theologiae I–II, 111.3, greift Schleiermacher nicht auf. Die durchgängig innerevangelisch angelegten Verweise und Debatten in den hier wichtigen Paragraphen der Glaubenslehre machen es wahrscheinlich, dass ihm dies nicht wichtig war. Schleiermachers in der Glaubenslehre stetig geführter Dialog mit Basisdokumenten des Reformationsjahrhunderts untersucht an den Einleitungsparagraphen, der Sünden- und Abendmahlslehre M. Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, Tübingen 1989, 195–267, vgl. auch die Kongressbeiträge zu Schleiermachers Reformationsdeutung: G. Ebeling, Luther und Schleiermacher, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. von K.-V. Selge, Berlin/New York 1985, Band 1,21–38; O. Bayer, Schleiermacher und Luther, ebd. 1005–1016; W. Sommer, Schleiermachers Stellung zu den reformatorischen Bekenntnisschriften, vor allem nach seiner Schrift »Über den eigentümlichen Wert und das bindende Ansehen symbolischer Schriften«, ebd. 1061–1074. 10 Zu Schleiermachers Hamartiologie vgl. H. Fischer, Subjektivität und Sünde. Kierkegaards Begriff der Sünde mit ständiger Rücksicht auf Schleiermachers Lehre von der Sünde, Itzehoe 1963; A. Scierzyn, Das Sünden- und Schuldproblem im dogmatischen Denken Schleiermachers, Diss. Erlangen 1973; C. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996, 174–237.298–303; dies., Art. Sünde VII, TRE 32, 400–436, hier 418–420; Niebuhr, Schleiermacher 196–204.
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sündlicher Orientierung mit dem dann notwendig rudimentären Gottesbewusstsein denkt: Dieses tritt dann als störend und lästig, eben: als Unlust hervorrufend auf den Plan. Dabei ist wichtig, dass Sünde nicht eine Bewusstseinstatsache ist, wiewohl sie erst im Bewusstseinsakt der Unlust zum Gottesbewusstsein merkbar wird: Das Bewusstsein der Sünde folgt auf die Sünde selbst. (GL 1, 356, vgl. 351) Wiedergeburt ist nun der strikt gegenläufige Prozess, der, der diesen Widerstreit aufzulösen beginnt. Eine »Sinnesänderung« (GL 2, 158) hat stattgefunden, »das Sein des Menschen im Gesamtleben der Sünde [wird] aufhören und das Sein desselben in der Gemeinschaft Christi anfangen.« (GL 2, 156) Man wird das so verstehen sollen: Das Wovon der Abhängigkeit beginnt sich zu ändern. Das trotz aller Hemmnisse stets vorhandene Gottesbewusstsein beginnt die Oberhand zu bekommen und entsprechend ändert sich die Ausrichtung der gesamten Person. Schleiermacher erläutert das mit dem Begriff der Lebensform. Lebensform ist die Grundausrichtung des menschlichen Daseins, das, was den Faktoren des bewussten Lebens die Richtung angibt und damit die Basis des Gefühlslebens wie die Basis des rationalen Lebens. Jemandes Lebensform ist deshalb auch die Basis seines Willens. Es gibt eine Lebensform, in der der Wille nur von sinnlichen Eindrücken angeregt wird, also sinnenfällig oder äußerlich bestimmt ist. Bezug auf Gott kann es in dieser Lebensform durchaus geben. Aber der Bezug auf Gott ist, wie Schleiermacher plastisch schreibt »nicht willenbestimmend, sondern nur durchlaufend«. (GL 2, 150) Diese Lebensform nennt Schleiermacher auch »Gesamtleben der Sündhaftigkeit«. (ebd.) Sie ändert sich grundlegend in dem Augenblick, in dem der Lebenszusammenhang mit Christus beginnt. Die Elemente kehren sich jetzt um: Die Lebensform ist nun nicht mehr sinnlich bestimmt. Sie ist vielmehr durch Gottes Gegenwart angeregt und verändert. Der Mensch ist anders geworden. Er findet sich in einer neuen Lebensform vor, besser: als neue Lebensform. Entsprechend ändert sich alles: die Ziele, die Prioritäten, die Wünsche. Das Wiedergeburt zu nennen, dürfte in der Tat nicht verfehlt sein. Schleiermacher besteht darauf, dass diese fundamentale Sinnesänderung als von der »persönlichen Wirksamkeit Christi« ausgelöst gedacht werden muss und also aus der Predigt kommen muss. (GL 2, 167) Wäre es anders, dann fehlte erstens die Verlässlichkeit, dieser Sinnesänderung als Gottes Tat gewiss zu sein und zweitens der konstitutive Gemeinschaftsbezug des christlichen Lebens. – Auch an diesem Punkt ist die reformatorische Positionierung Schleiermachers mit Händen zu greifen: Er streitet für die Äußerlichkeit und Leiblichkeit des Wortes und ineins damit für die ekklesiologische Verknüpfung der Rechtfertigungslehre.11 11 Vgl. die detaillierte Analyse bei Th.H. Jørgensen, Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher, Tübingen 1977, bes. 203ff. Jørgensen entwi-
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Ad (3): Spürbar eigene Wege geht Schleiermacher mit seinen Überlegungen zur Stetigkeit und Prozesshaftigkeit der Wiedergeburt. Die Gewissheit, die mit ihr einher geht, ist nach seiner Ansicht wesentlich Gewissheit über die »Unverlierbarkeit der rechtfertigenden göttlichen Gnade«. (GL 2, 194) Wiedergeburt, so Schleiermacher, »drückt den Anfang eines zusammenhängenden Lebens« aus. (GL 2, 152) Der Wechsel vom Gesamtzusammenhang der Sünde in die Lebensgemeinschaft mit Christus ist nicht insulär oder sprunghaft, er ist stetig. Das ist nicht ›nur‹ eine Behauptung von theologischer Richtigkeit, sie gilt auch für alltägliche Selbstbeobachtung: »daß die Äußerungen des neuen Lebens auch erfahrungsmäßig immer stetiger werden und hiedurch auch die Zuversicht zur Fortdauer dieser Lebensvereinigung mit Christo mehr und mehr ins wahrnehmbare Selbstbewußtsein treten muß (…).« (GL 2, 192) Ein ängstliches Hinhorchen, es könne morgen anders sein, ist unnötig. Der Begriff vom Wachstum im Glauben ist nicht falsch, wenn man ihn differenziert genug verwendet. Stetigkeit ist dabei etwas, was sich rückblickend als gewiss einstellt, nicht in actu – und deswegen ist der Ausweis eines Momentums der Wiedergeburt auch nicht nötig, ja eine Zumutung, weil sie Gottes Gnade auf ein augenblickshaftes Handeln zusammendrängen würde. (GL 2, 160) Das Gleiche gilt für Wachstum im neuen Leben. Es ist nicht linear und es gibt Pendelausschläge nach oben wie nach unten. Von Wachstum aber darf gesprochen werden, wenn man es »zeitlicherweise allmählich« denkt. (GL 2, 179) In diesem Sinne ist die rechtfertigende göttliche Gnade unverlierbar und vollkommen zuverlässig. (GL 2, 194) Und in diesem Sinne kann mit Gunther Wenz davon gesprochen werden, dass es bei Schleiermacher eine Rede vom ordo salutis gibt.12 Glaube schließlich ist zu denken als Bewusstsein der Tatsache in der Gnade zu sein. Er ist ein »beständig fortdauernder Gemütszustand« und in Sachen der Begnadigung durch Gott das »beginnende beharrliche Bewußtsein des Besitzstandes«. (GL 2, 155) Dies ist ein für Schleiermachers Soteriologie wichtiger Zug: Es kommt Gottes Gnade und Gegenwart gerade zu, stetig zu sein und nicht ereignishaft und der Glaube ist zu verstehen als Bewusstsein hierüber.13 Ad (4): Schleiermacher denkt Gott und Stetigkeit zusammen. Gottes Wohlgefallen findet nicht das, was bald ist, bald nicht ist. (GL 2, 202) Weil Christi Präsenz und Wirkung aber stetig ist, findet sie Gottes Wohlgefallen. Und desckelt den Offenbarungsbegriff von den Einleitungsparagraphen der Glaubenslehre her. Die Möglichkeit, ihn gleichsam in actu zu analysieren, wie sie z. B. an dieser Sachstelle gegeben ist, harrt demgegenüber noch der Bearbeitung. 12 G. Wenz, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Sinn und Geschmack fürs Unendliche, in: Theologen des 19. Jahrhunderts, hg. von G. Wenz, Darmstadt 2002, 21–38, 35. 13 Th. Jørgensen hat darauf hingewiesen, dass die Begriffe ›Person‹ und v. a. ›Persönlichkeit‹ in den Entwürfen zu einem System der Sittenlehre Schleiermachers dieselbe Funktion übernehmen, vgl. Jørgensen, Offenbarungsverständnis 42–49.
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wegen ist der Zweifel am eigenen Sein im neuen Leben vielleicht modisch oder existenzialistisch. Aber er zweifelt letztlich an Gottes Gottsein und Beharrlichkeit und das ist nicht wohlgeraten. Das ist ein reformatorisches Argument in neuzeitlichem Gewande. Auch Luther spricht davon, dass Menschen von der Introspektion gnädig abgerückt werden und Gottes Verheißungstreue vertrauen dürfen. Das Heil ist extra nos, wiewohl zugleich pro nobis. Schleiermacher fängt nun umgekehrt an und spricht vom in nos und pro nobis des Heils, dessen wir gewiss sein dürfen, weil es im extra nos der Beständigkeit und Unwandelbarkeit Gottes verankert ist. Wie weit die Prämissen in der Gotteslehre auseinandergehen und wie weit Schleiermacher hier platonisierend oder mit dem Gott Spinozas denkt, das muss man fragen. Aber dass das Motiv eine Relektüre reformatorischen Denkens ist, steht außer Frage. An diesem Punkt zieht Schleiermacher eine wichtige Unterscheidung ein: Er differenziert zwischen dem schöpferisch-wirksamen Handeln Gottes und dem deklaratorischen Handeln Gottes. Das Schöpferische oder Wirksame ist die Präsenz Christi und die Umkehrung des Selbstbewusstseins, wie wir sie hatten. Unter deklaratorisch versteht Schleiermacher, dass Gott gerecht spricht. Und genau diesen Gedanken, diese Vorstellung unterzieht er einer deutlichen Kritik. Gottes deklarierendes Handeln – nicht geeignet, das unterscheidend Evangelische gegen die römische Theologie zu betonen. Gottes deklarierendes Handeln – verführt zur irrigen Idee, es gebe mehrere Akte der Rechtfertigung. Gottes deklarierendes Handeln lässt sich gleichwohl mit dem schöpferisch-wirkenden zusammen denken: »es verschwindet uns das Deklaratorische wieder in dem Schöpferischen«. (GL 2, 180) Es ist nicht nötig, von Gott als dem zu denken, der das Rechtfertigungsurteil spricht. Vielmehr ist es so: Gott ist in Christus wirksam und gegenwärtig im umgewandelten Selbstbewusstsein. Das kann man dann auch deklaratorisch nennen, aber diese Vokabel fügt der Wirksamkeit Gottes nichts Neues hinzu.
Stetigkeit und Ereignishaftigkeit der Person. Thesen zu einem systematischen Problem Wird einer zu Recht ein Klassiker genannt, dann heißt das doch, dass seine Argumente unbeschadet ihres relativ hohen Alters als gegenwärtig diskutabel und weiterführend gelten. Darum soll es jetzt in Anknüpfung und Widerspruch gehen. (a) Die Bruchlinie zwischen theologischer und nichttheologischer Anthropologie. Die Darstellung der Rede vom neuen Menschen bei Schleiermacher und auch die kurzen Kontrastierungen sollten es gezeigt haben: Theologische Rede vom
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Menschen, die nicht vom neuen Menschen spricht, ist nicht vollständig. Bei Schleiermacher zeigt sich das so, dass die Selbstbewusstseinstheorie aus den Anfangsparagraphen der Glaubenslehre nicht für sich allein steht. Sie ist erst nach dem Durchgang durch die Fülle der Formen des Abhängigkeitsgefühls vollständig. Das widerstreitet, wie eingangs gesagt und nun hoffentlich ausreichend belegt, der weit verbreiteten Übung, in §§ 3–4 GL deren Proprium und Schleiermachers genuinen Beitrag zur Theorie des Selbstbewusstseins zu sehen. Dass es sich um ein Zentrum handelt, steht völlig außer Frage, dass es aber das Zentrum sei, ist falsch. Dieser Umstand wirft ein recht scharfes Licht auf Gepflogenheiten in der theologischen Anthropologie auch da, wo man nicht mit Schleiermacher geht. Die Anlage der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs etwa, der sich von Schleiermacher bewusst abgrenzt, zeigt doch recht genau diese Struktur.14 Ihr gegenüber ist festzuhalten: Theologische Anthropologie ist ohne Soteriologie nicht zu haben und Schleiermacher zeigt sich auch hier als kirchlicher Dogmatiker, der es durchaus mit Martin Luther hält, dessen Kurzformel »fides facit personam« heißt.15 Das zeigt eine Bruchlinie zwischen theologischer und nichttheologischer Rede, die apologetisch nicht überspringbar ist. Dass Menschen von Gott her neu werden, ist theologisch unabweisbar – und nichttheologisch nicht zu behaupten. In Schleiermachers Werk selbst zeigt sich das an folgender Doppelheit: Zum einen führt er die Theorie des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit mit hohem Begründungsanspruch ein, ja mit dem höchsten. Sie ist, schreibt Schleiermacher, von der Art, dass »die Zustimmung unbedingt gefordert werden kann.« (GL 1, 25) Diese maximalen Begründungsansprüche werden aber nur für die Lehnsätze aus der Ethik geltend gemacht, nicht jedoch für die materialdogmatischen Ausführungen. Kombiniert man das nun mit der oben zitierten Aussage, dass die Christologie die Mitte der Glaubenslehre ausmacht, nicht jedoch deren Beginn, dann ergibt sich: Mit Anspruch auf strenge Allgemeinheit wird ein Argument eingeführt, das erklärtermaßen ins Vorfeld gehört, aber eben nicht die sachliche Mitte des ganzen Projekts. Schleiermacher streitet an anderer, wohlbekannter Stelle für die Widerspruchsfreiheit zwischen seinen theologischen und philosophischen Gedanken: »Meine Philosophie also und meine Dogmatik sind fest entschlossen, sich nicht zu widersprechen, aber eben deshalb wollen auch beide niemals fertig sein, und, solange ich denken kann, haben sie immer gegenseitig aneinander gestimmt und sich auch immer mehr angenähert.«16 Das geht aber mit der eben gezeigten Asymmetrie einher. Sie dürfte charakteristisch nicht nur 14 Vgl. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, zum Personbegriff 217–235. 15 WA 39/1, 282. 16 W. Dilthey/L. Jonas, Aus Schleiermacher’s Leben in Briefen II, Berlin 1858, 343.
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für Schleiermachers Werk, sondern für den theologisch-philosophischen Gegensatz überhaupt zu sein. (b) Vita passiva. Schleiermachers gesamte Theologie lässt an diesem entscheidenden Punkt keinerlei Zweifel: Der neue Mensch ist der, der neu gemacht wird. Es geht hier wesentlich um die Logik der Passivität. Die Konstellation homo faber wird kritisiert, die reformatorische Idee der vita passiva dagegen ins Recht gesetzt.17 Was die Basis der Willensbildung bestimmt, unterliegt nicht der Willensbildung selber. Was die menschliche Autonomie ermöglicht und setzt, ist nicht seinerseits Erzeugnis von Autonomie. Schleiermachers Konzeption ist eine beeindruckende Kritik an den überdehnten Autonomiekonzeptionen seiner Zeit und unserer Gegenwart. Das ist systematisch anschlussfähig. Denn hier geht es um Kernüberzeugungen auch der allgemeinen säkularen Rede vom neuen Menschen. Es gibt ein Normalgefühl der Autonomie. Sein Illusionscharakter wird klar, wenn man das Passivitätsargument sieht. Und die säkularen Konzeptionen haben ihre größte Schwäche genau da, wo sie sich kämpferisch emanzipierten. Die Möglichkeit des Neuwerdens muss für sie im Menschen selbst liegen. Am steilsten findet sich das im Neuen Menschen, den Karl Marx denkt. Für ihn geht es um Selbsthervorbringung: »die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit«.18 Für die Gnadenlosigkeiten der Umsetzung darf man ihn nicht verantwortlich machen, aber eine Grundlage hat er eben doch geliefert. Andere waren vorsichtiger: Kants Autonomiekonzeption mag uns heute auch überdehnt erscheinen, aber sie hat eine eigene Sündenlehre, nämlich die Rede vom radikal Bösen, dessen Herkunft uns unerforschlich ist.19 Bei der säkularen Rede vom neuen Menschen haben wir es also nicht mit ungebrochenem Optimismus zu tun, wohl aber mit Konzeptionen, die das Neue und Heilvolle aus dem menschlichen Potenzial selbst entwickeln wollen. Da ist mit Schleiermacher der theologische Widerspruch unvermeidlich: Menschen sind von anderwärts her. Das gilt gegen die religionskritischen Autonomiekonzeptionen und auch gegen das alltägliche unscharfe Autonomieverständnis unseres Alltags. (c) Konstruktivität des Begriffs »Lebensform«. Zu Schleiermachers bevorzugten Begriffen zur Beschreibung dessen, was sich durch Wiedergeburt ändere, zählt der Terminus »Lebensform«. Sie ist es, die sich durch den Eintritt in den Le17 Vgl. C. Link, Vita passiva. Rechtfertigung als Lebensvorgang, EvTh 44 (1984), 315–351; W. Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006, 139–146. 18 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Karl Marx/Friedrich Engels Studienausgabe Band II, hg. von I. Fetscher, Berlin 2004, 38–135, 113. 19 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Werke, hg. von W. Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1983, 693.
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benszusammenhang Christi grundlegend ändert, von der sinnlichen zur geistigen Bestimmtheit. Unbeschadet der Frage, wie ergiebig der Dual ›sinnlich‹ versus ›geistig‹ ist, wird man mit dem Terminus festhalten können: Lebensform markiert die Art und Weise, wie das Neusein beim neuen Menschen ankommt. Das Evangelium ist die schöpferische Kraft, die das Leben erneuert. Beim Neuwerden erfährt man nicht etwas. Man erfährt sich neu, im Verhältnis zu sich selbst, zu anderen, zu Gott. Neuer Mensch zu sein ist nicht eine Eigenschaft neben anderen Eigenschaften oder ein Satz, dem ich jetzt zustimmen könnte, es vorher aber noch nicht konnte. Neuer Mensch sein ist eine Bestimmung des Menschen als ganzen: Es geschieht mit Menschen und es zeigt sich im Leben. Ingolf Dalferth nannte das hilfreich: »Das Evangelium hat deshalb eine pragmatische, aber keine semantische Identiät.«20 Nicht in Sätzen ist der neue Mensch erschöpfend auszusagen. Im Lebenszusammenhang zeigt er sich. Glaube ist dementsprechend keine Bestimmung neben anderen wie etwa Vernunft, Wille oder Gefühl, Erleben. Er ist eine Existenzbestimmung, die den ganzen Menschen mit all seinen Bestimmungen loziert, am Ort des Glaubens oder am Ort des Unglaubens. Die Aussage ›ich glaube‹ ist nicht im Sinn von ›ich denke, halte für wahr, will‹ zu verstehen sondern lokativ oder modal, also ›ich lebe im Glauben, ich lebe glaubend‹: Noch einmal mit Ingolf U. Dalferth gesprochen »Wer glaubt, führt sein Leben am Ort der Gegenwart Gottes so, dass es durch diese Gegenwart orientiert und positiv bestimmt wird.«21 Diese Feststellung gilt gegenüber dem Missverständnis von Glaubenswahrheiten als Satzwahrheiten. Sie gilt aber auch für Fragen der theologischen Ethik, zumal für die evangelische. Denn zweierlei hat sie von Schleiermachers Erkenntnis weiter weg geführt, als es wohl gut war: Zum einen eine starke Orientierung an der Verantwortungsethik allein, die die Bereiche der Ethik des täglichen Lebens abblendete.22 Das ging ineins mit einer fast schon reflexhafte Abwendung vom Vorgehen der katholischen Ethik. Diese hatte und hat das mit ›Lebensform‹ Angezielte durch den Rekurs auf die Themen Gewohnheit und Tugend im Blick.23 Dass evangelische Ethik sich gegen soteriologische Aufla20 I.U. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis, Leipzig 2004, 100. 21 I.U. Dalferth, Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008, 326. 22 Daran hatte nicht geringen Anteil, dass der Stichwortgeber der Verantwortungsethik den Dual zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik ungeprüft von Max Weber übernahm, vgl. H.-E. Tödt, Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, bes. Teil I. Kritik an der Weber’schen Unterscheidung, und der mit ihr verbundenen massiven Wertung übt W. Schoberth, Die bessere Gerechtigkeit und die realistischere Politik. ein Versuch zur politischen Ethik, in: Salz der Erde. Zugänge zur Bergpredigt, hg. von R. Feldmeier, Göttingen 1998, 108–140, hier 114–121. 23 Vgl. gegenwärtig besonders die große Studie von E. Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg u. a. 2007. Schockenhoff bietet keine reine Tugendethik, sondern kombiniert sie mit einer Normtheorie im Sinne bereichsspezifischer Methoden.
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dungen dieser Begriffe wehrt, ist richtig. Dass diese Begriffe aber helfen, den Bereich des alltäglichen Lebens zu erschließen und damit die Lebensform Christsein, kann man nicht gut bestreiten. Und so kommt von Schleiermacher her hier eine ökumenische Arbeit des Verstehens auf uns zu. Es ist richtig gesehen: »Die christliche Sittenlehre wird […] ihrer unmittelbaren Bestimmung weit besser entsprechen, wenn sie die imperative Form fahren läßt und nur die Lebensweise in dem Reiche Gottes in allen Beziehungen beschreibt.« (GL 2, 206) (d) Der Begriff »Wiedergeburt« führt zu Unrecht ein Schattendasein in der Soteriologie. Der Begriff, die Metapher der Wiedergeburt hat, wie Otto Weber treffend bemerkte, »in der Dogmatik eine wahre Leidensgeschichte durchgemacht«.24 Weber bezieht das vor allem auf weitgehende Ignoranz dem Terminus gegenüber. Sie erlaubt sich, die Metaphorik der Wiedergeburt, obwohl sie neutestamentlich gut belegt ist, weitgehend nicht zur Kenntnis zu nehmen und – so etwa in der evangelischen Theologie – zu behaupten, alles Entscheidende sei in der Rede von der Rechtfertigung bereits gesagt. Das aber ist eine Verkürzung, die eine biblische Metapher mit eigener Sachhaltigkeit ohne Not abblendet. Nun hätte einiges dafür gesprochen, dass Schleiermacher in den großen Kreis derer gehört, die die Ignoranz in Sachen ›Wiedergeburt‹ mittragen. Denn es hatte einen festen Ort im altprotestantischen Lehrstück vom ordo salutis, welches die Aneignung des in Christus geschenkten Heils in eine Reihe von Momenten oder Stadien auseinanderlegte. Dies Lehrstück verfiel ab der Aufklärungszeit der Kritik, dass es sich um eine rationalistische Deutung handle, die vor allem durch die Reihung mehr Probleme schaffe als löse. Man sah in ihm eine objektivistische Festlegung und ein Bestehen auf der Faktizität von Heilsereignissen, die, wenn überhaupt, dann nur durch strikt supranaturalistische Interpretation gehalten werden könnte – und dieser Preis war fraglos zu hoch. Auch der junge Schleiermacher ließ keinerlei Neigung zu diesem Lehrstück erkennen. Die allgemeine Theorie religiöser Erfahrung, wie er sie in den Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern vorlegt, kann geradezu als Kritik der ordosalutis-Theologie gelesen werden: Diese ist denkbar nur als Auslegung des christlichen Glaubens und denotiert für ihn begrifflich bestimmbare Zustände und/oder Aspekte. In der 2. Rede aber geht es um eine Weise des sich-Vorfindens in der Welt, die allen Menschen gilt und die in provokativer Weise den Bereich des Christentums überschreitet. Freilich denkt Schleiermacher dies nicht als Ermöglichungsstrategie individualistischer Religiosität alleine, wie er gerade im Gefolge der 2. Rede gern verstanden wird:25 »Ich will Euch gleichsam zu dem Gott, 24 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik 2, Neukirchen 1962, 401. 25 Vgl. exemplarisch W. Gräb, Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersoh 2006, 52–55.185–189.
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der Fleisch geworden ist, hinführen.«26 Auch und gerade die allgemeine Religionstheorie ist theologische Propädeutik – und hat sich das von Schleiermachers frühromantischen Freunden ja auch negativ ankreiden lassen müssen. Andeutungen sind also auch hier vorhanden. Es ist aber der Schritt von den Reden hin zur Glaubenslehre, der Schleiermacher den theologischen Mehrwert der Wiedergeburtsmetapher sehen lehrt. In den folgenden Unterpunkten wird zu zeigen sein, dass seine Interpretation dieser Metapher nicht ohne Probleme ist. Aber dass er sie vermöge der Wiedergeburtsmetaphorik so beherzt ins Zentrum stellte, verdient alle Beachtung und fordert diejenigen, die schlussendlich nicht mit ihm gehen können auf, es in Sachen Realität des Neuen Menschen besser zu machen. (e) Das Problem der »stetigen Einheit«. Schleiermacher betont die Einheit der Person als Kontinuität von Momenten des identischen Ichs: »eine stetige Lebenseinheit« von »einem in allen aufeinander folgenden Momenten gleichen Ich«. (GL 2, 53) Person und Identität sind also eng verschwisterte Konzepte. Dies Definitionselement steht erkenntlich in derjenigen Tradition, die einen substanztheoretischen Weg bevorzugt: Es werden Definitionselemente genannt, die Personsein bzw. Personwerden ausmachen. Liegen sie vor, so kann das Prädikat vergeben werden. Ungedacht bleibt hier, dass ›Person‹ etwas sein könnte, was durch wechselseitige Anerkennung da ist.27 Hier zeigen sich die Probleme einer Persondefinition, die substanztheoretisch vorgeht und die die Personsubstanz als deren stetiges Bewusstsein versteht, recht deutlich: Wie schon angemerkt, muss eine Stetigkeit vorzeigbarer Eigenschaften angenommen werden. Wiedergeburt »drückt den Anfang eines zusammenhängenden Lebens« aus. (GL 2, 152) Der Wechsel vom Gesamtzusammenhang der Sünde in die Lebensgemeinschaft mit Christus ist nicht insulär oder sprunghaft, er ist stetig: »(…) daß die Äußerungen des neuen Lebens auch erfahrungsmäßig immer stetiger werden und hiedurch auch die Zuversicht zur Fortdauer dieser Lebensvereinigung mit Christo mehr und mehr ins wahrnehmbare Selbstbewußtsein treten muß (…).« Die rechtfertigende göttliche Gnade ist unverlierbar und vollkommen zuverlässig. (GL 2, 194) Das theologische Problem ist hier die Übertribunalisierung des Subjekts als Ort der Gewissheitserkundung.28 Das neuzeitliche Bedürfnis nach Stetigkeit und 26 F.D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von R. Otto, Göttingen 82002, 163. 27 Vgl. Kap. I.3 und II.1 im vorliegenden Band. 28 Vgl. die pointierte Kritik: »Erlösung wird zur Frage des Bewußtseins der Erlösung (und nicht des neuen erlösten Seins) uminterpretiert.« E. Dirscherl, Der Heilige Geist und das menschliche Bewußtsein. Eine theologiegeschichtlich-systematische Untersuchung, Würzburg 1989, 649.
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Fortschritt wandert, ohne eigens thematisiert zu werden, in Schleiermachers Konzeption ein. Auch die neuzeitliche Idee, Gewissheit ruhe überprüfbar im Subjekt, wandert in sein Konzept ein. Und damit setzt er sich der Aporie aus, die die säkulare Rede vom neuen Menschen bereits zu spüren bekam: Was bei Rückschlägen? Was, wenn sich die Erfahrung nicht einstellen will? Das ist eine Überladung und Überforderung der Innerlichkeit. Sie bekommt gleichsam zu viel aufgehalst, indem es Garant von Stetigkeit, Fortschritt und Gewissheit sein soll. Lösungsansätze gehen in die Richtung des großen alternativen Personkonzepts. Es versteht Person wesentlich als einen Vorgang der Anerkennung: Personen sprechen einander das Personsein zu. Wenn das gilt, dann rückt die Gewissheitsfrage von der Introspektion weg auf die externe Instanz, die das Gerechtsein zuspricht. Theologisch sind wir dann bei der reformatorischen Betonung der Äußerlichkeit des Wortes und der Imputation der iustita aliena. Schleiermacher ist darin Recht zu geben, dass er auf einem ›Ankommen‹ der Gerechtigkeit beim Menschen besteht. Er formuliert dies aber gänzlich im Rahmen eines neuzeitlichen Subjektbegriffs und kann sich die Probleme der Übertribunalisierung der Introspektion des Subjekts nicht mehr vom Leibe halten. (f) Deklaratorisches und schöpferisches Handeln Gottes. Schleiermacher unterscheidet, wie gesehen, die Vorstellung scharf vom schöpferisch-wirksamen Handeln Gottes von der Vorstellung vom deklaratorischen Handeln Gottes. An dieser Gegenüberstellung ist mehreres fragwürdig. Warum, um mit der Gegenüberstellung selbst zu beginnen, sollen Deklaration einerseits und schöpferisches Handeln andererseits denn gegensätzlich sein? Das gilt nur, wenn der Akt der Deklaration exakt nicht schöpferisch und schöpferisches Handeln exakt so wäre, dass es kein Momentum des etwas-zu etwas-Erklärens enthielte. Dem ist aber mit dem Inventar reformatorischer Theologie zu widersprechen. Schleiermacher scheint der Gedanke, ein Wort des Zuspruchs sei in sich schöpferisch, völlig fern zu liegen. Aber es gilt doch: Zuspruch ist er als Wort und als Anrede schöpferisch. Zuspruch ist verändernd. Zuspruch formt, ruft heraus, bewegt. Zuspruch ist es, der Lebensform neu ausrichtet. Das beginnt bei der Nennung des Namens, die in eigentümlicher Weise herausruft und Macht über den so Gerufenen ausübt und es geht über in die vielerlei Formen der Anrede, die den oder die Angesprochene(n) aufhorchen lassen, aus dem Gewöhnlichen herausnehmen und so mit und bei ihr/ihm Wirklichkeit setzen. Die ordinary language philosophy fasste diesen Aspekt in den Terminus performativen Sprechens.29 Es lässt sich leicht 29 J.L. Austin, How to Do Things With Words, Reprint Oxford 1992, 1–11.53–93. Die wichtigste Weiterarbeit ist J.R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt/M. 1971.
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zeigen, dass dies mit Grundannahmen der reformatorischen Wort-GottesTheologie übereinstimmt. Luthers programmatischer Satz dazu ist: »Sermo enim Dei uenit mutaturus (et) innouaturus orbem, quoties uenit.«30 Wort-GottesTheologie in gegenwärtiger Verantwortung nimmt dies auf und spricht vom Ereignischarakter des Wortes Gottes.31 Für diesen Sachzusammenhang scheint Schleiermacher kein Gespür gehabt zu haben. Er zeigt aber, wie fraglich sein ausschließender Dual tatsächlich ist. Dazu kommt, dass auch ein zweites Kritikmomentum, das er dem ›Deklaratorischen‹ gegenüber hat, nicht recht verständlich ist. Er hält es, wie ebenfalls berichtet, für im Gegensatz zu Gottes Stetigkeit stehend. Das freilich ist ein eigentümlich atomistisches Verständnis von Deklaration, das einen zentral wichtigen biblischtheologischen Aspekt unterschlägt, nämlich den von Gottes Treue. Das Konzept des externen Zuspruchs ist mitnichten kontingent und willkürlich, wie Schleiermacher annimmt. Denn biblisch gesehen gehören Zuspruch und Verheißung geradewegs zusammen. Die Rede von der Verheißung ist geradezu die von der Verlässlichkeit Gottes. – Diese Bestimmung passt, das am Rande vermerkt, gut zu Schleiermachers Festellung aus dem Herzen der Gotteslehre, Gott sei wesentlich als tätig zu denken: Wenn Gottes Wort wirklichkeitssetzendes Ereignis ist, wie es hier verstanden wurde, dann passt das bestens zu dieser Bestimmung und schließt sie entgegen Schleiermachers eigener Meinung gerade nicht aus. (g) Das eschatologische Moment im Personbegriff. Friedrich Schleiermachers Missverständnis in Sachen des deklaratorischen Moments zeigt sich auch noch an einer anderen, für ein theologisches Konzept der Person wichtigen Stelle, beim Zusammenhang von Deklaration und Verheißung. Wenn Neuwerden ein Neuwerden auf Zusage hin ist, dann ist mitgesetzt: Wer da neu genannt wird, ist es noch nicht von sich aus. Hier steht noch etwas aus, hier ist noch auf Zukunft hin gebaut, hier ist noch Geheimnis und Unfertigkeit. Es ist wohl nicht übertrieben, das das eschatologische Moment der Rede vom Neuen Menschen und von der Wiedergeburt zu nennen. Ernst Bloch, sonst in vielem ein problematischer Zeitgenosse des Christentums, hat es auf folgende prägnante Formel gebracht: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.«32 Das aufgedeckte Antlitz, das Paulus erwartet, ist eben noch nicht erreicht.33
30 WA 18, 626 (aus De servo arbitrio). 31 So z. B. U. H.J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001, 328. 32 E. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Werkausgabe Band 13, Frankfurt/M. 1985, 13. 33 E. Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Reinbek 1970, 17.
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Für diesen Aspekt scheint Schleiermacher kein Sensorium zu haben. Seine Kurzdefinition der Person als Einheit des Ich in aufeinander folgenden Momenten blickt gleichsam nur zurück, aber nicht nach vorn. Es stellt fest, dass eine Person da ist, in einer Kette so und so bestimmbarer Eigenschaften und Ereignisse. Aber dass Personidentität auch das Momentum des Noch-Nicht hat, gerät dabei außer Blick. Schleiermacher konzentriert sich auf präsentische Eschatologie, auf das unverrechenbare Wunder, dass Gott mit der Welt zu tun hat und wirksam in ihr präsent ist. Das aber geht am Aspekt des Futurum heraus. Darauf hat in hilfreicher Weise Christof Gestrich verwiesen. In seiner Studie zum Seelenbegriff zeigt er in luzider Weise, wie die Rede von der Identität des (Christen-)Menschen mit der von der Hoffnung der Christen verbunden ist. Entscheidend ist der Gedanke, dass Identität wesentlich Identitätsverlangen ist: Menschen streben nach Integrität und nach Identität mit sich selbst. In diesem Streben kommen die vielfältigen Bezüge auf sich selbst und auf Mitwelt und Mitmenschen zusammen. Dies Streben aber wird unausweichlich durch den Eintritt des Todes abgebrochen und ist deswegen ein Streben auf Hoffnung hin. Als Person sind Menschen je unfertig und deswegen ist die Rede von Person auf die Hoffnung auf künftige Vollendung hin angelegt.34 Charakteristisch anders als sein früherer Berliner Kollege sieht Gestrich denn auch die Rolle der Christologie. Für Schleiermacher ist Christus derjenige Ereigniszusammenhang, in dem Gott wirksam an der Welt handelte und durch den hindurch diese Wirksamkeit weitergeht. Gestrich greift zum Theologumenon der Stellvertretung: Christus vertritt die unfertige Person. Er ist ihr Vorgriff auf das, was sie noch nicht ist, aber sein wird und sein soll. Er vertritt bei ihr ihr künftiges Selbst.35 Man könnte sagen: Schleiermachers Christologie und entsprechend seine Personkonzeption sind protologisch gedacht und ganz von Gottes Schöpferhandeln her entworfen: »Von dem Lebenszusammenhang des neuen Lebens her ist die gesamte Wirksamkeit Christi als Fortsetzung der schöpferischen göttlichen Tätigkeit in ihm zu verstehen.«36 Christus ist die erste vollständige Person und so der Ausgangspunkt unserer Personwerdung im Sinne eines Beginns und Garanten der Kontinuität. Gestrich entwirft dagegen die Christologie von Gottes endzeitlichem und vollendendem Tun her: Christus vertritt die Menschen als der/die, der/die sie noch nicht sind und sucht sie für das zu gewinnen, was sie werden sollen. Dieser Streit ist hier nicht zu entscheiden. Es sollte mit dem Hinweis auf die so weit divergierende Position aber deutlich geworden sein: Eine Christologie, die wie Schleiermachers von der Schöpfungs34 C. Gestrich, Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen. Evangelische Eschatologie vor der Erneuerung, Frankfurt/M. 2009, 22.154.181 u. ö. 35 Gestrich, Seele 102–105.217. 36 Weymann, Lebensvollzug 155.
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theologie her entworfen wurde, ist offenbar zumindest darin nachteilig, dass sie das eschatologische Momentum des Personseins und Personwerdens nicht in den Blick bekommt.
Noch einmal: Schleiermachers kirchliche Dogmatik Den Beginn machte der Hinweis Schleiermachers selbst, dass die Christologie die Mitte seiner Theologie ausmache. Deswegen wurde die Erkundung seines Personkonzepts in der Glaubenslehre auch bewusst in der materialen Christologie selbst und nicht allein in der Selbstbewusstseinstheorie angesetzt. Es zeigte sich ein in Absetzung von der chalcedonensischen Tradition gewonnenes Personkonzept, das das Personsein Christi mit seiner Menschwerdung beginnen lässt und das zu einem niederschwelligen Personbegriff von der Ich–Identität in Abfolge verschiedener Zustände kompatibel ist. Eminent theologisch wird dies Personverständnis durch Schleiermachers Bemerkung, Gottes Handeln sei personbildend. Deswegen war der Überschritt zu seiner Theologie der Wiedergeburt und des Neuen Menschen folgerichtig: Gottes schöpferisches Handeln durch Christus ist von der Art, dass es das Gesamtleben im gehemmten Gottesbewusstsein durchbricht und die Menschen in den Lebenszusammenhang mit Christus überführt. Dieser gewisse und unverlierbare Prozess ist das fortgesetzte Werk der Schöpfung. Im Blick auf das Ganze zunächst zu derjenigen Tradition von Persontheorien, in der Schleiermacher mit seinen Ausführungen zu stehen kommt. Es ist diejenige, die Person als eine Entität besonderer Art sieht. Der Pate dieses Denkens ist Boethius. Boethius sagte, dass sie die individuelle Substanz einer rationalen Natur sei.37 Über Jahrhunderte hinweg suchte man in kritischem Anschluss an diese Definition nach in spezifischer Weise ausgestatteten Substanzen, die sich durch Merkmale von allen anderen Substanzen in der Welt unterscheiden. Zugleich wurde immer mitgedacht, dass jede dieser Substanzen unvertretbar individuell ist, also nicht einfach nur als Exemplar einer Gattung beschrieben werden kann. Diese beiden Eigenschaften – bestimmte Merkmale, unvertretbar individuell – kommen auch dort wieder zum Vorschein, wo der Substanzbegriff aus der Mode kommt oder sogar scharf kritisiert wird. Ab der Wende zur Neuzeit wird der Personbegriff vor allem im Paradigma von Bewusstsein oder Selbstbewusstsein beschrieben. Der Hinweis auf John Locke wurde schon gegeben und dass Schleiermacher in dieser spezifisch neuzeitlichen Tradition des Personbegriffs steht, dürfte ohne weiteres einleuchten. 37 Boethius, Contra Eutychem et Nestorium III, Z. 1–5, in: Die Theologischen Traktate, übers. und eingel. von M. Elsässer, Hamburg 1988, 74/75.
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Besonders vermöge seiner Kritik am von ihm so genannten Deklaratorischen hält er sich die andere große Tradition des Personbegriffs vom Leibe. In ihr geht es vor allem darum, dass Personen Träger von Würde sind, dass sie Achtung verdienen und nicht verzweckt werden dürfen, und dass sie als freie und wählende Subjekte für ihre Handlungen und Unterlassungen verantwortlich sind. Das ist in direkter Weise mit der Denkfigur der Anerkennung verbunden: Personsein ist etwas, das Personen einander wechselseitig zuerkennen. Personsein zeigt sich in Interaktion, sie entspringt jedoch nicht aus einem Klassifizierungsvorgang und ist damit wesentlich praktisch. Vertreter dieses Ansatzes sagen, dass es schon möglich ist, auf eine Art Gegenstand namens Person zu rekurrieren. Wer aber meint, sie in der theoretischen Philosophie kohärent zu erfassen, der irrt: Person ist durch Interaktion, Anerkennung, Zusprechung allererst konstituiert und es gilt, die eigentümliche Ontologie dieses ens morale zu erfassen. Man kann schon auf Merkmale oder Eigenschaften der Person rekurrieren, man muss es sogar. Alles verdirbt aber, wenn Person mit einem Eigenschaftsbündel identifiziert wird. Die bei Schleiermacher aufzuzeigenden Schwierigkeiten lassen es geraten sein, diese Tradition des Personbegriffs für eine umfassende theologische Theorie der Person mindestens mit heranzuziehen. An einem weiteren Punkt ist Schleiermachers Theologie der Person Stichwortgeberin ohne den Umweg über kritische Rezeption. Wie berichtet hat er keinerlei Scheu, von der Veränderung des (Christen-)Menschen durch Gottes Wirksamkeit zu sprechen. Diesen in seiner Rede von der Wiedergeburt und vom Neuen Menschen ausformulierten Zug könnte man Schleiermachers realistische Theologie nennen: Es ist so, dass von Gott her Menschen tatsächlich verändert werden. Evangelische, zumal lutherische Theologie tut nicht gut daran, sich mit raschen Formeln, etwa mit der vom simul iustus ac peccator zu rasch darüber zu beruhigen.38 Wenn es denn wahr ist, dass Gott in die Welt kommt, um sie zu verändern und zu heilen, dann gehört zur Theologie das Risiko, die Veränderung beschreiben und verstehen zu lernen. Dies Risiko ist Schleiermacher bewusst und konsequent eingegangen und er hat dafür mit der Metapher Wiedergeburt ein zu Unrecht vernachlässigtes biblisches Theologumenon wieder zu Ehren gebracht.39 Der Umstand, dass die Schleiermacherforschung ausgerechnet an diesem Punkt eher schweigsam als beredt ist, muss durchaus zu denken geben.40 Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Schleiermachers Motiv, eine realistische Theologie zu betreiben, ins ökumenische Gespräch führt. Nicht zufällig bediente er sich mancher Begriffe – etwa des der vorlaufenden Gnade Gottes –, die ihren Ursprung in der hochscholastischen Theologie haben. An Rückkehr38 WA 39 I,523.542.507.563f; WA 56,272; WA 57,165. 39 Einige Verstehensversuche in: Wiedergeburt, hg. von R. Feldmeier, Göttingen 2005. 40 Unter die wenigen Ausnahmen zählt Weymann, Lebensvollzug 156–167.
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ökumene ist hier nicht ansatzweise gedacht, wohl aber daran, das sich gnadenhaft verändernde Leben der Christinnen und Christinnen als solches benennen zu können und beschreiben zu lernen.41 Schleiermachers Selbsteinschätzung, die Christologie sei die Mitte seiner Theologie, war hier zur Überprüfung gestellt und dürfte, wenn Vorstehendes halbwegs einleuchten kann, als bewährt gelten. Daraus folgt für die Schleiermacher-Rezeption, dass weder ›Freund‹ noch ›Feind‹ ihn auf den neuzeitkompatiblen Apologeten reduzieren dürfen, als der er von beiden Seiten gern gelesen wird. Wer mit den Reden über die Religion beginnt, entdeckt zu Recht erst den Apologeten und kann geneigt sein, die Glaubenslehre als Erweiterung dazu zu lesen, die bei identischem Motiv gleichsam kirchenkompatible Appendices hinzunimmt. Vom hier Erarbeiteten her legt sich die Lektüre in umgekehrter Reihenfolge nahe: Die Christologie ist das Sachzentrum, wer hier beginnt, wird auch die Reden nicht nur von der Religionsdefinition in der 2. Rede her verstehen, sondern ins Zentrum rücken können: »Ich will euch gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist, hinführen.«42
2.
Widerspruch und Anknüpfung zugleich. Karl Barth über die Person und ihr Neuwerden
Merkposten zur Anthropologie in der Schöpfungslehre Karl Barths Rede vom Menschen innerhalb der Schöpfungslehre der Kirchlichen Dogmatik ist ein Musterbeispiel seiner Rede von der analogia fidei, sie setzt ferner eine Reihe interessanter inhaltlicher Aspekte und ist schließlich in provokanter Weise unfertig: Personen sind nicht einfach, indem sie da sind, weil sie werden können, wozu Gott sie ruft. Zu allen drei Aspekten in einiger Kürze, da die Bestimmungen aus KD III/2 wohl zum Bekannteren aus Barths Hauptwerk gehören dürften. Anthropologie, christologisch begründet Eingangs von § 44 der Kirchlichen Dogmatik, »Der Mensch als Gottes Geschöpf« heißt es: »Der Verzicht auf eine direkte Beantwortung der anthropologischen Frage und also die christologische Begründung der Anthropologie muß schon 41 Vgl. M. Hailer, Das Subjekt und die Atmosphären, durch die es ist. Ein religionsphilosophischer Versuch, Basler Theologische Zeitschrift 60 (2004), 165–183. 42 Schleiermacher, Religion 163.
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hier in Kraft stehen.«43 Dieser Satz streitet gegen das, was man eine inventaristische Anthropologie nennen könnte, also gegen eine, die das Menschsein des Menschen durch die Aufzählung von Eigenschaften in den Griff zu bekommen meint. Die dogmatische Tradition hatte hier z. B. Geschöpflichkeit, Vernunft, Ebenbildlichkeit, Sprachvermögen und auch das Thema der Seele im Blick, wobei es mit Letzterem um den Unterschied Mensch-Tier ging und um die Frage, ob so etwas wie die Fortexistenz der Seele gedacht werden könne. Diese Tradition hat ein direktes Äquivalent in den kriteriologischen Personbegriffen aus der Philosophie, die die Vergabe des Prädikats ›ist eine Person‹ an das Vorliegen von bestimmten Eigenschaften binden, etwa Vernunft, Selbstbewusstsein oder Kommunikationsfähigkeit (vgl. unten II.1). Barths Behauptung, diese »direkte Beantwortung der anthropologischen Frage« müsse unterlassen werden, bricht demnach mit einer durchaus gut eingeführten und respektablen Tradition. Der Gegenzug funktioniert, im Umriss, so: In einem jeweils vorgeschalteten Erwägungsgang wird gefragt: »Wer ist Jesus? Was ist sein menschliches Wesen?« (KD III/2, 65) Daran schließt sich dann die anthropologische Erwägung an: Wenn Menschen per analogiam fidei zu Christus gehören dürfen, wie finden sie sich dann geprägt, gerufen, gestaltet vor, wenn sie zu Christus gehören dürfen, dessen Menschsein so oder so ausgesagt werden kann? Hier, in diesem Beziehungsgeflecht, zeigt sich allererst, was das Menschsein des Menschen ist. Neben der erwähnten Ablehnung einer inventaristischen Anthropologie und ihrer kriteriengeleiteten Frage nach dem Humanum ist in diesem Ansatz eine zweite fundamentale Abwendung erkennbar: Was über Menschen auszusagen ist, wird eben nicht im Blick auf Menschen selbst ausgesagt. In der ersten Person Plural: Die Wahrheit über uns ist nicht im Blick auf uns selbst zu erfahren.44 Erst der Blick von außen und erst der Ruf zu dem, was Menschen coram Deo sein können und sein dürfen, enthält die Wahrheit des Menschen über sich. Eine christologisch begründete Anthropologie ist also nicht nur nicht inventaristisch angelegt, sie sieht darüber hinaus Proprium und Telos der Person exzentrisch, nämlich im Gottesbezug. Damit knüpft Barth direkt an eine reformatorische Vorstellung von der Person an: Auch bei Luther wird die Person entscheidend durch das charakterisiert, was sie vor Gott sein kann und was Gott aus ihr macht. In der Disputatio de Homine (1536) entwirft Martin Luther seine Sicht des Verhältnisses von philosophischer und theologischer Anthropologie.45 Die philosophische muss dabei in weiterem Sinn als der heutigen Begriffs43 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik III/2, Zürich 31948, 64, Sperrungen im Original hier durchgehend kursiv. Nachweise in diesem Kapitel im Text aus der KD unter Angabe von Band und Teilband. 44 Vgl. W. Krötke, The humanity of the human person in Karl Barth’s anthropology, in: The Cambridge Companion to Karl Barth, ed. by J. Webster, Cambridge 2000, 159–176, 159f. 45 WA 39/1, 175–177. Nachweise in dieser Petit-Passage meinen die Thesennummern.
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verwendung verstanden werden, sie bezieht das erreichbare Wissen über den Menschen auch aus anderen nichttheologischen Disziplinen ein, etwa Medizin und Jurisprudenz. In den Eingangsthesen wird dies konventionelle Wissen – u. a. die leibseelische Verfasstheit des Menschen und sein Unterschied zu nichtmenschlichem Leben – kurz charakterisiert und mit dem Herrschaftsauftrag gemäß Gen 1,28 in Verbindung gebracht (Th. 7). Es ist also mitnichten so, wie manche Ausleger entweder fürchten oder aber feiern, dass philosophische bzw. allgemeinwissenschaftliche Anthropologie für Luther sinnlos erschiene. Freilich ist sie je nur perspektivisch: Der Blick auf den Menschen aus dieser Sicht ist gültig und sinnvoll, freilich nicht umfassend, genauso, wie der Blick auf den Menschen aus Sicht des ersten Schöpfungsberichts gültig ist, jedoch nicht alles sagt, was von ihm zu sagen wäre. Wer sich allein darauf beschränkte und also die Perspektivität dieses Wissens vergäße, wüsste »paene nihil«, fast nichts über den Menschen (Th. 11). Luther entwickelt daraufhin die materiale theologische Anthropologie von der Rede von der Sünde und vom Christusereignis her (Th. 21–23 u. ö.). Die Implikation ist: Erst unter Einbezug dieser Perspektive kommt die Wahrheit des Menschen zur Sprache – nicht durch sie allein, aber ganz gewiss nicht ohne sie. Luthers Lösungsskizze ist deshalb auch keine Abwendung von ›allgemeiner‹ Anthropologie, was sich schon daran zeigt, dass er gerade in den materialdogmatischen Passagen der Disputation auf die in ihr verwandte Terminologie zurückgreift – wenn auch in interessanter Brechung: »Quare homo huius vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam.« (Th. 35) In der Disputatio de homine wird das Verhältnis von Weltwissen und theologischem Wissen nicht weiter thematisiert. Man wird Absicht unterstellen dürfen, dass sie es bei der Denkaufgabe des Neben-, Mit- und Gegeneinander belässt.46 Die Parallele zu Barths Vorgehen ist mehr als nur oberflächlich: Dass erst im Rahmen der Christusoffenbarung zureichend Anthropologie getrieben werden könne, eint beide: Schöpfung, als Bereitstellung des Ist-Zustandes und Beschreibung seines Inventars verstanden, wäre also deutlich unterkomplex, wenn nicht völlig falsch. Ebenfalls parallel mit der christologischen Zentrierung einher geht die eschatologische Ausrichtung der Anthropologie: Gottes in Christus Wirklichkeit gewordene Geschichte mit den Menschen ist eben noch nicht vorbei, sondern holt die Menschen zu sich herein. Die zitierte These 35 lässt hier an Deutlichkeit wohl kaum zu wünschen übrig. Die Logik ist bei Barth in KD § 44 angelegt und wird, wie im nächsten Abschnitt zu berichten sein wird, im Rahmen seiner Rede von der Wiedergeburt aufgenommen und zur Frage
46 Fraglich ist es deshalb, ob es gelingen kann, diese Anlage der Anthropologie in ein erkenntnistheoretisches Stufenprogramm zu überführen, wie Eilert Herms dies unter Rückgriff auf die Rede von den drei Lichtern am Ende von De servo arbitrio tut, vgl. E. Herms, Mensch, in: Luther-Handbuch, hg. von A. Beutel, Tübingen 22010, 392–403, bes. 402f. Sicher aber zeichnet sich in Luthers Disputationsthesen ein Vorgriff auf eine heute oft diskutierte Frage ab, nämlich auf die, ob es gute Gründe für die Behauptung mancher Naturwissenschaftler vor allem aus der Neurobiologie gibt, nur ihre wissenschaftliche Perspektive produziere wahrheitsfähige Sätze über den Menschen. Zu Luthers Zeit dachte wohl niemand vergleichbar methodenmonistisch. Entsprechend zurückhaltend kann aber mit den heutzutage lautstark erhobenen Forderungen umgegangen werden. Von nichttheologischer Seite hat sich dazu trefflich geäußert Th. Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2016.
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weiterentwickelt, wie ein Zusammen- oder doch Parallelwirken von Gott und Mensch gedacht werden kann.
Die christologische und damit exzentrische Begründung zeigt sich noch in einem weiteren definitionsähnlichen Argumentationszug zu Beginn von Barths Anthropologie: Er beschreibt im Leitsatz zu § 44 das Sein des Menschen ausdrücklich als »Geschichte«, genauer als »die Geschichte, in welcher eines von Gottes Geschöpfen von Gott erwählt und aufgerufen, in seiner Selbstverantwortung vor ihm begriffen ist und in welcher er sich dazu als befähigt erweist.« (KD III/2, 64, i.O.herv.) Ein Wesen, das Geschichte nicht nur hat, sondern dessen Sein Geschichte ist, kann evidentermaßen nicht als in sich ruhende Subsistenz gedacht werden, sondern ist Teil von etwas, was nicht aus ihm allein besteht. Den Begriff ›Geschichte‹ fasst Barth als Opposition zum Terminus ›Zustand‹: Zustände, so schreibt er, können durchaus verändert, entfaltet und bewegt sein, sie sind mitnichten nur als Starres und Gleichförmiges zu denken. »Wohl aber gehört zum Zustand die Vorstellung der grundsätzlichen Geschlossenheit dessen, was sich in dem betreffenden Zustand befindet, die Vorstellung der Begrenztheit seiner Möglichkeiten und also auch seiner Veränderungen und Verhaltensweisen. Er ist je dieser und nur dieser Bewegung fähig. Auch der Begriff des in sich bewegtesten Zustandes erreicht darum noch nicht den Begriff der Geschichte.« (KD III/2, 188) Kann man der Anthropologie der Kirchlichen Dogmatik eine Ontologie zusprechen – eine Frage eigenen Ranges, die hier nicht zu entscheiden ist –, dann offenbar eine, deren Verheißungs- und Zumutungspotential mit dem Unterschied von Zustand und Geschichte zu tun hat: Deo volente wird aus und geschieht mit Menschen mehr, als sie aus der Reflexion aus sich selbst als Zustände zu schließen in der Lage sind.
Inhaltlicher Überblick Den hauptsächlichen Stoff seiner Anthropologie gliedert Barth in drei Hinsichten: (1) Mensch als Mitmensch, (2) Mensch als Leib und Seele, (3) Mensch in Zeit und Hoffnung. Den entsprechenden Paragraphen geht jeweils eine christologische Reflexion voran, auf die – das ist dann der Testfall der analogia fidei – die Beschreibung eines Menschseins folgt, zu dem Christi jeweils beschriebenes Sein verlockt und herausruft. Ad (1), zur Bestimmung des Menschen als Mitmensch. Barth interpretiert Jesus als Ich, das von und für das Du lebt. Das gilt in der hohen Christologie, also innertrinitarisch, es gilt aber genauso für den irdischen Jesus. Er ist »der Mensch für Gott« und genau deshalb »der Mensch für den Menschen, für den und für die anderen Menschen, für den und für die Mitmenschen.« (KD III/2, 248) Das denkt Barth nicht ›nur‹ als Zugewandtheit, sondern als sich-Bestimmenlassen vom
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anderen her: »Er [Jesus, M.H.] ist nicht aus sich selbst. Er ist nicht in irgend einer originalen Menschlichkeit, in der er vermöge ihrer göttlichen Bestimmung vielleicht ein viel herrlicherer Mensch sein könnte. Nein, die Herrlichkeit seiner Humanität ist nun eben gerade diese: so ganz vom Mitmenschen, von seinem Stand und Schicksal, von seiner Niedrigkeit (…) beansprucht und beschlagnahmt zu sein (…) dieses Ich ist ganz vom Du her«. (KD III/2, 256) Im so – hier bleiben einige Bestimmungen außen vor – umrissenen Sein Jesu zeigt sich, dass er »in seinem Sein für den Menschen das innere Sein, das Wesen Gottes selbst wiederholt und nachbildet«. (KD III/2, 261) Jesu Humanität ist nichts anders als imago Dei. (ebd.) Nach dieser hohen Rede muss die Grenze der analogia fidei beachtet werden. Des Menschen, der nicht nicht mit Jesus identisch ist, also jedes anderen Menschen »letzte und höchste Bestimmung« ist, Bild dieses Gottes zu sein. (KD III/2, 265) Die hier fällige Analogie bestimmt Barth am Begriff der Humanität und schlägt vor: »Humanität schlechthin, die Humanität jedes Menschen besteht in der Bestimmtheit seines Seins als Zusammensein mit dem anderen Menschen.« (KD III/2, 290) Diese Definition – KD-typisch ausführlich und nicht ohne Redundanzen auf den folgenden Seiten entfaltet – ist insofern von Gewicht, als sie mit der für die Neuzeit typischen Definition per Selbstbewusstsein bricht: Humanität ist das Zusammensein mit anderen und eben nicht eine dem vorgelagerte Selbstkenntnis oder Selbstahnung. Damit kommt Barth der dialogischen Tradition nahe, wie sie etwa prominent von Martin Buber vertreten wurde und zeiht die verbreitete theologische Denkfigur, Glaube als etwas Subjektives zu bestimmen, der Reduktion. Barth hat diese Nähe zum Dialogismus gesehen und überdies diskutiert. In einem Vorentwurf zur Anthropologie der KD findet sich ein kenntnisreicher, ja: glänzender Exkurs zu Martin Buber, der in der gedruckten KD jedoch fehlt.47 Das Verhältnis der beiden ist bereits mehrfach im Rahmen von Monographien erörtert worden.48 Dabei bleibt bedauerlich, dass Barth offenbar monolithischer verstanden werden wollte, als er war und m. E. sein musste. Die Anknüpfungen zum hier in Kap. II.1 und II.2 zu Sagenden sind doch offenkundig genug.
Die Teildefinitionen heißen, hier nur summarisch genannt: (a) »Ich bin, indem Du bist«, (b) »daß man miteinander redet, aufeinander hört«, (c) »daß man 47 Vgl. K. Barth, Unveröffentlichte Texte zur kirchlichen Dogmatik. Karl-Barth-Gesamtausgabe Bd. 50, hg. von H. Stoevesandt und M. Trowitzsch, Zürich 2014, 359–381. 48 D. Becker, Karl Barth und Martin Buber – Denker in dialogischer Nachbarschaft? Zur Bedeutung Martin Bubers für die Anthropologie Karl Barths, Göttingen 1986; E. Brinkschmidt, Martin Buber und Karl Barth. Theologie zwischen Dialogik und Dialektik, Neukirchen-Vluyn 2000. Überblick und weiteres zur Rezeption bei H.-C. Askani, Karl Barth und Martin Buber, in: in: Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, hg. von M. Leiner und M. Trowitzsch, Göttingen 2008, 239–259.
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einander in der Tat seines Seins gegenseitig Beistand leistet« und, (d) »daß es hinüber und herüber gerne geschieht«. (KD III/2, 296.302. 312.318) Zu ergänzen ist, dass Barth dies zu einer Diskussion der Geschlechterrollen weiterführt, die sich sowohl der exegetischen Verstehenshärte einschlägiger Schriftstellen mit patriarchalem Hintergrund aussetzt als auch nicht ohne Rollenklischees betreffs Mann und Frau auskommt. (KD III/2, 344–384) Eine kritische Lektüre hat hier den dialogischen Ansatz gegen Elemente der eigenen Durchführung in Anschlag zu bringen.49 Damit, ad (2) zu Barths Ausführungen über Leib und Seele als menschliches Integral. Es geht, methodisch ganz gleichsinnig, über eine christologische Reflexion in die materiale Anthropologie. Barths Formulierung ist hier: Der Mensch ist »die Seele seines Leibes – beides ganz und zugleich: in unaufhebbarer Verschiedenheit, in untrennbarer Einheit, in unzerstörbarer Ordnung.« (KD III/2, 391, i.O.herv.) Das klingt zunächst einmal ›korrekt‹, so als müsse eine theologische Anthropologie im 20. Jahrhundert wohl den Begriff der Seele verwenden, ihn aber gegen die in der Tat kritikablen Traditionen der christlichen Leibfeindschaft samt korrespondierender Seelenentweltlichungen in Schutz nehmen: Ganzheitlichkeit als auch theologisches Gebot der Stunde. Jenseits eilfertiger Klischees ist das auch zweifellos so. Barth stellt fest, dass Menschen anders als in der »sichtbaren, äußerlichen, irdischen Körperwelt« nicht gedacht werden können und dass die Seele das Leben dieses Leibes ist: »Leib wäre nicht Leib, wenn er nicht beseelt wäre.« (KD III/2, 420.421) So weit, so recht. Seine, wenn man so will, Seelenlehre setzt aber zwei andere Pointen: Zum einen versteht Barth die Seele als Ordnungsprinzip des Leibes. Für ihn gilt die »Formel vom Primat der Seele« und es ist exakt sie, die den Menschen zum Vernunftwesen macht. (KD III/2, 502) Man kann durchaus fragen, ob Barth sich hier von Friedrich Nietzsche und von Sigmund Freud her mehr hätte sagen lassen sollen. Die theologische Pointe jedoch ist deutlich: Weil die Seele den Leib regiert, ist der Mensch von Gott ansprechbar. Weil die Seele aber den Leib regiert, ist die adäquate Reaktion 49 Es ist darüber hinaus verschiedentlich gesehen worden, dass Barth zwar konsequent in Figuren von Ich und Du denkt, nicht aber darüber hinaus die Sozialgestalt menschlichen Lebens berücksichtigt, vgl. Th. Waap, Gottebenbildlichkeit und Identität. Zum Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft bei Karl Barth und Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2008, 316. Gut möglich, dass eine pneumatologische Ergänzung, wie Waap sie 318–321 einfordert, dies leisten könnte. Die Forderung hätte allerdings mit Barths späten Skizzen zur Pneumatologie gegengelesen werden sollen, also etwa mit den Fragmenten zur Ethik der Versöhnungslehre (K. Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4. Fragmente aus dem Nachlaß. Vorlesungen 1959–1961, hg. von H.-A. Drewes und E. Jüngel, Zürich 1975) und mit der aufschlussreichen Selbstkorrektur in ders., Nachwort, in: Schleirmacher-Auswahl, hg. von H. Bolli, München/Hamburg 1968, 290–312, bes. 310–312. Mehr bei G. Obst, Veni Creator Spiritus. Die Bitte um den Heiligen Geist als Einführung in die Theologie Karl Barths, Gütersloh 1998.
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darauf nie nur eine seelische! Die Seelenkonzeption, durchaus bestreitbar in ihrer hierarchischen Struktur, kommt theologisch exakt auf eine Kritik der Innerlichkeit heraus. (KD III/2, 509 u. ö.) Im Rahmen einer Personkonzeption, die Selbstbewusstseinstheorien als Basis eben ablehnt und vielmehr dialogisch angelegt ist, ist das ein konsequenter Schritt. Barths zweite Pointe ist mit seiner Konzeption von Geist gesetzt, ohne die sein Verständnis des leibseelischen Menschen direkt in die Irre laufen müsste. Seine Definition lautet: »Der Mensch ist, indem er Geist hat. Daß er Geist hat, bedeutet aber: daß er als Seele seines Leibes von Gott begründet, konstituiert und erhalten wird.« (KD III/2, 414) Barth greift also die klassische Trichotomie Geist-SeeleLeib auf. Hier wie öfter ist das aber keine Traditionalismus und schon gar keine ›neo-Orthodoxie‹ – so eine in der englischsprachigen Debatte nicht wenig verbreitete Fehleinschätzung seines Werks –, vielmehr wird Barths Umgang mit klassischen Begriffen und Themen immer erst dann interessant, wenn man sich seinen Verwendungszusammenhang ansieht. Hier geht Barth zunächst doch klassische Wege, indem er unter Berufung auf den Geist Gottes als Bedingung leibseelischen Lebens feststellt, dass der Mensch eben nicht Gott ist und nicht aus sich selbst konstituiert. Menschen sind wesentlich von Gott her und streifen dies im Lauf ihres Lebens auch nicht – etwa als Mündigkeitsgewinn – ab. Die Vision von der Selbsterschaffung des Menschen ist und bleibt demgegenüber eine Horrorvision. So weit, wie gesagt, so klassisch. Auf eine interessante Pointe von Barths Geistbegriff in der Anthropologie hat Wolf Krötke aufmerksam gemacht: Das trichotomische Verständnis Geist (Gottes)-Seele-Leib beschränkt sich nicht auf die Theologumena von Erschaffen und Erhalten, es hat vielmehr »eine eschatologische Dimension«:50 Ohne Geist zu sein, hieße, sterben zu müssen. So aber, wie Gottes Geist des Menschen Hoffnung im Leben ist, so ist er seine Hoffnung auch im Tod, ja über den Tod hinaus. (KD III/2, 419) Die Trichotomie meint also weit mehr als eine Vorhandenheitsontologie. Sie setzt überdies mit, dass die Identität eines Menschen niemals sein Besitz ist und auch vom Menschen her nicht vollendet wird: Gottes Geist gerät nicht in die Verfügung des Menschen, der »Geist wird nicht Seele«.51 Entsprechend gibt es auch keinen endgültigen Selbstbesitz: Weil Geist der Grund der Hoffnung ist, hofft nicht auf sich, wer für sich hofft. Vielmehr: Die Bitte um mich, darf sie denn gewagt werden, ist die Bitte über mich hinaus auf Gottes Geist. Im selben Augenblick ist sie auch nicht mehr die Bitte um das Ich, das ich zu kennen meine, sondern vielmehr um die Identität, die Gott mir zutraut und in die er mich ruft. 50 W. Krötke, Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, Bielefeld 2009, 216. 51 Ebd.
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Ad (3): Dass Menschen zeitlich, in der Zeit leben, ist eine Binsenweisheit. Die theologische Frage ist, wie des Menschen Zeit von der Zeit Jesu her bestimmt ist. Hier heißt die schlicht klingende, aber keineswegs simple Antwort: »Es gibt keinen Gott Chronos.« (KD III/2, 547) Zeit übt also keine – anonyme, personale oder anders bestimmte – Herrschaft über den Menschen aus. Genauer: Was Menschen als Herrschaft der Zeit empfinden, wird von der Zeit Gottes her »durchleuchtet und relativiert«. (ebd.) Barth bestimmt das von Ostern her: Die Osterzeit offenbart das Geheimnis von Jesu Leben und Sterben. In ihr zeigt sich Gott inmitten der anderen Zeiten. Es ist die »Zeit, die er für uns haben wollte, zur Begründung und Aufrichtung, zur Durchführung und Vollendung seines Bundes«. (KD III/2, 546) Jesu vergangene Geschichte ist nicht Vergangenheit. Sie ist vielmehr jetzt präsent und gültig. Von dieser Gegenwart her entscheidet sich, was gültig und was ungültig ist. (KD III/2, 561) Das anthropologische Material sortiert Barth nach den Stichpunkten der gegebenen, befristeten, anfangenden und endenden Zeit. Gegeben ist die Zeit insofern, als sie nicht einfach verrinnt. Ohne die Öffnung der Zeit vom Osterereignis her wäre sie freilich nur dies: verrinnende, untergehende Zeit. In Entsprechung zu Gottes Zukunft dürfen auch Menschen ihre Zukunft in Beziehung zur Ewigkeit Gottes sehen. Das ist nicht ihre Möglichkeit im Sinne eines Besitzes, wohl aber das, was ihnen von Gott her gegeben ist.52 (KD III/2, 660 u. ö.) 52 Man kann hier durchaus eine unausgeführte Auseinandersetzung mit dem Zeitverständnis aus Martin Heideggers erstem Hauptwerk lesen: Das Dasein, das sich nach Heidegger nicht ans wesenlose Man verliert, ist dasjenige, das sich als eigentliches Sein erfährt. Als solches aber ist es sowohl radikal vereinzelt als auch radikal auf den eigenen Tod hinaus. Es versteht den Tod nicht als gegenständliche – in Heideggers Terminologie: zuhandene oder vorhandene – Möglichkeit, wohl aber als »Seinsmöglichkeit des Daseins«. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986, 261. Diese Seinsmöglichkeit besteht aber nun genau darin, eben nicht in falsche Verdinglichungen und in »besorgendes Verfügbarmachen eines Wirklichen« zu geraten. (262) Die »Versteifung auf die je erreichte Existenz« (264) zerbricht vielmehr und die Eigentlichkeit stellt sich im Vorlaufen auf den eigenen Tod ein. – So beeindruckend dieser Gedankengang als radikal säkulares memento mori ist, das Konzept der Eigentlichkeit wird durch radikale Einsamkeit und Inhaltslosigkeit erkauft, in der Tat das strikte Gegenteil dessen, was in Barths Anthropologie angezielt wird. Um einen Wettbewerb, welche Anthropologie nun die optimistischere sei, wird es nicht gehen sollen, zumal er bei der enormen Unterschiedlichkeit der Prämissen kaum aussichtsreich wäre. Es zeigen sich aber doch die Nachteile einer rein immanentistischen Herangehensweise und die Fragwürdigkeit des Eigentlichkeitskonzepts, das Eigentlichkeit undiskutiert an die radikale Vereinzelung bindet. Heideggers Frühwerk ist cartesischer als es zu sein vorgibt und erkauft das Konzept Eigentlichkeit durch inhaltliche Leere. Theodor W. Adornos Sottise meint schon etwas Richtiges: »Heideggers Lehre läuft ungewollt auf eine Exegese des schnöden Witzes ›Umsonst ist der Tod, und der kostet das Leben‹ heraus. Er vergafft sich in den Tod als das vermeintlich dem universalen Tauschverhältnis schlechthin Entzogene; täuscht sich darüber, daß er verflochten bleibt in den gleichen verhängnisvollen Kreislauf wie das Tauschverhältnis, das er zum Man sublimiert. Als das dem Subjekt absolut Fremde ist der Tod Modell aller Verdinglichung.« Th.W. Adorno, Gesammelte Schriften 6, Frankfurt/M. 51996, 514.
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In den Passagen über die befristete Zeit geht es u. a. darum, ob und wie die Befristung der menschlichen Zeit als heilsam und gut erfahren werden kann. Antwort: Befristung ›an sich‹ kann als trosthaltig nicht ausgewiesen werden. Man könnte sich wohl in sie einüben, hätte aber mehr als diese Schickung nicht zu sagen und nicht zu hoffen. Anders stehen die Dinge, wenn Zeit als von Gott befristete Zeit erfahren wird; dann – und nur dann – wird »unsere begrenzte Zeit unsere rechte Zeit« sein. (KD III/2, 684) Vor solcher Befristung müssen Menschen sich nicht fürchten, sie können vielmehr lernen, für sie dankbar zu sein. (KD III/ 2, 687) Menschliche Zeit ist, schließlich, anfangend und endend. Hier zieht Barth Bestimmungen zusammen, die sich aus dem Vorigen mit einiger Selbstverständlichkeit ergeben. Die Anfänglichkeit des Lebens bezieht sich durchaus nicht auf die entbehrlichen Spekulationen wie Traduzianismus vs. Kreatianismus u. a., der Begriff markiert zunächst schlicht: »Unser Leben hob einmal an.« (KD III/2, 696) Weil es aber weiß, woher – von wem – es seinen Anfang nahm, steht auch sein Fortgang wie sein Ende im Licht dieses Anfangs. Analoges gilt für die Endlichkeit des menschlichen Lebens: Wäre sie Befristung ›an sich‹, dann wäre über die damit eo ipso einhergehende Sorge hinaus nicht viel zu sagen. Freilich ist sie Befristung durch Gott und damit in ein doppeltes Licht gehoben: Was durch das Erleiden des Todes vorbei ist, ist nicht einfach vorbei und ›weg‹. Es ist vor dem Angesicht Gottes vorbei und also in Überschärfe klar als Fragment, Misserfolg und »rückständiges Sein«. (KD III/2, 725) Das ist das, »was in unserem Tod gegen uns vorliegen wird.« (ebd.) Angesichts solcher erwartbarer Lebensbilanzen ist der Tod zu fürchten, freilich nicht als solcher, sondern als »Zeichen des Gerichtes Gottes über uns«. (ebd.) Eigene Dignität wird ihm abgesprochen. Das dispensiert nicht von seinem vollständigen Erleiden und verweist die Idee, ein Christenmensch stürbe eigentlich nicht, sondern lebe in seiner Seele fort, ins Märchenreich. Freilich bestreitet es die Idee vom Eigenrecht des Todes: Einen Gott Thanatos gibt es so wenig wie den oben genannten Gott Chronos: Gott richtet und bedient sich des Todes, nicht umgekehrt. Deshalb besteht das recht verstandene memento mori auch darin, nicht den Tod zu fürchten, wohl aber Gott. (KD III/2, 740 u. ö.) Das markiert freilich auch den entscheidenden Umschlag: »Wir haben nicht den Tod, sondern Gott zu fürchten. Wir können aber eben Gott nicht fürchten, ohne uns, untröstlich wie wir sonst sind, gerade seiner zu trösten, und zwar gründlich und gänzlich zu trösten. (…) dann sind wir offenbar mitten im Tode nicht nur im Tode, sondern – nicht von uns, aber von Gott her – auch schon aus und über dem Tode.« (KD III/2, 743) Auch in der individuellen Eschatologie zeigt sich also der Grundzug dieser gesamten Anthropologie, die nicht inventaristisch vorgeht, sondern ihr Material per analogiam fidei von der Christologie her sortiert.
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Die soteriologische Offenheit der Anthropologie Eine Anthropologie Barth’schen Musters hat einen eigentümlichen Nicht-Ort in der Dogmatik. Einerseits ist klar, dass sie im Rahmen der Schöpfungslehre zu verorten ist, wenn anders es nicht wahr wäre, dass der Mensch Geschöpf unter Geschöpfen ist. Als, wenn man so will, Bescheidenheitsregel, ist diese Verortung also durchaus verständlich. Theologische Fehler entstehen nur regelmäßig dann, wenn es dabei bleibt. Wenn die Rede vom Menschen als grundlos erwähltem Bundespartner richtig ist, wenn Rechtfertigungslehre, Ekklesiologie und andere Themen eben auch anthropologisch durchzuführen sind, dann zeigt sich die eigentümliche Ortlosigkeit der Anthropologie im Rahmen einer Loci-Dogmatik, von der eingangs dieses Bandes bereits die Rede war. Barths methodischen Lösungsvorschlag könnte man als erneute Perspektivierung charakterisieren: Die Anthropologie der Schöpfungslehre war bereits christologisch gewonnen worden. In der Anthropologie der Versöhnungslehre ist das nicht anders, freilich wechselt die hauptsächliche Hinsicht. In den Vierziger-Paragraphen diente die christologische Orientierung einer Durchsicht der klassischen Themenbestände der Anthropologie und damit en passant dem Nachweis, dass eine inventaristische Anthropologie nicht gelingen kann. Auch die Versöhnungslehre der Kirchlichen Dogmatik ist, wie bekannt, christologisch angelegt. Barth arbeitet hier jedoch unter anderem die klassische Terminologie der Rechtfertigungslehre durch, wovon der Blick auf seine Lesart der Rede von der Wiedergeburt gleich eine Kostprobe abgeben soll. Die christologische Konzentration ist also keine thematische, wohl aber eine perspektivische: Die anders als christologisch nicht auszusagende Entscheidung Gottes für den Menschen kann nicht als ein Thema unter anderen behandelt werden, sie zeigt sich vielmehr in jeder Durchführung eines theologischen Gedankens. Gleichwohl hält sich ein Moment für die erneute Thematisierung der Anthropologie durch: Von der Wahrheit des Menschen kann nur gesprochen werden kann, indem von der Wahrheit für den Menschen gesprochen wird.53 Wenn das richtig ist, dann gehören Anthropologie auf der einen Seite und das Versprechen des Neu- und Anderswerdens auf der anderen Seite zusammen. Was in der 53 Thorsten Waap sieht an dieser Stelle das Problem, dass ein Prinzip richtigen Menschseins die »Selbstauslegung, das Selbstverständnis und damit die individuelle Erfahrung des Menschen« bedrohe, Waap, Gottebendbildlichkeit 484. Freilich kann seine Darlegung die geforderte »perspektivische Wende« (490) nicht einlösen, da auch er gar nicht anders kann, als verallgemeinernd zu sprechen, was sich schon am durchgängigen Singular »der Mensch« zeigt. Unklar bleibt auch, was »theonomes Selbstverstehen und Selbstbestimmen« (509) bedeuten soll, wenn Theonomie doch eben als Befreiung vom Zwang zur Selbstbestimmung verstehbar sein dürfte, wie Waap selbst mit seinen Bemerkungen zur heilsamen Distanz zum eigenen Rollenbild zu meinen scheint, vgl. 512.514. Barth entfaltet das hier offenkundig Gemeinte u. a. als den Ruf in die Nachfolge, vgl. KD IV/2, 603ff.
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Anthropologie der Schöpfungslehre auf fast jeder Seite angelegt ist, rückt in den Fokus, wenn die Behauptung verhandelt wird, in Christus ändere sich etwas für den Menschen.
Neuwerden der Person: Barths Konzeption von ›Wiedergeburt‹ in der Versöhnungslehre Für Friedrich D.E. Schleiermacher ist die Anthropologie ohne ihre soteriologischen Implikationen nicht vollständig (vgl. Kap. II.1). An diesem Punkt stimmt Karl Barth ihm also zu. Das Parallelstück zu Schleiermachers Rede von ›Wiedergeburt‹ in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik weist allerdings formal signifikante Unähnlichkeiten auf, so dass ein einfacher Vergleich der Termini und ihres direkten argumentativen Kontextes bei den beiden allein nicht zielführend wäre. Das liegt vor allem an dem Umstand, dass Barth weit weniger konzeptuell vorgeht als Schleiermacher es tut. In Barths diskursivem Universum ist die Zuordnung von Sache und Begriff viel weniger eindeutig als bei Schleiermacher. Der Entzogenheit des Gegenstands der Theologie korrespondiert für ihn die Vorgehensweise, in immer neuen Anläufen mit immer neuen Begriffen und Metaphern das zu sagen, was man sagen muss, ohne es doch eigentlich sagen zu können. Das gilt ganz generell für die Befassung mit der Kirchlichen Dogmatik, bei deren Lektüre sich nicht ohne Grund der Eindruck einstellt, dass jeweils aus dem Blickwinkel eines Themas das Ganze der Theologie in den Blick genommen wird – und das nicht nur da, wo Barth explizit ankündigt, Positionsänderungen vorgenommen zu haben. Es gilt mit engerem Fokus auch für das hier vorgelegte Thema: »Wiedergeburt« ist in der Versöhnungslehre der KD ein Begriff von einiger Prominenz, er wird aber ausdrücklich als einer unter mehreren möglichen, ja als ein austauschbarer eingeführt. Barth schreibt: »Es könnte das, was mit ›Heiligung‹ (sanctificatio) auch mit dem selteneren biblischen Begriff der Wiedergeburt (regeneratio) oder Erneuerung (renovatio) oder mit der Bekehrung (conversio) oder mit dem im Alten und Neuen Testament so wichtigen Begriff der Buße (poenitentia) oder umfassend mit dem für die Synoptiker bezeichnenden Begriff der Nachfolge Jesu bezeichnet werden. Der Gehalt all dieser Begriffe wird tatsächlich auch unter dem Titel ›Heiligung‹ zur Geltung und zur Sprache kommen müssen.« (KD IV/2, 566) Bei diesem Zitat – mit dem Barth die Exploration des Themas ›Rechtfertigung und Heiligung‹ beginnt – ist folgendes impliziert: Eine Theologie des ordo salutis im Sinne zeitlich aufeinander folgender Bestimmungen des Menschen kann es nicht geben. Allenfalls ließe sich anknüpfen an die analytische Betrachtungsweise der ordo-Lehre, die mit der Begrifflichkeit einzelne Aspekte eines zeitlich nicht
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auseinanderzulegenden Ereignisses meint. Aber auch hier dürfte Vorsicht geraten sein. Denn die im Zitat genannten Begriffe decken die traditionelle Begrifflichkeit des Lehrstücks (s. o.) nur teilweise ab und ergänzen sie zudem mit biblischer Begrifflichkeit, die im Lehrstück sonst nicht auftaucht. Mindestens wird es also einer biblisch-theologischen Revision unterzogen. Dazu kommt dann noch, dass Barth den Begriff ›Heiligung‹ bevorzugt, weil »es in ihm um ein Sein und Tun Gottes geht«, wie aus dem lateinischen Äquivalent erhellt. (ebd.) Der Fokus liegt damit auf Gottes Tat und Wirklichkeit und erst dann auf dem Tun und Ergehen des Menschen, wenn dieser Themaregel Genüge getan ist. Schließlich legt das Zitat nahe, dass jeder der Termini Gottes entsprechendes Handeln ganz ausdrückt, es also um Total- und nicht Partialaspekte geht. Wenn das Ganze also eine Anknüpfung an der Tradition des ordo-salutis-Denkens sein sollte, dann jedenfalls eine sehr distanzierte, bei der die Kritik und Neuinterpretation deutlich überwiegt. Zugleich ergibt sich aus dem Zitat, dass die Sache der Wiedergeburt nicht nur dort verhandelt wird, wo ihr Begriff auftaucht. Man hat es vielmehr damit zu tun, dass der Terminus auch das meint, was das grundlegende Thema der Versöhnungslehre in der KD überhaupt ist.54 Das hier darzustellen, ist natürlich unmöglich. Deswegen geht es im Folgenden um die Analyse ausgesuchter Passagen der Versöhnungslehre, die deren Sache besonders deutlich auf das hin fokussieren, was mit ›Wiedergeburt‹ primär zu assoziieren ist. Durchmustert man die Register der IVer-Bände der KD und das Gesamtregister – sämtlich bekanntermaßen leider lückenhaft – so stellt sich folgender Leseeindruck ein, der den gegenüber Schleiermacher so deutlich veränderten Gebrauch von Termini ergänzt: Wo Barth explizit von ›Wiedergeburt‹ spricht, tut 54 Ein Überblick über die Architektur bei E. Jüngel, Art. Barth, Karl, TRE 5, 251–268, hier 264– 266. Jüngels Eindruck, es bei der Versöhnungslehre mit dem eigentlichen Hauptwerk der KD zu tun zu haben (ebd. 266), ist m. E. zutreffend. Aus der Fülle der Literatur zu ihr vgl. Y. Amano, Karl Barths Ethik der Versöhnungslehre, Frankfurt/M. 1994; A. Dahm, Der Gerichtsgedanke in der Versöhnungslehre Karl Barths, Paderborn 1983; Karl Barths Schriftauslegung, hg. von M. Trowitzsch, Tübingen 1996; D.F. Ford, Barth and God’s Story: Biblical Narrative and the Theological Method of Karl Barth in the Church Dogmatics, Frankfurt/M. 1981; B. Klappert, Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, Neukirchen-Vluyn 1994, bes. Teil I; D. Korsch, Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, bes. 178ff; W. Krötke, Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, Bielefeld 2009, bes. 109ff.179ff.249ff; D.L. Mueller, Foundation of Karl Barth’s Doctrine of Reconciliation. Jesus Christ Crucified and Risen, Lewiston NY 1990; W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/M. 1973, 266ff; H.-W. Pietz, Das Drama des Bundes. Die dramatische Denkform in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, Neukirchen-Vluyn 1998, bes. 76ff; G. Sauter, Zur Einführung, in: »Versöhnung« als Thema der Theologie, hg. von dems., Gütersloh 1997, 7–47; R. Schwager, Der Richter wird gerichtet. Zur Versöhnungslehre von Karl Barth, in: ZKTh, 107 (1985), 101– 141; M. Trowitzsch, Karl Barth heute, Göttingen 2007, 356–420.
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er dies im unmittelbaren textlichen Zusammenhang mit der Rede vom Christusereignis. Wie Menschen sich als Wiedergeborene vorfinden ist nicht auszusagen, ohne gleichsam im selben Atemzug von Gottes Tat und Sein in Christus zu sprechen. Dieser Befund markiert einen vernehmlichen Unterschied zu Schleiermachers Darstellungsweise, für den das Hintereinander der Darstellung – erst Christologie als Lehre von Sein und Werk Jesu Christi und dann die von Rechtfertigung und Heiligung – möglich und sogar folgerichtig ist. Barth kann dies nur ineinander und in wechselseitiger Interpretation zur Darstellung bringen. Hier spiegelt sich im Kleinen der Verwendung eines Begriffs die Architektur der Versöhnungslehre als Ganzer wieder und dieser architektonische Unterschied wird sich als einer erweisen, bei dem erhebliche inhaltliche Differenzen zwischen beiden Theologen zu Tage treten. Die Darstellung erfolgt in drei Schritten: Zunächst (1) ein inhaltlicher Umriss der im eben gegebenen Zitat genannten Begriffe/Metaphern, sodann (2) ein Blick auf Barths Ausführungen zum Zusammenkommen von Gott und Mensch und schließlich (3) eine kurze Reflexion auf die Bedeutung der Theologie der Stellvertretung für Barths Versöhnungslehre und damit auch für sein Verständnis von Wiedergeburt. Ad (1): Den hier fälligen Überblick erhält man am besten, indem man die wichtigsten Bestimmungen aus KD § 66 zusammenzieht. Er heißt »Des Menschen Heiligung« und handelt, so ist im Paragraphenleitsatz zu lesen, von der »Erhebung des Menschen«, die nichts weniger ist als »die Erschaffung von dessen neuer Existenzform als Gottes getreuer Bundesgenosse«. (KD IV/2,564) Entsprechend dieser Ankündigung wird im soeben skizzierten Sinne die Sache der Wiedergeburt verhandelt, obwohl ihr Begriff nur mitunter und durchaus nicht leitend auftaucht. Es bleibt mit dem Menschen nicht so, wie es war, wenn – auf welchem Wege auch immer – er mit Gottes Wirklichkeit und Zuspruch in Berührung kommt. Diese Provokation ist nach Barth in den eingangs des Abschnitts zitierten Metpahern mitgesetzt, die er, wie berichtet, unter der der Heiligung subsumiert. Formal ist der Paragraph ein Lesegespräch mit Johannes Calvins Lehre von der participatio Christi, inhaltlich wird ein Geflecht von Bestimmungen entfaltet, das diese Partizipation als etwas vorstellt, das gänzlich von Gott ausgeht, den Menschen gleichwohl und präzise deshalb ergreift und verändert, wobei es als Ereignis der Partizipation am Handeln Gottes vorgestellt werden soll. Im Einzelnen und zugleich in starker Raffung: Wie häufiger in der KD beginnt Barth mit einer Art theologischer Sicherungsmaßnahme. Er stellt zunächst klar, dass Heiligung und Rechtfertigung zwei Seiten einer Medaille und zwei Aspekte einer Sache sind und dass es sich bei beiden um Gottes Tat handelt: »Im simul des einen göttlichen Wollens und Tuns Rechtfertigung als Grund, Heiligung als Ziel das Erste, und wiederum: Rechtfertigung als Voraussetzung und Heiligung als Folge das Zweite – in diesem Sinne beide über- und beide untergeordnet.« (KD IV/2,575) Ebenfalls zu dieser
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Grundbestimmung gehört, dass Rechtfertigung/Heiligung als Ereignis von Gott her zu denken sind. Im simul der Heilstat Gottes werden sie wirksam und das ist nichts anderes als die Gegenwart Gottes, also das Ereignis Heiliger Geist. (KD IV/ 2,574, vgl. 590) – Mit dieser Bestimmung ist noch geradezu provozierend wenig gesagt: Sie klingt nach theologischer Richtigkeit und zugleich – das ist dann der provozierende Anteil –gibt sie dem Verstehen mit auf den Weg, dass des Menschen Heiligung und also auch seine Wiedergeburt Gottes Tat selbst ist: »Sein Handeln ist des Menschen Heiligung.« (KD IV/2, 579) Was immer von Menschen als Heilige oder Wiedergeborene auszusagen ist, das kann nur ausgesagt werden, wenn klar ist: Heilig im eigentlichen und ursprünglichen Sinne ist Gott allein. Um was also kann es bei ›heiligen‹ oder ›wiedergeborenen‹ Menschen also gehen? Ausschließlich um solche, deren Heiligkeit bzw. Wiedergeborensein in strikter Weise von der Heiligkeit Gottes herkommt. Das ist die Sachstelle, an der Barth das Gespräch mit der Vorstellung von der participatio an Christus bei Calvin aufnimmt. Freilich geht er selbst mit diesem Begriff sehr vorsichtig um und ersetzt ihn nahezu durchgehend durch den der »Entsprechung«. (KD IV/ 2,599.670 u. ö.) Das ließe sich nun – mit den entsprechenden Debatten um den Analogiebegriff im Hinterkopf 55 – als vorlaufende Depotenzierung des Themas verstehen, so als ginge es eben nur um Entsprechung und nicht um ein wie auch immer auszusagendes »Mehr«. Das ist richtig und zugleich nicht richtig. In der Tat geht es für Barth um nicht mehr als um menschliche Entsprechungen zur Treue und Güte Gottes. Aber bereits diese Entsprechungen sind von der Art, dass sie als Existenz des neuen Menschen und damit als ein schöpferischer Akt Gottes gelten müssen. Es geht in Gottes Handeln an den Menschen um »eine reale Veränderung ihres Daseins« (KD IV/2,598), um »das neue Leben eines neuen Menschen«. (KD IV/2,634) Dies veränderte Dasein und neue Leben ist von der Art, dass es »seinem Dasein, dem Dasein ihres Herrn konform wird und ist«. (KD IV/2,599) In zwei Reihen von Bestimmungen wird diese Feststellung ausgeführt. Die erste ist vergleichsweise formal, kennt zwei Stichworte und heißt: Gottes Handeln macht aus Sündern zum einen gestörte Sünder, also solche, die zwar nicht aufhören Sünder zu sein, aber in ihrem sündigen Weiter-so durch Zweifel und Bedenken aufgestört und geweckt werden. (KD IV/2,593) Ferner sind sie zur gemeinschaftlichen Existenz mit Gott Aufgerufene und Aufgerichtete. (KD IV/ 55 Vgl. als markante Wortmeldung Barths KD I/1,293ff und die Beiträge der katholischen Gesprächspartner E. Przywara, Analogia Entis. Schriften III, Einsiedeln 1962 sowie G. Söhngen, Analogia entis in analogia fidei, in: Antwort. Festschrift für Karl Barth zum 70. Geburtstag am 10. Mai 1956, hg. von R. Frey u. a., Zollikon-Zürich 1956, 266–271, zum Konzept des Letzteren M. Hailer, Theologie als Weisheit. Sapientiale Konzeptionen in der Fundamentaltheologie des 20. Jahrhunderts, Neukirchen-Vluyn 1997, 45–78, zum Analogiebegriff 49–52. Ein vorzüglicher Überblick über die Analogiedebatte bei J. Track, Art. Analogie, TRE 2, 635–650.
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2,596–599) Beides, und darauf legt Barth wert, ist vorläufiges und noch nicht vollendetes Handeln Gottes: »Heiligung ist ja kein letztes, sondern ein vorletztes Wort«. (KD IV/2,600) So weit, wie gesagt, noch recht formal. Im größeren Teil des Paragraphen – 91 von 141 Seiten – wird das bislang Erarbeitete vorausgesetzt und werden mit seiner Hilfe eine Reihe von inhaltlichen Bestimmungen erarbeitet, wie dieser Ruf in die Entsprechung aussehen soll, der doch, obwohl er nur Entsprechung ist, neu-geschöpflichen Charakter haben soll. Barth nennt: – – – –
den Ruf in die Nachfolge die Erweckung zur Umkehr das Lob der Werke und die Würde des Kreuzes.
Hierzu wäre manches noch in Kürze zu erläutern, so etwa, dass das ›Lob der Werke‹ meint, dass Gott die gute Tat gutheißt und anerkennt, so wie das gelingende Werk nicht etwa den menschlichen Aktvollzieher sondern vielmehr Gott lobt. (KD IV/2,661.675) Und mit der ›Würde des Kreuzes‹ ist gemeint, dass die Heiligung ein begrenztes Unterfangen ist und die Lebensbewegung der Christen »unweigerlich und radikal aufgehalten«, eben durchkreuzt ist. (KD IV/2,680) Darin ist unter anderem die Rede von der Anfechtung sachgerecht. (KD IV/2,692) Aus der Aufzählung sei an allgemeinen Merkmalen zweierlei hervorgehoben: Barth betont, zum einen, den Ereignischarakter von Heiligung bzw. Wiedergeburt. Er ist nicht darauf aus, einen Zustand des ›wiedergeborenen‹ Menschen zu beschreiben und er hebt auch nicht darauf ab, dass es sich um eine Bewusstseinstatsache oder einen Zustand des Bewusstseins handeln könnte. Die Frage, was Menschen denken und/oder wessen sie sich bewusst sind, wenn das eben stichwortartig Benannte mit ihnen geschieht, wird nicht ausgespart. Sie steht aber nicht im Fokus und sie hat folgenden Charakter: Menschen finden sich in einem Vorgang, in einem Ereignis vor, eben z. B. in dem Vorgang, in die Nachfolge gerufen worden zu sein. Der neue Mensch findet sich »unter seiner [Gottes, M.H.] Verantwortung und Disposition« stehend. (KD IV/2,634) Das ist nun, zum anderen, mit einem spezifischen Freiheitsbegriff verbunden: Unter Gottes Verantwortung und Disposition zu stehen, ist nicht als die im mechanistischen Sinn automatische Tat eines Getriebenen zu verstehen, wohl aber in folgendem: Gott eröffnet ein Dürfen und eine Freiheit, die von so bezwingender Art sind, dass der mit ihnen Beschenkte nicht anders kann und nicht anders will, als eben zu dürfen und sich dieser Freiheit zu bedienen: Wer frei ist, kann nur seine Freiheit in die Tat umsetzen, und indem er oder sie das tut, findet er oder sie sich bereits vom dämonischen Müssen des alltäglichen Getriebenseins befreit. (KD IV/2,654) Das wird man so verstehen sollen: Heiligung/Wiedergeburt ist Tat und Präsenz Gottes so, dass die alltägliche Getriebenheit des Alltags
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durchbrochen und – nebenbei – als Herrschaft gottfremder Mächte erkannt wird. (KD IV/2,615f) Das sich dann eröffnende Reich der Freiheit ist nicht primär von der Art, dass Freiheit als Wahlfreiheit im Blick wäre, eines nun zu tun oder zu lassen. Vielmehr ist dies Reich der Freiheit eines, in dem der Befreite sich vorfindet und in dem er gar nicht anders kann als das freiheitlich Naheliegende zu vollziehen. Freiheit ist: Der Mensch darf mit seinem Werk am Werk Gottes teilnehmen. (KD IV/2671.675) Mit anderen Worten: Die passive, das Subjekt allererst konstituierende Struktur dieser Freiheit ist offensichtlich. Ad (2): Man darf Auskunft darüber erwarten, wie genau denn Gott und Mensch im Ereignis Heiligung/Wiedergeburt zusammenkommen. In einer Passage aus KD § 71 (Des Menschen Berufung) legt Barth die Rede von der unio cum Christo aus. Zunächst einmal lässt Barth keinen Zweifel daran, dass »des Christen u n i o cum Christo« ein Lehrstück ist, das etwas Richtiges sagt und das in diesem Sinne sogar mit dem Etikett ›sachlich notwendig‹ versehen werden darf. (KD IV/ 3, 620) Einiges soll aus dieser Aussage ausgeschlossen werden, manche mystische Exaltation etwa oder die Vorstellung, bei der unio cum Christo ginge es um ein in besonderer Weise anzustrebendes Einheitserlebnis, das den tiefen vom weniger tiefen Christen scheide. Die gemeinte Sachlage ist die: Gott tritt »jederzeit und in jeder Hinsicht für den Menschen ein« und der Mensch ist »jederzeit und in jeder Hinsicht frei […] zu dem Wagnis, sich selbst im Leben und Sterben zu Gott zu rechnen«. (KD IV/3,636) Dasselbe sagt – hier handelt es sich offenbar um eine wahrheitswertkonservierende Ableitung – der Begriff/das Bild von der Gemeinschaft von Christus und dem Christen. Unter dieser Sachlichkeit geht es nicht und deswegen darf, ja muss von dieser unio gesprochen werden. Systematisiert man die Ausführungen des Abschnitts aus KD § 71, dann zeigen sich drei inhaltliche Aspekte von Barths unio-Lehre. Die ersten beiden erläutern einander wechselseitig, sie kritisieren und begrenzen sich aber auch, der dritte dürfte als der Kern und vernehmlich eigene Zungenschlag Barths in der Sache gelten können. Aber der Reihe nach: Der erste Aspekt betont, dass es sich um wirkliche Gemeinsamkeit, um das Zusammensein von Gott und Mensch handelt. Es geht um wirkliche Berufung des Menschen zum Christen, nicht um bloße Information. Gott erschließt sich den Menschen wirklich und bleibt nicht in sich und bei sich allein. Und die, denen er sich erschließt sind nicht »zu bloßer Passivität bestimmte Zuhörer und Zuschauer«, die »dem sich ihnen erschließenden bloß gaffend gegenüberstehen«. (KD IV/3,623) Barth geht noch weiter und zitiert die Formeln vom wechselseitigen In-Sein aus den johanneischen Abschiedsreden und – Kernstelle dieses Unternehmens überhaupt – Gal 2,20: Nun nicht mehr ich, sondern Christus in mir. Die Folge ist: Der Christ erkennt Christus als sein wahres Selbst. (KD IV/3,626) Entsprechend richtig ist es auch, davon zu sprechen, dass Christus in den Christen ist und sie in ihm – über einen einfachen lokalen Sinn dieses Wortes hinaus. Nicht nur der Möglichkeit nach
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sondern faktisch richtet der Heilige Geist das Sein und Tun der Christen in Übereinstimmung mit dem Sein und Tun Christi. (KD IV/3,629) Ausrichtung auf Übereinstimmung im Sein und Tun. Das ist der Spitzensatz der hier vorgelegten unio-Lehre. Aber Barth wäre nicht Barth, hätte er nicht ein Widerlager in seine Betrachtung eingebaut. Das ist der zweite Aspekt und in der Tat kontrollieren und erklären die beiden einander wechselseitig. Barth betont, dass die Gegenüber-Struktur von Gott und Mensch nicht verschwindet. (KD IV/ 3,620) Auf keiner der beiden Seiten geht es um ein Verstummen oder um Entpersonalisierung. Es bleiben bestehen: Der Anredende und der Angeredete, Wort und Antwort. Beide Seiten existieren exzentrisch. (KD IV/3,629) Und dass der Herr nicht ohne die Seinen sein will – wie Barth in unausgewiesener Aufnahme eines Schleiermacher-Diktums sagt – heißt ja nun genau, dass weder der Herr noch die Seinen ihren Status und ihren Aggregatzustand ändern. In diesem Sinne ist der Aspekt 1 nicht ohne den Aspekt 2 zu denken, die Einheit des Christen mit Christus nicht ohne den Zusatz und die kräftige Korrektur, dass es sich um die Einheit zweier bleibend Unterschiedener handelt. Nach Art eines Vexierspiels kann man die beiden Aspekte gegeneinander lesen: Es ist das Wunder des Heiligen Geistes, dass die bleibend Getrennten in Gemeinschaft kommen und dass es dabei um das Phänomen der Ausrichtung des Seins und Tuns der Christen auf das Sein und Tun Christi geht. Das aber ist nur dann wahr, wenn bedacht wird, dass es nicht um Entpersonalisierung geht. Der Anredende bleibt er selbst, die Angeredeten auch. Auch umgekehrt darf und soll man das denken: Wir sind nur Angeredete, aber als solche der Gemeinschaft gewürdigt und der Entsprechung zu Christus. Leicht könnte das Bild sofort wieder umschlagen. Deshalb muss die Frage erlaubt sein, was das Vexierbild über eine geschickte Aspektkombination hinaus eigentlich soll. Die Antwort steckt nach meinem Dafürhalten im dritten, bislang noch nicht genannten Aspekt: Es ist das Thema der Freiheit. Wie ein roter Faden zieht es sich durch die Passage aus KD IV/3. Barth betont, dass die Christen durch die unio cum Christo nicht die Marionette Gottes werden. Die Verbindung aus beiden ist eine »Verbindung in ihrer beiderseitigen Selbständigkeit, Eigenart und Eigentätigkeit«. (KD IV/3,621) Was vom Regieren Christi in den Christen zu sagen ist, ist so zu sagen, dass das Denken und Tun der Christen nicht aufhört, deren eigenes Denken und Tun zu sein. In einer pointierten Formulierung zu Beginn der Passage: Gott ist der verfügende Herr über den Menschen und schlägt in ihm seinen Thron auf, so »daß sein Verfügen als Eigentümer über sein Eigentum dieses Menschen Eigenstes wird: Mittelpunkt und Ausgangspunkt seiner menschlichen Existenz, Axiom seines freiesten Denkens und Redens, Ursprung seines freiesten Wollens und Wirkens, kurzum: Prinzip seines spontanen Daseins.« (KD IV/3,618) Das ist die Pointe von Barths einander wechselseitig in Schach haltenden Vorstellungen: Menschen handeln aus sich selbst und als sie
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selbst. Und doch sind sie genau darin in Gemeinschaft mit Christus, ist er ihr Herr, der sie leitet. Wenn und weil das geschieht, sind Menschen Christenmenschen. Ad (3): Die beiden ersten Aspekte – dass Heiligung/Wiedergeburt sich ereignet und wie Gott und Mensch dabei zusammenkommen – sind nicht denkbar ohne einen Grundgedanken, der die gesamte Barth’sche Versöhnungslehre durchzieht, der der Stellvertretung.56 Die Architektur der Versöhnungslehre – wohl wesentlich an Hand von Phil 2,5–11 und Joh 1,1–18 erdacht – ist so angelegt, dass Gott seine Stelle verlässt und die Stelle des Menschen einnimmt. Indem er das tut, geschieht zweierlei: a) Der Mensch an seiner Stelle wird als der sichtbar, der er vor Gott eigentlich ist – und das unterscheidet sich ebenso peinvoll wie gewaltig von seiner Selbstwahrnehmung. Das ist der Ort der in die Versöhnungslehre eingelassenen Hamartiologie. b) Gott zieht, lockt und ruft den Menschen zu sich, so dass dieser die Stelle, deren Dumpf- und Hohlheit ihm nun bewusst ist, verlassen kann. Beide Aspekte, a) wie b), sind Akte der Stellvertretung: Gott am Ort des Menschen zeigt stellvertretend, wie es um diesen in seinem Gespinst aus Hochmut, Trägheit und Lüge eigentlich bestellt ist und er ermöglicht ihm stellvertretend, so zu werden, wie es einem Leben im Angesicht Gottes entspricht: Barths Leitbegriffe hierfür sind Rechtfertigung, Heiligung und Berufung.57 Gott ist und handelt an der Stelle des Menschen, damit dieser – nun nicht Gott werde, wie es eine bis zur Unverständlichkeit gekürzte Variante der altkirchlichen, näherhin athanasianischen Soteriologie sagt –, wohl aber damit er zu dem werden kann, wie er von seinem Schöpfer gedacht und was zu werden ihm verheißen ist. Dieser Gedanke ist für Barths Theologie grundlegend. Er ist in den früheren Werken und in den Bänden I–III der KD durchaus angelegt bzw. vorhanden,58 kommt in der Versöhnungslehre aber besonders deutlich zum Vorschein, weil Gottes Positionswechsel zu Gunsten des Menschen Strukturmerkmal des Teilstücks ist. Für unseren argumentativen Zusammenhang besagt das insbesondere: Dass Wiedergeburt/Heiligung jetzt geschehen, ist nicht die Folge einer früher stattgefundenen Handlung Gottes, sondern sein aktives stellvertretendes Handeln jetzt. Der Ereignischarakter der Wiedergeburt, auf den oben hinzuweisen war, ist wesentlich stellvertretendes Ereignis: Gottes schöpferische Tat ist so, dass 56 Vgl. C. Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen 2001, 232 u. ö. Gestrich bietet u. a. die Grundlegung einer ›vokativen Theologie‹ (328–343), die sich als kritische Entfaltung und Weiterentwicklung der Barth’schen Passagen über den Ruf in die Nachfolge (KD IV/2,603–626) und die über das Zusammenkommen von Gott und Mensch (KD IV/ 3,618–636) samt der dort skizzierten Rede von der Freiheit lesen lässt. 57 Dies stets zusammen mit den entsprechenden Aspekten der Ekklesiologie und der Ethik, die hier aus Übersichtsgründen außen vor bleiben müssen. 58 Vgl. nur: »Das geschieht nämlich in der Wahrheit, das ist ja geradezu die Wahrheit: was vor Gott durch Gott an unserer Stelle geschieht.« (KD II/1,170)
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er an der Stelle des Menschen steht, damit dieser nicht in der gegenwärtigen Not bleiben und sie sich also schön lügen muss, sondern in die »Existenz eines Gott treuen Menschen« (KD IV/4,45) gerechtfertigt, geheiligt und berufen ist. In diesem Sinne kommen in Barths Theologie der Wiedergeburt die Momente des stellvertretenden Handelns Gottes und der Ereignischarakter der Wiedergeburt zusammen. Das muss als Skizze der Barth’schen Theologie der Wiedergeburt genügen: Es handelt sich um eine Lesart, die – wie diejenige Schleiermachers, vgl. Kapitel I.1 – von der christologischen Grundlegung herkommt, diese aber anders als er aktualistisch und unter Zentralstellung des Stellvertretungsgedankens akzentuiert. Was sich aus den so unterschiedlichen Ausführungen eines zumindest ähnlich klingenden Grundlegungsgedankens lernen lässt, soll im Schlussabschnitt erwogen werden.
Neuwerden als Widerfahrnis »Ich hatte den guten Instinkt, in der ›Kirchlichen Dogmatik‹ IV/1–3 wenigstens die Kirche und dann den Glauben, die Liebe und die Hoffnung ausdrücklich unter das Zeichen des Heiligen Geistes zu stellen. Aber hätte nicht schon die Rechtfertigung, die Heiligung und die Berufung unter dieses Zeichen gestellt sein können und müssen?«59 Diese Selbstkritik Barths in einem seiner letzten Texte
59 K. Barth, Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, hg. von H. Bolli, München/Hamburg 1968, 290–312, 311, vgl. die einführende Darstellung bei D. Lütz, Homo Viator. Karl Barths Ringen mit Schleiermacher, Zürich 1988, 334–356. Hans W. Frei ist zuzustimmen, wenn er die Substanz des (möglichen) Dialogs ausgehend von diesem Aufsatz – von ihm netterweise ›abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu Schleiermacher‹ genannt – anlegt, vgl. H.W. Frei, Barth and Schleiermacher. Divergence and Convergence, in: Barth and Schleiermacher. Beyond the Impasse?, hg. von J.O. Duke und R.F. Streetman, Philadelphia 1988, 65– 78, 74. Ihr gegenüber treten die Schleiermacher-Vorlesung und die bekannte Totalkritik in der ›Theologie des 19. Jahrhunderts‹ zu Recht in den Hintergrund. Insofern ist der Einschätzung des Herausgebers der Schleiermacher-Vorlesung zu widersprechen, die Kritik habe sich über die Jahrzehnte nicht verändert, vgl. D. Ritschl, Vorwort, in: K. Barth, Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24, Zürich 1978, VII–XII, VIII. Frei zeigt u. a., dass Barths Frage im Nachwort, ob Schleiermacher primär Theologe oder Philosoph sei, eindeutig zu Gunsten der ersten Option beantwortet werden kann. (ebd. 76–79.83) Diese Überzeugung liegt auch der vorliegenden Untersuchung zu Grunde: Schleiermacher gilt ihr als Autor einer kirchlichen Dogmatik – und wo die Auseinandersetzung gesucht wird, geht es um materialdogmatische Fragen und nicht um die wohlfeile Empörung, es möglicherweise mit nur nachrangiger Theologie zu tun zu haben. Barths Lernprozess in der Kritik sollte sich insoweit bewährt haben. Zu Frei ist allenfalls noch zu bemerken, dass die ›Theologizität‹ des Schleiermacher’schen Werks nicht, wie er das im Gespräch mit Edward Farley anlegt, allein
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kann als erfahrungstheologische Leseanweisung für seine eigene Theologie der Wiedergeburt gelten, die sich – wie gezeigt – als Implikation der Rede von der Heiligung verstehen lässt. In dieser Richtung hätte Barth, ein Gelehrtenleben lang um Neuansätze und Korrektur des zuvor Gedachten nicht verlegen, neu justiert und seine heutigen Rezipienten sollten daraus die Leseanweisung für das Vorgelegte nehmen. Nun fehlt die pneumatologische Besinnung ja nicht und also ergibt sich daraus das Recht, an Hand ihrer den erfahrungstheologischen Gemeinsamkeiten nachzuspüren. Es handelt sich mindestens um eine Strukturparallele: Schleiermacher spricht davon, dass das Gesamtleben der Sündhaftigkeit nicht mehr willenbestimmend sein wird und vom Zusammensein mit Christus verdrängt wird, Barth macht Momente aus, in denen es Entsprechungen zwischen Gott und seinen Menschen gibt, so dass man von dem einen Heiligen und seinen Heiligen sprechen kann. Das ist jeweils ein Grundzug effektiver Rechtfertigungslehre. Es sollte möglich sein, diese beiden Argumente im Sinne wechselseitiger Interpretation auf einander zu beziehen: Wer hier mit Schleiermacher beginnt, hat ein nachvollziehbares, aber ein doch weitgehend formales Argument bei der Hand. Es verlangt geradezu danach, mit inhaltlicher Konkretion gefüllt zu werden. Und hier müsste auch im Rahmen von Schleiermachers Prämissen das materialdogmatische und materialethische Angebot aus KD § 66 als Ensemble hilfreicher Beispiele dienen können. Denn es geht doch um Concreta des Lebensvollzugs, wenn das Gesamtleben der Sündhaftigkeit zurückgedrängt wird. Was Schleiermacher separat verhandelt – in der Sittenlehre, im Brouillon zur Ethik und anderswo – das integriert Barth im Rahmen seiner Auffassung des Ineinanders von Dogmatik und Ethik im Rahmen der materialdogmatischen Erörterung der Heiligung. Und in diesem Sinne müsste sich sein Themenkatalog ›schleiermachersch‹ lesen lassen – unbeschadet der Frage, ob er in sich schlüssig oder vollständig ist.60 über die enzyklopädischen Erwägungen der Theologie als praktischer Wissenschaft zu gewinnen ist, (ebd. 80 u. ö.) sondern durch das Eintreten in den materialdogmatischen Diskurs. 60 Letzteres zu behaupten käme der auch in sich als Revisionsanstrengung des jeweils zuvor Gedachten angelegten KD allerdings nicht in den Sinn. Dass Barth im zuvor gegebenen Zitat den nächsten Schritt der Selbstkritik andeutet, ist nur ein deutlicher Beleg dafür, dass die KD kein ›System‹ ist, sondern ein in sich mehrperspektivisches und nachgerade vielstimmiges Album. Eingehende KD-Interpretationen haben das jederzeit zu beachten: Man trifft bei ihrer Analyse viel weniger auf eine ›Lehre‹ zu einem Thema – auch und gerade da, wo Barth selbst den Begriff gebraucht, was er mit einiger Sorglosigkeit tut – und viel eher auf ein Ensemble skrupulöser Gedankengänge, mit denen ein Thema erarbeitet wird. Der Vorgang des Theologietreibens ist in diesem Werk durchaus wichtiger als das vermutete propositionale Ergebnis. Diese methodische Behauptung ist an Barths eigenem Methodenwerk, dem AnselmBuch, zu belegen, in dem ihm der Vorgangscharakter des anselmischen intelligere klar vor Augen steht: »Man bemerke vor allem, daß Anselm durchaus nicht nur etwa diese Wirkung des intelligere kennt und bezweckt. Indem das intelligere sich vollzieht kommt es auch zur Freude.« K. Barth, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im
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Auch die Gegenprobe klingt plausibel: Liest man den Barth’schen Katalog von Ereignissen, in denen sich Entsprechungsverhältnisse zwischen dem Heiligen und seinen Heiligen einstellen sollen, dann drängt sich die Frage auf, ob nicht alle diese von der Art sind, dass sie die Realität der Sünde zurückdrängen und in einen Lebenszusammenhang des Geheiligten mit Christus hineinführen. In diesem Sinne sind sie Ideologiekritik des humanen Weiter-so und können auch so formalisiert werden.61 Es handelt sich dabei auch um einen Konsens im Rahmen der theologischen Thematisierung von Erfahrung. Denn um Erfahrungszusammenhänge im Leben der betroffenen Menschen geht es ja nun evidentermaßen. Schleiermacher behauptet, sie seien auf die geschilderte Situation des Wechsels und Neubeginns hin lesbar und Barth behauptet, dass es sie gibt und coram Deo mit ausweisbaren Kriterien geben kann. So weit mindestens reicht der Konsens. Das ist, lässt sich das halten, kein geringer Gewinn. Denn man wäre unter anderem nicht mehr gezwungen, das eingangs geschilderte Verdikt Otto Webers mitzugehen, von Wiedergeburt dürfe nur erfahrungsfern die Rede sein, weil man sonst in die Aporie der Rede vom homo religiosus und seiner (Selbst-)Bestätigungsroutinen verfalle. Der Gewinn bezieht sich wahrscheinlich auch auf die Theologie des Heiligen Geistes. Barth hatte in seinem zitierten Nachwort zur SchleiermacherAusgabe völlig zu Recht darauf verwiesen, dass Schleiermacher ein Theologe des 3. Glaubensartikels sei, dem es um das ›Ankommen‹ Gottes beim (gläubigen) Menschen zu tun sei. Zugleich behauptete Barth, dass Schleiermacher diese Ausrichtung nicht recht bewusst gewesen sei.62 Die Konsequenz aus dieser Einsicht ist eine doppelte: In Schleiermacher’schen Bahnen ist das Bewusstsein vom Aufhören der Sündhaftigkeit als Vorgang der Gegenwart des Heiligen Geistes zu beschreiben und in der Tat besteht Barths Selbstkritik als jemand, der der Pneumatologie das gebührende Gehör nicht schenke, durchaus zu Recht. Die in neueren Pneumatologien eingeforderte Erfahrungsnähe der Theologie gerade dann, wenn sie der Pneumatologie den gebührenden Raum lässt, wäre von beiden Theologen her entfaltbar – und zugleich mit wichtigen Sicherungen zu versehen. So ginge es etwa mit der Behauptung von Jürgen Moltmann, der gleich zu Beginn seines entsprechenden Werks die »Einheit von Gotteserfahrung und Lebenserfahrung« postuliert und dadurch einer nicht geringen Unschärfe des Erfahrungsbegriffs in seinem Werk den Boden bereitet.63 Schleiermacher würde hier mindestens auf der Differenzierung an Hand der Hamartiologie bestehen Rahmen seines theologischen Programms, Gesamtausgabe Abtlg. II, hg. von E. Jüngel und I.U. Dalferth, Zürich 32002, 11. 61 Vgl. H. Peiter, Theologische Ideologiekritik. Die praktischen Konsequenzen der Rechtfertigungslehre bei Schleiermacher, Göttingen 1977, 15ff.50ff. 62 Barth, Nachwort 310–312. 63 Vgl. J. Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, 9.
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und Barth auf der Ereignishaftigkeit und damit Unverfügbarkeit der Entsprechungsereignisse bestehen. Für Schleiermacher wie Barth gilt: Es gibt Gottes Gegenwart in der Lebenserfahrung. Von einer Einheit der beiden zu sprechen, ist aber strikt unmöglich. In der Tat – und selbst das ist noch als Konsens zwischen Schleiermacher und Barth reformulierbar – leitet der Heilige Geist zur Unterscheidung der Geister an.64 So weit, so einig. Die zur Stellungnahme herausfordernden Unterschiede beginnen bei der Frage, wie die Gegenwart Gottes im oder mit dem Wiedergeborenen zu denken ist. Die wichtigsten Stichwörter aus Schleiermachers Glaubenslehre hierfür sind das der Bewusstseinstatsache und der Stetigkeit. Er legt, und damit zum ersten Moment, dass das mit Wiedergeburt Gemeinte im Rahmen der »Erregungen des Selbstbewußtseins« (GL 2,150) merkbar werde, nämlich so, dass das Gottesbewusstsein diese Erregungen dominiert und das nicht mehr als Gefühl der Unlust. Als Modus der Erfahrung, die Wiedergeburt mit sich bringt, ist also die Auffindung in der Introspektion des Subjekts zu benennen. Kombiniert wird das, zweitens, mit Schleiermachers Rede von der Stetigkeit dieses in Wandlung befindlichen Bewusstseins: Oben war gezeigt worden, dass seine Behauptungen über die Stetigkeit des erneuerten Bewusstseins sachlogisch mit dem Gedanken der Stetigkeit des Eingehens Gottes in die Welt zusammenhängen und damit letztlich mit der Vorstellung, dass Gott und Stetigkeit schlechterdings zusammengehören. Hier sind die Unterschiede zur Barth’schen Konzeption allerdings massiv. Sie beginnen damit, dass Barth die Erfahrung der Wiedergeburt nicht als Introsepktion konzeptualisiert, sondern diese geradezu kritisiert: Die Introspektion würde jederzeit dazu neigen, das je Eigene für in Ordnung zu halten und sich auf dessen Stetigkeit verlassen zu wollen – allerdings ist damit der Verstoß gegen das 1. Gebot bereits Wirklichkeit und sind falsche Götter inthronisiert worden.65 (KD IV/2,615) Entsprechend ist die Erfahrung der Wiedergeburt auch kein Datum des Selbstbewusstseins und auch keiner seiner Zustände: Das Ereignis der Entsprechung zu Gott ist etwas, das mit Menschen geschieht: Es ist Geschehenszusammenhang, nicht Bewusstseinsmomentum. Barth ist dabei, wie gesehen, durchaus daran gelegen, den Menschen als Aktvollzieher im Blick zu behalten und ihn nicht – oder jedenfalls nicht nur – als 64 Das ist der Skopus der zu Unrecht vergessenen Pneumatologie von W. Dantine, Der heilige und der unheilige Geist. Über die Erneuerung der Urteilsfähigkeit, Stuttgart 1973, bes. 104ff.168ff. 65 Zu diesem für Barth wichtigen Thema vgl. M. Hailer, Die Unbegreiflichkeit des Reiches Gottes. Studien zur Theologie Karl Barths, Neukirchen-Vluyn 2004, 11–33; ders., Gott und die Götzen. Über Gottes Macht angesichts der lebensbestimmenden Mächte, Göttingen 2006, 275–303.332–361; ders., Gottes Macht und die Mächte des Politischen. Politische Theologie mit Franz Rosenzweig und der Barmer Theologischen Erklärung, in: Gottesmacht. Religion zwischen Herrschaftsbegründung und Herrschaftskritik, hg. von W.H. Ritter und J. Kügler, Münster 2006, 135–156.
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Getriebenen und Be-Geisterten in den Blick zu nehmen. Aber präzise den Schritt zur Verortung der Wiedergeburt in der inneren Erfahrung geht er nicht. Dafür gibt es zwei Gründe, eine theologische Kritik der Introspektion und Annahmen über den Ereignischarakter der Gegenwart Gottes. Barths Kritik der Introspektion ist bekannt genug und muss hier nicht erneut ausgebreitet werden.66 Interessanter, weil direkter zur christologischen Grundlegung des Wiedergeburtsthemas führend, ist die Differenz beim Thema Ereignischarakter Gottes. Dafür ist noch einmal auf Schleiermachers Differenzierung zwischen schöpferisch-wirksamem und deklaratorischem Handeln Gottes zurückzukommen, einschließlich der deutlichen Kritik an letzterem. Gottes Handeln deklaratorisch zu verstehen, so führt er es aus, führt entweder in den Irrtum, mehrfache Rechtfertigungsakte anzunehmen und deshalb die Gewissheit zu unterminieren oder aber es lässt sich verlustfrei in die Vorstellung seines schöpferisch-wirksamen Handelns integrieren. Hier freilich beginnen Probleme, die es letztlich mit einem spinozistischen Hintergrund von Schleiermachers Gotteslehre zu tun haben und die nicht geraten lassen, ihm darin zu folgen. Schleiermacher begründet seine Kritik am deklaratorischen Verständnis der Rechtfertigung unter anderem damit, dass dieses zur Vorstellung von Gott als willkürlich führen würde. Er koppelt das an starke Voraussetzungen aus der allgemeinen Gotteslehre. Weil diese für ihn unhintergehbar sind, zeigt sich in Sachen Nichtwillkürlichkeit und schließlich in Sachen Zurückweisung des Deklaratorischen ein Systemzwang, dessen nachteilige Konsequenzen auf die Prämissen zurückschlagen. Im Überblick gesagt verhält es sich so: Schleiermacher denkt eine starke und stetige Verbindung aus Gott und Welt, nach der das Natürliche geeignet ist, das Übernatürliche in sich aufzunehmen. (GL § 13) Diese Natürlichwerdung ist als ein fortschreitender Prozess zu denken, im Rahmen dessen alles, was geschieht, von Gott her und als sein Werk geschieht, der sog. Naturzusammenhang: Nichts in innerweltlichen Kausalitätszusammenhängen ist derart, dass es »ein Gegenstand für die göttliche Ursächlichkeit erst würde« (GL 1,279). Im Rahmen dieses geschlossenen Bildes bleibt für ereignishafte Denkfiguren kein Raum und Schleiermacher kann keinen Unterschied zwischen primitiven gedanklichen Ereignisfiguren (›Gott greift in die Welt ein und heilt das Haustier‹) und Ereignisfiguren machen, die Gottes aktuale Gegenwart denken. Beides zugleich und ineins damit die Idee, es könne die aktive Kommunikationsrichtung des Menschen hin auf Gott geben verfällt dem Verdikt, hier werde magisch gedacht.67 (z. B. 66 Bei dieser Gelegenheit wäre die Auseinandersetzung mit der These von Stephen Sykes zu führen, Barths Theologie sei contra intentionem interioristisch angelegt, vgl. Schleiermacher and Barth on the Essence of Christianity, in: Barth and Schleiermacher. Beyond the Impasse?, hg. von J.O. Duke und R.F. Streetman, Philadelphia 1988, 88–107, 98–100. 67 Zum entgegen Schleiermachers Meinung theologisch nicht einfach erledigten Thema der Magie vgl. M. Hailer, Wie viel Magie verträgt der Glaube? Systematisch-theologische Refle-
Widerspruch und Anknüpfung zugleich. Karl Barth über die Person und ihr Neuwerden 97
GL 2,164.381) Zugleich gilt, dass Gottes dergestalte Allmacht nichts über dies Verhältnis hinaus ist: Weil die Auffassung der göttlichen Allmacht nur durch das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit möglich ist, muss man sagen, dass »es uns also an jedem Anknüpfungspunkt fehlt, um an die göttliche Ursächlichkeit Ansprüche zu machen, welche über den Naturzusammenhang, den eben jenes Gefühl umfaßt, hinauszugehen.« (GL 1,280) In diesem Sinne besteht zwischen dem Naturzusammenhang und der göttlichen Ursächlichkeit/Allmacht eine strenge Reziprozität. Im Zitat des Kopfsatzes von § 54: »… daß die göttliche Ursächlichkeit, wie unser Abhängigkeitsgefühl sie aussagt, in der Gesamtheit des endlichen Seins vollkommen dargestellt wird«. (GL 1,279) Das freilich ist problematisch. Nicht nur, dass, wie Wolf Krötke zu Recht sagt, Gott gegenüber seiner eigenen Macht nicht mehr frei ist – er ist ihrer sozusagen selbst nicht mächtig, weil er mit ihr identisch ist –,68 nicht nur, dass ›Macht‹ dann vor jeder inhaltlichen Klärung in abstrakter Form als Allkausalität gedacht werden muss, nicht nur, dass die Möglicheit einer angemessenen Rede von der Freiheit und Geheimnishaftigkeit Gottes hier glattweg bestritten wird: Des Menschen Neuwerdung muss als Momentum des Naturzusammenhangs gedacht werden. Gottes Werk ist keine freie Zuwendung, sondern Ereignismomentum im dichten und notwendigen Ereigniszusammenhang zwischen Gott und Mensch. (GL 2,148) Deus sive natura – so weit geht Schleiermacher nicht und er ist in der Glaubenslehre trotz aller trinitätstheologischer Unterkomplexität viel expliziter als in den berühmt-berüchtigten Sätzen aus den Reden, Gott sei nicht alles in der Religion.69 Aber er begibt sich der Möglichkeit, Gottes Freiheit zu denken. Konsequenterweise kennt er auch die Gegenwart Gottes als Ereignis nicht, und so gerät das Beharren darauf, man dürfe Neuwerden nicht katholisch-prozessual denken, in die Nähe der Selbstbestreitung. (GL 2,184–187) Deus sive natura also nicht, aber natura naturans und natura naturata, nach diesem Doppel Spinozas klingt es eben doch.70 xionen, in: Alles fauler Zauber? Beiträge zur heutigen Attraktivität von Magie, hg. von G. Lademann-Priemer, R. Schmitt und B. Wolf, Münster 2007, 103–136. In der Studie von H. Fugmann, Magie als Möglichkeit: Versuch einer Wiedererlangung theologischer und pastoraler Sprachfähigkeit im Blick auf ein umstrittenes Phänomen, Norderstedt 2013, wird das Thema aufgegriffen, wobei teils wenig bekannte Äußerungen von Systematikern aus dem 20. Jhdt. zu Wort kommen. Fugmann macht zu Recht darauf aufmerksam, dass es ertragreiche Studien zum Thema bereits gibt. Ob es freilich eine »theologische Magiologie« geben kann und soll, die er vorzulegen bestrebt ist, muss hier offen bleiben. 68 Vgl. W. Krötke, Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes »Eigenschaften«, Tübingen 2001, 206–208. 69 F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von R. Otto, Göttingen 82002, 95.97.99. 70 Vgl. zur Frage von Schleiermachers Spinoza-Rezeption allgemein G. Meckenstock, Deter-
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Mit Bezug auf die Ethik Spinozas ist zu nennen, ohne dass hier eine literarische Abhängigkeit unterstellt würde: Schleiermacher geht die Eingangsbestimmungen über Gottes notwendige Existenz mit, ohne Spinozas Bestimmung, dass nur Gott oder die Substanz existiert, mitzugehen.71 Freilich übernimmt er die Bestimmungen über den dichten Zusammenhang von Gott und Welt: In der Welt der endlichen Dinge gibt es keinen Zufall, vielmehr ist Existenz, Wesen und Funktionsumfang der Dinge göttlich verursacht.72 Der entscheidende Schritt ist nun der, dass Gott bei der Erschaffung der Dinge selbst den Notwendigkeiten seiner Natur unterworfen ist, so dass ein dichter Zusammenhang zwischen der Ordnung der Natur und der Notwendigkeit in Gott besteht: »In rerum naturâ nullum datur contingens, sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum, et operandum.«73 »Res nullo alio modo, neque alio ordine à Deo produci potuerunt, quàm productae sunt.«74 Spinoza denkt also einen dichten Gott-Welt-Zusammenhang, ineins mit der Abwesenheit von Freiheit in Gott. Die Nähe dieser Bestimmungen zu § 54 der Schleiermacher’schen Glaubenslehre ist mit Händen zu greifen. Beide können geschöpfliche Freiheit nicht im angemessenen Maß zur Geltung bringen. Vor allem aber gibt es bei beiden so etwas wie eine Notwendigkeit der göttlichen Gnade.75 Das aber kürzt um die grundlegende Einsicht, dass Gottes Gnade von uns aus gesehen Zufall ist und uns unverdient und unvorhersehbar zukommt. Dass Karl Barth diese theologische Einsicht zu Recht betont hat, wird man selbst dann sagen dürfen, wenn man die sich für ihn daraus ergebenden Schlussfolgerungen nicht teilt.
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ministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789–1794, Berlin/New York 1988, 181–217; K. Cramer, »Anschauung des Universums«. Schleiermacher und Spinoza, in: 200 Jahre »Reden über die Religion«. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle, 14.–17. März 1999, hg. von U. Barth und C.-D. Osthövener, Berlin /New York 2000, 118–141. B. de Spinoza, Ethik, De Deo Propositiones 13.14, nach der Ausgabe Opera II, hg. von K. Blumenstock, Darmstadt 41989, 104–107. Spinoza, Ethik prop. 25–27 (S. 127–129). Spinoza, Ethik prop. 29 (S. 130). Spinoza, Ethik prop. 33 (S. 136). Das ist die notwendige Folge, wenn Schleiermacher, wie G. Meckenstock schreibt, »seinen Angriff auf den exklusiven Geltungsanspruch der personalistischen Theologie« mit Hilfe Spinozas profiliert. (Meckenstock, Deterministische Ethik 2, vgl. 229f) Entgegen der Ausführung ebd. 3 gerät die Gottesvorstellung dann allerdings nicht »in das Kraftfeld der Freiheitsthematik«, sondern kann exakt die Freiheitsthematik nicht mehr adäquat abbilden. Das Gegenteil wäre nur dann wahr, wenn eine personalistische Gottesvorstellung notwendig mit einem naiven dezisionistischen Freiheitsverständnis identisch wäre. Das aber ist angesichts des biblischen cantus firmus von der Treue Gottes völlig abwegig. – Die unbefriedigende Bearbeitung des Freiheitsthemas wird auch im Rahmen anderer als der hier bezogenen Prämissen gesehen, vgl. von fichteanischen Voraussetzungen her kommend H. Verweyen, Philosophie und Theologie. Vom Mythos zum Logos zum Mythos, Darmstadt 2005, 353.
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Person und Personkriterien. Peter Singers aufschlussreiche Extremposition
»Ich bin eine Person und Sie sind es auch. Soviel steht ohne Zweifel fest.«76 Mit diesen Worten beginnt Daniel Dennett einen Aufsatz, der in der analytischen Philosophie viel Beachtung fand. Dennett legt sich nach dieser Eröffnung eine Reihe von Bestimmungen vor, die menschliches Personsein charakterisieren sollen. Unter ihnen Intentionalität, das Durchdenken von Gedanken und die Fähigkeit, sich zu den eigenen Willensäußerungen zu verhalten. Am Ende seiner Erwägungen ist von der anfänglichen Gewissheit aber nicht mehr viel übrig. Dennett zweifelt, ob die Liste der Bestimmungen, was eine Person ausmacht, mit Erfolg auf jemanden angewandt werden kann. Einer guten Übung folgend macht er dann auch bei sich selbst keine Ausnahme. Dennetts Schlussfolgerung in den letzten Sätzen seines Aufsatzes lautet so: »Und auf die Frage, was diesen Zweifel ausräumen könnte, gibt es nur eine Antwort: nichts. Angesichts solcher Probleme können wir nicht einmal von uns selbst sagen, ob wir Personen sind.«77 Auf nicht einmal zwanzig Seiten hat sich hier ein radikaler Positionswechsel vollzogen. Das könnte nun sokratisch gemeint sein, als wohl begründete Irritation einer eingespielten Gewissheit, die es allemal verdient, gebrochen zu werden. Solche Irritationen sind lohnend, arbeiten sie doch auf Illusionsverlust hin. Es könnte aber auch sein, dass Dennett damit ein allgemeines Denkklima wiedergibt. Und dem ist wohl so, und das nicht nur in manchen zur Verstiegenheit neigenden Zirkeln der analytischen Philosophie, sondern auch in anderen Diskursen. Nicht nur an der Universität, sondern auch in der feuilletonistisch veröffentlichten Meinung, etwa zu Fragen des Lebensschutzes bei schwerer und schwerster Behinderung. Die sozialethischen Kontroversen, in denen sich dieses Klima niederschlägt, müssen kaum eigens erwähnt werden. Die Frage ist, was die Theologie in einer solchen Situation zu leisten hat. Ich möchte gegen Dennetts Schlussfolgerung an seinem ersten Satz festhalten und ich möchte zeigen, dass es sich dabei nicht um ein tapferes Beharren, sondern um eine Position mit guten Gründen handelt. Ich werde Dennetts Zweifel nicht ausräumen, die ihn anhand seiner Liste von Personkriterien beschleichen. Ich möchte vielmehr zeigen, dass diese Zweifel verschwinden, wenn man das Thema in der ihm zukommenden Weise anfasst. Meine Gesprächspartner ist dabei mit Peter Singer ein Philosoph, den man nicht eigens vorstellen muss. Ich suche das Gespräch mit ihm in theologischer Absicht. Das ergibt noch keine zureichende theologische Beschreibung des Phänomens Person. Aber der Grundgedanke, um den es hier zu 76 D.C. Dennett, Bedingungen der Personalität, in: Analytische Philosophie des Geistes, hg. von P. Bieri, Bodenheim 1993, 2303–324, hier 303. 77 Dennett, Bedingungen 324.
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tun ist, verbindet theologisches und philosophisches Nachdenken: Wir sind Personen, auch und gerade weil das Nachdenken über Kriterien des Personseins so irritierend ist und mitunter so traurige und skeptische Schlüsse hervorgebracht hat.
Eine Bemerkung zur Struktur der philosophischen Debatte um »Person« Man kann zunächst einmal grob unterscheiden und sagen: Der Begriff Person wurzelt in zwei Bereichen.78 Einerseits gehört er in die theoretische Philosophie, andererseits in die praktische. Diese beiden Aspekte sind nicht aufeinander reduzierbar und da, wo es doch passiert, gerät man in Probleme. In der theoretischen Philosophie wird die einfach klingende aber schwierige Frage gestellt, was denn eine Person ist. Boethius sagte, dass sie die individuelle Substanz einer rationalen Natur sei.79 Über Jahrhunderte hinweg suchte man in kritischem Anschluss an diese Definition nach in spezifischer Weise ausgestatteten Substanzen, die sich durch Merkmale von allen anderen Substanzen in der Welt unterscheiden. Zugleich wurde immer mitgedacht, dass jede dieser Substanzen unvertretbar individuell ist, also nicht einfach nur als Exemplar einer Gattung beschrieben werden kann. Diese beiden Eigenschaften – bestimmte Merkmale, unvertretbar individuell – kommen auch dort wieder zum Vorschein, wo der Substanzbegriff aus der Mode kommt oder sogar scharf kritisiert wird. Ab der Wende zur Neuzeit wird der Personbegriff vor allem im Paradigma von Bewusstsein oder Selbstbewusstsein beschrieben. Ganz typisch dafür ist John Locke. Er reitet Attacke um Attacke gegen die Idee, dass Personalität etwas mit einer Substanz zu tun haben soll. Aber zugleich ist er der Ansicht, dass Personen sich von allen anderen Dingen in der Welt unterscheiden und dass Personen etwas sind, was es nur je individuell gibt. Das also hält sich durch, trotz eines folgenreichen Neuansatzes. Zu John Locke ein wenig später noch einige Sätze.
78 Zur Begriffsgeschichte vgl. den Artikel »Person«, HWP 7, 270–338 (Beiträge von M. Fuhrmann, B. Th. Kible, G. Scherer, H.-P. Schütt, W. Schild und M. Scherner) und den Durchgang durch prominente Positionen bei R. Kather, Person. Die Begründung menschlicher Identität, Darmstadt 2007, 12–105. Wertvolle Hinweise auch bei Th. Kobusch, Person und Freiheit. Von der Rezeption einer vergessenen Tradition, ZEE 50 (2006), 7–20, der besonders den praktischphilosophischen Aspekt der Anerkennung hervorhebt sowie bei L. Honnefelder, Der Streit um die Person in der Ethik, Philosophisches Jahrbuch 100 (2003), 246–265, ferner R. Konersmann, Person. Ein bedeutungsgeschichtliches Panorama, Internationale Zeitschrift für Philosophie 1993, 200–227. M. Quante, Person, Berlin 22012, diskutiert 35ff John Lockes Position und einige zeitgenössischer Reaktionen auf ihn. 79 Boethius, Contra Eutychem et Nestorium III, Z. 1–5, in: Die Theologischen Traktate, übers. und eingel. von M. Elsässer, Hamburg 1988, 74/75.
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Die Wende zur Neuzeit bringt ebenfalls den zweiten Bereich, in dem der Personbegriff wurzelt. »Person« wird in der praktischen Philosophie verortet. Hier geht es vor allem darum, dass Personen Träger von Würde sind, dass sie Achtung verdienen und nicht verzweckt werden dürfen, und dass sie als freie und wählende Subjekte für ihre Handlungen und Unterlassungen verantwortlich sind. Das ist in direkter Weise mit der Denkfigur der Anerkennung verbunden: Personsein ist etwas, das Personen einander wechselseitig zuerkennen. Das ist zirkulär und muss es auch sein. Die Frage ist, wie man in den Zirkel hineinkommt und wie unter den spezifischen Bedingungen dieses Zirkels eine hinreichende Begründung aussieht. Personsein zeigt sich in Interaktion, sie entspringt jedoch nicht aus einem Klassifizierungsvorgang und ist damit wesentlich praktisch. Vertreter dieses Ansatzes sagen, dass es schon möglich ist, auf eine Art Gegenstand namens Person zu rekurrieren. Wer aber meint, sie in der theoretischen Philosophie kohärent zu erfassen, der irrt: Person ist durch Interaktion, Anerkennung, Zusprechung allererst konstituiert und es gilt, die eigentümliche Ontologie dieses ens morale zu erfassen. Man kann schon auf Merkmale oder Eigenschaften der Person rekurrieren, man muss es sogar, wie hier noch zu zeigen sein wird. Alles verdirbt aber, wenn Person mit einem Eigenschaftsbündel identifiziert wird. Emmanuel Levinas etwa würde sagen, dass das Anlegen eines Kriterienkatalogs an den Menschen, der mir begegnet, schon das πρῶτον ψεῦδος und ein Akt der Gewalt ist. Hier, so Levinas, würde über jemanden Macht ausgeübt und dieser füglich zu einem Etwas degradiert.80 Dieser Grundidee schließe ich mich an und möchte zeigen, dass Personalität es wesentlich mit Anerkennung zu tun hat. Freilich möchte ich den Begriff nicht zu schnell moralisch aufladen und als einzig möglichen deklarieren. Denn beide Zugänge, der theoretische wie der praktische, haben intuitives Wissen für sich. Es ist doch so, dass Personsein irgend etwas mit menschlichen Fähigkeiten zu tun hat, über die man Wissen erlangen und auch streiten kann. Zugleich aber ist das Grundanliegen des Anerkennungsgedankens ebenso sicher: Personen begegnen. Sie sind nicht einfach beschreibbare Dinge. Der Untertitel von Robert Spaemanns einschlägigem Buch macht es deutlich: »Über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹«.81 Traditionell gesprochen geht es um den Unterschied zwischen 80 Vgl. Abschnitt II.2 im vorliegenden Band. Unter den neueren theologischen Anthropologien hat besonders E. Dirscherl dieses Argument in den Mittelpunkt gerückt, vgl. Grundriss Theologischer Anthropologie. Die Entschiedenheit des Menschen angesichts Anderen, Regensburg 2006, bes. 261–277. 81 R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 21998. Dies ist eine bemerkenswerte Studie, u. a. weil sie eine der gründlichsten Auseinandersetzungen mit den Theorien von Derek Parfit und Peter Singer darstellt, weil sie gewisse katholische Hintergründe nicht leugnet, ohne aber als Instrumentarium der theologischen Apologetik zur Verfügung zu stehen und weil sie schließlich bedenkenswerte Argumente für einen Aristotelismus unserer Tage vorträgt. Die weit verzweigten Argumenta-
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Preis und Würde. Dieser Unterschied ist fundamental. Es ist deswegen nötig, dass eine angemessene Theorie der Person beide Aspekte bearbeitet, den aus der theoretischen wie den aus der praktischen Philosophie. Ein moralischer Personbegriff und ein theoretischer Personbegriff stehen nicht separat sondern können wie die beiden Brennpunkte einer Ellipse gedacht werden. Eine Theorie der Person hat dann die Form des Kontinuums zwischen beiden.
Peter Singers Persontheorie: ein aufschlussreiches Extrem Peter Singers Theorie der Person hat für Tumulte gesorgt. Sie hat auch nicht wenig intellektuellen Spott auf sich gezogen, als sei sie schlecht und unvollständig gedacht. Das ist allerdings ein Fehlschluss. Auch wenn man ihr – wie zu zeigen sein wird – nicht folgen sollte, so wäre es doch falsch, Singers Werk als unplausibles Einzelstück zu isolieren. Seine Fehlabstraktionen zeigen vielmehr eine verbreitete Fehleinstellung. Sie zeigen überdeutlich, wo ›Person‹ notwendig verfehlt wird, wenn man sie auf seinen Spuren sucht. Person und Mensch sind für Singer nicht deckungsgleich. Er führt vielmehr eine Liste von Kriterien ein, anhand derer Exemplare verschiedener Spezies als Personen ausgewiesen werden können. Es gibt also möglicherweise nichtmenschliche Personen und eben auch Exemplare der Spezies Mensch, die keine Personen sind. Um diesen Effekt, um die Liste von Singers Kriterien, um ihre mögliche Ausweitung oder Einengung geht der Streit. Er sollte aber an einer anderen Stelle ansetzen. Denn dass Singer zu diesen Personkriterien kommt, ist nicht willkürlich. Es liegt an der spezifischen Variante des Utilitarismus, die er bevorzugt. Der klassische Utilitarismus erklärt als Nutzen die Vermeidung von Leid und die Vermehrung von Lust. Diese Maxime ist freilich alles andere als präzise. Man kann sich dann noch fragen, ob es um eine Nutzensumme oder die Anhebung des Durchschnittsnutzens aller Beteiligten gehen soll, aber auch das tionen des Buches haben m. E. zwei Zentren: (1) Überlegungen zum Phänomen des Reflektierens und Reflektierenkönnens führen dazu zu zeigen, dass Reflexion die Einsicht in die eigene Personhaftigkeit und damit zugleich in die Personhaftigkeit anderer aus sich heraus setzt. (67ff.77.84f) Die Fähigkeit zum intentionalen Akt setzt mit, dass es Personen sind, die intentionale Akte vollziehen. Damit ist zugleich gezeigt, dass Personalität einen Vorgang und eine Anerkennung zwischen Personen darstellt. (2) Daneben wird gezeigt, dass Personalität nicht nur ein Bewusstseinsphänomen ist, sondern in Kontinuität zu den nichtbewussten Formen menschlichen Lebens steht. Das geschieht einerseits durch den Nachweis, dass die cartesische Tradition keinen zureichenden Begriff von Leben ausbilden kann (112f.146) und dann dadurch, dass für eine Kontinuität vorbewussten und bewussten Lebens argumentiert wird: Leben und Bewusstsein sind nicht zwei getrennte Phänomene, sondern ein Kontinuum. (169f) Jede vollständige Theorie der Person – falls es so etwas geben kann und es vonnöten ist – wird wahrscheinlich diese beiden Aspekte beachten müssen.
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bringt keinen großen Bestimmtheitsgewinn. Singer teilt diese Kritik an der hohen Unbestimmbarkeit der Nutzenvorstellung. Wer so allgemein spricht, wird um die Heranziehung von Normen nicht herumkommen, die den Nutzen näher bestimmen. Genau die Heranziehung von Normen aber wollte der Utilitarismus ja vermeiden, weil das seiner Selbstabschaffung gleichkäme. Singers Lösung besteht darin, konsequenter Utilitarist zu sein und eine enge Definition für Nutzen vorzuschlagen: Nutzen ist nicht Leidvermeidung allgemein und Lustvermehrung allgemein, Nutzen ist vielmehr das Interesse, das geäußert wird. Dafür hat sich der Begriff Präferenzutilitarismus eingebürgert und seine Grundregel lautet: Diejenige Handlung ist moralisch gerechtfertigt, die die besten Konsequenzen für die von ihr Betroffenen hat.82 Diese definitionsähnliche Formulierung kommt ohne den Terminus ›Person‹ aus. Freilich wird er bereits im nächsten Reflexionsschritt benötigt. Denn die Frage ist unvermeidbar, von wem gesagt werden kann, es gebe für ihn Konsequenzen. Hier spielen zwei Aspekte die Hauptrolle. Zum einen können Konsequenzen nur in einer zeitlichen Dimension formuliert und erst recht erwartet werden. Zum anderen sind sie etwas, was in irgendeiner Weise präsentiert und kommuniziert werden muss. Die Subjekte von Konsequenzen müssen also mindestens ihre Zukunft in den Blick nehmen können und zu einer für andere Subjekte von Konsequenzen verständlichen Artikulation ihrer Konsequenzerwartungen in der Lage sein. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner und überdies recht plausibler Schritt zu dem Ergebnis, dass solche Subjekte Bewusstsein haben müssen, fähig sein müssen, über ihre Pläne Auskunft zu geben, sie kritisch zu reflektieren usw. Damit ist das Singer’sche Inventar der Personkriterien bereits angelegt. Man kann es mit seinen Worten so zusammenfassen: »aber wir sollten letztlich doch die Autonomie favorisieren«.83 Damit ist die Differenzierung zwischen Menschen und Personen erreicht. Dass Singer meint, sie mit dem Speziesismus-Vorwurf an seine Gegner stützen zu müssen, ist sicher unsachlich und diffamierend. Dessen Kritik allein genügt als Widerlegung freilich nicht.84 82 P. Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 21994, 30. 83 Singer, Ethik 217. 84 Diese Zurückweisung hat zumeist die Form des Nachweises, dass alle Menschen Personen sind. Er hat – bis hinein in die Buchtitel – einige Verbreitung gefunden, vgl. J. Splett, Der Mensch ist Person. Zur christlichen Rechtfertigung des Menschseins, Frankfurt/M. 1978; H. Schmidinger, Der Mensch ist Person. Ein christliches Prinzip in theologischer und philosophischer Sicht, Innsbruck/Wien 1994; A.G. Wildfeuer, Art. Person, Lexikon der Bioethik 3, Gütersloh 1998, 5–9. Es geht in aller Regel um die Zurückweisung eines Personbegriffs, der allein bewusstseinstheoretisch gewonnen wird und um argumentative Strategien, die zeigen sollen, dass die Termini ›Mensch‹ und ›Person‹ einander wechselseitig interpretieren. Dafür wird z. B. das sittliche Personsein als Begründung der Zuschreibung eingesetzt, als Kriterium hingegen das Menschsein (Wildfeuer 5.9). Schmidinger geht andere Wege: Er problematisiert den rein bewusstseinstheoretisch gewonnenen Personbegriff, der ja erst die Möglichkeit zur Differenzierung von Mensch und Person gegeben hatte und argumentiert für eine ur-
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Konzediert man diese Schwierigkeiten und will doch zugleich Utilitarist bleiben, dann bliebe der Weg zu dem, was Dieter Birnbacher indirekten Utilitarismus nennt. Damit ist eine Theorieform gemeint, die im generellen Design utilitaristisch ist, aber sowohl andere teleologische Argumentationstypen – etwa aus der Tugendethik – als auch deontologische Argumente zulässt.85 Die direkte Zuordnung von Person und Interesse ist dann aufgelöst und es verwundert nicht, wenn Birnbacher für eine multidisziplinäre Ethik votiert.86 Dass das den Dialoginteressen der theologischen Ethik entgegenkommen dürfte, vermerke ich hier nur am Rande.
Man weist diese Position nicht zurück, indem man das Inventar der Personkriterien zurückweist, wie das oft – und oft auch mit moralischer Aufladung – getan wurde. Wer das versucht, ist bereits in der, wenn man so will, Singer-Falle gefangen. Die Zurückweisung muss vielmehr Singers eigene Voraussetzungen problematisieren. Das ist möglich und nötig, auch weil es zeigt, wofür Singer als Exempel steht. Hier seien drei Punkte genannt 1. Singers Gründe, Präferenzutilitarismus dem klassischen Utilitarismus vorzuziehen, sind schwach. Sie laufen darauf hinaus, dass er die Ergebnisse seiner Lesart für präziser hält als die, die man mit der klassischen Formel von Bentham und Mill erzielt. Es gehe eben um Förderung von Interessen, schreibt er, und nicht »bloß [um, M.H.] das, was Lust vermehrt und Unlust verringert«.87 Mit dieser definitorischen Einführung soll die notorische Schwäche des klassischen Utilitarismus behoben werden. Ein Akt der Präzisierung. Der Preis der Präzision ist aber, den Personbegriff für die Interessensubjekte einzuführen. Singer deklariert das als Konsequenz. Sein Personbegriff ist aber so weitreichend und so voraussetzungshaltig, dass es sich bei ihm gar nicht um eine bloße Konsequenz handelt, sondern um eine Prämisse. Als solche ist sie aber nicht lediglich etwas, was man erläutern muss, wie Singer das tut. Man muss es kritischen Einwänden aussetzen. Das passiert im nächsten Schritt. sprüngliche »Vertrautheit des Menschen mit sich selbst« (Schmidinger 132). Aus ihr folgt, »daß der Mensch zumindest im Prinzip Person sein kann« (134). Nimmt man noch das sog. Potenzialitätsargument zu Hilfe, ist das vorläufige Beweisziel »Mensch = Person« erreicht. Schmidinger geht noch weiter und will zeigen, dass die unvertretbaren Akte der Person Kommunikation und Liebe sind, die wiederum den Hinweischarakter auf Gott als letzten Grund des Personseins tragen. (146–150) – Diese Argumentation zeigt idealtypisch einen katholisch-theologischen Zugang: Die Identität von Mensch und Person ist ihm – ob mit der boethianischen Definition substantialistisch abgesichert oder nicht – ein selbstverständliches Anliegen, das darüber hinaus in fundamentaltheologischer Absicht zum Erweis der Gottoffenheit des Menschen verwandt wird. Die Apologetik ist freilich auch der genuine Ort solcher Argumentationen. Was dabei tendenziell verloren geht, ist die ethische Explizitheit des Personbegriffs. Nach ihr ist aber eigens zu fragen als nach dem, welche Werte und Normen durch den Personbegriff generiert oder gestützt werden. 85 Vgl. D. Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse. Mit einer Einleitung von Andreas Kuhlmann, Frankfurt/M. 2006, bes. 49–52. 86 Ebd. 52. 87 Singer, Ethik 31.
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2. Vorgeburtliches menschliches Leben, Neugeborene, unheilbar Debile und andere sind nach Singer keine Personen. Das Prädikat Person ist in direkter Weise an mentale Phänomene der Autonomie und des Selbstbewusstseins geknüpft. Eine solche Persontheorie hat eine eindeutige Herkunft. In John Lockes ›Essay concerning Human Understanding‹, im Jahr 1700 letztmals von eigener Hand herausgegeben, finden sich die klassischen Definitionen. Locke identifiziert introspektive Selbstwahrnehmung und Person: »Person, as I take it, is the name for the self. Where-ever a Man finds, what he calls himself, there I think another may say is the same Person.«88 Das Selbst des Selbstbewusstseins und die Person sind deckungsgleich. Eine Person muss intelligent sein, Gesetzen folgen können und zu Glücks- und Leiderfahrung in der Lage sein. Zu dieser Person gehören ferner nur diejenigen vergangenen Ereignisse, an die sie sich erinnern kann und nur diejenigen zukünftigen Ereignisse, deren Selbstbewusstsein durch Erinnerung mit dem heutigen Selbstbewusstsein identisch ist. Personidentität wird durch selbstbewusstes Erinnern und Antizipieren gestiftet. Der Konsequenz, dass dann zeitweilige Verwirrung, ja selbst einige Stunden des Schlafes aus der Selbstwahrnehmung und damit aus der Kontinuität der Person herausfallen, ist Locke sich übrigens voll bewusst: »If the same Socrates waking and sleeping do not partake of the same consciousness, Socrates waking and sleeping is not the same Person.«89 So zu denken führt in erhebliche Probleme. Schon einmal dies, dass kein Abgrenzungskriterium dafür gegeben werden kann, wo dann die Persongrenze sein soll, beim Nickerchen oder erst bei einer für irreversibel gehaltenen geistigen Erkrankung, von der Festlegung eindeutiger Kritierien für letztere ganz abgesehen. Am wichtigsten ist aber wohl: Hier ist der recht krude cartesische Zungenschlag deutlich hörbar: ›Person gleich consciousness‹ ist eines, alle anderen Lebensregungen sind ein anderes. Wäre das so, dann wären unintelligente Tiere Maschinen, das Tierische in Menschen freilich auch. Dieser Art sind die Schwierigkeiten eines Personbegriffs, dessen Singer sich bedienen muss, um seinen Präferenzutilitarismus durchzuhalten. Diese Schwierigkeiten sind zu groß als dass es geraten sein könnte, diesen Weg enzuschlagen. Zur Würdigung des hier nur kurz erwähnten John Locke allerdings noch dies: Sein Personbegriff hat überraschenderweise eine eschatologische Pointe: Die Introspektion auf die eigene Identität greift voraus bis zum jüngsten Gericht, wie er unter Verweis auf den 1. Korintherbrief feststellt. Es ist gleichgültig, in welcher Körpersubstanz wir uns dann befinden, entscheidend ist die Zu-
88 J. Locke, An Essay Concerning Human Understanding, hg. von P.H. Nidditch, Oxford 1975, 346 (II, XXVII, 26). 89 Locke, Essay, 342 (II, XXVII, 19).
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rechnung dessen, was uns zugerechnet werden kann.90 Die Erinnerung ans Selbst ist eine Erinnerung vor Gott im Vorgriff auf die ganze Lebensgeschichte. Man wird schließen müssen, dass für Locke die Introspektion der Person etwas ist, was letztlich doch nicht ohne externes Forum stattfinden kann. In dieser Theorie ist also selbst ein Übergang zur anerkennungstheoretischen Konstitution der Person eingelassen. Diese Perspektive fällt bei Singer einer primitiven Theologiekritik zum Opfer.91 Es kann aber durchaus sein, dass ein bewusstseins- und gedächtniszentrierter Personbegriff erst dann satisfaktionsfähig ist, wenn er ein letztes und bewusstseinsexternes Forum angeben kann, vor dem die Person sich erinnert. Theologische Assoziationen drängen sich förmlich auf: Die Pannenberg’sche Theorie der Antizipation und auch die Überlegungen zum kollektiven und zum kanonischen Gedächtnis oder das story-Konzept haben dafür sehr unterschiedliche, aber jeweils starke Argumente vorgelegt.92 Systematisch-theologisch steht an dieser Sachstelle zu fragen: Soll man diesen Punkt theologisch ›besetzen‹ oder nicht? Eine klassische demonstratio religiosa bejaht dies und wird nun versuchen, dies bewusstseinsexterne Forum als eines zu beschreiben, das nicht anders als theologisch denkbar ist. Man könnte aber genauso sagen, dass es keine guten Gründe gibt, eine solche notwendig offene Sachstelle ins theologische Sprachspiel zu überführen. Im ersten Fall wird die theologische Anthropologie zu einem Thema der Fundamentaltheologie und diese wiederum als Apologetik konzipiert, im zweiten Fall würde einer solchen Funktionalisierung der Anthropologie widersprochen. Im Kern geht es darum, ob es gute Argumente dafür gibt, eine prinzipiell offene Sachstelle als eine auszuweisen, die vermöge ihrer Offenheit ins theologische Sprachspiel überführt werden kann oder ob man dies philosophisch als Erschleichung und theologisch als inhaltliche Unterbestimmung zurückzuweisen hat.
3. Und damit zum Exemplarischen von Singers Position: Er setzt auf Kriterien des Personseins. Ja, er vergibt das Prädikat ›Person‹ erst nach einer Kriterienüberprüfung. Formal gesprochen isoliert er den Personbegriff in der theoretischen Philosophie. Erst wenn dort ein Exemplar der Gattung Person ausgemacht ist, wird die praktische Philosophie aufgerufen und der ethische Diskurs beginnt. Singer verkennt, dass das Phänomen Person genauso in der 90 Locke, Essay, 347 (II, XXVII, 26). 91 Singer, Ethik 18f. 92 Zum Antizipationsbegriff vgl. den locus classicus bei W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/M. 1987, 303–329. Aus der Fülle der Arbeiten zur Theorie des kollektiven Gedächtnisses vgl. zu diesem Punkt J. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, 11–44.81–100.124–147. Das auf mehrere Autoren zurückgehende story-Konzept wird vorgestellt bei D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988, 45– 51.170f.286–299 u. ö.
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praktischen Philosophie verwurzelt ist. Es gibt den Unterschied zwischen etwas und jemand. Der Unterschied zwischen Du und es, um es einmal mit Martin Buber zu formulieren, ist belangvoll.93 Es gibt Begegnung und es gibt Anerkennung. All das sind nicht Folgephänomene von Person, sie konstituieren die Wahrnehmung des Phänomens Person vielmehr.94 Singer macht jemanden zu etwas. Und von etwas führt kein Weg mehr zu jemandem zurück. Dieser Zug ist das Exemplarische an seiner Arbeit, das, weswegen sie erinnert und diskutiert werden muss. Denn der Bezug auf Kriterien der Personalität ist verführerisch. Er ist auch bei vielen derer zu finden, die Singers Utilitarismus nicht teilen und die erst recht seine sozialethischen Konsequenzen ablehnen. Er prägt z. B. Ansätze wie den eingangs zitierten von Daniel Dennett. Er prägt schlechterdings alle, die den Terminus Person nach kriteriengeleiteter Prüfung vergeben wollen, und seien die Kriterien deutlich weicher und, in Anführungszeichen gesprochen, humaner, als es die Singer’schen sind. Man kann das etwa am Holismus Klaus-Michael Meyer-Abichs zeigen, der weitestmögliche Kriterien für die Teilnehmer am ethischen Diskurs einführt, indem er der Natur den Status eines Rechtssubjekts zumisst. Gefragt, wie man denn dann zu Differenzierungen komme, antwortet er, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden müsse.95 Das aber ist bei lauterster Absicht strukturell vom Singer’schen Personbegriff nicht zu unterscheiden. Wird der Personbegriff als Klassenbegriff eingeführt, so ist, im Bild gesprochen, die Singer-Falle bereits zugeschnappt und ihr Namengeber funktioniert dann nur noch als verdeutlichendes Extrem. Will man das vermeiden, so gilt: Der Personbegriff ist mindestens auch praktischphilosophisch zu fundieren, aus der Begegnung, aus der Anerkennung, aus der wechselseitigen Konstitution von Personen. Was die kurze Bemerkung zu John Lockes Personbegriff ergeben hat – Person ist vor einem Forum konstituiert, Theologie würde sagen: vor dem Forum Gott –, das gilt es im Folgenden fest-
93 M. Buber, Ich und Du, in ders., Das dialogische Prinzip, 5. Aufl., Heidelberg 1984, 5–136. 94 Exakt dieser Umstand wird bei M. Quante, Person 27ff nicht entscheidend mitreflektiert. Quante legt ein additives Verständnis vor, das Personsein aus Anerkennung auf einen kriteriengeleiteten Personbegriff aufsetzt, aber dadurch nicht in den Blick bekommt, dass es sich dabei um konstitutive Bezüge handelt. Seine Konsequenz, die menschliche Persistenz biologisch zu sichern (103ff) muss sich deswegen fragen lassen, ob sie als Theorie der Persistenz von Personen geeignet ist oder ob sie diese nicht vielmehr konsequent und zugleich zum Schaden des Unternehmens außer Blick nehmen muss. Denn wer biologisch argumentiert, kann Personen gar nicht in den Blick nehmen wollen. Dann aber läuft die Theorie auf eine kriteriengeleitete Trennung von Mensch und Person hinaus, deren Aporien bei Peter Singer deutlich zu studieren sind. 95 K.-M. Meyer-Abich, Eigenwert der natürlichen Mitwelt und Rechtsgemeinschaft der Natur, in: Ökologische Theologie. Perspektiven zur Orientierung, Stuttgart 1989, hg. von G. Altner, 254–275, hier 257.
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zuhalten, wenn es um Personbegriffe geht, die ohne Wechselseitigkeit nicht zu denken sind. Ein caveat vor dem Weitergehen: Es ist nicht abseitig, Kriterien des Personseins zu verwenden und der Modus der dichten Beschreibung scheint dafür ein hilfreiches Mittel zu sein.96 Wir tun es täglich und wir sollen es auch. In rechtlich relevanten Bereichen, im diakonischen Bereich und anderswo, auch bei der zu oft perhorreszierten Introspektion. Die Verwendung von Personkriterien ist immer wieder gerechtigkeitserheblich, wie schon einfachste Beispiele aus der Rechtsprechung, bei denen es um die Fragen der Zurechenbarkeit von Handlungen und Handlungsfolgen geht. Insofern ist Daniel Dennetts Skrupel gut verständlich. Es kommt nur alles darauf an, diese Verwendung niemals im Singer’schen Interesse durchzuführen, also zur Scheidung von Mensch und Person. Wohl aber gibt es Merkmale, die normalerweise mit Personen verbunden werden.
Person und Anerkennung. Umriss der theologischen Klärungsaufgabe Ich möchte abschließend wenigstens andeuten, wo ich die theologische Klärungsaufgabe sehe, die versucht, einer moralisch aufgeladenen Aufweichung der Singer-Kriterien zu entgehen. 1. Ein theologischer Personbegriff sollte nicht durch die Entwicklung von Kriterien für Personalität eingeführt werden, sondern über das Phänomen asymmetrischer Anerkennung. Personkriterien führen in die Irre, weil man mit ihnen schlechterdings nicht zu Gesicht bekommt, was eine Person ausmacht. Der einzige Weg aus der Singer-Falle besteht darin, nie in sie zu tappen, auch nicht mit denkbar weiten Kriterien. Das geschieht leider regelmäßig da, wo mit schöpfungstheologischen Argumenten die Singer-Kriterien sozusagen aufgeweitet und humanisiert werden. Das mag intuitiv verständlich sein und guten Willen zeigen, verdeckt aber, dass wir es dann mit etwas zu tun haben, nicht mit jemand. Außerdem kürzt es um den Anredecharakter der Schöpfung. Personen sind wir nicht aufgrund natürlicher Ausstattungsmerkmale, deren Fehlen das Personsein aberkennen würde, selbst, wenn man es schöpfungstheologisch weich lagert. Personen sind wir durch den fundamentalen Anerkennungsvorgang der Gottesbeziehung. Dazu tritt mindestens noch dies: Anerkennung bezieht sich auch auf die Person in ihrer unvertretbaren Individualität. Die Tradition hat das gewusst: individuum est ineffabile. Person im Vollsinn ist nicht die öffentliche Person alleine. Freilich sind Personen nur im Rahmen einer gewissen Öffentlichkeit zugänglich. 96 Vgl. D. Sturma, Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität, Paderborn u. a. 1997, 188ff.287ff.
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Wenn nämlich Menschen einander durch Anerkennung zur Person konstituieren, dann sind sie immer im Raum einer gewissen Öffentlichkeit – und sei es im Raum der intimen Zweierbeziehung. Person wird durch eine unvordenkliche und nicht herstellbare Anerkennung konstituiert. Das aber bedingt die eine oder andere Form von Öffentlichkeit. Hier zeigt sich überdies: Person und Anerkennung sind deckungsgleich. Also ist eine Person nicht anders als in einem Akt der Stellvertretung zu denken. 2. Die Begründungslogik innerhalb des theologischen Arguments geht weg vom Nachweis notwendiger Gegenseitigkeit und hin zu einer massiven Einseitigkeit. Die Konstitution der Person ist zuerst dies: Durch die Anerkennung durch Gott ist die Person. Auch das also ist eine Anerkennung, aber eine profund asymmetrische. Unsere Identität ruht in Gottes Identität. Das ist, nebenbei gesagt, mehr als ein vages Angenommensein, worauf die Predigt der Rechtfertigung allzu oft herunterkommt. Anerkennung aber wird so ausgesagt, dass Gott für diese Person einsteht. Anerkennung wird also weder von uns gemacht noch von uns unterlassen sondern stellvertretungstheologisch gedacht. Bei Paulus: Nun nicht mehr ich sondern Christus in mir. Gal 2,20 dürfte dem fides facit personam in der Tat zu Grunde liegen. Und in einer bei John Rawls geliehenen Sprache (vgl. I.4) kann man sagen: In diesem Anerkennungsvorgang ist die Person vor ihren Zielen da, weit bevor sie je an Ziele geht. Die reformatorischen Leitbegriffe dafür sind der des inneren Menschen aus Luthers Freiheitsschrift und der der vita passiva. 3. Die theologische Einholung des Begriffs verändert auch die Reichweite des Arguments. Mit dieser theologischen Argumentation kann nicht unmittelbar öffentliche Zustimmung erworben werden. Ihr Eigenstand ist deutlich zu markieren. Freilich sollte man diese Argumentationsfigur der Öffentlichkeit genauso wenig vorenthalten und es ist anhand ihrer gegen eine zu einfache Trennung von privater und öffentlicher Person zu protestieren. Denn die Anerkennung durch Gott ist so beschaffen, dass sie von sich aus die Räume der Öffentlichkeit suchen wird. Auch wenn man diese Anerkennung nie wird beweisen können, man kann sie explizieren und ihre guten Gründe bewerben. Dieser Umstand stellt keinen prinzipiellen Nachteil dar: Jede Ethik ist auf Intuitionen darüber angewiesen, was gerecht und was fair ist, auch kann ein Widerstrebender nicht zum moralischen Argumentieren gezwungen werden. Man könnte sogar so weit gehen und sagen, dass die eingesehene Voraussetzungshaltigkeit des theologischen Personbegriffs nur a fortiori das zeigt, was für jede Ethik gilt. 4. Gerade weil die Person vor ihren Zielen durch Gottes Anerkennung da ist, hat das Folgen für die Ziele dieser Person. Die reformatorische Tradition nannte das das getröstete Gewissen oder – so etwa in Luthers Freiheitsschrift – die spontanen Werke des äußeren Menschen, der nicht allein in seinem Leibe lebt,
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sondern auch unter anderen Menschen auf Erden.97 Seine Ziele formulieren sich aus der allem voraus liegenden Anerkennung heraus. Die Person kommt dann aber mit und bei den anderen zu sich, weil ihre Ziele durchs verbum externum geformt und bereitet sind. Und so ist es die erste Übung der Person des Christenmenschen, anderen das Personsein zuzusprechen. Was dabei herauskommt, zu beschreiben und auszulegen ist Aufgabe und Privileg der theologischen Ethik. Dieses Personsein durch Anerkennung Gottes kann eine philosophische Theorie nicht einholen. Die Theologie besteht aber darauf. Auch und gerade da, wo keine öffentliche Vernunft je hinkommen wird, gilt: »Ich bin eine Person und Sie sind es auch. Soviel steht ohne Zweifel fest.«98
4.
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Dogmatik und Ethik operieren mit distinkten Vorstellungen davon, was die menschliche Person ausmacht – gleich, ob das ausdrücklich reflektiert wird oder nicht. Ich möchte im Folgenden nach einer sachgemäßen theologischen Rede von Person fragen. Dazu dient das Gespräch mit einem der wirkmächtigsten ethischen Ansätze des 20. Jahrhunderts, der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls.99 Ich unterziehe diese Theorie einer theologischen Lektüre in Konzentration auf den Personbegriff, wobei sich überraschende Nähen wie auch Fernen von Rawls’ Werk zu theologischen Anliegen zeigen werden. Es lohnt sich, diesen Überraschungen nachzugehen, weil es um das Gespräch zwischen Theologie und liberaler Gerechtigkeitstheorie – und als eine solche versteht sich das Werk von John Rawls – nicht zum Besten steht. Dafür wird vor allem geltend gemacht, dass die Anlagen der jeweiligen Überzeugungssysteme grundverschieden sind. Auf der einen Seite steht die Theologie, die das, was als gut und gerecht gilt, letztlich im Willen und Wesen Gottes verankert sieht und auf 97 WA 7, 38. 98 Wie Anm. 76. 99 Rawls’ Werke werden mit folgenden Siglen zitiert: Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. von H. Vetter, Frankfurt/M. 1975, 41988 (A Theory of Justice, 1971): TG – Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, hg. von W. Hinsch, Frankfurt/M. 1994: IL – Politischer Liberalismus, übers.t von W. Hinsch Frankfurt/M. 1998 (Political Liberalism, 1993): PL – Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Kant – Hegel, übers. von J. Schulte, Frankfurt/M. 2002 (Lectures on the History of Moral Philosophy, 2000): GM – Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, hg. von E. Kelly, übers. von J. Schulte, Frankfurt/M. 2003 (Justice as Fairness, 2001): GF – Über Sünde, Glaube und Religion, hg. von Th. Nagel, übers. von S. Schwark, Berlin 2010 (A Brief Inquiry into the Meaning of Sin and Faith, 2006): SGR.
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der anderen Seite eine ethische Theorie, die das Gerechte aus einer Übereinkunft zwischen Vertragspartnern ermittelt und jede externe Autorität dabei kategorisch ausschließt. Haben die beiden einander also wenig zu sagen? Ich meine, dass dieser Eindruck nur bestehen bleibt, wenn man sich an die jeweiligen Oberflächensemantiken hält, dass aber im dahinter liegenden Bereich die konstruktiven Parallelen und Widersprüchen zutage treten. Diese geraten in den Blick, wenn man die klassische Frontstellung ›Autorität vs. Vertrag‹ hinter sich lässt und – als eine unter mehreren Möglichkeiten – das jeweilige Verständnis von Person in den Blick nimmt.
Zur Anlage der Theorie der Gerechtigkeit Im Jahr 1971 erschien A Theory of Justice, das Hauptwerk von John Rawls. Es hatte und hat eine enorme Breitenwirkung und wurde rasch zu einem modernen Klassiker der Moralphilosophie. Heute wird es mit den einschlägigen Werken von Hobbes, Kant und Hegel in einem Atemzug genannt. Bekannt und berühmt geworden ist die Theorie der Gerechtigkeit als Wiederaufnahme und Verfeinerung der Vertragstheorien der Gerechtigkeit. Ihr Fokus ist zunächst nicht die Person und deren Disposition zum Handeln, sondern die Gerechtigkeitsverhältnisse in der Gesellschaft und in den politischen Institutionen. Dass dies Erklärungsziel ohne einen distinkten Personbegriff aber nicht auskommt, möchte ich kurz zeigen. Dazu setze ich beim – von Rawls selbst so genannten – »Hauptgedanke(n)« (TG 27) der Theorie ein. Rawls nimmt sich vor, eine Theorie der Gerechtigkeit zu entwerfen, »die die bekannte Theorie des Gesellschaftsvertrags, etwa von Locke, Rousseau und Kant verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsebene hebt.« (TG 27f) Mit der ›höheren Abstraktionseben‹ ist im wesentlichen Rawls’ Anspruch gemeint, dass seine Theorie ohne expliziten Bezug auf die Philosophien der drei Genannten auskommt. Auch wenn die Theorie gewiss kantisch tönt und eines der zentralen Kapitel sich auch seiner Termini bedient,100 beansprucht Rawls doch, nicht im Rahmen der kantischen Transzendentalphilosophie zu arbeiten, sondern eine Rechtfertigung von Gerechtigkeitsgrundsätzen zu bieten, deren Plausibilität auch unter gewandelten philosophischen Bedingungen demonstrierbar ist. Vor Augen steht ihm dabei insbesondere die moderne freiheitliche Demokratie, die mit den Voraussetzungen der klassischen Urzustands- und Vertragstheorien vielfach nicht mehr kompatibel ist. Der Erklärungsanspruch ist nun kein kleinerer als der sowohl unter klassischen als auch 100 »Die Kantische Deutung der Gerechtigkeit als Fairneß«, TG 283–290, später, in der Umarbeitungsphase der Theorie: »Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie«, IL 80–158.
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unter gegenwärtigen Bedingungen erfolgreich die Grundsätze der Gerechtigkeit aufzeigen zu können. Dazu bedient sich Rawls eines Gedankenexperiments. Es wird eine ursprüngliche Zusammenkunft von Vertragsparteien gedacht, die sich über die in der Gesellschaft geltenden Gerechtigkeitsgrundsätze verständigen. Es gibt keine höchste Norm und kein höchstes allgemeines Gut; es gibt insbesondere keinen absoluten Gesetzgeber, wie Rawls und die klassischen Vertragstheoretiker ihn an der Basis theologischer Argumentationen vermuten. Es ist allein Sache der Parteien, die Gerechtigkeitsgrundsätze auszuhandeln. In den klassischen Theorien taten sie dies zumeist, um einem katastrophisch gedachten Urzustand, dem bellum omnium contra omnes zu entfliehen. Rawls denkt dies für die Fälle demokratischer Gesellschaften, in denen es zumeist nicht ums nackte Überleben geht, anders. Es gibt bei ihm keine inhaltliche, wohl aber eine formale Festlegung des Urzustands: Die Parteien treten für ihre Verhandlungen hinter den sogenannten veil of ignorance, den »Schleier des Nichtwissens« (TG 29 u. passim). Sie sind vernünftig und sie kennen die wichtigsten Naturtatsachen, auch haben sie Gerechtigkeitsempfinden, wollen also einmal eingegangene Grundsätze unbedingt halten. (TG 166–174) Aber sie wissen nichts über ihre eigene konkrete Situation, ihr Alter und Geschlecht, ihre Religion und ihre soziale Stellung. Die Liste der Kriterien des Schleiers ist lang und komplex.101 Zu ihnen gehört, dass die Parteien Nachkommenlinien sind, also nicht nur für ein Individuum entscheiden, sondern generationenübergreifend denken. (TG 234) Ferner sind die Parteien nur an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert. Die Theorie schmuggelt in den Urzustand keinen Altruismus ein. Rawls schreibt zusammenfassend: »Vor allem kennt niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klasse oder seinen Status; ebensowenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz, Körperkraft usw. Ferner kennt niemand seine Vorstellung vom Guten, die Einzelheiten seines vernünftigen Lebensplanes, ja nicht einmal die Besonderheiten seiner Psyche wie seine Einstellung zum Risiko oder seine Neigung zum Optimismus oder Pessimismus.« (TG 160)
Die so (und mit einer Reihe weiterer Kriterien) bestimmten Parteien sind nun gehalten, diejenigen Gerechtigkeitskriterien festzulegen, die für die Gesellschaft gelten. Sie wählen in Ignoranz aller speziellen Kenntnis das für sich Vernünftigste. Das Ergebnis ist, dass die Gerechtigkeitskriterien, die bei einer solchen Wahl herauskommen, nicht nur gerecht sind; sie sind vernünftig. Eine Ungerechtigkeit, auf die sich die Parteien unter den Bedingungen des Schleiers des Nichtwissens einigen würden, wäre nicht nur ›ungerecht‹ im Sinne einer landläufigen Vorstellung von Gerechtigkeit. Für die Rationalegoisten des Rawls’schen
101 TG 159–166 wird der Schleier ausführlich behandelt. Vgl. auch die Liste der Bedingungen im Urzustand TG 170f.
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Szenarios wäre eine solche Ungerechtigkeit schlicht unvernünftig. Sie widerspräche dem, was sie unter ihren spezifischen Bedingungen vernünftigerweise wollen können. Mit anderen Worten: Rawls ist durch seine Fassung des Urzustands bemüht, Gerechtigkeit und Vernunft zur Deckung zu bringen. In den Kapiteln 2 und 3 seines Buches bietet Rawls weitverzweigte Argumentationen, mit denen er begründet, auf welche Grundsätze der Gerechtigkeit sich die Parteien des Urzustandes einigen würden. Der Konjunktiv ist hier insofern richtig, als Rawls durchgängig davon ausgeht, dass es sich bei der Verfassungswahl unter dem Schleier des Nichtwissens um eine hypothetische Operation handelt. (TG 193) Wir befinden uns also im Status des Gedankenexperiments. Das Ergebnis dieses Gedankenexperiments sind zwei Grundsätze der Gerechtigkeit. Sie gelten in lexikalischer Reihenfolge, d. h. dass der erste immer Vorrang vor dem zweiten hat und lauten: »1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.« (TG 81)102
Die Leistungsfähigkeit des Gedankenexperiments und dieser Grundsätze ist bestechend groß und liegt unter anderem daran, dass in Fragen von Eigentum und sozialer Stellung ein Maßstab zur Bewältigung bestehender Ungleichheiten gegeben wird: Traditionell ›linksgerichtete‹ Theorien operieren hier mit utopischem Egalitarismus, traditionell ›rechtsgerichtete‹ tendieren einseitig zur Rechtfertigung von Besitzverhältnissen. Rawls’ zweites Prinzip, das sog. Differenzprinzip, hat hier seine Erklärungskraft. Es geht davon aus, dass die Besserstellung von Personen nicht moralisch verdient ist, wie es der radikale Liberalismus annimmt. Deswegen ist sie aber nicht verboten, wie der klassische Sozialismus es sehen würde, vielmehr werden die Bessergestellten dazu angeregt, etwas zu ihrem eigenen Vorteil zu tun, freilich genau so, dass sie zugleich zum Wohl der weniger Begüterten/Begabten beitragen: Gerechtigkeit wird als Reziprozität ausbuchstabiert. Wie Rawls in immer wieder in neuen Variationen vorgelegten Argumentationen zeigt, genügt das Differenzprinzip sowohl höchsten Ansprüchen an die Rechtfertigung und ist doch zugleich als Maxime ordnungspolitischen Handelns brauchbar.103 Ohne das hier ausführen zu können: Es ist die Stärke dieser Theorie, sowohl streng grundsatzorientiert als auch vielfach operationalisierbar zu sein. Bei Rawls heißt das bescheiden: »Es geht um 102 Vgl. die später im Zuge der politischen Fassung der Theorie veränderte Formulierung in PL 69f. Noch einmal leicht verändert ist die Formulierung GF 78. 103 Vgl. u. a. TG 86–110.201–210.565–574; PL 81–89; GF 104–127.211–215.302–308.
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die Ableitung brauchbarer Grundsätze aus möglichst schwachen Voraussetzungen.« (TG 565)
›Die Person ist vor ihren Zielen da‹ oder ›Christus in mir‹? Rawls’ frühe Theorie von der Natur des Menschen Ich belasse es bei diesen Andeutungen zur Stärke der Theorie der Gerechtigkeit und gehe zum impliziten und expliziten Personbegriff über. In den klassischen Theorien, vor allem in der von Thomas Hobbes, regiert eine negative Anthropologie, denn das Recht hat wesentlich die Aufgabe, die Menschen voreinander zu schützen. Rawls setzt dem nicht einfach aufklärerischen Optimismus entgegen. Er zeigt das, was man eine ›anthropologische Minimalisierungsstrategie‹ nennen könnte: Die Person ist das, was von historischen Zufällen aller Art gänzlich unabhängig ist, denn von allen diesen Zufällen wissen die Verfassungswähler ja nichts. Rawls hält die Unterschiede von Geschlecht, Begabung, Alter, Religion für rein zufällig, eine »Lotterie der Natur« (TG 94). Sie sind nicht gerechtigkeitserheblich, sondern »einfach natürliche Tatsachen« (TG 123, vgl. PL 385, GF 98). Das alles macht die Person nicht aus. Was wir sind oder doch sein können, ist dies: »freie und gleiche vernünftige Wesen mit Wahlfreiheit« (TG 288, vgl. 284). Das bleibt sozusagen übrig, wenn die Zufälligkeiten der Natur durch das Gedankenexperiment des Urzustands weggedacht werden. In Rawls’ Worten: »die Person ist vor ihren Zielen da« (TG 607). Gerechtigkeit ist nun nichts anderes als die Entsprechung zu diesen Tatsachen der Person: Wir haben Wahlfreiheit, sind frei, gleich und vernünftig. Wer entsprechend dieser Prädikate handelt, handelt gerecht. Gerecht sein heißt nach Rawls also: dem eigenen Personsein entsprechen. Der erhebliche argumentative Aufwand des Kontraktualismus wird nur zu dem einen Zweck getrieben, Gerechtigkeit als Entsprechung zu dieser Person zu begreifen. Hier ist zunächst einmal eine Nähe zum theologischen Personbegriff festzuhalten. Die reformatorische Theologie unterscheidet bekanntlich Person und Werk. Die, mit Wilfried Joest zu reden, Ontologie der Person wird relational so bestimmt, dass auch für diese Anthropologie gilt: die Person ist vor ihren Zielen da. Diese Nähe ist zunächst festzuhalten. Es kommt noch hinzu, dass die theologische Ethik entgegen einem weitverbreiteten Verdacht keine heteronome Gehorsamsethik ist. Das gute Handeln ist dasjenige, was dem Menschen vor Gott zukommt und entspricht. Mit Recht hat Hans-Joachim Iwand einmal als ethische Grundfrage formuliert: ›Wer sollen wir sein?‹ – Sowohl im Personverständnis als auch in der Anlage der Ethik scheint es also überraschende Parallelen zu geben. Mit ihnen lässt sich gegen den kontraktualistischen Generalverdacht argumen-
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tieren, die theologische Ethik sei ein Unternehmen, das lediglich absolute Gebote eines opaken Gesetzgebers in Empfang nimmt. Er kann durch eine geeignete Fassung des theologischen Personbegriffs als falsche Religionskritik zurückgewiesen werden. Der Streit zwischen Theologie und Vertragstheorie geht um das rechte Verständnis der Natur des Menschen. Die Debatte um die richtige Norm ist dem ausdrücklich nachgeordnet.
Die Konstitution der Person aus theologischer Sicht Noch einmal: »(…) die Person ist vor ihren Zielen da«. (TG 607) So begründet Rawls sein Vorgehen, von den Faktoren des Personseins auf das Gerechte zu schließen. Die Nähe zur theologischen Konvention ist erstaunlich. Das gilt es festzuhalten, bevor in die Beschreibung der Unterschiede eingetreten wird. Die freilich sind beträchtlich: »Fides facit personam« heißt es bei Luther.104 Durch den Glauben wird die Person als das konstitutiert, was sie vor Gott ist. Ich unterscheide in dieser Grundbestimmung drei Sachmomente. 1. Glaube ist der Terminus für die Zugehörigkeit zu Gottes neuer Welt. Der Glaube ist die Partizipation an Gottes Versprechen, dass die Welt vor unseren Augen nicht sein letztes Wort ist, dass er sie über sich hinaus und zu ihrem Ziel führen wird. In Jesus Christus als Gottes letztem Wort ist Gottes neue Zeit angebrochen. Sie qualifiziert unsere Zeit und die in ihr erhobenen Geltungsansprüche als vorläufig. Die Spannung der Äonen ist keine Trennung, aber sehr wohl die Qualifikation ins Vorläufige einerseits und Endgültige andererseits. An dieser Spannung der Äonen partizipiert der Glaube. Der Glaubende ist im neuen Äon beheimatet, aber nicht aus dem alten herausgenommen. Thetisch: Glaube konstituiert die Person eschatologisch neu. 2. Damit verbindet sich eine grundsätzliche Exzentrizität des oder der Glaubenden: Die Identität des Glaubenden ist nicht in sich und bei sich selbst, sie ist in der Beziehung zu Jesus Christus. Paulinisch wird das in der Rede vom ›nicht mehr ich, sondern Christus in mir‹ (Gal 2,20) ausgesagt, der junge Luther fand dafür das Bild vom fröhlichen Wechsel.105 Das Personzentrum des glaubenden Menschen ist nicht bei sich selber, sondern bei Jesus Christus. In ihm hat er, mit Karl Barth zu reden »die wirkliche, außerhalb seiner selbst befindliche Mitte seiner selbst«.106 Thetisch: Die Neukonstitution der Person ist auf das Christusereignis bezogen. 104 M. Luther, WA 39/1, 282 aus der Zirkulardisputation von 1537 (ebd., 265–333). Die Formulierung mag K. Barth als Vorlage für die Formulierung »Konstituierung des christlichen Subjektes« gedient haben, KD IV/1, 837. 105 WA 7, 25f. 106 K. Barth, KD IV/1, 831.
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3. Der Glaube ist als konstitutives Geschehen unanschaulich. Die Theologie gerät hier an die Ränder ihrer Sprache und muss es auch: Die Konstitution durch Exzentrizität ist einer introspektiven Beschreibung nicht zugänglich. Diese Unanschaulichkeit schlägt sich in den mehr oder weniger geglückten Versuchen der Versprachlichung nieder. Das ist nicht zu beklagen, es ist vielmehr konsequent. Was aber sehr wohl beschrieben werden kann und muss, sind die Manifestationen des Glaubens.107 Glaube manifestiert sich in Aussage-, Lebens- und Handlungsformen der Person. Er hat eine responsorische Seite, zu der er hindrängt und ohne die er unvollständig bliebe. In der reformatorischen Tradition ist diese Manifestationsseite vor allem als das Hören beschrieben worden: Hören ist dabei nicht als Rezeption von Inhalten verstanden, sondern als passive Seite eines aktivischen Geschehens. Der Glaubende erfährt sich als gewirkt und gelebt, er erfährt sich als zum Leben in der Nachfolge provoziert. Martin Luthers Schlüsselbegriffe für den gemeinten Sachzusammenhang sind promissio und fides.108 Die individuelle Lebensgeschichte gehört zur Manifestation des Glaubens genauso wie die gemeinsam interpretierte Praxis, die Bereiche, die gewöhnlich der Individualethik zugerechnet werden genauso wie der öffentliche Auftrag der Kirche. Auch hier noch einmal thetisch: Die Neukonstitution der Person ist unanschaulich, drängt aber zur Manifestation.
Zur theologischen Kritik der philosophischen Naturkonzeption Der Kontraktualismus auf der einen, die Theologie auf der anderen Seite: Es könnte so scheinen, als ob hier zwei Traditionen neben einander bestehen, die einander nicht viel zu sagen haben.109 Der Konjunktiv ist hier freilich mit Absicht gewählt. Denn zumindest aus theologischer Perspektive kann es ein solches Nebeneinander nicht geben. Das wäre schlechter Fideismus. Ein solcher ist mit dem Erklärungsanspruch theologischer Sätze aber auch dann nicht vereinbar, wenn man ihre Letztbegründung für unmöglich hält. In diesem Sinne folgen hier einige Bemerkungen zu Rawls’ Begriff der Person aus theologischer Sicht. Ich benenne zwei Problemkreise. Eine erste Schwierigkeit betrifft direkt das Verständnis der Natur. Rawls hatte argumentiert, dass der Wunsch, gerecht zu handeln, eigentlich der Wunsch sei, das 107 I.U. Dalferth verweist auf den englischen Sprachgebrauch, der in dieser Sache zwischen faith und belief unterscheidet, vgl. Art. Glaube 3. Systematisch-theologisch, EKL 2, 193–202, hier 199. 108 Vgl. W. Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 274–298 ; zum Begriff promissio die gleichnamige Studie von O. Bayer, Darmstadt 21989. 109 Zu Rawls’ Position zum öffentlichen Anspruch der Religionen vgl. TG 234–251.
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auszudrücken, was unsere Natur ist, nämlich Vernunft und Wahlfreiheit. Die theologische Kritik hält sich nun weniger beim Inhalt dieser anthropologischen Bestimmung auf, wiewohl zu Vernunft und Walhfreiheit natürlich Distinktes zu sagen wäre. Die Frage richtet sich eher an die Art und Weise, wie das Verständnis der Natur gewonnen wird. Rawls spezifiziert sie näher mittels einer Reflexion auf die »Eigenschaften der Menschen, um derentwillen sie gemäß den Gerechtigkeitsgrundsätzen zu behandeln sind.« (TG 547) Anspruch auf Behandlung gemäß der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze haben die und nur die Subjekte, »die fähig sind, in der Ausgangssituation mitzuwirken und gemäß deren öffentlicher Auffassung zu handeln.« (TG 548) Das Recht, gemäß der Gerechtigkeitsgrundsätze behandelt zu werden, gründet sich also auf natürliche Eigenschaften. Das freilich ist eine problematische Bestimmung. Wer etwa hat Vernunft und wer genau nicht? Wem darf zugetraut werden, die Fähigkeit zur Wahlfreiheit zu besitzen und wem nicht mehr? Ich habe den Eindruck, als ob hier doch ein oberstes inhaltliches Schiedsgericht eingeführt werden müsste, welches über das Vorliegen der natürlichen Eigenschaften entscheidet. Dann aber ist das Axiom verletzt, jedenfalls dem Rechten den Vortritt vor dem Guten zu lassen. Auch ist die Gefahr des Missbrauchs nicht von der Hand zu weisen. Muss man Menschen, die erkenntlich nicht wählen können, als Objekt der caritativen Zuneigung betrachten oder sind sie mit Peter Singer gesprochen in keiner Weise mehr Partner im moralischen Diskurs, keine Person mehr? Letzteres liefe sämtlichen Intuitionen der Theorie der Gerechtigkeit zuwider, kann aber von den Prämissen der Theorie nicht bündig abgewiesen werden.110 Rawls will diese Schwierigkeit durch eine Reihe von Relativierungen abfangen. So konzediert er, dass es sich um eine Minimalisierungsvorstellung handle, nicht um ein Maximum geforderter Eigenschaften. Auch soll von Fähigkeiten gesprochen werden, nicht von Verwirklichungen. Es handle sich, so Rawls, in diesem Sinne um eine Minimalbestimmung, die auf die überwältigende Mehrheit der Menschheit zutreffe. Wenn das so ist, geht die inhaltliche Bestimmtheit des Kriteriums freilich gegen Null. Es wäre dann kaum mehr möglich, von einer natürlichen Fähigkeit zu sprechen, man käme wohl bei der kantischen Formulierung vom Vermögen des Vermögens heraus.111 Angesichts dieser Schwierigkeiten braucht sich die theologische Rede von der Exzentrizität der Person in Christus nicht zu verstecken. Sie vermeidet bündig die Probleme, die von einer Bestimmung des Personseins vermittels natürlicher Eigenschaften ausgehen. Obschon sie die zentrale Rolle des Personkonzepts für die 110 Vgl. P. Singer, Praktische Ethik, übers. von O. Bischoff u. a., Stuttgart 21994 (Practical Ethics, 1993), 115ff, ausführlicher in Kapitel I.3 dieses Bandes. 111 Vgl. TG 552f.549. Dass in Kants kritischer Philosophie das große Problem der Faktizität der Vernunft zwar stets präsent ist, aber kaum in befriedigender Weise gelöst wird, hat Rawls in seinen diesbezüglichen Vorlesungen selbst klar herausgestellt, vgl. GM 335ff.
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Ethik teilt, geht sie an diesem Punkt andere Wege. Diese eigenen Wege vermeiden nicht nur die eben skizzierten Schwierigkeiten, sie machen es ebenso möglich, den Personbegriff konkreter zu fassen, als es beim Rawls der Theorie der Gerechtigkeit möglich ist. Das liegt im Wesentlichen an der christologischen Deutung der Exzentrizität der Person. Wer oder was die Person eines Glaubenden ist, wird ausgesagt durch seine Zugehörigkeit zur Geschichte Jesu Christi. In ihr wird er ansprechbar. Und das ist weit mehr als eine notwendig vage Rede von Vernunft und Wahlfreiheit. Es ist auch konkreter als eine notwendig vage Rede vom Gegebensein des Lebens, wie es eine christologisch nicht explizite Fassung der Rede von der Exzentrizität auszulegen versucht. In diesem Sinne gilt es, die christologisch begründeten Specifica des theologischen Personbegriffs zu betonen: So etwa die simul-Formel als Schutz gegen einen ethischen Perfektionismus. Genauso die Idee von der geschenkhaften Neukonstitution des Menschen: Sie vermeidet die unabschließbare Frage danach, ob jemand als Teilnehmer des moralischen Diskurses über die geforderten Schlüsselqualifikationen verfügt oder nicht. So nahe also theologische Ethik und die Theorie der Gerechtigkeit sich in der Frage nach der Zentralität des Personbegriffs sind, an diesem Punkt geht der eine Weg in Richtung einer aporetischen Rede von natürlichen Fähigkeiten, während der andere behauptet, eschatologisch und christologisch konkret sein zu können. Die zweite Schwierigkeit hat es mit dem Erkenntnisanspruch zu tun, der hier in der Anthropologie für die Ethik erhoben wird. Es geht um die Frage, Sätze welchen Ranges mit welchem Gültigkeitsanspruch formuliert werden. Rawls lässt 1971 am Anspruch seiner Theorie keinen Zweifel zu: Seine Sätze über die Natur des Menschen sind Sätze über den Menschen überhaupt. Das geht schon aus den Passagen hervor, auf die bereits Bezug genommen wurde. Unübersehbar aber ist es in seiner Schlussbemerkung, in der das Problem der Begründung der ganzen Theorie noch einmal aufgerollt wird. Hier steht folgender zentraler Satz: »(…) daß die Situation des Menschen nicht nur unter allen gesellschaftlichen Gesichtspunkten, sondern von allen Zeiten her gesehen wird. Der Blickwinkel der Ewigkeit ist (…) eine bestimmte Form des Denkens und Empfindens, die sich vernunftgeleitete Menschen in der Welt zu eigen machen können.« (TG 637f, Herv. M.H.) Das Argument teilt also nicht historische Intuitionen mit, sondern solche, die die geschichtslose Wahrheit über den Menschen sind. Ohne Zweifel wird hier kantisch geredet, taucht dessen strenge Unterscheidung von phänomenaler und nooumenaler Welt wieder auf. Der Rawls der Theorie der Gerechtigkeit ist also der Philosoph, der die Höhle des platonischen Gleichnisses verlässt und ins Reich der Wahrheiten an sich aufsteigt, um sich sodann auf den Rückweg in die dunkle Welt der Institutionen und Motivationen zu machen. Der RawlsExeget und -Kritiker Wolfgang Kersting hat das treffend bemerkt.112 Zur theo112 Vgl. W. Kersting, John Rawls zur Einführung, 1. Auflage der Neufassung, Hamburg 2001, 25.
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logischen Rückfrage nötigt das schon ob des von Rawls verwendeten Reizworts ›Ewigkeit‹. Rawls partizipiert mit ihm am Nachteil des kantischen Werks, die unumgängliche Geschichtlichkeit des eigenen Standpunkts programmatisch zu verschleiern. Auch dieser Blick von Ewigkeit her ist ein historischer, auch Kants Rechtsmetaphysik und die seines Nachfolgers von 1971. Das ist freilich erst die philosophische Kritik und überdies eine, die weithin geteilt wird. Theologisch ist sie an mindestens folgendem Punkt zu spezifizieren: Rawls versteht Ewigkeit als Zeitlosigkeit, als Inbegriff dessen, was zu jeder Zeit gilt.113 Ewigkeit ist gleichsam das, was parallel zur verfließenden Zeit in sich selbst gleich bleibt. Theologisch liegen die Dinge aber anders. Gott, dem ewigen, eignet ein wesentliches Moment der Selbigkeit. Das ist zunächst unbestreitbar und darin besteht das Recht, sich die Sprache der Metaphysik zu leihen. Die biblisch-theologische Rede von Ewigkeit fährt dann aber ganz anders fort und versteht Ewigkeit als die Fülle der Zeit. Ewig ist nicht gleich ›ohne endliche Dauer‹ sondern gleich ›Fülle der Zeit‹, ›Erfüllung der Zeit‹. Ewig ist die Zeit, die zu sich gebracht, erfüllt, angekommen ist. So mit Mk 1,15: »Der Kairos ist erfüllt und die Königsherrschaft Gottes herbeigekommen.« In der Ewigkeit endet nicht die Zeit, sie wird vielmehr erfüllt und kommt zu ihrem eigentlichen Sinn, der nicht anders als christologisch ausgesagt werden kann.114 Sie ist nicht etwas neben der Zeit, vielmehr geschieht etwas mit der Zeit. Person ist also das, was ihr von Gott her zukommt. Person ist, was sich ergibt, wenn sie exzentrisch ihr Sein am Anderen Jesu Christi hat. Das hat mit zeitlos gedachten ewigen Eigenschaften wenig zu tun, viel hingegen mit dem, was von Gott her für den Augenblick zukommt. Wo Rawls die Fiktion der geschichtslosen Bedingungen des Menschseins aufsucht, wird die theologische Lesart geschichtlich: Sie fragt, was den Menschen vor Gott zum Menschen macht, in dieser Situation und dieser Stunde.
113 Das ließe sich auch an den beiherspielenden Passagen über Religion im Hauptwerk zeigen, die hier auf sich beruhen bleiben können. In Rawls’ theologischer Arbeit von 1942 spielt das Konzept Ewigkeit keine nachweisliche Rolle; allenfalls ließe sich aus einer Platon-Exegese indirekt folgern, dass er der Idee von Ewigkeit als Abwesenheit von Zeit und Veränderung kritisch gegenüberstand, vgl. SGR 194–203. 114 Vgl. G. Picht, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, Stuttgart 1969, 318ff; ders., Von der Zeit. Vorlesungen und Schriften. hg. von C. Eisenbart und E. Rudolph, Stuttgart 1999, 389ff.634ff; C. Link, Ist Theologie ohne Metaphysik möglich?, in: Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, hg. von M. Knapp und Th. Kobusch, Berlin/New York 2001, 291–306; W. Schoberth, Leere Zeit – Erfüllte Zeit. Zum Zeitbezug im Reden von Gott, in: Einfach von Gott reden. Ein theologischer Diskurs. Festschrift für Friedrich Mildenberger zum 65. Geburtstag, hg. von Jürgen Roloff, Hans-Georg Ulrich, Stuttgart 1994, 124–141. Meine Lesart ist skizziert in M. Hailer, Religionsphilosophie, Göttingen 2014, 206–212.
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Die Person: gesellschaftlich bestimmt oder am Leib Christi? Veränderungen in Rawls’ Theorie Der ›Blick von Ewigkeit her‹ ist nicht John Rawls’ letztes Wort zur Sache gewesen. In den Aufsätzen nach ›A Theory of Justice‹ reagiert er auf eine unerhört breite Debatte.115 Und er nimmt er zum Teil deutliche Veränderungen seines Konzepts vor. Rawls reagiert vor allem auf die im Gefolge seines Buches entstandenen Kontroversen zwischen radikalem Liberalismus und Kommunitarismus.116 Das Urzustands-Argument bleibt dabei unverändert. Was Rawls anders gewichtet oder neu einführt, ist vor allem zweierlei. Zum einen: Seine Theorie ist nun ausdrücklich eine politische und nicht mehr eine philosophische. Sie ist eine, die auf politisches Funktionieren bedacht ist, nicht jedoch auf Wahrheit.117 Es geht um die »Umwandlung der umfassenden Lehre der Gerechtigkeit als Fairneß in die politische Konzeption von Gerechtigkeit als Fairneß.« (PL 42) Der Philosoph verlässt die Höhle nicht mehr; er bleibt als Bürger unter seinesgleichen und sucht die relativ besten Bedingungen des Zusammenlebens zu erkunden, weil er sie für vernünftig hält. Kooperation und Vernunft sind dasselbe. Zum anderen wird der Begriff der Person überdacht und neu gefasst. Das interessiert hier vordringlich. Es führt uns vom Kantianismus John Rawls’ zu seiner Orientierung an der Hegel’schen Rechtsphilosophie. John Rawls’ gegenüber A Theory of Justice veränderter Personbegriff hat einiges mit seiner im selben Zeitraum signifikant veränderten Rezeption der Rechtsphilosophie G.W.F. Hegels zu tun. Dies lehrt ein Blick in die Vorlesungen zur Geschichte der Mo-
115 Bereits 1981 waren über 2500 Titel zu A Theory of Justice erschienen, vgl.: John Rawls and His Critics. An Annotated Bibliography, hg. von J.H. Wellbank u. a., New York 1982. Vgl. aus der neueren Literatur P. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1987 (Lit. 246– 292); Symposion on Rawlsian Theory of Justice. Recent Developments, in: Ethics 99 (1989), 695–944; W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994; ders., Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000. 116 Die wichtigsten Verfechter der radikalliberalen Linie sind J. Buchanan und R. Nozick, vgl. vom ersteren: Die Grenzen der Freiheit, Tübingen 1984 (The Limits of Liberty, 1975), und vom letzteren: Anarchie, Staat, Utopia, München o. J. (Anarchy, State, and Utopia, 1974). Unter dem Titel Kommunitarismus werden z. T. recht unterschiedlich argumentierende Autoren zusammengefasst, vgl. als Hauptvertreter M. Walzer, Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, Oxford 1983; C. Taylor, Philosophy and the Human Sciences, Cambridge 1985; B. Barber, Strong Democracy. Participatory Politics for a New Age, Berkeley 1984. Axel Honneth hat einen Band mit deutschen Übersetzungen herausgegeben und eingeleitet, der die Diskussion vorzüglich wiedergibt: Kommunitarismus. Die Debatte über die moralischen Grundlagen der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993. Aus theologischer Sicht vgl. H. Bedford-Strohm, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, Gütersloh 1999, 383ff. 117 »Weiter behauptet der politische Liberalismus von seiner Gerechtigkeitskonzeption nicht, daß sie wahr, sondern daß sie vernünftig sei.« (PL 17)
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ralphilosophie. Die beiden Kapitel über Hegel bergen einige Überraschungen. Zum einen liest Rawls ihn als gemäßigten Liberalen, schließt sich der üblichen Kritik also nicht an, wiewohl er die Kriegstheorie und den Gedanken des Staates als geistiger Substanz ablehnt. (GM 464f.469) Hier zeigt sich eine neue Rezeption der Rechtsphilosophie, die doch über lange Zeit in dem Verdacht stand, wenig mehr als eine affirmative Theorie des preußischen Staates zu sein und in einer Demokratie keinen Beitrag zur Philosophie des Gemeinwesens leisten zu können. Rawls’ Äußerungen stehen hierbei nicht allein, sondern haben z. B. Nähen zu Publikationen von Axel Honneth.118 Rawls interpretiert hier, dass Hegel die Selbstwahrnehmung in der modernen Staatsinstitution darstellt, sofern sie vernünftig sind. Er stelle »ein idealtypisches Institutionen-System dar, von dem er glaubt, es sei tatsächlich konstitutiv für die neuzeitliche Freiheit.« (GM 449) Hegel, so die Schlussfolgerung, bewerbe jedenfalls den Staat der Reformer. (GM 454f) Als besonders einleuchtend beschreibt Rawls Hegels Auffassung von der wechselseitigen Konstitution von Gesellschaft und Person: Menschen sind nach Hegel im Rahmen der gesellschaftlichen Institutionen verwurzelt: Der Liberalismus habe die »tiefreichende soziale Verwurzelung des Menschen« (GM 471) übersehen. Und weiter: »In dieser Hinsicht lernen wir tatsächlich etwas von Hegel (…). Die Theorie der Gerechtigkeit schließt sich in dieser Hinsicht an Hegel an, wenn sie die Grundstruktur der Gesellschaft als vorrangigen Gegenstand der Gerechtigkeit auffaßt. (…) Der Begriff der Person und der Begriff der Gesellschaft passen zusammen, jeder der beiden bedarf des jeweils anderen und keiner von ihnen hat allein Bestand.« (GM 471f) Diese Einschätzung unterscheidet sich deutlich von der Hegel-Interpretation in der Theorie von 1971, in der Hegel noch als Protagonist einer privaten Gesellschaft galt, also einer, die nur durch Eigeninteressen zusammengehalten werde und an der Schwäche dieser antagonistischen Bindungskräfte leidet. (TG 565f) Man wird nicht fehlgehen, in der Umdeutung ein Anzeichen für die Wandlung der eigenen Theorie zu sehen, die in der Tat den recht steilen Begriff des Individuums zugunsten der Rede von der sozialen Konstitution der Person verabschiedete.
In einem ersten Schritt differenziert Rawls zwischen der Natur des Menschen und dem Begriff der Person. Das mag zunächst erstaunen, denn intuitiv könnte man meinen, beide bezeichneten denselben Sachverhalt. Die Differenzierung macht aber Sinn: Natur beschreibt den weitestmöglichen Rahmen dessen, was vom Menschen gesagt wird. Normativ wird erst ein Begriff der Person. Was Person ist, wird dabei im Hinblick auf gesellschaftliche Tatsachen und Erfordernisse gesagt werden. Der Begriff ›Person‹ gibt nicht Auskunft über die natürliche Beschaffenheit des Menschen, sondern hat die Funktion eines Ideals.119 Die normative Funktion des Naturbegriffs aus der Theorie von 1971 ist also 118 Vgl. A. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001, jetzt ders., Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011, 81–118. 119 Das expliziert Rawls in den 1980 gehaltenen und publizierten Vorlesungen: Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in IL 80–158, hier 107.
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aufgegeben, mit ihr verschwunden sind auch die Schwierigkeiten, die sich damit verbanden. Personen, so Rawls jetzt, haben zwei moralische Vermögen: »Das erste Vermögen ist die Anlage zu einem wirksamen Gerechtigkeitssinn, d. h. die Fähigkeit, die Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen, sie anzuwenden und aus ihnen heraus zu handeln (und nicht nur in Übereinstimmung mit ihnen). Das zweite moralische Vermögen ist die Befähigung, eine Konzeption des Guten auszubilden, zu revidieren und rational zu verfolgen.« (IL 93, vgl. PL 102–105) Der unmittelbare Schluss aus Naturtatsachen unterbleibt. Zugleich ist der Personbegriff jetzt wesentlich konkreter. Er zielt darauf, dass moralische Personen nicht anders können als moralisch zu handeln. Das nämlich heißt: aus den Grundsätzen handeln und nicht nur in Übereinstimmung mit ihnen. Der Rawls der Theorie wollte die ewig gültige Wahrheit über moralisches Handeln ergründen. Der Rawls der Weiterentwicklung ist daran nicht interessiert, wohl aber an einem funktionierenden Gemeinwesen. Aus diesem Grund ist ihm die Bindungskraft intersubjektiv geteilter Gerechtigkeitsgrundsätze wichtiger als die Frage nach ihrer Begründung. Theologisch ist diese Wendung als Parallele zum Verständnis von promissio und fides zu begrüßen. Aus Grundsätzen zu handeln, die einem zur Überzeugung wurden – das ist mindestens eine interessante Parallele zur theologischen Lesart. Denn: Wer im Geist Jesu Christi handelt, redet ja allermeistens nicht von Wahl und Entscheidung. Er/sie kann einfach nicht anders. Man muss fragen, wie weit die Parallele geht und ich vermute, dass Rawls bei diesen intuitiven Aspekten des Handelns zu kurz greift. Jetzt aber wende ich mich einem anderen Problem zu. Rawls’ Neubestimmung seiner Theorie bringt sie in Konflikt mit Weltanschauungen und Religionen, die genau das behaupten, was er nunmehr ablehnt: Die Wahrheit über Welt und Mensch zu kennen. Eine politische Theorie der Gerechtigkeit muß erklären können, wie sie den Konsens ihrer Mitglieder zustande bringt und erhält, trotz der Existenz konkurrierender Totalerklärungen. Person im normativen Vollsinn kann nur der Teilnehmer an der Gesellschaft im oben skizzierten Sinne sein. Was aber ist mit Personkonzepten, die dem widersprechen? Rawls führt dafür eine Überlegung ein, die den gesellschaftlichen Konsens und den Erklärungswert der grundlegenden religiösen oder moralischen Überzeugungen von Menschen gegeneinander abwägen. Er kommt zu dem Schluss, dass grundlegende Überzeugungen nicht dazu tendieren, das Gesamt eines Welt- und Gesellschaftsbildes zu prägen. Deshalb sei in der Gesellschaft genügend Raum dafür vorhanden, dass Menschen verschiedener Religionen und Überzeugungen miteinander existieren können. Rawls entwickelt dafür sein Konzept des ›überlappenden Konsenses‹. Es behauptet: Trotz Divergenzen in letzten Anschauungen ist die öffentliche Anerkennung der Gerechtigkeitsgrundsätze möglich. Das ist zuerst eine Annahme über das Wesen letzter Über-
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zeugungen: »Die meisten Menschen sehen ihre religiösen, philosophischen und moralischen Überzeugungen nicht als vollständig allgemein und umfassend an; hier sind Abstufungen möglich. Es gibt sozusagen Schlupfwinkel, viele Weisen, in denen eine politische Konzeption lose mit einer teilweise umfassenden Lehre verbunden sein kann (…).« (IL 322f, vgl. 329)120 Und zum andern: Rawls schreibt, »daß die Bürger, sobald sie zu würdigen beginnen, was eine liberale Konzeption leistet, eine Loyalität ihr gegenüber entwickeln, die sich im Lauf der Zeit verstärkt. (…) Damit ist dann ein überlappender Konsens erreicht.«121 (IL 327, ausführlich PL 219–265) Der zweite Teil des Arguments ist überzeugender als der erste. Es spricht in der Tat etwas dafür, dass ein funktionierendes Gemeinwesen Bindungskräfte und Loyalitäten freisetzt. Schwieriger steht es mit dem ersten Teil. Wieso sollten Religionen und Moralen gerade dort veränderungswillig sein, wo es um die Belange des Sozialkontrakts geht? Der Eindruck ist unvermeidlich, dass es sich bei dem von Rawls vorgestellten Liberalismus um einen befriedeten und gut eingespielten Liberalismus handelt. Eine Religion, die genau da anpassungsfähig ist, wo der Sozialkontrakt dies braucht – bei einem solchen Gedanken ist der Vorwurf des Zirkels schlecht von der Hand zu weisen.122 Rawls’ Religionsbegriff ist einer, der Religion als Privatsache versteht. Das wird vor allem an einer Passage deutlich, in der er vom Religionswechsel spricht: »Auf der Straße nach Damaskus wurde Saulus von Tarsus zu Paulus dem Apostel. Eine solche Konversion bedeutet jedoch weder eine Veränderung in unserer öffentlichen oder institutionellen Identität noch in unserer persönlichen Identität (…).« (PL 100) Oder: Die religiösen oder weltanschaulichen »Überzeugungen und Verbundenheiten sind Teil dessen, was wir ihre [der Bürger, M.H.] nichtöffentliche Identität nennen können.« (IL 279) Öffentliche versus nichtöffentliche Identität: Diese Neuerung im Personbegriff kommt überraschend. Es gibt nach Rawls offenbar zwei Selbigkeiten, die die Person konstituieren, wobei die eine zwar aus letztgültigen Wahrheiten gespeist wird, aber auf die öffentliche Person keinen Einfluß hat und die andere zwar sozial gebildet ist, aber Identi-
120 Das Verhältnis der unvollständig gedachten umfasssenden Lehren zu dem sich selbst imponierenden overlapping consensus wird von Rawls in PL sehr viel ausführlicher dargestellt, vgl. dort 219–265. Rawls argumentiert mit denselben Theorieelementen von der Lückenhaftigkeit der umfassenden Lehren und dem zunehmenden Vertrauen der Bürger unter einander als Folge der Geltung fairer Gerechtigkeit, vgl. z. B. PL 261f. 121 Das Wort »übergreifender« im deutschen Original ist hier durch »überlappender« ersetzt. IL 293ff wird das englische »overlapping consensus« mit »übergreifender Konsens« wiedergegeben. Diese Übersetzung geht an der Pointe des Begriffs insofern vorbei, als diese darin besteht, dass es sich um nur partielle Übereinkünfte zwischen verschiedenen Überzeugungssystemen handelt. ›Übergreifend‹ suggeriert aber Vollständigkeit. 122 In PL 263 werden in diesem Sinne intolerante Religionen als fundamentalistisch bezeichnet.
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tätswechsel in Sachen letzter Wahrheiten unverwandelt überdauert.123 Schon im Rahmen philosophischer Pluralismustheorien dürfte dieser Hiatus in Schwierigkeiten kommen: Die Rede von der Person hat auch in der erneuerten Theorie der Gerechtigkeit die Funktion, Platzhalter eines philosophischen Universalismus zu sein. Vollends problematisch aber wird diese Position im Geltungsbereich theologischer Prämissen. Ein ekklesiologischer Aspekt im theologischen Personkonzept Es gibt Unterschiede zwischen der öffentlichen und privaten Person, das ist theologisch unbestritten. Die wesentlich unanschauliche Konstitution der Person im Handeln Gottes setzt das mit. Ja, sie verwahrt sich ausdrücklich dagegen, dass es so etwas wie eine einlinige Konstitution der Person durch gesellschaftliche Verhältnisse gebe und erhebt gegen solche Totalerklärungen Einspruch. Eine differenzierte Zuordnung von öffentlicher und privater Person ist also in direkter Weise ein theologisches Desiderat. Freilich vermag der strenge Hiatus nicht einzuleuchten. Die Konstitution der Person bezieht sich auf beide, die private wie auf die öffentliche Person. Wäre es so, wie Rawls es schildert, dann würde die eschatologische Neukonstitution der Person auf eine ihrer wesentlichen Seiten, nämlich auf die öffentliche keinerlei Einfluss haben. Es ist aber nicht einzusehen, warum das der Fall sein sollte. Die Person existiert privat wie öffentlich. Privat wie öffentlich ist sie deswegen mit ihrer Identität im Auferstandenen geborgen und von ihm her bestimmt. Das muss nicht heißen, dass jede ihrer öffentlichen Äußerungen in direkter Weise die Äußerung der ›Christenperson‹ ist. Aber es heißt, dass alle ihre Äußerungen als ›Bürgerperson‹ von der Konstitution der Christenperson zumindest mitbestimmt sind. Denkmodelle dafür sind z. B. die Zuordnung und Differenzierung der Reiche und Regierweisen Gottes oder Barths Verhältnissetzung von Christengemeinde und Bürgergemeinde.124 Insofern kann 123 »(…) daß die institutionelle Form einer Gesellschaft Einfluß auf ihre Mitglieder hat und zu einem großen Teil bestimmt, welche Art von Personen sie sein wollen und welche Art von Personen sie sind.« (PL 380) Hier ist das Fehlen kleinerer Institutionen besonders deutlich, das sich auch im ganzen Aufbau von PL zeigen lässt. – Interessanterweise folgt der Kommunitarismus in weiten Teilen dieser Fehlabstraktion. Viele Kommunitaristen könnten diesen Satz zu ihren anthropologischen Bedingungen unterzeichnen und hätten den berechtigten Ansatzpunkt einer Kritik doch übersehen. Er besteht eben nicht im kommunitaristischen Prae des Herkommens sondern in der Anerkennenung kleinerer sozialer Einheiten, die sich doch in einer Bürgergesellschaft zusammenfinden können sollten. So mit Recht M. Walzer, Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, in: Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, hg. von A. Honneth, Frankfurt/M. 1993, 157–180, hier 169–175. 124 K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, München 1946; Zur sog. Zweireichelehre vgl. U. Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 21993. Eine Lesart, die die beiden Ansätze nahe
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nicht angenommen werden, dass bei einem Religionswechsel die öffentliche Person dieselbe bleibt. Die nach wie vor virulente Diskussion um die Grundwertegebundenheit der freiheitlichen Demokratie zeigt das deutlich.125 Defizient ist Rawls’ Bestimmung freilich noch aus einem anderen Grund. Er rechnet nicht mit den identitätsbildenden Kräften kleinerer Einheiten. Seine beiden Kenngrößen sind individuelle Überzeugungssysteme auf der einen und das öffentliche Gemeinwesen auf der anderen Seite. Freilich gibt es identitätsprägende Größen ganz genauso in einem Mittelbereich. Auch sind Überzeugungssysteme stets sozial vermittelt. Man muss wohl sagen, dass es soziologisch unterbestimmt ist, Religionen allein als Überzeugungssysteme von Individuen zu deuten und nicht die mit ihnen einhergehenden Gemeinschaftsformen mit zu bedenken. Eine theologische Unterbestimmung ist es jedenfalls. Damit kommt ein Aspekt des theologischen Begriffs der Person in den Blick, der in der bisherigen Auseinandersetzung mit Rawls noch nicht ausreichend gewürdigt wurde: Zur Konstitution der Person im christlichen Sinne gehört, dass sie durch Glaube und Taufe zum Leib Christi gehört. Personsein, theologisch verstanden, hat einen ekklesiologischen Aspekt.126 zusammenführt, bietet W. Joest, Der Friede Gottes und der Friede auf Erden. Zur theologischen Grundlegung der Friedensethik, Neukirchen 1990, 60–96. 125 Vgl. aus der weitverzweigten Debatte u. a.: Was sind Grundwerte? Zum Problem ihrer Inhalte und ihrer Begründung, hg. von O. Kimminich, Düsseldorf 1977; Grundwerte in der Demokratie, hg. von A. Klein, Bonn 1995; A. Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, Berlin 1999, 273–318. 126 Ich beziehe mich bei der Analyse der ekklesiologischen Seite des christlichen Personbegriffs zunächst auf R. Hütter, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart, Neukirchen 1993; ders., Theologie als kirchliche Praktik. Zur Verhältnisbestimmung von Kirche, Lehre und Theologie, Gütersloh 1997, sowie auf das für Hütters Ansatz wichtige Werk von S. Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, hg. u. eingel. von R. Hütter, übers. von G. M. Clicqué (The Peaceable Kingdom, 1983). Das geschieht aber nicht ohne Reserve. Diese Arbeiten sind nicht immer davor gefeit, zu einer Lobrede auf die Kirche zu werden, was die Gefahr einer Eindimensionalität einschließt. Hauerwas und Hütter betonen durchgängig die Alleinbestehbarkeit der Kirche und ihre mehr oder weniger scharfe Trennung von der Gesellschaft. Obschon ekklesiologischer Triumphalismus in beiden Ansätzen ausgeschlossen wird, kann eine subkutane Rede vom Triumph der Kirche eben als Schwacher in diesen Publikationen nicht übersehen werden. Eine solche Strategie zieht aber Religionskritik Nietzsche’scher Provenienz auf sich. Auch muss sich ein solcher ekklesiologischer Ansatz fragen lassen, ob er die Rede von der Gemeinschaft der Heiligen nicht im Sinne einer Weltanschauungsgemeinschaft missversteht. M. Weinrich hat zu Recht vor einer Identifizierung von Kirche und Weltanschauung gewarnt, vgl. Kirche glauben. Evangelische Annäherungen an eine ökumenische Ekklesiologie, Wuppertal 1998, 33: »Eine weltanschauliche Kirche erliegt schnell der Versuchung, Religion zu einem Herrschaftsmittel zu machen.« Das gilt auch, so ergänze ich, wenn der Herrschaftsanspruch sub contrario als Gemeinschaftsanspruch kommuniziert wird. Dagegen ist mit Weinrich pointiert die Weltlichkeit der Kirche auszusagen: Weil und sofern die Kirche Dienerin der Weltzugewandheit Gottes ist, muss sie radikal weltlich gedacht werden.
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Die Zugehörigkeit zum Leib Christi liegt in eigentümlicher Weise quer zu Ralws’ beiden Eckpunkten der privaten und der öffentlichen Person. Die Person als Christin oder Christ gehört auch einer auch partikularen Gemeinschaft an. Es ist diese Zugehörigkeit, die sie in ihrem Personsein mitbestimmt. Die Theologie besteht darauf, hier von einer Realität zu sprechen. Dann erweist sich die Gegenüberstellung von Überzeugungssystemen und der Öffentlichkeit des Gemeinwesens als nicht haltbar. Das liberale Öffentlichkeitsdenken neigt zur falschen Einlinigkeit.127 Wenn Rawls schreibt: »Gemeinschaften können wir aus freien Stücken verlassen«, (GF 47) dann stimmt das wohl rechtlich, unterschlägt aber den Faktor der Identitätsbildung durch Gemeinschaften – zu schweigen von möglichen Zwängen. Die Theologie behauptet von der Kirche, eine eigene Größe zu sein, eine Größe nicht sui sondern Christi generis. Sie ist, mit Reinhard Hütter zu reden, die »Öffentlichkeit des Heiligen Geistes«.128 Es handelt sich bei der Kirche auch um eine eigene Form von Öffentlichkeit, in der auch eigene Regeln gelten, die sich von der des liberalen Diskurses zum Teil unterscheiden, auch wenn man ihr eine große Affinität zur liberalen Gesellschaft unterstellen darf.129 Außerdem hat sie für diese ›Andersheit‹ sachliche Gründe anzugeben. Michael Welker hat dies auf einprägsame Formel gebracht: »In der Vielfalt des Leibes Christi ist die Kirche lebendig, in der Vielfalt des Leibes Christi gewinnt sie ihre Sachlichkeit.«130
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Das Selbstbewusstsein der Kirche ist geradezu konstitutiv an die sie umgebende Welt zu binden, freilich ohne es derem aktuellen Selbstbewusstsein auszuliefern. Geschieht das, wird die Kirche die Entdeckung machen, dass sie weltlicher ist als ihre Umwelten, weil sie deren mannigfaltige (Selbst-)Sakramentalisierungen zu entschlüsseln vermag. (vgl. Weinrich, Kirche 61f) Kirche ist, weil in ihr die schöpfungstheologische Grunddifferenz gilt, sozusagen als Welt = Schöpfung dem Bewusstsein der sie umgebenden Umwelten in der Welthaftigkeit voraus. Dieses kritische Moment der eigenen Weltlichkeit spielt in den zuerst genannten Ekklesiologien zu deren Nachteil keine konstitutive Rolle. Dass Reinhard Hütter im Jahre 2004 zum Katholizismus konvertierte, woran Stanley Hauerwas nie gedacht haben dürfte, zeigt, dass das genannte Problem wohl kaum konfessionsspezifischer Natur ist. Zu Recht Hütter, Theologie 226. Ebd. 219, i.O.herv. Anhand einer interessanten Kritik der Naturrechtsethik wird dieser Gedanke grundgelegt bei Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen 107–117. Folgendes ist zu korrigieren: Kirche ist die Öffentlichkeit des Heiligen Geistes, wenn zugleich behauptet wird, dass nicht nur sie es sei. So mit Recht J. Fischer, Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002, 149.288–290. M. Welker, Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995, 106.
»Die Person ist vor ihren Zielen da«. John Rawls’ Personkonzept in der Diskussion
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Zwei Beispiele für diese ›Sachlichkeit‹ Zum einen ist die Kirche Leib Christi und damit Leib Jesu Christi des Gekreuzigten. Die mögliche Verkehrung auch der besten Absichten steht gleichsam in ihrer Gründungsurkunde. Jesus Christus wurde im Namen der öffentlichen Vernunft, der Obrigkeit und der Religion gekreuzigt. Sein Kreuz ist das Gericht über »Religionsseligkeit, Politikseligkeit, Moralseligkeit«.131 Die Kirche weiß, wie korrumpierbar auch und gerade die besten Absichten sind; denn der, dessen Leib sie ist, empfing seine Identität auch aus diesem Vorgang. Deswegen versteht sie sich als kritische Öffentlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit. Sie sucht für sich und in der Gesellschaft den Konsens; aber sie sucht ihn auf der Grundlage einer nicht konsensuell vermittelten, sondern affirmierten Grundlage. Liberalität ist in sich selbst fragwürdig, wenn sie um ihrer Identität willen alle religiösen Überzeugungen aus dem öffentlichen Diskurs ausschließen muss. Die Kirche als Leib des Gekreuzigten wendet sich nicht von der Welt ab, die ihren Herrn kreuzigte. Ihre Solidarität aber ist eine bleibend kritische, weil sie um die totale Korrumpierbarkeit auch der besten Absichten weiß und besonders bei vollmundigen Objektivitätsbeteuerungen aufmerksam wird. Der andere Aspekt bezieht sich auf die konsensorientierte Wendung von Rawls’ Theorie. Das Konzept des überlappenden Konsenses ist, wie der Begriff schon sagt, konsensorientiert und damit primär an Gespräch, Urteilsverfahren und dem Sieg des besseren Arguments orientiert. Überlagert das nicht doch die intuitiven Aspekte? Überlagert das nicht doch das Einheimischwerden in den Prinzipien der Gerechtigkeit? Die intuitiven Aspekte des Handelns werden zwar angemeldet, aber de facto von einem monolithischen Öffentlichkeitsverständnis verdrängt. Der Personbegriff allein rettet sie nicht davor. Gegen diese kognitivistische Tendenz in der Gerechtigkeitstheorie setzt die theologische Rede von der Person den Akzent, der bei Rawls in den Hintergrund tritt: Ist letztlich Jesus Christus das Subjekt des Glaubenden, so ergibt sich: Es ist entscheidender, in welchem Geist jemand handelt, als welche Gründe er als die leitenden angibt. Es ist entscheidender, wovon sich jemand geführt oder getrieben weiß, als welche Argumente er isolieren würde. Personen sind im Augenblick des Handelns in einem Geschehen, in einem größeren Zusammenhang involviert – wiewohl sie später natürlich darauf reflektieren können. Diesen größeren Zusammenhang gilt es zu beschreiben und nicht nur die einzelnen Aspekte. Man kann diesen größeren Zusammenhang den Geist nennen, in dem jemand handelt. Die Theologie bekennt, dass es einen Geist des Leibes Christi gibt, der der Heilige genannt zu werden verdient. Ethik ist weniger die kognitive Entfaltung einer 131 Ebd. 108. Welker nimmt damit einen zentralen Gedanken aus J. Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 61993 auf, vgl. dort 119–146.
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Person und Personalität. Ausgewählte Diskurse in Philosophie und Theologie
Norm und ihrer Deduktionen. Sie ist die Frage, was es heißt, im Geist Jesu Christi zu leben und zu handeln.132 Die kreuzestheologische Bestimmung einerseits und die fundamentalethische andererseits sind zwei Beispiele für die unaufgebbare eigene Sachlichkeit des Leibes Christi. In diesem Sinne gehört der ekklesiologische Aspekt zum Personbegriff in der Theologie dazu. Er führt dazu, dass am Ende Rawls’ Dispensierung von der Wahrheitspflichtigkeit theologisch wieder kassiert wird. Die Theologie behauptet von der Kirche, nicht nur leidlich zum Wohl des Gemeinwesens zu funktionieren. Sie vertraut der Gewissheit, dass die Kirche bei aller Gebrochenheit Vorgriff auf die Kommunikation im Reich Gottes ist; da, wo die Fülle der Zeit bei ihr wohnt. Das freilich ist ein ganz anderer Umgang als die Bindung der Wahrheitsfrage an eine Spekulation über das ewige Wesen des Menschen, die Rawls am eigenen Konzept kritisierte.
132 »Mit der Einbeziehung der Geist-Dimension aber wird das Verständnis des Ethischen entscheidend modifiziert. Denn die Ausrichtung auf das Gute ist dann davon abhängig, welchem Geist Menschen sich in ihrem Leben und Handeln anvertrauen bzw. von welchem Geist sie sich darin leiten lassen. Mit dieser Frage wird jener Subjektwechsel vollzogen, von dem an früherer Stelle die Rede war: Die Lebensführung wird wesentlich zu einem Sichführen-Lassen bzw. Geführt-Werden.« Fischer, Theologische Ethik 156, zum ganzen Zusammenhang vgl. 97–159.
Kapitel II. Stellvertretung und Person
1.
Das Phänomen »Stellvertretung«
Eine Person: »Etwas« oder »jemand«? »Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim nescio«.1
So seufzte Aurelius Augustinus im Rahmen seiner Erwägungen zum Wesen der Zeit. Die Bemerkung gelangte zu einiger Bekanntheit. Das ist auch gut so, denn sie beschreibt in aller Kürze das, was man eine philosophische Erfahrung nennen könnte. Philosophie konzentriert sich auf ›Gegenstände‹, mit denen Menschen im alltäglichen Leben zu tun haben, jedoch nicht alleine. Sie sind selten im Zentrum, wohl aber in Vorgängen alltäglicher Aufmerksamkeit kopräsent. Richtet man die Aufmerksamkeit jedoch speziell auf sie, so stellt sich eine eigentümliche Irritation ein. Das, worauf hier fokussiert wird, ist irgendwie anders. Es ist jedenfalls kein Ding unter Dingen welches inventaristisch erfasst werden könnte. Auch gehört dies eigentümliche Etwas nicht in ferne Vorvergangenheit oder hinter die entferntesten Galaxien, sondern ganz unabweisbar in den Bereich der alltäglichen Erfahrung. Wo diese Bedingungen – irgendwie vorhanden, jedoch nicht Ding unter Dingen – zusammenkommen, stellt sich, ist man nicht völlig in den Routinen des Alltags gefangen, basale Irritation ein und die Freilegung eines philosophischen Problems beginnt. Dem Bischof von Hippo Regius ist gewiss zuzustimmen, dass Nachdenken über die Zeit eine solche Denkbewegung der Irritation auslöst. Ich vermute, dass es sich bei der Frage ›quid est ergo persona?‹ ganz genauso verhält. Mehr noch: Hier beginnt die Irritation schon beim ersten Wort. Bei zeitphilosophischen Erwägungen mag es durchaus auch bei näherem Zusehen angemessen erscheinen, nach einem ›was‹ zu suchen, auch wenn man bei keinem Ding herauskommen wird. Geht es um Person(en), kann 1 A. Augustinus, Confessiones XI, 17, hier nach der von K. von Raumer besorgten Ausgabe Stuttgart 1856, 293.
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Stellvertretung und Person
man allerdings leicht auf den Gedanken kommen, das Neutrum für unangemessen zu halten. Eine Person ist doch – immer noch im Rahmen erster Anmutungen gesprochen – irgendwie ›jemand‹ und nicht ›etwas‹.2 Das lässt sich auch so auffassen: Eine Reflexion darüber, was/wer eine Person ist, beginnt häufig mit Kriterien der quidditas. Wo sie deren spezifischen Schwierigkeiten gewahr wird, wird sie durch Erwägungen, die der Logik des ›jemand‹ gehorchen, zumindest ergänzt oder – hier unterscheiden sich die Theoriedesigns dann allerdings deutlich – von ihnen sogar abgelöst. Ein kurzer Blick auf einen solchen Reflexionsgang ist sinnvoll, weil er einige erste Orientierungen über den systematischen Ort und die Semantik des Stellvertretungsthemas bereitstellt. Es ist nicht falsch, sondern vielmehr richtig, mit Eigenschaftszuschreibungen zu beginnen, wenn Auskunft zum Terminus ›Person‹ erhofft wird. Denn offenkundig geht es ja, wenn wir im Bereich des üblicherweise Akzeptierten bleiben, um Unterscheidungen von erheblicher Reichweite: Personen sind von Dingen unterschieden. Zumindest in sehr vielen Aspekten sind Personen auch von Tieren unterschieden – das gilt auch und gerade, wenn das geliebte Haustier wie selbstverständlich in der Familie mitwohnt und man der Idee der deutschen Rechtsprechung, Tiere wie Sachen zu behandeln, skeptisch gegenüberstehen mag. Einen Unterschied zwischen Person und nicht-Person wird man gleichwohl zu machen bereit sein. Er fällt so oder so markant aus: Personen haben Rechte, ihnen eignet Würde. Personen sind zu wie auch immer gearteter Selbsthabe fähig oder doch auf dem Weg dorthin. Personen kommunizieren, Personen können auf Zukunft hin entwerfen und sich an Vergangenes erinnern, sie können Symbolsysteme verwenden und sich diese und andere komplexe Fähigkeiten erwerben, weil sie lernfähig sind. – Schon um diese ersten Anmutungen wiederzugeben, müssen Eigenschaften namhaft gemacht werden, die durch Kriteriengebrauch erst sichtbar werden. Zweifelsohne befindet man sich in dem Versuch, ein noch nicht ausreichend bestimmtes ›etwas‹ durch Beschreibung der ihm zugehörigen Eigenschaften sichtbar und von anderem unterscheidbar zu machen und es ist nicht einzusehen, was daran vorderhand falsch sein sollte. Dieses Vorgehen hat also gute Gründe für sich. Bei näherem Zusehen würde sich leicht herausstellen, dass in dieser knappen Nennung deskriptive und präskriptive Verwendungen des Personprädikats bunt vermischt wurden. Gemeinsam ist ihnen gleichwohl, dass nach einer Entität gesucht wird, der unter Angabe von Gründen das Prädikat »ist eine Person« zugesprochen werden kann. Freilich könnte sich genau hier die eingangs zitierte Ratlosigkeit einstellen: Sind Personen wirklich Entitäten unter anderen Entitäten? Hier meldet sich doch Wider2 Vgl. den Untertitel von R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied von ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 21998.
Das Phänomen »Stellvertretung«
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spruch: ›Person‹ ist kein objektives Vorkommnis wie es objektive Vorkommnisse zuhauf gibt. Das Paradox ist also dieses: Auf die Verwendung von Kriterien, die auch zur Identifikation von Dingen gebraucht werden, wird man nicht gut verzichten können. Wie aber ist das zu fassen, was zum Vorschein kommt, wenn diese Kriterien angelegt werden und das doch nach hartnäckiger Auskunft des Alltagsverstands kein Ding ist? Hier werden unterschiedliche Wege beschritten. Idealtypisch stelle ich zwei vor. Weg (a) schließt – ggf. kritisch – an die in der Philosophie der Neuzeit vor allem von John Locke inaugurierte Tradition, Person über die Phänomene von Selbstbewusstsein und Erinnerungsvermögen zu verstehen, Weg (b) bestimmt Person als Entität, die allererst durch moralische Erwägungen in den Blick zu bekommen ist. Letzterer hat m. E. starke Argumente für sich und wird sich zugleich als der Zugang zeigen, der das Phänomen der Stellvertretung in den Blick rücken lässt. Zunächst aber zu (a): Von John Lockes richtungweisender Idee, Person vor allem als mentale Selbsthabe zu verstehen, war bereits die Rede.3 Sie hat in der Gegenwart nicht wenige Befürworter gefunden, die sie jedoch teils erheblich modifizieren. An der Grundidee, es gehe vor allem um die Fähigkeit, um sich selbst zu wissen, entsprechend zu kommunizieren und auch im Handeln verantwortliches Subjekt zu sein, hat sich gleichwohl nichts geändert. Die heutigen Vertreter bearbeiten allerdings vor allem zwei Probleme: Zum einen muss die Kontinuität einer Person offenkundig stärker und anders gedacht werden als in Lockes mentalistischem Ansatz, bei dem ja – wie oben I.3 zitiert – bereits Schlaf und Wachen zur Annahme zweier verschiedener Personen geführt hatte. Zum andern, und auch das Problem wurde schon benannt, führt der Ansatz zu einer Disjunktion von Person und Mensch: Es ist nicht auszuschließen, dass auch nichtmenschliche Wesen über Personeigenschaften verfügen und zugleich ist zu sehen, dass nicht bei allen menschlichen Wesen diese Eigenschaften anzutreffen sind. In dieser Situation schlägt Michael Quante in seiner einschlägig gewordenen Monographie vor, ein lose verknüpftes und nicht abgeschlossenes Eigenschaftsbündel als Bedingungen der Personalität zu benennen. Dazu zählen: Rationalität, die Fähigkeit, propositionale Fähigkeiten zu haben und Gegenstand ebensolcher zu sein, ferner Kommunikationsfähigkeit und Selbstbewusstsein.4 Diese Grundbestimmung klingt wie selbstverständlich, ist aber doch – oder gerade deshalb? – geeignet, Grundprobleme dieses Typs von Persontheorie anzugehen: Auf der einen Seite formuliert Quante ein offenes und nur lose systematisiertes Kriterienbündel. Dem Anschein trennscharfer Kriterien, wie er für die Position etwa Peter Singers typisch ist, und den sich aus diesem Anschein 3 Vgl. oben Kapitel I.3. 4 M. Quante, Person, Berlin/New York 22012, 24.
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Stellvertretung und Person
ergebenden unlösbaren ethischen Problemen kann er dadurch ausweichen. Zum anderen rückt dieser Ansatz ein interpersonales Moment ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Zum Personsein gehört nicht nur, satzförmige Überzeugungen haben zu können. Vielmehr: »Von Personen verlangen wir (…), dass sie sich selbst und andere als Subjekte propositionaler Einstellungen erkennen und anerkennen. Sie müssen die interpretierende Haltung erwidern und über Selbstbewusstsein verfügen.«5 Interpersonale Reziprozität ist konstitutiv für das Personsein, »Personalität ist eine sozial-relationale Bestimmung«.6 Wie nun geht Quante mit den hier benannten zwei Problemen des Selbstbewusstseinsmodells der Person um? In Sachen der Frage nach der Kontinuität wählt er einen radikal anderen Weg als den Lockes und manch anderer in dessen Gefolge: Er schlägt vor, die Kriterien der »diachronen Einheit des Menschen nicht mit dem Begriff der Person zu ermitteln, sondern hierfür einen rein biologisch verstandenen Begriff des Organismus heranzuziehen«.7 Das ist so, weil aus der Beobachterperspektive keine verlässlichen Kriterien für die diachrone Einheit der Person angegeben werden können und weil die dann noch verbleibende Teilnehmerperspektive »irreduzibel evaluative und normative Elemente« enthält.8 Der Disjunktion von Person und Mensch begegnet Quante auf folgende Weise: Aus pragmatischen Gründen wird einerseits die Untersuchung auf menschliche Personen eingeschränkt. Sollte es nichtmenschliche Personen geben, so bleiben sie – und die damit eventuell verbundenen ethischen Probleme – außer Betracht.9 Wo es hingegen um menschliche Personen und nicht-Personen geht, ist die Existenz ethischer Probleme, die aus dieser Disjunktion folgen, zu benennen und zu bearbeiten.10 Aus der Tatsache, dass die Disjunktion von Mensch und Person 5 Quante, Person 27. Dazu ausführlicher ders., The Social Nature of Personal Identity, in: Journal of Consciousness Studies 14 (2007), 56–76, bes. 66–74. 6 Quante, Person 31. 7 Quante, Person VIII, ausführlich dann 103–114. 8 Quante, Person 102. 9 Quante, Person 5. 10 Quante, Person IX. Dazu u. a. ders., Die Bedeutung des Personenbegriffs für den moralischen Status der Person, in: Der Mensch als Person und Rechtsperson, hg. von E. Klein und C. Menke, Berlin 2011, 69–87; ders., Menschenwürde, Pluralismus und der moralische Status des beginnenden menschlichen Lebens im Kontext der Fortpflanzungsmedizin, in: Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, hg. von C.F. Gethmann/S. Huster, München 2010, 35–60. Im erstgenannten Aufsatz werden mehrere Möglichkeiten diskutiert, eine oder mehrere Personeigenschaften für ethisch relevant zu erklären und entsprechend unterschiedliche Mengen von Menschen zu Personen zu erklären. Eine explizite Stellungnahme unterbleibt jedoch. Nicht so im zweiten Aufsatz: Hier streitet Quante gegen die Ansicht, dass Menschenwürde jedenfalls das Recht auf Leben impliziere (40) und entwickelt ein Verständnis von Menschenwürde, das den situativ flexiblen Einsatz des Konzepts erlaubt und nicht nach dem Motto ›alles oder nichts‹ funktioniert. Das – nebst anderen Erwägungen und Beobachtungen – lässt ihn zu dem Schluss kommen, dass verwaiste Embryonen, die älter als
Das Phänomen »Stellvertretung«
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behauptet wird, folgt noch nicht, dass die damit verbundenen ethischen Probleme unlösbar seien. In welcher Weise geht diese Position mit der Mutmaßung um, Personen seien keine Entitäten wie andere Entitäten, kein objektives Vorkommnis? Zunächst weist sie eine zu einfache Lösung ab: Selbstbezugnahmen, wie sie von Subjektivitätstheorien verschiedenen Typs vorgelegt wurden, sind offenbar nicht geeignet, personale Identität hinreichend abzubilden.11 Konstitutiv ist darüber hinaus mindestens der kommunikative Bezug auf andere und die im Rahmen einer Theorie der Person nicht abbildbare Organismushaftigkeit menschlichen Lebens. Wie immer es um die letztgenannte Behauptung stehen mag, eine Theorie der Person könne die Frage nach diachroner Identität nicht schultern, der kritische Impetus ist deutlich und hat m. E. Aussicht auf Erfolg: Offenkundig sind Personen von der Art, dass sie durch Figuren der mentalen Selbsthabe allein nicht zureichend erfasst werden. Bleibt die Frage, wie Quantes Position selbst mit der genannten lebensweltlich plausiblen Frage umgeht. Es handelt sich, wenn ich recht verstehe, schlichtweg um deren Zurückweisung. Beginnen wir mit der Frage, wie die Einheit der Person über längere Zeit hinweg gedacht werden soll. Es ist überzeugend, einfache Figuren der Selbstreferenz zurückzuweisen. Die Teilnehmerperspektive aber – was wird erinnert, was wird erzählt, was wird in Medien gespeichert, die ohne die Teilnehmerperspektive nur verzerrt oder gar nicht zugänglich sind? – scheidet er aus, weil sie, wie zitiert, wertende und normative Elemente enthält. Damit ist freilich die Möglichkeit beiseitegeschoben, dass das Phänomen ›Person‹ anders als wertend und unter Rückgriff auf Normen gar nicht in den Blick genommen werden kann. Die Intuition ›ich bin/sie ist kein Ding‹ dürfte ihren Ursprung allerdings in präzise diesem Umstand haben: Personen werden kriteriengeleitet entdeckt; beschrieben und gewürdigt können sie aber nur unter Zuhilfenahme wertender und normierender Semantiken werden. Es ist nicht einzusehen, warum diese Phänomene aus der Betrachtung herausfallen sollten. Nur weil sie zuvor festgelegten Objektivitätsstandards nicht genügen, sind sie ja noch nicht irreal oder unwichtig. Hier scheint ein Objektivismus am Werk, der einen Gutteil dessen, was es doch zu beschreiben gälte, von der Betrachtung ausnimmt. Zudem läuft die Position auf ein Nacheinander von theoretischer und praktischer Perspektive hinaus: Zuerst kommen die Beschreibungen, danach können die damit verbundenen ethischen Probleme bearbeitet werden. Wenn es aber richtig ist, dass Menschen sich je schon in fünf Jahre sind, für ein höherrangiges ethisches Gut getötet werden dürfen. (43.56) In dieser Argumentation zeigt sich ein wichtiger Effekt der Disjunktion von Mensch und Person: Ist diese erst einmal als möglich eingeführt, zieht das die Deabsolutierung auch anderer vormals für sehr weitreichend gehaltener Termini nach sich. – Der Vorwurf des Dammbruchs wird mitunter flott erhoben, völlig von der Hand zu weisen ist er aber offenbar nicht. 11 Quante, Person 62–68.78f.
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Stellvertretung und Person
Handlungsvollzügen vorfinden und theoretische Beschreibungen also Handlungsvollzüge eigener Art sind, die aber lebensweltlich eingebettet sind, dann ist dies Nacheinander durchaus unplausibel. In Quantes eigener Terminologie: Deskriptiv-sortale Sätze spielen in der Frage nach der Person eine unverzichtbare Rolle.12 Zu erklärende Phänomene aber werden verdeckt, wenn eine Untersuchung sich auf Sätze dieser Art beschränkt. Derselbe Effekt zeigt sich wieder, wenn man die Personkriterien betrachtet, mit denen Person als sozial-relationale Bestimmung aufgefasst wird. Sie haben den unstreitigen Vorteil, subjektivistische Engführungen zu vermeiden, wie sie bei Theorien des mit guten Gründen bestrittenen Paradigmas des erste-PersonSelbstbezugs regelmäßig auftauchen. Warum aber wird Reziprozität hier auf Propositionen und ihre Interpretation beschränkt? Gängige Anerkennungstheorien und auch das hier zu entwickelnde Verständnis von Stellvertretung werden um einiges weiter gehen und auch und gerade nichtpropositionale Kommunikationsvorgänge als personkonstitutiv annehmen.13 Der Hinweis auf die Anerkennungstheorien Fichtes und Hegels fehlt bei Quante nicht,14 was die Erweiterung der Anerkennungsverhältnisse auf andere als argumentative Austauschprozesse durchaus noch einmal nahegelegt hätte. Und wieder lässt sich vermuten, dass die Aussage ›ich bin kein objektives Vorkommnis‹ mit Phänomenen zu tun hat, die die stark objektivistische Herangehensweise abblendet. Die Kritik am subjektivitätstheoretischen Paradigma ist stringent: Es gibt keine geheimnisvolle Substanz namens ›Person‹ unter anderen Substanzen. Wenn der Bedeutungsumfang des Begriffs aber im Gegenzug durch Strategien bestimmt wird, die lebensweltlich relevante Bereiche samt ihrer Basisintuition ausblenden müssen, dann scheint doch mindestens eine starke Einseitigkeit vorzuliegen. Es gibt deshalb gute Gründe, Persontheorien vom Typ (b) in Anschlag zu bringen. Nach ihnen sind Beschreibungen wie das Kriterienbündel von Michael Quante nicht einfach hinfällig. Sie helfen vielmehr, Personen zu entdecken und von anderem und anderen zu unterscheiden. Sie zeigen sich aber als mindestens einseitig, weil sie einen basalen Umstand nicht in den Blick bekommen: Personen haben Würde. Personen können Personen anerkennen und verlangen selbst nach Anerkennung. Personen verdienen Achtung und sind in der Lage, andere zu achten. Personen können Handlungen vollziehen und können für das, was sie tun oder unterlassen, Gründe angeben und auch zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist diese Semantik des Personbegriffs, die den Unterschied von ›etwas‹ und 12 Quante, Person 18f. 13 Vgl. nur A. Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011, 233–317 zu Anerkennungsprozessen in Familie und Freundschaft, sowie ders., Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, 261–279 zu Gruppenprozessen. 14 Quante, Person 31.
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›jemand‹ in ihrem Kern benennt. Um ihn deutlich zu machen, muss man sich von intuitivem Wissen zu Versuchen vorarbeiten, dieses zu konzeptualisieren. Die erste Intuition betrifft den Unterschied zwischen Gebrauch und Begegnung: Dinge werden gebraucht, Personen begegnen einander. Beim Gebrauch handelt es sich um ein instrumentelles Verhältnis, das mit einer Intention des Gebrauchenden benannt werden kann. Die Begegnung dagegen hat ein Momentum des Unverrechenbaren und des Unverfügbaren, eben weil ein Jemand gegenübertritt und nicht ein Etwas. Bei näherem Zusehen zeigt sich rasch, dass reine Gebrauchsrelationen auch von Mensch zu Mensch vorstellbar sind. Dem aber haftet ein seltsamer bis heikler Makel an: Besteht die Beziehung zu einer anderen Person allein in deren Ingebrauchnahme für Zwecke des Aktors, dann handelt es sich um eine Instrumentalisierung, gegen die nicht nur Kants berühmte Formulierung vom Menschen als Zweck an sich spricht.15 Es waren doch regelmäßig die großen politischen Schuldgeschichten, deren Kern die Herabwürdigung anderer zum bloßen Mittel darstellte, auch gilt dasselbe für scheiternde zwischenmenschliche Beziehungen: Sie enden oder sie verdrehen sich ins Pathologische, wenn sich der Begegnungscharakter zu Gunsten einer Dingbeziehung mit einem anderen Menschen verflüchtigt. Unbeschadet dieses Extrems ist es alltägliche Möglichkeit und Wirklichkeit, den Kontakt zu anderen Personen um eigener Zwecke willen zu suchen und zu gestalten: Vom Kauf einer Busfahrkarte an sind die Beispiele Legion. Heikel sind die Verabsolutierungen. Dasselbe zeigt sich in den umgekehrten Versuchen, Begegnungen mit nichtPersonen für wirklich zu halten: Von der ›Liebe‹ zum eigenen Auto oder der Hochstilisierung des Haustiers zum Familienmitglied bis hin zu den mancherlei Formen der Fetischisierung ist auch hier vieles denkbar. In klassischer Weise hat Martin Buber den Unterschied von Gebrauch und Begegnung beschrieben. In ›Ich und Du‹ spricht er von den beiden »Grundworten« Ich-Du und Ich-Es, um dem sofort die Bestimmung folgen zu lassen: »Grundworte sagen nicht etwas aus, was außer ihnen bestünde, sondern gesprochen stiften sie einen Bestand.«16 Je nachdem, welches Grundwort jemand spricht, befindet er sich buchstäblich in einer eigenen Welt. Die Welt des Grundworts Ich-Es ist die der bekannten Abläufe und Kausalitäten. Ein Subjekt in souveräner Selbsthabe tritt in Beziehung zu Dingen, die es gebraucht. Auch seine Bezüge zu anderen Menschen sind dingförmig: »Das Grundverhältnis des Menschen zur Eswelt, umfaßt das Erfahren, das sie immer wieder konstituiert, und das Gebrauchen, das sie ihrem vielfältigen Zweck, der Erhaltung, Erleichterung und Ausstattung des Menschenlebens, zuführt. Mit dem Umfang der
15 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 66f. 16 M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 51984, 7.
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Stellvertretung und Person
Eswelt muß auch die Fähigkeit, sie zu erfahren und zu gebrauchen, zunehmen.«17 Die »Schranke zwischen Subjekt und Objekt« ist jedenfalls errichtet.18 Wohlbekannt sind die Worte, mit denen Buber das Gegenstück und damit die Ich-Du-Relation beschreibt. Programmatisch: »Der Mensch wird am Du zum Ich.« »Alles wirkliche Leben ist Begegnung.«19 Die Pointe ist dabei, dass in der Begegnung zwischen Personen nicht Sachverhalte wahrgenommen werden, sondern eben Begegnung sich ereignet: »Stehe ich meinem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche ich das Grundwort Ich-Du zu ihm, ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend.«20 Die daraus folgende Entgegensetzung ist scharf, aber konsequent: »Was erfährt man also vom Du? Eben nichts. Denn man erfährt es nicht. Was weiß man also vom Du? Nur alles. Denn man weiß von ihm nichts Einzelnes mehr.«21 Buber hat in poetischer Sprache wichtige kategoriale Unterscheidungen getroffen: Das Verhältnis zu Dingen – und zu Menschen in dinglicher Funktion – benötigt die Selbsthabe eines souveränen Subjekts. Begegnung ist von kategorial anderer Qualität und bringt ein entsprechend ent-sichertes Subjekt mit sich. Buber rechnet mit immer wiederkehrenden Übergängen zwischen Ich-Du und Ich-Es. Dabei geht es ihm nicht, wie gelegentlich unterstellt wurde, darum, IchEs-Beziehungen gänzlich hinter sich zu lassen: In einer reinen Ich-Du-Welt könnte man wohl kaum leben. Wohl aber wäre eine reine Ich-Es-Welt ganz ebenso wenig lebbar. Die Grundworte sind weder aufeinander reduzibel, noch ersetzen sie sich wechselseitig. Als was zeigen sich Personen, wenn Begegnungen stattfinden? Martin Buber beantwortet diese Frage höchstens indirekt. Das ist konsequent, weil in seiner Ich-Du/Ich-Es-Dichotomie dingontologische Aspekte nur an die Ich-Es-Relation verwiesen werden. Du-Momente heben Sachwissen insulär auf: »Die Du-Momente erscheinen in dieser festen und zuträglichen Chronik als wunderliche lyrisch-dramatische Episoden, von einem verführenden Zauber wohl, aber gefährlich ins Äußerste reißend, den erprobten Zusammenhang lockernd, mehr Frage als Zufriedenheit hinterlassend, die Sicherheit erschütternd, eben unheimlich, und eben unentbehrlich.«22 So gesehen ist es konsequent, die Frage nach dem Dasein der Person in der Begegnung als unbeantwortbar zurückzu17 18 19 20 21
Buber, Prinzip 40. Buber, Prinzip 27. Buber, Prinzip 32 bzw. 15. Buber, Prinzip 12. Buber, Prinzip 15, unter Auslassung von vier Spiegelstrichen, die den Dialogcharakter der Sätze verdeutlichen. Zu den hier nur kurz angedeuteten Kategorien der beiden Grundworte vgl. die eingehende Analyse bei M. Leiner, Gottes Gegenwart. Martin Bubers Philosophie des Dialogs und der Ansatz ihrer theologischen Rezeption bei Friedrich Gogarten und Emil Brunner, Gütersloh 2000, 168–181. 22 Buber, Prinzip 37.
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weisen. Freilich gibt es bei Buber selbst Spuren. Sie führen zur theologischen Pointe des Buches, insofern er sagt, dass das einzelne Du ein Vorblick und Angeld auf das ewige Du ist.23 Im Interesse einer näheren Klärung dessen, was unter personaler Begegnung verstanden werden könnte, lohnt es jedoch, von dieser theologischen Zuspitzung abzusehen und zu fragen, ob nicht doch Näherbestimmungen der Person im Modus der Begegnung möglich sind. Für vorläufige Antworten ist es hilfreich, von der Betrachtung unmittelbarer Begegnungssituationen ein Stück zurückzutreten und vorläufig zu behaupten, dass eine Person das, was sie in der Begegnung ist, nicht völlig verliert, sondern noch ›hat‹ oder ist, auch wenn aktual keine Begegnung stattfindet. Das lässt sich am besten als das Wissen darum auffassen, dass jemand in dem, was sich über ihn sagen oder wissen lässt, nicht aufgeht: Eine Person kann durch die Beschreibung ihres Äußeren, ihrer Charaktereigenschaften oder ihrer intellektuellen Fähigkeiten wohl ausfindig gemacht, aber eben nicht als sie selbst namhaft gemacht werden. Robert Spaemann fasst das so: »Wenn wir von jemandem sagen, er sei eine Person, dann sagen wir, daß er in einer Weise ›jemand‹, also ein Einzelner und Einziger ist, die nicht als beiläufige Folge seiner Prädikate oder der Gesamtheit seiner Prädikate verstanden werden kann. Was er auch immer sein mag, ist er so, daß es nicht darüber entscheidet, wer er ist. Da uns anschaulich und begreiflich nur gegeben ist, was er ist, ist uns, wer er ist, nur zugänglich im Akt der Anerkennung dessen, was sich der Zugänglichkeit definitiv entzieht. Und es entzieht sich nicht nur, wie alles innerpsychische Geschehen, der Außenwahrnehmung. Es entzieht sich ebenso der inneren Wahrnehmung. Denn auch der inneren Wahrnehmung sind nur ›reale Prädikate‹, das heißt sachhaltige Bestimmungen zugänglich.«24
Bislang besteht die Persontheorie (b) aus folgenden Behauptungen: (b1) Die Unterscheidung von Wahrnehmung und Begegnung zeigt den Kern des mit ›Person‹ Gemeinten in der nicht-prädikativen Begegnung; (b2) das ersetzt die Wahrnehmung einzelner Prädikate nicht, es bestreitet aber, dass eine Person mit den über sie aussagbaren Prädikationen identisch ist – und sei es der in der Praxis nie eintretende Fall, dass alle nur möglichen wahren Sätze über eine Person gesagt werden. Wenn diese beiden Behauptungen richtig sein sollten, dann wäre mit ihnen eine erste Explikation der Vermutung vorgelegt, es gebe den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹. Die deskriptiv-sortalen Sätze aus der Persontheorie (a) können dann als in sich durchaus stimmig gelesen werden. Für 23 Buber, Prinzip 72 u. ö. 24 Spaemann, Personen 48. Zur selben Sache an anderer Stelle: »Wenn wir Menschen fragen, ob es wahr ist, daß sie Schmerzen haben (…), dann können sie selbst darüber Auskunft geben. In Bezug auf die eigene Innerlichkeit besitzt jeder einen privilegierten Zugang. Nicht so in Bezug auf das Personsein. Personsein ist kein objektives Vorkommnis wie Schmerzfähigkeit. Und es gibt auch keinen privilegierten Zugang zum eigenen Personsein.« (192)
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Stellvertretung und Person
die Ich-Es-Situation (Buber) oder die Sammlung von Prädikaten (Spaemann) ist es sogar richtig, sich an sie zu halten. Sie haben aber nur auf das Vorkommen ›hier ist eine Person‹ hinweisende, nicht jedoch sie definierende Funktion. Damit ist die Frage, als was Personen sich zeigen, aber noch nicht beantwortet. An ihrer Realität ist nicht gut zu zweifeln, aber es gibt die hier kurz angerissenen guten Gründe, sie nicht der Dingwelt zuzuschlagen. Die philosophische und theologische Tradition stellt dafür den Vorschlag bereit, vom ens morale zu sprechen: Zu beschreiben ist das »Sein des Personalen oder Sittlichen als eine eigene Ordnung gegenüber dem Sein der Natur.«25 Wo Menschen für sich beanspruchen, als Personen wahrgenommen zu werden und andere als solche anerkennen, setzen sie nolens volens mit, nicht im inventaristischen Sinne vollumfänglich beschreibbar zu sein. Der Satz ›x ist eine Person‹ ist also eine Realitätsunterstellung eigener Art: »Die moralische Identität, die der Person, ist eine Identität sui generis.«26 Man kann darüber rechten, ob es glücklich ist, mit dem Verweis auf die Redeweise vom ens morale die klassische Sprache der Ontologie aufzurufen oder gar zu sagen, es handle sich um die Metaphysik der Person.27 Richtig bleibt aber, dass in Sachen der Person Realitätsunterstellungen gemacht werden, die nicht vorhandene Dinge meinen. Das klingt nach einem Zwischenergebnis, muss aber sofort mit einer Rückfrage konfrontiert werden: Ist das nicht der Aufruf zur intellektuellen Geisterseherei? Wird hier nicht jede Zurückhaltung zugunsten einer unbefangenen Neubevölkerung des κόσμος νοητὸς aufgegeben? Antwort: Ginge es wirklich darum, der Welt der Dinge nun eine Welt der nicht-dinghaften Personen als ›Vorkommen II‹ an die Seite zu stellen, wäre dieser Vorhalt berechtigt und berechtigt wäre dann allerdings die kantische Warnung vor »einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt«.28 Indes: Gibt es irgend ein Recht von einem ens morale zu sprechen, so hat dies unmittelbare Auswirkungen darauf, auf welche Weise man dieses eigentümlichen Seienden innewird. An eine Verdopplung der Realität durch unsichtbare Dinge oder körperlose Seelensubstanzen ist genau nicht gedacht. Entia moralia sind nicht spekulativ wahrnehmbar, sondern ausschließlich moralisch. In der jüngeren Debatte hat es dazu zwei Vorschläge gegeben: Zum einen wird personale Identität als narrative Identität gefasst und entsprechend der Zugang zu diesem ens morale über die Narration versucht; zum anderen – und das ist auf nicht leicht sichtbar zu ma25 Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 21997, 277. 26 Kobusch, Entdeckung 274. 27 So Kobusch, Entdeckung 280 u. ö. 28 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 295.
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chende Weise mit dem ersteren verschwistert – geht es um das Phänomen der Anerkennung: Dinge werden entdeckt und erkannt, Personen im Vorgang Anerkennung wahrgenommen. Die Debatten über diese beiden Zugangsweisen zum ens morale sind groß und verzweigt, ich beschränke mich auf jeweils einige Hinweise, um den epistemischen Zugang wenigstens im Ansatz zu klären.
Personale Identität als narrative Identität Die eigene Person ist nicht Gegenstand der Beobachtung, wohl aber der Erzählung. Subjekte sind nicht punktförmig vorhanden, vielmehr bildet sich im Lauf ihres Lebens die unvertretbare Identität heraus. Sie ist nicht mit einem Blick sehbar, wohl aber in Ausschnitten erzähl- und in gewissen Grenzen auch summierbar. Selbst- und Fremderzählung kommen – konsonant, überlappend oder divergierend – in der Person zusammen.29 Die anders als so nicht zugängliche Identität ist zugleich das Subjekt des Handelns: Moralische und narrative Identität sind identisch. Das gilt für Individuen genauso wie für Gruppen, weswegen es u. a. theologisch sinnvoll ist, von den storys Israels und der Kirche zu sprechen.30 Narrative Konzeptionen des Selbst werden auf dem Hintergrund recht verschiedener philosophischer und ggf. theologischer Grundannahmen entwickelt, wie der Blick in so unterschiedliche Entwürfe wie die von Wilhelm Schapp, Alasdair McIntyre, Charles Taylor oder Paul Ricœur zeigt.31 Bei aller Unterschiedlichkeit der Zugänge dürften folgende beiden Bemerkungen von Charles Taylor bei allen Genannten zustimmungsfähig sein. Kritisiert wird die Idee des Subjekts als Gegenstand, wie sie etwa Derek Parfit unter Berufung auf John Locke entwarf: »Diese ganze Auffassung krankt meiner Ansicht nach an einem verhängnisvollen Irrtum. Die Identität der Person ist die 29 Das ist eine Möglichkeit, die älteste Begriffsbedeutung von persona als Maske des antiken Schauspielers zu verstehen: In der Maske trifft die Aussageabsicht des Schauspielers mit den Projektionen der Zuseher zusammen. 30 Vgl. D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988, 45–47; ders./H.O. Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie, München 1976. Dazu I. Schoberth, Erinnerung als Praxis des Glaubens, Gütersloh 1994; W. Schwartz, Dietrich Ritschls story-Konzept und die narrative Ethik, in: Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, hg. von M. Hofheinz u. a., Zürich 2009, 143–160. 31 W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt/M 42004; A. McIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/M 1995, 75–109.273–300; C. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1996, 52–104 u. ö.; P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen. Anerkanntsein, Frankfurt/M. 2006, 97–192, bes. 132–138. Hilfreiche Analysen zu den meisten dieser und einigen anderen Positionen im Sammelband Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, hg. von M. Hofheinz u. a., Zürich 2009.
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Identität des Selbst, und das Selbst wird als zu erkennender Gegenstand begriffen.«32 Dagegen: »Da wir nicht umhin können, uns nach dem Guten zu orientieren, weshalb wir unseren Standort im Verhältnis zu ihm bestimmen und dementsprechend die Richtung unseres Lebens festlegen, müssen wir das eigene Leben unbedingt in narrativer Form – als ›Suche‹ – begreifen. Vielleicht könnte man aber auch von einem anderen Punkt ausgehen und sagen: Da wir unseren Standort im Verhältnis zum Guten bestimmen müssen, kann es uns gar nicht an einer Orientierung aufs Gute fehlen; folglich müssen wir unser Leben als Geschichte sehen.«33
Erkennen der Person als Anerkennung Anerkennung »meint eine Beziehung, die sich auf Personen richtet, durch die das Erkennen eine praktische Dimension erhält: Es strukturiert das Selbst und das Zwischenverhältnis und läßt dadurch Verpflichtungen entstehen.«34 Person einerseits und Anerkennung andererseits bilden einen strikten Zirkel. Eine Person ist nur Person, wenn sie von anderen – und, oft übersehen, von sich selbst! – als solche anerkannt wird. Möglich, und als Quelle der Barbarei stets präsent, ist es, diese Anerkennung zu verweigern. Wer dies freilich anderen gegenüber tut, nimmt sich selbst aus dem Anerkennungszirkel heraus. Beim Phänomen Anerkennung zeigt sich die generelle Verfasstheit des moralischen Sprachspiels: Ein Widerstrebender kann mit Argumenten nicht gezwungen werden, moralisch zu handeln. Wer aber irgendeinen Impuls dazu verspürt, dem wird die hohe intuitive Plausibilität des Phänomens Anerkennung aufgehen: »Personsein ist deshalb nicht etwas, das vermutet und bei starker Vermutung dann sozusagen juristisch anerkannt wird. Es ist vielmehr überhaupt nur im Akt der Anerkennung gegeben. Und diese Anerkennung ist nicht ein Analogieschluß wie der Schluß von den eigenen Schmerzen auf die eines anderen Lebewesens. Vielmehr ist uns unser eigenes Personsein gar nicht früher gegeben als das Personsein anderer. (…) Personsein ist das Einnehmen eines Platzes, den es gar nicht gibt ohne einen Raum, in dem andere Personen ihre Plätze haben.«35 »Zwar ist Anerkennung ein Akt freier Spontaneität; man kann sie verweigern. Aber wer anerkennt, versteht Anerkennung nicht als willkürliche Setzung, sondern als angemessene Antwort.«36 32 Taylor, Quellen 97. 33 Taylor, Quellen 103f 34 G. Amengual, Art. Anerkennung, in: Enzyklopädie Philosophie Bd. 1, Hamburg 1999, 66–68, 66. 35 Spaemann, Personen 193. 36 Spaemann, Personen 252.
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Nächst der grundlegenden Studie von Ludwig Siep aus den siebziger Jahren stammen die wichtigsten neueren Beiträge zur Anerkennungstheorie wiederum von Paul Ricœur und im deutschsprachigen Bereich von Axel Honneth: Maßgeblich angeregt durch eine Relektüre von Hegels Sozialphilosophie entwirft er ein Bild der Gesellschaft und ihrer moralischen Verpflichtungen als Prozesse der und als Ruf zur Anerkennung. Leitend ist die Absicht, einen inhaltlich reichen Begriff von Freiheit zu gewinnen, da das bloß negative Verständnis von Freiheit als Autonomie des Selbstbewusstseins eine viel zu schmale Basis darstellt und sich an der Lebenswirklichkeit überdies nicht konturieren lässt.37 Die Beschäftigung der Theologie mit Begriff und Phänomen der Anerkennung ist divers. Klassischerweise wird die Frage bearbeitet, inwiefern Glauben als Anerkennen und Wahrseinlassen der Zuwendung Gottes verstanden werden kann.38 Die wechselseitige personkonstituierende Anerkennung, von der hier schwerpunktmäßig die Rede ist, ist offenkundig erst auf dem Umweg der Rezeption des Dialogismus und aktuell der Philosophie E. Levinas’ in Gang gekommen.39 Es gibt gegenwärtig Vorschläge, sie auch für Anerkennungsprozesse in explizit christlichen Gemeinschaften zu erproben.40
37 L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Neuauflage Hamburg 2014 (1979); P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen. Anerkanntsein, Frankfurt/M. 2006, 196ff; Honneth, Recht der Freiheit, bes. 173–218; die Hegel-Studie ist ders., Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001. Die knappen Bemerkungen zu religiös begründeter Hoffnung und säkularen Ersatzfiguren lassen nicht auf eine adäquate Wahrnehmung der theologischen Dimension des Anerkennungsbegriffs schließen, vgl. ders., Ich im Wir 298–306. Vielleicht aber steht Honneths Wort zur theologischen Sache schlicht noch aus. Eine systematische und historische Einführung liegt jetzt mit H. Ikäheimo, Anerkennung, Berlin/Boston 2014, vor. Die politische Dimension des Phänomens ist besonders thematisch bei C. Taylor u. a., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 2009 und Th. Bedorf, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin 2010, hier 17–96, ein Vorschlag, drei Typen von Anerkennungstheorien zu unterscheiden. Die theologische Diskussion dieser Theorieangebote steht noch in den Anfängen, vgl. A. Bohmeyer, Jenseits der Diskursethik. Christliche Sozialethik und Axel Honneths Theorie sozialer Anerkennung, Münster 2006. 38 Hinweise bei D. Lange, Art. Anerkennung II, RGG4 Bd. 1, 477f. 39 Affinitäten der Dialektischen Theologie zu Martin Bubers Programm sind immer wieder gesehen worden. Zu ihren Rätseln gehört, dass Karl Barth selbst einen weithin als hervorragend eingestuften Exkurs zu Bubers Werk zwar schrieb, aber nicht in die Kirchliche Dogmatik aufnahm. Er liegt seit Kurzem im Druck vor: K. Barth, Unveröffentlichte Texte zur kirchlichen Dogmatik. Hrsg. von H. Stoevesandt und M. Trowitzsch. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014, 359–381. Dazu D. Becker, Karl Barth und Martin Buber: Denker in dialogischer Nachbarschaft? Zur Bedeutung Martin Bubers für die Anthropologie Karl Barths, Göttingen 1986; E. Brinkschmidt, Martin Buber und Karl Barth. Theologie zwischen Dialogik und Dialektik, Neukirchen-Vluyn 2000. Die Levinas-Rezeption – zu ihr im nächsten Abschnitt mehr – ist exemplarisch greifbar in: Emmanuel Levinas. Eine Herausforderung für die christliche Theologie, hg. von J. Wohlmuth, Paderborn u. a. 1998.
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Mit den Stichworten narrative Identität und Anerkennung sollte der epistemische Sonderstatus von Personen im Gegensatz zu Dingen ansatzweise umrissen sein. Im nächsten Argumentationsschritt führe ich Begriff und Thema der Stellvertretung als Konkretisierung zwischenmenschlicher Anerkennungsprozesse ein. Zugleich wird, was bislang aus heuristischen Gründen weitgehend abgeblendet wurde, der theologische Diskurs eröffnet: Auch und gerade für die Belange des Gott-Mensch-Verhältnisses ist ein Rekurs auf Stellvertretung wichtig, ja unumgehbar. Nach Lage der Dinge findet das in Form einer Vorstellung dreier Positionen statt, die das Thema in die gegenwärtige Debatte eingespielt haben.
Stellvertretung. Bericht über Besichtigungen eines Konzepts Stellvertretung ist ein alltäglicher zwischenmenschlicher Akt: Lehrer agieren stellvertretend für ihre Schülerinnen und Schüler, Eltern für ihre Kinder, Freunde für einander, medizinisches Personal für seine Schutzbefohlenen, demokratisch gewählte Abgeordnete für ihren Souverän, selbst der Richter, der einen Straftäter verurteilt, agiert stellvertretend für ihn, weil er nicht dessen Vernichtung sondern schlussendlich seine Resozialisierung anstrebt. Alltägliche Vorgänge also, in großer Anzahl und offenbar in erheblicher Varianz. Zugleich sind diese Vorgänge aber nicht banal: Die Vorstellung, wie auch nur ein einziger Tag aussähe, an dem keine stellvertretenden Vollzüge stattfänden, ist eine erschreckende Vorstellung. Dieser alltägliche Vorgang also scheint von größter Relevanz für Individuen wie für das Gemeinwesen zu sein. Doch was ist eigentlich ›Stellvertretung‹? In allererster Näherung hat sie wohl folgende Momente: (1) Eine Handlung oder Handlungsfolge, an der mindestens zwei Personen beteiligt sind. (2) Eine davon kann – wir setzen den Gelingensfall – für die andere einen Zustand imaginieren, in dem sie sich nicht befindet, der aber günstig für sie wäre. (3) Sie ist ferner in der Lage, Handlungen vorzunehmen, die die andere Person instand setzen, diesen Zustand auf die eine oder andere Weise zu erreichen. – Ein basaler Akt des Förderns und Bereitens für jemand anderen. Deutlich wird unmittelbar, dass wer dies vornimmt, sich bereits anerkennend verhält: Der, dessen Stelle er vertritt, ist Person und Feststellung dieses Umstands findet eben nicht theoretisch, sondern durch den Akt/die Aktkette der Stellvertretung statt. Die Pragmatik des ens morale ist aufgerufen und vorausgesetzt. Das sind die allgemeinsten Bestimmungen. Alles weitere gilt es nun im Gespräch mit drei prominenten Positionen zu bestimmen, die den gegenwärtigen 40 L. Ohly, Anwesenheit und Anerkennung. Eine Theologie des Heiligen Geistes, Göttingen 2015, 86ff.
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Diskurs über Stellvertretung maßgeblich beeinflusst haben. In ihm wird überdies das explizit theologische Anliegen bei der Sache deutlicher werden. »Die Behauptung, das Ich sei Stellvertretung«41 – E. Levinas Emmanuel Levinas ist Kronzeuge der Behauptung, die Person ginge nicht im Beschreibbaren auf und werde durch Inventarisierung geradewegs verfehlt. Überdies legt er die Behauptung dahingehend aus, dass sie anders als mit der Thematik der Stellvertretung gar nicht denkbar ist. Das ist als Erweiterung des bislang Erarbeiteten der nächste hier fällige Argumentationsschritt. Da Levinas schließlich, wie zu sehen sein wird, sein Argument in unübertroffener und wohl kaum übertreffbarer Radikalität vorträgt, gebührt ihm beim Durchgang durch relevante Positionen die erste Stelle. Beim Wort »Argument« könnte man freilich gleich ein Fragezeichen setzen. Levinas folgt weitgehend nicht dem klassischen Argumentationsstil, Prämissen aufzuzeigen und Folgerungen daraus zu ziehen. Viel eher geht er so vor, dass er in immer neuen Anläufen nach dem sucht, was sich zeigt, wenn man weithin geteilten Üblichkeiten misstraut. Da dieses sich-Zeigende nichtsprachlicher Natur ist, ergibt sich das Paradox, mit den Mitteln der Sprache über sprachlich Darstellbares hinauskommen zu wollen. Schließlich soll das sich-Zeigende von höchster Bedeutung und zugleich radikal bedroht sein. So ergibt sich ein Darstellungsstil, der das zu Suchende in stets neuen Anläufen umkreist, sich dabei häufig genug selber ins Wort fällt und die Kohärenzerwartung bei der Lektüre entsprechend gegen den Strich bürstet. Das hat in der Sekundärliteratur mitunter zu Strategien der rhetorischen Nachahmung geführt, dem sprachlichen Getümmel der ›Derridistik‹ derer nicht unähnlich, die versuchten, ihrem Meister Jacques Derrida stilistisch nahe zu kommen. Dergleichen gelingt freilich äußerst selten. Überdies ist es nicht tunlich, weil Analysen nicht durch Anähnelung an das Original gewonnen werden, sondern durch geduldiges Aufzeigen dessen, was man meint, verstanden zu haben. Es folgt deshalb der Versuch eines verstehenden Nachvollzugs, der sich im analytischen Stil vom Original deutlich unterscheidet. Anders als kleinschrittig ist das nicht sinnvoll, weshalb ich mich auf das Kapitel ›Die Stellvertretung‹ aus Levinas’ zweitem Hauptwerk konzentriere, nach seiner Auskunft Kernstück des Buches. (219) Leitend ist die Annahme, dass in diesem Kapitel ein Grundgedanke durch Abweisung seiner Gegenthese konturiert und in einer Reihe von Anläufen sukzessive um Beobachtungen angereichert wird.
Insoweit ist ›Die Stellvertretung‹ doch ein Stück klassischer Argumentation als ihr Autor zu Beginn und dann immer wieder deutlich macht, wie seines Erachtens nicht zu denken sei. Es handelt sich um die Gedankenfiguren der Selbsthabe 41 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg 42011, 283. Nachweise aus diesem Band im Folgenden im Text, wobei ich auch in der Paraphrase dem levinasschen Sprachgebrauch ›Andere‹ groß zu schreiben, folge. Für erhellende Gespräche zum Thema danke ich Erwin Dirscherl.
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des Subjekts. Wer über Person(en) nachdenkt und dabei beim sich-selbst-präsent-Werden, beim Rekurs des Subjekts auf sich und überhaupt bei der Fähigkeit von Subjekten anfängt, Dinge/Zustände wahrzunehmen und sich dessen bewusst zu sein, entdeckt zwar manches, verdeckt sich aber das Entscheidende. Denn: Wäre Subjektivität gleich Selbstbewusstsein, dann wäre sie identisch mit Besitz. Ein erkennendes Subjekt, das um diesen Umstand weiß, geht gleichsam aus sich heraus, aber nur um wieder zu sich zurückzukehren und »um sich zu besitzen« (219). Mehr noch: Wer etwas in der Welt ansieht und erkennt, bedient sich vorgängiger Schemata und Kategorien, die er an die Objekte seiner Erkenntnis anlegt: »Gerade deshalb ist dieses Abenteuer kein Abenteuer. Niemals ist es riskant. Es ist Selbstbesitz, Prinzipat, ἀρχή.« (221) Ein solches Subjekt steckt letztlich in »Langeweile und Überdruß«, in der »Ankettung an sich selbst« (277). Es setzt überdies eine folgenreiche Prämisse: Gerät das Subjekt durch Vorgänge der Erkenntnis in den Blick, dann muss es dingartig sein. Denn alles, was irgend erkannt wird, ist Substanz. Das sie erkennende Subjekt ist dann in der Rolle des Herrschers. (226) Das ist ein Grundzug westlicher Philosophie überhaupt, die Philosophie des Dings ist und verdinglicht, was ihr nur begegnet. (244) Soweit die abzulehnende Position. Was aber kann gemeint sein, wenn es nicht im Sinne eines Gegenstands für das erkennende Subjekt sichtbar wird? Ein ›etwas‹ ja offenkundig nicht. An dieser Sachstelle beginnt der deutlich an Levinas’ philosophische Herkunft und Anfänge in der Phänomenologie gemahnende Stil, auf ›etwas‹ zu deuten, das sich zeigt, ohne doch ein Gegenstand im Sinne eines in der Welt vorhandenen Dings zu sein. Die Behauptung ist anfangs sehr ungeschützt: Es gibt eine »Art des Bedeutens, die ganz anders ist als die, die das sichDarbieten mit dem Sehen verbindet« (221). Es ist »die widersprüchliche Trope des der-Eine-für-den-Anderen« (221f). Irgendwie muss ›der-Eine-für-den-Anderen‹ etwas grundlegend anderes sein als das, was noch durch die aufregendste und ungewöhnlichste Entdeckung eines zuvor unbekannten Gegenstands in den Blick kommt. Genauer: ›es‹ kommt überhaupt nicht in den Blick, weil es sich der Logik des Erblickens eines Dinges verweigert. Es lässt sich nicht »zähmen oder bändigen« (222), es drängt an, es beharrt, ja es handelt sich um, wie Levinas immer wieder schreibt, »Besessenheit« (223 u. ö.). Diese allerersten Bestimmungen rufen die Intuition auf, dass zwischenmenschliche Beziehungen kein Ding sind und dass gewisslich aller verdirbt, wer sie auf dinghafte Aspekte reduzieren will. Deshalb zu sagen, sie seien irreal, ist freilich der – in den Konstellationen der Neuzeit vor allem cartesisch induzierte – Irrtum. Der Realität in einem eigentümlichen Modus gilt es also auf die Spur zu kommen. Als eine von gewiss mehreren Möglichkeiten, ›Die Stellvertretung‹ zu lesen, meine ich acht Schritte auszumachen, in denen das Gemeinte immer wieder umkreist und sukzessive dichter beschrieben wird. Es handelt sich um: (a) zunächst die Behauptung, dass es ›der-Eine-für-den-Anderen‹ gibt, und zwar als
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(b) nichts weniger als konstitutive Größe; (c) es zeigt sich als ein Sollen, das Geben ermöglicht und hat (d) regelmäßig mit dem Phänomen der Verschuldung zu tun. (e) Das zeigt sich näherhin als in sich komplexes Phänomen der Verantwortung, die von (f) der kommunikativen Verfasstheit des ›der-Eine-für-denAnderen‹ nicht zu trennen ist. Nichts weniger als (g) die Existenz und eigentümliche Verfasstheit des Guten steht auf dem Spiel, wobei schließlich (h) die unvertretbare Individualität dessen hervortritt, der sich dem Phänomen ausgesetzt findet. (a) Selbstreflexion und souveräne Selbsthabe des Bewusstseins ist nicht alles, was dem Subjekt widerfahren kann. Es gibt auch Vorkommnisse, die dem zuvor und zugrunde liegen. Levinas führt dafür die Termini ›Sich‹ und ›Rekurrenz‹ ein. Es handelt sich um die »Beunruhigung des Sich«, »nicht wohl in der eigenen Haut, in sich schon außerhalb seiner« zu sein (230). Es geht um eine Situation »die mich vorlädt, schon bevor ich mich zeige, bevor ich mich einrichte« (229). Menschen sind, so verstehe ich das, von anderen unmittelbar gefordert: Die Mutter eines nachts um drei Uhr schreienden Kleinkinds kann nicht erst überlegen, ob ihr die Situation in die reflexiv zurechtgelegte Mutterrolle passt oder nicht; sie steckt eben in dieser Situation. ›In sich schon außerhalb seiner‹ ist womöglich auch, wer am Straßenverkäufer mit der Obdachlosenzeitung vorbeigeht und merkt, dass ihn das – angenehm oder durchaus auch nicht – nun als zwischenmenschliches Phänomen angeht. Die zitierte Wortwahl lässt an in unangenehmem Sinn herausfordernde Situationen denken, doch ist durchaus nicht ausgemacht, dass es sich nur um solche handeln muss: Auch das plötzlich auftauchende Angesicht des geliebten Menschen oder die sich einstellende Begegnung mit dem Freund kann in eine Passivität versetzen, die mit der souveränen Selbsthabe des Subjekts nichts zu tun hat und diese vielmehr hinterfragt und durcheinanderbringt. – Wie groß die Bandbreite von Situationen, an die man denken mag auch immer: Levinas behauptet, dass Menschen von anderen Menschen im vor-souveränen Zustand aufgestört oder allererst in diesen gebracht werden. (b) Die genannten Phänomene sind nicht gelegentlicher Zierat eines ansonsten in gelingender Selbsthabe gelebten Lebens. Sie sind vielmehr ursprünglich und vorgängig. Denn das Selbst des Selbstbewusstseins muss sich irgendwoher schon gegeben sein. Es kommt nicht anfangslos aus der eigenen Setzung: »Die Selbstheit ist nicht ein abstrakter Punkt, nicht Zentrum einer Kreisbewegung, das identifizierbar ist aufgrund der Kreisbahn, die diese Bewegung des Bewußtseins beschreibt, vielmehr ist sie ein immer schon von außen identifizierter Punkt, der sich nicht in und an der Gegenwart identifizieren noch auch seine Identität ›ablehnen‹ muß, ist er doch bereits älter als die Zeit des Bewußtseins.« (236f) Im Rahmen der verbreiteten Annahme, dass an der Basis des Selbstbewusstseins eine letzte Passivität, ein von-anderwärts-her zu denken
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sei, partizipiert Levinas also. Die Frage, was diese letzte Passivität denn nun ausmache, liegt dann auf der Hand: Es ist die ›Trope des der-Eine-für-denAnderen‹. Damit ist zugleich gesagt, dass die letzte Passivität des Selbstbewusstseins nicht auf ein Ding oder ein irgendwie dinghaft Vorzustellendes verweisen kann, mag man es auch Schickung oder Geworfenheit nennen: Vorsubjektiv sind Menschen Angesprochene und in Anspruch Genommene. (c) Dass der andere existiert und da ist, ist »eine Rekurrenz, ein Auf-SichZurückgehen von einer unabweisbaren Forderung des Anderen her« (242). – Wenn (a) und (b) richtig sind, dann kann das, was bei dem, dem ein anderer begegnet, ankommt, nicht ein Stück Information, ein Bild oder ähnliches sein, denn es trifft ihn ja vor der souveränen Selbsthabe des Subjekts, die – ganz kantisch gedacht – vor der transzendentalen Apperzeption informationellen Mehrwert für sich, gleich welcher Art, nicht zu Stande bekommen kann. In Sinne eines Subtraktionsverfahrens: Geht es in der Begegnung nicht um etwas, was Leistung des souveränen Subjekts im weitesten Sinne ist, um was kann es gehen? Aus der Anwesenheit des Anderen als Anderem, gleichsam im Rohformat, ergibt sich ein Imperativ: ›Achte mich‹. Bleibt man den Vorgaben von (a) und (b) treu, dann ist eine inhaltliche Spezifizierung dieses Anspruchs des Anderen völlig ausgeschlossen, da sie ja bereits benennende und beschreibende Leistungen des Subjekts voraussetzen würde. Des anderen Anwesenheit zu achten, so müsste dann wohl der kategorische Imperativ vor der Möglichkeit, Kategorien zu verwenden, lauten. Levinas denkt gleichwohl ein Momentum der Gegenseitigkeit. Die Forderung des anderen ruft eine Antwortmöglichkeit hervor: »Soll, das Haben übersteigt, aber Geben ermöglicht. Rekurrenz, (…) in der der Leib, durch den das Geben möglich wird, anders werden läßt, ohne zu entfremden (…).« (242) Wenn man sich nur an die Kursiva im Zitat hält: Was wird gegeben, wie wird jemand anders? Levinas beantwortet diese Fragen im Umkreis des gegebenen Zitats nicht. Die Methode der schrittweisen Aufdeckung eines Phänomens bzw. der Zug um Zug dichter werdenden Beschreibung muss aber erwarten lassen, im weiteren Verlauf einer Antwort näher kommen zu können. (d) Eine der Metaphern, mit der der Zustand dessen beschrieben wird, der vor der souveränen Selbsthabe von der Anwesenheit des Anderen getroffen wird, ist die der Schuld oder Verschuldung. Die Metapher wird, wenn ich recht sehe, in einer eigentümlichen doppelten Bedeutung eingesetzt: Zum einen steht sie für die Maßlosigkeit der Situation: Ist kein souveränes Subjekt da, dann rückt der Andere einem ›auf die Pelle‹, ohne dass ein Instrument der Distanzierung bei der Hand wäre.42 Das klingt so: 42 In der Tat spricht Levinas des öfteren von der »eigene Haut« (245), vgl. 230.234.249 u. ö. Kaum zufällig wird auch die Kernaussage der Stellvertretung mit der Metapher der Haut ausgesagt, vgl. 254.
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» (…) eine ›Verschuldung‹ vor jeder Kreditaufnahme, eine nicht übernommene, nicht abgetragene, anarchische Verschuldung, Subjektivität einer Passivität ohne Grund, einer ›durch und durch‹ aus Vorladung bestehenden Passivität, wie das Echo eines Tons, das dem Erklingen dieses Tons vorausginge.« (245)
Das ist eine rhetorische Maximalisierungsstrategie: Das zu Beschreibende ist nicht beschreibbar, weil jede Beschreibung Kategorien benötigt. Exakt diese stehen aber nicht zur Verfügung. Entsprechend ist das Bildwort der Verschuldung ohne gewährten Kredit ein Mittel, um die Maßlosigkeit auszudrücken. Freilich gibt es noch eine weitere Bedeutungsnuance: Der Begriff Schuld kann auch als die Schuld einer anderen Person verstanden werden, »die Schuld der Anderen« (248). Levinas wiederholt die rhetorische Strategie, Ursache und Wirkung umzudrehen und setzt dies auch im moralischen Sprachspiel ein, indem er von »einer Anklage, die der Schuld vorausgeht«, spricht. (250) Hier ereignet sich eine Bedeutungsverschiebung: Es geht von der Illustration des Umstands, dass, wo nicht gemessen werden kann, alles maßlos sein muss hin zu einem Moment von Gegenseitigkeit: Wo eines anderen Schuld – unerheblich, ob es sich um Schuld im moralischen oder juristischen Sinn handelt – bei mir präsent ist, ist dieser andere präsent. Die Rede ist ausdrücklich noch nicht davon, dass nun eine Handlung angezeigt sei, etwa die Zurückerstattung einer Geldschuld oder – wie auch immer geartete – Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht. Wohl aber dies: Die vor-souveräne Präsenz des Anderen versetzt den einen wohl in Passivität, jedoch in eine Passivität, die nicht rein in sich selbst bleibt, sondern die in einer noch näher zu bestimmenden Weise auf den Anderen bezogen ist. Die nächsten Schritte des hier vorgelegten Analysevorschlags haben es mit diesem rekursiven, auf andere zurückbezogenen Aspekt dessen, was Levinas aufzuzeigen bemüht ist, zu tun. (e) Unter den Schlüsselbegriffen und -metaphern des Textes ist ›Verantwortung‹ wohl der komplexeste. In der Auseinandersetzung mit ihm wird der unter (d) angetippte rekursive Aspekt sichtbar. Das geschieht freilich in einer ungewöhnlichen Weise: Begriff und Thema der Verantwortung setzen für gewöhnlich ein leidlich souveränes Subjekt voraus, eben eines, das etwas und sich verantworten kann. So steht es etwa – ob ausreichend thematisiert oder nicht, ist eine andere Frage – in den Prämissenkatalogen der evangelischen Verantwortungsethik oder der Diskursethik. Levinas dagegen will eine Bedeutungsnuance herausstellen, die ausschließlich in der vorsubjektiven Betroffenheit durch den Anderen sichtbar wird. Eine vorgängige Übereinstimmung mit sich selbst wird für dies Verständnis von Verantwortung also genau nicht behauptet: »Die Verantwortung für den Anderen läßt sich nicht im entferntesten in der Freiheit des Bewußtseins ausmachen (…); die Verantwortung für den Anderen, die Verantwortung der Besessenheit lässt an die absolute Passivität eines Sich denken, das sich niemals von sich selbst hat entfernen können« (252). Um Verantwortung für
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eigene Taten, um Verantwortung für Schutzbefohlene usw. wird es demnach kaum gehen können. Aber was soll dann Verantwortung sein? Das wird sichtbar, wenn »ein das Geschöpf zur Sprache bringendes Denken« in Stellung gebracht wird. (251) Es handelt sich konsequenterweise um »eine Verantwortung des Ich für das, was das Ich nicht gewollt hat«, und das ist, wie es unmittelbar im Anschluss heißt, Verantwortung »für die Anderen«. (253) Das ist wohl so zu verstehen: Es gibt die Zustände, dass das Ich von der Präsenz des Anderen betroffen ist, ehe es selbst souverän um sich weiß. Dieser Zustand ist gleichbedeutend mit der Verantwortung für den Anderen, weil nur in ihm das Subjekt sich nicht selbst hat und folglich alles und alle durch die eigene Synthetisierungsleistung anblickt. Verantwortung für den Anderen ist seine Präsenz im eigenen Ich, das Gewahrwerden, dass ich ohne den Anderen nicht »ich« zu sagen in der Lage bin. Das ist die »Anderheit in mir«, zugleich – übrigens in der ersten Nennung des Stichworts im hier zugrunde liegenden Abschnitt – »meine Stellvertretung für den Anderen«, (ebd.) und zwar so, dass dies nicht als Entfremdung des Ich erfahren wird, sondern als die Ermöglichung der Stellvertretung, die ich bin. Verantwortung gleich Stellvertretung ist demnach die vorprädikative Anwesenheit des Anderen bei mir, die mich zu dem ruft, was ich bin, eben Stellvertretung für ihn. – Mit diesen Bestimmungen ist die provozierende »Behauptung, das Ich sei Stellvertretung«, (283) zum erstenmal umrissen. Was an Differenzierungen zum Begriff der Verantwortung und zu den weiteren, hier als Darstellungsschritten ausgemachten Aspekten noch folgt, hat im wesentlichen Erläuterungs- und Präzisierungscharakter. Im Rahmen der Verantwortungsmetaphorik betont Levinas wieder und wieder die Passivität von Stellvertretung und Verantwortung. Sie ist kein Ding, sie ist im Gegenbenwerden da, reine Passivität, wie »in der Idee der Schöpfung«. (244) Und weiter: »Das Einstehen-für, die Stellvertretung ist nicht ein Akt, es ist eine in den Akt nicht überführbare Passivität, das Diesseits der Alternative AktPassivität, die Ausnahme, die nicht in die grammatischen Kategorien wie Nomen oder Verb paßt, es sei denn im Gesagten, das sie thematisiert.« (259) Die Passivität der Stellvertretung ist aber der Ermöglichungsgrund für Akte wie Mitleid, Vergebung und menschliche Nähe: Wäre das Subjekt immer und nur das souverän sich-habende, dann wäre Sorge um den Anderen unverständlich. Sie wäre, wo sie denn stattfände, der uneigentliche Fall des ansonsten sich selbst genügenden Subjekts. Die vorprädikative Anwesenheit des Anderen ist der »Grund dafür, daß in der Welt Mitleid, Anteilnahme, Verzeihen und Nähe möglich sind.« (261) Die entdeckte Struktur des vorprädikativen ›der-Eine-fürden-Anderen‹ ist conditio sine qua non für Großzügigkeit und Mitmenschlichkeit überhaupt. Offenkundig sind wir hier am harten Grund von Levinas’ Anthropologie angekommen.
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Weil es für die späteren Erkundigungen in der Christologie wichtig ist, hier noch der kurze Hinweis, dass Levinas im Kontext des eben Erörterten auch von Sühne spricht. Der Begriff scheint dem der Stellvertretung im Wesentlichen koextensiv zu sein: »Die Subjektivität gehört dadurch, daß sie in passiver Weise die Last des Anderen erduldet – wodurch sie gerade zur Einzigkeit berufen wird –, nicht mehr zu der Ordnung, in der die Alternative von Aktivität und Passivität ihren Sinn behält. Man muß hier von Sühne sprechen – als von dem, was Identität und Alterität wieder miteinander verbindet. Das Ich ist nicht ein Seiendes, das ›fähig‹ wäre, für die Anderen zu sühnen: es ist die ursprüngliche – unfreiwillige – weil der Initiative des Wollens zuvorkommende (dem Ursprung zuvorkommende) Sühne, so als seien die Einheit und Einzigkeit des Ich bereits das Auf-sichNehmen der Last des Anderen.« (262) Man wird so zu verstehen haben: Mit dem vorprädikativen Ich ist Sühne bereits da, weil die in der Welt des souveränen Subjekts nicht oder nur uneigentlich denkbare Präsenz des Anderem am/im Ich Wirklichkeit ist. Wo Ich stattfindet, ist Sühne. Fasst man das theologisch auf, dann gilt, dass jede/r Mensch für Andere der Messias ist oder doch sein kann. Der jüdische Untergrund dieses Gedankens ist unverkennbar, auch wenn Levinas sich hütet, explizite Theologie zu betreiben. Christliche Theologie wird sich zu fragen haben, ob dies den Gehalt der oft zitierten Verse Mt 25,34–40 aufruft – wiewohl an Handlungsvollzüge ja genau nicht gedacht ist! – und ob dies bereits eine ausreichende Verstehensbasis für die Behauptung ist, durch Christus geschehe etwas zu unseren Gunsten.
(f) Die Bemerkungen zum Thema Kommunikation haben, wenn ich recht sehe, die Funktion eines Lemmas. In Kürze: Wenn Menschen im vorprädikativen Phänomen Stellvertretung beisammen sind, dann muss es sich doch irgendwie um ein Phänomen des Austausches zwischen ihnen handeln. Die Beziehung mit dem Anderen kann »Kommunikation und Transzendenz« sein. (263) Freilich beginnt diese Kommunikation nicht im freien Ich und souveränen Subjekt. Ihm könnte jeder andere nur als Begrenzung seiner selbst erscheinen und Kommunikation entsprechend als Auseinandersetzung, die wieder zur Selbstgewissheit zurückführt. Vollständige Kommunikation muss also über Formen der Sprachlichkeit hinausführen und »zur Verantwortung für den Anderen bis hin zur Stellvertretung« führen. (263) Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft (K.O. Apel) ist nicht eine unterstellte Gemeinsamkeit in einem sprachlich verfassten transzendentalen Wir, vielmehr »eine Beziehung, die nicht empirisches Wort ist, sondern Verantwortung, und das heißt auch Sich-Abfinden (in der Passivität, vor jedem Entschluß) mit dem Risiko des Mißverständnisses (…), mit dem Risiko der Verfehlung und der Kommunikationsverweigerung«. (266) Der Inhalt der Kommunikation ist Ungewissheit, ihr Ziel ist »Nähe und nicht Wahrheit über die Nähe; nicht Gewißheit über die Gegenwart des Anderen, sondern Verantwortung für ihn«. (267) (g) Levinas gibt seinen Erwägungen eine Pointe, indem er recht unvermittelt den Begriff des Guten einführt. ›Der-Eine-für-den-Anderen‹ hat es mit Güte zu tun und wird als Entdeckung des Guten oder als Gutes selbst qualifiziert.
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(249.261f u. ö.) Das ist einerseits konsequent und andererseits gerade in der Unvermitteltheit der Einführung des Begriffs überraschend. Die Konsequenz liegt darin, dass in der Gesamtanlage des Arguments eine Zweiteilung vorgenommen wird: Es gibt einerseits die Welt, die das sich souverän habende Subjekt für sich ist und die es durch Anlage seiner Kategorien an außerhalb seiner selbst Seiendes entdeckt. Nichts weniger als das ganze Buch aber ist gegen die Idee angeschrieben, diese Welt sei alles und in ihr sei positiv Benennbares aufzufinden. Der ganze Entdeckungsvorgang des Sich, der Rekurrenz, der Stellvertretung und Sühne ist ja darauf gerichtet, dass es neben der Welt des Subjekts eine andere Welt, nun, nicht gibt – weil das Verb ›es gibt‹ schon wieder die die subjektkonstituierte Logik von Sein und Seiendem zu reden, in Kraft setzt –, besser also: sich ereignet. Es handelt sich um ein Zweisphärenmodell vom Sein und dem, was jenseits des Seins ›ist‹, oder wie man wohl besser zu sagen hätte: entdeckt werden kann, vorkommt, sich ereignet. Dass Termini, die üblicherweise der Ethik zugehören, der zweiten Sphäre zugeschlagen werden, ist so weit nicht verwunderlich und vielmehr konsequent: »Das Gute vor dem Sein«. (273) Wie aber, und damit zum Überraschenden der Einführung des Terminus, rechtfertigt Levinas die Behauptung, dass das, was vorprädikativ geschieht, tatsächlich gut, also einer Wertüberprüfung zugänglich sei? Bei Strafe des Selbstwiderspruchs kann es sich ja um das Ergebnis einer Prüfung, die ein seiner selbst gewisses Individuum vornimmt, nicht handeln. Dass das Gute das Gute ist, muss sich vielmehr selbstevident zeigen. Die Plausibilisierung verleugnet ihre platonischen Wurzeln nicht und sagt, dass das Gute dem, der später das Gute wählen kann, vorgängig sein muss: »Diese Vorzeitigkeit der Verantwortung (…) bedeutet die Güte des Guten: die Notwendigkeit für das Gute, mich zuerst zu erwählen, bevor ich imstande bin, das Gute zu wählen, das heißt, seine Wahl anzunehmen. Darin liegt mein vorursprüngliches Empfangen. Passivität vor aller Rezeptivität. Transzendent.« (272) Nicht zuletzt die Feinheiten der Kursivsetzung – sie entfällt, wenn vom Guten, das ich wähle, die Rede ist, wird für das Gute an sich aber konsequent durchgehalten – unterstreichen die Aussageabsicht: Das Gute ist nicht die Leistung und auch nicht Gegenstand des Urteils eines autonomen Subjekts. Es muss ihm vielmehr vorprädikativ zukommen und ist ihm entsprechend als es selbst entzogen. Konsequent ist dann der die grundlegende Dichotomie des ganzen Entwurfs zusammenfassende Satz: »Das Gute vor dem Sein.« (273) Die Nähe zum Schluss aus Platons Sonnengleichnis, bei dem die Seinsjenseitigkeit des Guten herausgestrichen wird,43 ist mit Händen zu greifen. In der spezifischen Brechung der Levinas’schen Auslegung ist der Empfang des Guten gleichursprünglich mit der Anwesenheit des Anderen beim vorprädikativen Selbst. Es wird dann zur Anweisung, »sich dem Anderen zu nähern, sich 43 Pol 509b9
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dem Nächsten zu nähern. Anweisung zu einer nicht erotischen Nähe, zu einem Begehren des nicht-Begehrenswerten, zu einem Begehren des Fremden im Nächsten«. (273) Das Gute lenkt nicht auf sich selbst, sondern exakt von sich weg. Eine auf Innerlichkeit und Weltabwendung gerichtete Deutung des Konzepts des Guten aus dem Sonnengleichnis, wie sie etwa im Neuplatonismus und in einigen kontemplativen Strömungen des Christentums vorliegt, wird durch diese originelle Interpretation bündig abgewiesen. Zugleich ist hier die Nähe zu jüdischem Gottesdenken und christlicher Theologie offensichtlich: Levinas spricht ja vom Empfangen des Guten und davon, dass es das Ich erwählt; zudem spielt er das kenotische Motiv der Zuwendung zum nicht-Begehrenswerten und Niedrigen ein. Wieder aber, und das scheint mir für die Gesamtanlage des Werks zu sprechen, wird diese Nähe zwar aufgezeigt, aber nicht benannt, geschweige denn zu einem Übergang in theologische Erwägungen ausgebaut. (h) Die Aussagen zum Thema Individualität haben wiederum den Charakter eines Lemmas: Finde ich mich zur Stellvertretung gerufen, so bin ich selbst unvertretbar. Stellvertretung ist immer meine Stellvertretung. (280) In der »Vorladung«, von der Levinas auch sprechen kann, um die vorprädikative Unabweisbarkeit des ›der-Eine-für-den-Anderen‹ zu betonen (281), gibt es keinen Ersatz für den/die Vorgeladenen. Diese wäre, wo es um Begriffe und Konzepte geht, durchaus denkbar, weil, wer Begriffe mitteilt, sich bereits im Raum des Allgemeinen befindet. Die Vorladung aber zielt auf nichts Allgemeines, sondern genau auf die im Moment der Begegnung unvertretbare Person. Wenn ein anderer mich anspricht, dann bin ich der Einzige. So wird das souveräne Subjekt aus der Fassung gebracht und so ist die Stellvertretung, zu der sich jemand vorgeladen findet, das exakte Gegenteil des souveränen Subjekts. Weil aber nur so, im unvertretbaren Einzelfall der Stellvertretung, das Subjekt sich nicht im Allgemeinen befindet, sondern ganz bei sich ist, kann die hier als Zwischenüberschrift herangezogene »Behauptung, das Ich sei Stellvertretung«, verstanden werden. (283) Sie und nicht der Selbstbezug des souveränen Subjekts, ist principium individuationis. Kerngedanke dieses Entwurfs ist wohl die strikte Trennung von Sinn und Sein: Von Sinn und vom Guten kann nur gesprochen werden, sofern der »Imperialismus des Ich« außer Kraft ist. (286) Levinas erinnert an die Zweiweltentheorie Kants, nach der die wesentliche Bestimmung des Menschen eben nicht aus der Beschreibung dessen, was ist, hervorgeht, denn anderes als den ›Naturmechanism‹ gäbe es hier nicht zu entdecken. An dieser Sachstelle sieht Levinas die wahre kopernikanische Wende und schließt: »der Sinn bemißt sich nicht durch das Sein oder das Nichtsein, im Gegenteil, das Sein bestimmt sich vom Sinn her.« (288)
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Freilich schärft sich das Profil von Levinas’ Konzeption nicht nur mit Bezug auf Kants Werk. Zwei Bezüge zu Dialogen Platons, hier teils schon kurz erwähnt, sind dafür ebenso hilfreich. Zum einen geht es um einen kleinen Auszug aus den Spekulationen über das Wesen des Einen aus dem Parmenides, nämlich die Frage nach dem sich momenthaft Ereignenden, ἐξαίφνης, in Parm 156c–e.44 Levinas spielt darauf an, um die gänzliche Passivität des von Rekurrenz getroffenen Sich zu umschreiben. Im Dialog geht es um die Frage, was eigentlich geschieht, wenn das Eine von Ruhe in Bewegung übergeht oder umgekehrt. Zwischen dem Zustand der Ruhe und dem Zustand der Bewegung muss ein Übergang stattfinden. Es gibt aber keine Zeit, in der etwas weder ruhend noch bewegt ist. Also kann das Momentum des Übergangs ἐν χρόνῳ οὐδενὶ οὖσα, in keiner Weise in der Zeit sein. (Parm 156e1) Dasselbe gilt für andere Weisen des Übergangs. Der Vorschlag ist nun, diesen Zustand, der da sein muss, aber kein Moment in der Zeit sein kann, ἐξαίφνης, momenthaft/für den Moment, zu nennen. Einer näheren Beschreibung ist er nicht zugänglich.45 Levinas macht nun genau das zum Kern seiner Überlegung. Der Augenblick ist »Nicht-Ort, Zwischenzeit oder Unzeit (oder Unglück), diesseits des Seins und diesseits des – als Sein thematisierbaren – Nichts.« (241) Für das ganze Werk titelgebend und im Rahmen der Ausführung zum Guten direkt erkenntnisleitend ist der schon angesprochene Bezug zum Schluss des Sonnengleichnisses aus der Politeia.46 Sein Sprecher schließt: » (…) dass dem Erkennbaren nicht nur offenkundig das Erkanntwerden von dem Guten zukommt, sondern auch das Sein und das Wesen kommt ihnen von ihm her, ist doch das Gute nicht vom Sein, sondern an Würdigkeit und Kraft noch über das Sein hinaus.«47 Nahezu sprichwörtlich wurden hieraus die Worte »ἐπέκεινα τῆς οὐσίας/über das Sein hinaus«, die die ›Seins‹-Art des Guten bezeichnen: Was alles Seiende erst möglich macht, kann nicht Teil dessen sein, was es möglich macht. Offenkundig ist hier – überdies an prominenter Stelle – von Letztem und Höchstem die Rede. Wie deutlich geworden sein sollte, ist der Bezug
44 Nicht nur die Interpretations-, bereits die Gliederungsprobleme des Parmenides sind bekanntlich äußerst schwierig. Die von Samuel Rickless mit Mitteln der analytischen Philosophie erläuterte Gliederung ist zumindest in sich konsistent und klar. Sie ordnet den Passus in den Anhang zu den ersten beiden Deduktionen ein, mit denen der Hauptteil der sieben Deduktionen beginnt. Der Passus 155e3–157b3 hätte dann, was mir stimmig erscheint, vor allem erläuternde, nicht aber das Argument weitertreibende Funktion, vgl. S. Rickless, Plato’s Parmenides, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2015 Edition), Edward N. Zalta (ed.), http://plato.stanford.edu/archives/fall2015/entries/plato-parmenides/. 45 Rickless, Parmenides schlägt die lakonische Umschreibung »there is something (call it ›the instant‹)«, vor. Bei ihm wie bei Levinas zeigt sich aber ein Problem: Im Original steht ein Adverb. Darf man Absicht unterstellen, dann sind die Substantivierungen zu »something (call it the ›instant‹)« oder zum »Augenblick« nicht angemessen, weil sie eine zwar singuläre, aber doch eine Entität insinuieren. Die Levinas’sche Interpretation ist insoweit zu retten, als Rekurrenz/Sich ja eben nicht als ein Ding zu denken sind, sondern sich ausschließlich in vorprädikativer Erfahrungsweise ereignen. 46 Andere Fundstellen bei Levinas weist H. M. Dober, Schleiermacher und Lévinas. Zum Verhältnis von Kulturphilosophie, Religion und Ethik, NZSTh 44 (2002), 330–352, 342f, nach. Die hier aufgezeigte Interpretation der Platonstelle, die Existenz des Guten von der Totalität des Seins zu trennen und sie ihr vorzuordnen, zieht sich demnach durch Levinas’ ganzes Werk. 47 Pol 509b5–9.
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hierauf für Levinas’ Entwurf von entscheidender Bedeutung, bezeichnet er doch die Grenze zwischen Wissbarem und dem, was sich in der Rekurrenz ereignet. Das ist konsequent und unterscheidet seinen Platonismus von spekulativen Philosophien, die auf die eine oder andere Weise das ἐπέκεινα τῆς οὐσίας doch noch zum Gegenstand propositionaler Äußerungen machen wollen. Solche Spekulationen entkommen freilich nicht der Beobachtung, ihrerseits nur gedacht zu sein.
Der systematische Ertrag im Vorblick auf eine theologische Konzeption von Stellvertretung soll hier in Thesenform wiedergegeben werden: 1. Levinas schließt an die Basisintuition Martin Bubers an, dass das Ich-DuVerhältnis kategorial anders zu bestimmen ist als das Verhältnis eines Subjekts zu Sachen. Er verschärft zudem die Buber’sche Aussage, dass allererst am Du das Ich zum Ich werde, durch den an die Identitätsphilosophie gerichteten Verdinglichungsvorwurf. Die Zurückweisung der Idee, durch ein Bündel von Personkriterien dem Phänomen Person auf die Spur zu kommen, wird dadurch noch einmal plausibler. 2. Stellvertretung ist bei Levinas kein Akt, sondern eine Vorfindlichkeit des Sich in der Rekurrenz, also des Individuums, das sich nicht im Modus der bewussten Selbsthabe befindet, sondern das der Präsenz des Anderen ausgesetzt ist. Hier bereits findet Stellvertretung und Sühne statt, obwohl kein Handlungsvollzug vorliegt. Levinas insistiert auf dieser Pointe und nennt sie zugleich den Grund tatsächlich stattfindender Nähe und Güte. Auszuarbeiten ist hier zweierlei: Einmal ist zu fragen, wie man sich das Verhältnis GrundBegründetes genauer zu denken hat: Transzendentale Bedingung der Möglichkeit, Motivation oder vielleicht beides? Zweitens: Unbeschadet der rein passivischen Struktur dieses Grundes muss der Blick auch auf Handlungsvollzüge gerichtet werden, die Stellvertretung genannt zu werden verdienen. Levinas hat einen faszinierenden Vorschlag für die Ermöglichung von Stellvertretungsvollzügen vorgelegt, sich durch eine strikte Dualisierung aber den Blick für die ›unreinen‹ alltäglichen und gerade deshalb wichtigen Vollzüge verstellt. 3. Gerade als jemand, der den Schritt zur Theologie nicht wagt – jedenfalls im Rahmen der hier vorzustellenden Erwägung –, stellt Levinas die Frage nach der theologischen Begründung von Stellvertretung: Er spielt auf das Gesetztund Gerufensein des Geschöpfs im Gegensatz zur Dingontologie an. Diese Spur ist gewiss aufzunehmen. Freilich gilt es theologisch die Herausforderung zu bearbeiten, dass nach biblischem Zeugnis Gott immer wieder und auf eigene Weise im Christusereignis stellvertretend für Menschen handelt. Die materialdogmatische Durchführung des Stellvertretungsgedankens sollte nicht eilfertig abgewiesen werden. 4. Levinas betont die Unvertretbarkeit des Individuums in der Stellvertretung. Das ist gewiss richtig. Er rückt damit aber außer Blick, dass Stellvertretung
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auch in anderen als eins-zu-eins-Relationen stattfinden könnte. Das zu bearbeiten ist die Aufgabe einer sozialethischen Wahrnehmung des Phänomens. 5. Das von Platon her entwickelten Argument, dass das Gute strikt vorgängig zu denken ist, und also nur empfangen werden kann, hat in der theologischen Intuition, dass Menschen wesentlich Empfangende sind und das ihnen Zuträgliche von Gott erbitten dürfen, etliche Resonanz. Freilich führt das rasch zu Fragen der inhaltlichen Konkretion: Wie sehen Stellvertretungsvollzüge aus, die gut genannt zu werden verdienen? Die Levinas’sche Kriterienliste »Mitleid, Anteilnahme, Verzeihen und Nähe« (261) ist gewiss nicht falsch, aber erweiterungs- und präzisierungsbedürftig.
»Der den christlichen Glauben summierende Satz ›Gott tritt an meine Stelle‹«48 – C. Gestrich Gesucht ist demnach eine lebensweltliche Konkretisierung der basalen Ermöglichung von Stellvertretung, die Levinas freilegte. Dies, in Kombination mit der jetzt ebenfalls anstehenden Konkretion der theologischen Perspektive auf das Thema, findet sich unter den jüngeren Arbeiten zum Thema besonders prägnant in der einschlägigen Monographie von Christof Gestrich. In stärkerer Raffung als es (mir) soeben möglich war, folgen hier Bemerkungen zu den einschlägigen religionsphilosophischen und theologischen Grundentscheidungen dieser bemerkenswerten Studie. Gestrich beginnt sein Buch mit einem Satz im hohen Ton. Es handle nämlich »vom Aussichtsreichsten, das der Menschheit eingeräumt ist: der geschöpflichen Fähigkeit, füreinander einzutreten.« (V) Man muss aber nur über das dann folgende Inhaltsverzeichnis blättern, um in eine andere Stimmungslage zu geraten. Gleich zu Beginn der Einleitung steht, dass Gottes Stellvertretung und Dazwischentreten die »Lebensader des christlichen Glaubens« sei, welcher Gedanke jedoch für viele Zeitgenossen nicht mehr nachvollziehbar ist. »Das ist eine deprimierende Diagnose: Das Evangelium selbst wird nicht mehr verstanden!« (1) Gestrich ist nun weit entfernt davon, zu behaupten, sein Buch schaffe den Unverstand des Evangeliums wieder ab, doch aber werden vor allem »terminologische Klärungen und Unterscheidungen angestrebt, um dem genannten Verstehensabbruch entgegenzuwirken.« (ebd.) Entsprechend geht auch hier der Blick auf die leitende Terminologie und die wichtigsten begrifflichen Unterscheidungen: (a) Was macht Stellvertretung überhaupt nötig und möglich?; (b) 48 C. Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen 2001, 232. Nachweise aus diesem Band im Folgenden im Text.
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die elementare Unterscheidung von Repräsentation und Vikariat; (c) Wesen und Stelle als anthropologische Basisindices für Stellvertretung; (d) Erwählung und Interzession als theologische Konkretionen des Stellvertretungshandelns. (a) Die Frage ist leicht gestellt, aber durchaus nicht einfach beantwortet: Was eigentlich macht Stellvertretung nötig und möglich? Man hat es wohl mit anthropologischen Basisauskünften zu tun. Denn von kontrovers diskutierten Randlagen abgesehen – etwa denen, ob es unter Tieren Freundschaft geben könnte –, ist weithin geteilte Ansicht: Stellvertretung ist menschliche Möglichkeit und wohl auch Notwendigkeit.49 Die Notwendigkeit leicht einzusehen: »Alle Entitäten, die eine Bestimmung erreichen sollen, von der sie vorerst noch ganz entfernt sind, benötigen Stellvertretung. Etwas, was noch nicht in ihnen ist, muß in ihnen durch Unterstützung von außen entstehen. Notwendig ist es, daß sich ihnen ein Repräsentant dessen, was aus ihnen werden soll, zugesellt und sich ihnen öffnet. Sie brauchen ein Vorbild, einen Lehrer, eine Tradition, eine Idee, einen Bauplan, worin das Künftige, das erreicht werden soll, vor-scheint. Ein Platzhalter des Neuen, Höheren, das erreicht werden soll, muß in eine Art ›Bund‹ mit ihnen eintreten, wobei auch eine affektive Komponente nicht fehlen darf.« (225)
Das scheint durchaus auf Menschen zuzutreffen. Die, verglichen mit anderen Lebewesen sehr lange Reifungszeit des ›Nesthockers‹ Mensch hat gewiss auch damit zu tun, dass menschliches Leben ohne Fürsorge von Anfang an zum Verderben bestimmt ist. Hat also Arnold Gehlen recht, von dem das geflügelte und auch durchaus missverständliche Wort vom Menschen als Mängelwesen stammt, um dessentwillen Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ihre Berechtigung, ja Notwendigkeit haben? Ja und nein: Wohl sind, schreibt Gestrich mit Blick auf Gehlen, »Institutionen (…) das soziale Unterpfand der menschlichen Freiheit«, (168, i.O.herv.), doch erweitert sich das für ihn genau nicht zu einer generellen Theorie der Institution und der Traditionen, die bei Gehlen ja durchaus im Blick ist.50 Mehr noch: Gerade im Gegenzug zu Gehlens später Institutionentheorie, in der den Institutionen der Vorrang vor individuellen Interessen zukommt, lenkt Gestrich den Blick auf eben jene Interessen des Individuums. Hier aber zeigt sich dann die Diagnose unvermeidlich: Es ist nicht so, dass menschliche Entwicklung nur Ent-Wicklung in dem Sinne wäre, dass 49 Das Thema Freundschaft unter Tieren erforscht die Biologin Anja Wasilewski, vgl. Unijournal der Universität Marburg, Januar 2004, 30f. Wenn es, was dem Theologen nicht zu beurteilen ansteht, im Tierreich tatsächlich sozial-kooperatives Verhalten über die Herkommenslinien hinaus gibt, stellt sich freilich immer die Frage, ob der Terminus Freundschaft nicht doch bis zum äquivoken Gebrauch gedehnt wird. Arbeiten wie die Wasilewskis sind ein interessantes Fallbeispiel für den unumgänglichen Einsatz von Metaphern in Wissenschaftskulturen, die sich selbst gerade nicht über ihre Sprachlichkeit verstehen wollen. 50 Vgl. v. a. A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, (1956) Bonn 2004.
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zum Vorschein gebracht werden müsse, was ungenannt und ungekannt schon angelegt ist. Vielmehr sind Menschen qualitativ darauf angewiesen, dass etwas von außen auf sie zukommt, was dann ganz ihr Eigenes werden wird. Das ist eine anthropologische Prämisse von einiger Reichweite. Denn in ihr wird Stellvertretungsbedarf als Hereinbringen eines Neuen gedeutet, und nicht lediglich als Hervorrufen des Veranlagten. Der Bedarf der Nostrifikation dieses Fremden wird dabei nicht übersehen, spricht Gestrich doch davon, dass das, was noch nicht im Schutzbefohlenen ist, ›in ihm/ihr‹ entstehen soll. Freilich sind an diesem Punkt zwei Rückfragen denkbar: Zum einen, ist dies ein Stück theologischer Apologetik, das gleich zu Beginn die Angewiesenheit auf ein extra nos in der Anthropologie verankern möchte? Diese Frage ist wohl nicht von der Hand zu weisen, aber kaum eindeutig zu beantworten. Im Kontext des gegeben Zitats ist die mögliche Gott-Perspektive jedenfalls völlig abgeblendet. Bleibt also die Frage, ob menschliches zu-sich-selber-Kommen in jedem Falle nur als Entwicklung dessen, was im jungen und jüngsten Individuum angelegt ist, verstanden werden kann. Ohne die Frage nach der genetischen Prädetermination aufzurollen – in sich überdies oft genug als Fehlabstraktion verstehbar –, wird sich doch sagen lassen, dass die unabweisbare Sozialität menschlichen Lebens beinhaltet, dass auf Menschen Umstände, Ziele oder Werte zukommen, die sie im Rückblick als für sie passend, jedoch nicht aus sich selbst kommend bezeichnen. So gesehen muss der Ansatz durchaus nicht als schlichte Apologetik gelesen werden, wiewohl er der theologischen Interpretation eines extra nos gleichsam die Stelle offenhält. – Die zweite damit verknüpfte Frage ist eine innertheologische Vorentscheidung: Evangelische Ansätze tendieren regelmäßig dazu, das extra nos möglichst steil anzusetzen, während katholische tendenziell geneigt sind, etwa mit dem Schema von ἕξις und ἀρετή die gnadenhafte Vollendung des natural Angelegten zu postulieren.51 Hier, innertheologisch, zeigt sich durchaus eine deutliche Positionierung. Unproblematischer ist wohl die Annahme, dass es menschliche Möglichkeit sein muss, Stellvertretung zu gewähren und sich zukommen zu lassen. Wer das bestritte, müsste die elementaren Formen menschlichen Zusammenlebens für unmöglich halten. (b) Vikariat (181f) und Repräsentation (174–180): Hierbei geht es um zwei Grundmodi der Stellvertretung, die kaum ohne einander zu denken sein dürften, die aber doch signifikant unterschieden sind. Es geht ums Auftreten eines An51 So etwa eine der wichtigsten Stimmen in der Gegenwart, vgl. E. Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg u. a. 2007, 22014, dazu M. Hailer, Urteilen lernen durch Habitus-Erwerb? Vorüberlegungen zu einer evangelischen Tugendethik, in: Urteilen lernen II. Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs, hg. von I. Schoberth, Göttingen 2014, 69–87, 74– 78.
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deren statt meiner oder für mich. Zunächst: Ein Vikar vertritt nicht unmittelbar eine andere Person, er agiert aber statt ihrer: Er tut, was eigentlich ihr aufgetragen ist, was sie aber an einem bestimmten Ort oder zu bestimmter Zeit nicht tun kann: »Wer einen Vikar hat, ist davon dispensiert, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort erscheinen zu müssen, um dort einem – zum eigene Pflichtenkreis gehörenden – Dienst nachzukommen.«52 (218 i.O.herv.) Der Hauptzweck des Vikariats ist also die Entlastung pro tempore et loco. Vorausgesetzt ist, dass Person und Funktion auch tatsächlich getrennt werden können. Damit ist ein – von Gestrich nicht thematisiertes – kritisches Momentum gegeben: Meine ich, für eine Tätigkeit im Sinne des Vikariats entlastet werden zu können und also einen Vikar statt meiner schicken zu dürfen, so muss das beim Empfänger(-kreis) der vikariatsmäßigen Handlung durchaus nicht so gesehen werden. Die mehr oder weniger deutlich geäußerte Enttäuschung, dass jetzt nicht x sondern ›nur‹ y zwecks Handlung z erschienen sei, dürfte ja allgemein bekannt sein. Das Modell Vikariat dient in diesem Sinn auch als discrimen zu Unterscheidung von Person und Werk. Die mühsamen altkirchlichen Errungenschaften in Sachen der Unterscheidung von Person des Priesters und ihrem Vollzug – mitsamt ihrer immer wieder und nicht nur in den Heiligkeitsbewegungen des hohen Mittelalters auftauchenden Bestreitungen – sprechen durchaus für sich. Der Vikar also vollzieht Stellvertretung statt meiner. Anders der Repräsentant: »Mittels eines Repräsentanten verschafft sich eine Macht eine ›weitere Gegenwart‹ an einem anderen Ort oder in einer anderen Zeit, wo sie selbst unmittelbar nicht ist.« (219, i.O.herv.) In der Repräsentation wird jemand, eine Macht oder eine Instanz, vergegenwärtigt, der oder die derzeit/an diesem Ort nicht anwesend sein kann. Genau um die Präsenz dieser Person/Macht/Instanz aber geht es, und nicht um einen von ihr ablösbaren Vollzug. Die Figur der Repräsentanz ist also elementare Ausdehnung von Gegenwart und Einfluss. Das antike und vormoderne Herrscherbild stand für die Gegenwart des Herrschers – und dieser wie52 Die etablierte evangelisch-kirchliche Sprachregelung bildet diese Logik nicht ab: Vikare und Vikarinnen sind genau nicht Dienstvertreter ihrer Ausbildungspfarrer – allenfalls gibt es diese Rollenzuweisung in manchen Landeskirchen nach erfolgreichem Abschluss des zweiten Examens für einige Monate, aber das ist schwerlich Kern des Vikariats –, sie sind vielmehr, wenn man so will, Vikare ihrer selbst: Was sie noch nicht können müssen, lernen sie im geschützten Praxisfeld von Ausbildungsgemeinde und Predigerseminar. Dieser Zukunftsaspekt blendet die im Gestrich’schen Modell hier und jetzt stattfindende Entlastungsfunktion jedoch ab. Anders ist es in der Evang.-Luth. Kirche Norwegens: Dort können Studentinnen und Studenten der Theologie bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen für einige (Sommer-)Wochen im Jahr prestevikar werden: Sie wohnen im Pfarrhaus, übernehmen gottesdienstliche und seelsorgerliche Vollzüge und entlasten den Gemeindegeistlichen (prest) um diese Dienstvollzüge, so dass diese studieren oder sich erholen können. Die primär entlastende Funktion des Konzepts Vikariat in Gestrichs Sinne wird hier deutlich.
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derum verkörperte den Staat: Das berüchtigte l’état c’est moi ist insofern keine Erfindung des Absolutismus, so gewiss er die Verschmelzung von Repräsentant und zu Repräsentierendem auf die fragwürdige Spitze getrieben hat. Um den Unterschied zum Vikariat scharf zu stellen: »Mein Vikar erspart mir die Anwesenheit an einem Ort der Pflicht. Mein Repräsentant aber läßt mich einen weiteren Ort, eine weitere Anwesenheit gewinnen. Der Vikar tut etwas statt eines anderen, der Repräsentant für einen anderen.« (219) Nicht zuletzt in Gestrichs Darstellung selbst gerät das Vikariat gegenüber der Repräsentanz in die geringere Rolle: Stellvertretend eine vom Subjekt verlustfrei abzutrennende Handlung zu vollziehen, ist irgendwie weniger als dieses Subjekt stellvertretend zu sein. Das entspricht wohl alltäglichem Empfinden, wird der Sache der Stellvertretung aber nicht gerecht, schon deshalb, weil beide Grundvollzüge der Stellvertretung oft genug ineinander liegen: Eine gute Lehrerin etwa repräsentiert die Selbste ihrer Schüler/ innen, weil sie deren zukünftige Fähigkeiten und Kenntnisse als Integral ihrer Persönlichkeiten antizipiert. Diese Repräsentanzvorgänge kann sie aber gar nicht anders in Werk setzen, als vikariatsmäßig etwa Rechenvorgänge an der Tafel vorzunehmen, wozu ihre Schutzbefohlenen noch nicht in der Lage sind. Es bleibt freilich, dass Vikariat ohne jede Repräsentanz die niederschwelligere Form der Stellvertretung wäre. Warum das so ist, lehrt der Blick auf die nächste begriffliche Distinktion.
(c) Wesen und Stelle: »Wir nennen das einzelne Seiende ein Wesen.« (233) Der Begriff klingt allerdings ontologisch pompöser als er hier gemeint ist. Gedacht ist nicht an den ›Kern der Sache‹ oder gar ein ewiges Wesen im Unterschied zur bloßen Existenz. Vielmehr: »Wesen wird hier verstanden als ein temporär existierendes Seiendes mit eigener Durchformtheit: als ein Individuum.« (ebd.) Wesen, so verstanden, sind veränderlich und vergänglich. Vieles mag die naturale Anlage für sie vorgeben, doch sind sie aber Ort der Freiheit. Insofern verdanken Wesen sich selbst als freiheitlichem Aktvollzieher. Freilich sind Wesen nie allein, sondern mit und durch andere Wesen das, was sie sind.53 Vom (aktuellen Einzel-)Wesen zu unterscheiden ist nun die Stelle: Wesen existieren nicht monadisch für sich, sondern unter Konstellationen, die es ermöglichen. »Die Stelle (eines Wesens), die bei allen Akten des Vertretens eine zentrale Rolle spielt, ist also definiert als dargereichtes Leben oder als verliehene Lebensgrundlage. Ein Wesen existiert, wenn es außer seiner individuellen Besonderheit (…) auch eine Stelle oder einen Ort im Naturzusammenhang des Lebens hat, wobei die Stelle oder der Ort von anderen Wesen gebildet wird.« (234,
53 Gestrich nennt Alfred N. Whiteheads Begriff des ›aktuellen Wesens‹ als Stichwortgeber, vgl. A.N. Whitehead, Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt/M. 1987, 57–61, wobei Whitehead der Identitfikation von Einzelwesen und menschlichem Individuum allerdings widersprochen hätte: Individuen können Einzelwesen sein, letztere aber gehen weit darüber hinaus, da sie »komplexe und ineinandergreifende Erfahrungströpfchen« sind. (58)
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vgl. 188f) Stellen also werden von Wesen gebildet, wobei Wesen ihrerseits darauf angewiesen sind, Stellen vorzufinden, ›auf‹ denen sie existieren können. Diese Bestimmungen klingen zunächst nach einer sozusagen gefahrlosen Reziprozität, die allgemein akzeptabel ist, sofern man nur geneigt ist, die Wirklichkeit nicht als aus Monaden aufgebaut anzuerkennen. Freilich: Stelle und Wesen können miteinander in Konflikt geraten: So können Wesen etwa auf einer Stelle beharren, auf die sie nicht oder nicht mehr gehören oder aber Stellen bleiben gleichsam verwaist, weil sich das ihr zugehörige Wesen zu lang oder zu weit von ihr entfernt hat. In beiden Fällen entsteht Stellvertretungsbedarf, wenn auch unterschiedlicher Art. Es kann beispielsweise der Eindruck entstehen, als sei ein Wesen an einer Stelle, an die es nicht oder nicht mehr gehört. Stellvertretung hieße dann, das Wesen an einer anderen Stelle zu vertreten. Der Repräsentant »besorgt die Belange eines bestimmten Wesens an einer anderen Stelle.« (236) Das ist beispielsweise immer dann der Fall, wenn der Repräsentant Anlass hat, den, dessen Stelle er vertritt, für ›weiter‹ und ›reifer‹ zu halten, als es der Selbstbeobachtung des Vertretenen möglich ist. Repräsentation an einer anderen Stelle ist also stellvertretende Wahrnehmung-als, die dem Wahrgenommenen nicht möglich ist oder die er vielleicht für sich ablehnt. Erziehungsprozesse dürften sehr häufig in diesem Sinn verstanden werden können, desgleichen Lehr-Lernsituationen, sofern sie über die Beschreibung von Inhalten allein hinausgehen.54 Umgekehrt müssen auch leergelassene Stellen vertreten werden. Das ist dann regelmäßig die stellvertretende Aufgabe des Vikariats: Ist eine Stelle verwaist, geht es um brachliegende Handlungsvollzüge. Auszumitteln ist dann, wer des Vikariats fähig ist und also angemessen den die Stelle ausmachenden Handlungsvollzug übernehmen kann. Charme und Schwierigkeit der begrifflichen Unterscheidung von Wesen und Stelle liegen nicht zuerst darin, dass sie in ihrer wechselseitigen Bezogenheit Stellvertretung nötig und möglich machen. Heikel sind sie vielmehr darin, dass Akte der Stellvertretung ein Mehrwissen über den oder die Vertretene/n impliziert: Wer sagt, dass ein Wesen sich nicht an der ihm zukommenden Stelle befindet und also Akte organisiert, damit es sich dorthin bewegen kann, muss eo ipso behaupten, mehr über dies Wesen und über das, was ihm guttut, zu wissen, als dieses selbst. Das gilt auch im umgekehrten Fall für die Vertretung einer Stelle, da ja auch hier jemand wissen muss, wer für die Akte des Vikariats in Frage kommt – und wer nicht. Das ist die basale Zumutung der Stellvertretung: Es ist nicht so, dass ein Wesen in souveräner Selbsthabe über sich und die ihm zu54 Das beansprucht die sich in der Pädagogik einbürgernde Rede von den Kompetenzen, mit denen eine falsche Konzentration auf Inhalte allein aufgehoben werden soll. Freilich ist auch das vergleichsweise abstrakt, weil Kompetenzen erst als Integral einer Persönlichkeit tatsächlich verstehbar sind.
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kommende(n) Stelle(n) Bescheid wüsste. Vielmehr gibt es eine oder mehrere Außenperspektiven, denen hier privilegierte Kenntnis zukommt und die entsprechendes stellvertrendes Handeln evozieren, ja fordern. Ich vermute, dass in dieser Entthronung des Subjekts (Wesens) nicht wenig vom Ingrimm begründet ist, der der Stellvertretungsthematik – auch von theologischer Seite – entgegenschlägt, impliziert sie doch die Behauptung, andere wüssten mit guten Gründen von der Fragmentarizität und Vorläufigkeit des eigenen Wesen/Stelle-Zusammenhangs und seien überdies in der Lage, in angemessener Weise dazwischenzutreten. – Auf die Behauptung, dass es sich so verhalte, kommt die kleine Ontologie von Wesen und Stelle heraus. Den Beleg kann freilich erst eine materiale Durchführung antreten. (d) Neben einigen Andeutungen, welche Formen von Stellvertretung es im allgemeinen geben könnte, (187f) konzentriert Christof Gestrich sich in seinem Buch auf die Behauptung, biblisch-theologisch von Gott zu reden hieße, davon zu reden, dass Gott an des Menschen Stelle trete – ihm zugute. Hier lassen sich vor allem zwei Basismetaphern ausmachen: Erwählung und das Eintreten Gottes für Menschen in Christus. Gestrichs erste Umschreibung für Erwählung ist der ›Ruf‹. Im Stile einer biblisch induzierten Homilie heißt es: Göttliche Rede hat nicht immer, aber zumeist die Form des Rufs. Rufen aber ist »Sprache am Rande der Kommunikation« (257). Eben nicht Teil wohlgeordneter Konversation, vielmehr aufstörend und neue Tatsachen schaffend. In der Ruf-Form liegt »schöpferisches Wollen und energisches Gebieten« (258). Gottes Ruf bedrängt und individuiert, er richtet und erneuert, er ist zugleich der Vollzug der Prädestination, und er stellt die so Gerufenen an ihren richtigen Platz. (260f) Das ist eine erste vorläufige Bestimmung: Gottes Ruf eröffnet Stellen für Wesen und stellt diese Wesen an die ihnen zugedachte Stelle. Zuallererst die alttestamentlichen Erwählungstraditionen sind in diesem Sinne lesbar, etwa die Erwählung Abrahams, die mit guten Gründen als Herausrufen aus der gewöhnlichen Ordnung und damit als Schaffung einer zuvor inexistenten Stelle verstehbar ist. Dem folgt unmittelbar eine weitere Bestimmung: Der Ruf auf die Stelle ist Vollzug der Prädestination. Die Geschichte des Lehrstücks brachte nun freilich eine unheilvolle Verkürzung mit sich, als sei damit – ›x ist erwählt‹ – schon alles gesagt und gleichsam sein Seelenheil soweit gesichert. Das aber übersieht, dass x an eine Stelle berufen ist und somit in Vollzüge der Stellvertretung für andere einbezogen wird. Die ›Prädestinierten‹ sind es nicht als sie selbst, »sondern sogar in erster Linie um derjenigen willen, die von ihnen vertreten werden.« (264) Ruf/ Erwählung/Prädestination ist also wesentlich zu verstehen als Hineingerücktwerden in ein Netz von Stellvertretungen, weil der/die Gerufene ihrer- und seinerseits umwillen anderer da ist, wo sie, wo er ist. Das ist wohl deutlich genug für die Abrahamperikopen, gewiss auch für die prophetischen Berufungserzählun-
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gen – und dürfte für die Existenz des berufenen Volkes Israel insgesamt gelten: Schief ging (und geht) es doch immer dann, wenn es seine berufene Existenz als Besitz missverstand und also den stellvertretenden Charakter seiner Berufung vergaß. Dass Identisches von der Kirche gilt, versteht sich von selbst.55 Das Leben der Auserwählten funktioniert eben nicht für sich, sondern »formt sich zu einem geschichtlichen claim, der alle Menschen in den Bund mit Gott ruft.«56 (287) Die Unterschiede zur Konzeption von Stellvertretung bei Emmanuel Levinas sind nur zu offensichtlich und beginnen schon dabei, dass Gestrich die dem Handeln vorgelagerten Aspekte nicht in den Blick rückt, die bei Levinas alle Aufmerksamkeit beanspruchen. Freilich darf eine wichtige Gemeinsamkeit nicht übersehen werden. Auch bei Gestrich steht Stellvertretung gegen das Gewohnte, Übliche, Benennbare an: Berufung/ Erwählung geschieht ja genau aus dem Set der Üblichkeiten heraus und stellt ins Neue und durchaus Unbekannte der göttlichen Verheißungsgeschichte. Folgerichtig bildet Gestrich das auch in der Gotteslehre ab: Gott wird »nicht als Erst-Ursache aller entstehenden Wirklichkeit gesehen, zu der dann geschöpfliche Aktivitäten als Zweit-Ursache hinzukämen. Gott ist nicht als der ›eigentliche Drahtzieher‹ im verborgenen Hintergrund aller Ereignisse im Blick. Sondern der Gott der Vorsehung ist im Blick aus der Bürge des Menschlichen in seiner geschöpflichen Einmaligkeit und seinem unendlichen Wert. Gott ist im Blick als Ermöglicher und Retter dieses Einmaligen und stets Bedrohten, das der Geschichte der Schöpfung teils besondere Beschwernisse, teils besonderes Licht zubringt.« (299) Diese Parallele zum bis zur Feindseligkeit gesteigerten Anti-Aristotelismus bei Levinas kann kein Zufall sein. Ganz offensichtlich ist eine Theologie der Stellvertretung in-
55 Zur stellvertretenden Existenz Israels und der Kirche, die aus ihrem Erwähltsein hervorgehen vgl., von verschiedenen Voraussetzungen her kommend, auch D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 2 1988, 165–167.169–171 u. ö., sowie F.-W. Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik, München 21992, 263–373. Bei Ritschl ist das Schlüsselwort »vikariatsmäßige Existenz« (wobei der Begriff in einem allgemeinen, nicht spezifisch Gestrich’schen Sinn gebraucht wird), dasselbe meint bei Marquardt die Rede vom »Ortswechsel« (263), in dessen Rahmen die vorher gefügten Selbstverständlichkeiten neu aufgestellt werden und eine Reise ins Offene der Zukunft Gottes beginnt, die eben mehr als nur den Berufenen einschließt. 56 Diesem Ruf an die Stelle der Erwählung = Stellvertretung entspricht für Gestrich dann die Idee einer ›vokativen Theologie‹, »die prophetische, wissenschaftliche und liturgische Gestalt miteinander verbindet und so Gottes aktuelles Rufen expliziert.« (329) Er sieht sie oberhalb sowohl einer rein religionstheoretischen als auch einer offenbarungspositivistischen Theologie. Beide mögen durchaus Zutreffendes sagen – dass der Mensch eine wahrheitsfähige religiöse Natur habe und dass alles heilsrelevante Wissen in der Bibel vorhanden ist –, ohne sich dem auszusetzen, dass Gottes Ruf sich im Hl. Geist jetzt vergegenwärtigt, ist das eine freilich so unbefriedigend wie das andere, vgl. 338 und insgesamt die Skizze 328–343. – Ob es eines neuen Programms und Schlagworts bedarf, würde ich kritisch wägen. Dass Theologie aber das jetzt Anstehende zu sichten hat und dabei weder beim homo religiosus noch bei einer Sichtung biblischer ›Bestände‹ stehenbleiben kann, mahnt Christof Gestrich völlig zu Recht an.
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kompatibel mit einer Gotteslehre und Schöpfungstheologie, die Gott aristotelisch als sich selbst durchsichtige Ursache aller Ursachen denkt. Der Modus-Unterschied zwischen der Beziehung zu Sachen und der Beziehung zwischen Personen ist Entdeckungsund Realgrund von Stellvertretung. So weit wie aristotelisch induziertes Denken dem Vorwurf der Verdinglichung nicht entkommt, scheint es für diese Aspekte tatsächlich eigentümlich blind zu sein. In diese Richtung geht auch die Kritik von Theo Kobusch. Seine Auffassung der aristotelischen Metaphysik lautet zusammengefasst: » (…) wird die Metaphysik als eine Art des theoretischen Wissens verstanden, welches die durch Analyse ermittelten metaphysischen Bestimmungen der Dinge als Inhalte des reinen Geistes zum Gegenstand hat.«57 Wo theoretisches Wissen das letzte zu Sagende ist, bliebe für das Gewahrwerden der Präsenz des Anderen (Levinas) bzw. für das Gerufenwerden in die Stellvertretung (Gestrich) in der Tat kein Platz.
Fehlt noch ein Blick auf Gestrichs christologisches Konzept. Hier ist namhaft zu machen, dass es nicht nur Menschen ermöglicht wird, füreinander in zuvor ungeahnter Weise einzutreten, sondern dass »der Gedanke eines göttlichen Stellvertretens zugunsten der Menschen da« ist. (183) Wie, so lautet die Aufgabe, kommen göttliche und menschliche Stellvertretung zueinander, ohne doch ihre Verschiedenheit zu verlieren? Auf einige Details von Gestrichs Darlegungen, insbesondere in Auseinandersetzung mit exegetischen Ergebnissen, ist im folgenden Unterkapitel noch einzugehen. Den Vollzug der Stellvertretung durch Christus umschreibt Gestrich, indem er von der Ontologie von Wesen (Person) und Stelle Gebrauch macht und Christi Werk zugleich als mehrfache Repräsentation auslegt. Das Kernargument hat m. E. vier Schritte (367–371). (α) Hamartiologischer Aspekt: Obwohl Menschen eigentlich dazu gerufen sind, sich ohne Selbstverlust für andere zur Stelle zu machen, usurpieren sie die Stellen anderer zu eigenen Zwecken, sprechen ihnen das Eigene ab und machen sie zu bloßen Bausteinen des eigenen Selbstkonzepts.58 (β) Repräsentation I: Im gekreuzigten Christus sehen wir, wie es wirklich um uns steht, weil er augenfällig macht, wie es herausgeht, wenn andere eines Menschen Stelle für ihr eigenes Selbstkonzept missbrauchen.
57 Th. Kobusch, Metaphysik als Einswerdung. Zu Plotins Begründung einer neuen Metaphysik, in: Transzendenz. Zu einem Grundwort der klassischen Metaphysik, hg. von L. Honnefelder und W. Schüssler, Paderborn 1992, 93–114, 98. 58 Das ist zugleich eine der Kernaussagen aus Gestrichs zuvor vorgelegter Monographie: »Sündigen bedeutet im Kern, niemanden und nichts würdigen zu können. Sünde ist die Unfähigkeit, Mitgeschöpfe so anzunehmen, wie sie von sich aus kraft ihrer geschöpflichen Würde da sind. Auch sich selbst vermag der Sünder nicht in dieser Weise zu würdigen.« »Sünde ist die Nicht-Freude am Sein.« C. Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in die Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen 21996, 232 bzw. 234; zur systematischen Entfaltung vgl. v. a. 160ff.196ff.
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(γ) Repräsentation II: Zugleich aber ist der Gekreuzigte Offenbarung des lebendigen Gottes. Wer dessen innewird, merkt zugleich, welchen falschen Göttern = Stellenusurpationen er bislang hinterherlief. Die Erkenntnis Gottes in Christus ist also nicht ›neutral‹, sondern identisch mit dem Sturz falscher Gottesbilder. (δ) Vikariatsdienst: Christus übernimmt die Stelle, an der wir eigentlich wären. Stelle und Person werden also genau nicht identifiziert und Gott ist zum Platzhalter des Menschlichen geworden.
Im Effekt sind Menschen frei von den desaströsen Okkupationen (α) und können zu stellvertretenden Geschöpfen unter Geschöpfen werden. Gestrich legt Wert darauf, dass das stellvertretende Handeln Christi zwar Gottes souveränes Werk ist, dass es jedoch Menschen hereinholt, einbezieht und verändert. Es ist, landläufiger Entstellungen entgegen, nicht so, dass Schuld und Verstrickung von einem deus ex machina »weggezaubert« würden. (370) Heinrich Heines Satz, den er auf dem Sterbebett zu seiner Frau gesagt haben soll: »N’en doute pas, ma chère, il me pardonnera; c’est son métier!«, trifft den Punkt also genau nicht.59 Der Vorgang am Kreuz entlässt exakt nicht in die Beliebigkeit: »Spüren Menschen, daß Jesus sich als Christus mit ihnen in ihrer Verkehrtheit und Verlorenheit identifiziert, so unterbricht dies ihren Drang oder ihre Bereitschaft, selber ›Gott zu spielen‹ oder andere Geschöpfe ›Gott spielen zu lassen‹ und somit hoffnungslos überfordernde Stellvertretungen oder Substitutionen in die Lebensbeziehungen hineinzuzwingen, wodurch im Ergebnis Geschöpfe viktimisiert werden. Das hat eine heilende, zurechtbringende, aber auch eine radikal infragestellende Auswirkung auf sie selbst (…) und das hat auch eine gute Auswirkung auf die Mit-Welt.« (420) Und noch deutlicher: »Sündenvergebung ist kein Wegwaschen der Schuld, sondern ein Wechsel der Stelle in der Kraft des Glaubens. Nicht, daß der Mensch, der 59 Nicht entschieden ist damit über die Frage, wie Heine in seinen letzten Lebensjahren insgesamt mit dem Thema Religion und Gott umging. Er hatte seine evangelisch-lutherische Taufe immer als reinen Opportunismus verstanden und bekanntlich kaum Gelegenheiten ausgelassen, über religiöse Amtsträger und Volksreligiosität gleichermaßen zu spotten. Gleichwohl ist an prominenter Stelle zu lesen: »Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bei den Hegelianern die Schweine gehütet. War es die Misère, die mich zurücktrieb? Vielleicht ein minder miserabler Grund. Das himmlische Heimweh überfiel mich und trieb mich fort durch Wälder und Schluchten, über die schwindlichsten Bergpfade der Dialektik. Auf meinem Wege fand ich den Gott der Pantheisten, aber ich konnte ihn nicht gebrauchen. Dies arme träumerische Wesen ist mit der Welt verwebt und verwachsen, gleichsam in ihr eingekerkert, und gähnt dich an, willenlos und ohnmächtig. Um einen Willen zu haben, muß man eine Person sein, und, um ihn zu manifestieren, muß man die Ellbogen frei haben. Wenn man nun einen Gott begehrt, der zu helfen vermag – und das ist doch die Hauptsache – so muß man auch seine Persönlichkeit, seine Außerweltlichkeit und seine heiligen Attribute, die Allgüte, die Allweisheit, die Allgerechtigkeit usw. annehmen.« H. Heine, Romanzero, hg. von B. Kortländer, Stuttgart 1997 (zuerst Hamburg 1851), 200 (aus dem Nachwort).
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Falsches tut, hinterher gar keine Folgen davon hat, macht ihn frei, sondern nur dies, daß er nicht mehr in sein wrong desire und in dessen viktimisierende Folgen verstrickt sein muß!« (436) So weit im Gestus des Berichts. Bleibt auch hier, wesentliche Erträge der Lektüre und weiterführende Fragen kurz zu summieren: 1. Anders als Gestrich es selbst in gelegentlichen Bemerkungen nahelegt, schließt seine Konzeption recht gut an die Erwägungen von Emmanuel Levinas an: Wäre die Präsenz des Anderen nicht je schon Möglichkeit, wäre das Unterfangen, stellvertretend für andere tätig zu sein – und darauf liegt das ganze Gewicht in ›Christentum und Stellvertretung‹ – hinfällig. Die mitunter irritierende Terminologie bei Levinas – Gestrich rekurriert etwa auf das Selbst als »Geisel« (367f) – ist eben vor allem Irritation, nicht aber schon Konzept, wie schon der Blick darauf zeigt, dass nach Levinas allererst die Anwesenheit des Anderen beim Sich Freiheit ermöglicht. 2. Wer, im Gegensatz zu Levinas, nicht nur die Möglichkeitsbedingungen von Stellvertretung aufzeigen, sondern stellvertretende Handlungsvollzüge beschreiben will, benötigt dafür Kategorien. Die beiden Begriffspaare Vikar/ Repräsentant und Wesen/Stelle erwecken den Eindruck erklärungskräftiger Anschauungen. Die Fülle stellvertretender Handlungsvollzüge kann zumindest in erster Näherung nach ›handeln für‹ und ›handeln anstelle‹ gegliedert werden, auch ist es sinnvoll, das Entwicklungspotential dessen, für den stellvertretend gehandelt wird, mit der Ontologie von Wesen und Stelle zu umschreiben. Sie ist weit genug gefasst, um nicht auf spezifische ontological commitments festzulegen, auch ist nicht gesetzt, dass es sich um das einzig mögliche Kategorienpaar handelt. 3. Ist die Stellvertretung Christi nur ein, wenngleich herausragendes, Exemplar der Gattung Stellvertretung? Bei der Entfaltung des hier nur knapp skizzierten christologischen Verständnisses von Stellvertretung bleibt zu fragen, ob es hinreicht, die allgemein festgestellte Struktur von Stellvertretung auf Gottes Präsenz in Christus zu übertragen oder ob die Singularität, die die Theologie für das Christusereignis behauptet, sich nicht auch in einer singulären Form der Stellvertretung zeigen müsste. Gestrich gelangt tatsächlich von der Gattung zum Exemplar und betont die Singularität dadurch, dass göttliche und menschliche Stellvertretung nicht verwechselt werden dürften. Weitere Erwägungen zur Christologie müssen zeigen, ob das genügt. 4. Deutlich ist der Schluss, dass sowohl im Ergehen des Rufs als auch in der Sündenvergebung als Implikation des Kreuzesereignisses nicht eine Soteriologie des konsequenzlosen ›Wegwischens‹ der Sünde gemeint ist. Zu Recht besteht Gestrich auf einer effektiven Rechtfertigungslehre, die sich inhaltlich ausweist und die zu oft als pure Stillstellung gebrauchte Formel vom simul
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iustus et peccator kritisch beleuchtet oder gar bestreitet. Welche Kategorien und/oder Metaphern aber sind dafür geeignet?
Das »Opfer der Kirche als ›Mit-Stellvertretung‹ mit und in Christus«60 – K.-H. Menke Der hier geschuldete Bericht endet mit Bemerkungen zur nicht minder einschlägigen Monographie von Karl-Heinz Menke. In ›Stellvertretung‹ bietet er ein beeindruckend großes theologie- und philosophiegeschichtliches Panorama zum Begriff. Die Darlegung läuft dabei auf ein pointiertes Konzept der inklusiven Stellvertretung heraus, was sie hier besonders interessant macht: Inklusive Stellvertretung heißt, dass Gottes Handeln für den Menschen wohl Gottes eigenes Handeln ist, aber nicht statt menschlichem Handeln geschieht, sondern dieses einschließt und mitnimmt. Christof Gestrichs Bestehen darauf, dass Gottes Heilshandeln die Sünde nicht konsequenzlos entfernt, sondern den, um dessentwillen es geschieht, hereinnimmt und verändert, steht hier im Zentrum der Erwägungen. Dies und eine nicht zu übersehende kontroverstheologische Positionierung lassen eine weitere Profilierung des Konzepts Stellvertretung erwarten. Folgende Argumentationsschritte sind dafür von Belang: (a) Die Struktur von Stellvertretung überhaupt; (b) die Stellvertretung durch Christus; (c) Einheit und Unterschiedenheit von göttlichem und menschlichem Handeln in der Stellvertretung; (d) kontroverstheologische und philosophische Positionierung. (a) Zunächst muss zwischen uneigentlicher und eigentlicher Stellvertretung unterschieden werden. In beiden Fällen geht es um die Beziehung zwischen zwei Personen, wobei die eine anstelle der anderen handelt. Uneigentliche Stellvertretung ist eine »äußerliche, fiktive oder rein juristische Vermittlung«. (161) Das gilt für Arbeitsteilung und bloßen Austausch. Sie ist in ihrer Wichtigkeit nicht zu unterschätzen! Erst die arbeitsteilige Gesellschaft macht es möglich, dass Individuen sich den Aufgaben zuwenden können, für die sie Begabung und Neigung haben. Erst die Geldwirtschaft macht mit dem Tausch von allen Waren in Geld und von Geld in alle Waren eine enorme Flexibilisierung des Güterkreislaufs möglich und erst die Vertretung von Worten/Wortteilen durch Schriftzeichen sichert die gar nicht überschätzbaren Vorteile einer Schrift- gegenüber einer rein oralen Kultur. Freilich sind in allen diesen Beispielen – Arbeitsteilung, Geld, Schrift – die jeweils am Vorgang der Stellvertretung beteiligten Aktoren auch unabhängig vom anderen denkbar: Der Bäcker erleichtert durch seine schwere Arbeit in den Nacht- und Morgenstunden dem Lehrer, der sein Kunde ist, 60 K.-H. Menke, Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, Freiburg 1991, 438. Nachweise aus diesem Band im Folgenden im Text.
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durchaus dessen Selbstsein und die Ausübung seines Berufes. Er macht den Lehrer aber nicht zu dem, was er ist. Ähnlich steht – mindestens seit Erfindung des Papiergelds und noch mehr im bargeldlosen Zahlungsverkehr – eine Summe Geldes für einen bestimmten Sachwert. Dass sie aber mit ihm genau nicht identisch ist, ist klarer noch als bei der rein äußerlichen Beziehung zwischen Bäcker und Lehrer. Um von eigentlicher Stellvertretung sprechen zu können, muss ein davon unterscheidbares Verhältnis zwischen den Relaten gesehen werden. Menke bestimmt es als »direkte Proportionalität von Einheit und Verschiedenheit zwischen einer vertretenden und einer vertretenen Wirklichkeit«. (20) Die Relation ›Einheit der beiden Wirklichkeiten› und die Relation ›Verschiedenheit der beiden Wirklichkeiten‹ stehen also im Verhältnis direkter Proportionalität zueinander. Hier sind, so meine ich, ganz offenbar die Distinktionen der klassischen Analogielehre aufgerufen. In ihrer Terminologie weitergedacht, heißt das folgendes: Mit dem ›Verhältnis direkter Proportionalität‹ bestimmt Menke die eigentliche Stellvertretung als analogia proportionalitatis, also als zwei zueinander ähnliche Verhältnisse. Eigentliche Stellvertretung findet also dort statt, wo die Identität zweier Wesenheiten und die Differenz dieser beiden Wesenheiten zueinander ähnlich sind. Das Adjektiv ›direkte‹ Proportionalität lässt Menke als solches unerläutert, es dürfte aber auf die traditionelle Differenz zwischen analogia proportionalitatis intrinsecae und extrinsecae verweisen und die Entscheidung für die intrinsische Proportionalitätenanalogie meinen.61 Zu präzisieren ist die Definition der eigentlichen Stellvertretung nach Menke demnach so: Eigentliche Stellvertretung findet statt, wo die Identität zweier Wesenheiten und die Differenz dieser beiden Wesenheiten zueinander ähnlich sind und diese Ähnlichkeit nicht nur eine äußerliche Feststellung ist, sondern im Wesen der beiden Relationen begründet ist. Diese formale Festlegung verlangt nach Konkretionen. Menke schlägt drei Näherungen vor: Einmal kann eine Korporativperson stellvertretend für eine Gemeinschaft stehen (Modell persona corporativa), zweitens können Vergangenheit und Zukunft durch Tradition stellvertretend vermittelt werden (Modell traditio) und drittens kann die direkte Proportionalität von Urbild und Abbild durch das Modell repraesentatio zur Darstellung gebracht werden. (23f) Ein Verstehensversuch anhand der ersten Näherung: Eine Person, die als Person ein Gemeinwesen vertritt, ist mit dem Gemeinwesen nicht identisch, wohl aber vertritt es diese Gemeinschaft. Im Sinne einer analogia proportionalitatis intrinsecae gilt dann:
61 Es gibt gute Gründe, die Unterscheidung von extrinsischer und intrinsischer Proportionalitätenanalogie zu bestreiten, v. a. weil sich letztlich nicht sagen lässt, ob eine Ähnlichkeitsbeziehung aufgrund einer Wesenseigenschaft oder aufgrund einer Wirkung zugeschrieben wird, vgl. J. Track, Art. Analogie, TRE 2, 625–650, 628f. Die Unterscheidung wird hier beibehalten, weil sie offenkundig für Menkes Selbstpositionierung von Belang ist.
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Verhältnis 1 (Unterschiedenheit Korporativperson-Gemeinwesen) und Verhältnis 2 (Identität Korporativperson-Gemeinschaft) sind zueinander ähnlich, und zwar aus starken, inneren Gründen. Dass numerisch eine Person eben numerisch eine Person ist, wird kaum bestreitbar sein, so dass die Differenz der beiden Verhältnisse auf der Hand liegt. Was aber begründet ihre Ähnlichkeit? Das, was das Verhältnis 2 ausmacht, muss irgendwie für das Verhältnis 1 auch aussagbar sein. Das ist m. E. unter den Bedingungen einer royalen Herrschaftsform denkbar. In ihr ist die Selbstvorstellung eines Individuums mit einem Satz wie »Ich bin Württemberg« erlaubt und zugleich die Denkvoraussetzungen der intrinsischen Proportionalitätenanalogie erfüllt: Der König ist auf der einen Seite, als Individuum, nicht das Land, für das er steht (Verhältnis 1), auf der anderen Seite, als König, ist er es doch (Verhältnis 2). Weil das Königsein aber zu seinem Wesen gehört – geburtlich oder durch Gottesgnadentum zugeeignet – ist eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Verhältnissen doch gegeben. Wenn er als König etwas tut, so tut er, was er ist. Das Beispiel zeigt die ontologischen Voraussetzung des Analogiemodells: Zwischen den Analogaten muss eine Wesensverwandtschaft bestehen.
(b) Im Rahmen dieser analogietheoretischen und ontologischen Voraussetzungen ist nun zu fragen, worin das stellvertretende Handeln Christi besteht. Das wird mit Blick auf das abgewiesene Gegenteil deutlich: Karl-Heinz Menke reitet eine Reihe scharfer Attacken gegen Positionen, bei denen Christi Werk das Sein/ Tun der von ihm Vertretenen ersetzt. Das geht etwa gegen die Rede vom Tode Christi als Loskauf vom Teufel, besonders aber an die nominalistisch gewendete Idee der satisfactio vicaria aus anselmischer Herkunft: Wird sie so gedacht, dass der, den Christus im stellvertretenden Genugtun vertritt, in diesem Vorgang gar nicht mehr vorkommt, so ist sie sinnlos geworden: Wenn »das erlösende Wirken unabhängig von Menschen gedacht wird, wenn (…) der vom Stellvertreter Christus vertretene Sünder nicht selbst konstitutiv für den Vorgang der Stellvertretung ist, dann gerät Stellvertretung zu einer ›Substitution‹, zu einer Ersatzhandlung«. (73) Das aber ist gleichbedeutend mit uneigentlicher Stellvertretung, weil es ja egal wäre, für wen diese Ersatzhandlung durchgeführt wird. Das also kann bei Strafe eines eklatanten Selbstwiderspruchs nicht gemeint sein. Vielmehr, und hier zieht Menke exegetische und theologiegeschichtliche Ergebnisse zusammen: Das stellvertretende Handeln Gottes zielt auf die »›Wieder-gut-machung‹ des Sünders selbst: nämlich die ihm gewährte Möglichkeit, an die ›Stelle‹ des Heils (Gemeinschaft mit Jahwe und seinem Volk) zurückzukehren.« (50) Das gilt auch neutestamentlich: »Christus tritt so ›an die Stelle‹ der Sünder, daß er sie nicht in sich ›aufhebt‹, sondern zum ›Selbst‹-Werden befähigt.« (ebd.) Diesen Umstand sieht Menke in der altkirchlichen παιδεία-Lehre: Christus ist der Lehrer der Gläubigen nicht im Sinne einer Erziehung zur Einhaltung der richtigen ethischen Normen, sondern zur Angleichung und Anähnelung an ihn als das Urbild: »Der ›Erzieher‹ Christus tritt so ›an die Stelle‹ des Sünders, daß er ihn befähigt, ihm durch sein eigenes Tun immer ähnlicher zu werden.« (66) Hier ist eine starke Nähe zum – nicht zitierten! – Athanasius von Alexandrien und
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dessen berühmtem Satz, dass Christus Mensch wurde, damit wir vergöttlicht würden, gegeben.62 Man wird sagen können, dass Menke das Motiv der θεῶσιςLehre aufgreift, es aber – darin wieder durchaus in westlicher Tradition stehend – als Interpretation des Kreuzesereignisses versteht. Damit sind die beiden wichtigsten Motive dessen, was Stellvertretung Christi nach Menke bewirkt, zusammen: Es geht einerseits darum, die durch die Sünde zerstörte Gemeinschaft der Menschen mit Gott wiederherzustellen. Dies geschieht nun, zweitens, so, dass die Möglichkeit zur Gemeinschaft mit Gott zur Möglichkeit des Menschen selbst wird. Er ist ein ›Wiederhergestellter‹ und er kann dies wissen und ein Gott wohlgefälliges Leben führen. Die steile Formulierung wird im direkt an das letzte Zitat anschließenden Satz nicht vermieden: »Der Sünder erlöst sich zwar gewissermaßen selbst; dies aber nur durch, mit und in einem Stellvertreter Christus.« (66) Christi Dazwischentreten befähigt dazu, in die Gemeinschaft zurückzukehren. Das hat eine unmittelbare Konsequenz: Wer erfährt, dass er der Stellvertretung für würdig erachtet wurde, kann gar nicht anders, als sich selbst zum Werkzeug der Stellvertretung machen zu lassen. Er/sie existiert umwillen anderer und umwillen der Sendung der Kirche. Diese stellvertretende Existenz hat es gegeben, solange es die Kirche gibt. (429f) Mit der Terminologie Hans Urs von Balthasars, den Menke ausführlich rezipiert: Das Fürsichsein wird qua Stellvertretung in ein Fürsein umgewandelt. (308) (c) Göttliches und menschliches Handeln kommen in diesem Modell nahe zueinander. Menke bestimmt das stellvertretende Handeln der Kirche als integralen Teil des göttlichen Versöhnungshandelns. Das ist von zwei Seiten aus betrachtbar. Zunächst von der menschlichen aus: Niemand kann Gottes versöhnendes Handeln annehmen, ohne sich seinerseits in Stellvertretungsvollzüge hineinnehmen zu lassen, »indem er selbst zum Schenkenden wird«. (309) Und aus der Gottperspektive gilt: »das Für-bitten, Für-leiden und Für-sterben der communio sanctorum [ist, M.H.] keine entbehrliche Beigabe zu der ›ein für allemal‹ geschehenen Stellvertretung des menschgewordenen und gekreuzigten Sohnes, sondern integrativer Bestandteil der im Heiligen Geist vermittelten Inkorporation des einzelnen Christen in den Leib Christi, die Kirche.« (ebd.) Man wird dieses Konzept ›angebahnte Miterlöserschaft‹ nennen können. Die nicht nur für evangelische Ohren anstößige Idee von der Mit- und Selbsterlösung ist nach Menke in die göttliche Tätigkeit eingelagert, ohne aber in ihr aufzugehen. Explizit christologisch heißt es, göttliche und kirchliche Stellvertreterschaft seien in unvermischter und ungetrennter Einheit zusammen. (355) So zu reden ist für Menke möglich, weil die trinitarische Gemeinschaft selbst »Urgrund und Urbild« 62 Athanasius, De Incarnatione Verbi 54, deutsch z. B. Bibliothek der Kirchenväter 31, München o. J. (1917), 152.
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aller Stellvertretung ist: (450) »(…) daß Gottes Einheit absolutes Sich-Geben (Vater) und absolutes Sich-Empfangen (Sohn) und in der unendlichen Verschiedenheit von Sich-Geben und Sich-Empfangen unendliche Einheit (Heiliger Geist) ist; daß also Gottes unendliche Einheit als unendliche Stellvertretung unendliche Verschiedenheit ist.« (ebd.) Wir haben es also mit einer ganz platonisch getönten Urbild-Abbild-Vorstellung zu tun: Weil Gott in sich selbst Stellvertretung ist, ermöglicht er die Stellvertretung durch die Kirche, die so an ihm und seinem Sein partizipiert. Was in dieser Argumentation einfach unterbleibt, ist die Frage, ob das platonische Modell zu Recht an die biblischen Befunde und die Terminologie des trinitarischen Dogmas angelegt wurde. Das Modell regiert und holt sich alle Probleme einer semipelagianischen oder glattweg pelagianischen Selbstüberschätzung wieder herein, die doch durch die unvergleichlich bedachteren gnadentheologischen Äußerungen etwa bei Thomas von Aquin oder in der thomanischen Tradition abgewiesen wurden. Menkes Position zeigt auch noch weitere Probleme. So setzt er etwa die Gültigkeit einer Theologie der Partizipation an der Trinität ungefragt voraus. Gegen sie sind freilich immer wieder Einwände vorgebracht worden, meist dergestalt, dass Ableitungsfiguren aus der Trinitätslehre nicht statthaft sind, weil sie die Geheimnishaftigkeit Gottes nicht achten und die Trinitätslehre zu Prämissen erklären, obwohl sie viel eher die letzten Konsequenzen dessen darstellt, was Menschen Gott über sein So-Sein zurufen. Eine christologisch gewonnene Ekklesiologie hätte zunächst bei der Niedrigkeit Gottes im Sohn anzusetzen. Sie ist, wenn schon Teilhabe, dann »Teilhabe an den Leiden Christi«.63 Zu einer theologia gloriae konnte man noch nie wirklich raten und es bleibt allemal die Einsicht, dass »theologus crucis dicit id quod res est.«64 (d) Das Problem zeigt sich auch an anderer Stelle: Karl-Heinz Menke diskutiert in seinem Werk einige Aspekte der wesentlich am Stellvertretungsbegriff gewonnenen Versöhnungslehre aus den Viererbänden der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths. Das ist bemerkenswert und stünde einigen hitzigen Debatten über Stellvertretung auf evangelischer Seite gut an. Nach dem bislang Berichteten wird man auf Konsens nicht rechnen können; sprechend ist das Ergebnis von Menkes Lektüre gleichwohl. Er erkennt an, dass Barth die Stellvertretungsthematik ins Zentrum rückte, hält sein Ergebnis aber für mager: »Für Barth gibt es keine ontische Brücke zwischen dem alten Menschen der Sünde und dem neuen Menschen der in Christus ist. Die Brücke ist allein der Glaube.« (189) Die Oppositionsfiguren lauten: Barth lehrt keine Befähigung zum Heil, sondern nur 63 U.H.J. Körtner, Versöhnte Verschiedenheit. Ökumenische Theologei im Zeichen des Kreuzes, Bielefeld 1996, 81. 64 WA 1, 362.
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Bezeugung, er kennt keine Mitwirkung am Heil, sondern nur Dienst, keine Mitwirkung an Rechtfertigung und Heiligung, sondern nur deren Darstellung. (189f) Das ist als oberflächensemantisches Lektüreergebnis richtig. Was Menke aber nicht erwägt, ist, dass es eine Ontologie des Glaubens geben könnte: Der unerhörte Vorgang des Glaubens ist die ontische Brücke zum neuen Menschen, der jedoch genau nicht Selbsthabe und damit ›ontisch‹ im herkömmlichen Sinne ist; Zeuge/Zeugin sein dürfen, ist in sich Heiligung, aber eben geschenkter Vorgang der Heiligung und nicht Besitz; der Dienst unnützer Knechte ist schon Mitwirkung und es ist ein Maximum an Würde, von dem Kunde geben zu dürfen, was Gott für Menschen tut, auch wenn dies niemals zum Eigentum derer wird, die davon angerührt sind. Menke sieht nicht, dass all diese Vorgänge solche sind, die Menschen tatsächlich verändern und in Gottes Geschichte hereinnehmen. Mit Barths Versöhnungslehre liegt ein Entwurf inkludierender, wie er sagen würde ›eigentlicher‹ Stellvertretung vor ihm, den er als solchen nicht erkennen kann, weil seine ontologischen Prämissen ihn daran hindern. Steht nämlich zum Vorhinein fest, dass Stellvertretung nur als Auslegung der analogia proportionalitatis intrinsecae in Betracht kommt, dann kann das innovative semantische Potential der barthschen Versöhnungslehre gar keine Berücksichtigung finden. Freilich zeigt sich dann in aller Deutlichkeit: Der Begriff Stellvertretung wird nicht selbst expliziert. Er dient vielmehr der Explikation einer anderen Sachlichkeit, nämlich der der analogia entis. Der Preis ist freilich hoch, denn das Titelthema wandelt sich unter der Hand vom explicandum zum explicans. Die kontroverstheologische Positionierung zeigt sich auch in Menkes Lutherdeutung. Er lobt ihn dafür, »die Mitte der christlichen Erlösungslehre neu entdeckt zu haben«, (410) fährt ihm dann aber in die Parade: Luther sei Nominalist wie seine Lehrer, er denke mit seiner Ausgangsfrage ›wie kriege ich einen gnädigen Gott?‹ unkirchlich und individualistisch, auch betone er einseitig die Göttlichkeit Christi und trenne so Christologie und Ekklesiologie. (410f) Das ist alles ganz falsch. Die Mär vom Nominalisten Luther ist schon mit einem Blick auf seine Position im Abendmahlsstreit 1529 erledigt. Wer es terminologisch sehr genau wissen will, ist mit Theodor Dieters Studie zu Luther und Aristoteles bestens bedient.65 Auch ist nun wirklich allgemein bekannt, dass Luther im Rückblick auf seine Anfänge eine individuell formulierte Frage stellt, dass die reformatorische Entdeckung – wann und wie sie auch immer stattgefunden hat – diese aber nicht beantwortet, sondern als falsche Frage zurückweist. Schließlich enträt der Vorwurf einer einseitigen Betonung der Göttlichkeit Christi der Kenntnis von Luthers epochaler Bedeutung in Sachen der communicatio idiomatum:66 »Nein geselle, wo du 65 Th. Dieter, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Studie zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin 2001. 66 Im Lehr- und Handbuchformat: O. Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 32007, 211– 215; N. Slenczka, Art. Christus, in: Luther Handbuch, hg. von A. Beutel, Tübingen 22010, 381– 392, bes. 386–390.
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mir Gott hinsetzest, da mustu mir die menscheit mit hin setzen, Sie lassen sich nicht sondern und von einander trennen, Es ist eine person worden und scheidet die menscheit nicht so von sich, wie meister Hans seinen rock aus zeucht und von sich legt, wenn er schlaffen gehet.«.67 – Als Passus in einer bekannt gewordenen Qualifikationsschrift ist diese Verzeichnung schon ärgerlich genug. Unerfindlich aber bleibt, warum Menke sie auch für jüngere Publikationen keiner Überprüfung unterzieht. Hier findet sich ein ganz gleichsinniges Zerrbild der evangelischen Seite als individualistisch, ethisch beliebig, pneumatozentrisch und rein innerlich.68 Was für eine Strategie konfessioneller Selbstvergewisserung ist das nur, die sich hartnäckig auf leicht widerlegbare Klischees stützt?
Der Ertrag des Lesegesprächs mit Karl-Heinz Menke lässt sich also ohne kritische Töne nicht formulieren: 1. Zu Recht besteht Menke auf der Unterscheidung von uneigentlicher und eigentlicher Stellvertretung: In Stellvertretung, die den Namen verdient, geht es um Vorgänge, die einem Menschen aufhelfen und ihn zu dem bringen, was er sein darf. Was bei Christof Gestrich rechtfertigungstheologische Implikation ist (Th. 4), rückt hier mit guten Gründen ins Zentrum. 2. Nicht hilfreich ist jedoch die Vorfestlegung auf Stellvertretung als Explikation der analogia entis. Wer so vorgeht, muss für das semantische Potential des Begriffs blind werden. Die Aufgabe besteht also darin, vom Thema der eigentlichen/inklusiven Stellvertretung nicht abzuweichen, zugleich aber nicht in den begrifflichen Zwängen von Menkes Vorfestlegung zu verbleiben. Die weitere Bearbeitung der Stellvertretungsthematik sollte also sichtbar machen, dass und wie Gottes in Christus stattfindende Stellvertretung Menschen ›zu sich holt‹ und nicht beim Alten belässt. In erster Anmutung legen sich hierfür weniger ontische als ereignishafte Metaphern nahe. 3. Hieraus könnten sich interessante Anknüpfungspunkte an die philosophische Debatte ergeben. Das von Menke aufgezeigte Panorama der Positionen, die Welt und Ich nicht aus der Subjektivität begründen und verstehen wollen, ist in sich vielstimmig. (368–398) Für die Idee, ›am Anderen‹ und ›vom Anderen her‹ sei das Subjekt eben nicht im Besitz seiner selbst, sollte gleichwohl einiges Interesse zu erwarten sein. Es wird zu zeigen sein, dass eine »ontische Brücke zwischen dem alten Menschen (…) und dem neuen Menschen« (189) wenn schon dann im Rahmen einer Ontologie eigener Art auszusagen ist. Ob man dann von ›Ontologie des Glaubens‹ oder vielleicht ›eschatologischer Ontologie‹ spricht, dürfte nur ein Streit um Worte sein.
67 WA 26, 333b. 68 K.-H. Menke. Sakramentalität. Wesen und Wunde des Katholizismus, Regensburg 2012, 27.122.145.246 u. ö.
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2.
Stellvertretung und Person
Die Stellvertretung durch Christus
Hier folgt eine Betrachtung der aktuellen Diskussion zur Rede vom stellvertretenden Handeln Christi. Aus dem zuvor Diskutierten übernimmt sie die Überzeugung, dass es philosophisch wie theologisch richtig ist, die Rede von ›Person‹ nicht mithilfe von Theoriemitteln der Selbsthabe zu entwickeln, sondern das Sein der Person konstitutiv vom Anderen und von anderen her zu verstehen. Ferner setzt sie die These zur Bewährung aus, dass Stellvertretung jedenfalls als inklusive Stellvertretung zu fassen ist: Der Unterschied zwischen Stellvertretung und Ersatz ist plausibel, und Stellvertretung, die den Namen verdient, geschieht um der vertretenen Person und ihrer Lebensmöglichkeiten und -chancen willen. Dies ist auch und gerade eine theologische Behauptung und also ein Plädoyer in Sachen der effektiven Rechtfertigungslehre: Gottes Handeln ist von der Art, dass es Menschen neu macht und ihnen Lebensmöglichkeiten zuspielt. Das ist aus zwei Gründen nun mit Blick auf das stellvertretende Handeln Christi in den Blick zu nehmen: Zum einen – und das ist bereits völlig ausreichend – verfehlte eine Theologie, die dies nicht täte, ihr Thema. Zum anderen ist zu prüfen, in welcher Weise die behauptete Inklusion denn nun stattfindet. Reserven gegenüber der klassischen Sprache der Ontologie wurden deutlich gemacht. Das ist zu vertiefen und, falls plausibel, mit entsprechenden Alternativen zu versehen.
Vermeidungsstrategien Welchen Status hat die Rede von der Stellvertretung eigentlich? Die Behauptung, sie sei zentral und unverzichtbar, ist nicht einfachhin klar. Im Gegenteil: Es herrscht bei näherem Zusehen kein Mangel an Versuchen, das Thema Stellvertretung in der Christologie geradewegs zu vermeiden. In vielen Fällen ist dabei der Verdacht leitend, bei Begriff und Thema ginge es um die Idee, dass Gottes Zorn durch die Sünde entfacht worden sei und er nach einem Opfer verlangt, ohne welches sein Zorn nicht zu stillen sei. Die Vermeidungsstrategien lassen sich zunächst in zwei Typen einteilen. Zum einen, und das ist, wenn ich recht sehe, der innertheologisch dominierende Typ, wird das so bestimmte Thema mithilfe eines Entwicklungsmodells als vergangen und überholt dargestellt: Die Idee vom Sündenzorn Gottes und der stellvertretenden Lebenshingabe ist religionsgeschichtlich früher und – sit venia verbo – primitiver als das Evangelium von der umfassenden Menschenliebe Gottes. Es entstammt einer religionsgeschichtlich früheren Phase, in der die volle Universalität der Botschaft des einen Gottes noch nicht entdeckt war. Entsprechend spiegelt es die religiöse Einstellung einer sich auf Erwählung berufenden Glaubensgemeinschaft. Angesichts des Universalismus der Verkündigung Jesu darf beides – die Begrenztheit auf nur eine erwählte
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Gruppe und die Vorstellung vom stellvertretenden Strafleiden zur Linderung des Zornes Gottes – als überwunden gelten. Gegenüber diesem Universalismus ist der Einsatz der Opfermetaphorik bei Paulus und in der Paulusschule als Rückschritt zu bezeichnen: Das Evangelium Jesu wird mit Aussagen über den Glauben an ihn übermalt, die das Beste – eben den von ihm verkündigten Liebesuniversalismus Gottes – zugunsten einer Re-Tribalisierung verdeckt.69 Der zweite Typ der Vermeidungsstrategien kann als Vielsprachigkeitsmodell bezeichnet werden. Er stellt fest, dass Jesu Leiden und Tod im NT mitnichten nur mit Metaphern beschrieben wird, die aus der Tradition des Opfer- und Stellvertretungsdenkens kommen. Unter anderem sind noch die Traditionen vom leidenden Gerechten, vom gewaltsamen Schicksal der Propheten, von Sterben und Wiedererblühen der Saat zu nennen. Als eine unter mehreren Deutungen des Todes Jesu zeigt die Opfermetaphorik, dass sie eben nicht alleine dasteht und dass sie eben nur Deutung ist und nicht etwa die Sache selbst. Die Äquidistanz der Sache zur Deutung gilt für jede Deutung und damit auch für die, die aus Gründen der Tradition wichtig wurde, der der Alleinvertretungsanspruch aber genau nicht zukommt.70 Beiden Modellen ist ein Wahrheitsmoment nicht abzusprechen, obwohl sie nicht erfolgversprechend sind. Zum ersteren, es ist offensichtlich so, dass die neutestamentliche Christologie in einem Traditions- und Verweisungszusam69 Deutlich bei K.-P. Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 22005, 286ff, bes. 307–314. Er nimmt damit ein Motiv auf, das mit merklich anderen Schwerpunktsetzungen in Ernst Troeltschs Absolutheitsschrift prominent wurde. Die Religion Israels erscheint hier als religionsgeschichtliche Vorläufer- und Durchgangsfigur, die v. a. durch die Themen Gesetz und Prophetie gekennzeichnet ist. Das im jüdischen Glauben vorhandene, aber noch unterentwickelte Motiv des personalen Glaubens kommt im Christentum zum vollen Austrag, so dass dieses »nicht bloß als der Höhepunkt, sondern auch als der Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwickelungsrichtungen gelten« muss, E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/12), Kritische Gesamtausgabe Bd. 5, hg. von F.W. Graf u. a., Berlin/New York 1998, 197, vgl. die ganze religionsgeschichtliche Skizze 190–199. 70 Tendenziell so z. B. bei H.-M. Barth, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Ein Lehrbuch, Gütersloh 2001, 391–410. Im Rahmen des innovativen Ansatzes dieser Dogmatik, die die nichtchristliche Interpretation christlicher Motive stets mitbedenkt, übernehmen nichtchristliche Wahrnehmungen Jesu die Funktion, an Interpretamente zu erinnern, die zu Unrecht ein Schattendasein führten und die gegenwärtig erschließungskräftig sind. Das Chalcedonense wird dabei durchaus kritisch betrachtet. (407f) Ohne dass eine explizite Bezugnahme erkennbar wäre, zeigt sich eine Motivverwandtschaft zu Immanuel Kants Religionsschrift: Auch hier werden traditionelle Bestände der Dogmatik durchmustert und am Maßstab einer für alle geltenden Vernunft geprüft. Freilich ist Kants Urteil um einiges härter: Während Barth die Interpretamente vom Sterben Christi durch die Betonung seines Lebens, seiner Verkündigung und Auferstehung einhegt, fallen sie bei Kant der Kritik einer willkürlichen und moralisch indifferenten Religion zum Opfer, vgl. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft B 174–177, z. B. Werke, hg. von W. Weischedel, Bd. 6, Darmstadt 1983, 781–784.
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menhang steht. Dies nicht gesehen zu haben, war ein verbreiteter Fehler konfessioneller Dogmatiken, die soteriologische Topoi isolierten (›das Kreuz sagt‹) und zugleich die alttestamentliche Imprägnierung der Stellvertretungsthematik nicht zu sehen vermochten. Heikel allerdings wird das Modell da, wo es eine Überordnung denkt und den Glauben Israels – besser: das, was es dafür hält – als unreife Vorstufe meint behandeln zu dürfen. Das geht ineins mit der fehlerhaften Differenzierung zwischen der Botschaft Jesu (gen. subj.) und dem nachösterlichen Kerygma des NT.71 Die traditions- und motivgeschichtliche Verortung der neutestamentlichen Rede vom Dazwischentreten Christi erlaubt deren historische Relativierung genau nicht, sie weist sie vielmehr an, die alttestamentlichen Verstehensbedingungen der neutestamentlichen Rede nicht aus den Augen zu lassen. Die zweite der Vermeidungsstrategien pocht zu Recht darauf, die Vielstimmigkeit neutestamentlicher Soteriologien wahrzunehmen. Gerät dies freilich zu einem Verabschiedungsgestus, so als sei die Anwesenheit alternativer Metaphern die Erlaubnis dafür, sich um Stellvertretungs- und/oder Sühnemetaphoriken nicht mehr kümmern zu müssen, liegt der Fehler wohl auf der Hand: Jenseits des factum brutum, dass Jesus durch Kreuzigung zum Tode gebracht wurde, lassen sich Ereignis und Deutung gar nicht trennen. Es ist nicht so, dass auf der einen Seite ein identifizierbares Ereignis da wäre, das auf der anderen von mehreren Deutungsangeboten interpretiert würde. Vielmehr ist das Ereignis anders als in der Deutung gar nicht präsent. Aus diesem Grund ist die Mehrzahl von Deutungen des Todes Jesu im NT genau keine Einladung, sich nur diejenige Deutung vorzunehmen, die in den Rahmen der eigenen Verstehensvoraussetzung erwartbar bruchlos passt.72 71 Das Verhältnis zwischen vor- und nachösterlicher Perspektive ist auch da umstritten, wo zwischen die beiden kein programmatischer Keil getrieben wird. In der Annahme von Kontinuitäten geht z. B. Udo Schnelle recht weit: »Wenn er [Jesus, M.H.] seine Person zum Kriterium des endzeitlichen / endgültigen Gerichtes erhob (Lk 12,8f. par), als Wundertäter auftrat und wie Gott Sünden vergab (vgl. Mk 2,1–12), sich über Mose stellte und mit der Berufung der zwölf Jünger die eschatologische Restitution Israels anstrebte, dann ist die singuläre Qualität des vorösterlichen Jesus der Grund, warum nach Ostern eine explizite Christologie ausgebildet wurde. Jesus erhob bereits vorösterlich einen einzigartigen Anspruch, der durch die Auferstehung nachösterlich verändert, aber zugleich noch verstärkt wurde.« U. Schnelle, Die theologische und literarische Formierung des Urchristentums, in: Die Anfänge des Christentums, hg. von F.W. Graf und K. Wiegandt, Frankfurt/M. 22009, 168– 200, hier 173. Gewiss kann man diesen Sachverhalt zurückhaltender interpretieren als Udo Schnelle dies tut, vgl. im selben Band A. Merz, Der historische Jesus – faszinierend und unverzichtbar, 23–56, hier 39–43. Was beide eint, ist, dass sie nach dem konstitutiven Zusammenhang der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus fragen. 72 Hier liegt die Grenze der Religionshermeneutik aus Kants eben erwähnter Religionsschrift und ihrer gegenwärtigen Weiterschreibungen. Kant muss annehmen, dass die ›bloße Vernunft‹ hinreichend beschreibbar ist und dass ihr von außen keine hilfreiche und innovative Irritation zukommen kann. Nur so kann er den hoch selektiven Umgang mit biblischer Metaphorik rechtfertigen. Das aber ist angesichts der oft beobachteten Geschichtslosigkeit
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Wir haben es also mit einer starken Metapher – besser: einem starken Metaphernbündel – zu tun, das nicht verlustfrei durch andere Bildlichkeit ersetzt werden kann. Dies erste Ergebnis der Frage nach dem Status der Rede von der Stellvertretung erfährt durch Beobachtungen von Günter Bader noch interessante Unterstützung: Denkt man an Begriffe wie Opfer, Loskauf, Lösegeld oder Kreuzigung, dann, so Bader, handelt es sich um »Wörter mit einer dinglichen Unterströmung«.73 Sie gehen eben nicht in der Bildlichkeit persönlicher Beziehung auf, wie man das bei ›Stellvertretung‹ vielleicht erwarten könnte. Mehr noch: Die genannten Begriffe sprechen Handlungen an, Riten: Das Opfer ist jedenfalls Ritus, Kreuzigung ein Ritual, vielleicht sogar eine rechtliche Institution.74 Und das heißt: »Also weit davon ab, in den soteriologischen Interpretades kantischen Vernunftbegriffs und noch einmal mehr angesichts der vielstimmigen Kritiken am Selbstbewusstseinsparadigma (s. o. I.1) durchaus fraglich. Das ist nicht nur philosophiehistorisch wichtig. Vielmehr: Michael Welker hat treffend beobachtet, dass die versöhnlicher klingende Wahrnehmung von Religion in jüngeren Wortmeldungen von Jürgen Habermas recht genau dem kantischen Muster folgt. Habermas räumt ein, dass religiöse Überzeugungen eine inspirierende Kraft für die ganze Gesellschaft entfalten können, aber er bindet dies ausdrücklich an die Übersetzungspflicht: »Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass sie semantische Potentiale mit sich führen, die eine inspirierende Kraft für die ganze Gesellschaft entfalten, sobald sie profane Wahrheitsgehalte preisgeben.« (J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 2005, 149). Die Schwierigkeit der Position liegt im letzten Teil des Satzes. Habermas gibt die Wahrheitsmöglichkeit religiöser Aussagen unter der Bedingung zu, dass sie ihren profanen Wahrheitsgehalt preisgeben. Es ist dieser Punkt an dem sich zeigt, dass Habermas’ Position nach wie vor eine säkularistische ist. Ohne dass er dafür eine Begründung angeben könnte, sind religiöse Überzeugungen für ihn nur dann wahrheitshaltig, wenn sie ihrer religiösen Überzeugung entkleidet werden und ihre »profanen Wahrheitsgehalte« preisgeben. Ungedacht bleibt bei Habermas’ Position Folgendes: Es ist nicht auszuschließen, dass religiöse Überzeugungen auch dann wahr sind, wenn sie nicht in säkulare Sprache übersetzt werden und wenn sie zugleich nicht in säkulare Sprache übersetzt werden können, ohne ihr semantisches Potential in signifikanter Weise einzubüßen. Habermas’ Position ist von der säkularistischen Grundannahme, in der Öffentlichkeit könne nur gelten, was nicht religiös begründet wird, geleitet. Dass er nicht-religiöse Bürgerinnen und Bürger darauf verpflichtet, religiösen Bürgern die Wahrheitsfähigkeit ihrer Aussagen nicht abzusprechen, ist ein beachtlicher Fortschritt in der Theorieanlage eines säkularistischen Denkens. Freilich verbleibt es innerhalb seiner dogmatischen und normativ nicht ausgewiesenen Vorannahme, dass in der Öffentlichkeit nur gelten könne, was jedenfalls nicht religiös sei. Religion wird einem Generalverdacht unterstellt, ohne dass im Gegenzug säkularistische Annahmen demselben Verdacht ausgesetzt würden. Es ist immerhin nicht auszuschließen, dass säkularistische Annahmen ihrerseits in nicht tolerabler Weise weltanschaulich geprägt sind und damit genau demselben Irrtumsanspruch unterstellt werden müssen, wie dies bei Habermas für religiöse Aussagen geschieht. Michael Welkers Hinweis auf die Motividentität zu Kant findet sich in: Zukunftsaufgaben politischer Theologie nach Habermas und Ratzinger, in: Politische Theologie. Neuere Geschichte und Potenziale, hg. von F. Schüssler Fiorenza u. a., Neukirchen-Vluyn 2011, 79–90, 80. 73 G. Bader, Jesu Tod als Opfer, ZThK 80 (1983) 411–431, 412. 74 Die Passionserzählungen drehen dies freilich ins Gegenteil, da sie mit unterschiedlichen Akzentsetzungen zeigen, dass im Namen vermeintlichen Rechts doch höchstes Unrecht ge-
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menten des Todes Jesu bloße Gedankenkreise zu sehen, springen uns als erstes zwei Schichten ins Auge: die dingliche und die rituelle. Wir können jetzt soviel sagen: Die Interpretamente des Todes Jesu sind als dingliche Ruinen Symbole, wie ja ursprünglich ein Symbol das Tonding ist, das eben durch seinen zerbrochenen Zustand der symbolisierenden Kraft fähig wird.«75 Das unterstreicht noch einmal die seltsame Unausweichlichkeit des Metaphernbündels, um das es hier zu gehen hat. Eine terminologische Klarstellung: ›Stellvertretung‹ ist ein Abstraktum, keine biblische Redeweise. Die Semantik der Stellvertretung ist aber so weit verbreitet, dass es sinnvoll ist, das Abstraktum dennoch zu verwenden. Das beginnt bei den einschlägigen Propositionen, mit deren Hilfe im NT heilshaft stellvertretendes Handeln ausgesagt wird, ὑπέρ, περί, ἀντί und διά. Sie finden sich etwa in der Abendmahlsparadosis, im markinischen Wort von der Lebenshingabe des Menschensohns für viele (Mk 10,45 par), genauso johanneisch (Joh 6,51; 10,11 u. ö.), sowie, wie wohlbekannt, paulinisch und nachpaulinisch.76 Von einer signifikanten Verbreitung des Gedankens der stellvertretenden Lebenshingabe wird also gesprochen werden können. Das Bild verdichtet sich, wenn man zusätzlich an mit Präpositionen angereicherte Substantive wie ἀντίλυπον (Lösegeld/-gabe) denkt und auch die explizit kultische Begrifflichkeit wie Opferlamm, Sühn-/Sündopfer bis hin zum Schlachtopfer (Eph 5,2) in den Blick nimmt. Die alttestamentlichen Belege reichen von einer Reihe von Verben wie ›tragen‹, ›für x bitten‹ und ›Fürbitte halten‹ über einige Präpositionen bis hin zu den expliziten Substantiven ּכֶֹפר (von ;כפרLösegeld, Ex 21,30 u. ö.) und / (von ; ִפּ ְדי ֹןAuslösung, Ps 49,9).77 Auch werden in einem Standardwerk für die hebräische Bibel folgende Typen der Stellvertretung vorgeschlagen: (1) Der König als Mittler oder Repräsentant Gottes; (2) Menschen als Bild Gottes (Gen 1,27); (3) ein Prophet als korporativ für Israel bittende Person; (4) Opfertiere als Vertreter derer, die sie zum Kult bringen; (5) davon noch unterschieden oder spezifiziert der Sündenbock als Träger der Verfehlungen Israels; (6) der leidende Gerechte in seiner Übernahmefunktion; und schließlich (7) allgemein, Bilder als Gegenwärtigsetzung dessen, wofür sie stehen.78 Gewiss macht es die Masse allein noch nicht und eine Sammlung von Belegstellen ist noch niemals Theologie gewesen. Die knappen Hinweise sollen vielmehr deutlich machen, dass die sprachliche Logik des ›Eintretens für andere auch bei Gefahr/Realität der eigenen Schlechterstellung‹ ganz offenbar zum biblischen Basisvokabular zählt. Je deutlicher das zutage tritt, desto schwieriger – ja: kläglicher – werden die Versuche, sich diese Logik wegen vorgeblicher Schwierigkeit
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schieht. Der Prozess Jesu ist einer, den seine Richter contra intentionem gegen sich selbst führen, vgl. R. Frisch, »Was ist Wahrheit?« ein biblisch-theologischer Versuch über das Johannesevangelium, in: Resonanzen. Theologische Beiträge. Michael Welker zum 50. Geburtstag, hg. von S. Brandt und B. Oberdorfer, Wuppertal 1997, 12–25, bes. 18–23. Bader, Jesu Tod 412. Stellenlisten bei Bader, Jesu Tod 417 und B. Janowski, Ecce homo. Stellvertretung und Lebenshingabe als Thema Biblischer Theologie, Neukirchen 2007, 10. Nachweise bei Janowski, Ecce homo 11–13. Ders., Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff, Stuttgart 1997, 26f.
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oder Unverträglichkeit mit den eigenen Vorannahmen vom Halse zu halten. Dass das sprachliche Feld in sich vielfältig ist und viel eher eine große interne Debatte als eine einheitliche Aussage darstellt, bedarf ebenfalls kaum der Erwähnung.
Eine dritte Vermeidungsstrategie, auf die hier kurz zu verweisen ist, ist nicht theologischen Ursprungs, beansprucht aber, nichts weniger als die lang verdrängte Wahrheit des Evangeliums herausgefunden zu haben. So jedenfalls steht es in den einschlägigen Bänden René Girards († 2015), in denen er seine mimetische Theorie entwickelt und mehr und mehr auf zentrale theologische Themen fokussiert. Für eine ausführliche Diskussion der Theorie insgesamt ist hier nicht der Ort. Als communis opinio in der weitverzweigten Girard-Rezeption und der mitunter lebhaften Diskussion darf jedoch Folgendes gelten: Es handelt sich um eine fundamentalanthropologische Annahme, die in mehreren Wissenschaftsfeldern, u. a. Soziologie, Ethnologie und Theologie, zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Ihre Grundannahmen sind nachgerade irritierend einfach, wobei aus dieser Einfachheit je nach Interpretation die universale Anwendbarkeit oder aber eine gewisse Banalität gefolgert wird. Ebenfalls communis opinio ist, dass die mimetische Theorie im Wesentlichen aus drei Elementen besteht: (1) Menschen entdecken in sich die unausweichliche Fähigkeit des Begehrens. Zugleich wissen sie nicht, was sie begehren sollen. Deswegen imitieren sie das Begehren anderer, sowohl den Vorgang als auch das begehrte Objekt. Ist eine solche mimetische Struktur erst einmal entstanden, werden Imitierter und Imitator zu Konkurrenten im Wettbewerb, zu mimetischen Rivalen. Und das erzeugt vielfältige Gewalt.79 Ein bellum omnium contra omnes wäre die zwangsläufige Folge, würden sich nicht Gemeinschaften bilden. (2) Diese entstehen in der Tat. Ihre relative Stabilität hängt davon ab, die durch das mimetische Begehren entstehenden Aggression zu kanalisieren. Das geschieht durch den Sündenbockmechanismus: Die Gewalt aller gegen alle wird zur Gewalt aller gegen einen. Die Gemeinschaft stabilisiert sich dadurch, dass sie ein (Kollektiv-)Subjekt auswählt, das sie abschiebt oder tötet. Durch diesen – zugleich archaischen und immer wieder neuen – Akt entstehen die Bindungskräfte, die eine Gemeinschaft zusammenhalten. Vom johanneischen Kaiphas (Joh 11,50) über die mittelalterlichen Judenpogrome bis zu den in atemberaubendem Tempo wieder vergrößerten politischen Feindbildern unserer Tage sind die Beispiele für das Funktionieren des Sündenbockmechanismus – leider – Legion. (3) Die Gründung und Stabilisierung der Gesellschaft durch Ausstoßung des Sündenbocks ist zugleich Religion: Das ausgestoßene Opfer wird sakralisiert, die Ausstoßungshandlung ist heilige Handlung. So erklärt sich die Rolle der Opfer in allen Religionen.80 79 R. Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M. 1992 (zuerst 1972), 211–247. 80 R. Girard, Der Sündenbock, Zürich/Düsseldorf 1998 (zuerst 1982), 7–37.70–85.112–138 u. ö.
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Die für das hier anhängige Thema entscheidende These gehört nicht in diese Grundannahmen und ist werkgeschichtlich auch erst später erfolgt:81 Girard behauptet, dass Judentum und Christentum als einzige unter allen Religionen einen Weg aus dem Verhängniskreislauf des mimetischen Begehrens weisen. Das Alte Testament ist zwar auch Dokument mimetisch erzeugter Opferreligion, in seinem Kern jedoch Beginn des singulären Auszugs aus diesem Verhängnis. In Jesus Christus durchbricht Gott den Opfermechanismus ein- für allemal, was freilich nicht alle Texte des Neuen Testaments gleichermaßen deutlich herausstellen. Gleichwohl ist das Ergebnis laut Girard eindeutig. Auch wenn nicht alle biblischen Texte deutlich genug sind und auch wenn die Kirche sich über lange Zeiten selbst zu einer Opferreligion machte: Im und nur im jüdisch-christlichen Zusammenhang ist diese an ihr Ende gekommen. Umriss der Argumentation: Eine oberflächliche Lektüre des AT könnte zu dem Eindruck führen, als perpetuiere es die Selbststabilisierung einer Gesellschaft durch Gewalt und Opfer. Freilich taucht hier nach Girard ein zuvor und anderswo nicht vorhandener Zug auf, nämlich die moralische Kritik am Opfer. Beides liegt zunächst ineinander: Die Erzählung von Kain und Abel etwa ist nachgerade ein mimetischer Klassiker, weil sie zeigt, wie Neid und mimetisches Begehren zur tödlichen Gewalt führen. Freilich kommt hier die klare Verurteilung der Opfertat dazu. Der Tod Kains ist eben kein stabilisierendes Opfer, sondern ausschließlich Unrecht. Dass das Opfer unschuldig ist und die auf ihm gebaute Kultur also mörderisch – das ist neu.82 Den Mythen, so Girard, war es gelungen, die Gründungsmorde zum Opfer umzulügen und ihre Schuldhaftigkeit vergessen zu machen. »In der Bibel hingegen kommt die gegenläufige Bewegung in Gang. Wir nehmen gewissermaßen am Bemühen teil, auf den Ursprung zurückzugehen und auf die konstitutiven Übertragungen zurückzukommen, um sie zu diskreditieren und zu annullieren, um den Mythen zu widersprechen und sie zu entmystifizieren«.83 Das biblische Narrativ steht also an gegen das Narrativ der Perpetuierung der Opfer im Sündenbockmechanismus. Fatalerweise hat das Christentum selbst immer wieder Anteil an dieser Perpetuierung der Opfer, indem es die Sündenbocklogik auf Christus selbst überträgt. Dafür verantwortlich ist die »mittelalterliche Theologie», die »das Postulat, der Vater fordere dieses Opfer« aufstellt und die absurde Idee befördert, »Gott wolle seine durch die Sünden der
81 R. Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhältnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort, Freiburg 2009 (zuerst 1978), 189–333; ders., Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, Berlin 2008 (zuerst 1999). 82 Girard, Ende 194–199 83 Girard, Ende 202, eine Äußerung seines Gesprächspartners Jean-Michel Oughourlian.
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Menschheit befleckte Ehre rächen«.84 Mit dieser Einstellung hat das Christentum an der universellen Verfallenheit an die Fortzeugung der Gewalt Anteil. Es ist des Teufels: »Der Teufel ist ein und dasselbe wie die kreisförmigen Mechanismen der Gewalt, wie das Gefangensein des Menschen in kulturellen (…) Systemen, die ihren modus vivendi mit der Gewalt sicherstellen. (…) Satan, das ist der Name des mimetischen Prozesses insgesamt.«85 Der Gegenzug beginnt, wie eben angedeutet, im Alten Testament und wird in Christus vollständig offenbar: »Nichts in den Evangelien legt uns nahe, der Tod Jesu sei ein Opfer«.86 Christus ist vielmehr derjenige, der von außerhalb der Opferzusammenhänge kommt und »der der Gewalt nichts verdankt«.87 Er kann deshalb gar nicht aus dieser Welt sein: »Die Heraufkunft eines solchen Wesens in einer vollständig von Gewalt und Gewaltmythen gesteuerten Welt ist unmöglich.«88 Weil Christus so vollständig von außen kommt, kann er die wahre Natur der Gewaltzusammenhänge aufzeigen: Ist der Gewaltmechanismus einmal erkannt, so kann er nicht mehr zur Gründungsgeschichte der Gemeinschaft remythologisiert werden.89 Das Christusereignis ist, so wird man zu verstehen haben, die grundstürzende Entmythologisierung der basalen Lebenslüge aller auf Gewalt beruhenden Gemeinschaften – auch der Gemeinschaft der Kirche selbst, sofern sie in die Lebenslüge des Sündenbockmechanismus’ zurückgefallen ist.90 Diese, wie Girard sie nennt, »nichtsakrifizielle Lesart« beansprucht (römischkatholische) Orthodoxie und zugleich ihre adäquatere Darstellung, »als dies bisher möglich war.«91 Das ist keine geringe Behauptung, setzt sie doch mit, dass die mimetische Theorie dem Wesen des Evangeliums näherkommt als alle anderen Verstehensversuche zuvor. Trifft sie zu, so ist das christlich-theologisch zum Opfer zu Sagende identisch mit seiner vollständigen Verabschiedung. Freilich, so verhält es sich nicht: Der Kulturwissenschaftler sieht richtig, dass die christologische Semantik mit dem ἅπαξ ἐφάπαξ aus Hebr 9 das Ende des kultischen Opfers beinhaltet. Freilich 84 85 86 87 88
Girard, Ende 235. Girard, Ende 213. Girard, Ende 233. Girard, Ende 273. Ebd. In der Bahn dieses Arguments plausibilisiert Girard auch die unbefleckte Empfängnis: Der Unterschied zwischen σάρξ und λόγος aus dem Johannesprolog ist der ›Unterschied ums Ganze‹ (Adorno), so dass Christus gar nicht aus der Welt kommen kann; ferner bildet sich zwischen denen, die in den Bereich des λόγος gehören – Gott selbst, seine Engel und die Jungfrau Maria – keine verderbliche Machtkonstellation; Girard, Ende 275f. In Umrissen entsteht hier eine Ekklesiologie nach dem Bellarmin’schen Modell der societas perfecta. 89 Girard, Ende 225 u. ö. 90 Das gilt nach Girard für die von ihm benannte ›mittelalterliche Theologie‹ und im NT für den Hebräerbrief, dem er den Rückfall in die Opferlogik vorhält, vgl. Girard, Ende 283–287. 91 Girard, Ende 279.
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unterlässt er es, zu überprüfen, welche Inhalte dieser Rede dennoch in Geltung bleiben – und sei es in charakteristischer Brechung. Daran ist er nicht zum mindesten dadurch gehindert, dass er einem ungeprüften Zerrbild der als mittelalterlich deklarierten Sühnetheologie aufsitzt. Beides zusammen – die inhaltliche Verarmung des biblischen Befundes und die Zurückweisung eines ungeprüften Klischees – führen notwendig dazu, dass die eigene Position inhaltlich dünn wird. Girards Nacherzählung des biblischen Narrativs kommt darauf hinaus, dass sie die bessere Kenntnis der Umstände vermittelt: Wer weiß, dass Jesu Tod am Kreuz kein Opfer ist, weiß, wie es um die Welt und ihre Opferspiele wirklich steht. Das ist nicht nichts, sondern vielmehr der Kern der Gerichtsbotschaft des Kreuzes: Die, die Jesus den Prozess machen, machen ihn sich vielmehr selbst. Freilich wird es fatal, wenn man, wie Girard, dabei stehenbleiben muss. Die Evangelien decken den Opfermythos auf und reichen diese Erkenntnis an ihre Leser weiter. Den ganzen Rest bürden sie eben diesen Lesern auf: »Was sich nach der Verkündigung des Reiches Gottes ereignet, hängt voll und ganz davon ab, wie sie von den Zuhörern Jesu aufgenommen wird.«92 Mit anderen Worten: Das Evangelium wird zur Bewusstseinstatsache in der Verantwortung seiner Empfänger. In aller Deutlichkeit: »Das Reich Gottes ablehnen bedeutet allererst, das von Jesus eingebrachte Wissen abzulehnen, das Wissen um die Gewalt und deren Werke.«93 Hier tritt zur inhaltlichen Verarmung auch noch die Überforderung der Empfänger. Girards Christologie, so stark sie in ihrem Gerichtsmoment ist, zeigt sich als eine, die keinerlei Pneumatologie kennt. Das kann nicht wohlgeraten sein. Ist auch nur irgendetwas an der im vorigen Teilkapitel konturierten Rede von der inklusiven Stellvertretung richtig, dann wird sich diese Sachstelle als mitnichten so gänzlich leer erweisen, wie sie es bei René Girard ist. Auch diese Strategie der Abweisung ist also vorschnell. Eine Betrachtung der teils dornigen Logik der biblischen Rede von der Stellvertretung Christi ist also so unvermeidlich wie – im Vorgriff behauptet – lohnend.
Biblische Merkposten mit systematischen Konsequenzen Der große Versöhnungstag Nicht nur, aber in besonderer Dichte wird die alttestamentliche Stellvertretungslogik in der Liturgie des großen Versöhnungstages in Lev 16 festgehalten. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass es sich dabei um ein Geflecht von Vollzügen 92 Girard, Ende 257. 93 Girard, Ende 263.
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handelt und nicht ›nur‹ um eine Aussage: Stellvertretung ist ein nomen actionis und Lev 16 kann als Inszenierung dieses nomen actionis gelesen werden.94 Das zeigt sich zunächst, wenn man die Perikope gliedert. Dafür kann auf einen Vorschlag von Bernd Janowski zurückgegriffen werden. Seiner »symbolischen Topographie von Lev 16« liegt die räumliche Inszenierung als Gliederungsmerkmal zu Grunde:95 A. Heiligtum: Eingangsbereich und Allerheiligstes: Beginn des Rituals (2–5); Losritus für die Opfertiere (6–10); Ritus an der ( כפּרת11–17) B. Heiligtum/Wüste: Brandopferritus (18f); Sündenbock-Ritus (20–22) C. Heiligtum/Lager: Abschluss des Rituals (23–28) inklusive Rückkehr ins Lager
Im Rahmen dieser Gliederung wird von einer ganzen Reihe von Beteiligten und Vollzügen berichtet. Mindestens die folgenden Elemente dürften von Belang sein: 1. Priesterliche Figur: Aaron erscheint im Gefüge von Lev 16 doppelt codiert. Einmal wird er als historische Figur des Bruders Moses’ und ersten Hohepriesters vorgestellt. Das ist im Erinnerungsraum der Großperikope vom Aufenthalt Israels am Sinai nicht ohne Pikanterie, da er diese Rolle bereits im Kult des schlechthinnigen Abfalls vom JHWH-Glauben eingenommen hatte. Der entscheidende Satz in der Erzählung vom goldenen Stierbild ist die Identifizierung des Bildes mit Gott und seiner Heilstat der Herausführung aus Ägypten. (Ex 32,4b) Sie kommt aus Aarons Mund. Ist er der Typus des Priesters schlechthin, so ist er es als der, zu dessen Geschichte die Fehlbarkeit des Kultpersonals und der Missbrauch des Kults dazugehören. Der Petrus des kultischen Israel? So falsch wird der Gedanke nicht sein. Ein allzu menschlicher Mensch also und doch zugleich einer, der den Typus des Priesters darstellt: Lev 16,2.34b lässt an der Identität keinen Zweifel, zugleich macht Lev 16,32–34a deutlich, dass wir es mit einer Kultätiologie zu tun haben: Es ist möglich und geboten, dass ein entsprechender Vorbereiteter an die Stelle 94 In die Diskussion der beeindruckenden Bandbreite von Theorien des Rituals werde ich hier nicht eintreten, vgl. Theorizing Rituals. Annotated Bibliography of Ritual Theory 1966–2005, hg. von J. Kreinath u. a., Leiden 2007; Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, hg. von A. Belliger und D.J. Krieger, Heidelberg 2012; eine Antheologie der Schlüsselbegriffe ist: Ritual und Ritualdynamik, hg. von C. Brosius u. a., Göttingen 2013; mit direktem Bezug auf Lev 16 vgl. R. Gane, Cult and Character, Purification Offerings, Day of Atonement, and Theodicy, Winona Lake IN 2005, 3–25. Die Arbeitsdefinition lautet: Ein Ritual ist »eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, wiederholbare und zu wiederholende Handlung mit Symbolgehalt«, Th. Hieke, Levitikus 16–27, HThKAT, Freiburg 2014, 559. Die beiden Bände dieses vorzüglichen Kommentars sind zugleich erschienen und durchgehend paginiert und werden deshalb wie einer zitiert. 95 B. Janowski, Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen an das Gottesbild des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2013, 303. Der folgende Petit-Absatz teils wörtlich ebd.
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Aarons tritt. Eine so bestimmte priesterliche Figur tritt nicht nur in die Fußstapfen des Priesters überhaupt, er relokalisiert – gleichsam andersherum – die feiernde Gemeinde an den Sinai: Wo Versöhnungstag gefeiert wird, da ereignet sich die frühe – und etwa in manchen prophetischen Traditionen als heilshaft ausgewiesene – Situation zwischen JHWH und seinem Volk. Eine ›Notwendigkeit‹ des Amtes wird nicht begründet, wohl aber die der entsprechenden Zurüstung. Nach communis opinio unter den Alttestamentlern übernimmt Israel die Wirklichkeit der Kulte aus den Umweltreligionen, so dass die entsprechenden Textgruppen nicht als Begründung des Kults, wohl aber Ringen um seine JHWHisierung gelesen werden können. Das entlastet auch die Perikope Lev 16 von Begründungsfragen. 2. Reinigung: Sich Gott nicht unvorbereitet zu nähern, gehört zu den Basisforderungen alttestamentlicher Kulttheologie. Hier kommt sie in der Körperreinigung Aarons und des Mannes, der den Sündenbock zu Azazel führt, zum Ausdruck, ferner in der kultischen Kleidung, die Aaron anlegt. Eine interessante Parallele ist in diesen beiden Reinigungen am Tage: Aaron vollzieht die Reinigung vor dem Kult im Begegnungszelt, der Sündenbockführer, nachdem er aus der Wüste zurückkehrt. (Lev 16,4.26) Unterstellt man ähnliche Zwecke, dann gilt: Der reine Aaron ist zum Vollzug des Kults berechtigt; das Volk, für das der Akt der Versöhnung vollzogen wurde, ist seinerseits priesterlich geworden, so dass der Sündenbockführer nicht ohne eigene Reinigung zu ihm zurückkehren kann. Lässt sich diese Interpretation halten, so ist im Arrangement des großen Versöhnungstages, evangelisch ausgedrückt, die Effektivität der dort geschehenden Rechtfertigung mit angelegt: Die Versöhnten werden anders, sie rücken in die Nähe der Heiligkeit Gottes, der man sich, kulttheologisch ausgedrückt, anders als rein nicht nähern darf. Um weniger als diese steile Behauptung scheint es nicht zu gehen. 3. Opfertiere: Die unterschiedliche Funktion der beiden Böcke – neben den anderen in Lev 16,5f erwähnten Opfertieren – ist oft beobachtet worden: Der eine stirbt für den Blutritus an כפּרתund Altar, der andere wird in die Wüste hinaus zum Azazel geführt. Neben mancherlei religionsgeschichtlichen Erwägungen, die hier angestellt werden können,96 ist für das Arrangement des großen Versöhnungstages vor allem wichtig, dass es dieser Tiere bedarf, weil ihnen offensichtlich eine Funktion als Überträger von etwas zukommt, was nicht mit ihnen identisch ist. Stellvertretung ist, jedenfalls nach dieser Logik, nicht denkbar ohne ein Medium der Übertragung. Nebeneffekt: Es mag sein, 96 Vgl. unter den Gesamtdarstellungen W.H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, NeukirchenVluyn 92004, 185–191 und H.D. Preuß, Theologie des Alten Testaments. Bd. 2: Israels Weg mit JHWH, Stuttgart u. a. 1992, 258–265, beide mit der Tendenz, das Opfer zugunsten der prophetischen und weisheitlichen Opferkritik als für die Religionsgeschichte des Juden- und Christentums im Prinzip überwindbares Stadium zu sehen.
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dass der Versöhnungstag Opferpraxis enthält, aber als ganzer ist er kein Opfer.97 Entsprechend flotte Verabschiedungen in einem Gestus der Hermeneutik des Verdachts oder der Empörung sind gegenstandslos. 4. Lokale Arrangements: Der große Versöhnungstag arbeitet mit einer Logik des ›nach innen‹ und ›nach außen‹. Nach der entsprechenden Vorbereitung seiner selbst (Waschung, eigene Kleidung) vollzieht Aaron zunächst einen mehrstufigen Ritus der Wiederannäherung an Heiligtum ([ קֹ ֶדשׁvon )]קדשׁund כפּרת:98 Die eigene Vorbereitung und der Vollzug von Sühne für sich selbst, (Lev 16,11–14) ist Bedingung der Möglichkeit, gleiches stellvertretend für das ganze Volk Israel zu tun. (Lev 16,15–17) Beide Teilriten sind so angelegt, dass Aaron von außen, aus der gleichsam normalen Welt zur im Innersten des Begegnungszelts lokalisierten Präsenz JHWHs vordringt, einschließlich der verzögernden Maßnahme, dass er ein dichtes Räucherwerk benötigt, um nicht unentsühnt vor die zu treten, deren Anblick er nicht überleben würde, (Lev 16,13) zweifellos eine Anspielung auf den Tod der Söhne Aarons (Lev 16,1) und Moses’ vergebliches Begehren, Gott zu schauen (Ex 33,12–23). Erst nach dieser Vorbereitung kann er, nun offenbar ohne das den zuvor Unreinen schützende Räucherwerk noch zu benötigen, an der כפּרתden Besprengungsritus vollziehen. (Lev 16,16f) Damit beginnt der Weg nach außen: Nach der Besprengung des Altars stemmt Aaron einem zweiten Bock die Hände auf, spricht über ihm die Sünden Israels aus und lässt ihn in die Wüste bzw. zu Azazel bringen. (Lev 16,20ff) – Diese räumliche Logik kann wohl kaum zufällig sein: Das neue sich-Nahen unter Beachtung etlicher Kautelen und um die wirksame Entfernung dessen, was mit dem wegzujagenden Bock gemeint ist, stehen gegengleich zueinander.99 5. Übertragungssymbolik I. Blut: Der erste Bock wird getötet. Die Tötungshandlung ist aber nicht an sich sinnvoll, sondern Mittel zum Zweck, weil sie es ermöglicht, das Blut des Bockes an den Ladedeckel zu sprengen, genauso später an den Altar. Ich konzentriere mich auf ersteres, weil es sichtlich die 97 Vgl. H. Seebaß, Art. Opfer II. Altes Testament, TRE 25, 258–267, 263. 98 Die Übersetzungscrux ist wohl unlösbar. »Gnadenthron« (Luther 1984) erinnert stark an Jerusalemer Tempeltheologie, der das Setting der Szene am Sinai entgegengehalten werden muss. Martin Buber und Franz Rosenzweig schlagen »Verdeck« vor. Dies hat mindestens den Vorteil, dass nicht ein religiöser Gebrauchsgegenstand insinuiert wird – im Gegenteil handelt es sich um eine provozierend ›weltliche‹ Übersetzung, vgl. M. Buber/F. Rosenzweig, Die fünf Bücher der Weisung, Köln 1954, 317. 99 Diese Gegenbewegung nicht gesehen zu haben, gehört zu den Unzulänglichkeiten der kleinen Studie zum Thema, die Ralf Frisch und ich vor etlichen Jahren vorlegten, vgl. R. Frisch/M. Hailer, Ich ist ein Anderer. Zur Rede von Stellvertretung und Opfer in der Christologie, NZSTh 41 (1999), 62–77. Ich hoffe allerdings zeigen zu können, dass die dort skizzierte Idee vom dezentrierten und stellvertretenen Subjekt durchaus richtig ist und zu den großen Stärken einer Theologie der Stellvertretung gehört.
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Kernhandlung der Bewegung des Kults ›nach innen‹ darstellt. Ganz offensichtlich steht der Bock hier nicht für sich selbst. Den Schlüssel dazu dürfte Lev 17,11 darstellen. Hier wird im Kontext des Verbots des Blutgenusses eine überaus enge Verbindung zwischen Blut und Seele hergestellt: »Denn die Seele ( )נפשׁdes Fleisches, im Blut ( )דםist sie; ich tat sie für euch auf den Altar, um zu bedecken ( )כפרauf/für eure Seelen, denn das Blut, es bedeckt ( )כפרfür die Seele.« Die Übersetzungsprobleme dieses Verses dürften neben der Wortbedeutung von כפרvor allem in den Präpositionen liegen, die die genaue Zuordnung von דםund נפשׁregeln. Deutlich ist aber jedenfalls, dass das Opferblut die Seele repräsentiert. In denkbar dichter Weise ist also der im Blutritus präsent, für den es versprengt wird. Die Übertragung Seele-Blut ermöglicht die Anwesenheit des Vertretenen an einem Ort, an dem er nicht war und im Rahmen seiner alltäglichen Körperlichkeit auch derzeit nicht ist. 6. Ladedeckel/ כפּרתNach Ex 25,17–22 handelt es sich um den goldenen Deckel der Bundeslade, zugleich der Ort irdischer Präsenz JHWHs, da von ihm alle Weisungen JHWHs für Israel ausgehen. Beim Ritual des Versöhnungstages wird die כפּרתjedoch inaktiv vorgestellt: Es genügt gleichsam, dass sie vorhanden ist und dass das Opferblut als Unterpfand der Seele der Israeliten vor ihr und auf sie appliziert werden darf.100 7. Übertragungssymbolik II. Handaufstemmung: Diese Identifikationsfigur ist wohlbekannt. Durch den körperlichen Kontakt zum Sündenbock und durch das Bekenntnis der Missetaten werden diese vor Gott und Mensch hörbar. Zugleich ermöglicht diese Identifikation auch die Distanzierung des Täters von der Missetat. Gleich ob ein körperliches ›Übergehen‹ der Tat auf den Bock nun gedacht wird oder ob es sich um eine Figur der Veranschaulichung handelt: Dass der Bock in die Wüste geführt wird und dass der Bockführer sich anschließend reinigen muss, steht für die Entfernung der Sündhaftigkeit von dem, der sie beging und bekannte. Dieses Element aus Lev 16 hat bekanntlich seinen Weg gemacht bis hinein in Theologie und Praxis der Beichte.101 Für die Interpretation dieses Lossprechungsrituals dürfte seine Vernetzung im Rahmen des Gesamtrituals von Lev 16 entscheidend sein: Der 100 Für das kanonische Gedächtnis Israels ist die כפּרתnicht als Gegenstand interessant, sondern dass Gottes Offenbarung stattfindet, die oberhalb der כפּרתund nicht etwa im Gegenstand stattfindet. Der Gegenstand ist verzichtbar, unverzichtbar ist allerdings, dass es Orte, Zeiten und Wege gibt, »durch die der lebendige Gott eine Kommunikationsmöglichkeit eröffnet.« Hieke, Levitikus 575. 101 Knappe Hinweise bei P. Zimmerling, Studienbuch Beichte, Göttingen 2009, 16–20. In ders., Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 2003, 222ff wird die Beichte unter die sakramentalen Formen evangelischer Spiritualität gerechnet. Eigentümlicherweise fehlt ein Hinweis auf diese exegetische Basis in den differenzierten Erwägungen bei C. Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, Berlin/ New York 2009, 493–512.
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Versöhnungstag besteht eben nicht nur aus der Übertragung der Sünde auf den Bock und dessen Entfernung. Wäre es allein so, dann wäre Dietrich Bonhoeffers in sich durchaus problematischer Vorwurf der ›billigen Gnade‹ wohl kaum abzuwehren, auch träfen dann René Girards Beobachtungen zum Sündenbockmechanismus als Selbsterhaltungsstrategie einer Gemeinschaft auf Kosten eines Opfers auf dieses Ritual zu.102 8. Volk: עםbzw. die בני ישראלwerden mehrfach erwähnt, und zwar sowohl direkt als auch vertreten. Auf letzterem hat das Augenmerk zu ruhen: Einmal findet das Volk sich gleichsam verdichtet in der Person des Hohepriesters vertreten. Er agiert in persona aller בני ישראלsowohl beim Blutritus im Heiligtum als auch beim Sündenbockritus. Außerdem wird eigens betont, dass die beiden Böcke aus der עדהIsraels stammen (Lev 16,5) und entsprechend für jede/n und die Gemeinschaft stehen. Israel ist also der Stellvertretung vor dem Angesicht Gottes bedürftig – und fähig! Es gehört zur Logik des großen Versöhnungstags, dass die בני ישראלin Entfernung von sich selbst sich selbst anschauen können und dass in Entfernung von sich selbst sie etwas tun können und sich etwas für sie ereignet. Außer sich sind die Israeliten bei sich; genauer: Erst außer sich sind die Israeliten bei sich. Der Stellvertretung durch Aaron bzw. die Opfertiere wohnt also ein Moment der Exteriorität ein. Selbsthabe gibt es nur durch nicht-Selbsthabe. Die Rede von der Spiritualisierung des Ritus bzw. die Betonung der prophetischen und weisheitlichen Kritik des Opfers ist vorschnell und einseitig, wenn sie dieses basale Element im Ritus des großen Versöhnungstags zu verdecken unternimmt.103 9. Zeitliche Arrangements: Schon hingewiesen wurde auf die zeitliche Rückprojektion. Im Ritus des Versöhnungstages werden die Beteiligten in das Ereignisgeflecht des Aufenthalts am Sinai versetzt und es findet auch zeitlich ein Neuanfang statt. Das kontrastiert nun mit der Anweisung, den Ritus jährlich und auf ewig als besonderen Sabbat ( )שׁבת שׁבתוןzu feiern. (Lev 16,29.31) Der Rückgang in die Anfangssituation ist also wiederkehrende Möglichkeit. – Das zweite in Lev 16 zu findende Zeitarrangement ist die Abfolge der kultischen Handlung selbst: Wenig überraschend steht jeweils die Vorbereitung = Reinigung vor der zu vollziehenden Handlung. Die Reihung der beiden Hauptritenteile ist freilich sprechend: Der Entfernung des Sündenbocks geht der Blutritus voraus. Da das Blut, wie gesehen, für die נפשׁ Israels steht, ergibt sich: Zuerst wird der innige Kontakt zwischen den Kin102 D. Bonhoeffer, Nachfolge, DBW 4, Gütersloh 22005, 29–43; Girard, Sündenbock 66.68 u. ö. 103 Mindestens tendenziell so bei Schmidt, Alttestamentlicher Glaube 188–191. Diese häufiger anzutreffende Abwehrhaltung dürfte auch damit zusammenhängen, dass Lev 16 umstandslos als Opfer verstanden wird. Ist an der hier vorgenommenen Betrachtung der einzelnen Züge dieses Ritus’ aber irgendetwas plausibel, dann dürfte diese Charakterisierung nicht zu halten sein.
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dern Israels und JHWH am Ort seiner irdischen Präsenz wiederhergestellt, erst dann erfolgt bzw. kann die wirksame Lossprechung von den Verfehlungen. Im Ganzen haben wir es offenbar mit einem komplexen Geflecht ritueller Handlungen zu tun. Der Blick auf das Gesamtgeflecht zeigt zunächst, dass die Beschreibung von Lev 16 als ›Opfer‹ falsch wäre. Der Text enthält wohl Elemente, die gewöhnlich der Opfersprache zugeschlagen werden, etwa die Auswahl eines Tieres, seine Tötung und der rituelle Umgang mit Teilen des getöteten Tieres. Das Ritualgeflecht aber darauf zu reduzieren, wäre eine Fehlabstraktion. Ebenso spricht nichts für den Verdacht, hier werde eine Opferhandlung vollzogen, um Gottes Zorn durch die Darbringung einer Gabe zu stillen.104 Die Kategorie des Opfers und seiner möglichen Unterarten trägt zum Skopus der Passage bei, erklärt ihn aber nicht allein. Zu nennen ist wohl mindestens dies: Dass durch das Opfer Kontakt zu JHWH gesucht und gefunden wird, ist zunächst als Kritik an der religiösen Vorstellung zu verstehen, es gebe Kontakt zu Gott von Natur aus oder mit Hilfe mythisch-vorzeitlicher Vorstellungen.105 Auch setzt die Semantik des Opfers mit, dass die Präsenz und Wirksamkeit Gottes zu Gastfreundlichkeit seitens der Israeliten aufruft. Gastfreundschaft ist Ausdruck der Ehrerbietung, einschließlich dessen, dass der ›Ort‹ an den der Gast kommt, für ihn in geeigneter Weise vorbereitet und gereinigt wird. Diese Vorbereitung gilt nicht zuletzt für den menschlichen Gastgeber selbst, der sich reinigt und bereitet, um den Gast nicht unvorbereitet zu empfangen.106 In ihren Studien zum Begriff des Opfers hat Sigrid Brandt auf eine ganze Reihe weiterer systematischer Aspekte der biblischen Opfervorstellung aufmerksam gemacht. Zuerst trennt sie zwischen Opfer einerseits und Gabe andererseits. Die Gabe gehört einer Logik von Reziprozität an, weil sie letztlich im Rahmen der menschlichen Tauschverhältnisse angesiedelt ist. Opfer aber sprengt jedes Kalkül von Gegenseitigkeit und ist letztlich »Darbringungen oder Investitionen von Leben und Lebensressourcen«.107 Ferner schlägt Brandt eine Struktur des Opfers vor, die über die üblichen einfachen Wahrnehmungen weit hinausgeht: (1) Opferspender, (2) Opfervollzieher, (3) Opferempfänger, (4) Opfergabe, (5) Opfernutznießer.108 Für Lev 16 ist u. a. die Differenz von (1) und 104 Eine Auswahl von Stimmen bei Janowski, Gott 292–297. 105 A. Marx, Opferlogik im alten Israel, in: Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, hg. von B. Janowski und M. Welker, Frankfurt/M. 2000, 129–149, 132f. 106 Marx, Opferlogik 141–145. 107 S. Brandt, Hat es sachlich und theologisch Sinn, vom »Opfer« zu reden?, in: Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, hg. von B. Janowski und M. Welker, Frankfurt/M. 2000, 247–281, 250, i.O.herv. 108 S. Brandt, Opfer als Gedächtnis. Auf dem Weg zu einer befreienden theologischen Rede vom Opfer, Münster u. a. 2001, 359–361, dies., von »Opfer« zu reden 251f. Für Brandts Darstellung des Versöhnungstages vgl. Opfer als Gedächtnis 128–132.
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(2) wichtig, weil der Hohepriester zwar für das Volk agiert, also (2) für (1), ihre umstandslose Ineinssetzung aber durch das für die Passage grundlegende Sündenverständnis kürzen würde. Auch wichtig ist die Differenz von (3) und (5): Die übliche Opferkritik setzt die beiden ineins und behauptet, dass Opfervorstellungen die Zufriedenstellung der Gottheit lehren, was sich jedoch als evident unsinnig erweisen wird. Die Pointe der biblischen Rede vom Opfer sieht Brandt im heilvollen Wiederzusammenbringen von Gott und Mensch: »Theologisch hat es meines Erachtens Sinn, vom Opfer zu reden, wenn dabei betont wird, daß die biblischen Überlieferungen vom Opfer überwiegend den heilvollen Zusammenhang (1) des Lebens der Menschen aus, durch und für Gott und (2) des ›Lebens‹ Gottes bzw. seines Namens aus durch und für die Menschen zur Sprache bringen.«109 Teilthese (1) wird plausibel, wenn sich zeigen lässt, dass Sühne als Heils- und nicht als Strafgeschehen zu lesen ist, Teilthese (2) bezieht sich u. a. auf die Idee des spiritualisierten Opfers, bei der das eigene Leben nicht dahingegeben, sondern zur Erfüllung des Willens Gottes eingesetzt werden soll.110 Beides schließt sachlich eng an die hier zu entwickelnde Vorstellung der inklusiven Stellvertretung an.
Der Skopus der Passage ist jedoch nicht von der Semantik des Opfers allein, sondern von der Eigenart der rituellen Vollzüge her zu bestimmen. Sie sind vielgestaltig – u. a. Reinigen, Umkleiden, Loswerfen, Schlachten, Räuchern, Besprengen, Handaufstemmen, Verbrennen, Sprechen, diverse Ortswechsel und den Gebrauch von Gegenständen nicht zu vergessen –, kommen aber doch in einer Funktion zusammen: All diese rituellen Vollzüge inszenieren die Dialektik von Identifikation und Distanzierung. Und genau diese Dialektik wird sich als soteriologisch relevant erweisen. Das kann an Einzelzügen durchgespielt werden, beginnend z. B. mit der Figur Aarons. Er dient allen Israeliten zunächst als Identifikationsfigur. In ihm als Korporativpersönlichkeit tritt ganz Israel vor Gottes Angesicht, vollzieht die rituelle Wiederannäherung durch den Besprengungsritus, bekennt seine Sünden und erwirbt neuen Zugang zum Allerheiligsten und zum Altar. Diese starke und – unmittelbar einsichtig – soteriologisch relevante Identifizierung funktioniert allerdings nur durch ein gegengelagertes Moment der Distanzierung: Es ist eben nur Aaron, der hier stellvertretend für die Israeliten agiert. Als Distanzierungssignale kommen Waschung und rituelle Kleidung zum Einsatz, im kanonischen Kontext überdies die ganze Priester- und Levitengesetzgebung.111 Das unter109 Brandt, von »Opfer« zu reden 278. 110 Brandt, Opfer als Gedächtnis 111–120; dies., von »Opfer« zu reden 257–262. 111 Ex 28f; 39; Lev 8f; 21; Num 3f; 8,5–26; 18; 35,1–15; Dtn 10,6–9; 18,1–8, für eine Übersicht vgl. Preuß, Theologie 2, 56–71. Im letzten Satz des Abschnitts macht Preuß freilich eine zu einfache Unterscheidung auf: »In der Spannung zwischen Priestertum und Propheten geht es letztlich um die Spannung zwischen dem gekommenen und dem kommenden Gott.« (71) Für die alltägliche Opferpraxis am Jerusalemer Tempel mag das gegolten haben, die literarische Fiktion von Lev 16 streicht dies aber geradewegs durch und inszeniert das je neue Kommen JHWHs zu seinem Volk.
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streicht: Aarons Ort und Handlungsvollzüge geschehen zwar für die Israeliten, sind aber genau nicht die Möglichkeit eines jeden. Denn Aaron nähert sich dem und steht an dem Ort, an dem die Israeliten wegen sündhaften Versagens nicht stehen und nicht stehen können: In der unmittelbaren Nähe zu Gott. Indem sie sich mit Aaron identifizieren und ihn zugleich durch die Distanzierungssignale des Priesteramts von sich abrücken, ermöglichen sie ihm, die gnadenhafte Nähe zu Gott aufs Neue Wirklichkeit werden zu lassen. In der Terminologie von Christof Gestrich (s. o. II.1) ist Aaron damit hauptsächlich der Repräsentant seines Volkes: »Mein Repräsentant aber läßt mich einen weiteren Ort, eine weitere Anwesenheit gewinnen.«112 Qua sündhafter Verfehlung können die Israeliten nicht in der unmittelbaren Nähe JHWHs sein, der entsprechend ausgewählte und vorbereitete Aaron ermöglicht ihnen aber stellvertretend die Anwesenheit an diesem Ort. Das schließt freilich ein Moment des Vikariats in Gestrichs Sinne durchaus ein: Von der unmittelbaren Handlung der Wiedergewinnung der unverstellten Nähe zu Gott und dem Bekenntnis der Sünde sind die Israeliten befreit: Als Vikar kann er handeln, weil er Repräsentant ist. Die Dialektik von Identifizierung und Distanzierung ist beim Sündenbockritus besonders deutlich: Durch den Akt der Handaufstemmung und durch die Formulierung der Sünden der Israeliten findet die Identifikation statt: Dies sind, vor Gott und Mensch deutlich vor Augen und Ohren gestellt, die Sünden der Israeliten, sie werden weder verschwiegen, noch verstecken sich die Bekenner wie das Urelternpaar im Garten. Die Identifikation ist hier identisch mit der Herstellung von Öffentlichkeit: Vor Gott und Menschen wird die Sünde ausgesprochen und durch den Akt der rituellen Übertragung auch sichtbar gemacht. Nicht thematisiert wird, aber durchaus denkbar ist die Implikation, dass einige oder viele der בני ישראלder Meinung sein könnten, es ginge gar nicht um sie, da sie vor Gott tadellos gelebt hätten. Denen mutet – wenn denn diese hamartiologische Eintragung denn erlaubt ist – das identifizierende Moment im Sündenbockritus zu, dass es auch um sie geht. Das auf peinvolle Weise augenöffnende Moment der Erkenntnis: ( אתה האישׂ2Sam 12,7) zieht auch diejenigen in diese Öffentlichkeit, die es gern für sich ablehnen würden. Wiederum ist mit der Identifikation zugleich die Möglichkeit der Distanzierung verbunden. Präzise als ausgesprochene und rituell sichtbar gemachte wird die Sünde zu einer Größe, die ›abgeschoben‹ werden kann. Aus der Psychologie ist wohlvertraut, dass die reife Distanzierung von einem belastenden Ereigniszusammenhang genau nicht in seiner Verdrängung, sondern in seiner Namhaftmachung und Durcharbeitung besteht. Daran zu denken, ist vom Setting von 112 C. Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen 2001, 219.
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Lev 16 her durchaus möglich, obschon der Ritus gewiss keine psychologisierenden Akzente setzt. Wichtiger scheint mir folgender Aspekt zu sein: Das dialektische Widerspiel von Identifikation und Distanzierung in Sachen der עונת בני ישראלmacht durchaus den Ernst des Themas ›Sünde‹ deutlich, wie er hier eingespielt wird: Offenkundig ist Sünde keine Banalität. Sie steht in der Tat äußerst störend zwischen JHWH und seinem Volk und hat die Beziehung zerrüttet. Vergebung ist entsprechend nicht damit identisch, Sünde nicht als Sünde zu benennen und sie also herunterzuspielen. Darauf kommt leider oft genug die Predigt von der Sündenvergebung herunter: Als sei Gottes Güte von der Art, dass er huldvoll nicht als Verfehlung ansehe, was doch Verfehlung ist und gleichsam in einem Akt des ›Schwamm drüber!‹ den Neuanfang ermögliche. So mit der Logik von Lev 16 nun gewiss nicht. Die Identifikation/Distanzierung durch den Beginn des Sündenbockrituals ermöglicht vielmehr erst die, wenn man so will, hamartiologische Sachlichkeit: Nicht die Israeliten, wohl aber ihre Verfehlungen stehen unter Anklage. Das macht es allererst möglich, sie zu benennen, ohne sich selbst verwünschen zu müssen. Also ist bereits die Möglichkeit, den Sündenbockritus überhaupt zu beginnen, Ausdruck von JHWHs gnadenhafter Zuwendung. A fortiori gilt das für den zweiten Akt des Sündenbockritus: Benannt und rituell übertragen wird das, was zwischen Gott und Mensch/Volk stand, davongeführt, so dass der – rituell in der Architektonik des Zeltes der Begegnung gefasste – Raum zwischen Gott und Mensch wieder unverstellt und offen ist.113 Diese Interpretation von Lev 16 erlaubt es, einem häufiger gescholtenen als gelesenen Klassiker Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Anselm von Canterbury spricht in ›Cur Deus homo‹ bekanntlich von der Ehre Gottes, die durch die menschliche Sünde beleidigt worden sei und nun wiederhergestellt werden müsse. Einzuräumen hat man wohl: Nicht alle Einzelzüge von Anselms Argumentation wenden sich gegen das Missverständnis, Gott verlange ein Opfer, um von seinem gekränkten Stolz ablassen zu können, so dass er an den lange eingespielten Kritikmustern, er lehre einen zornigen Gott, der nur durch das Opfer seines eigenen Sohnes zu versöhnen sei, nicht ganz unschuldig ist. Für den Kern seiner Argumentation trifft dies aber nicht zu: Anselm betrachtet nicht nur die Sünder/innen, sondern auch die gleichsam objektive Seite der Sünde, also ihre Auswirkung auf die Schöpfung, und findet bei beiden, dass das Faktum der Sünde sehr wohl einen Unterschied mache. Betreffs der Sünder heißt die Auskunft: Ließe Gott die Sünde konsequenzlos ab, dann würde er Sünder und nicht-Sünder genau gleich ansehen: »similiter erit apud deum peccanti et non peccanti«, was Anselm fast schon lakonisch kommentiert: »quod deo non convenit.«114 Im Labor des Anselm’schen Gedankenexperiments ist die Existenz von nicht-Sündern vorgesehen. In der Tat wäre es absurd, wenn Gott Sünder und Sündenfreie genau gleich ansähe, denn dann wäre das gleichgültig, was seinem Willen und Wesen widerspricht. Das gilt noch deutlicher, wenn 113 Vgl. die Skizze bei Janowski, Gott 304. 114 Anselm von Canterbury, Cur Deus homo. Warum Gott Mensch geworden, hg. von F.S. Schmitt, OSB, Darmstadt 51993, 42 (I.12)
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Anselm sich der objektiven Seite der Sünde zuwendet: Sünde zerstört die Ordnung der Schöpfung. Deshalb, aus diesem Realgrund, beleidigt sie die Ehre Gottes. Kann Gott aber die Ordnung seines Reiches gleichgültig sein?115 Dann müsste seine Güte von der Art sein, dass ihr das, was er geschaffen hat, egal ist. Diesen Widerspruch, der einem Selbstwiderspruch Gottes gleichkäme, kann Anselm keineswegs gelten lassen und deswegen betont er, dass geschehene Sünde durch den Gnadenakt nicht einfach für ungeschehen erklärt wird.116 Das allein genügt zur Rettung des Anselm’schen Modells natürlich nicht. Es zeigt aber doch in aller Deutlichkeit ein Verstehensproblem der Gegenseite auf: Darf Gottes Zorn über die Verheerung der Sünde nicht gedacht werden, dann läuft es nachgerade zwangsläufig auf eine Verharmlosungsstrategie der Sünde gegenüber hinaus.117
Noch ein drittes Element aus der Gestaltung des großen Versöhnungstages soll auf seine Dialektik von Identifikation und Distanzierung hin befragt werden, die Übertragung der Seele auf das Blut und damit die Ermöglichung des Besprengungsritus am Deckel der Bundeslade. Dass die Seele des Fleisches im Blut sei, (Lev 17,11) könnte man zunächst als einen Akt primitiver antiker Psychologie deuten: Es werde eben angenommen, dass es so etwas wie ein Personzentrum gebe und bei der Frage nach der Veranschaulichung oder Verortung sei aus phänotypisch naheliegenden Gründen an das Blut der höheren Tiere und Menschen gedacht worden. Wer so interpretiert, lässt zumeist mitschwingen, dass es sich kaum um ein überzeugendes Argument handelt und streitet etwa für die Unkörperlichkeit der Seele. Freilich legt schon der unmittelbare Kontext im Rahmen von Lev 17,11 nahe, dass die für moderne Leser befremdliche Identifikation von Seele und Blut ihren Sitz im Leben im kultischen Kontext hat. Sollte es sich überhaupt um eine Ontologie der Seele handeln, dann um eine, die sich im kultischen Kontext und nur in ihm erschließt. Dies konzediert, ergibt sich zwanglos: Die Identifikation von נפשׁund דםgeht einher mit der Möglichkeit, dass die נפשׁeines Menschen an einem Ort anwesend ist, an dem dieser Mensch nicht ist: Distanzierung ermöglicht Stellvertretung, so wie die Identifikation das Stellvertreten-werden ermöglicht. Der Besprengungsritus zeigt das im eminenten Maße: Durch die Sünde von JHWH getrennt, wird die נפשׁder Israeliten per Identifikation mit dem Blut und Vollzug des Besprengungsritus wieder in die 115 »Deum vero non decet aliquid inordinatum in suo regno dimittere.« Die Antwort des virtuellen Dialogpartners greift das Hauptstichwort auf: »Si aliud volo dicere, timeo peccare.« (Ebd.) 116 » (…) nec benignitas [dei, M.H.] dicenda est quae aliquid indecens deo operatur.« Anselm, Cur Deus homo 44 (I.12). 117 Vgl. die umsichtige Rekonstruktion der Rede vom Zorn Gottes bei R. Miggelbrink, Der zornige Gott. Die Bedeutung einer anstößigen biblischen Tradition, Darmstadt 2002, bes. 142–161. Diese Studie und die ihr zu Grunde liegende größere aus dem Jahr 2000 verdienen angesichts der genauso heftigen wie uninformierten Angriffe von Peter Sloterdijk nach wie vor Aufmerksamkeit, vgl. P. Sloterdijk, Zorn und Zeit, Frankfurt/M. 2008, 113–169.
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denkbar engste Nähe zum Ort der irdischen Anwesenheit JHWHs gebracht: Ohne dass Aaron diesen berühren würde, vollzieht er im Besprengungsritus das Zueinanderkommen von Gott und Mensch.118 Das Verb כפרin seiner Grundbedeutung ›bedecken‹ ist also dann wesentlich dies: Blut/Seele bedeckt den Ladedeckel, Mensch und Gott kommen zu neuer, unverstellter Einheit zusammen, wobei durch die Besprengung die Unnahbarkeit/Unberührbarkeit Gottes gewahrt bleibt. Ist das zutreffend, so gilt: ›sühnen‹, wie כפרhäufig übersetzt wird, ist in seinem Kern das Wiederzusammenbringen von JHWH und Mensch, die durch Sünde getrennt wurden, ermöglicht durch die Dialektik von Identifikation und Distanzierung. כפרkommt in Lev 16 zehnmal vor uns ist zweifelsohne eines der Schlüsselwörter des Kapitels. Thomas Hieke schlägt im Glossar seines Kommentars die Übersetzung ›Versöhnung erwirken‹ vor. Damit soll die von der Etymologie des deutschen ›sühnen‹ naheliegende Bedeutung ›eine Ersatzleistung erbringen‹ ausgeschaltet werden. Die englischen Begriffe ›atonement‹ und ›to reconcile‹ bringen das Gemeinte deutlicher zum Ausdruck als der deutsche mit seiner etymologischen Erblast. Hieke bezieht sich zunächst auf eine Formulierung aus Bernd Janowskis grundlegend gewordener Studie: כפרmeint »die von Gott her ermöglichte, im kultischen Geschehen Wirklichkeit werdende und hier dem Menschen zugutekommende Aufhebung des Sünde-Unheil-Zusammenhangs«.119 כפרheißt dann »›Versöhnung erwirken‹ im Sinne von ›mit Gott überein kommen, eins werden‹, aber auch ›mit der Kultgemeinde‹ (wieder) eins werden‹.«120 Das ist eine Feststellung von Gewicht: ›Versöhnung erwirken‹ ist erstens frei von der unseligen Vorstellung der Ersatzleistung. Zweitens macht es dann die Mehrdimensionalität des Ereignisses deutlich: Versöhnung findet dann nicht nur in der Mensch-Gott-Beziehung statt, sondern hat einen sozialen Aspekt: Das wieder unverstellt gewordene Gottesverhältnis konstituiert auch das Volk Gottes untereinander zu dem, was es eigentlich ist: Die Gemeinschaft der von JHWH zu stellvertretendem Dienst Erwählten. Die »grundsätzliche ›Reinigung‹ und Vorbereitung zur Kommunikation mit Gott« hat also stets auch eine soziale/sozialethische Bedeutung.121 Es gibt freilich auch andere Stimmen, interessanterweise aus der jüdischen Exegese: In der Interpretation Baruch A. Levines steht nicht die Präsenz der Israeliten vor JHWH im Zentrum, sondern nahezu ausschließlich die rituelle Reinigung des Heiligtums. Zu Lev 16,16b merkt er an: »This was the concession made by God out of His love for Israel. He allowed His people to build an earthly residence for Him, on condition that its purity be 118 »Der Blutritus hat die Funktion, eine Beziehung manifest zu machen.« Hieke, Levitikus 582. 119 B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterlichen Sühnetheologie, Neukirchen-Vluyn 22002, 359, i.O.teilw.herv. 120 Hieke, Levitikus 133. 121 Hieke, Levitikus 135. Es ist nicht allzu weit hergeholt, diesen Aspekt auch für die christliche Kultgemeinde in der Feier des Abendmahls zu betonen. Dass der Empfang des Mahls die Kommunikanten zu berufenen Brüdern und Schwestern macht, gerät da in Vergessenheit, wo die Abendmahlsparänese die individuelle Sündenvergebung einseitig in den Vordergrund rückt.
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strictly maintained. In a very real sense, this was the primary purpose of the entire biblical ritual of Yom Kippur.«122 Entsprechend heißt es vom Sündenbockritus, dass er »[a]fter completing the purification of the sanctuary« stattfindet und »a second mode of purification, that of riddance« darstellt.123 Levine kombiniert dies mit einer Wahrnehmung von Lev 17,11 (Repräsentation von Seele/Persönlichkeit durch Blut) im Rahmen der Logik von Verfehlung und Ersatzleistung: Das Tierblut ist Ersatz für Menschenblut. Das ist zum Schutz menschlichen Lebens nötig, weil man in der Nähe Gottes immer in der Gefahr sei, Opfer seines Zorns zu werden. Der Besprengungsritus wird dann zur Ersatzhandlung in Fällen kultischer Verunreinigung: Lev 17,11 regelt, »how animal blood can substitute for the life of an offender in situations where criminal penalties cannot be imposed. The use of sacrificial blood on the altar has a similar effect in cases of unintentional religious offenses.«124 Die zugehörige Gotteslehre ist eindeutig: »[T]he blood of the sacrifice offered on the altar ist the ›life‹ of the sacrifice and can stand in place of human life. God accepts it in lieu of human life and grants expiation or refrains from wrath.«125 – Die christliche Exegese wird sich von dieser Wahrnehmung mindestens sagen lassen müssen, dass sie den Aspekt der Reinheit des Heiligtums arg an die Seite rückt, auch wenn das aus Gründen der neutestamentlichen Perspektivierung vielleicht verständlich ist. Die umstandslose Verknüpfung von Lev 17,11 mit der Idee einer göttlichen Ersatzforderung wird dadurch aber nicht plausibler.
Mindestens zur maßgeblich von Hartmut Gese und Bernd Janowski entwickelten und weithin akzeptierten Sicht des alttestamentlichen Versöhnungsverständnisses sollte die hier entwickelte Darstellung kompatibel sein: »[I]n dem zeichenhaften Blutritus (…) wird das schuldig gewordene Israel in Kontakt mit dem sich auf der kapporæt offenbarenden Gott gebracht: ›In einer Zeremonie, die das Nahekommen zu Gott bis zur letzten materiellen Berührung verdichtet und doch die äußerste Sublimität der Berührung in der Sprengung des Tropfens wahrt, wird das Urphänomen der heiligenden Gottesbegegnung vollzogen, der Kontakt des sich offenbarenden Gottes und des sich ganz und gar hingebenden Menschen.‹ Dies ist das Herzstück des großen Versöhnungstags! Die kostbarste Gabe, die JHWH seinem Volk zur Versöhnung gegeben hat, ist das tierische Blut, in dem, wie Lev 17,11 konstatiert, das ›Leben‹ bzw. die ›Lebenskraft, Vitalität‹ (næpæsˇ) ist (…). Im Zentrum des Begegnungszeltes findet damit eine Gottesbegegnung statt, deren kultsymbolische Bedeutung nicht zu überbieten ist.«126 122 B.A. Levine, Leviticus ויקרא. The JPS Torah Commentary, Philadelphia u. a. 5749/1989, 105. 123 Levine, Leviticus 106. 124 Levine, Leviticus 115. Für eine bestimmte Epoche unterstützt wird diese Sicht von Hermann Spieckermann und Reinhard Feldmeier: »Die priesterliche Theologie der nachexilischen Zeit konzentriert sich auf die Ermöglichung der Gottesgegenwart im Tempel durch Beseitigung der Sünde mit Hilfe von Opfer und Sühne«, weshalb man besser vom »Tag der Sühnung« als vom »Versöhnungstag« sprechen sollte, vgl. R. Feldmeier/H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2011, 310, vgl. 314–316. 125 Levine, Leviticus 116. 126 Janowski, Gott 307. Der zweite Satz ist ein Zitat aus H. Gese, Zur biblischen Theologie.
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Die Dialektik von Identifikation und Distanzierung ermöglicht das Verständnis, wie Versöhnung laut Lev 16 geschieht. Was aber Versöhnung ist, ist bis auf die erste Näherung, JHWH gewähre die Nähe zu ihm aufs Neue, noch nicht hinreichend thematisiert worden. Einer Paraphrase der Gese/Janowski’schen Deutung des Versöhnungsgeschehens verdanke ich den Hinweis, dass diese Näherbeschreibung ein durchaus bekanntes kontroverstheologisches Thema aufruft: Verändert Gnade, so heißt es, die Person oder ist sie doch wesentlich Wegnahme der Sünde, wobei die Person des Sünders letztlich nicht in einen Veränderungsprozess hineingezogen wird?127 Beide Denkmöglichkeiten finden im Text von Lev 16 Anhalt. Wer sich vorstellt, dass das Wesen der Versöhnung darin besteht, das zwischen Gott und Mensch Vorgefallene zu entfernen, wird nahezu automatisch den Sündenbockritus in den Mittelpunkt der Interpretation rücken: Die rituelle Abfolge von Handaufstemmung, Bekenntnis und Wegführung des Bockes ist allemal deutlich genug. Man kann dann noch fragen, ob der Ritus eine Vorstellung von der Materialität der Sünde mit sich bringt und also die Entfernung der Sündenmaterie gedacht wird, oder ob es erlaubt ist, hier stärker spiritualisierend und/oder zeichenhaft zu denken. Der Kern bliebe in beiden Fällen die Idee, dass die Sünde gnadenhaft entfernt wurde, zugleich jedoch diejenigen, deren Sünde dies war, in ihrem Personzentrum wesentlich dieselben bleiben. »Eine grundlegende Änderung der Person des Sünders« wäre so nicht gedacht.128 Es ist mitnichten klein von der Versöhnung gedacht, wenn so konzipiert wird. Hier zeigt sich vielmehr eine anthropologische Vorannahme, die jeder Selbstüberhebung der Person Einhalt gebieten möchte. Martin Luthers Formel ›simul iustus et peccator‹ und ein entsprechend zurückhaltender Umgang mit der Rede von der Heiligung des Menschen kennzeichnen diese Position. Anhand der eben genannten Formel ist das gut zu studieren.129 Sie galt allerdings weithin als die Aussage schlechthin, die für den Wirklichkeitsverlust in Sachen Rechtfertigung steht. Gerechtfertigt, so geht das dann, sind wir nur in der Hoffnung. Und Hoffnung ist doch irgendwie Alttestamentliche Vorträge, Tübingen 31989, 104. Die Auslassungen paraphrasieren bzw. zitieren Lev 16,14f und 17,11. Die Formulierung ›Urphänomen der heiligenden Gottesbegegnung‹ scheint mir freilich unglücklich gewählt – es geht ja gerade nicht um ein seit jeher oder naturwüchsiges Geschehen der Gottesbegegnung. Vielmehr wird ihre Unverrrechenbarkeit und Geschenkhaftigkeit durch den hoch artifiziellen Ritus gerade unterstrichen. 127 Th. Knöppler, Sühne im Neuen Testament. Studien zum urchristlichen Verständnis der Heilsbedeutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2001, 13f. 128 Knöppler, Sühne 13. 129 Die Formel erscheint erstmals in der Römerbriefvorlesung von 1515/16: »simul peccator et Iustus; peccator re vera, Sed Iustus ex reputatione et promissione«, WA 56,272, vgl. WA 57,165. Später nimmt Luther wieder Bezug darauf, vgl. die 3. Antinomerdisputation von 1538, WA 39 I,523.542.563f. Bündig: »Reim da, wer reimen kan. Duo contraria in uno subiecto et in eodem puncto temporis.« WA 39 I,507.
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weltlos, wirklichkeitslos. In re, also in der Wirklichkeit, haben die Gerechtfertigten nie aufgehört, Sünder zu sein. – Das war nun gewiss überzeichnet, aber so wie diese Überzeichnung funktioniert die Formel tatsächlich, und zwar in der Fremdwahrnehmung wie in der Selbstwahrnehmung. Der katholische Standardvorwurf enthält genau dies: Evangelische Rechtfertigungslehre traut Gott keine wirklichkeitsverändernde Tat zu und flüchtet sich stattdessen in die weltlose spes. So sagen es die canones 11 und 14 des tridentinischen Rechtfertigungsdekrets und eine diesbezügliche Sorge prägt auch die katholische Position in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre.130 Vice versa macht es sich die evangelische Selbstwahrnehmung gern zu eigen und spricht davon, dass sie sich von einer Theologie fortschreitender Heiligkeit gern und willig unterscheidet und das iustus eben ›nur‹ in spe lehre. Dieser Selbst- und Fremdwahrnehmung ist aber zu widersprechen, und das aus der Mitte evangelischen Denkens heraus. Spes ist nicht weltfern und bloß gedanklich, res ist nicht automatisch wahr, wirklich und sinnvoll. Es verhält sich genau umgekehrt: Was in der Hoffnung geschieht, geschieht von Gott her und auf ihn zu. Und von dieser Hoffnung her fällt ein kritisches Licht auf das, was wir gewöhnlich für wahr, wirklich und sinnvoll halten. Die spes ist die kritische Theorie der res. In der Rechtfertigung sieht Gott den Menschen als das geheilte und gerechte Wesen an: Dieses Wesen könnte er sein, sollte er sein, wird er sein. Und das ist nicht weltlose Hoffnung, sondern so strahlt Gottes neue Welt in die alte hinein. Nochmal mit den beiden Begriffen gesagt: Die spes zeigt an, greift vor, macht sichtbar, was res ist im Reiche Gottes. Die spes ist Gottes neuer Äon. Sie qualifiziert die res zu dem, was sie vor Gott ist: alte Welt, vergehender Äon, fliehender Schatten.131 Der Satz ›peccator in re, iustus in spe‹ ist die Darstellung eines Dramas über das, was vor Gott und vor der Welt wirklich genannt zu werden verdient. Durch die Rechtfertigung ändert sich zwar nicht die Beschaffenheit des Gerechtfertigten und die Erfahrung, sich so alt, so unvollkommen und so schlecht zu fühlen wie zuvor, ist unausweichlich. Das ist in re. In spe aber heißt: Vor Gott sind wir andere geworden, für Gott sind wir andere. Die Existenz im Glauben stellt die gewohnte Existenz in Frage. Sie macht sie zum lediglich Vorläufigen, zum lediglich Vorletzten. Denn sie selbst ist der Ausgriff und Vorgriff auf das, was Gott für die 130 DH 1561 und 1564; Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999, div. Ausgaben), Nr. 30.33. Vgl. dazu aus katholischer Perspektive in ökumenischer Absicht D. Sattler, Ist ein Mensch trotz seines Lebens in Sünde gerecht(fertigt)? Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Verkündigung der Rechtfertigungsbotschaft heute, in: Von Gott angenommen – in Christus verwandelt. Die Rechtfertigungslehre im multilateralen ökumenischen Dialog, hg. von U. Swarat u. a., Frankfurt/M. 2006, 331–349, bes. 339ff mit der These, die simul-Formel sei als erfahrungsnah zu behaupten. 131 Vgl. K. Barth, KD IV/3, 416–421.
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Menschen bereitet hat. Die res wird den Gerechtfertigten immer wieder einholen und von ihr verschwindet er nicht. Aber vor und in Gott ist er in der spes, die sein Leben transformieren wird und die das eigentlich Wichtige ist.132 Zurückgespiegelt in die Lektüre von Lev 16 ergibt sich dann relativ zwanglos: Wenn man den Bezug auf das Sündenbockritual isoliert, ergibt sich durchaus das Risiko, einer zu engen Interpretation der simul-Formel aufzusitzen, die in die genannte Weltlosigkeit der spes münden würde. Die Verzahnung mit dem Besprengungsritus jedoch sollte diese Isolation verhindern: In ihm ist nun tatsächlich von der neu zugesprochenen Wirklichkeit für die Israeliten die Rede: Ihr Leben findet in der unmittelbaren Nähe des Heiligen statt.133 Eine kurze Standortbestimmung: Der Versuch, exegetischen Einsichten in einen Zentraltext der alttestamentlichen Vorstellung von Stellvertretung systematischtheologische Schlussfolgerungen abzugewinnen, ging von der ritualtheoretischen Einsicht aus, dass Riten komplexe Handlungsanweisungen sind, die Entscheidendes zwischen Mensch und Gott sowohl darstellen als auch verwirklichen. In diesem Sinne wurde Lev 16 – unter der dem systematischen Theologen vielleicht zugestehbaren weitestgehenden Abblendung der Frage nach Genese und historischem Ort des Textes – als in sich vielfach verzahnter und Menschen in ein Verweisungsfeld von Handlungen und Gegenständen hinziehender Text verstanden. Als unverzichtbarer Beitrag zu einer Theologie der Stellvertretung ist wohl mindestens das Folgende festzuhalten: 1. Die angesprochene Dialektik von Identifikation und Distanzierung macht es möglich, dass Menschen von sich selbst abrücken bzw. von sich selbst abgerückt werden können. Mitgesetzt ist die Behauptung, dass solche Vorgänge coram Deo von eminent heilshafter Art sind. 2. Eine religionstheoretische Implikation stellen die beschriebenen Übertragungssymboliken (Handaufstemmung bzw. Seele/Blut) dar: Evidentermaßen sind sie Bedingung der Möglichkeit der Dialektik von Identifikation und Distanzierung. Zu prüfen wäre, ob von dorther nicht ein neuer Blick auf Begriff und Thema der Religion geworfen werden könnte: Neuzeitlich wird ›Religion‹ zumeist anhand des Paradigmas des (unmittelbaren) Selbstbewusstseins bzw. der Innerlichkeit entworfen. Von Lev 16 aus gedacht, käme jedoch der praktische und intersubjektive Vollzug in den Blick, der beim neuzeitlichen Paradigma ins zweite Glied rückt oder gleich dem Verdikt purer 132 Vgl. B. McCormack, Participation in God, Yes, Deification, No. Two Modern Protestant Responses to an Ancient Question, in: Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre, hg. von I.U. Dalferth, Tübingen 2004, 347–374; D. Ritschl/M. Hailer, Grundkurs Christliche Theologie. Diesseits und jenseits der Worte, Neukirchen 42015, 221–224. 133 Nur noch einmal zur Sicherheit: Wer dies mit einer Straftötung verwechselte, würde den Sinn dieses Ritus gründlich korrumpieren.
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Äußerlichkeit anheimfällt. Wenn es aber richtig ist, dass Stellvertretung coram Deo soteriologische Relevanz hat, dürfte sich dieses wohl eingespielte Gefälle Innerlichkeit-Äußerlichkeit als falsch erweisen. 3. Die gegenseitige Verwiesenheit der beiden Hauptriten spricht, systematischtheologisch gewendet, gegen eine Isolation der forensischen Rechtfertigungslehre: Lev 16 inszeniert eben nicht nur die Wegnahme der menschlichen Schuld, sondern genauso die Relozierung der Gläubigen an den Ort der unverstellten Nähe zu Gott. Das zieht keine Theologie der fortschreitenden Heiligung nach sich, wohl aber stellt es die Aufgabe, effektive Rechtfertigung nicht nur zu behaupten, sondern Schritte zu ihrer Beschreibung zu lernen. Die Beiträge in Kap. III dieses Buches stellen derartige Fingerübungen dar. 4. Die Grundannahme der hier mitgesetzten, aber nicht eigens thematisierten Hermeneutik des Alten Testaments ist, dass die Erwählungs-, Bundes- und Verheißungsgeschichte, von der das AT berichtet, sich als für das Verständnis des Evangeliums ganz unerlässlich erweisen wird. Nicht nur stehen AT und NT, Israel und Kirche unter dem Bogen des einen Bundes, vielmehr bliebe der, von dem das NT berichtet, leer und hohl, wenn er nicht im beständigen wechselseitigen Bezug verstanden würde. Neuerdings wieder erhobene Töne, man solle das AT zum Apokryphon erklären, denn man habe es mit einem Weiterschreiten in der Entwicklung der Religion zu tun und dürfe zudem die Heilige Schrift des Judentums nicht okkupieren, sind demgegenüber ganz falsch. Der Blick auf nt.liche Zentralstellen wird zeigen, wie irrig die Idee von der angeblichen Höherentwicklung ist, auch werden Kirche und Theologie damit leben müssen, dass sie als die Jüngeren zum Bund Gottes mit seinem Volk dazukamen. Okkupation des AT ist das mitnichten, wohl aber eine fortdauernde Not des Verstehens – notabene eine Not für die christliche Theologie!
Die Sühnetat im Tode Christi (Röm 3,21–26) Die Wortverbindung via Lev 16,13–15 LXX ist nur zu offensichtlich: In dem zentralen Stück Röm 3,21–26 verwendet Paulus in einem berühmt gewordenen hapax legomenon das zentrale Stichwort des großen Versöhnungstages. Die Auseinandersetzung mit diesen wieder und wieder überdachten Versen des Römerbriefs geht schwerpunktmäßig der Frage nach, worin der semantische Mehrwert dieses Bezugs auf die Stellvertretungsrhetorik des großen Versöhnungstags liegt. Zunächst ist aber über die Stichwortverbindung ἱλαστήριον hinaus zu prüfen, ob Lev 16 tatsächlich den traditionsgeschichtlichen Hintergrund für Röm 3,21– 26 darstellt. Man könnte, gleichsam weniger aufwendig, an die Tradition des
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stellvertretenden Märtyrertodes denken.134 Nach ihr kommt dem unschuldig sterbenden Märtyrer eine für andere sühnende Kraft und Funktion zu. Dagegen sprechen freilich zwei Einwände von Gewicht: Zum einen ist es in Röm 3,25 Gott selbst, der Christus als ἱλαστήριον hinstellt, zum anderen geschieht dies mit den erläuternden Worten ἐν τῶ αὐτοῦ ἅιματι. Für das AT ist es völlig fraglos, dass Heiligtum und die Ermöglichung des versöhnenden Ritus allein in Gott ihren Ursprung haben und der eben zitierte Zusatz lässt sich ganz zwanglos auf den Besprengungsritus am Ladedeckel deuten. Nimmt man dann noch hinzu, dass im ganzen Corpus Paulinum Tempelriten mit keiner Silbe kritisiert werden, dann ergibt sich hinreichend eindeutig: Der große Versöhnungstag ist in der Tat Verstehens-hintergrund für diese zentrale paulinische Deutung des Todes Jesu.135 Die meisten Exegeten sind der Ansicht, dass in der Passage vorpaulinisches Gut verarbeitet wird und machen dafür u. a. syntaktische Spannungen verantwortlich. Wie immer es um die Zuverlässigkeit der Rekonstruktion der möglichen Vorlage auch bestellt sein mag, paulinische Akzentuierungen lassen sich wohl doch ausfindig machen. Wolfgang Kraus betont deren drei: (1) Gott selbst setzt Christus zum ἱλαστήριον ein; (2) Paulus ergänzt διὰ πίστεως und er führt (3) die Dimension der Gemeinde der Gerechtfertigten ein und »bringt auf diese Weise den Aspekt der Personsühne ein«.136 Wenn das richtig ist, dann war dem vorpaulinischen Traditionsgut der alles entscheidende Bezug, das durch Jesus neu und anders Werdende unter Rückgriff auf die Heiligtumsmetaphorik und Ritenpraxis zu formulieren, bereits eigen. Hier ist wohl der Kern des judenchristlichen Selbstverständnisses zu sehen: Dem Trägerkreis des Traditionsstücks fällt gar nichts anderes ein, als das Geschehen in Christus unter Rückgriff auf biblische Maximalaussagen zu verstehen, weil ihm völlig klar ist, dass der Vater Jesu Christi kein anderer als JHWH, der Gott Israels ist, und dass dieser in Christus vielleicht neu handelt, dies aber auf eine Weise, die sein ›altes‹ Handeln bestätigt und auslegt – und ohne dies ›alte‹ Handeln gar nicht zu verstehen wäre. ›Genuin‹ paulinisch ist dann mitnichten ein Auszug aus dem judenchristlichen Kontext, sondern eine Verdeutlichung der Vorlage (Aspekt [1]) und die Betonung des Empfängerbezugs, die in Aspekt (3) deutlich ist und – die Auslegung ist besonders umstritten137 – vielleicht zu Aspekt (2) gehört.
134 So K. Haacker, Der Brief an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999, 91, ähnlich E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 2003, 135. 135 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK VI/1, Studienausgabe 2010, 192f; W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe. Eine Untersuchung zum Umfeld der Sühnevorstellung in Römer 3,25–26a, Neukirchen-Vluyn 1991, 260; Knöppler, Sühne 113. Gegenargumente bei Th. Söding, Sühne durch Stellvertretung. Zur zentralen Deutung des Todes Jesu im Römerbrief, in: Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, hg. von J. Frey und J. Schröter, Tübingern 22012, 375–396, 381. 136 W. Kraus, Der Jom Kippur, der Tod Jesu und die »Biblische Theologie«. Ein Versuch, die jüdischeTradition in die Auslegung von Röm 3,25f einzubeziehen, JBTh 6 (1991), 155–172, 168, vgl. ders., Heiligtumsweihe 184. 137 Wilckens, Römer 193f.
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Ein caveat in Sachen des judenchristlichen Selbstverständnisses ist jedoch nötig: Christus bzw. Christi Todesschicksal als ἱλαστήριον zu verstehen, ist auch bei völliger Abwesenheit von prophetisch getönter Tempelkritik eine Akzentverschiebung. Dieses Ereignis muss anders und wirksamer sein als das, was am Tempel geschieht. Ist das also doch bereits der Auszug aus der Gemeinde des zweiten Tempels? Das kann zurückgewiesen werden, weil die Vorstellung eines endzeitlichen Tempels, an dem die definitive Sühne geschieht, Gott epiphan wird und präsent ist, in den Vorstellungswelten des Frühjudentums heimisch ist.138 Das vorpaulinische Traditionsgut und seine Bekräftigung durch den Apostel ist eine unter mehreren frühjüdischen Stimmen. Es ist ein Stück Theologie der hebräischen Bibel, die mit anderen Theologien desselben Buches, die die Rede vom eschatologischen Tempel auch kennen, aber nicht mit Jesu Tod gleichsetzen, im Austausch und Streit steht.139
Wieder und wieder also werden die Semantiken des großen Versöhnungstages und der paulinischen Behauptung, im Tode Jesu ereignete sich Entscheidendes, aufeinander verweisen. Hier folgen Bemerkungen zu einigen Einzelzügen des Passus, beginnend mit dem Schlüsselbegriff. (1) Was ist das ἱλαστήριον? Urheber der Identifikation (Gott) und mit ihm zu Identifizierendes (Christus) sind aus V 25a ganz eindeutig zu entnehmen. Danach aber wird es sofort schwieriger. Was genau meint hier eigentlich ἱλαστήριον? Vorgeschlagen wird u. a. eine direkte Identifikation mit dem Deckel der Lade, den Christus dann ersetzen würde.140 Dem wird entgegengehalten, es sei wenig plausibel, einen Gegenstand mit einer Person gleichzusetzen.141 Wenn es denn richtig ist, dass wir es mit einem Stück frühjüdischer Theologie zu tun haben, für die die Eschatologisierung des Heiligtums ein wichtiges Anliegen ist, dann bietet es sich an, ἱλαστήριον in einem weiteren Sinne zu verstehen: Christus ist der Sühneort in persona, also der Ort/Raum, an dem Gott und Mensch zusammenkommen und an dem von Gott der neue Anfang gemacht werden kann. Das
138 Kraus, Heiligtumsweihe 163 formuliert für Röm 3,25f* folgenden Merksatz: »Der Tod Jesu wird damit im Horizont der im Frühjudentum vorhandenen Erwartung eines neuen (endzeitlichen) Tempels als eines Ortes der Sühne, der Epiphanie und der Präsenz Gottes verstanden. Die Formel sagt: dies ist Jesus in Person, Gott selbst hat ihn dazu gemacht. Der eschatologische Jom Kippur hat am Karfreitag stattgefunden.« 139 Was aber ist dann von dieser Bemerkung zu halten: »Die Traditionsgeschichte liefert kein Passepartout für Röm 3,25. Die urchristliche Überlieferung arrangiert die Topoi neu, erst recht Paulus selbst.« Söding, Sühne 382. Dies ist eine auf interessante Weise zweischneidige Aussage: Sie ist richtig, weil die Behauptung, der Tod des Zimmermannssohns aus Nazareth sei das ἱλαστήριον, in der Tat analogielos ist. Sie wird aber ausschließlich mit Mitteln der Traditionsgeschichte erhoben. ›Alt‹ und ›neu‹ stehen in einem unlöslichen Verweisungszusammenhang, was Thomas Södings Sicht der Dinge zumindest abzublenden scheint. 140 Wilckens, Römer 193. 141 Söding, Sühne 381.
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ἱλαστήριον ist also »nicht ein bloßer Kultgegenstand, sondern theologisch der Ort, an dem irdischer und himmlischer Bereich einander berühren.«142 Wenig zweifelhaft zu sein scheint mir, dass Paulus das ἱλαστήριον mit Jesus, aber näherhin mit dem Todesschicksal Jesu identifiziert. Die Worte ἐν τῶ αὐτοῦ ἅιματι machen dann einen doppelten Bezug auf: Zum einen setzen sie die Behauptung, dass Jesu Tod mehr und anderes ist als der ehrlose Tod eines Verbrechers, mehr und anderes aber auch als eine Stunde der Gottesdunkelheit und -abwesenheit. Eine ›Delle in der Heilsgeschichte‹ ist Karfreitag also nicht. Die umrätselte Frage, was genau dann das Heilshafte am qualvollen Sterben Christi gewesen sein mag, dürfte – zumindest für den Anfang – im zweiten Bezug auf diese vier Worte liegen: Wenn der traditionsgeschichtliche Bezug zum großen Versöhnungstag richtig ist, dann können sie auf nichts anderes als auf den Besprengungsritus verweisen. Das ist neben der Identifikation des Sterbens Christi mit dem Sühneort eine weitere Klarstellung von Gewicht: Am Kreuz vollzieht sich demnach nicht Sündenvergebung, wohl aber die rituelle Wiederannäherung derer an Gottes Heiligkeit, die sich durch ihre Verfehlungen selbst davon getrennt haben. Mit den Worten von Gisela Kittel: »Hätte Jesus nur stillschweigend die Unheilsfolgen der Sünde auf sich genommen und weggetragen, wir blieben die Alten, die wir immer schon waren. Die Sündenlast der Welt würde sich immer wieder neu auftürmen. Demgegenüber reicht die Rede vom Sühnesterben weiter. Sie lehrt den Tod Jesu im Sinne einer den ganzen Menschen verändernden Befreiung zu verstehen, durch die ihm und aller Welt neues Leben geschenkt wurde«.143 Der Blutritus an der כפּרתist doch genau dies: Die Relozierung der von Gott Getrennten an dem Ort, von dem sie sich selbst getrennt hatten. Sie ist mit dem Wegführen der Sünde in die Wüste verbunden, aber genau nicht mit ihm identisch. (2) Was wird im ἱλαστήριον vollzogen? Bei der Auslegung des Besprengnungsritus im Rahmen des großen Versöhnungstages wurde deutlich, dass der Skopus auf der Wiederannäherung derer, die diesen Ort für sich unmöglich machten, liegt. Hierauf kommt die seit den großen Untersuchungen zu Opfer und Sühne weit verbreitete und auch in der vorliegenden Studie geteilte Überzeugung heraus, »daß Sühne nicht ein Straf-, sondern ein Heilsgeschehen ist.«144 Freilich war auch von Stimmen zu berichten, die das Proprium des Geschehens im Allerheiligsten als Reinigung desselben von den Sünden der Israeliten versteht. Interessanterweise taucht diese Position auch innerhalb der Debatte um 142 Knöppler, Sühne 116, der damit eine Einsicht von W. Kraus aufnimmt, vgl. Kraus, Heiligtumsweihe 260 und ders., Jom Kippur 158. 143 G. Kittel, Die Folgen der Sünde und das Geschenk neuen Lebens. Zwei Hinweise zum Verständnis des Sühnetodes Jesu, in: Für uns gestorben. Sühne – Opfer – Stellvertretung, hg. von V. Hampel und R. Weth, Neukirchen-Vluyn 2010, 117–134, 130f. 144 Janowski, Sühne 397.
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Röm 3,25f wieder auf. Thomas Knöppler weist darauf eher versteckt in einer Fußnote hin: »Einem anderen Verständnis zufolge bedarf nicht der Mensch der Sühne, sondern das Heiligtum der Weihe«.145 Die Auseinandersetzung geht dann, genauso kurz wie scharf, so: »Ein solches Verständnis provoziert nicht nur die Frage, aus welchem Grund sich der als ἱλαστήριον verstandene Christus einer Reinigung hätte unterziehen sollen; ein solches Verständnis scheitert auch daran, daß der Gedanke der Stellvertretung im Rahmen einer Heiligtumsweihe sinnlos ist«.146 Das ist eine hilfreiche Pointierung. Ich will an der Auslegung von Sühne als Heilsgeschehen gänzlich festhalten, aber das m. E. relative Recht der Rede von der Reinigung des Heiligtums herauskehren. In Auseinandersetzung mit der eben zitierten Zurückweisung Knöpplers: Zum einen ist nicht die Person Christus das ἱλαστήριον, vielmehr ist der Vorgang seines Sterbens der Ort, an dem Gott und Mensch Deo volente auf analogielose Weise zusammenkommen. Und dass zwischen Gott und Mensch die Dinge dramatisch schief liegen, wird im ersten Teil des Römerbriefs deutlich genug klargemacht. Diese reductio ad absurdum ist also recht einfach zurückzuweisen. Interessanter ist die Behauptung, Heiligtumsweihe und Stellvertretung hätten nichts miteinander zu tun. Auch das halte ich für falsch. Nehmen wir an, das Proprium des Besprengungsritus sei die Reinigung des zuvor unreinen Kultraums. Wenn es so ist, dann handelt hier jemand für andere und umwillen eines Zwecks. Das aber ist nichts anderes als der repräsentierende und der vikariatsmäßige Aspekt der Stellvertretung. Die Weihe des Heiligtums ist ohne Akte der Stellvertretung also überhaupt nicht denkbar. Es ist kein isolierter Ort, der gleichsam ›für sich selbst‹ untadelig gemacht werden müsste. Weil er dem Kontakt zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen dient, muss und darf er stellvertretend für Menschen in gleichsam gebrauchsfertigen Zustand gebracht werden. So also lässt sich die Idee vom Tod Christi als der Weihe des Heiligtums nicht abweisen. Es ist auch – jedenfalls aus der Warte des argumentativen Kohärenzbedürfnisses eines systematisch-theologischen Arguments, das sich der exegetischen Irritation aussetzt – nicht nötig. Denn das Verständnis des Geschehens im Allerheiligsten als Wiederannäherung und als Reinigung dürften trotz unterschiedlicher Semantik inhaltlich auf dasselbe herauskommen: Dass das zuvor Getrennte zeichenhaft herangeführt werde ist in der Konsequenz doch nicht unterschieden davon, dass der Ort der Begegnung mit letzter Konsequenz zu dem gemacht werde, was er ist. Die erste Vorstellung denkt empfängerorientiert, die zweite hat den Ort im Blick, an dem die Begegnung stattfindet. Das Ergebnis aber ist identisch. 145 Knöppler, Sühne 116, Verweise auf Kraus, Heiligtumsweihe 159–167 und weitere, hier nicht herangezogene Studien. 146 Knöppler, Sühne 116.
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Theologisch wie frömmigkeitlich wird nicht selten gesagt, wir hätten es bei diesem Aussagekomplex mit dem Kern paulinischer, ja neutestamentlicher Christologie überhaupt zu tun.147 Das ist wohl eine spezifische Wirkungsgeschichte des anselmischen Paradigmas, die bis in die Gesangbücher hineinreicht. Freilich weist es eine erhebliche Einseitigkeit auf, weil sie die Fülle des neutestamentlichen Zeugnisses über den Tod Jesu verstellt, worauf in letzter Zeit wiederholt und materialreich hingewiesen wurde.148 Auch dies ist allerdings noch einmal in einen weiteren Horizont einzurücken. Michael Welker hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Offenbarungsqualität des Sterbens Christi nicht aus sich heraus besteht: »(…) für sich selbst genommen lässt der Kreuzestod den Betrachter nur verstummen.«149 Erst im Licht sowohl des vorösterlichen Lebens Jesu als auch des Osterzeugnisses werden die Gehalte des Kreuzes klar. Für eine Kreuzestheologie »im Licht von Jesu Auferstehung und seinem vorösterlichen Leben und im Schlagschatten der Mächte, die zu seiner Hinrichtung zusammenwirken« benennt er folgende Momente:150 (1) Die zugleich ängstliche und aggressive Wendung gegen die Präsenz Gottes im Leben und Tun Jesu; (2) das Ausmaß der Diastase von Gott
147 Wilckens, Römer 199 spricht von der »›Basis‹ des Römerbriefes«, demgegenüber alles folgende nurmehr »Explikation« sei und unterstreicht dies durch eine systematische Skizze (199–202). Dem widerspricht z. B. Udo Schnelle: »Die Sühnevorstellung im Tempel- und Opferkontext gehört nicht zu den zentralen paulinischen Theologumena.« U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 22014, 228. Den »Opfergedanken« von Röm 3,21–26 hält er für »strukturell für die paulinische Sinnwelt ungeeignet« (230). Schnelle hat gewiss recht, auf die Singularität der Passage hinzuweisen und hat überdies überzeugend dargelegt, dass die paulinische Soteriologie stark vom Partizipationsgedanken geprägt ist, vgl. ders., Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie, NTS 47 (2001), 58–75. Freilich erscheint es mir vorschnell, die paulinische Soteriologie erst zu konturieren und dann zu fragen, ob Röm 3,21–26 zu ihr passt; sie ist nicht ohne dies Stück zu erheben. – In ihren jeweiligen Theologien des Neuen Testaments haben Ulrich Wilckens und Ferdinand Hahn die Frage der Mitte des NT und damit auch einer zentralen soteriologischen Metaphorik programmatisch verhandelt. Wilckens präsentiert ein eindeutiges Ergebnis: Nach einem Durchgang durch die wichtigsten soteriologischen Paradigmen stellt er fest, dass sie von einem identischen Grundmotiv handeln, der Suche Christi nach dem Menschen, um sie aus ihrer Verlorenheit zu retten. »Dieser soteriologische Grundzug ist ganz dominant dort, wo der Sühnetod Christi in die Mitte tritt.« (U. Wilckens, Theologie des Neuen Testaments Bd. II.1, Neukirchen-Vluyn 2007, 266) Der Sühnetod Christi ist für ihn »das sinnreichste und tiefste von allen Modellen«. (ebd.) Ferdinand Hahn, der einen von zwei voluminösen Bänden der Frage nach der Einheit des NT widmet, kommt zu einem ungleich differenzierteren Ergebnis. Auch für ihn ist klar, »daß die Sühnevorstellung im Blick auf Jesu Sterben für das Urchristentum im Vordergrund stand und dementsprechend für das Neue Testament zentral ist.« (F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments Bd. II, Tübingen 32011, 387. Er sieht dies freilich eingebettet darin, dass die geschehene Errettung des Menschen von Ostern, vom Tod Christi und von der Inkarnation ausgesagt wird. Theologische Fehler entstehen dann, wenn einer dieser Aspekte isoliert wird. (410f) Vielmehr »können diese verschiedenen Konzeptionen aufeinander bezogen und nebeneinander berücksichtigt werden, ohne ihre Eigenbedeutung zu verlieren.« (409) 148 Vgl. das in: Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, hg. von J. Frey und J. Schröter, Tübingen 22012 vorgelegte Panorama. 149 M. Welker, Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 2012. 150 Welker, Offenbarung 173, die folgende Aufzählung 173–178.
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und Mensch; (3) die erschreckende Gewalt der Mächte der Welt; (4) das Risiko des Rückzugs Gottes; (5) Gottes Leiden; (6) die Infragestellung Gottes; (7) die Gemeinschaft mit der sich verschließenden Welt. Eine entfaltete Theologie des Kreuzes wird mindestens diese Elemente entwickeln müssen. Die Aufzählung zeigt zugleich die erhebliche Konzentration des hier Vorgelegten: Es passt mehr oder weniger vollständig in Welkers Aspekt (7), wobei ich von der Behauptung, dies sei nun ›alles‹, weit entfernt bin. Es geht für ein entfaltetes Verständnis von Gottes in Christus offenbares Eintreten für uns nicht ohne diese Sachlichkeit der Stellvertretung. Auf sie zusammenzukürzen ist die Angelegenheit aber keinesfalls.
(3) Das Moment der Hingabe: Das alttestamentliche Opfertier stirbt, damit sein Blut auf und vor die כפּרתgesprengt werden kann. Jesus stirbt am Kreuz, was Paulus als Wiederannäherung an Gott = Weihe des Heiligtums versteht. Wenn man für einen Moment aus den aufeinander verweisenden Metaphoriken der Schriftstellen heraustritt, dann ist genau dies die Sachstelle, die auf das geballte Nichtverstehen – und häufig auch: Nichtverstehen-Wollen – der Zeitgenossenschaft trifft. Hätte Gott das nicht ›einfach so‹ gekonnt?151 Ergänzend zu dem, was oben zur Verschränkung der beiden Teilriten am großen Versöhnungstag und zwecks Ehrenrettung von Rede von der Ehre Gottes bei Anselm von Canterbury bemerkt wurde, kann unter Heranziehung des nt.lichen Materials festgehalten werden: Es ist richtig, dass das Opfer ein Moment der Hingabe enthält. Was der Opfernde darbringt, gehört ihm nicht mehr. Opfertiere waren Nutztiere, so dass man tatsächlich etwas aus seinem Besitz gibt. Es ist Absicht, das auch zu bemerken. (Mk 12,41–44) Der Sinn erschließt sich, wenn man die falsche Sühnevorstellung, als ginge es um Rache und Strafe, konsequent abweist. Dann ergibt sich: Die Hingabe eines Stellvertreters ans Heiligtum dramatisiert die Überzeugung, dass der Opfernde dorthin gehört und deswegen etwas von sich dorthin gibt. Es vertritt ihn am Ort, an dem er eigentlich sein soll und zu dem er gelangen kann. »Als wär’s ein Stück von mir« heißen die Lebenserinnerungen von Carl Zuckmayer.152 Die Hingabelogik wandelt den Konjunktiv in diesem Titel in einen Indikativ: Es ist dort ein Stück von mir, das mir, der ich leider erkennen muss, an einem anderen Ort zu sein, die Stelle offen hält, an die ich kommen darf. In Lev 16 151 Zu Recht so gefragt bei Kittel, Folgen 118. In ihrem Aufsatz zeigt sie, warum eine Vorstellung von ›Vergebung, einfach so‹, allenfalls für die Sonnentage des Lebens taugt – wenn überhaupt. 152 C. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, div. Ausgaben, z. B. München 1988. Die Assoziation zum Titel dieser zurecht vielgerühmten Autobiographie ist nicht ganz zufällig: Die Lektüre dieses Buches durch Karl Barth setzte einen Briefwechsel und persönlichen Austausch zwischen Barth und Zuckmayer in Gang, der vom Frühjahr 1967 bis September 1968, also nur wenige Wochen vor Barths Lebensende im Dezember desselben Jahres, währte. Inmitten manch anderer Themen kommt, durchaus nicht zu Zuckmayers Behagen, auch die Frage stellvertretenden priesterlichen Handelns zur Sprache, vgl. C. Zuckmayer/K. Barth, Späte Freundschaft in Briefen, Zürich 1977, 23f.77f.86f.
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geschieht das durch die Stellvertretungskette Mensch – Tier – Blut als Lebenssitz am Ort des Heiligen. Für Röm 3 lässt sich formulieren: ( jeder) Mensch – in Christi Sterben – im eschatologischen Heiligtum. Kurz: Stellvertretung bedarf der Hingabe, damit auch klar ist, wer denn am anderen Ort vertreten wird. Gäbe ich nichts hin, so geschähe reine Ersatzhandlung. Die aber würde mich nimmermehr an den Ort ›ziehen‹, an den ich doch gehöre. (4) Die Inklusion der Gerechtgemachten: Das Momentum der Hingabe bezieht sich freilich nicht nur auf das Ereignis der Versöhnung. Es setzt sich im Leben derer, die im eschatologischen großen Versöhnungstag vertreten wurden fort. Röm 3,26 macht dies durch eine Verknüpfung der Gerechtigkeit Gottes mit denjenigen, die durch sie gerecht gemacht werden, deutlich: Röm 3,26b ist durch eine Ellipse im Objekt schwer zu verstehen. Zu ergänzen ist entweder ὄντα oder δίκαιον,153 jedenfalls aber ergibt sich eine direkte Zuordnung vom gerecht-Sein Gottes zum Gerecht-gemacht-Werden derer, die im Glauben an Christus (gerecht) sind: Was sich zum νῦν καιρός ereignet, erweist sowohl, dass Gott selbst gerecht ist als auch, dass der im Glauben an Jesus Seiende (oder Gerechte) gerecht gemacht wird.154 Die Passivkonstruktion in δικαιοῦντα dürfte dabei auf zweierlei verweisen: Zum einen macht sie die gänzliche Angewiesenheit auf Gottes Gnade deutlich und schließt jeden Ansatz zu einer Selbstermächtigung zum Gerechtsein aus. Zum anderen, und das ergibt sich aus derselben grammatikalischen Form, denkt Paulus anscheinend an ein Gerechtwerden derer, die in den Wirkbereich der ἐν τῶ νῦν καιρῶ aufgewiesenen Gnade Gottes kommen. Das erste mag man, zumal im Römerbrief, für eine theologische Richtigkeit halten, die lediglich bekräftigt, was in Röm 3,21f ausgebreitet ist. Systematischer Zündstoff steckt in der zweiten Behauptung: Ist δικαιόω pass. zu Recht mit der Hauptbedeutung ›gerecht gemacht werden‹ übersetzt, dann denkt der Apostel – zumindest hier – eine Veränderung des an Jesus Glaubenden zur Gerechtigkeit hin. Zu schnellen kontroverstheologischen Reflexen, als könne ein solches wesentliches Verständnis von Gerechtmachung nicht gemeint sein und also als ›für gerecht ansehen‹ zu interpretieren, kann zumindest in der Einzelbeobachtung am Vers nicht geraten werden. Auch aus diesem Grund wird im nächsten Abschnitt des vorliegenden Kapitels die Frage nach dem Neuwerden der Person in Christus noch einmal aufgegriffen und wird sie im Dialog mit einer Position konturiert, 153 Wilckens, Römer 198, plädiert für letzteres; eine entscheidende Bedeutungsverschiebung dürfte sich, wenn er nicht richtig liegen sollte, wohl nicht ergeben. 154 »[I]n ihm, in seiner uns einschließenden Person, hat Gott die eschatologisch gültige Gemeinschaft mit den Menschen errichtet (…). D. h., die die Menschen in Christus einschließende Gottesgemeinschaft ist und bewirkt ihre Entsühnung, ihre Befreiung von der Macht der Sünde.« Brandt, Opfer als Gedächtnis 213, vgl. 444–452. Konsequent versteht Brandt Sühne denn auch als »Grundlegung von Neuschöpfung«. (Brandt, Opfer als Gedächtnis 444.) Hieran ist im folgenden Abschnitt anzuschließen.
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die in dieser Sache den eingespurten evangelischen und evangelisch-lutherischen Konsens kritisch befragt und einer undurchdachten Schwächung zeiht. Gegen die auch hier vertretene Meinung, in Röm 3,21–26 und darüber hinaus ginge es um inklusive Stellvertretung, hat sich Günter Röhser in seiner einschlägigen Studie positioniert. Er schlägt eine »Erneuerung des ›exklusiven‹/›exkludierenden‹ (oder ›substitutiven‹) und ›juridischen‹ Stellvetretungsbegriffs« vor und versteht darunter »das Erbringen einer Leistung bzw. das Auf-sich-Nehmen eines Geschicks durch einen dazu geeigneten religiösen ›Mittler‹, welche der Vertretene nicht oder nicht in derselben Weise zu erbringen bzw. auf sich zu nehmen vermag wie der Vertreter und welche unmittelbar, d. h. ohne eigene Aktivitäten der Herstellung oder Wiederherstellung eines intakten Gottesverhältnisses (allgemeiner: heilvoller Verhältnisse) des Vertretenen (…) dienen.«155 – Dass es exklusive Akte der Stellvertretung gibt, scheint mir evident. Warum aber soll Stellvertretung insgesamt im exklusiven Sinne gedacht werden? Wenn die hier mitgeteilten exegetischen Erwägungen zu überzeugen vermögen, dann handelt es sich um ein Zusammenspiel exklusiver Akte und repräsentierender Funktionen im Sinne der Terminologie Christof Gestrichs (s. o. II.1).156 Röhsers Exegese von Röm 3,25f hat denn auch die evidenten inkludierenden Aspekte der Rede von der Gerechtigkeit Gottes (s. hier, Aspekt [5]) nicht im Blick.157
155 G. Röhser, Stellvertretung im Neuen Testament, Stuttgart 2002, 29 und 38. 156 Diese Differenzierung dürfte auch für Aspekte einer mittlerweile klassischen Kontroverse hilfreich sein. In einem bekannt gewordenen Aufsatz kommentierte Ingolf U. Dalferth neuere Untersuchungen zum Begriff des Opfers und kam zu dem Schluss, dass die Sühnemetaphorik für die Darstellung dessen, was in Christus geschah verzichtbar ist, solange die Soteriologie das aussagt, was in der Sühnetheologie vertreten wird: wie Sühne also, aber nicht notwendig als Sühne. (I.U. Dalferth, Die soteriologische Relevanz der Kategorie des Opfers. Dogmatische Erwägungen im Anschluß an die gegenwärtige exegetische Diskussion, [zuerst 1984] JBTh 6 [1991], 173–194, 185f; Wiederaufnahme und Weiterführung in ders., Die Auferweckung des Gekreuzigten. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, Kap. 5.) Dalferth attestiert Ansätzen, die mit der Logik der Stellvertretung arbeiten, eine Schwierigkeit: Im Gedanken der Substitution »liegt das Grundproblem von Stellvertretungschristologien«. (Dalferth, Relevanz 188) Die Alternative heißt so: »Christus ist also nicht extern auf uns bezogen als unser Stellvertreter in einem Transaktionsgeschehen zwischen Mensch und Gott. Er ist der Mittler, der in seiner eigenen Person uns vor Gott und Gott vor uns bringt (…). Die Heilsbedeutung seines Todes hat daher nichts mit einem Werk zu tun, das er vollbracht hat, und von dessen Verdienst wir profitieren. Nicht in dem, was er getan hat (Werk), sondern in dem, was er ist (Person), liegt unser Heil. Eben deshalb ist Christus nicht nur exemplum, sondern sacramentum unseres Heils«. (Dalferth, Relevanz 194) – Vom hier entwickelten Verständnis inklusiver Stellvertretung aus gesehen, handelt es sich um eine falsche Alternative: Christi Werk und Person sind nicht zu trennen, genausowenig seine vikariatsmäßigen Akte von seinem repräsentierenden Sein. Weil beide zusammengehören, ist Christi Stellvertretung mitnichten ›Substitution‹, wie Dalferth befürchtet. (Ebenfalls) in einer Fußnote deutet er den richtigen Ausweg an, ohne ihn doch zu gehen: »Man kann natürlich den Stellvertretungsgedanken auch so fassen, daß er dem Inkorporationsgedanken entspricht.« (Dalferth, Relevanz 188.) Genau! 157 Röhser, Stellvertretung 117f.
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Hierauf komme ich also mit explizit systematischer Perspektive zurück. Aus dem Verweisungsgeflecht aus Röm 3,21–26 und Lev 16 dürfte sich für die Frage nach dem Hereingenommen-werden der Gerechtgemachten noch Folgendes nahelegen: Der Besprengungsritus ist, wie dargelegt, nur ein Element eines komplexen Ritus’, zu dem unter anderem noch die Wegführung des symbolisch mit der Schuld Israels beladenen Bockes gehört. Dadurch ereignet sich, anschaulich genug, die Restitution der Gerechtigkeit der Israeliten: Ihre Sünde ist, im symbolischen Akt als material gedacht auf den Bock übertragen und aus dem Areal der Begegnung mit JHWH sowie aus der Lebenswelt entfernt worden – so gründlich, dass selbst der Führer des Bocks sich bereits beim Betreten des Lagers (und nicht etwa des Tempels, geschweige denn seiner inneren Bezirke) einem Reinigungsritual unterziehen muss (Lev 16,26). Wie immer es also um kontroverstheologische Fragen in der Rechtfertigungslehre späterer Jahrhunderte bestellt sein mag, die mehr oder weniger gelenk an den Röm zurückgespiegelt werden: Dass Paulus diesen Aspekt des biblischen Versöhnungsgeschehens vor Augen hatte, nachdem er im Vers zuvor den Kernbegriff des Besprengungsritus’ zitierte, scheint mir sehr wahrscheinlich zu sein. Der unmittelbare Konnex aus Gerechtigkeit Gottes und dem Gerechtgemachtwerden der Zugehörigen ist nichts anderes als die paulinische Lesart der stofflich-leiblichen Entfernung der Sünde Israels.158 ›Darunter‹ sollte man die Realitätsunterstellungen in Sachen wirkmächtiger Gerechtigkeit Gottes im Röm nicht ansetzen – eher noch ›darüber‹, weil Paulus dezidiert universalistisch denkt: Nachdem ausweislich der ersten Kapitel sowohl Juden als auch Heiden vor Gott nichts anzubieten haben, gilt die in der Schaltstelle Röm 3,21–26 aufgewiesene Gerechtigkeit Gottes ebenfalls allen, Juden wie Heiden. (5) Gottes Gerechtigkeit als Stellvertretung – und umgekehrt: Bislang konnte der Eindruck entstehen, das kurze Stück Röm 3,21–26 sei eine Meditation über das ἱλαστήριον und einige damit verbundene Theologoumena. Das ist ja vielleicht auch so. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass der Passus ganz vordringlich von der δικαιοσύνη θεοῦ spricht. Δικαιοσύνη κτλ kommt in den wenigen Versen siebenmal vor. Man wird wohl so lesen sollen, dass die δικαιοσύνη θεοῦ das Explikandum ist und die Vorstellungswelt des eschatologischen Versöhnungstages das Explikans dazu. Fasst man es so, dann zeigt sich eine Eigentümlichkeit 158 Sigrid Brandts summierende These bestätigt den Eindruck durchaus: »Die neutestamentlichen christologisch-ekklesiologischen Opferaussagen können als Ausdruck dafür verstanden werden, daß die Menschen in Jesu Christi Leben aus Gott, durch Gott und für Gott bzw. seinen Namen zugunsten der Menschen einbezogen werden und an ihm Anteil gewinnen. Die Entfaltung der differenzierten Einbeziehung der Menschen in die ihnen zugute gelebte und gegebene leibliche Existenzgemeinschaft Jesu Christi geschieht im Neuen Testament u. a. durch eine differenzierte Blutsymbolik.« Brandt, von »Opfer« zu reden 272, Absatz vor dem letzten Satz.
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des paulinischen Verständnisses der Gerechtigkeit Gottes, die für die hier nach wie vor zu explizierende Rede von der Stellvertretung wesentlich ist: Δικαιοσύνη ist als Eigenschaftszuschreibung Gottes im herkömmlichen Sinne allein unterbestimmt. Vielmehr zeigt sich ihre in Christus zutage tretende Eigenart für Paulus nur dann, wenn er das Handlungsgeflecht des großen Versöhnungstages zuhilfe nimmt. Und dann gilt, dass Gerechtigkeit sich zeigt, indem sie sich ereignet. »Die Gerechtigkeit Gottes (…) ist eine wirksame Macht, die den Glaubenden mit Christus in einer Schicksals- und Wesensgemeinschaft verbindet, und zwar auch schon in der Gegenwart nicht nur als ›Gemeinschaft mit seinen Leiden‹, sondern auch mit der ›Macht seiner Auferstehung‹, das heißt mit der in ihm wirksamen, Tod überwindenden Lebensmacht.«159 Δικαιοσύνη θεοῦ ist ein »nomen actionis, nämlich die sich gegen Sünde und Tod durchsetzende Lebensmacht Gottes.«160 Dem entspricht, dass sie ohne eine ›Empfängerseite‹ gar nicht zu denken ist. Im vorliegenden Kontext ist das die πίστις. Die sich hier zeigende Eigenart der Gerechtigkeit Gottes ist zugleich der Schlüssel zur Logik der Stellvertretung, wie Paulus sie in Röm 3 denkt. Das komplexe Geflecht stellvertretender Handlungen in Lev 16 ist hier auf wenige Aktoren und wenige einzelne Handlungsmomente zurückgefahren, was zwei Ursachen haben dürfte: Einmal versteht Paulus Christi Tod = ἱλαστήριον als Sühneort insgesamt, denkt die Aktoren also implizit mit, zum anderen handelt es sich ja um die Behauptung, der endgültige eschatologische Versöhnungstag habe am Karfreitag stattgefunden. Beides ermöglicht, ja: fordert eine Reduktion des Personals. Die Stellvertretungslogik wird davon aber mitnichten abgebaut. Sie wird, sollte überhaupt eine Steigerungslogik erkennbar sein, allenfalls gestrafft und vereindeutigt. Zwei Momente lassen sich ausmachen: Zum einen vertritt Christi Tod als ἱλαστήριον im Rahmen der kultisch inszenierten Wiederannäherung an Gott. Er ist an ihrer Statt in unmittelbarer Gottesnähe, in der sie qua ihrer eingangs des Römerbriefs beredt beschriebenen universalen Sündverfallenheit nicht sein können. An diesem Ort – direktes Äquivalent zum Besprengungsritus – zu sein, ist die Funktion des Repräsentanten, das Todesschicksal als Ort totaler Gottverlassenheit zu erleiden ist die vikariatsmäßige Tätigkeit Christi. Der Repräsentant hält den Repräsentierten die Stelle offen, an die sie kommen können und werden, den Tod als Strafe zu erleiden, nimmt er ihnen im Sinne des Vikariats ab: Auch wenn sie sterben werden, so sterben sie nicht in die Gottverlassenheit, sondern genau in die Gemeinschaft mit Gott.161 159 R. Feldmeier/H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2011, 301. Der Hinweis auf die Gemeinschaft mit der Macht der Auferstehung beziehen die Autoren auf Phil 3,10f, ausweislich Röm 6,8.11 u. ö. wird man es für die späte Phase des Apostels nicht anders sagen sollen. 160 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen 302. 161 »(…) gerade so, den Tod erleidend, hat Gott sich behauptet. Wie ist das zu verstehen? Wenn
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Zum anderen, und dies ist der stellvertretungslogische Sinn von δικαιοσύνη θεοῦ als nomen actionis, bleiben die, deren Stelle vertreten wird, davon nicht unberührt: Gottes Gerechtigkeit berührt, steckt an und verwandelt die, die damit ἐκ πίστεως Ἰησοῦ (v. 26) in Berührung kommen: Der Stellvertreter zieht diejenigen, deren Stelle er vertritt, auf diese Stelle. Ohne dieses Moment von Entwicklung und Weitergehen wird beides, das paulinische Verständnis der Gerechtigkeit Gottes wie die den biblischen Referenzen abgelauschte Logik der Stellvertretung, nicht zu verstehen sein. Christof Gestrich hat das einprägsam auf den Begriff gebracht: »(…) der Gott, der mich liebt, liebt nicht einfach das Ego, mit dem ich mich identisch fühle, sondern er liebt mich als die Person, in die er mich hineinruft. Versöhnt und in bestimmter Weise gebildet muß ich werden, weil ich mich als diese Person, in die Gott mich hineinruft, noch nicht kenne, suche, liebe oder habe. (…) In Wahrheit liebt Gott nicht unverändert bleibende Verhältnisse, sondern die im Geist der befreienden Liebe und Gerechtigkeit sich bewegenden, besser werdenden Verhältnisse. (…) Erst dieses Neue bin ich wirklich selbst. Erst wer mich so werden läßt, nimmt mir nichts. Ich will im Glauben gerade nicht so bleiben und nicht auf Dauer so ›angenommen‹ werden, wie ich bin, sondern an mir erfahren, was ich von Gott her werden kann, damit ich bleibe.«162
Zu diskutieren ist dann, in welchen Kategorien das Moment von Entwicklung und Weitergehen vorstellbar gemacht werden kann. Gegen den axiomatischen Einsatz der analogia entis waren in der Auseinandersetzung mit Karl-Heinz Menke (s. o. II.1) Bedenken vorgebracht worden. Freilich muss, wer diese Kategorie für nachteilig hält, anderweitig Vorschläge unterbreiten. Das geschieht sowohl im folgenden Abschnitt mit einer Durchmusterung der Metaphorik der Teilgabe/Partizipation und in Teil III der vorliegenden Studie, in dem das Phänomen Stellvertretung in verschiedenen Feldern der materialen Anthropologie aufgesucht wird: Es könnte ja immerhin sein, dass es die eine Kategorie bzw. Leitmetaphorik nicht gibt, anhand derer die von der δικαιοσύνη θεοῦ ausgehende Entwicklung beschrieben werden kann. Plausibilität ergäbe sich dann durch eine vielstimmige und dichter werdende Beschreibung, nicht jedoch durch die axioüberhaupt, dann so, daß Gott im Erleiden des Todes, im Ertragen der Negation dem Tod seinen Wesensakt entzogen hat (…) daß er dem Tod die Macht genommen hat. (…) Was der Tod aus sich selbst heraus noch zu verwirklichen vermag, ist nicht mehr Wesen, sondern nur noch Unwesen.« »Wo der Tod nun auch hinkommt, da kommt Gott selbst. So tötet Gott den Tod.« E. Jüngel, Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, München 1988, 120 und 125. Ich halte diese Sätze für richtig, aber für nicht allein richtig: Das Kerygma des Karfreitags beinhaltet allerdings, dass der Tod kein gottfernes Ereignis ist. Ginge es aber darin auf, dann würde es sich wohl um kaum mehr als ein trockenes Versichern handeln. In Röm 3,21–26 selbst ist der Gegenzug schon angelegt, weil von Gottes Gerechtigkeit als teilgebendem und veränderndem Ereignis die Rede ist. 162 C. Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen 2001, 324f.
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matisch-deduktive Auslegung einer göttlichen Eigenschaft anhand vorab plausibilisierter Kategorien. Das ist gleichbedeutend mit einer Grundentscheidung in der Eigenschaftslehre. Ihr zufolge wäre es nachteilig, die Eigenschaften Gottes zunächst als absolute Eigenschaften zu konzipieren, die einander wechselseitig interpretieren, etwa so, dass Gottes Allmacht notwendig zugleich Allwissenheit und ebenso notwendig zugleich Allgegenwart ist, usw. So entsteht zwar womöglich anfangshafte Plausibilität für ein theistisches Gotteskonzept. Freilich ist der Preis hoch: Der Gott einer Kette absoluter Eigenschaften wird das Theodizeeproblem in keiner Weise mehr los, auch gerät dann die Trinitätslehre zu einer nachgelagerten Explikation dessen, was bereits ohne sie festgestellt wurde. In der Problemgeschichte blieb ihr dann oft genug nur noch die Rolle, die trotz der plausiblen absoluten Eigenschaften nach wie vor vorhandene Geheimnishaftigkeit Gottes zu betonen. Das passte zwar grosso modo in die modalistische Tendenz westlicher Trinitätslehre, darf aber – zumal nach den beeindruckenden trinitätstheologischen Aufbrüchen um die Mitte und gegen Ende des 20. Jahrhunderts – als überholt gelten. Nicht zuletzt von Röm 3,21–26 her legt sich eine andere Herangehensweise nahe: Die Gerechtigkeit Gottes ist keine ihn im Sinne von Allquantoren beschreibende absolute Eigenschaft, sondern, wie gesehen, ein nomen actionis: Gottes Gerechtmachen und sein Gerechtsein erläutern einander wechselseitig. Entsprechend ist es geraten, Gottes Eigenschaften als Agglomerationen und Stetigkeiten seines Handelns zu begreifen. Sie sind also induktiv, »als Konkretionen seiner Wirklichkeit im Zuge einer Bewegung Gottes auf die Menschen zu« verständlich zu machen.163 Als erste Konsequenz entfällt dann die Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Eigenschaften Gottes: Von Gottes Eigenschaften ist nur deshalb zu reden, weil er sich Welt und Mensch zuwendet und weil er stellvertretend Menschen in den Wirkkreis seiner Macht und Gerechtigkeit holt.164
(6) Eine subjekttheoretische Implikation: Die Gerechtigkeit von Gott her ist gerade nicht des Menschen Möglichkeit. Gerecht gemacht zu werden – δικαιόω pass. – hängt nach Paulus ursächlich damit zusammen, dass Christus stellvertretend für diejenigen eintritt, denen dies widerfährt. Für die Frage der Selbsthabe des Subjekts hat das eine einschneidende Konsequenz: Das Beste für einen Menschen – nämlich ein Gerechter, also ein Mensch Gottes zu werden – ist genau nicht im Besitz dieses Menschen, es ruht vielmehr in seinem Vertreten-werden und ist 163 W. Krötke, Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes »Eigenschaften«, Tübingen 2001, 13, i.O.teilw.herv. 164 Man kann fragen, ob es nur Zufall ist, dass in einem Sammelband, der den Eigenschaften Gottes gewidmet ist und im engen Gespräch mit der neueren analytischen Philosophie entstand, der Gerechtigkeit Gottes kein Kapitel gewidmet ist. Die analytische (Religions-) Philosophie jüngeren Datums rezipiert auf breiter Front den vorkantischen Theismus des 18. Jahrhunderts und stützt sich dementsprechend auf eine Explikation der absoluten Eigenschaften. Für die relative Eigenschaft par excellence δικαιοσύνη θεοῦ bleibt dann offenbar nicht viel Raum, vgl. Eigenschaften Gottes. Ein Gespräch zwischen systematischer Theologie und analytischer Philosophie, hg. von Th. Marschler und Th. Schärtl, Münster 2016.
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damit dezentriert. Eine Soteriologie, die dies für unverzichtbar hält, ist demnach anschlussfähig an die Theorien des menschlichen Selbst, die genau nicht den Weg der Identitätsphilosophie gehen. Das ›Wesentliche‹ am Ich ist genau nicht in der Selbsthabe und im Selbstbezug – heißen die nun transzendentale Apperzeption, spekulative Durchdringung, absolutes Ich oder Ich der Epoché – zu finden, es zeigt sich und es wird vielmehr erst in Situationen, die ein Gegenüber und Akte der Stellvertretung ermöglichen. Die im vorigen Unterkapitel zum Begriff der Stellvertretung bei Emmanuel Levinas vorgelegten Erwägungen zeigen sich entsprechend als anschlussfähig. Seine Behauptung, es sei eine »Art des Bedeutens, die ganz anders ist als die, die das sich-Darbieten mit dem Sehen verbindet«, aufzufinden, »die widersprüchliche Trope des der-Eine-für-den-Anderen«, ist Kritik der Identitätsphilosophie und ein Schritt zur Verständigung mit dem hier für Christologie und Soteriologie Ausgemachten in einem.165 In den mitunter dunklen Deutlichkeiten bei Levinas kulminiert die Tradition, die das Subjekt konstitutiv vom anderen/Anderen her versteht. Der Gegensatz zwischen Theoriefamilien, die das Subjekt aus sich selbst oder aber vom Anderen her verstehen wollen, ist mehr als einmal in programmatischer Weise konstruiert worden. Als erster nachidealistischer Garant für die Existenz dieses Gegensatzes gilt fast durchweg Søren Kierkegaard.166 Im 20. Jahrhundert führte Karl Löwith eine groß angelegte Kritik der Konzeption seines Lehrers Martin Heidegger als solipsistisch durch, durchaus ähnlich gelagert erscheint im Rückblick Jürgen Habermas’ Kritik an der ersten Generation der Kritischen Theorie als kommunikationsblind.167 Programmatisch ist hierzu die Habilitationsschrift von Michael Theunissen zu vergleichen, in der Konzeptionen unter programmatischem Einschluss des Anderen zum Trennungsmarker erklärt werden.168 Erst die jüngere aus der Frankfurter Schule hervorgehende Hegelrezeption hat gute Argumente vorgebracht, einer zu einfachen Unterteilung ins ›Subjektivitätslager‹ und das ›Lager des Anderen‹ zu misstrauen: Axel Honneth arbeitet seit längerem an einer Hegelrezeption, die das konstitutive Moment wechselseitiger Anerkennung in dessen Sozialphilosophie hervorhebt. Auf eine Neubewertung der spekulativen Abschlüsse des Hegel’schen Systems hat er bislang verzichtet, die grundständig kommunikative Dimension von Hegels Verständnis von Sozialität und
165 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg 42011, 221 und 221f. 166 Nicht nur, aber besonders deutlich in S. Kierkegaard, Philosophische Brocken, Hamburg 3 2002 (und diverse andere Ausgaben, der Band ist in der DSKE noch nicht erschienen). 167 K. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928), Nachdruck Darmstadt 1969; J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981, 489–534, bes. 517f.523f; ders. Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, 130–157, bes. 156f. 168 M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart (1965), Nachdruck Berlin/New York 1981.
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Gesellschaft aber deutlich hervorgehoben.169 – Zu einfach wird man es sich mit der intuitiv naheliegenden Lagerbildung also nicht machen dürfen, auch wenn deren grundsätzliche Plausibilität kaum zu bestreiten ist.
Wie weit aber reicht die Anknüpfung eigentlich – handelt es sich um eine dankbar zu verzeichnende Motivverwandtschaft oder lädt sie ein zu mehr? Es gibt Stimmen, die Letzteres im Sinn zu haben scheinen. In aller Deutlichkeit rechnet sich etwa Karl-Heinz Menke dazu: »(…) bietet Levinas m. E. das geeignetste ›Modell‹ zur Erhellung der christologischen und ekklesiologischen Stellvertretung. (…) [Es] wird deutlich, daß Levinas nicht mehr vom Ich her denkt, aber das Ich auch nicht in den Anderen verlagert, sondern von dem ausgeht, ›was uns unbedingt angeht‹. Ohne Einschränkung kann man das Levinassche ›Unbedingte‹ mit der erlösenden Gnade des Stellvertreters identifizieren.«170 »Ohne Einschränkung«? Menke hat wohl nicht weniger vor als eine interpretatio christiana von Levinas’ Archäologie des Anderen im Sinn. Dazu aber kann wohl eher nicht geraten werden. Denn dass Levinas es genau so nicht meint, ist ja nicht zu übersehen, zumal er subtile aber deutliche Kritik an der christlichen Vorstellung der Menschwerdung Gottes übte.171 Viel eher kann man sich von ihm kritisch ins Wort fallen lassen, wenn die Theologie meint, qua Wissen oder Tradition über ihren ›Gegenstand‹ verfügen zu können.172 Die Theologie kommt dem Thema der Stellvertretung durch Christus nicht aus, ohne dass allerdings der Vorgang jemals ihr Besitz würde. Die Konstitution durch den Anderen bildet sich als Konstitutionsbedingung der Disziplin noch einmal ab. Hier ist die Parallele zu Levinas nur zu offensichtlich, auch wenn es nicht tunlich sein dürfte, die eigene Sachlichkeit durch rasche Identifizierungen stützen zu wollen.
169 A. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001. Die eigene systematische Durchführung ist ders., Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011, zu Hegel 88–95 u. ö. Jetzt auch ders., Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015, 121ff. 170 K.H. Menke, Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, Einsiedeln 1991, 398. 171 Vgl. E. Levinas, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München/Wien 2007, 73–82, Hinweis von J. Wohlmuth, Herausgeforderte Christologie, in: Emmanuel Levinas – eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn u. a. 1998, 215–229, 227–229. Wohlmuths Herangehensweise scheint mir aussichtsreicher als diejenige Menkes. Statt einer Identifikation des levinasschen Anderen mit dem christlich gedachten Erlöser nimmt er Levinas’ Frage auf, ob ein einzelner Mensch derart privilegiert werden dürfe, wie es im Chalcedonense geschieht und schließt, dass diese Privilegierung kein Selbstzweck ist. Die hypostatische Union hat Ziel und Zweck darin, die Gottesbeziehung der Menschen zu eröffnen: »So geschieht ›kabod‹, Herrlichkeit die sich uns erschließt, zur Antwort des Dankes verlockt und zur Verantwortung inspiriert.« (229) 172 Zu Recht so gesehen bei U. Espeel, Erwachsene Nähe. Stellvertretung nach Emmanuel Levinas. Stellvertretung und Sühne, Ethik und Erzählung, Würzburg 2011, 6.
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Das Neuwerden der Person »Es ist wahr: Der Mensch, dem die Gnade Gottes hilft, ist mehr als ein Mensch. Ja, die Gnade Gottes macht ihn gottförmig und vergottet ihn, so dass die Schrift ihn Gott und Sohn Gottes nennt.«
Wenn man als Rätsel aufgibt, vom wem die beiden eben zitierten Sätze stammen, dann werden nicht allzu viele auf die richtige Antwort kommen. Dass die Gnade Gottes aus dem Menschen mehr als einen Menschen mache, ja, dass sie ihn vergotte, das sagte niemand anderes als – Martin Luther.173 Die Sätze stammen aus der Predigt zu St. Peter und Paul 1519 in Leipzig, gelegentlich der Disputation mit Johannes Eck. Der Reformator legt eine Passage aus Matthäus 16 aus und bekräftigt vor allem die völlige Unfreiheit des Willens gegenüber Gott. Der Mensch ist eben nur Mensch. Weil das so ist, gilt aber im Umkehrschluss: Die Gnade Gottes führt den Menschen über sich hinaus, sie macht ihn gottförmig und vergottet ihn. Eine solche Äußerung aus dem Mund des Reformators ist mindestens ungewöhnlich. Eigentlich gilt doch, dass die Reformation und besonders Luther das genaue Gegenteil betonen: Gott ist Gott und Mensch ist Mensch. Menschen sollen wir werden, nicht Gott. Gott ist sub contrario gegenwärtig, in der inversen Macht des Kreuzes. Wenn das richtig ist, ist eigentlich kein Ort dafür, von Vergottung zu reden und davon, dass der Mensch in Gottes Gnade gottförmig wird und mehr als ein Mensch. Diese kräftige theologische Provokation eröffnet eine Betrachtung der soteriologischen Implikation der Rede von der Stellvertretung: Der – inklusiv gedacht – Stellvertreter agiert und existiert so für den, den er vertritt, dass er ihm die Möglichkeit eröffnet, an die vertretene Stelle auch zu kommen. Gnade in diesem Sinn heißt genau nicht, das für gut zu erklären, was es nicht ist. Wohl wird für gerecht erklärt, wer es nicht ist, dies aber so, dass das Leben des so Erklärten sich in einem Prozess der Verwandlung und Veränderung vorfindet. Nähere Auskunft ist an dieser Stelle nötig: Gibt es denn die Möglichkeit, von der gnadenhaften Veränderung des Menschen zu sprechen, vom Zugehen auf eine Stelle, die im-
173 WA 2,247,39–248,3, modernisiertes Deutsch. Original im Kontext: »Drumb spricht wol sanct Hieronymus uber ditz ewangelium, das zu merken sey, wie Christus seine juenger fragt, was die menschen von ym sagen, und darnach, was sie von ym sagten, sam sie nit menschen weren. Dann war ist es, das der mensch mit gnaden beholffen mehr ist dann ein mensch, Ja die gnad gottis macht yn gotformig und vergottet yn, das yn auch die schrifft got und gottis sun heist. Also mus der mensch uber fleisch und blut außgezogen werden und meher dann mensch werden, soll er frum werden. Das geschicht nu anfenglich, wann der mensch das erkennet als ym selbs unmueglich und demuetiglich die gnad gottis darzu sucht, an ym selbs gantz verzweifelt. Darnach aller erst folgen die guten werck: wann die gnad also erlanget ist, dann hastu ein freyen willen, dann thu was in dir ist.« (WA 2, 247,37–248,8)
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merhin Stelle in der Nähe Gottes ist? Mit einer flotten Versicherung, es gebe ja das ›simul iustus et peccator‹ sollte man sich nicht aus der Affäre ziehen. Deswegen folgt hier ein Versuch in realistischer Gnadenlehre. Ich entwickle das Argument im Gespräch mit einer Schule evangelisch-lutherischen Denkens, für die die Realistik des Gnadengeschehens ganz im Mittelpunkt steht und die genau deshalb nicht wenig Verwunderung und Kritik auf sich zog, der sog. finnischen Lutherdeutung. Ihr Leitwort für die Realistik des Gnadengeschehens ist das der Partizipation: Es ist so, sagt sie, dass nach Luther Gott im Rechtfertigungs-/ Gnadengeschehen Anteil an sich gewährt, ja, dass es eine starke Nähe zur ostkirchlichen Lehre von der Vergottung des Menschen gibt. Stellvertretungstheologisch gewendet: Gott gewährt per Stellvertretung den Weg zu der Stelle, an der er selbst ist. Das ist in der Tat eine theologische Provokation. Eine eingehende Prüfung sollte es möglich machen, in Sachen Realistik des Gnadengeschehens ein Stück weiterzukommen.
Zur finnischen Lutherinterpretation Als ›finnische Lutherforschung‹ werden die Arbeiten des Systematikers Tuomo Mannermaa aus Helsinki, die seiner Schüler und eine Reihe von Kongressbänden, die daran sich anschließende Debatten dokumentieren, bezeichnet.174
174 Instruktive Forschungsüberblicke mit Nennung aller relevanten Bücher in deutscher Sprache bei E. Martikainen, Die finnische Lutherforschung seit 1934, Theologische Rundschau 53 (1988), 371–387, hier 380–387; J. Forsberg, Die finnische Lutherforschung seit 1979, LuJ 72 (2005), 147–182. Die Tagungsbände sind: Der Heilige Geist. Referate der Fachtagung der Luther-Akademie Ratzeburg in Zusammenarbeit mit dem Institut für systematische Theologie der Universität Helsinki und dem Institut für ökumenische Forschung in Straßburg sowie in Verbindung mit der Gesellschaft für Innere und Äußere Mission im Sinne der lutherischen Kirche e.V., 30.11.–4. 12. 1994 in Neuendettelsau, hg. von J. Heubach, Erlangen 1996; Luther in Finnland. Der Einfluß Martin Luthers in Finnland und finnische Beiträge zur Lutherforschung, hg. von M. Ruokanen, Helsinki 21986, Luther und die trinitarische Tradition. Ökumenische und philosophische Perspektiven, hg. von J. Heubach, Erlangen 1994; Luther und Ontologie. Das Sein Christi im Glauben als strukturierendes Prinzip der Theologie Luthers, hg. von A. Ghiselli u. a., Helsinki 1993; Luther und Theosis, hg. von J. Heubach, Erlangen 1990; Thesaurus Lutheri. Auf der Suche nach neuen Paradigmen der Luther-Forschung. Referate des Luther-Symposions in Finnland 11.–12. November 1986, hg. von T. Mannermaa u. a., Helsinki 1987; Unio. Gott und Mensch in der nachreformatorischen Theologie. Referate der Finnischen Theologischen Literaturgesellschaft in Helsinki 15.–16. November 1994, hg. von M. Repo u. R. Vinke, Helsinki 1996; Union with Christ. The New Finnish Interpretation of Luther, ed. by Carl E. Braaten/ Robert W. Jenson, Grand Rapids 1998. Eher kritisch fällt die Stellungnahme bei R. Flogaus, Theosis bei Palamas und Luther. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch, Göttingen 1997, aus. Das Luther-Handbuch berichtet im Rahmen der jüngsten Forschungsgeschichte über die finnischen Arbeiten (V. Leppin, Lutherforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Luther-
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Worum geht es ›den Finnen‹?175 Trotz der mittlerweile beachtlichen Menge an Studien und Diskussionen lässt sich eine thematische Mitte bestimmen. Negativ besagt die These: Es ist nicht so, dass Rechtfertigung ein distantes Urteil Gottes über den Menschen beschreibt, also eines, das den gottfernen Menschen gnadenhalber gerechtspricht, wobei die Distanz zu Gott nicht aufgehoben wird. Vielmehr, und das zitiert bereits einen Titel von Tuomo Mannermaa, »in ipsa fide Christus adest« – im Glauben ist Christus wirklich gegenwärtig. Die Vokabel ›Glaube‹ indiziert die wirkliche und wirksame Gegenwart Gottes im Gläubigen. Diese Gegenwart, so Mannermaa und die seinen weiter, ist eine, die mit der Metaphorik von Bewusstsein und der der forensischen Rechtfertigung nicht zutreffend beschreibbar ist. Es bedarf vielmehr des expliziten Rückgriffs auf ontologische Termini: Gott ist seinshaft beim Glaubenden, nicht nur als Bewusstseinstatsache im Glauben oder durch die distante Aussage, der, der es aus sich heraus nicht verdiene, sei vor Gott sola gratia gerechtfertigt. Weil das so ist, gibt es eine starke Nähe von Luthers Auffassung zur in der Ostkirche präsenten Lehre von der theosis bzw. der theopoiesis, also der Lehre von der Vergottung des Menschen im Heilsprozess, in dem Gott den gefallenen Kosmos zu sich zurückholt. So weit die These. Ein Großteil der Forschungsarbeit, die in einer ganzen Reihe von Monographien – zumeist Dissertationen – vorgelegt wurde, dient zwei Anliegen: Die These vom »in ipsa fide Christus adest« wird aus den Schriften Martin Luthers als dessen durchgängig vertretene Ansicht belegt und es wird gezeigt, wie und unter welchen Umständen sie zu Gunsten einer bewusstseinstheoretischen Uminterpretation so weitgehend in Vergessenheit geriet. Ontologische Sprache ist angemessen, nicht relationale. Auf diese beiden Aspekte gehe ich hier nur vergleichsweise kurz ein. Ich berichte, welche zentralen Luthertexte wie gelesen werden und wo die Mannermaa-Schule den Umschlag ins für sie kritikable Bewusstseinsparadigma ansetzt. Zur Hauptsache aber geht es mir um die systematischen Implikationen der These: Was verändert sich in Christologie und Rechtfertigungslehre, wenn die These stimmt? Und: Wie ist es eigentlich mit den
Handbuch, hg. von A. Beutel, Tübingen 22010, 19–34, 28f) und notiert die deutliche Ablehnung seitens der in Mitteleuropa etablierten Lutherforschung. 175 Diese Bezeichnung ist in der Diskussion mittlerweile weit verbreitet, wenn auch nicht eben glücklich. Allenfalls indiziert sie, dass die explizite Vertretung der Thesen der Gruppe um Mannermaa außerhalb von ihr nicht sehr häufig anzutreffen ist. Der Diskussion des Themas in anderen Sektoren tut dies allerdings keinen Abbruch. Über die wichtigsten Rezeptionslinien berichtet R. Saarinen, Partizipation als Gabe. Zwanzig Jahre neue finnische Lutherforschung, ÖR 57 (2008), 131–143; ders., Die Teilhabe an Gott bei Luther und in der finnischen Lutherforschung, in: Luther und Ontologie. Das Sein Christi im Glauben als strukturierendes Prinzip der Theologie Luthers, hg. von A. Ghiselli u. a., Helsinki 1993, 167–182.
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Anregungen Bonhoeffers – stehen sie beziehungslos daneben oder kann man sie in ein kritisches Gespräch ziehen?176 Mannermaa hat seine Forschungsarbeiten in einer auf deutsch und teilweise auch auf englisch vorliegenden Studie zusammengefasst. Sie ist systematisch, nicht historisch organisiert, versteht sich aber ausdrücklich theologiegeschichtlich. Die Integration der Ergebnisse ins gegenwärtige theologische Gespräch bleibt demnach ausdrücklich noch zu leisten. Mannermaa beginnt, indem er zwei Schichten einer Missinterpretation benennt. Es handelt sich zum einen um den Einfluss Kants und der Neukantianer auf die Theologie. Unter ihm wurde die Rechtfertigung als ethische, nicht als ontische Verbindung von Gott und Mensch gefasst. Stattdessen kam die Kategorie der Relation in den Vordergrund. Die zweite in Mannermaas Augen falsche Interpretation ist der kerygmatischen Theologie und vor allem dem Kerygmaverständnis der dialektischen Theologie anzulasten, die die Soteriologie auf aktualistische Weise verzerrt.177 Lässt man die personal-ethische und die kerygmatische Herangehensweise als moderne Verstehenshindernisse weg, so ergibt sich laut Mannermaa ein klares Bild: Christus ist die Gnade Gottes und zugleich ist er das Ereignis von Gottes Gegenwart. Es ist nicht so, dass man das völlig trennen könnte, wie in Ansätzen, die das bleibende Sündersein auch des Gerechtfertigten betonen. Auch kann man forensische und effektive Rechtfertigung nicht als Ereignisse verstehen, die hintereinander stattfinden. Wo Christus ist, da ist er Gottes Gnade und zugleich Gottes verändernde und heiligmachende Präsenz: »Von den bildhaften Ausdrücken, die die Vereinigung zwischen Christus und dem Gläubigen veranschaulichen, ist die unio personalis der vielleicht intensivste. Obwohl es sich hier um einen der Mystik nahekommenden Begriff handelt, ist er ein wesentlicher Bestandteil der Rechtfertigungslehre Luthers.«178 Gegenwart Gottes und Gerechtigkeit im Glauben sind ein- und dasselbe. Und weil das so ist, kann man festhalten: Das Verhältnis von Gott und Mensch ist ein seinshaftes, ein ontisches. Die Kategorie der Relation, prominent spätestens seit Albrecht Ritschl, fällt dahinter zurück oder ist gar ganz falsch. Das ist der Kerngedanke. Anhand seiner veranstaltet Mannermaa einen Durchgang durch die großen Themen der Christologie und Rechtfertigungslehre, einschließlich eines kurzen Ausflugs in die Ethik. Das Thema wird jeweils durchgeprüft und einer Neuinterpretation unterzogen. So etwa für den Glau176 Die von Mannermaa und den seinen ins Visier genommene ökumenische Anschlussfähigkeit im Gespräch mit der Orthodoxie muss hier außen vor bleiben – dies ausschließlich aus Gründen der Übersichtlichkeit. Denn dass und wie sie dieses Gespräch suchen, ist vielversprechend. 177 T. Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog, Hannover 1989, 189–192. 178 Mannermaa, Glauben, 50f.
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bensbegriff, für den des Gesetzes, für die im Westen gewiss nicht leicht zu hörende Rede von der Vergöttlichung und die berühmte Formel vom simul iustus et peccator. Als sprechendste Beispiele wähle ich die theopoiesis, die Heiligung und die simul-Formel. Um mit der theopoiesis zu beginnen: Mannermaa zitiert hierfür den Galaterkommentar von 1531 (veröffentlicht 1535), in dem es tatsächlich heißt, dass der Glaube aus einem Menschen einen göttlichen Menschen macht: »Fidelis plane est divinus homo, filius Dei, heres orbis terrarum«.179 Diese ungewohnte Begrifflichkeit Luthers besteht nach Mannermaa völlig zu Recht, da der Glaube als tatsächliche Gegenwart Christi den Glaubenden von allem anderen in der Welt unterscheidet. Gleiches findet er in der Freiheitsschrift und schließt daraus, dass es eine lutherische Variante der Lehre von der Vergöttlichung gibt: Durch die wirkliche Gegenwart Gottes im Glauben bedient Gott sich des Gläubigen als Ort seiner Präsenz in der Welt. Glaube ist die Transformationsbewegung in die Gottähnlichkeit.180 Gott ist im Glaubenden ontisch gegenwärtig. Dieser Gedanke hat nichts mit einer Seinsähnlichkeit des Menschen und Gott zu tun. Mannermaa beansprucht also, dass sein Gedanke nicht zu einer rekatholisierenden Interpretation führt und etwa zur Ontologie des IV. Laterankonzils. Vielmehr wird die Denkfigur der Ähnlichkeit inmitten je größerer Unähnlichkeit gerade abgelehnt und – zum Beispiel mit der Heidelberger Disputation – die damit verbundene theologia gloriae scharf abgelehnt.181 Gott ist wirksam gegenwärtig, aber nicht durch eine progrediente Seinswirklichkeit sondern einzig und allein in seinem Wort. In ihm ist er aber wirklich gegenwärtig. Mannermaa zitiert eine frühe Predigt des Reformators, die diesen Wort-GottesAspekt mit Formulierungen zusammenbringt, die an die altkirchliche theopoiesis-Lehre erinnern, wie sie etwa in der berühmten Athanasius-Formel ausgedrückt ist, nach der Gott Mensch wurde, damit der Mensch Gott werde: »Sicut verbum Dei caro factum est, ita certe oportet et quod caro fiat verbum. Nam ideo verbum fit caro, ut caro fiat verbum. Ideo Deus fit homo, ut homo fiat Deus.«182 Das – wie Ebeling es nennen würde – Wortgeschehen ist es, das Gott und Mensch in eine Verbindung bringt, die anders als ontisch nicht ausgesagt werden kann. Entsprechend dieser Sachlichkeit sind die Begriffe Erneuerung und Heiligung keine, vor denen man nach Auskunft Mannermaas zurückzuschrecken hätte. Es ist in Luthers Ethik doch so, sagt er, dass wir einander zum Christus werden können und werden sollen.183 Wo gute Werke geschehen – vor Gott gute Werke, nicht solche, die wir dafür zu halten meinen –, da sind dies eigentlich Werke 179 180 181 182 183
WA 40/1, 390,22f. Mannermaa, Glauben, 52–55. Ebd. 130–145. WA 1,28,26–28 (Weihnachtspredigt 1515), bei Mannermaa, Glauben zit. 192. Mannermaa, Glauben, 165–172.
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Christi. Und weil solche Werke nicht durch einen direkten Eingriff Gottes ins Weltgeschehen passieren, sondern dadurch dass der Glaube das Handeln lenkt und leitet, kann man sagen: Die wirkliche Gegenwart Gottes bedient sich des menschlichen Handelns: »Der Gedanke der unio personalis offenbart erneut, daß Luther die ontische Qualität der Gegenwart Christi als völlig real versteht. Christus ist Freiheit, Gerechtigkeit und Leben. Durch seine Gegenwart verbannt oder ›absorbiert‹ er gleichsam die im Gläubigen befindliche Sünde, Verdammnis und den Tod.«184
Das aber ist nichts anderes als die Rede von der Erneuerung und Heiligung des menschlichen Lebens. Heiligung geschieht – und nicht etwa nur forensische Rechtfertigung. Und: Heiligung geschieht, wo Glaube ist, und nicht etwa als nachgelagerter Effekt der zuvor stattfindenden forensischen Rechtfertigung. Von diesem Gedanken aus ist es dann ein nicht mehr allzu großer Schritt zu einer Revision des Gedankens vom simul iustus et peccator. In der Hauptsache revidiert Mannermaa die Formel, indem er sagt, es gehe um ein prozesshaftes Verständnis von Heiligung und man müsse deshalb von einem partim iustus et partim peccator sprechen: Christus kommt im Heiligen Geist dauerhaft zu uns und nimmt die Sünde der Sünder hinweg.185 Wieder ist es wesentlich einer Passage aus dem großen Galaterkommentar geschuldet, dass Mannermaa dies Thema bei Luther entdeckt. Den Totalaspekt lässt er daneben auch gelten, gibt ihm aber eine andere als gewöhnliche Interpretation: Was in uns iustus ist, ist allein Gottes Präsenz in Christus, nicht unser Werk. Das Durchsäuern des Sauerteigs ist das Werk Christi allein, der im Glauben real anwesend ist.186 So weit einige Beispiele dafür, wie laut Tuomo Mannermaa die gewohnte Terminologie und Sachlichkeit von Glaube, Gegenwart Christi, Wachstum im Glauben, ja Vergöttlichung revidiert werden muss, wenn es um Luthers Sicht der Dinge geht. Ich zitiere eine kurze Zusammenfassung: »Der Gedanke des im Glauben real-ontisch anwesenden Christus erschließt die Bedeutung vieler Themen der Theologie Luthers, die bisher in der Forschung umstritten gewesen sind. Er macht verständlich, wie Luther das Verhältnis zwischen Rechtfertigung und Heiligung, realer Gerechtigkeit und Gerechterklärung sowie den Partial- und Totalaspekt des simul-Gedankens versteht.«187
Neben und mit Mannermaa hat ein mittlerweile großer Kreis an Schülerinnen und Schülern Studien vorgelegt, auch kam es zu reger Rezeption und Diskussion auf Kongressen. Das Bild ist dabei durchaus nicht einheitlich, der Kerngedanke 184 185 186 187
Mannermaa, Glauben, 49. Mannermaa, Glauben, 67. Mannermaa, Glauben, 69f ad WA 40 I,371,18–25. Mannermaa, Glauben, 92.
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aber wird konsistent vertreten. Ich kommentiere ihn anhand von vier Aspekten, zunächst durch zwei Beobachtungen zur Vorgehensweise und zum Erklärungsziel der finnischen Arbeiten: 1. Zuerst die Ausgangsbeobachtung, dass es sich bei der Arbeit des MannermaaKreises um theologiegeschichtliche Studien handelt. Erst vereinzelt werden jetzt systematische Anschlüsse vorgenommen, so etwa von Risto Saarinen, der den Begriff der Gabe ins Zentrum seiner Erwägungen stellt – und ihn durchaus nicht einlinig mit Mannermaa interpretiert.188 Sieht man davon ab, dann sind die vorgelegten Interpretationen nicht direkt für die Integration in die gegenwärtigen Debatte gedacht, sondern als theologiegeschichtliche Neuinterpretation. Die Ringe der Fehlinterpretation – Stichworte Ethisierung des Gottesverhältnisses und Kerygmatheologie – sollen abgetragen und ein unverstellterer Blick auf Luther ermöglicht werden. Entdeckungszusammenhang ist das lutherisch-orthodoxe Gespräch, wobei die Arbeiten aber nicht behaupten, die ›Lösung‹ für es gefunden zu haben, sondern das unerschlossene Potential Luthers für dies Gespräch aufgeschlossen zu haben.189 2. Zum Fokus der Untersuchungen: Bei Tuomo Mannermaa – und nicht nur bei ihm – ist eine zweifache Konzentration festzuhalten. Zum einen konzentriert er sich auf wenige Kerntexte des Reformators. Allen voran ist hier der Große Galaterkommentar zu nennen, flankiert durch Passagen aus dem Antilatomus, der Kirchenpostille, der Freiheitsschrift und – gleichsam als Entdeckungs-, nicht jedoch als Begründungszusammenhang – aus der erwähnten Weihnachtspredigt von 1515. Kleinere Zitate finden sich selbstverständlich auch, die aber durchaus und meist eingestandenermaßen den Charakter von Fündlein in des Wortes besten Sinne haben. Diese Konzentration auf zwar zentrale aber eben doch nicht sehr viele Wortmeldungen des Reformators spiegeln sich in einer zweiten Konzentration, nämlich der auf Begriffe. Mannermaa sieht seine Beweisziele regelmäßig dann erreicht, wenn er gezeigt hat, dass Luther tatsächlich Begriffe wie ›Gottwerdung‹, ›Vergottung‹, ›Gegenwart Christi‹, ›Heiligung‹, ›einander zum Christus werden‹ und andere verwendet. Der Fokus liegt hierauf und damit auf dem Nachweis, dass der Wechsel im erklärenden Bezugssystem, der bei der Ethisierung und im Rahmen der Kerygmatheologie vorgenommen wurde, sachlich nicht zutrifft. Wieder zeigt sich hier die theologiegeschichtliche und nun auch forschungsgeschichtliche Zuspitzung seiner Arbeiten und der seines Teams.190 188 Vgl. etwa die weiterführende Interpretation der Gabe-Metapher bei R. Saarinen, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville MN 2005; ders., Partizipation, 136–142. 189 Mannermaa, Glauben, 9. 190 Bekannteste Arbeit mit explizit forschungsgeschichtlicher Zuspitzung ist R. Saarinen, Gottes Wirken auf uns. Die transzendentale Deutung des Gegenwart-Christi-Motivs in der Lutherforschung, Stuttgart 1989.
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Der Erklärungsanspruch ist offenbar nicht der, eine Gesamtdeutung vorzulegen und entsprechend sind die Arbeiten nicht durch den Nachweis widerlegt, Luther habe auch anders gedacht und anders formuliert. Dass er in einiger Nähe zur theopoiesis-Lehre konzipierte, darauf kommt es an. Die eigentliche systematische Frage wird an andere weitergereicht. Auf diese beiden Aspekte wird – mindestens – zu achten sein, will man in Rezeption und Kritik nicht aneinander vorbei reden. Hinzu kommen m. E. noch mindestens zwei weitere, mit denen der Eintritt in die inhaltliche Auseinandersetzung beginnt: 3. Die Betonung, Luther benutze ontologische Termini, hat etwas Apodiktisches. Dass liegt daran, dass Mannermaa nicht auf eine Eigenart theologischen Sprechens reflektiert. Nirgends in seinen Arbeiten ist zu lesen, dass die großen Termini der Theologie Metaphern sind. Nirgends ist zu lesen, dass Theologie die interne Logik von Metaphern und Metapherngruppen ausschreitet und sie – das allerdings geht dann nicht ohne scharfe begriffliche Arbeit – prüft und, wo nötig, korrigiert.191 In Mannermaas Wahrnehmung funktioniert es so: Wo ein Schlüsselbegriff auftaucht, da steht er für ein begrifflich benennbares Konzept. Das ist aber ein zu direkter Zugriff, der um die Metaphorizität auch der großen Begriffe kürzt. Vor allem verbaut er den Blick darauf, dass Begriffe je und je durch ihre Verwendung im Kontext in ihrer Bedeutung festgelegt werden. Pointiert gesagt: Nicht dass Luther bestimmte Begriffe aus der Ontologie und aus der Nähe der theopoiesis-Lehre verwendet, ist entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, wie Luther sie in den Kontext seiner Erwägungen einzeichnet und wie durch diesen Aspekt der Sprachverwendung – es handelt sich um den synkategorematischen – den Begriffen womöglich eine Bedeutungsverschiebung zukommt. Das Beweisziel ist ums Entscheidende zu kurz definiert, wenn es darin besteht, das Vorkommen ontologischer Sprache beim Reformator festzustellen. Das eigentlich Interessante ist, wie Begriffe und Metaphern einander wechselseitig interpretieren, erklären – und damit auch, wie sie einander wechselseitig begrenzen.
191 In einem erhellenden Aufsatz zur Trinitätslehre spricht Michael Welker von »Metaphernkränzen«, die es in ihr wahrzunehmen und auf ihre interne Logik und Aussagekraft zu überprüfen gilt, vgl. M. Welker, Gottes Ewigkeit, Gottes Zeitlichkeit und die Trinitätslehre. Prolegomena zum Verstehen trinitätstheologischer Metaphernkränze, in: Metapher und Wirklichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur. Dietrich Ritschl zum 70. Geburtstag, hg. von R. Bernhardt und U. Link-Wieczorek, Göttingen 1999, 179–193. Grundsätzliches zur Rolle der Metaphorizität biblisch entlehnter Vorstellungen in der – ihrerseits selbst nicht metaphorisch sondern begrifflich arbeitenden – Theologie bei D. Ritschl/M. Hailer, Grundkurs Christliche Theologie. Diesseits und jenseits der Worte, Neukirchen-Vluyn 42015, 28–40.365–376.387–393.
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4. Mit dem vorigen Punkt verbunden ist die Feststellung, dass der behauptete ausschließende Unterschied zwischen relationalem und ontologischem Sprechen nicht existiert. Die – notabene positive – Provokation der finnischen Arbeiten besteht darin, die Verwendung ontischer und ontologischer Metaphorik bei Luther ausgemacht und dann gezeigt zu haben, unter welchen forschungsgeschichtlichen Bedingungen sie in den Hintergrund gedrängt wurde. Was ich aber für falsch halte, ist die damit verbundene Behauptung, Luther denke nicht relational, sondern ontisch. Warum sollen das Gegensätze, ja ausschließende Gegensätze sein? Interessant ist doch vielmehr, dass zwei Konzepte ineinander und aneinander geraten, dass zwei Metaphern oder Metapherngruppen einander wechselseitig korrigieren, ergänzen und kritisieren.192 Wieder zeigt sich: Ein Terminus erhält seine Aussagekraft vorzüglich durch seine Verwendung und nicht durch ihm isoliert zugesprochene Bedeutungsgehalte. Für die Rezeption der finnischen Ergebnisse in der systematischen Debatte dürfte diese Beobachtung eine Schlüsselrolle einnehmen.
Neuwerden der Person durch Teilhabe an Gott? Zur systematischen Frage Die finnische Lutherforschung sagt, dass aller Anlass für ein real-ontisches Verständnis der Partizipation des gerechtfertigen Menschen an Gott besteht. Dies real-ontische Verständnis legt sie auf die klassischen Themen von Luthers Rechtfertigungsdenken hin aus, auf die Heiligung, den simul-Gedanken und anderes. Sie beansprucht damit, eine vor allem in der deutschsprachigen Lutherforschung tief sitzende Fehldeutung zu korrigieren und zum Gespräch mit der theopoiesis-Lehre der östlichen Orthodoxie beizutragen. Es ist jetzt zu überlegen, wie die Gedanken der finnischen Lutherforschung im gegenwärtigen systematischen Gespräch zu stehen kommen und ob sie helfen, 192 Das ist das Hauptargument der Auseinandersetzung, die Karsten Lehmkühler mit den finnischen Autoren führt, auch wenn er die Logik der Metapher nicht in den Blick nimmt, vgl. K. Lehmkühler, Inhabitatio. Die Einwohnung Gottes im Menschen, Göttingen 2004, 268– 283. In der finnischen Debatte selbst hat Risto Saarinen erste Schritte unternommen, Begriffe nicht nur als strenge Termini zu fassen, so etwa in seiner Interpretation des Gabebegriffs. Dass sprachphilosophische und -theologische Erwägungen aber weitgehend fehlen, räumt auch er ein, vgl. Saarinen, Partizipation, 142f. Eine ausführliche Reaktion, die von Sympathie für die Sache geprägt ist, aber ebenfalls Differenzierungen der Begrifflichkeit einklagt, hat Gunther Wenz vorgelegt, vgl. G. Wenz, Unio. Zur Differenzierung einer Leitkategorie finnischer Lutherforschung im Anschluß an CA I–VI, in: Unio. Gott und Mensch in der nachreformatorischen Theologie. Referate der Finnischen Theologischen Literaturgesellschaft in Helsinki 15.–16. November 1994, hg. von M. Repo u. R. Vinke, Helsinki 1996, 333–380. Wieder zu Ehren dürfte damit eine richtungsweisende frühe Arbeit von Wilfried Joest kommen, vgl. W. Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967. Völlig zu Recht geschieht die Wiederaufnahme bei Lehmkühler (diese Anm.), 268.270 u. ö.
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die Behauptung, Gottes Stellvertretung für Menschen verändere sie und bringe sie an eine neue Stelle, zu verstehen und voranzubringen. Ich möchte Folgendes wahrscheinlich machen: a) Es ist theologisch gut und richtig, von der gnadenhaften Teilhabe des Menschen an Gott zu sprechen. b) Zur Rede von der Partizipation gehört die Rede von der gegenwärtigen Wirksamkeit Gottes. c) ›Vollzugsort‹ der Partizipation ist der Glaube. d) Fraglich aber ist die Pointe der finnischen Lutherforschung, die einen starken Gegensatz von ontischer und relationaler Sprache vorschlägt. e) Die Partizipation an Gott ist wesentlich mit pneumatologischen Sprachmitteln auszusagen. a) Es ist theologisch gut und richtig, von der gnadenhaften Teilhabe des Menschen an Gott zu sprechen. Der Grund für diese steile Behauptung liegt im Wesentlichen in der alten Feststellung, dass Gott nicht etwas offenbart, sondern sich selbst. Entsprechend ist es reduktiv, Offenbarung nur als Weitergabe eines normalerweise verborgenen Inhalts zu verstehen – das wäre das instruktionstheoretische Missverständnis, für das es leider reichlich Beispiele gibt. Auch ist eine gängige Lesart der forensischen Rechtfertigungslehre mindestens reduktiv, nämlich die, die den Kern des rechtfertigenden Handelns allein im Vorgang des ungeschuldet zugesprochenen Urteils sieht. Wird gesagt, dass Gott den rechtfertige, der es präzise nicht verdient, also Ungeschuldetes zuspreche, dann ist das einerseits völlig richtig und nichts weniger als eine reformatorische Kernaussage.193 Andererseits ist dabei mitgesetzt, dass es sich um die Eröffnung einer Beziehung handelt. Und wenn es so ist, dass das Wesen von personaler Beziehung darin besteht, die eigene Identität nicht ohne Bezug auf die Identität des/der anderen aussagen zu können, dann ist bereits der isolierte Akt des forensischen Zuspruchs Eröffnung der Beziehung und Eröffnung der Partizipation. Es ist also nicht möglich, in Sachen Rechtfertigung nicht von Partizipation zu sprechen. Wer 193 Außen vor bleiben kann die begriffliche Kontroverse, ob Gott ein synthetisches Urteil spricht, weil er dem Ist-Zustand des Menschen etwas zuspreche, was in diesem nicht vorhanden ist oder ob es sich von Gott aus gesehen um ein analytisches Urteil handelt, weil er proleptisch auf die Vollendung in seinem Reich hin zuspreche, was jedoch durch die gegenwärtige Selbsterfahrung des Gerechtfertigten nicht gedeckt ist. Fürs erstere votiert A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung III, Bonn 41910, 77–83, letztere Position bezieht K. Holl, Zur Verständigung über Luthers Rechtfertigungslehre, Neue Kirchliche Zeitschrift 34 (1923), 165–183, bes. 170.176. Für die oft – und besonders in der finnischen Lutherforschung – geäußerte Vermutung, Ritschl isoliere den synthetischforensischen Aspekt der Rechtfertigung und begebe sich so der Möglichkeit, von der wirksamen Gemeinschaft Gottes und der Menschen zu sprechen, gibt es aber, wie ein Blick in seinen ›Unterricht‹ zeigt, wenig Anlass, vgl. A. Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, hg. von C. Axt-Piscalar, Tübingen 2002, 60–66. Die Vermutung, Ritschl sei eine der Schaltstellen hin zum Wirklichkeitsverlust in der Rechtfertigungslehre, ist demnach – unbeschadet all dessen, was zu den einschlägigen Aussagen in seiner großen Rechtfertigungsstudie zu sagen ist – nicht differenziert genug.
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darauf meint verzichten zu können, kürzt das Beziehungsereignis zu einem distanzierten Urteilsakt. Und das wäre – um die reductio ad absurdum zu vervollständigen – nur als feststellendes Urteil über das Bestehen eines Sachverhalts möglich und gerade nicht als Zuspruch des Ungeschuldeten. Es gibt also allen Anlass, das evangelische Verständnis von der Rechtfertigung im Sinne der gewährten Teilhabe an Gott durchzubuchstabieren. Die erste Funktion dieser Bildlichkeit ist dabei, von der Wirklichkeit der Rechtfertigung nicht zu klein zu denken. Das evangelische Verständnis denkt von Gott nicht weniger großherzig als es die katholische Leitidee vom habitus infusus tut – es denkt wohl aber anders und nicht zuerst habitual von Gottes Großherzigkeit. Vergleichbares gilt im Dialog mit der theopoiesis-Lehre des Ostens: Auch ihr gegenüber ist das Anteil gewährende Gerechtsprechen nicht gleichsam kleiner, vorsichtiger, skeptischer. Wohl aber wird auf andere Weise von Gottes Güte und Präsenz gesprochen. Die Kategorie der Relation ist, recht betrachtet, eine, die gar nicht ohne den Aspekt der Partizipation gedacht werden kann. Das ist im Wesentlichen eine Wiederaufnahme von Dietrich Bonhoeffers Relationsbegriff. Besonders deutlich zu Tage liegt das in ›Akt und Sein‹. Bonhoeffers dort vorgelegter Begriff von Partizipation ist das ›Sein in Christus‹. In der entsprechenden Passage seines Buches legt Bonhoeffer das Sein in Christus durch eine Reihe von Relationen aus. Schon formal zeigt sich darin: Das Partizipationsdenken wird relational erklärt, genauso wie das Relationsdenken nicht umhin kann, als Sein in Christus verstanden zu werden. Als sprechendste Beispiele aus einer Reihe von Bestimmungen möchte ich zwei nennen. (1) Das Sein in Christus versteht Bonhoeffer als auf-Christus-gerichtet-Sein. Es geht um die »durch Christus in ihrer Existenz getroffene, gerichtete oder neu geschaffene Person«.194 Das in-Christus-Sein ist ein unvordenklich neuer Bezug auf ihn. (2) Dieser Bezug verändert den zur eigenen Vergangenheit, was Bonhoeffer durch eine Analyse des Gewissens – samt kräftiger Warnung vor dessen Absolutsetzung – skizziert.195 Es verändert auch den Zugang zur eigenen Gegenwart und Zukunft, weil das Sein des Christen durch die Zukunft als Möglichkeit bestimmt wird.196 In diesem Sinne liegen Relationalität und Partizipation ineinander bzw. erklären einander wechselseitig. b) Zur Rede von der Partizipation gehört die Rede von der gegenwärtigen Wirksamkeit Gottes. Darauf haben die finnischen Lutherforscher zu Recht hingewiesen: Teilhabe an Gott ist gleichbedeutend mit Gottes wirksamer Gegenwart. 194 D. Bonhoeffer, Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie (DBW 2), Gütersloh 32008, 152. 195 Bonhoeffer, Akt und Sein, 154–157. 196 Bonhoeffer, Akt und Sein, 157–161.
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Die Tradition denkt dies durch den Verweis auf das In- und Miteinander von forensischer und effektiver Rechtfertigung, in den Arbeiten in Finnland hat sich dafür die Metapher der Gabe als folgerichtig erwiesen: »Es ist für die finnische Lutherforschung ausgesprochen wichtig, dass der Mensch nicht nur als Nutznießer des Werkes Christi zum Bild kommt, sondern auch als Empfänger des Heils.«197 Zusammenfassend charakterisiert Risto Saarinen es so: »1) Der Christ ist kein bloßer Nutznießer des Werkes Christi, sondern ein Heilsempfänger, 2) das Ereignis des Heils bzw. der Rechtfertigung umfasst sowohl Gottes gnädige Einstellung (favor, gratia) als auch seine heilende Gabe (donum), 3) die Gnade kann als Gnade und als Gabe durch die Kenntnis der Intention bzw. der Gunst Gottes identifiziert werden. Im faktischen Zusammensein von gratia und donum hat die Gnade deswegen eine sachlogische Priorität. 4) Die gnädige Intention Gottes sowie ihre gewisse Priorität kommt auch in anderen theologischen Begriffen (promissio, imputatio, misericordia, Vergebung der Sünden) vor. 5) Eine einseitige Betonung dieser Intention im Rahmen der forensischen Rechtfertigung stellt aber das Empfangen-Können des Heils in Frage, weil der Mensch dann nur als Nutznießer zum Bild kommt. 6) Die Realität der Gabe kann das Empfangen des Christen und seine personale Beziehung zu Gott bewahren und des Weiteren eine freilich unsichere und fragmentarische Evidenz des Glaubens im Leben der Christen bieten. 7) Die Gewissheit und der Trost des Christen ist nicht in dieser Evidenz, sondern allein in der barmherzigen Intention bzw. Verheißung Gottes zu sehen.«198
Das ist weitgehend zustimmungsfähig. Wird nicht der Fehler gemacht, aus vorgeblicher subjektiver Gewissheit über die Gegenwart Gottes auf diese zu schließen,199 so ist mit der Rede von ihr mitgesetzt, dass es sich um wirksame Gegenwart handelt: Gottes Wort bewirkt, was es sagt. Das ist ein Argument, das in der systematisch-theologischen Rezeption der finnischen Arbeiten eine wichtige Rolle spielt. So wendet sich der amerikanische Lutheraner Robert W. Jenson gegen eine, wie er es nennt, Fiktionalisierung der lutherischen Rechtfertigungslehre und zitiert zustimmend aus einem anglikanisch-katholischen Dialogpapier: God’s »creative word imparts what it imputes«.200 Er ergänzt das durch folgenden Hinweis: »According to Luther, the soul becomes what it hearkens to. If the soul attends to the world’s solicitations it becomes itself worldly. If it attends to Satan’s council of despair it is rapt into itself. If it attends to the story of God’s righteousness it becomes righteous.«201 Dieser Satz könnte auf den wohlbekannten Satz aus der Auslegung zum 1. Gebot 197 Saarinen, Partizipation, 139. 198 Saarinen, Partizipation,141f. 199 Es ist nicht recht verständlich, warum dieses Missverständnis in These 6 ermöglicht und in These 7 sodann völlig zu Recht bestritten wird. 200 R.W. Jenson, Systematic Theology Vol. 2: The Works of God, Oxford u. a.1999, 294, i.O. teilw. herv. 201 Jenson, Systematic Theology 2, 295.
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im Großen Katechismus hinweisen: »Ein Gott heißet das, wovon man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß einen Gott haben nichts anders ist denn ihm von Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott. Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott«202 So weit Argumente und Beobachtungen, die ich für zustimmungsfähig halte. c) ›Vollzugsort‹ der Partizipation ist der Glaube. Unter dieser Zwischenüberschrift ist im Grunde nur an Selbstverständliches zu erinnern. Freilich könnte sich zeigen, dass diese Erinnerung beim Begriff des Glaubens auf etwas aufmerksam macht, das leicht in den Hintergrund gerät. Tuomo Mannermaas Programmformel sagt es ja bereits: In ipsa fide Christus adest. Es geht um eine Näherqualifikation des Glaubens, nicht um die Etablierung einer, wenn man so will, anderen Kontaktstelle. Auch die in der finnischen Literatur mitunter provokativ aufs Physische zielende Terminologie will keinen neuen Anknüpfungspunkt etablieren. Von schwärmerischen und auch von mystischen Vorstellungen ist der Versuch innerlutherischer Selbstkorrektur deutlich unterschieden.203 Diese Situierung des Themas wird schlicht von niemandem, der in der Debatte engagiert ist, bestritten. Freilich aber handelt es sich um eine Näherqualifikation des Glaubens. Und so frage ich mich, ob es genügt, das Thema so zu umreißen, dass man sagt, seine Sachlichkeit sei in der Sachlichkeit des Glaubens ohnehin enthalten. Zumindest in diese Richtung gehen kritische Bemerkungen von Christoph Schwöbel. Er bestimmt Gottes Offenbarung als Teilgabe und den Glauben als Teilhabe des Gläubigen.204 Er wendet sich damit gegen ein Partizipationsverständnis platonischen Ursprungs, das »als Teilhabe des endlichen Seienden am unendlichen Sein Gottes begriffen« wird.205 Vielmehr soll trinitarisch und offenbarungsgeschichtlich gedacht werden. Dann aber ergibt sich: »Das Sein Gottes ist als kommunikatives, auf Partizipation gerichtetes Sein verstanden, das auf sein Offenbarwerden abzielt, das Erkennen des Menschen als partizipatorische Erkenntnis in der kommunikativen Gemeinschaft mit Gott.«206
202 BSLK 560,13–17. 203 Unerörtert bleiben muss hier, ob die partizipatorische Lesart des Glaubensbegriffs nicht gewisse Nähen zu mystischen Konzepten der Innerwerdung Gottes eröffnet. Der junge Luther hatte sie mit seiner Herausgabe der theologia deutsch und der Reformator in den wohlbekannten Abschnitten der Freiheitsschrift ja immerhin nahe gelegt. 204 C. Schwöbel, Emanzipatorische Partizipation. Gottes Mitteilung, die Teilhabe des Glaubens und die Freiheit zur Liebe, ÖR 57 (2008), 187–204, 189–195, 199f. 205 Schwöbel, Emanzipatorische Partizipation, 200. 206 Schwöbel, Emanzipatorische Partizipation, 202.
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Diesen Feststellungen ist gewiss zuzustimmen. Zwei Bemerkungen jedoch. (1) Die Kritik an einer Partizipationsontologie platonischen Ursprungs geht an der Intention der finnischen These vorbei. Das Schöpfungsthema und damit verbunden die Frage, ob Schöpfung partizipationstheoretisch ausgesagt werden kann, ist bei ihr schlicht nicht im Blick. (2) Positiv bestimmt Schwöbel Partizipation im Glauben als Erkenntnis: So im Gegenüber zur Offenbarung Gottes als Teilgabe und so im eben gegebenen Zitat, in dem der Begriff ja direkt auftauchte. Im Rahmen der Zurückweisung einer allgemeinen Partizipationsontologie ist diese Bestimmung verständlich und richtig. Wenn es aber gar nicht um sie geht, dann zeigen sich diese Bestimmungen als Verkürzung: Ist Gott im Glauben gegenwärtig und ist der Glaube gewährte Teilhabe an ihm, dann geht es um mehr als der Begriff Erkenntnis signalisiert. Gottes wirksame Gegenwart führt zu Einstimmung in den und womöglich anfangs- und momenthaft auch Übereinstimmung mit dem Willen Gottes, sie ruft in den Dienst und in die Nachfolge. Aus diesem Grund ist das Thema auch erst in der Pneumatologie erschöpfend zu behandeln (Hinweis hier unter e]). Sollten auch diese Aspekte mit ›Erkenntnis‹ gemeint sein, so spricht nichts gegen die Verwendung des Begriffs. Dass Partizipation aber als qualitative Näherbestimmung von Glaube in Betracht kommt, sollte durch sie nicht untergehen. So weit wird man also mit der finnischen Forschung und ihrer systematischen Rezeption gehen dürfen: Das Thema der Partizipation der Gläubigen an Gott gehört in die evangelische Rede von Gottes Gnade; es wird zu Recht von der gegenwärtigen Wirksamkeit Gottes gesprochen; Partizipation ist eine Näherbestimmung von Glaube und damit auch eine legitime Auslegung der Stellvertretungslogik von Röm 3,25f. Differenzierungen und Widerspruch sind in den folgenden Aspekten einzuziehen. d) Fraglich ist die Pointe der finnischen Lutherforschung, die einen starken Gegensatz von ontischer und relationaler Sprache vorschlägt. Dass mindestens Tuomo Mannermaa selber zur Suggestion einer ausschließlichen Alternative neigt, die es so allerdings nicht geben dürfte, wurde oben schon gezeigt. Hier ist ein Blick auf die systematischen Konsequenzen dieses Schritts angebracht. Zunächst: Dass es darum gehe, nicht relational sondern ontisch von der Rechtfertigung zu sprechen, diese Rede findet sich auch in der explizit systematisch-theologischen Rezeption, und zwar wiederum bei Robert W. Jenson. Er schreibt: »By this participation in Christ, which occurs as we believe the word of the gospel, we are ontologically righteous. (…) We may relax our adherence to Luther and let Jonathan Edwards join him in drawing the facit: when the Father judges the believer and says that he or she is righteous, the Father is simply acting as a just judge who finds the facts – about the only moral subject that actually
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exists in the case, Christ in the believer and the believer in Christ. Justification is thus a ›mode of deification‹.«207 Hier wird mit der Begrifflichkeit aus Luthers ›Von der Freiheit eines Christenmenschen‹ operiert und gerade nicht die Behauptung aufgestellt, der Glaubende sei ex sese gerecht.208 Und doch ist für Jenson die Konsequenz, dass man von ›ontologically righteous‹ und vom ›mode of deification‹ sprechen kann. Die Begrifflichkeit ist provozierend, aber das allein ist ja noch kein Anlass zur Kritik. Interessant ist und in die Diskussion führt, dass Jenson Konsequenzen für die Soteriologie benennt und insofern das konstatierende Ergebnis der finnischen Forschung, Rechtfertigung sei ontologisch zu verstehen, konstruktiv weiterführt. Der wohl wichtigste Punkt, den Jenson hier einführt, ist, dass er die Rede vom simul iustus et peccator in eine Logik des partim iustus partim peccator überführt. Nicht nur Christus, so legt er Luther zustimmend aus, auch der Christ »is the subject of a real communion of divine attributes«.209 Die Gerechtigkeit Gottes geht durch die communicatio idiomatum nicht nur auf Christus über sondern auch auf die, mit denen er in ontischer Verbindung steht. Des Christen Seele ist die Materie, die von der Form geprägt wird, die Gottes Wahrheit und Gerechtigkeit ist, wenn er das Evangelium hört.210 Gott und Mensch sind durch dieselbe Gerechtigkeit gerechtfertigt.211 Zwar muss man sagen, dass die menschliche Teilhabe an der Gerechtigkeit Gottes eine anfangshafte ist, aber dies kann man eben doch sagen. Was ist hier argumentativ geschehen? Genau betrachtet handelt es sich um eine Aufnahme des finnischen Motivs, sodann um seine argumentative Begrenzung und schließlich um den Ansatz einer Umdeutung.212 In dieser Reihenfolge: (1) Übernommen wird das Motiv ontischer Teilnahme und die These, das mache die Rede von einer wohl anfangshaften aber dennoch realen Partizi207 208 209 210 211 212
Jenson, Systematic Theology 2, 296. Vgl. WA 7,25,26–26,12. Jenson, Systematic Theology 2, 297. Jenson, Systematic Theology 2, 295. Jenson, Systematic Theology 2, 297. Sollten die folgenden Analysen zutreffen, dann wäre das nicht ohne Pikanterie, weil Jenson als Respondent auf einen Vortrag Mannermaas sein völliges Einverständnis mit ihm erklärt: »I cannot respond to Tuomo Mannermaa’s paper in the usual fashion: by first expressing appreciation and then registering reservations. For I have none of the latter.« R.W. Jenson, Response, in: Union with Christ. The New Finnish Interpretation of Luther, ed. by Carl E. Braaten/ Robert W. Jenson, Grand Rapids 1998, 21–24, 21. Offensichtlich zeigen sich durch den systematischen Einsatz Schwierigkeiten, die bei der rein theologiegeschichtlichen Befunderhebung so nicht zu sehen sind. Auch möglich wäre, dass sich hier der tendenzielle Nachteil von Mannermaas Vorgehen manifestiert, das Dass von Partizipationsvorstellung bei Luther aufgewiesen zu haben, sie aber nicht mit den weitgehend eindeutigen Passagen und Werken gegenzulesen, denen ohne Mühe eine relationale Sprache entnommen werden kann.
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pation an der Gerechtigkeit möglich, unter Aufnahme der Begrifflichkeit von Form und Materie. (2) Begrenzt wird es wie folgt: Jenson führt nicht wenige Vorsichtsmaßregeln ein, etwa die Versicherung, es handle sich wirklich nur um einen Beginn, der für den ersten Gebrauch des Gesetzes noch mehr als genug Raum lasse.213 Auch spricht er davon, dass die menschliche Persönlichkeit bis zum vollen Anbruch des Reiches Gottes eigentümlich geteilt sei, man müsse sehr wohl vom alten und vom neuen Menschen in gleichzeitiger Existenz sprechen, die auch im Gläubigen nur durch das Gewissen vereinigt seien.214 (3) Die Umdeutung des finnischen Motivs wird angebahnt durch folgenden Aspekt: Glaubende sind gerecht, sofern sie das Wort von der Rechtfertigung hören.215 Jenson zieht hier also den Aspekt von Vorgang und Ereignis hinein. Als Hörer des Wortes sind Gläubige im wirksamen Wort Gottes, das sie gerecht macht. Als solche, die an den Sakramenten der Kirche teilnehmen, sind sie es.216 Mitgesetzt ist in solcher Rede aber: Es gibt sehr wohl Zeiten und Orte, zu denen und an denen das nicht der Fall ist. Hörer des Wortes, Nießer des Sakraments zu sein, ist ein Ereignis – und die Überformung durch Gottes Gerechtigkeit ist entsprechend ereignishaft zu verstehen. Damit aber kommt ein Moment herein, von dem die finnische Lutherforschung sich hat verabschieden wollen, die Rede vom ungeschuldeten Ereignischarakter der Gegenwart Gottes. Der Vorwurf an die kerygmatische Theologie war ja gewesen, die Stetigkeit der Gnade Gottes zu Gunsten von ereignishaften Vorstellungen zurückzudrängen. Genau dieses Momentum macht Jenson wieder stark, indem er auf den Vorgangscharakter der Rechtfertigung verweist. In einer trinitätstheologischen Reflexion heißt es: »Justice as an act of the Son is the event of righteousness. We are righteous as the risen Christ’s word is spoken and believed, as the word that he is occurs among us.«217 »[T]he Father’s speaking of the word actually creates faith in us«.218 Im Rahmen von Jensons Gesamtentwurf ist dieser Schritt konsequent. Im Kern seiner Gotteslehre argumentiert er, dass Gottes Unendlichkeit zeitlich, nicht räumlich verstanden werden solle: »The only infinity that Greek theology could apprehend, and that it derogated, envisioned infinity on the analogy of space: an infinite something would be nothing because it would be dissipated. Per contra, the only infinity that according to Gregory [of Nyssa, M.H.] is God’s deity, is temporal infinity. God is not infinite because he extends indefinitely but because no temporal activity can keep up with the activity that he is.«219 Bei anderer Gelegenheit ist zu diskutieren, ob die Einführung des Un213 Jenson, Systematic Theology 2, 297. 214 AaO 299. Man könnte sagen, dass mit dieser Vorstellung ein drohendes alexandrinisches Verständnis der communicatio idiomatum nestorianisch gebrochen wird. 215 Jenson, Systematic Theology 2, 295. 216 Jenson, Systematic Theology 2, 301f. 217 Jenson, Systematic Theology 2, 300. 218 Jenson, Systematic Theology 2, 301. 219 R.W. Jenson, Systematic Theology Vol. 1: The Triune God, Oxford u. a. 1997, 216.
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endlichkeitsbegriffs durch ein Überbietungsmodell, wie Jenson sie hier vornimmt, wirklich sinnvoll ist.220 Deutlich aber dürfte sein, dass die temporal verstandene Begrifflichkeit anschlussfähig ist für das Verständnis von Gottes Gegenwart als Ereignis.
Das finnische Argument von der real-ontischen Partiziaption wird übernommen, begrenzt und umgedeutet. Insbesondere der letzte Schritt, die Umdeutung, trägt eine Sachlichkeit wieder herein, die die finnische Forschung auszuschließen bestrebt war: Gottes Gnade und Rechtfertigung hat Ereignischarakter. Und das ist nichts anderes als der Wiedereintrag von Sprachfiguren, die relational bestimmt sind: Der handelnde Gott und der passive Mensch; das Wort von Gott und die, die es hören. Mit Bruce McCormack und womöglich gegen Jensons Intention würde ich so weit gehen zu sagen, dass Partizipation letztlich deswegen Ereignis ist, weil Gottes Wesen nicht in Abstraktion von seinem Selbstvollzug gedacht werden kann: »God is what God does«.221 Pointiert zur Frage des Ereignisses der Partizipation schreibt McCormack: »Hence, we would do better to think of the hypostatic union in actualistic terms as a uniting, rather than as a completed action, a union.«222 Und konsequenterweise: »participation in God, yes, deification, no«.223 Die Partizipation des Menschen an Gott setzt eben nicht mit, dass Partizipation nur als theopoiesis ausgelegt werden kann.224 Das aber heißt doch für die Frage nach ontischer und relationaler Begrifflichkeit: Die Behauptung der Gegensätzlichkeit von ontischer und relationaler Sprache erweist sich als bloße Behauptung. Die völlig richtige Aussage, dass die Rechtfertigung das Ereignis von Gottes Gegenwart und Teilgabe ist, wird nicht dadurch gestützt, dass sie allein ontisch interpretiert würde. Die beiden Redeweisen stützen einander vielmehr wechselseitig und sie müssen auch in ihrem jeweiligen metaphorischen Charakter erkannt werden. So richtig es ist, dass der rechtfertigende Gott uns zu seinen Kindern und Boten macht, so richtig bleibt es, dass dies eine Redeweise ist, die durch mehrerlei Bildlichkeit gestützt wird. 220 Wolfhart Pannenberg hat das kritisiert und unter Rückgriff auf einen Hegel’schen Gedanken den Begriff des wahrhaft Unendlichen eingeführt, dem zufolge erst dasjenige wirklich unendlich ist, das nicht nur durch nicht-Endlichkeit bestimmt ist, sondern das zum Anderen als es selbst in Kontakt tritt, vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie Band 1, Göttingen 1988, 432. 221 B. McCormack, Participation in God, Yes, Deification, no. Two Modern Protestant Responses to an Ancient Question, in: Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre, hg. von I.U. Dalferth u. a.,Tübingen 2004, 347–374, 351. 222 McCormack, Participation, 355. 223 McCormack, Participation, 347. 224 Offensichtlich setzt Mannermaa diese Begriffe äquivalent: »The motif of participation in God (theosis) is inherent in Luther’s theology.« T. Mannermaa, Why is Luther so fascinating?, in: Union with Christ. The New Finnish Interpretation of Luther, ed. by Carl E. Braaten/ Robert W. Jenson, Grand Rapids 1998, 1–20, 3. Eine nicht geringe Menge der Schwierigkeiten, die sich der Rezeption von Mannermaas Partizipationsgedanken entgegenstellen, könnte darin begründet sein.
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e) Partizipation an Gott ist wesentlich mit pneumatologischen Sprachmitteln auszusagen. Die finnische Forschung führt ihre Partizipationsthese vor allem christologisch durch. Dass Christus wirklich im Glauben anwesend sei und dass seine Eigenschaften wirklich auf den gerechtfertigten Menschen übergehen, will sie als den Kern von Luthers Anliegen aufweisen.225 In seiner systematischtheologischen Adaption ist ihm Robert W. Jenson in dieser christologischen Konzentration durchaus gefolgt. Er belässt es dabei freilich nicht, sondern zieht eine kurze trinitätstheologische Bilanz der real-ontisch verstandenen Rechtfertigungslehre. Ihr zufolge kann man den göttlichen Personen jeweils einen Aspekt der Rechtfertigung appropriieren: Dem Vater den ungeschuldeten Beginn, dem Sohn das Ereignis der Rechtfertigung und dem Geist die tatsächliche Erlangung der Rechtfertigung: »The sending of the Spirit is the movement of our righteousness, is its eschatological liveliness, without which it could not be God’s righteousness. (…) the Spirit is the movement of God’s own righteousness.«226 Diese trinitätstheologische Bestimmung läuft darauf hinaus, dreimal zu bestätigen, dass die erlangte Rechtfertigung wirklich Gottes Gerechtigkeit selbst als Gabe übermittelt: durch den ungeschuldeten göttlichen Anfang, durch die tatsächliche Vereinigung Christi mit uns, durch die Göttlichkeit des Geistes, die die Bewegung von Gottes Gerechtigkeit ist. Bei anderer Gelegenheit wäre zu fragen, ob dies nicht ein modalistisch getönter Gedanke ist, der sich von Jensons ausführlicher trinitarischer Grundlegung ein Stück entfernt.227 Hier kommt es darauf an, dass in der Appropriation der Gegenwart Gottes zum Geist noch mehr und durchaus anderes zu sagen wäre. In den finnischen Arbeiten und bei Jenson ist durchaus angelegt, worauf ich hinaus will: Die Dezentrierung der Person des Gläubigen in Gott, also die Aussage, dass die Mitte einer Person nicht mehr in und bei sich selbst ruht, sondern im Vorgang der Stellvertretung in Gott geborgen ist. Etwas holzschnittartig gesagt: Die vorliegenden Arbeiten beschreiben das als christologisches Faktum, ich schlage vor, es als pneumatologischen Vorgang in den Blick zu nehmen. Dass Gott gegenwärtig ist, hat im Leben derer, für die und bei denen er gegenwärtig ist, lebensverändernde Konsequenzen. Was Risto Saarinen als Gabe Gottes beschrieben hat (oben b]), das kommt beim mit dieser Gabe Beschenkten ja nicht als Besitz oder Habe an. Es ist uneigentlicher, wenn nicht gar gänzlich falscher Sprachgebrauch, zu sagen, jemand ›habe‹ Gottes Geist oder jemand sei ›im Besitz‹ der Gnadengaben. Viel eher, und damit bin ich bei meinem pneumatologischen Punkt, ist es ein umgekehrtes Verhältnis: Weil es Gott gefällt, in der Fülle seiner Gaben gegenwärtig zu sein, ›hat‹ er den Gläubigen, würdigt er ihn 225 Programmatisch Mannermaa, Glauben, 56–91. 226 Jenson, Systematic Theology 2, 301. 227 Jenson, Systematic Theology 1, bes. 79–89.146–161.
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seiner Indienstnahme und Neuausrichtung. Die Gabe, von der Saarinen völlig zu Recht sagt, sie werde den Gläubigen nicht vorenthalten, ist von der Art, dass sie das Leben der so Beschenkten neu ausrichtet, erneuert, heilt. Die Antwort darauf besteht nun nicht in der Inventarisierung von etwas Übereignetem – das, notabene, behauptet auch niemand, es legt sich bei der Gabe-Metapher aber als falsche Folge der Bildlichkeit nahe. Die Antwort besteht darin, dass Menschen sich in Gottes Dienst genommen vorfinden. Pneumatologisch ist das, was Saarinen Gabe nennt, so zu beschreiben: Leben, Perspektiven, auch Verhalten eines Menschen ändern sich, wenn er der Gegenwart Gottes gewürdigt ist. Diese Veränderungen können laut und leise sein, zögerlich oder radikal. Es sind jedenfalls solche, die sich so beschreiben lassen, dass Gott diesen Menschen, diese Gruppe seiner Indienstnahme würdigt. Kurz, es ist richtig, des Menschen Partizipation an Gott als christologische Sachlichkeit zu verankern, auch scheint Saarinens Terminus der Gabe dafür geeignet. Er ist aber zu überführen in die Beschreibung von Vorgängen, in denen Gott Menschen durch die Gewährung seiner Gegenwart in seinen Dienst ruft. Das ist die in der Lehre vom Heiligen Geist auszuschreitende Konkretion der Rede von der Teilhabe des Menschen an der Wirklichkeit der Stellvertretung Gottes. Die Inhalte dieser Indienstnahmen zu beschreiben, führt in weite Felder der Materialdogmatik und der Materialethik. Eine kleine Auswahl der Themen, um die es dabei gehen kann, findet sich im nächsten Kapitel des vorliegenden Buches: Stichprobenhaft werden einige Felder der Anthropologie abgeschritten und wird erwogen, wo und wie in Akten der Stellvertretung Menschen in den Dienst Gottes geraten können.
Kapitel III. Felder der Anthropologie, stellvertretungstheologisch betrachtet
1.
Seele. Zur Wiedergewinnung eines Konzepts
»Gott und die Seele begehre ich zu erkennen – Sonst nichts? – Sonst nichts.«1 So in aller Knappheit Aurelius Augustinus. Der große Theologe leistet sich hier eine fast schon ungeheuerliche Reduktion: Gott und die Seele will er erkennen, sonst nichts. Es ist bemerkenswert, was Augustinus als uninteressant aus seinen Erwägungen ausschließt: Mitmenschen und Mitgeschöpfe, Institutionen und Gewohnheiten, die Kirche und ihre Ämter, die Ethik, die Geschichte und noch vieles mehr. Dass er sich freilich sehr wohl für all dies interessierte, belegt sein riesenhaftes Werk wie von selbst. Augustinus benannte mit seinen eben zitierten Worten demnach nicht eine Ausschluss-, sondern eine Vorrangregel: Es geht um das Wesentliche zwischen Gott und Mensch, wenn es um die Seele geht. So gefasst ist die kühne Reduktion des Eingangszitats durchaus verständlich. Denn geht es um die Seele, so geht es um Antwort auf eine schlechterdings zentrale Frage: Wie ist das menschliche Wesen beschaffen, damit Gott ihm begegnet und damit es selbst sich Gott zuwenden kann? Der Begriff beschreibt anthropologische Sachverhalte so, wie sie auf den Kern der Beziehung des Menschen zu Gott hin
1 Augustinus inszeniert einen kleinen Dialog: »A. Ecce oravi Deum. B. Quid ergo scire vis? A. Haec ipsa omnia quae oravi. B. Breviter ea collige. A. Deum et animam scire cupio. B. Nihilne plus? A. Nihil omnino.» Soliloquia I.7; MPL 32, 872. Ein Überblick über Augustins Seelenlehre bei R. Teske, Augustine’s Theory of Soul, in: The Cambridge Companion to Augustine, hg. von E. Stump und M. Kretzmann, Cambridge 2002, 116–123. Eine ausführliche Würdigung von Augustins theologischer Psychologie müsste vor allem ihre Rolle in der Explikation seiner Trinitätslehre herausstellen, vgl. G. Brachtendorf, Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes nach ›De trinitate‹, Hamburg 2000; der moderne Klassiker dazu ist M. Schmaus, Die psychologische Trinitätslehre des heiligen Augustinus, München 1927, Neuauflage Münster 1967. Über erkenntnistheoretische Aspekte informiert C. Horn, Seele, Geist und Bewusstsein bei Augustinus, in: Über die Seele, hg. von K. Crone u. a., Berlin 2010, 77–93.
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Felder der Anthropologie, stellvertretungstheologisch betrachtet
organisiert sind:2 Gott spricht Menschen an, will mit ihnen zu tun haben, bewegt sie, verändert sie. Menschen wiederum können darauf antworten, sich Gott zuwenden und ihr Leben davon gestaltet sein lassen. Nichts weniger als dies ist das Themenfeld einer theologischen Rede von der Seele. In jedem der jetzt folgenden drei Schritte wird ein wesentlicher theologischer Aspekt der Rede von der Seele entfaltet. Und jedesmal wird miterwogen, wo Gesprächsgewinn und Gesprächsbedarf hin zu pädagogischem Handeln und zu den akademischen Disziplinen besteht, die damit verbunden sind. Es soll wahrscheinlich gemacht werden: Die Rede von der Seele benennt Wesentliches in der Theologie. Und genau dadurch eröffnet sie Gesprächsangebote zu Pädagogik, Didaktik und darüber hinaus.
Vorläufige Begriffsbestimmung Eine vorläufige Bestimmung dessen, was mit ›Seele‹ gemeint sein könnte, beginnt mit einer Abgrenzung: Die Seele eines Menschen gleicht nicht einer unsichtbare Substanz. Der Hauptfehler des Gedankens von der Substanz besteht nicht nur im vermeintlich alten Dualismus von Leib und Seele, der oft genug als Schreckgespenst beschworen und alsbald aus der Debatte gedrängt wurde. Die Vorstellung, als sei die Seele eine unsichtbare Substanz, führt aus einem anderen Grund in die Irre: Die weithin geläufige Vorstellung von ›Substanz‹ schließt die Unveränderlichkeit der Substanz ein. Substanz wird nachgerade unwillkürlich gleich Beharrungsvermögen und Selbigkeit gedacht. An diesem Punkt gilt es anzusetzen: Wer die Seele als Substanz im Sinne von etwas wesentlich Unveränderlichem denkt, läuft Gefahr einer Fehlabstraktion – übrigens durchaus nicht, wer behauptet, die Seele sei unkörperlich.3 Der hier beworbene Gegenzug besteht darin, die Seele eines Menschen nicht als unveränderlichen Wesenskern zu verstehen, sondern als den Prozess, in dem ein Mensch mit sich identisch werden will. 2 Vgl. C. Link, Art. Seele III.3, RGG Bd. 7, Tübingen 42004, 1103–1105. 3 Aus diesem Grund ist mit der folgenden Bestimmung auch nicht die Behauptung verbunden, es sei sinnlos, Seele mit Hilfe der Termini οὐσία oder substantia zu denken. Vielmehr weist die für Zeitgenossen häufigste Assoziation, die sich mit ›Substanz‹ verbindet, in die falsche Richtung. Hier wie öfter ist zwischen dem tatsächlichen Klärungswert klassischer Termini und den Risiken ihrer Verwendung im heutigen Sprachgebrauch zu unterscheiden. In der Theologie wurde und wird über Alternativen zu den klassischen Begriffen diskutiert. So hat Gerd Theißen vorgeschlagen, die Rede von der Seele im Rahmen der spätantiken ›Erfindung des inneren Menschen‹ zu verorten und das im Rahmen einer Religionspsychologie des Neuen Testaments durchgeführt, vgl. G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, bes. 49ff.539ff. Das hier anfänglich zu Entfaltende entspricht – bei der evangelisch-lutherischen Konfession des Verfassers wohl nicht ganz überraschend – am ehesten dem ›transformativen Menschenbild‹, das Theißen bei Paulus ausmacht, vgl. 76ff.
Seele. Zur Wiedergewinnung eines Konzepts
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Diese Bestimmung beruft sich auf Christof Gestrichs Buch zum Thema, der eine bemerkenswerte Adaption der letztlich auf Aristoteles zurückgehenden Theorie von der Seele vorlegte.4 Der Konnex zu Aristoteles bliebe im Einzelnen zu erläutern. Gedacht ist v. a. an zwei Aspekte: (a) Die erste der drei Definitionen in De Anima II.1 lautet: »Wesen als Form (ἔιδος) eines natürlichen Körpers, der der Möglichkeit nach Leben hat. Das Wesen aber ist im-Zielprozess-sein (ἐντελέχεια).« (412a, 19–21) Der Wunsch nach Identität mit sich als Hauptelement der Gestrich’schen Bestimmung entspricht in etwa dem ἔιδος bei Aristoteles – das klingt insofern stimmig, als das Identitätsverlangen eines Menschen seine Körperlichkeit zwar prägt, aber mit ihr nicht identisch ist. (b) In De Anima III.4 bespricht Aristoteles die Vernunft als obersten Seelenteil des Menschen, einschließlich der Überlegungen, ob und wie sie den Leib überdauert. Gestrichs Überlegung, dass das Identitätsverlangen zu Lebzeiten unabschließbar ist (s. u.), scheint hier vorgedacht.
Die Gestrich’sche Bestimmung lässt sich zunächst einmal aus der allgemeinen Lebenserfahrung verständlich machen: (Teil-)Prozesse dessen, mit sich selbst identisch werden zu wollen, zeigen sich in vielfältiger Weise. Das trifft etwa auf Partnerwahl und das Eingehen einer Beziehung zu, nicht minder auch darauf, wenn das zu-Ende-Gehen einer Beziehung erlebt und sie durch Trennung oder Ehescheidung bewusst vollzogen wird. Die Fortführung der Beziehung wird in einem solchen Fall als Widerspruch zum Prozess der Ich–Identität erlebt. Das schließt bei reflektierten Menschen die nicht leichte Frage ein, was beim damals stimmig erlebten Eingehen der Beziehung denn geschah und was sich zwischenzeitlich verändert haben mag.5 Genauso verhält es sich z. B. mit der Wahl des Studienfachs oder des Berufs, die, geschehen sie reflektiert, ohne Bezug zum Selbstentwurf nicht auskommen und ihn seinerseits nicht wenig beeinflussen. Sei es also die Beziehung oder die Berufswahl: Ohne den Prozess des identischwerden-Wollens mit sich erscheinen sie schlechterdings als nicht vorstellbar. Identitätsfragen wie ›Wer bin ich?‹ ›Wer will, wer soll ich sein?‹, ›Wie kann ich mich auf das zubewegen, was mir als meine Person vorschwebt?‹, werden dabei gestellt und – übrigens auch dort, wo sie nicht satzförmig vorkommen, sondern 4 C. Gestrich, Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen. Evangelische Eschatologie vor der Erneuerung, Frankfurt/M. 2009. Gestrich selbst geht auf die Motivverwandtschaft ausführlich ein, freilich unter generellem Blick auf altgriechisches Denken, vgl. 124–138. 5 An diesem Punkt ist die hamartiologische Seite von Trennung bzw. Ehescheidung aufzusuchen, nicht etwa bei der Vermutung, das Scheidungsverbot sei eine moralische Norm, deren Überschreitung sanktionsbewehrt ist: Zwei Menschen erklärten einst, dass ihr jeweiliger Wille, mit sich identisch zu werden, ohne einander nicht zu praktizieren ist und sehen nun, dass das – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr möglich ist. Die Entflechtung der doch vielfach verwobenen Identitätserzählungen fügt notwendigerweise Schmerzen zu, selbst wenn es sich um eine einvernehmliche Trennung handelt. Zur ἁμαρτία im theologischen Sinne wird Scheidung, weil der Identitätsprozess eines Menschen = Seele, dem hier Schaden zugefügt wird, letztlich in Gottes Handeln geborgen ist.
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Felder der Anthropologie, stellvertretungstheologisch betrachtet
durch den Lebensvollzug selbst ausagiert werden – bearbeitet und verändert. Fragen dieser Art stellen sich überdies immer mit Blick auf die Beziehungen, in denen man lebt. Deswegen ist Identitätsstreben immer in ein Beziehungsnetz eingespannt.6 Menschsein ohne solches Streben nach Identität mit sich gibt es nicht. Deswegen kann der große Satz gewagt werden, dass jeder Mensch eine Seele ›hat‹, oder besser: beseelter Mensch ist. Dies ist die erste wichtige Pointe, wenn man die zu statische Idee von der Seelensubstanz als Gleichbleibendem verabschiedet und mit Gestrich sagt, Seele sei jeder und jede, weil jeder und jede im Prozess des identisch-Werdens mit sich befasst ist. Bliebe allenfalls noch festzuhalten, dass dieses Streben nach der Identität mit sich nicht nur als intellektueller Prozess stattfindet, sondern als einer, der im Lebensprozess ausagiert wird: »Gemüt und Gewissen, Fühlen und Wollen, […] Handeln und Unterlassen, Tugend und Untugend, sowie die Hoffnung und die Angst des Menschen«.7 Das alles beteiligt sich am Identitätsstreben, das ›Seele‹ heißt. Die Seele des Menschen ist »die Strebekraft, die einen Menschen zur Übereinstimmung mit sich selbst bzw. zur Identität zu bringen trachtet.«8 So weit eine erste Bestimmung des Begriffs ›Seele‹. Sie kommt bislang ohne theologische Elemente aus. Es führt jedoch kein langer Weg zu ihnen, wie deutlich wird, wenn man Christof Gestrichs nächsten Argumentationsschritt mitgeht: Das Identitätsstreben eines Menschen wird zu Lebzeiten nie abgeschlossen.9 Das Fragen, das Sehnen, das Suchen geht immer weiter. Bei Menschen, die entschieden vor der Zeit sterben, zeigt sich besonders deutlich, wie viel Pläne, Wünsche und Lebenslust zur Unzeit beendet wurden. Aber auch jemand, der lange lebt, sehnt, fragt, sucht weiter nach der Identität mit sich. Menschen müssen immer erst noch werden, auch wenn dies Werden Formen annehmen kann, die für andere schwer zu entziffern sind. Ernst Bloch drückte das ein wenig wolkig, aber treffend aus: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.«10 Dies Identitätsstreben wird durch das Erleiden des Todes unabweisbar abgebrochen. Das Übel des Todes besteht also nicht darin, dass die leibliche Existenz auf Erden aufhört. Vielmehr besteht es darin, dass das unabschließbare Identitätsstreben in die totale Passivität gebracht wird.11 Entscheidend ist nun die Fortsetzung dieses Gedankens. Denn er könnte in die Richtung gedacht werden, die eine starke postmortale Kontinuität annimmt. Das zu Lebzeiten fragmentarische Identitätsstreben gilt dann als eines, dessen Gott 6 7 8 9 10 11
Gestrich, Seele 181. Gestrich, Seele 140. Gestrich, Seele 75. Gestrich, Seele 140. E. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt/M. 1970, 13. Gestrich, Seele 154.206.
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sich nach dem Tode annimmt und es zur Vollendung führt. Dem Identitätsstreben wird also gleichsam zugetraut, in die richtige Richtung zu gehen und Gott handelt so, dass er die zu Lebzeiten entstandenen Defizite gnädig ausgleicht. Die frömmigkeitliche Praxis mancher Zeiten und Weltgegenden kennt diesen Gedanken und auch in der theologischen Literatur hat er Niederschlag gefunden.12 Sein entscheidender Nachteil ist freilich, dass er sich von Wunschdenken nicht unterscheiden lässt: Das Modell setzt, dass der eigene Ich-Entwurf im Großen und Ganzen stimmig ist und erklärt Gottes Werk zum Erfüllungsgehilfen dieses Entwurfs. Das freilich ist nicht von der Idee von Gott als dem Lückenbüßer des noch-nicht-Gewussten zu unterscheiden und zieht völlig zu Recht Religionskritik der Feuerbach’schen Manier oder aus der funktionalen Religionstheorie auf sich. Die Alternative dazu wartet mit einer theologischen Verstehenshärte auf, die – leuchtet der hier vorgetragene Ansatz irgend ein – freilich nicht zu umgehen ist. Sie besteht darin, dass die Identität eines Menschen letztlich nicht bei ihm selbst ruht und dass selbstreferenzielle Denkmuster entsprechend nicht als hilfreiche Beschreibungsmittel gelten können. Theologisch wird als entscheidend mitgesetzt, dass das Identitätsstreben eines Menschen sich mit Gottes Werk und Willen konfrontiert sieht. Die eigene Identität ruht nicht in sich, sondern letztlich in Gott. In den Diskurs über die Seele kommt somit ein Moment der Exteriorität hinein, das eigener Aufmerksamkeit wert ist. Noch einmal mit Christof Gestrich: »Die Freude der christlichen Hoffnung beruht nicht darauf, dass der Mensch am Ende etwas ›geschenkt‹ bekommt, das er in seinem Leben nicht hatte und das er nun in einer andern Welt still genießen könnte. Sie stempelt die Menschen nicht zu ›Himmelslohnempfängern‹, sondern erhebt sie zu Partnern Gottes. Ein christlicher Mensch sein bedeutet, das Bewusstsein in die eigene Biographie aufzunehmen: ›Gott berücksichtigt mich; er wird mit mir zusammen sein Reich gründen; er fördert mich so, dass ich sein Partner werden kann, ihn liebe und ihn erkenne, so wie er mich liebt und erkennt. Dem nachzuleben ist der ganze Sinn meines Lebens (…).‹«13 Hier klingt ein zentrales Motiv aus Gestrichs großer Studie zur Theologie der Stellvertretung an: Stellvertretung ist ein biblisch-theologisch zentraler Vorstellungskomplex. Gestrich hat es – auf einen knappen Nenner gebracht – mit dem Unterschied zwischen Ego und Person zu tun. Ego ist dabei dasjenige, was einem Menschen als er selbst zugänglich ist, in Selbstwahrnehmung und auch in 12 Deutlich findet sich das in denjenigen Religionstheorien, die Religion als Kompensation für Daseinshärten verstehen, vgl. als ein Beispiel unter vielen D. Rößler, Grundriß der praktischen Theologie, Berlin/New York 1986, 71–75. Dagegen hat, um innerhalb der Praktischen Theologie zu bleiben, Henning Luther Einspruch erhoben, vgl. H. Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, München 1992, 22–29 u. ö. 13 Gestrich, Seele 208.
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Selbstentwürfen. Freilich gibt es daneben auch den Aspekt der Person, bestehend wesentlich aus dem, dass Menschen von ihnen selbst unentdeckte und ungeahnte Seiten haben, die aber gleichwohl zu ihnen gehören. Dies, was sie zur Person macht, ist aber nicht zu ihrer Verfügung, sondern ist auf verschiedene Weisen dezentriert. Stellvertretung findet nun da statt, wo jemand am Ort der Person des Anderen steht, ihn als solche sieht und dorthin ruft. Für die Gottesbeziehung hat Gestrich diese Logik aus Gal 2,20 so formuliert: Es wird »im christlichen Versöhnungsgeschehen nicht einfach jedes Ich, das sich erhalten sehen und sich bewahrt wissen möchte, in diesem Wunsch unterstützt und bestärkt. Ermutigt wird vielmehr das Überschreiten dieses Ichs. Denn der Gott, der mich liebt, liebt nicht einfach das Ego, mit dem ich mich identisch fühle, sondern er liebt mich als die Person, in die er mich hineinruft. Versöhnt und in bestimmter Weise gebildet muß ich werden, weil ich mich als diese Person, in die Gott mich hineinruft, noch nicht kenne, suche, liebe oder habe. (…) Die Sprache der Versöhnung, die die Kirche Jesu Christi zu finden hat, dient deshalb einer solchen ›Rettung der Phänomene‹ und der persönlichen Identitäten, die das wahrhaft humane Signum des geisterfüllten Zusammenfindens von Ich und dem Fremden tragen. Erst dieses Neue bin ich wirklich selbst. Erst wer mich so werden läßt, nimmt mir nichts. Ich will im Glauben gerade nicht so bleiben und nicht auf Dauer so ›angenommen‹ werden, wie ich bin, sondern an mir erfahren, was ich von Gott her werden kann, damit ich bleibe.«14
So weit eine erste theologische Näherung: Die Seele ist keine statische Substanz, sondern das lebendige Verlangen des Menschen nach Identität mit sich. Dabei gilt, dass die Identität des Menschen letztlich in Gott ruht und dass Gott den Menschen zu dem ruft und zu dem verändert, wie er ihn liebt und wie er ihn haben will. Anzudeuten ist noch, worin der Ertrag dieser Überlegung besteht, wenn man Theologie als eine akademische Disziplin in den Blick nimmt, die es auch mit pädagogischer Abzweckung und entsprechend mit Disziplinen zu tun hat, die ihrerseits auf pädagogisches Handeln reflektieren. Er besteht vor allem aus der Feststellung, dass ›Seele‹ kein exklusiv theologischer Begriff ist. Bei ›Seele‹ geht es nicht um einen opaken Sondergegenstand oder um einen, für den man erst ›gläubig‹ sein müsse, bevor man ihn sieht. Um Dinghaftigkeit im schlichten Sinne geht es selbstverständlich nicht. Aber dennoch ist die Seele irdisch und real – und damit Gegenstand auch anderer Disziplinen. Die Sicht auf Seele muss sich dann, je nach akademischer Disziplin unterscheiden. Aber auf den Bezug zu ihr wird keine Wissenschaft verzichten können, die irgend mit Bildung zu tun hat. Pädagogisches Handeln, das sich nicht um die Seele der Schülerinnen und Schüler kümmert, wäre schlicht gar kein pädagogisches Handeln. Es reduzierte sich auf 14 C. Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen 2001, 324f. Eine ausführlichere Würdigung dieses Aspekts in den Kapiteln II.1 und III.2 in diesem Band.
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das, was der große brasilianische Volkspädagoge Paulo Freire zu Recht als ›Containerpädagogik‹ gebrandmarkt hat, nämlich auf das Abladen von Wissenspaketen in Wissensempfängern.15 Das Identitätsstreben der Schutzbefohlenen ist Kerngegenstand pädagogischen Handelns, will es denn den Namen verdienen. Damit zeigt sich übrigens auch etwas, was für das Zusammenspiel von Theologie und anderen Wissenschaften wichtig ist: Wohl entfaltet die Theologie eine eigenständige Sicht der Dinge. Eigenständig, weil sie vom Erinnerungsraum des biblischen Kanons und seiner semiotischen Bestände herkommt. Aber sie entfaltet eine eigenständige Sicht der Dinge und Umstände, von denen andere Disziplinen genauso betroffen sind, von Welt, Menschen und Zuständen, nicht etwa von irgendwelchen vagen Über- oder Hinterwelten. Theologie ist spezifische Welt-Erkundung, nicht Überwelt-Vermutung.16 Auf diese Weise entstehen die eigentlich interessanten Konvergenzen und Divergenzen mit anderen Disziplinen. Wie vorliegend mindestens so, dass sie den anderen Fächern – und sich selbst – das Nicht-Vergessen der Seele dringend ans Herz legt.
Seele und Exteriorität Die eben vorgestellten Bestimmungen für ›Seele‹ sind im Rahmen evangelischer Theologie eher ungewöhnlich. Denn mit ihrer Betonung der Externalität und besonders damit, dass Gott mit der Seele etwas sie Veränderndes vorhabe, klingt nicht zu Unrecht nach einer starken Betonung der effektiven Rechtfertigungslehre, die evangelisch nicht gerade gängig ist – durchaus im Gegensatz zu Sektoren der katholischen Theologie und vor allem in der Orthodoxie des Ostens. 15 P. Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek 1990, 57 u. ö. 16 In freundlicher Distanz zum Christentum optiert der Philosoph Hans Julius Schneider für diese Position, vgl. H.J. Schneider, Religion, Berlin 2008, 92ff.139ff und bes. 153ff, wo Transzendenz als Gestaltwandel des Lebens, nicht jedoch als Überwelt gedeutet wird. Positionen wie diese stehen gegen ein offenbar kaum ausrottbares Vorurteil. In Teilen ist es so alt wie Kritik am Christentum selbst, wie sich etwa an der Auseinandersetzung zwischen Kelsos und Origenes Mitte des 3. Jahrhundert zeigen ließe (Cels VI 3–11.17, sachlich ähnlich sogar schon knapp einhundert Jahre früher bei Justin dem Märtyrer, vgl. Apol. I.6), seine neuzeitliche Gestalt erhielt es vor allem in der Religionskritik Friedrich Nietzsches. Deutlich ist das etwa in Nietzsches Interpretation und Kritik asketischer Ideale: Genealogie der Moral III, Nr. 11–13.15–16 = Kritische Studienausgabe (KSA) 5, hg. von G. Colli und M. Montinari, Neuausgabe München 1999,361–367.372–377. Vgl. die Variation dieser Kritik im zwei Jahre vor der Genealogie der Moral erschienenen, plakativen aber durchaus nicht scharfsinnigeren Also sprach Zarathustra, bezeichnend hier die Stücke ›Von den Hinterweltlern‹ und ›Das Eselsfest‹, KSA 4, 35–38.390–394. Christentum oder Theologie, die sich so gerieren, sind der scharfen Kritik Nietzsches zu Recht ausgesetzt – seine Annahme freilich, christlicher Glaube insgesamt falle unter dies Verdikt, ist die unhaltbare Vereinfachung.
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Auf interessante ökumenische Gesprächszusammenhänge kann hier aber nur verwiesen werden.17 Der ungewöhnliche Gedanke ›Gott ruft Menschen zu dem, wie er sie haben will‹ soll vielmehr für die Zwecke einer theologischen Psychologie noch konkretisiert werden, so dass zugleich hoffentlich klarer wird, dass die angestammte evangelische Scheu vor der effektiven Rechtfertigungslehre wenig gute Gründe für sich hat. Dafür findet sich bei dem großen jüdischen Religionsphilosophen Emmanuel Levinas ein hilfreiches Argument. Levinas greift zu einem Bild, nämlich zu dem eines Gastgebers. Zwei Grundverständnisse eines Gastgebers lassen sich denken. Das erste und durchaus nahe liegende lautet: Der Gastgeber will dem Gast eine gute Herberge bieten. Er reflektiert die Bedürfnisse des Gastes und bereitet Bewirtung und Nachtlager entsprechend vor. Die gastgeberliche Motivationslage ist vom herzlichen Willkommen und durch die möglichst vollständige Befriedigung der Bedürnisse des Gastes bestimmt. Diesem vielleicht vertrauten Bild wohnt jedoch eine erhebliche Einseitigkeit inne, der man gewahr wird, wenn man mit Emmanuel Levinas den anderen Typ Gastgeber denkt: Dieser Gastgeber weiß und kennt eben nicht alles über seinen Gast, sondern sieht in ihm den Fremden und Unbekannten. Aber er ist sich sicher, dass er ohne seinen Gast nur mit sich alleine wäre und dass er dies als Verarmung und als reines auf-sich-selbst-reduziert-Sein empfinden würde. Die Anwesenheit des Anderen erschließt ihm ungekannte Wirklichkeit und auf zuvor ungeahnte Weise auch sich selbst. Deshalb ist letztlich auch die Bewirtung des Gastes keine Zierat, sondern folgt einer inneren Notwendigkeit der Überraschung und des Dankes. Der Gastgeber im ersten Sinne zeigt sich als Wissender und Herr des Verfahrens. Er ist kognitiv wie pragmatisch der Souverän und der Gast der Bedürftige. Der Gastgeber im zweiten Sinn hat diese Souveränität genau nicht. Seine offene Tür ist nicht der überlegene Akt eines Souveräns, sondern wesentlich eine Bitte um die bereichernde Präsenz des ihm Unbekannten. Überträgt man dieses sprechende Bild auf die theologische Psychologie, so ergibt sich zwanglos: Der Gastgeber steht für die offene Seele, die des Anderen bedarf. Levinas schreibt über sein zweites Hauptwerk ›Totalität und Unendlichkeit‹ programmatisch: Es »stellt die Subjektivität als etwas dar, das den Anderen empfängt, es stellt sie als Gastlichkeit dar. In der Gastlichkeit erfüllt sich die Idee des Unendlichen. Daher definiert sich das Bewußtsein in seinem fundamentalen Bereich nicht durch die Intentionalität; in der Intentionalität bleibt das Denken Adäquation an das Objekt. Jedes Wissen, sofern es Intentionalität ist,
17 Vorstöße hat die finnische Lutherforschung mit der Behauptung unternommen, Luther vertrete eine starke effektive Rechtfertigungslehre, die de facto auf eine Variante der theopoiesis-Lehre des christlichen Ostens herauskomme. Vgl. Kapitel II.3 in diesem Band.
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setzt bereits die Idee des Unendlichen voraus, die Inadäquation par excellence.«18 Zu ergänzen ist allenfalls noch, dass Gastlichkeit nicht als theoretisches, sondern als pragmatisches Wissen verstanden werden soll, weil es sich in der Handlungsweise des Gastgeber-Seins vollzieht. Zwischen Gast und Gastgeber findet eine »ethische Beziehung« statt.19 Seele, die empfängt, ist also nicht oder jedenfalls nicht nur Denkvollzug, sondern das Streben der ganzen Person, und damit immer auch in den Handlungsvollzügen präsent. Diese kurze Rekonstruktion der Levinas’schen Anregung dient zunächst als Illustration der im ersten Abschnitt entwickelten Idee, dass das Identitätsverlangen namens Seele sich nicht im Ego-Bezug komplettiert, sondern von außen zu der Person gerufen wird, die sie ausmacht. Das erlaubt Hinweise auf mögliche Anwendungen in anderen theologischen Disziplinen, unter ihnen zunächst in der Seelsorgelehre. Denn wenn es richtig ist, dass die Seele nicht nur aus dem Ego-Aspekt der Selbstkenntnis und Selbsthabe besteht, dann gilt doch, dass die eigene Identität nicht nur am eigenen Streben und den eigenen Entwürfen hängt. Die gastbereite Seele, gerade in Zeiten der inneren Not, weiß, dass sie nicht nur auf das selbst appräsentierbare Bild angewiesen ist. Das lässt sich unschwer zu einer Beschreibung des theologischen Kerns im seelsorgerlichen Gespräch ausbauen: Es unternimmt das Wagnis, dem Gegenüber das zuzusprechen, was er oder sie von Gott her sein darf.20 Durchaus Vergleichbares dürfte für die Religionspädagogik gelten. Hier lautet der auszubauende Gedanke, dass Lernen in Sachen Religion heißt, Möglichkeiten zugespielt zu bekommen, die nicht aus einem selber sind, die aber aufhelfen, weitertragen, weiter entwickeln.21 Das Bild mit seinen zwei Möglichkeiten, Gastgeberin oder Gastgeber zu sein, ist zwar ›nur‹ ein Bild. Aber hinter dem Bild zeigt sich nicht weniger als eine 18 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1987, 28f. Der Hinweis darauf und auf die verstreuten Stellen, an denen Levinas von Gastlichkeit spricht, stammt aus dem Abschnitt ›Inspirationen durch eine Philosophie der Gastlichkeit‹ in J. Wohlmuth, Mysterium der Verwandlung. Eine Eschatologie aus katholischer Perspektive im Gespräch mit jüdischem Denken der Gegenwart, Paderborn u. a. 2005, 16–18. 19 Levinas, Totalität 64. In ›Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht‹ rückt Levinas den Unterschied der beiden Begegnungsweisen noch stärker in den Vordergrund, vgl. Kapitel II.1 in diesem Band. 20 Überzeugt das, so dürfte eine im Rahmen der poimenischen Bewegung der 1970er und 1980er Jahre oft geschmähte Studie wieder zu Recht kommen: E. Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, München 1948. Entgegen der Karikatur, ein Thurneysen’scher Seelsorger kümmere sich nicht um die Befindlichkeit seines Gegenübers und suche vielmehr einzig den möglichen Bruch im seelsorgerlichen Gespräch (ad 114ff) hin zur Verkündigung, hat Thurneysen das Moment der Exteriorität trefflich in den Blick bekommen. Markig, aber richtig: »Nicht der Seelsorger hilft. Gott hilft.« (304) 21 Vgl. I. Schoberth, Glauben lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie, Stuttgart 1998, 97ff und die religionspädagogische Konkretion in dies.: Religionsunterricht mit Luthers Katechismus, Göttingen 2006.
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Theorie der Seele. Sie besagt: Die Seele als das Identitätsstreben des Menschen tut gut daran, gastliches Identitätsstreben zu sein und zu wissen, dass nicht sie selbst Souverän des eigenen Identitätsstrebens ist, sondern dass sie sich von Gott zu der Person rufen lassen kann, die er als sein Gegenüber schaffen möchte. Das ist ein Theoriepunkt von erheblicher Wichtigkeit. Identität als offenen und gastbereiten Prozess zu verstehen, ist gleichbedeutend mit der Grundentscheidung gegen einen neuzeitlich weit verbreiteten Typus von Identitätstheorie, nämlich gegen die selbstreferenziellen Modelle des Bewusstseins. Sie stellen die Möglichkeit des menschlichen Bewusstseins zum reflexiven Selbstbezug ins Zentrum. Gewissheit, Sinn, Identität entspringen wesentlich aus dieser Fähigkeit zum Selbstbezug und zur Selbstreflexion. Diese Theorien sind, wie bekannt, überaus beeindruckend und haben erhebliche Tradition, beginnend bereits in der Antike, namentlich bei Plotin und Augustinus und neuzeitlich dann in der Linie von Descartes über Kant bis mindestens zum älteren Fichte und weiter zu Husserl. Die Nachgeschichte, namentlich in der evangelischen Theologie, ist gewaltig.22 Freilich hat sie einen Nachteil an entscheidender Stelle, denn sie verlegt das für einen Menschen Entscheidende ins unanschauliche Innen und in den Selbstbezug. Die Beziehung zu Gott wird in der Folge zu einem Integral dieses Selbstbezugs. Das ist im Einzelfall theoretisch hoch aufwendig, im Ergebnis aber ebenso hoch reduktiv.23 Mit einer anderen Denktradition, deren Hegel’sche Genährtheit unlängst Axel Honneth wieder deutlich gemacht hat, kann man dagegen halten:24 Das Wissen um sich beginnt nicht in der abstrakten 22 Freilich nicht nur in ihr! Seit dem Jahr 2012 liegt Thomas Pröppers monumentale Anthropologie vor. Ihr philosophisches Kernargument ist die im Wesentlichen an Fichtes früher Wissenschaftslehre gewonnene Beobachtung, dass Menschen wesentlich frei sind, weil die Synthesisleistung des Bewusstseins in jedem noch so bescheidenen Erkenntnisakt unüberspringbar ist. In der Folge entwickelt Pröpper ein Konzept, das Freiheit wesentlich als Abwesenheit von externer Bestimmung versteht, also ein Konzept negativer Freiheit. Die soziale Verankerung von Freiheit gerät dann allerdings zum nachgelagerten Phänomen, was vielfache Folgen hat, nicht zuletzt in der theologischen Interpretation. Vgl. Th. Pröpper, Theologische Anthropologie I und II, Freiburg 22012, bes. 488–656.1458–1462, eine Kurzvorstellung in meiner Besprechung, Ökumenische Rundschau 62 (2013), 24–29. 23 Trefflich auf den Begriff gebracht wurde dies von M. Welker, Subjektivistischer Glaube als religiöse Falle, EvTh 64 (2004), 239–248, weitergeführt in ders., Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 39–47. 24 Vgl. A. Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011, bes. 81ff.237ff612ff. Die anerkennungstheoretischen Grundlagen hat Honneth in einer Reihe von Studien vorgelegt, vgl. beispielhaft: Das Ich im Wir. Anerkennungstheoretische Studien, Berlin 2010. Im Hintergrund steht eine Rezeption von Hegels Sozialphilosophie, die deren emanzipatorische Momente herausstreicht, indem sie von der Einbettung in den Geistmonismus absieht und sie als konkrete Beschreibung vielfältiger Anerkennungsprozesse in den Blick bekommt, vgl. dazu A. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001. Das ist u. a. deswegen bemerkenswert, weil auch von vernehmlich anders gelagertem theoretischen Hintergrund aus
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Innerlichkeit. Vielmehr fragt es nach dem Ort, an dem sich jemand vorfindet, und macht so die Exteriorität deutlich, die bei der Frage nach dem identischWerden mit sich zu Gebote steht. »Wissen, wer ich bin, ist eine Unterart des Wissens, wo ich mich befinde. Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist (…).«25 Was nun den Beitrag eines theologisch so gefassten Seelenbegriffs zum Gespräch mit anderen an pädagogischem Handeln interessierten Disziplinen angeht, bedeutet dies, dass der theologische Beitrag den Charakter einer Provokation hat: Die Präsenz des Gastes bei der Seele gehört zu ihr, obwohl sie nicht von ihr ist. Dieses Momentum des Heterogenen und der Exteriorität ist in einer theologischen Theorie der Seele unüberspringbar. An dieser Sachlichkeit überprüft die Theologie alle Theorieangebote, die von Entwicklung, von Erziehung hin zum Eigenen sprechen. Vermutlich handelt es sich um einen der Punkte, der ihre bleibende Fremdheit im Hause der Wissenschaften markiert. Zu dialogbereiter Theologie gehört, das genau zu benennen. Mitgesetzt ist dabei, dass keine andere Disziplin das Moment des Heterogenen christlich-theologisch bestimmen muss. Aber ohne ein solches Moment fehlte der Seele das Entscheidende. Dass es auch außertheologisch gute Gründe gibt, das Momentum der Heterogenität und Exteriorität stark zu machen, heißt genau nicht, man könne oder solle begründen, dass die christlich-theologische Interpretation des Heterogenitätsmoments die beste oder einzige sei. Die Theologie hat hier schlicht ihrer Sachlichkeit nachzugehen und in der Entfaltung für die guten Gründe dieser Sachlichkeit zu werben.26
neuerdings wieder das Gespräch mit Hegels Rechtsphilosophie gesucht wird, namentlich vom in der Anlage ganz kantisch geprägten John Rawls im noch nicht lange zugänglich gewordenen nachgelassenen Werk: Geschichte der Moralphilosophie, Frankfurt/M. 2002, 425ff. Es scheint, als ob Hegels Rechts- und Sozialphilosophie mehr Interpretationen zuliesse, als namentlich die Schule Joachim Ritters es für den deutschsprachigen Bereich für lange Zeit wahrscheinlich machte. 25 C. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitliche Identität, Frankfurt/M. 1996, 55. 26 Ausführlichere Erwägungen zu dieser Ablehnung theologischer Letztbegründungsstrategien bei D. Ritschl und M. Hailer, Grundkurs Christliche Theologie. Diesseits und jenseits der Worte, Neukirchen-Vluyn 42015, 62–67.232–239, ferner M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006, 37ff.233ff.
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Das Fremde im Eigenen Der Levinas’sche Gedanken von der gastbereiten Seele soll jetzt im Rahmen christlich-theologischer Prämissen interpretiert werden. Bei Levinas selbst handelt es sich um ein offenes Bild: Er sagt gerade nicht, wer denn nun zu Gast käme – unmöglich im Rahmen seiner Prämissen, weil es die Absolutheit des Andersseins des Anderen bereits wieder ins verfügende Denken eingehegt hätte. Nur die offene Seele hat eine Chance auf Begegnung. Nur die offene Seele kann erfahren, was es heißt, angesprochen zu werden und sieht, wie Levinas das sagt, das Antlitz des Anderen. Wegen dieser radikalen Offenheit denkt Levinas den Bezug zum Antlitz des Anderen letztlich als Gottesbezug. Denn im Andern begegnet, wer heilt und aufrichtet und wer vom Selbsterhalt auf Kosten des Anderen abhält. In Weiterführung und Kritik von Husserl’schen Beschreibungen von Bewusstseinsformen zielt Levinas auf eine Bewusstseinshaltung, die Aufmerksamkeit ist, aber noch nicht Aufmerksamkeit für ein Objekt. Diese Bewusstseinshaltung erst wird der Präsenz des Anderen als Anderen inne: »Wachheit ohne Intentionalität, vielmehr Wachheit, die aus eben ihrem Zustand der Wachheit erst unablässig erweckt wird und dabei von ihrer Identität zur Nüchternheit für das Tiefer-als-sie-selbst gelangt. Subjektivität als Empfangen des Unendlichen, Unterwerfung unter einen sowohl innerlichen als auch transzendenten Gott. In sich Befreiung von sich. Freiheit des Erwachens: freier als die Freiheit des Anfangs, die sich als Prinzip festlegt.«27 Christlich-theologisch kann hier angeknüpft werden. Zugleich sind Präzisierungen unumgänglich. Denn zur christlichen Rede von Gott gehört, dass sie christologisch expliziert wird. Gott, seiner Ungreifbarkeit und Ungegenständlichkeit wohl eingedenk, hat sich in Christus kundgetan. Eine unverzichtbare Themaregel jeder christlichen Gottesrede ist die Christologie.28 Dieser Gedanke 27 E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, München 42004, 65; vgl. ferner 150ff.229ff. Der Titel der deutschen Übersetzung lässt eine Assoziation in Richtung Gewaltsamkeit des ›Einfallens‹ zu, die beim Original nicht aufkommt: De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982. 28 Der Ausdruck ›Themaregel‹ besagt nicht, dass jeder theologische Satz explizit christologisch sein muss – das käme einer Reduktion ersten Ranges gleich. Wohl aber muss sich jeder theologische Satz daran prüfen lassen, ob er zu der Behauptung, Gott habe sich in Christus selbst letztgültig der Welt zugewandt, kompatibel ist. In genau diesem Sinne ist Christologie Themaregel allen theologischen Sprechens. Auf den Begriff gebracht wurde dies u. a. von I.U. Dalferth, Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg 1992, 62ff; ders., Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, passim. In Dalferths jüngeren Publikationen bleibt dies Momentum erhalten, freilich kann man fragen, ob er die damit einhergehende grundlegende Provokation nicht herabzusetzen geneigt ist, wie etwa seine zurückhaltende Interpretation des Kreuzesgeschehens meinen machen könnte, vgl. ders., Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen, Tübingen 2011, 157ff.
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gibt dem Bild von der Gastfreundschaft einen Zug, den es bei Emmanuel Levinas dezidiert nicht hat und auch nicht haben kann: Der auf Gott hin offene Identitätsprozess ist auf Gott, den Vater Jesu Christi hin offen. Gott, der Menschen zu der Person ruft, die sie sein dürfen, hat sich in Christus gezeigt. Also zeigt er ihnen in Christus, wer sie sein dürfen und zu wem sie werden dürfen. Das führt direkt in den Kern christlichen Redens von der Rechtfertigung. Eine kurze Erinnerung an Martin Luthers reformatorische Hauptschrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« mag hierzu völlig genügen: Er schreibt vom fröhlichen Wechsel zwischen Christus und der Seele. Christus und die Seele treffen aufeinander, Christus übernimmt ihr Belastetes und gewährt ihr Neues und Heilwerden.29 Christus steht stellvertretend da, wo Menschen hinkommen können, und ruft und verlockt sie dorthin.30 Reflektiert man methodisch, was bei der christlich-theologischen Adaption der Levinas’schen Theorie geschah, so ergibt sich: Das Bild von Emmanuel Levinas von der gastbereiten Seele wurde nicht nur berichtet, es wurde angewandt. Zum Zweck einer theologischen Klärung wurde versucht, die Theologie gastbereit zu halten für den Fremden, den Anderen, in diesem Fall für die Theorie, das Bild von Emmanuel Levinas. Im Erfolgsfall bereicherte seine Anwesenheit als Gast die christliche Theologie und half, die christliche Rede von der Seele besser zu verstehen. Es handelt sich jedoch nicht um interpretatio christiana von Levinas’ Theorie. Genau indem das nicht geschah, lässt sich aber sagen: Er half, die christliche Sache besser zu verstehen. Ein Stück Gespräch der Religionen untereinander fand auf diese Weise statt, hier zwischen dem jüdischen Religionsphilophen und einem christlich-theologischen Klärungsinteresse. Gastfreundschaft in diesem Sinne dürfte für das bedachte Gespräch der Religionen untereinander wichtig sein, weil sie nicht unbedacht das Fremde okkupiert und zu verstehen meint, sondern weil sie, durch die Anwesenheit des Gastes bereichert, das Eigene um Möglichkeiten angereichert findet, die es zuvor nicht hatte. Auch bei diesem Gedankengang zeigt sich ein Nutzgewinn, wenn es um die pädagogischen Gesprächspartner der Theologie geht. Denn der Gedanke, nicht nur die Metapher der Gastfreundschaft als Theorieelement zu verwenden, sondern den Dialog methodisch als Gastbereitschaft anzulegen, gilt doch wohl auch für andere akademische Disziplinen, die Lehrer/innen für die multireligiöse Kultur ausbilden. Es geht nicht darum, gleichsam über den Religionen zu schweben und Gemeinsamkeiten festzustellen, denn das würde den Gedanken 29 WA 7, 25f. 30 Das ist die rechtfertigungstheologische Grundlegung dessen, was oben als Struktur des Stellvertretungsgedankens bei Christof Gestrich ausgemacht wurde. Vgl. näher Gestrich, Seele 102–104.117.
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der Gastbereitschaft ad absurdum führen und doch wieder einen Gastgeber im Sinn des souverän Wissenden einführen. Überdies gibt es eine solche Perspektive aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht. Das wäre detailliert in einer Auseinandersetzung mit der pluralistischen Theologie der Religionen, im deutschsprachigen Bereich namentlich mit Perry Schmidt-Leukel zu zeigen. Schmidt-Leukel verwahrt sich einerseits gegen genau diese Behauptung, dass der religionstheologische Pluralismus eine Perspektive über alle Perspektiven beanspruchen würde, indem er diese Perspektive zu einer Hypothese erklärt.31 Wenige Seiten später aber legt er die Eigenart dieser Hypothese offen: »Daher muss strikt unterschieden werden zwischen der transzendenten Wirklichkeit als einer an sich unendlichen und daher ebenso unbegreiflichen wie unbeschreiblichen Wirklichkeit und jenen Vorstellungen und Beschreibungen, mit deren Hilfe in den verschiedenen Religionen auf diese transzendente Wirklichkeit verwiesen wird.«32 In diesem Zitat zeigt sich, dass die leitende Annahme keine zur Bewährung ausgesetzte Hypothese ist, sondern vielmehr eine bereits in Geltung stehende Prämisse. Gilt sie, so sind alle Sätze der pluralistischen Religionstheologie sinnvoll und zugleich inklusivistische und exklusivistische als defizient erkannt – das entspricht dem Argumentationsduktus des Buches. Soll sie aber eine Hypothese sein, so stellt sich die Frage, an Hand welcher Kriterien sie überhaupt soll geprüft werden können. Da sie jedoch mit absoluten Prädikaten (›unendlich‹, ›unbegreiflich‹, ›unbeschreiblich‹) arbeitet, verbietet sie selbst diese Überprüfung: Unbeschreibliches ist eben keiner Beschreibung zugänglich. Dann aber liegt offen zu Tage, dass die ›Hypothese‹ sich per definitionem gegen jede Überprüfung sperrt. Hier liegt ein Selbstwiderspruch vor, welcher zeigt: Wir haben es mit einer Setzung zu tun, nicht mit einer Hypothese. Alternativen dazu kommen ohne differenzsetzende Wahrheitsansprüche nicht aus. Die Frage ist dann, wie genau solche Differenzen gesetzt werden und ob dies jedenfalls etwas Negatives sein muss. Für die inklusivistische Theoriebildung schlägt etwa Reinhold Bernhardt vor, von mutualem Inklusivismus zu sprechen, also dem andersreligiösen Gesprächspartner genau dasselbe Argument zuzugestehen, wie es vom christlichen Religionstheologen eingesetzt wird.33 Jüngst hat Jürgen Werbick Argumente dafür vorgetragen, dass religiöse Rede immer Zeugnischarakter hat – Definitheit wie Vorläufigkeit religiösen Sprechens kommen hier zusammen.34
Es geht also darum, den Anderen hereinzubitten und von ihm zu lernen und auszusagen, wie man im Rahmen des Eigenen versteht, was die Anwesenheit des Anderen auslöst. Ob der Gast – im vorliegenden Fall: der jüdische Philosoph – dann alles billigt, was mit dem Geschenk seiner Präsenz geschieht, liegt nicht in der Urteilskompetenz des Gastgebers. Dem korrespondiert allerdings die Vor31 P. Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005, 184–188. 32 Schmidt-Leukel, Gott 206, i.O. teilw. herv. 33 R. Bernhardt, Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion, Zürich 2005, 206ff. 34 J. Werbick, Vergewisserungen im interreligiösen Feld, Berlin/Münster 2011, 353ff.
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nahme, seinerseits auf bedachte Weise Gast zu sein, wird man denn eingeladen. Begegnung in Heterogenität ist wesentlich als Gastbereitschaft zu verstehen. Theologisch explizit zeigt sie sich als Gastbereitschaft dem Anderen, Fremden gegenüber, der Gott hereinbringt.
2.
Freundschaft. Über Selbstsein mit und aus dem Anderen »Ich warte nun mit großer Spannung auf Deinen ersten Bericht von draußen, Eberhard. Ich habe eben das Gefühl, daß Du gewissermaßen auch mit meinen Augen die Dinge siehst, sowie ich das Hiesige auch mit Deinen Augen sehe. Wir erleben unsere verschiedenen Geschicke also auch irgendwie stellvertretend füreinander.«35
Ich vertrete im Folgenden die These, dass das Thema ›Freundschaft‹ theologisch im Rahmen der Rede von der Stellvertretung zu verorten ist. Das eigentümliche und vielschichtige Phänomen Freundschaft wird dann theologisch verständlich, wenn man es in den Rahmen des theologischen Großthemas einzeichnet, dass Gott für den Menschen eintritt und dass Menschen für Menschen eintreten können. Hier ist das theologische Proprium von Freundschaft zu sehen. Damit ist zugleich behauptet, dass es ein theologisches Proprium des Themas Freundschaft gibt, und dass es nicht, wie verschiedentlich gesagt wird, gleichsam ins Vorfeld explizit theologischer Bestimmungen gehört. Den Beleg kann natürlich nur die argumentative Durchführung erbringen. Die Form der Überlegung ist die eines Erkundungsgangs unter Bezug auf Gedanken und Theorien sehr unterschiedlicher Herkunft und aus manchen Jahrhunderten. Das erscheint angemessen, denn das Thema ist nicht von der Art, dass es immer mit fest umrissenem Profil und mit eindeutigen Bezugsgrößen und Konfliktlinien erkennbar gewesen wäre. Fragt und liest man nach, so stellt sich viel eher der Eindruck ein, als habe man es mit einem zerbrochenen Bild zu tun, dessen Bruchstücke von recht verschiedenartiger Provenienz sind. Auch ist durchaus fraglich, ob alle Bruchstücke bereits auf dem Tisch liegen, so dass es hier allenfalls um eine vorläufige Sachbeschreibung gehen kann. Nach einigen einführenden Bemerkungen zur Lage und Eigenart des Diskurses überhaupt folgt eine Relecture des Klassikers zum Thema Freundschaft schlechthin, der Kapitel VIII und IX aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Um zu studieren, wie man denn nun explizit theologisch von Freundschaft soll reden können, folgen Bemerkungen zum wichtigsten theologischen Aristoteles-Leser, zu Thomas von Aquin. Im Rahmen seiner Gnadenlehre thematisiert er die Sache immer wieder, so dass hier Beobachtungen gemacht werden können, 35 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, Gütersloh 1998, 288, aus einem Gefängnisbrief an Renate und Eberhard Bethge, 23. 1. 1944.
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die auch dann interessant sind, wenn man nicht im Ganzen mit Thomas zu gehen vermag. Im vierten Schritt dominiert dann das systematische Interesse: Es geht um die Phänomene Stellvertretung und Freundschaft und darum, wie sie sich wechselseitig erhellen.
Allgemeine Bemerkungen zur Lage des Diskurses Es gibt Themen, die ein Schattendasein zwischen Ankündigung und Nichtbearbeitung fristen. Für die theologische, wahrscheinlich auch für die philosophische Wahrnehmung von ›Freundschaft‹ in den letzten Jahrzehnten und in der Gegenwart scheint das der Fall zu sein. Es gibt nahezu keinen Artikel in einem Fachlexikon, der nicht die Wichtigkeit des Themas betonte und zugleich feststellen müsste, dass es um seine Bearbeitung nicht zufriedenstellend bestellt ist.36 An der Wichtigkeit des Themas und daran, dass es ein auch genuin theologisches Thema ist, wird nicht gut zu zweifeln sein. Woher also die eigentümliche Auskunftsarmut? Für den Bereich der evangelischen Theologie könnte es sich so verhalten: Seit den Umstellungskrisen der Neuzeit arbeitet sie doch mehr oder weniger im Bannkreis des Subjektivitätsthemas. Das bringt es mit sich, dass die Theologie und Ethik des menschlichen Nahbereichs mit nur wenig Aufmerksamkeit bedacht wird. Denn entweder geht es dann um ›das Subjekt‹ bzw. um ›den Einzelnen‹ und seine Gottesbeziehung oder aber um abstrakte Größen im Rahmen des Allgemeinheitspostulats. Ersteres bedarf des Beleges nun wirklich nicht und zweiteres gilt z. B. überall da, wo eine Ethik so angelegt ist, dass sie ihren Beginn bei dem hat, was für alle gilt, die also in welcher Weise auch immer in der Nachfolge von oder als Reaktion auf Kant entworfen ist. Die evangelische Verantwortungsethik Tödt’schen Typs etwa ist erkenntlich so beeinflusst: Sie nimmt den Dual von Gesinnung und Verantwortung als Ausgangsbasis, erklärt Verantwortung zur zentralen Kategorie und blendet auf diese Weise die Ethik des menschlichen Nahbereichs fast völlig ab – contra intentionem auctoris, wie man sagen muss, wenn man die Fülle der von Tödt bearbeiteten Themen in Betracht 36 Vgl. K. Winkler, Art. Freundschaft, EKL3 Bd. 1, 1986, 1371f, 1371; H.-H. Schrey, Art. Freundschaft, TRE Bd. 11, 1983, 590–599, 591; W. Sparn, Art. Freundschaft VI. Systematischtheologisch, RGG4 Bd. 3, 2000, 355f, 355. Der sehr rasche definitorische Zugriff bei M. Masshof-Fischer, Art. Freundschaft II. Ethisch, LThK Bd. 4, 1933, 133f, wählt mit der These, Freundschaft entstehe aus reziproker Anerkennung und Wertschätzung, m. E. den richtigen Zugang, erwähnt die von den anderen Lexikonautoren gesehenen Bestimmtheitsdefizite jedoch nicht. – Bezeichnend ist auch, welche Standardwerke auf einen Begriffseintrag ›Freundschaft‹ verzichtet haben, so z. B. das Lexikon der Bioethik (1998), das Neue theologische Wörterbuch von Herbert Vorgrimler (2000) oder – von der Anlage des Werks her verständlicher – das Neue Handbuch theologischer Grundbegriffe (2005).
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zieht.37 So sicher die evangelische Verantwortungsethik die Subjektivismusfalle von ›Gott und die Einzelseele‹ vermeidet, so gewiss bleibt sie ihr mit dem Zug zur abstrakten Allgemeinheit doch noch verhaftet und kann keinen rechten Blick für die Ethik des Nahbereichs entwickeln. Freilich gilt die Klage, es werde am Thema vorbeigedacht, nur mit Einschränkungen. Thematisierungen gibt es, sie sind aber eher Einzelstücke: Emil Brunners zu Unrecht vergessener Beitrag im Rahmen seiner Ethik ›Das Gebot und die Ordnungen‹ etwa ist zu nennen,38 ferner einige glänzende Bemerkungen und Briefe Dietrich Bonhoeffers aus der Haftzeit und kurz davor.39 Walter Sparn hat darauf hingewiesen, dass diese beiden und einige andere verstreute Belege der Suggestion einer weiteren Fehlabstraktion nicht erlegen sind, die doch mehr als weit verbreitet war. Gemeint ist Anders Nygrens Unterscheidung zwischen eros und agape, im Englischen nachgerade sprichwörtlich geworden als die zwischen ›need-love‹ und ›gift-love‹.40 Wenn nun Freundschaft nicht – oder nicht immer und nicht in erster Hinsicht – einen erotischen Beiklang hat, dann verschwindet sie gleichsam in der Kluft zwischen need-love und gift-love, denn need-love ist sie dann nicht und als agape in Nygrens Sinne ist sie evidentermaßen auch nicht beschreibbar.41 In der Tat: Neben dem Bannkreis des Subjektivitätsthemas ist hier eine weitere Fehlabstraktion vorhanden. Der Blick auf sie hilft verstehen, warum das Thema Freundschaft in ungenügender Weise bearbeitet wurde: Es war nicht genügend sichtbar! Eine theoretische Tradition freilich bildet hier die große Ausnahme. Es handelt sich um den Dialogismus und die an ihn anschließende Philosophie und Theologie der Anerkennung. Martin Bubers Grundbuch des Dialogismus, Ich und Du, führt den Begriff fast nicht, das Thema aber immerzu mit sich, auch wenn er es ganz ereignishaft interpretiert: Lebensbestimmende Kontinuität von 37 Vgl. H.E. Tödt, Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 21–48. Tödt übernimmt den von Max Weber vorgeschlagene Dual von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. M. Weber, Politik als Beruf, in ders.: Gesammelte Politische Schriften, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 5 1988, 505–560. Freilich gibt es begründete Zweifel, ob dieser Dual theologisch übernommen werden sollte: Theologische Ethik ist weder reine Gesinnungsethik noch muss sie den Weberschen Dual übernehmen und dessen Wirklichkeitsbegriff mitgehen und sich so zur Verantwortungsethik in seinen Bahnen deklarieren, vgl. die Auseinandersetzung mit Weber und der sich auf ihn berufenden theologischen Selbstwahrnehmung bei W. Schoberth, Die bessere Gerechtigkeit und die realistischere Politik. Ein Versuch zur politischen Ethik, in: Salz der Erde. Zugänge zur Bergpredigt, hg. von R. Feldmeier, Göttingen 1998, 108–140. 38 E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, Zürich 41939, 277–292.502–504 u. ö. 39 Bonhoeffer, Widerstand 290–292.585–589. Nicht zufällig ist der Titel einer der Beziehung zwischen Bonhoeffer und Eberhard Bethge gewidmeten Studie gewählt: Theologie und Freundschaft. Wechselwirkungen: »Eberhard Bethge und Dietrich Bonhoeffer«, hg. von C. Gremmels und W. Huber, Gütersloh 1994. 40 A. Nygren, Eros und Agape, Leipzig 21955. 41 Sparn, Freundschaft 355.
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Freundschaft ist bei ihm nicht im Blick, wohl aber das, dass Personen durch Begegnung zur Person konstituiert werden; ein grundsätzliches Kritikmomentum an den selbstbezüglichen Theorien der Subjektivität und des Selbstbewusstseins.42 Franz Rosenzweig traktiert einen ähnlichen Gedanken, indem er die Unüberspringbarkeit des einzelnen Menschen betont, der trotz aller Theorie als zufälliges Ich noch da ist.43 Unserer Tage sind es Emmanuel Levinas’ Rede vom Antlitz des Gegenübers und die diversen anerkennungstheoretischen Ausarbeitungen, die für eine bessere Erfassung dessen, was Freundschaft soll heißen können, wohl die vielversprechendsten theoretischen Instrumente zur Verfügung stellen.44 Sie zu gebrauchen ist gewiss nötig, schon um der populären Lebenskunst-Literatur etwas entgegenhalten zu können, die ihr Selbstbewusstsein zum nicht geringen Teil aus der Anmutung bezieht, Denken mit Tradition hätte das Feld unbestellt gelassen. So viel als eine erste und gewiss zu ergänzende Landschaftsskizze. Ich werde nicht mit Bezug auf Dialogismus und Anerkennungstheorien fortfahren, sondern, wie angekündigt, mit dem Rückgriff auf Aristoteles. Der Grund dafür ist ein genuin theologischer: Die Aristoteles-Rezeption in der christlichen Theologie ist zugleich die offene oder stillschweigende Adaption und Veränderung seines Konzepts für theologische Belange. Meine Hoffnung ist, mit einem konzen42 M. Buber, Ich und Du, in ders.: Das dialogische Prinzip, Heidelberg 51984, 5–136, bes. 35–38. 43 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1988. Programmatisch spricht Rosenzweig vom persönlichen Leben, das als eine »unverdauliche[n] Tatsächlichkeit außerhalb der großen geistig bewältigbaren Tatsachenfülle der wißbaren Welt« da ist. (12) Schlüsselbegriff im Lauf des Buches wird dann das Konzept ›Offenbarung‹. Darunter versteht Rosenzweig keine jüdisch-christliche Lehre, sondern die Erfahrung von Angesprochensein und Gegenwärtigkeit, vgl. M. Fricke, Franz Rosenzweigs Philosophie der Offenbarung. Eine Interpretation des Sterns der Erlösung, Würzburg 2003, bes. 160ff.285f; ders., Offenbarung und Verantwortung. Ein Kapitel nach Franz Rosenzweigs Philosophie der Offenbarung, in: Franz Rosenzweigs »neues Denken«. Internationaler Kongreß Kassel 2004, hg. von W. SchmidtKowarzik, Freiburg/München 2006, 817–829. Die – implizite – Theorie der Freundschaft im ›Stern‹ ist also, dass ein Freund zum unverrechenbaren Ereignis von Angesprochensein und Gegenwärtigkeit wird. 44 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, München 42008, bes. 267ff; ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, München 42011. Levinas’ Konzept des Anderen ist so konfiguriert, dass sich die Vertrautheit, die man so oder so zur Freundschaft wird rechnen dürfen, genau nicht einstellt: Der Andere fordert mich unmittelbar auf, ihn nicht Sache sein zu lassen; um das tun zu können, muss er mir aber fremd bleiben: »Das unendlich Außerhalb Bleibende wird zur ›inneren Stimme‹.« (Jenseits des Seins 322, Herv. M.H.). Die anerkennungstheoretischen Studien jüngeren Datums suchen dies Moment durchaus zu wahren, sind aber auf die Beschreibung konkreter Anerkennungsverhältnisse aus, vgl. T. M. Scanlon, What we owe to each other, Harvard 2000, und aus dem deutschsprachigen Bereich vor allem die Arbeiten von A. Honneth, Die Moralität von Freundschaften, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997), 215f; ders., Das Ich im Wir. Anerkennungstheoretische Studien, Berlin 2010, bes. 261–279; jetzt vorrangig ders., Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011, 233–252.
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trierten Blick auf diese Adaptionsvorgänge dem anthropologischen und ethischen Proprium des Themas innerhalb der Theologie näher zu kommen. Das ist am Klassiker um einiges deutlicher zu beobachten als innerhalb der gegenwärtigen Debatte. Darum zu einer Skizze über
Aristoteles zum Thema Freundschaft Die Bücher VIII und IX der Nikomachischen Ethik sind für unser Thema einschlägig. Sie stehen, und das ist im Verhältnis zum eben Ausgeführten wichtig, nicht allein. Freundschaft ist ein eingeführter und fester Topos im Denken der alten Welt: Nicht blutsmäßig miteinander Verwandte können einander solidarisch und mit Zuneigung zugetan sein. Für einen freien, gebildeten und tugendhaften Mann ist dies ein erstrebenswerter Zustand. Von der Schilderung der Waffenbrüderschaft bei Homer über Lysis und Symposion aus Platons Werk und später mindestens bis zu Ciceros Spätschrift Laelius führt die Spur, die einen gewiss sagen lässt, dass Freundschaft ein fester Topos der antiken Ethik und Kultur ist. Den Gegensatz zu unserer gegenwärtigen, eher disparaten Situation wird man sich groß vorstellen sollen: Wer die antiken Bücher liest, bewegt sich innerhalb eines etablierten Diskurses und hat es mit einer wohl eingeführten Metaphorik zu tun.45 Damit zu einer kurzen Schilderung von Aristoteles’ Wahrnehmung des Themas. Fast wie eine Definition klingt der folgende kurze Satz: »Der Freund ist ein anderer er selbst (ἕτερος αὐτὸς).«, sinngemäß besser: »Der Freund ist das andere Selbst dessen, dessen Freund er ist.«46 Etwas pathetisch gesagt: Grenze und Größe 45 Überblick und Literatur bei K. Treu, Art. Freundschaft: RAC 8, 1969, 418–434 und – teilweise darauf basierend – bei Schrey, Freundschaft 591f.598f. Idealtypisch für die Freundschaft im Mythos ist die Waffenbrüderschaft zwischen Achilles und Patroklos, s. besonders Ilias 18 (Achilles erfährt von Patroklos’ Tod) und 23,217–225 (Achilles’ Leichenklage über Patroklos). Platons Dialog Lysis wirkte wohl vor allem als Problematisierung der überkommenen Vorstellungen und endet nach deren Konfutation aporetisch (Lysis 223b). Erhebliche Nachwirkung hatten Aristoteles, EN VIII und IX sowie Ciceros Laelius. Zum ersteren gleich mehr, letzterer ist u. a. zugänglich in Cicero, Cato Maior und Laelius, lateinisch und deutsch, Berlin 2011, 133–238. Über das teils anders gelagerte Freundschaftskonzept Epikurs und der Epikureer informieren A. A. Long/D. L. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, Stuttgart 2000, 147–155.159–162. 46 Aristoteles, Ethica Nicomachea, , hg. von F. Susemihl und O. Apelt, Leipzig 1912, 1170 b6, vgl. 1166 a31f. N. v. Siemens, Aristoteles über Freundschaft. Untersuchungen zur Nikomachischen Ethik VIII und IX, Freiburg/München 2007, 104–106.111–125.135–153 u. ö. liest diese und verwandte Passagen auf die Frage hin, ob die aristotelische Freundschaftsidee egoistisch angelegt sei. Für das hier verfolgte systematische Interesse wird sich die Frage nach der Alterität in der Freundschaft als Prüfstein zeigen. Ethisch-normativ gesprochen: Gerechtigkeitserheblich ist nicht selbstbezügliches Verhalten an sich, sondern die Frage, welche
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des aristotelischen Denkens in dieser Sache stecken im Grunde bereits in diesem kleinen Zitat. Die Grundbestimmung ist relativ einfach: Aristoteles unterscheidet drei Typen von Freundschaft, und zwar nach ihrem teleologischen Momentum. Es gibt Freundschaft um des Nutzens willen, Freundschaft um des Genusses bzw. der Lust willen und Freundschaft um der Tugend willen. Welcher der dreien die Krone zukommt, ist evident. Die Nutzen- und die Genussfreundschaft sind als Phänomen wie von ihrer Werthaltung her niederstufiger als die Tugendfreundschaft: Sie sind weniger dauerhaft, sie werden regelmäßig auch von den nicht Tugendhaften angestrebt und vor allem wird Freundschaft hier nicht um ihrer selbst willen angestrebt, weil sie Mittel zur Erlangung eines ihr externen Ziels ist, dem jeweils angestrebten Nutzen oder dem Lustgewinn.47 Die um ihrer selbst willen angestrebte Freundschaft ist demgegenüber nicht asketisch, weil das schlechterdings Gute seinerseits angenehm und liebenswert ist. Diese Art der Freundschaft aber unterscheidet sich von den beiden unvollkommenen Formen dadurch, dass sie um ihrer selbst willen angestrebt wird: »Vollkommen (τἐλεια)ist die Freundschaft der Tugendhaften und an Tugend Ähnlichen. Diese wünschen einander gleichmäßig das Gute (τἀγαθὰ), sofern sie gut sind, und sie sind gut an sich selbst. Jene aber, die den Freunden das Gute wünschen um der Freunde willen, sind im eigentlichen Sinne Freunde; denn sie verhalten sich an sich so und nicht zufällig.«48 »Die Freundschaft aufgrund des Charakters beruht nicht auf Abmachungen, sondern man schenkt und leistet etwas auf Grund der Freundschaft.«49
Entscheidend ist hier der Konnex aus Freundschaft und Tugend (ἀρετή). Wer in der Lage ist, die Potenziale des Prinzips seiner Lebendigkeit voll auszubilden und aus ihnen zu leben, der wird merken, dass die Lustfreundschaft und die Nutzenfreundschaft beide extern bedingt sind, weil Freundschaft hier um-willen von etwas anderem angestrebt wird. Außerdem sind diese Freundschaftsformen nicht auf das ausgerichtet, worauf der höchste, nämlich der dianoetische Seelenteil gerichtet werden kann, auf noetische Wahrheiten. Erst Freundschaft, die einander wechselweise um des Guten willen gewährt wird, ist auf kein externes Telos mehr gerichtet und hat das Gute selbst im Visier. Dazu freilich bedarf es der vollen Ausbildung des Mitgegebenen, mithin der Tugend. Die so gewonnene Freundschaftsdefinition schränkt den Kreis derer, die Freunde sein können, merklich ein. Aristoteles führt aus, dass die Nutzen- und Referenzgruppe berechtigtermaßen selbstbezüglich handelt. Die aristotelische Freundschaft unter Gleichen ist zu prüfen, nicht selbstbezügliches Verhalten an sich. 47 Aristoteles, EN 1156 a6–b6. Vgl. die Analyse bei L. Smith Pangle, Aristotle and the Philosophy of Friendship, Cambridge 2003, 37–56 und die Adaption bei H. Lemke, Freundschaft. Ein philosophischer Essay, Darmstadt 2000, 26–40.50–54. 48 Aristoteles, EN 1156 b6–11. 49 Aristoteles, EN 1162 b31f.
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Lustfreundschaft auch von Schlechten eingegangen werden können oder aber von Anständigen mit Schlechten und umgekehrt. Wo das Telos der Freundschaft aber darin liegt, dass sie um ihrer selbst eingegangen wird, da schränkt dies die Zahl derer, die dazu fähig sind, automatisch ein.50 Es sind nur die zur wahren Freundschaft befähigt, genauso wie auch die dazu Befähigten den Begriff nur vorsichtig gebrauchen sollten:51 Freund kann man nur mit wenigen sein – einen größerer Kontrast dieser Bestimmung zur inflationären Verwendung des Begriffs durch Anklicken des entsprechenden Buttons bei ›Facebook‹ kann man sich wohl kaum denken, zumal dort die Menge der ›Freunde‹ als Gradmesser sozialer Beliebtheit gilt. Das spiegelt in Überschärfe, was Niklas Luhmann die Marktförmigkeit der Moral genannt hat – sozial kommensurables Verhalten wird durch Entzug oder Gewährung von Achtung reguliert –, hat aber mit Freundschaft im erwähnenswerten Sinne nichts zu tun.52 Diskussionswürdig ist nun nicht, dass Aristoteles die Freundschaft für eine Möglichkeit nur Weniger erklärt – das ist ja verschiedentlich so unternommen worden und vielleicht zeigt die Weigerung des jungen Christentums, Freundschaft als Leitbegriff für die Gemeinschaft der Christinnen und Christen zu nehmen, ja eine durchaus treffende Elitarismuskritik. Entscheidend ist, dass für Aristoteles Freundschaft auf einem starken Konzept von Gleichheit aufruht: Freunde sind unter Gleichen, und vor allem: In der Freundschaft gibt es eine Isomorphie von Selbstbeziehung und Partnerbeziehung. Dieser Gedanke ist nicht einfachhin irreführend, aber er hat doch eine Zweischneidigkeit, die um eines theologisch geklärten Freundschaftskonzepts willen kritisch betrachtet werden muss. Es ist dies einer der Punkte, an dem Thomas von Aquin Aristoteles deutlich kritisiert und an dem das Verständnis von Freundschaft im Rahmen der Stellvertretungsthematik noch ein Stück weiter gehen wird. Die Isomorphie funktioniert wie folgt: »Die genannten Arten der Freundschaft«, schreibt Aristoteles, »beruhen also auf Gleichheit (ι᾿σότης).«53 Das ist zunächst die Gleichheit und Gemeinschaft (κοινωνία) untereinander,54 da Freunde einander wechselseitig das Gleiche wünschen und zugänglich machen wollen. Freilich ist auch gemeint, dass das Selbstverhältnis und das Partnerverhältnis identisch sind: Ein Freund ist, wer das Gute um des andern selbst willen 50 Aristoteles, EN 1157 b18–20, vgl. 1156 b24f. 51 Aristoteles, EN 1158 b11f. 52 »Moralische Kommunikation zeichnet sich vor anderen Kommunikationsweisen nicht dadurch aus, daß sie auf eine bestimmte Sorte von Regeln und Maximen bezugnimmt (…). Vielmehr gewinnt sie ihr Medium durch Bezugnahme auf Bedingungen, unter denen Menschen sich selbst und andere achten bzw. mißachten.« N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998, 397. Ausführlich in ders., Soziologie der Moral, in: Theorietechnik und Moral, hg. von N. Luhmann und S. H. Pfürtner, Frankfurt/M. 1978, 8–116. 53 Aristoteles, EN 1158 b1. 54 Aristoteles, EN 1161 b11.
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tut oder wünscht. Beim Tugendhaften gilt das für sich selbst und für die Partnerbeziehung.55 Der Tugendhafte ist mit sich selbst in Übereinstimmung und begehrt dasselbe. Er begehrt es, weil es dasjenige Objekt ist, das der besten Ausformung seines obersten Seelenteils, also der dianoetischen Vernunft,56 entspricht. Im Tätigsein, also im Ausagieren und Wünschen des Tugendentsprechenden, ist der Tugendhafte bei sich selbst, sein Werk zeigt ἐν ἐνεργεία, was er der Möglichkeit nach ist.57 Das ist es, was Tugendhafte untereinander verbindet. In diesem Kontext schreibt Aristoteles den kurzen, eingangs zitierten Satz: »Der Freund ist ein anderer er selbst«.58 Jetzt lassen sich Größe und Grenze vorläufig benennen. Die Größe liegt mindestens in der Erfahrungsnähe und in der Ausdifferenzierung in die verschiedenen Freundschaftstypen, samt einleuchtender Privilegierung der Freundschaft um der Freundschaft willen. Es muss doch, so kann man einleuchtend behaupten, eine gewisse Isomorphie zwischen befreundeten Menschen geben. Um eines gewissen Gleichklangs willen ist man doch befreundet, und, gäbe es ihn nicht, dann wäre eben keine Freundschaft. Reine Selbstlosigkeit ist keine Freundschaft und auf der anderen Seite ist es ja auch richtig, die Liebesbeziehung samt ihrer erotischen Seite nicht als Freundschaft zu qualifizieren. Hier zeigt sich wieder, dass Walter Sparn Recht hat, wenn er beklagt, dass Freundschaft in Anders Nygrens Fehlabstraktion von need love und gift love gleichsam verschwindet.59 – Mindestens so weit also sollte man auf alle Fälle mit Aristoteles gehen. Ein Problem zeigt sich aber dennoch. Für Aristoteles ist Freundschaft die Externalisierung der tugendhaften Selbstbeziehung: Ich wünsche für den anderen, was ich als Tugendhafter dianoetisch selbst wünsche; ich erfahre als beglückend, dass es andere gibt, von denen ich sagen darf: Er oder sie ist ein anderer ich selbst. Damit aber hat der Stagirit das Phänomen der Andersheit aus der Freundschaft bündig ausgeschlossen. Das ist schon auf der phänomenalen Ebene mindestens reduktiv.60 Zu vermuten ist, dass eine philosophische Auseinander55 56 57 58 59 60
Aristoteles, EN 1166 a1ff; 1171 b32–34. Aristoteles, EN 1166 a16f. Aristoteles, EN 1168 b5–9. Aristoteles, EN 1170 b6. Sparn, Freundschaft 355. So auch S. Hauerwas und C. Pinches, Christians among the Virtues. Theological Conversations with Ancient and Modern Ethics, Notre Dame 1997, 40.49 u. ö., zustimmend kommentiert von H. S. Reinders, Receiving the Gift of Friendship. Profound Disability, Theological Anthropology, and Ethics, Grand Rapids/Cambridge 2008, 363–367. Reinders unterzieht die Traditionen des Denkens über Freundschaft einer kritischen Revision mit Blick auf die Freundschaft mit geistig behinderten Menschen, entsprechend radikalisiert er das hier angesprochene Alteritätsmotiv in Lebenslagen hinein, in denen von Reziprozität im landläufigen Sinn nicht mehr die Rede sein kann. Sein Lösungsansatz geht dahin, nicht nur den
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setzung mit Aristoteles dies zum Thema machen müsste und es in Gestalt der oben erwähnten Werke aus der Dialogphilosophie und der Anerkennungstheorie mindestens implizit auch getan hat. Das ist hier aber nicht vordringlich. Vielmehr ist jetzt zu zeigen, wie das Phänomen der Andersheit durch die theologische Aristoteles-Rezeption in die Begriffsbestimmung hereinkommt und dass das ein veritabler Gewinn in der Sache ist.
Die Rezeption bei Thomas von Aquin Im der Summa totius Theologiae des doctor angelicus spielt Freundschaft vom Umfang her bei weitem nicht die Rolle, die ihr in der Nikomachischen Ethik zukommt. Umso erstaunlicher ist, wie deutlich in diesen nicht sonderlich umfangreichen Bemerkungen Absetzbewegungen von der aristotelischen Auffassung des Themas zu beobachten sind. Ein Blick auf sie liefert entscheidende Argumente für eine theologische Fassung des Themas. Thomas beginnt zunächst in vertrauten Bahnen: Freundschaft existiert nicht um eines externen Nutzens willen, sondern wird um des Freundes willen angestrebt.61 Auch ihre Komponenten, wie Thomas sie erkennt, könnte Aristoteles wohl so unterschreiben. Es sind fünf: 1. 2. 3. 4. 5.
»suum amicum esse et vivere«, das Sein und Leben des Freundes überhaupt, »vult ei bona«, ihm Gutes zu wünschen, »operatur bona ad ipsum«, ihm Gutes aktiv zukommen zu lassen; »convivit ei delectabiliter«, gern mit ihm zusammen zu leben, »concordat cum ipso, quasi in eisdem delectatus et contristatus«, eines Sinnes mit ihm zu sein, am Gleichen erfreut, vom Gleichen traurig gestimmt.62
So weit also, so vertraut. Die Gradunterschiede beginnen damit, dass es für Thomas eine Form der Freundschaft gibt, die Freundschaft zu und mit Gott genannt werden kann, die amicitia ad Deum oder amicitia cum Deo. Er bestimmt sie als eine reifere Form der Gottesliebe. Amor Dei gibt es durchaus, und zwar weit verbreitet. Zur amicitia wird sie, wenn man von einer Form des Austausches zwischen Gott und Mensch sprechen darf: »super amorem addit mutuam redamationem«,63 die Gottesliebe des Menschen wird durch die persönliche Liebe Gottes zu diesem Geschöpf beantwortet, so dass Thomas sogar davon spricht, dass es familiäre Vertrautheit und Austausch zwischen Gott und Mensch Freund, sondern das Vorkommen von Freundschaft überhaupt als unverdientes Geschenk zu verstehen und sie so nicht aus der aristotelischen Reziproziät ableiten zu müssen, vgl. ebd. und 374–378. 61 S. Thomae Aquinatis Summa Theologica, Turin/Rom 231942 (Marietti-Ausgabe), I–II 26,4 a3. 62 Thomas, STh II–II 25,7c. 63 Thomas, STh I–II 65,5 r.
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gibt, die zu Recht Freundschaft genannt werden kann. Das ist die »societas hominis ad Deum, quae est quaedam familiaris conversatio cum ipso«.64 Dass das Gnade sei, versteht sich dann fast schon von selbst: »Charitas est quaedam singularis amicitia hominis cum Deo«.65 Das ist eine rasante Bestimmung. Der Gottesbezug in der aristotelischen Fassung funktioniert nämlich völlig anders, er setzt die Selbstbeziehung des Gottes und die Selbstbeziehung des zur Freundschaft Befähigten einander gleich.66 In Bezug auf Freundschaft sind der Gott und der Tugendhafte ähnlich. Thomas bricht das zur Freundschaft zwischen Gott und Mensch auf, deren Unähnlichkeit im Rahmen der thomanischen Schöpfungslehre nicht betont werden muss. Und auch innerhalb der christlichen Theologie ist seine Bestimmung der gegenseitigen Liebe von Gott und Mensch und der »familiaris conversatio« von Rasanz. Dass von Gottesfreundschaft gesprochen werden darf, ist ihm demnach völlig selbstverständlich und die Auslegung als Gegenseitigkeit ist seine Interpretation dessen, was bei manchen Kirchenvätern sacrum commercium heißt und später bei Luther der fröhliche Wechsel und Streit sein wird.67 Schließlich: Thomas liegt mit seiner Bestimmung nahe bei der Sprache der Mystikerinnen und Mystiker seiner und anderer Zeiten, was von einer lehrfixierten Thomas-Rezeption gern und gründlich vergessen wird.68
64 Ebd. 65 Thomas, STh II–II 23,1c. 66 Aristoteles, EN 1165 a 21f. Dieses Sachmoment findet in der Darstellung von H. Dörnemann, Freundschaft als Paradigma der Erlösung. Eine Reflexion auf die Verbindung von Gnadenlehre, Tugendlehre und Christologie in der Summa theologiae des Thomas von Aquin, Würzburg 1997, 119–122, keine Erwähnung. Entsprechend stärker gewichtet er die Kontinuität zwischen Aristoteles und Thomas, wofür m. E. die bei Dörnemann 119 angeführte Stelle Aristoteles, Ethica 1158b23–28 keinen Anlass gibt, weil sie direkt auf die Gleichheit in der Freundschaft abzielt. 67 Zur Terminologie vgl. M. Herz, Sacrum commercium. Eine begriffsgeschichtliche Studie zur römischen Liturgiesprache, München 1958. Einige prominente Ansätze in der katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts, die von dem Konzept Gebrauch machen, werden diskutiert von J. Negel, Ambivalentes Opfer. Eine Studie zu Symbolik, Dialektik und Aporetik eines theologischen Fundamentalbegriffs, Paderborn 2005, 123–204. Fundstelle in Luthers Freiheitsschrift: WA 7,25f. 68 Otto H. Pesch übertreibt gewiss nicht, wenn er bescheinigt, dass Thomas »unter Hausarrest des Thomismus« gestanden habe: Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie, Mainz 21989, 27. Besorgt stimmen müssen die gegenwärtig wieder vermehrt zu vernehmenden Stimmen, die neuerlicher Arrestierung nicht abhold sind. Dass die Gnadenlehre des Aquinaten die Liebe und Freundschaft zwischen Gott und Mensch in den Mittelpunkt stellt, wird seit langem gesehen und mittlerweile auch in ökumenischer Perspektive wahrgenommen, vgl. M. Rose, Fides caritate formata. Das Verhältnis von Glaube und Liebe in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin, Göttingen 2007, 225–246.273– 287, wobei sie programmatisch eine werkimmanente Auslegung vornimmt (16) und entsprechend auf Bezüge zur aktuellen Diskussion weitestgehend verzichtet. Hans S. Reinders
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Diese Freundschaft zwischen Mensch und Gott – ich nenne sie fürs erste etwas ungeschickt Gnadenfreundschaft – bildet die Grundlage für innermenschliche Freundschaftsbeziehungen. Thomas vertritt also ein theonomes Verständnis von Freundschaft. Es ist gnadenhaft von Gott her ermöglicht und Ereignis von ihm her, dass wir in freundschaftlichen Beziehungen leben. Das zeigt sich ihm zu Folge an zwei besonderen Typen der Freundschaft unter Menschen. Es sind wiederum solche, die das Thema der Andersheit hereinbringen, das Aristoteles so gründlich ausgeschlossen hatte. 1. Freundschaft aller Menschen: »Omnis homo naturaliter omni homini est amicus«.69 Jeder Mensch ist von Natur aus allen Menschen ein Freund. Thomas führt diesen Gedanken ohne weitere Vorbereitung ein. Und das wird heißen sollen: Er gilt selbstverständlich und bedarf keiner besonderen Darlegung. Wo aber könnte die Begründung für diese unmittelbare Aussage liegen? Ich vermute, dass es sich um eine direkte Konsequenz aus der Schöpfungslehre handelt. Mitgeschöpflichkeit bringt es mit sich, zu den anderen Geschöpfen gleicher Art in Freundschaft zu stehen, und das in einer umfassenden Art und Weise. Ob das Naturrecht avant la lettre ist, kann man sich fragen. In konzeptionell eingeführter Weise sicher nicht, wohl aber ist es ein Beleg dafür, dass Thomas eine universale Solidarität der Menschen untereinander an die natura des Menschen geknüpft sieht. Und, ergänzend: Dieser Argumentationszug hat im Denken des Aristoteles gar keinen Platz. Er zeigt hinreichend deutlich, dass das Thema von der tugendethischen Verankerung bei Aristoteles hinübergewandert ist in eine theologische Begründung. Noch deutlicher ist das beim nächsten Punkt zu sehen, den Bemerkungen des Thomas zur 2. Feindesfreundschaft: Es gibt sie, weil Freundschaft auf zwei Weisen aktuell werden kann. Zunächst und naheliegend die Freundschaft zum unmittelbaren anderen Freund. Aber es gibt auch Freundschaft zu jemandem »respectu bezieht auch Thomas in seine kritische Analyse bezüglich der Freundschaft von Behinderten und Nichtbehinderten ein, vgl. Reinders, Friendship 279–302. Die sachliche Nähe von Thomas’ Konzept der amicitia hominis cum Deo zu mystischen Konzepten der Gottunmittelbarkeit ist, unbeschadet interessanter Differenzen im Detail, offensichtlich. Nicht zufällig taucht der Terminus in den Titeln entsprechender Untersuchungen und Textsammlungen öfters auf, vgl. Gottesfreundschaft. Christliche Mystik im Zeitgespräch, hg. von D. Langner u. a., Stuttgart 2008; Freundschaft mit Gott. Texte christlicher Mystiker, hg. von U. Dobhan, München 1990. Aus der älteren Literatur vgl. R. Egenter, Gottesfreundschaft. Die Lehre von der Gottesfreundschaft in der Scholastik und Mystik des 12. und 13. Jahrhunderts, Augsburg 1928; H. Wilms, Die Gottesfreundschaft nach dem hl. Thomas, Köln 1933; L. Vischer, Zum Problem der Freundschaft bei den Kirchenvätern, in: Theologische Zeitschrift (Basel), 9 (1953), 173–200. Das Motiv hat auch auf populäre religiöse Literatur Ausstrahlung, wie N. D. Walsh, Freundschaft mit Gott. Ein ungewöhnlicher Dialog, München 2000, zeigt. 69 Thomas, STh II–II 114,1 a2.
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alterius personae«, um eines anderen Menschen willen.70 Weil ich zu jemandem in freundschaftlicher Beziehung stehe, überträgt sich dies auch auf diejenigen Menschen, die zu ihm in Beziehung sind. Ich kann gleichsam nicht anders als seine Freundschaftsbeziehungen auch zum Freund zu haben. Und das gilt, sagt Thomas, auch wenn diese Freundesfreunde – um es so auszudrücken – mir übel gesonnen sind. Genau so funktioniert Feindesliebe: Weil ich weiß, dass auch die mir übel Gesonnenen in der Beziehung zu Gott stehen, erstreckt sich meine Freundschaft auch auf sie, vermittelt und angesteckt durch die Freundschaft zu Gott. Wir mögen sie, schreibt Thomas, aus Gnade in der Hinordnung zu Gott: »diligimus ex charitate in ordine ad Deum, ad quem principaliter habetur amicitia charitatis«.71 So weit einige Berichte aus der Summe des Thomas. Es sollte deutlich geworden sein, wie sehr das Freundschaftsthema sein Gesicht verändert, wenn es aus der tugendethischen Fassung bei Aristoteles in eine theonome Fassung bei Thomas transferiert wird. Zuvorderst die beim Stagiriten vermisste Alterität, also das Phänomen Andersheit erhält so die ihm gebührende Aufmerksamkeit.
Freundschaft und Stellvertretung Am Überschritt von Aristoteles zu Thomas von Aquin ließ sich die Veränderung von einer tugendethischen zu einer theonomen Fassung des Konzepts Freundschaft beobachten. Haupteffekt war neben dieser vernehmlich anderen Verankerung, dass Thomas das Thema Alterität in der Freundschaft in den Blick bekommt, das bei Aristoteles bündig ausgeschlossen ist. An beiden Sachstellen sind noch Präzisierungen möglich. Es wird nun also auf Thomas’ Leitidee fokussiert, die caritas könne amicitia hominis ad Deum genannt werden, und zugleich gefragt, ob das für das Phänomen von Gleichheit und Fremdheit in der freundschaftlichen Beziehung etwas austrägt. Thomas hatte die caritas als einen Vorgang von Wechselseitigkeit bestimmt, als amor und redamatio, und damit den Anschluss an die altkirchliche Lehre vom sacrum commercium oder commercium caritatis hergestellt. Die leitende Behauptung der folgenden Ausführungen ist, dass das sacrum commercium als Stellvertretung näherbestimmt werden sollte. Gottes Handeln in Christus für uns 70 Thomas, STh II–II 23,1 a2. 71 Ebd. In diesem Sachkontext führt Rose, Fides 284–287 den Nachweis, dass die Freundschaft mit Gott dem Menschen ausschließlich im Glauben zugänglich ist und sich an dieser soteriologisch wichtigen Sachstelle also kein Grund für die über Jahrhunderte geübte Polemik zeigt. Die evangelische Abstinenz vom Konzept der Gottesfreundschaft lässt sich zumindest so also nicht begründen.
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ist wesentlich Handeln an unserer Statt und für uns. Zugleich zieht es uns, bildlich gesprochen, in einen Austauschprozess hinein, im commercium mit Gott und stellvertretend füreinander. Dieses commercium zeigt sich beileibe nicht nur in der Freundschaft, aber es qualifiziert sie entscheidend, wenn Freundschaft theologisch verstanden werden soll. Umrisshaft geht der Gedanke so: Freundschaft kann eine Beziehung auf Gegenseitigkeit dann genannt werden, wenn einer bereit ist, an die Stelle des anderen zu treten, und zwar so, dass er nicht einfach dessen Ego, sondern dessen Person vertritt. Der Unterschied zwischen Ego und Person ist hierbei folgender: Unter Ego ist das Ergebnis der Selbstreflexion zu verstehen. Wer bin ich und mit wem fühle ich mich identisch? Das kann schlicht und alltäglich vor sich gehen, etwa in einem kurzen Akt der Selbstvergewisserung, wenn eine Lehrerin vor ihre Schüler tritt. Man kann sich aber genauso aufwendige Prozesse der Selbstreflexion denken, wie etwa beim Schreiben eines Tagebuchs. In all diesen Fällen kann die Selbstreflexion gar nicht anders, als auf dasjenige zu reflektieren, was dem Reflektierenden zugänglich ist und womit er sich identisch fühlt. Das ist so recht wie es unvermeidlich ist. Falsch würde die Sache nur dann, wenn man allein beim Ego-Aspekt stehen bleibt. Denn mit dem zweiten, dem Person-Aspekt ist gemeint, dass Menschen von ihnen selbst unentdeckte und ungeahnte Seiten haben, die aber gleichwohl zu ihnen gehören. Dies, was sie zur Person macht, ist aber nicht zu ihrer Verfügung, sondern ist auf verschiedene Weisen dezentriert. Ein einfaches Beispiel ist, dass Eltern in ihren Kindern mehr sehen, als diese in der Ego-Wahrnehmung haben – und umgekehrt: Kinder, deren alte Eltern ihre geistigen Fähigkeiten verlieren, sehen eine Person, deren eigene Ego-Wahrnehmung sie vermutlich nicht mehr in den Blick nehmen kann. Zur professionellen Aufgabe wird die Unterscheidung von Ego und Person für alle, die erzieherisch tätig sind. Schließlich, so die Behauptung, liegt auch das Proprium der Freundschaft darin, dass die Freunde einander Person sind und sich gegenseitig als Person sichtbar machen. Das ist ein elementarer Akt der Stellvertretung. Der Unterschied zwischen Ego und Person ist eine theologische Bestimmung. Man kann sich säkulare Derivate denken, und es gibt sie auch, überall da vor allem, wo Theorien entwickelt wurden, die erkenntlich aus der jüdisch-christlichen Eschatologie gelernt haben. Eine umfassendere Sichtung müsste prüfen, was bei Ernst Bloch, Theodor W. Adorno und anderen für das Verständnis von Freundschaft in diesem Sinne zu lernen wäre.72 Ich beziehe mich aber direkt auf 72 Von Th. W. Adorno sind Rundfunkreden und -Gespräche unter dem Titel »Erziehung zur Mündigkeit« dokumentiert worden, Frankfurt/M. Nachdruck 1991, bes. 88–119.133–147. Das emanzipatorische Moment, das sich nach dem Austritt aus dem falschen Leben sehnt und um die Kontrafaktizität und zugleich Unvermeidlichkeit dieses Sehnens weiß, ist ein bestimmendes Moment seines Werks überhaupt. An wichtiger Stelle heißt es: »Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein
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die theologische Vorstellung, dass eine Person sich nicht selber hat, sondern dass sie in Christus geborgen ist. Diese Logik der Externität steht in aller Deutlichkeit in Gal 2,20: »Nun aber nicht mehr ich, sondern Christus in mir.« In seiner Studie zum Thema Stellvertretung hat Christof Gestrich diese Sache auf den Unterschied von Ego und Person bezogen: Es wird, schreibt er »im christlichen Versöhnungsgeschehen nicht einfach jedes Ich, das sich erhalten sehen und sich bewahrt wissen möchte, in diesem Wunsch unterstützt und bestärkt. Ermutigt wird vielmehr das Überschreiten dieses Ichs. Denn der Gott, der mich liebt, liebt nicht einfach das Ego, mit dem ich mich identisch fühle, sondern er liebt mich als die Person, in die er mich hineinruft. Versöhnt und in bestimmter Weise gebildet muß ich werden, weil ich mich als diese Person, in die Gott mich hineinruft, noch nicht kenne, suche, liebe oder habe. (…) Die Sprache der Versöhnung, die die Kirche Jesu Christi zu finden hat, dient deshalb einer solchen ›Rettung der Phänomene‹ und der persönlichen Identitäten, die das wahrhaft humane Signum des geisterfüllten Zusammenfindens von Ich und dem Fremden tragen. Erst dieses Neue bin ich wirklich selbst. Erst wer mich so werden läßt, nimmt mir nichts. Ich will im Glauben gerade nicht so bleiben und nicht auf Dauer so ›angenommen‹ werden, wie ich bin, sondern an mir erfahren, was ich von Gott her werden kann, damit ich bleibe.«73
Diese Verhältnissetzung von Ego und Person ist nicht ohne Vehemenz. Aus ihr spricht eine Sehnsucht des Glaubens, dass wer in der Nähe Gottes lebt, nicht mit seinem Ego allein gelassen werden will. Mit seinen Bestimmungen zielt Gestrich eine deutlich ausgearbeitete effektive Rechtfertigungslehre an, und auch Konsequenzen für die Ethik wären über seine vorsichtigen Andeutungen hinaus durchaus weiter zu entwickeln.74 Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.« T. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 51988, 192. Man muss freilich fragen, ob in Adornos Konzeption an eine dialogische Versöhnung gedacht ist und also für den Gedanken von Freundschaft unter Menschen wirklich Raum ist. Jürgen Habermas’ programmatische Kritik an der Lehrergeneration der Kritischen Theorie mag hier durchaus im Recht sein. Von anderen Voraussetzungen her kommend bestätigt Martin Seel diesen Eindruck, indem er bei Adorno eine Kontemplation der Aufmerksamkeit diagnostiziert, die jedoch vernehmlich am Kunstwerk und nicht am menschlichen Gegenüber konkretisiert wird, vgl. M. Seel, Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt/M. 2004, bes. 20–28.42–63. Blochs Merksatz für unser Thema lautet: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« E. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt/M. 1985, 13. Zu prüfen ist dann, inwiefern Blochs Ontologie des Noch-Nicht-Seins (ebd. 212ff) Raum für ein Konzept Freundschaft bereithält. 73 C. Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen 2001, 324f. 74 Vgl. v. a. Gestrich, Stellvertretung 255ff, der Paragraph trägt den Titel »Der Ruf Gottes und die menschliche Antwort«. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Neuerschließung der durch die konservativ-lutherische Schöpfungsordnungstheologie in Misskredit gebrachten Theologie der göttlichen Mandate, die z. B. von Dietrich Bonhoeffer in den Blick genommen worden war. Gestrich analysiert die Rede von Gottes Ruf und versteht sie programmatisch so:
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Die Stärke von Gestrichs Buch besteht unter anderem darin, gezeigt zu haben, dass Stellvertretung ein, wenn nicht das zentrale Thema der Theologie ist: »Die christliche Heilslehre von Gottes ›Dazwischentreten‹ im ›auferweckten Gekreuzigten‹ zur Versöhnung und Erlösung seiner Schöpfung«.75 Unter Auslassung vieler Details ist hier zu überlegen, wie das Phänomen Freundschaft innerhalb dessen zu stehen kommt, was Gestrich Stellvertretungskultur nennt. Zunächst einmal ist klar: Die große und grundstürzende Interzession ist die Stellvertretung durch Gott in Christus. Der auferweckte Gekreuzigte steht an unserer Statt und eröffnet so Lebensformen, die uns nicht mit unseren Egos alleine lassen, sondern uns, wie bei Gestrich eben zitiert, in Richtung unserer Person werden lassen. Dieses soteriologische Prae der Stellvertretung durch Gott darf keinesfalls übersprungen werden, weil sonst eine haltlose ethizistische Verflachung des Themas droht.76 Überdies besteht an diesem Punkt Einigkeit zwischen dem evangelischen Theologen des 20. und 21. Jahrhunderts und seinem großen hochmittelalterlichen Vorgänger Thomas: Denn auch für ihn ist die Möglichkeit menschlicher Freundschaft ja in der Gottesfreundschaft des Menschen begründet. Die theonome Grundlegung scheint eine wichtige ökumenische Gemeinsamkeit zu sein. Aber weiter: Christenmenschen sind laut Gestrich solche, die sich durch Gottes Dazwischentreten unterbrechen lassen und sich von ihrem Ego zu der Person rufen lassen, die sie sein dürfen. Sich darin zu finden, setzt eine Kultur der Stellvertretung unter Menschen frei. Wie könnte Freundschaft im Rahmen dieser Stellvertretungskultur zu stehen kommen? Zunächst: Die empfangene Interzession von Gott her befähigt zur Interzession für andere. Man muss keine Scheu haben, hier von Anteilgabe Christi an seinem interzessorischen Amt zu sprechen. Die guten Gründe dafür diskutiert man zum Beispiel mit der finnischen Lutherinterpretation, was nicht jetzt geschehen soll.77 »Gottes machtvoller Ruf eröffnet also im Weltgeschehen Stellen (loci) für bestimmte von Gott vorgesehene Wesen und Geschehnisse. (…) Gottes beeindruckendes Rufen erzeugt im Seinsgefüge Hohlräume (= in bestimmter Form freigewordene Stellen), in die dann sofort Kräfte und Wesen einströmen, um dort nach Gottes Plan (…) Gestalt zu gewinnen.« (Gestrich, Stellvertretung 261) Der so skizzierten Ethik entspricht am ehesten der Entwurf von Hans G. Ulrich, der den Ruf in die geschöpfliche Nachfolge als sich-Finden in evangeliumsgemäßer Ausrichtung an den Orten deutet, die dafür bereitet sind, vgl. H. G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, Berlin u. a. 22007. 75 Gestrich, Stellvertretung 1. 76 Gestrich, Stellvertretung 135. 77 Die finnische Lutherinterpetation, so genannt, weil sie vom Systematiker und Lutherforscher Tuomo Mannermaa aus Helsinki und einer Reihe seiner Schüler initiiert wurde, behauptet, dass die effektive Rechtfertigungslehre Luthers eine deutlich größere Rolle spielt als der mitteleuropäische Forschungskonsens es unter Berufung auf die Formel ›simul iustus et peccator‹ glauben macht. Luther lehre, so die These, die effektive Partizipation des Glaubenden an Christus und damit einen Progress in der Heiligung. Literaturnachweise und Diskussion in diesem Band, Kapitel II.3.
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Im Eintreten für andere gewährt Christus Anteil an seinem Sein. Gestrich nennt das das genuin Priesterliche der christlichen Existenz und ich sehe nicht, was gegen diese Wortwahl sprechen sollte.78 Heißt das aber, dass Freundschaft nur dann Freundschaft ist, wenn sie explizit von der Begegnung mit Gott her gelebt und verstanden wird? Die theonome Anlage des Gedankens bei Thomas wie bei Christof Gestrich legt das nahe. Freilich spricht doch einiges dagegen. Man müsste Freundschaftserfahrung außerhalb der Identitätserzählung des Glaubens dann entweder für unmöglich erklären, oder mit dem Augustinus zugeschriebenen Dictum sagen, dass es sich um eine Tugend der Heiden handelt, die aber nichts anderes ist als ein glänzendes Laster, oder aber zum Denkmittel des ›anonymen Christentums‹ greifen.79 Das erste ist evidentermaßen unsinnig, das zweite überheblich und das dritte wohl tendenziell anmaßend. Vielmehr wird man damit rechnen dürfen, dass Interzession auch da gelingend geschieht, wo das in keiner Weise auf die Stellvertretung in Christus bezogen wird. Christen sind so frei, hierin einen Vorblick auf diejenige Stellvertretungskultur zu sehen, die sich für sie von der Stellvertretung Christi entwickelt – unabhängig von der Selbstauslegung derer, die sich als Freunde erfahren. Der Unterschied zwischen theologischen und philosophischen Freundschaftstheorien muss nicht an dem Punkt auseinander gehen, dass nur die theologischen die Differenz zwischen Ego und Person benennen – das zu behaupten wäre dann doch unsachlicher theologischer Triumphalismus. Vielmehr zeigen sich die Unterschiede darin, wie jeweils die Person gefasst wird. Hierzu gibt es auf philosophischer Seite substantialistische und prozessuale Theorieangebote recht unterschiedlicher Provenienz,80 der Unterschied zur theologischen Herangehensweise zeigt sich demnach inhaltlich: Dass die Person des Freundes von Gott konstitutiert und bei ihm verborgen ist, ist nur im Rahmen theologischer Prämissen denkbar. Die Motivation dafür, eine freundschaftliche Beziehung einzugehen, muss nicht in direkter Weise damit zusammenhängen.
78 Gestrich, Stellvertretung 134f. 79 Für den Nachweis, dass das Dictum ›glänzende Laster‹ der Sache nach bei Laktanz steht, nicht jedoch wörtlich bei Augustin, vgl. H. Anz u. a., Kommentar zu Journal AA, in: Deutsche Søren Kierkegaard Edition Bd. 1. Journale und Aufzeichnungen. Journale AA-DD, hg. von H. Deuser und R. Purkarthofer, Berlin 2005, 353. In der Sache geht es um folgende Alternative: Ist eine gelingende freundschaftliche Interzession nichtchristlichen Ursprungs so etwas wie anonymes Christentum im Sinne Karl Rahners oder ist sie der freien Schöpfergnade Gottes zuzurechnen, die keine – unbewusste – Ausrichtung auf die Interzession durch Christus mitsetzt? Die hier gleich mit der Vokabel ›Vorblick‹ angedeutete Position referiert auf die oft bespöttelte, in der Durchführung aber ungemein skrupulöse sog. Lichterlehre Karl Barths, vgl. K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik IV/3, 1. Teil, Zürich 21974, 153–188. 80 In substantialistische Richtung geht die Überlegung bei J. Verbrugh, Die platonische Freundschaft, Zürich/Leipzig 1931, 58; Harald Lemke, der sich auf ihn bezieht, formuliert vorsichtig, »dass die Wahrheit des Freund-Selbsts nicht feststeht«, Lemke, Freundschaft 140, vgl. 153f.
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Knapp zusammengefasst: Was ist, theologisch gesprochen, das für Freundschaft Typische an der Stellvertretung? Folgende Momente spielen wohl eine Rolle: 1. Ermöglicht wird das Abenteuer, für das Selbst eines anderen repräsentierend einzustehen duch den elementaren Stellvertretungsvorgang Christi, weil sie von der Ego-Bezüglichkeit befreit. Freundschaft ist demnach theonom ermöglichte und zugleich in Dienst genommene Stellvertretung. Sie ist ein Momentum unter vielen anderen davon, dass Gottes Erwählung und Befreiung nicht nur von etwas, sondern zu etwas geschieht. Das heißt zugleich, dass die Stellvertretungskultur unter Freunden unvollständig ist – und unvollständig sein muss, da sie sonst in den Bestimmungsterror des ›eritis sicut deus‹ umschlagen würde. 2. Menschliche Freundschaft, die den Namen verdient, enthält das Momentum, dass es einem um die Person, nicht nur um das Ego des Freundes geht. Das ist die christlich-theologische Antwort auf den elitaristischen Zug der Tugendfreundschaft bei Aristoteles. ›Niedrigere‹ Formen von Freundschaft gibt es durchaus, aber sie haben nur die jeweils zuhandene Form des Egos im Blick. Aristoteles nannte das die Nutzen- und die Lustfreundschaft, und die Probe aufs Exempel, dass es bei beiden ums Ego, nicht aber um die Person geht, ist leicht führbar. Bekanntschaft oder Kumpelhaftigkeit – gegen beide ist per se absolut nichts einzuwenden! – wird zur Freundschaft, wenn sich die Imagination einschleicht, der oder die andere sei und wünsche mehr als das ihm/ihr Zuhandene; der oder die andere sei es überdies wert, zu dieser Person gerufen und verlockt zu werden, die letztlich in Gott geborgen ist. Von diesem Interpretationsansatz her ist auch zu verstehen, dass Freundschaft ein seltenes Gut ist. Imaginationsarbeiten und Weggeleit zwischen Menschen, das so angelegt ist, kann es in der Masse nicht geben.81 3. Freundschaft ist gegenseitige Interzession. Ohne erklärte Gegenseitigkeit kann sie Freundschaft nie genannt werden. Die manchmal bedauerlichen so genannten nicht erwiderten Freundschaften bestehen eigentlich gar nicht und sind oft genug Bewunderungsverhältnisse, nicht aber Freundschaft im Ansatz.82 81 Gilbert Meilaenders Beitrag zur Sache ist stark von der Frage bestimmt, wie Freundschaft zur allgemeinen christlichen Nächstenschaft zu stehen kommt, und welche Berechtigung es für dies besondere Zuwendungsverhältnis gibt, das ja immerhin Züge von Exklusivität trägt. vgl. G. C. Meilaender, Friendship. A Study in Theological Ethics, Notre Dame 1981, v. a. 6–35.86– 101. M. E. schwingt hier eine normenethische Bestimmung mit, die der Sache nicht gerecht wird. Nächstenliebe ist kein Gegenstand eines Gebots neuzeitlicher Machart, entsprechend ist auch die exklusive und in der Tat exklusive Zuwendung zur Freundin, zum Freund nicht als Ausnahme davon begründungspflichtig. Es geht wohl anders herum: Dass es die – vergleichsweise seltenen – Freundschaftsbeziehungen gibt, ist dankbar zu würdigen und auf ihre theologischen Implikationen hin zu befragen. 82 Ein Sonderfall ist der, wenn es um Freundschaft mit einer Person geht, die zu erkennbarer
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4. Gibt es ein inhaltliches Spezifikum der Stellvertretung namens Freundschaft? Das ist über die beiden soeben genannten Momente hinaus schwer zu entscheiden. Christof Gestrich unterscheidet zwei inhaltliche Hauptmomente von Stellvertretung, nämlich Vikariat und Repräsentation.83 Vikariat heißt: Jemand tut etwas für mich. Ich muss zu einer bestimmten Zeit nicht an einer bestimmten Stelle sein und eine bestimmte Handlung vollziehen. Das Vikariat ist Entlastung von Präsenz und Funktion, es ersetzt temporal und lokal. Anders die Repräsentation: Der Repräsentant weitet meinen Präsenzbereich aus. Wo ich–leider oder gottseidank – nicht sein kann, bin ich doch, denn der Repräsentant vertritt mich. Dort, wo man nur zu gerne wäre und genauso dort, wo man sein muss, aber nun wirklich nicht sein will oder kann. – Im Rahmen dieser Grundentscheidung ist es plausibel, zu vermuten, Freundschaft sei wesentlich Repräsentation: Im Freund, in der Freundin mich sehen können, und zwar auf die Person hin, die ich sein darf, ist elementar ein Akt der Repräsentation. Wieder taucht hier eine aristotelische Bestimmung auf, wieder wird sie entscheidend verändert: Dass der Freund »ein anderer er selbst« ist, wurde als Basisbestimmung aus der Nikomachischen Ethik berichtet. Im Sinne der Repräsentation ist das zu bejahen. Im Sinne der Gleichheit und Isomorphie, wie Aristoteles sie denkt, wäre sie eine Verarmung ersten Ranges. 5. Damit ist der Punkt Verschiedenheit/Alterität bereits benannt. Was die Stellvertretung durch den Freund, die Freundin anziehend macht, ist nicht die entdeckte Wesensähnlichkeit mit ihm oder ihr. Es ist, dass die geschilderte Repräsentation stattfinden kann und dass man einander diese Repräsentation zutraut und sich ihrer würdigt. Ohne ein gewisses Maß an Gleichgesinntheit – die vierte Bestimmung bei Thomas – geht das nicht. Wenn aber irgendetwas daran ist, dass der Kern von Freundschaft Repräsentation ist, dann gehört es zur Freundschaft, dass es die Repräsentation durch den Anderen ist. Gerade nicht mit mir verwandt, gerade nicht durch die Bindungskräfte der Paarbeziehung an mich gekoppelt. Die Verschiedenheit derer, die eine Freundschaft eingehen, ist ein Wesenszug ihres Befreundetseins.
aktiver Antwort nicht in der Lage ist, wie Hans J. Reinders ausführt. In Bezug auf eine schwer geistig behinderte Frau schreibt er: »what we have received is the gift of her presence, not the gift of her response.« Reinders, Friendship 378. Was sich hier zeigt, ist, dass auch inaktive Präsenz eine Form der Kommunikation ist, die den aktiven Teilnehmer seiner Person und nicht nur seines Egos gewahr werden lässt. Über die Ego-Selbstreferentialität der behinderten Person verbieten sich Aussagen von außerhalb. Dass ihre Person von dieser Ego-Selbsteferentialität nicht abhängig ist, ergibt sich theologisch von selbst. 83 Gestrich, Stellvertretung 174ff.181ff.217f.
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So weit einige vorläufige Bestimmungen für das, was Freundschaft im theologischen Verständnis sein dürfte. Die entscheidenden Schritte passieren, wenn man Thomas von Aquin bei seiner stillen aber ereignisreichen Uminterpretation dessen zusieht, was er bei Aristoteles vorfindet. Dass der nach wie vor wichtigste Theologe der römisch-katholischen Kirche die Schlüsseleinsicht für eine von einem evangelischen Autor verantwortete Argumentation lieferte, dürfte durchaus kein Zufall sein. Denn in der versuchsweisen Besichtigung des Themas steckt ein ökumenischer Impuls: Auch das Miteinander und Füreinander von christlichen Konfessionen kann Freundschaft verstanden werden. Das soll hier nicht mehr ausgeführt, aber doch immerhin noch angedeutet werden.
Ausblick: Ökumene als Freundschaft von Konfessionen Die genannten Bestimmungen von theologisch verstandener Freundschaft lassen sich zwanglos auf das Miteinander christlicher Konfessionen übertragen. Der Repräsentationsaspekt steht hierfür im Mittelpunkt: Im gelingenden ökumenischen Gespräch steht eine christliche Konfession nicht für das Ego der anderen ein, sondern für die ›Konfessionsperson‹, die sie werden kann und darf. Freundschaft unter Konfessionen heißt also nicht, dass sie einander möglichst gleich werden. Wohl werden sie versuchen, einander auf Augenhöhe zu begegnen, weil man sonst schlecht von Freundschaft wird sprechen können. Einander im Sinn der Repräsentation des Personaspekts dienstbar zu sein, heißt dann dies: Bei der anderen Konfession zu sehen versuchen, was das in ihrem Sinne Beste für sie sein könnte. Im Gespräch mit der katholischen Theologie interessiert mich also nicht vorrangig, wie sie evangelischer werden könnte. Mich interessiert, wie Katholischsein in optimam partem aussehen würde und was aus dem Fundus meiner eigenen Konfession dazu beitragen könnte, dass das Ego dieser anderen Konfession sich auf den Personaspekt zubewegen kann. Das könnte man auch den ökumenischen Gabentausch nennen.84 Damit wird eine ökumenische Hermeneutik angezielt, die den Vorwurf, es ginge um Gleichmacherei, gänzlich entkräften kann. Zugleich erhebt sie Einspruch gegen die Grundannahmen der so genannten Ökumene der Profile. Ist das ökumenische Gespräch freundschaftsartig strukturiert, dann kann ich allererst in der Repräsentation durch den Partner erkennen, wie es um mich bestellt ist. Und zugleich wird mir klar, in welche Richtung auf die Person hin, sich 84 Dieser Gedanke wird unter Bezug auf die klassischen Gabetheorien des 20. Jahrhunderts vorgetragen von R. Saarinen, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville 2005, v. a. 133–147. Ich bin zuversichtlich, dass eine ökumenische Hermeneutik auf Basis des Gabemodells dem Programm einer ›Ökumene der Profile‹ die bedenkliche Schlichtheit seiner Grundannahmen aufzeigen kann.
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das Ego meiner Konfession zu bewegen hätte. Ein vorab fertiges Profil durch Innenschau der Konfession kann es gar nicht geben. Über solche konfessionalistischen Anmutungen ist man trefflich hinaus, wenn man sieht, dass Freundschaft nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen Denominationen der einen Kirche Jesu Christi möglich ist.
3.
Liebe. Theologische Anatomie des »unordentlichen Gefühls«85
Der Titel spielt auf ein bekannt gewordenes Buch von Richard D. Precht an.86 Auf den folgenden Seiten will ich eine Assoziation problematisieren, die sich bei dem zitierten Teil des Titels einstellen kann, wobei gleich zu sagen ist, dass es sich um eine Assoziation handelt, die mit dem Zitat allgemein verbunden ist, und durchaus nicht mit Prechts Argumentationsabsicht. Sie geht so: Liebe ist etwas im Inneren eines Menschen Antreffbares. Ihr Sitz ist das Gefühl, die Emotion, die Neigung des Individuums. Liebe ist darin unordentlich, dass man sie nicht steuern, befehlen oder auf Verlangen beenden kann. Sie entsteht, ist da und vergeht nach eigenen Gesetzen. Aber wo sie da ist, ist sie im Innern von Individuen lokalisiert. Ob, wie und wen einer oder eine liebe, das ist dann durch Introspektion auszumachen, durchaus nicht sofort und unmittelbar, da dies tief Innere des Selbst verschüttet und vom Alltäglichen verstellt sein kann: ein eigener, mächtiger und zugleich verborgener Bereich im Innern. Wer danach sucht, hält es also mit dem jungen Werther, den Goethe sagen lässt: »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!«87 Ich will im Folgenden zeigen, dass diese Assozation erheblich unterbestimmt ist, wenn nicht sogar völlig falsch. Meine These hat zwei Teilaspekte und heißt: Liebe ist wesentlich nicht im Inneren von Subjekten lokalisiert, sondern hat (1) den Charakter eines Ereignisses, das mit Personen geschieht. Das hat wesentlich damit zu tun, dass Liebe (2) die Hinneigung zum Anderen, Unterschiedenen ist. Die Stützungen, die für diese These vorgebracht werden, sind theologischer Natur. Der Zugang erfolgt unter Zuhilfenahme philosophischer und religionsphilosophischer Denkfiguren, der Kern des Ganzen entstammt jedoch dem Herzen christlich-theologischen Gottesdenkens, der Trinitätslehre. Sie läuft auf die Behauptung hinaus, Gott sei in sich selbst das Ereignis lebendiger Beziehungshaftigkeit und zwar so, dass er liebend und leidenschaftlich mit der 85 Für die Durchsicht danke ich meiner ehemaligen studentischen Mitarbeiterin Nele Heinrich. 86 R. D. Precht, Liebe. Ein unordentliches Gefühl, München 2010. 87 J. W. v. Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Sämmtliche Werke 4, Stuttgart 1885, 373 (Erstes Buch, Abschnitt »Am 22. Mai«).
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Welt als dem Anderen seiner selbst zu tun haben will. Das kann ich hier im Wesentlichen nur setzen und als Hintergrund des zu Entfaltenden behaupten. Für die auch nur halbwegs gründliche Erläuterung muss auf Anderes verwiesen werden.88 Es folgt zuerst ein Blick auf eine dominante und ungemein folgenreiche theologische Auslegung der eben benannten trinitätstheologischen Kernbehauptung, nämlich die in der platonisch-augustinischen Tradition. Deren Preis freilich war hoch und brachte folgenschwere Verzerrungen mit sich, unter anderem die weitgehende Verkennung des Ereignis- und Alteritätscharakters der Liebe. Die theologische Gegengeschichte lässt sich vor allem am dialogischen Denken im 20. Jahrhundert zeigen und führt dann zur genannten ungeschützten aber hoffentlich halbwegs plausiblen Explikation biblischer und trinitätstheologischer Grundgedanken.
Liebe – nach Platon … Von Platons Werk ging für die Theologie eine vielfältige Faszination aus, die sich heutigen Betrachtern nicht mehr unmittelbar erschließt. Eine kleine Werbeschrift ist also nötig, um ansatzweise klarzumachen, worin diese Faszination bestanden haben könnte, die die Tradition immerhin dazu führte, von Sokrates’ Schüler als dem ›attischen Moses‹ zu sprechen, also von dem, der so viel von der Wahrheit des christlichen Gottes wusste, dass man ihn mit der großen Figur des jüdischen Volkes auf eine Stufe stellte. Eine Kombination von Motiven ist hier zu nennen: Sie beginnt beim Theismus, strenger gesagt beim Monotheismus in zumindest der reifen Philosophie Platons. Ferner faszinierte die Kirchenväter, dass dieser Monotheismus einer des Guten ist: Der Gott und das Gute sind für Platon identisch – das kommt wie gerufen, wenn es darum geht, Gott zu erklären, der die Güte ist und die Güte, die er ist, der Welt zuwendet. Ineins damit geht, dass die Theologie der ersten christlichen Jahrhunderte auch das erste Gebot trefflich bei Platon gebildet sah: Dass keine anderen Götter angebetet werden sollen, findet seinen Widerhall darin, dass für Platon nichts anderes als der Gott wirklich erstrebens- und liebenswert ist, sogar so sehr erstrebens- und liebenswert, dass alles andere dafür gering erachtet und zurückgelassen wird. Das nun schießt mit einem weiteren Motiv zusammen, mit dem asketischen: Die frühe christliche Theologie war wesentlich eine der Asketen und Mönche, entsprechend nahm sie Platons Zug, den seelischen Kontakt zur Gottheit allen anderen vorzuziehen, gern auf und 88 D. Ritschl und M. Hailer, Grundkurs Christliche Theologie. Diesseits und jenseits der Worte, Neukirchen-Vluyn 42015, 28ff.100ff.193ff.
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verstand auch in diesem Sinne den ›attischen Moses‹ als Erklärungshelfer für ihre eigenen Aufgaben. In Sachen unseres Titelthemas lässt sich das an einigen klassischen Dialogstellen deutlich machen. Zwei sollen hier kurz benannt werden. Einmal: Im Phaidon verständigt sich Sokrates mit seinem – freilich nicht sonderlich auskunftsfreudigen – Gesprächspartner Simmias über die Frage, was denn eigentlich Erkennen sein könnte. Einer der Argumentationszüge beginnt sozialkritisch: Menschen leiden unter Krieg und Unruhe. Die Ursache dafür ist der Trieb, Geld und Güter besitzen zu wollen. Das aber ist nichts anderes als ein Trieb und Wunsch des Leibes: »Denn über den Besitz von Geld und Gut entstehen alle Kriege, und dieses müssen wir haben des Leibes (σῶμα) wegen, weil wir seiner Pflege dienstbar sind«.89 (Phaid 66c) Das ist nicht nur aus den naheliegenden Gründen des Leides am Krieg wegen misslich, sondern auch weil diese erzwungene Konzentration auf den Leib das Denken verunmöglicht: »und dadurch erleiden wir Mangel an der Weisheitsliebe (φιλοσοφία) durch all dies.« (ebd.) Das meint Platon nicht nur im Sinne mangelnder Zeit für das Geschäft des Denkens, sondern prinzipieller: Wer sich auf den Leib und seine Bedürfnisse konzentriert, ist auf falschem Wege, wenn es um das Erkennen geht, weil Erkennen wesentlich eine nichtleibliche Betätigung ist und sein muss: »Denn als wirklich zeigt sich uns deutlich, dass wenn wir jemals etwas rein erkennen wollen, wir uns seiner [des Leibes, M.H.] entledigen müssen und mit der Seele (ψυχή) selbst die Dinge (πράγματα) sehen müssen.« (Phaid 66d–e) Das ist der erste entscheidende Argumentationsschritt: Es gibt eine prinzipielle Baugleichheit zwischen der Seele einerseits und den Dingen andererseits. Sie zeigt sich, wenn man sich klarmacht, dass für beide die Existenzform der Unkörperlichkeit gilt. Mindestens für die »Dinge« ist das erläuterungsbedürftig. Denn Dinge erkennen wir ja zunächst leibhaft, indem wir sie benutzen oder anderweitig berühren oder auch dadurch dass wir sie einfach sehen, was ja ebenso ein körperlicher Vorgang ist. Freilich haben wir die alltäglichen Dinge damit nicht wirklich erkannt. Wir haben sie in irgendwelche Tat-Handlungszusammenhänge hineingenommen, aber wir haben ihr Wesen nicht ergründet. Darauf aber zielt das Zusammenkommen von ψυχή und πράγματα von dem das eben gegebene Zitat spricht. Den Füllfederhalter auf meinem Schreibtisch kann ich als Einzelding wohl sehen und benutzen. Erkannt habe ich ihn freilich erst, wenn ich weiß, wie er aufgebaut ist und funktioniert, aus welchen Materialien er hergestellt ist, wie man ihn richtig verwendet und gegebenenfalls auch, wie man ihn repariert. Ein solches Erkennen des Füllfederhalters aber ist mit dem visuellen oder haptischen Eindruck (›da liegt er‹, ›ich benutze ihn‹) eben nicht mehr 89 Deutscher Text nach der Schleiermacher-Übersetzung, Platon Werke 3, Darmstadt 1974, durchgängig überarbeitet.
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identisch. Es ist ein Erkennen der Struktur oder, wie Platon sagen würde, der Idee. Und es sollte klar sein: Dies Erkennen vollzieht sich geistig und unter Abwendung vom direkten Sinneseindruck. So – und nur so – kommen ψυχή und πράγματα zusammen. Wahres Erkennen also ist Erkennen mit der Seele, unter Abwendung von leibgebundenen Vollzügen. So wird verständlich, warum die Argumentation im vorliegenden Abschnitt sich flugs zu einer Betrachtung wandelt, unter welchen Umständen denn reines Erkennen ohne jedes störende Dazwischenfunken des Leibes möglich ist. Das Zitat geht unmittelbar so weiter: »Und dann erst offenbar werden wir haben, was wir zu haben wünschen, und dessen Liebhaber zu sein wir behaupten, nämlich die Weisheit (φρόνοσις), wenn wir vollendet sein werden, wie die Rede uns andeutet, nicht jedoch solange wir leben. Denn wenn es nicht möglich ist, vermittels des Leibes etwas auf reine Weise zu erkennen (γνῶναι), so können wir nur eines von beiden: niemals zur Einsicht zu gelangen (ει᾿δέναι), oder nach dem Tode. Denn dann wird die Seele selbst für sich sein, ohne den Leib; nicht jedoch zuvor. Und solange wir leben, wie sich zeigt, werden wir dem Erkennen nur dann nächstmöglich kommen, wenn wir soweit wie irgend möglich nicht dem Leib ähnlich sind und nicht mit ihm Gemeinschaft haben, was nicht höchst nötig ist,90 und wenn wir mit seiner Natur (φύσις) uns nicht anfüllen, sondern uns von ihm reinigen(καθαρεύειν), bis zu dem Zeitpunkt, wenn der Gott selbst uns befreit. Und als solche Reine, von der Uneinsichtigkeit des Leibes befreit, werden wir, so ist es folgerichtig, mit anderen Gleichartigen zusammensein und durch uns selbst alles Ungetrübte erkennen. Dies aber ist doch wohl das Wahre (ἀληθές). Dem Nichtreinen aber kann Reines zu berühren wohl kaum vergönnt sein. Dies alles, o Simmias, werden alle, die wahrhaft nach Einsicht streben, notwendig untereinander besprechen und als wahr erachten.« (Phaid 66e–67b)
In diesem an Rasanz schwer zu überbietendem Zitat sind die wichtigsten Elemente einer platonischen Philosophie der Liebe beieinander oder doch zumindest angedeutet. Gleichwohl muss man sie vorsichtig lesen, denn das Zitat ist von Formulierungen durchzogen, die einem doktrinären Gestus des Wissens widersprechen. Noch im letzten Satz wird klar, dass es sich um Gedanken von Menschen handelt, die Folgerichtigkeit beanspruchen, aber eben nicht um mehr als um solche Gedanken. Dies mitgedacht, lassen sich folgende Elemente ausmachen: 1. Erkenntnis im beschriebenen Sinne ist ein Bedürfnis. Wer, aus welchem Grund auch immer, einmal in die Nähe des Erkennens gekommen ist, in dem entsteht das Verlangen, dessen wieder teilhaftig zu werden und zwar in möglichst reiner Form. 2. Erkenntnis ist postmortale Existenz in der mortalen Existenz, Letztes im Vorletzten: Nicht völlig aber doch annähernd ist in der leibgebundenen 90 Sinngemäße Paraphrase des Nebensatzes: »einmal abgesehen von dem, was zur Erhaltung des Leibes nötig ist«.
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Existenz möglich, was nach deren Ende sicher eintreten kann. Daraus folgt nicht der Wunsch nach der Zerstörung des Leibes, wohl aber der, die erkenntnishindernde Kraft des Leibes weitestmöglich abzudrängen. 3. Es handelt sich um einen Prozess der Reinigung. Platons Stichwort hierfür, καθαρεύειν, taucht substantiviert als Katharsis vielfach wieder auf. 4. Der Vollzug der auf Erkenntnis gerichteten Lebensform führt in die Gemeinschaft derer, die sich auf demselben Weg befinden. Sokrates insinuiert sie hier ebenso als postmortale Gemeinschaft – im Rahmen des vorliegenden Dialogs, der ja von seinem Tod durch den Schierlingsbecher erzählt, (Phaid 115b–118a) also als diejenige Gemeinschaft, auf die er unmittelbar zugeht. 5. Der geschilderte Prozess ist letztlich eine Tat des Gottes. In und mit Menschen geschieht also, was diese aus sich nicht tun können und was sie über sich hinaus erhebt. Letztlich geht es um die erkennende Vereinigung von Mensch und Gott. Es müsste sich gut verstehen lassen, dass dies auf die christliche Theologie faszinierend gewirkt hat. Das Motiv der Liebe zu Gott, der nicht Teil der Welt ist, taucht hier auf, sehr deutlich auch das der Hoffnung auf Überdauern des Todesschicksals und Vollendung erst nach dem Tod, zuzüglich des Gedankens, Anteil daran bereits jetzt zu haben. Die monastisch bedeutsame Katharsis fehlt nicht und nicht einmal der Bezug auf eine Gemeinschaft, der der so Liebende angehört. Die Vätertheologie genauso wie die christlichen Platoniker unserer Tage konnten selbst ihre Ekklesiologie hier vorgebildet finden. So viel zu dieser Phaidon-Passage als eine erste Näherung an Platons Liebesphilosophie. Bislang war von der Sache der Liebe in ihrer spezifisch platonischen Auslegung viel die Rede, aber noch nicht vom Begriff selbst. Das ist jetzt kurz an einem Auszug aus dem ihr schwerpunktmäßig gewidmeten Dialog zu zeigen. Dabei wird deutlich, wie eng im platonischen Denken Liebe einerseits und Erkennen andererseits verwoben sind. Im Symposion werden eine Reihe von Lobreden auf die Liebe, ἔρως, gehalten. Die vielleicht bekannteste unter ihnen ist das Gleichnis von der ursprünglichen Vollkommenheit. (Symp 189d–193d) Ein Dialogteilnehmer erzählt darin, dass es ursprünglich drei menschliche Geschlechter gab, neben Mann und Frau auch eine Kombination aus beiden, kugelförmig und mit großen Kräften ausgestattet. Von diesen Kugelmenschen fühlen die Götter sich bedroht und Zeus beschließt, sie nicht, wie einst die Giganten, zu vernichten, sondern in Mann und Frau zu zerteilen. (Symp 190c-d) Die unmittelbare Reaktion der nun Getrennten ist, sich liebend einander zuzuwenden, um die ursprüngliche Ganzheit wiederzuerlangen: »Seit so langem also schon ist der wechselseitige ἔρως den Menschen angeboren, um die alte/ursprüngliche Natur (φύσις) wiederherzustellen, aus zwei eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen.« (Symp 191c–d)
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Das Gleichnis selbst lässt an der Körperlichkeit dieser Zuwendung keinen Zweifel und schließt Homosexualität dabei ausdrücklich ein. (Symp 191c.e) Mit der Phaidon-Stelle hat es gemeinsam, dass hier ἔρως und dort Erkennen etwas ist, bei dem Gleiches zusammenkommt. So wie ψυχή und πράγμα von derselben Art sind, so finden in der liebenden Umarmung die zusammen, die vom Herkommen her zusammen gehören und also gleich sind. Für unseren Zusammenhang sind zwei weitere auslegende Schritte wichtig. Der erste bestimmt das Ziel des ἔρως. Die Gesprächspartner werden sich einig, dass ἔρως gleich dem Begehren ist, dass ihm das Schöne zuteil werde. Noch passender aber erscheint, statt das Schöne als ἔρως-Ziel das Gute zu setzen (έρῶν τῶν ἀγαθῶν). Wer aber des Guten teilhaftig geworden ist, der ist nicht weniger als glückselig (εὐδαίμων). (Symp 204d–e) Mit dieser Zielbestimmung des ἔρως ragt er über das körperliche Bedürfnis, das zueinander gehörige Gleiche wieder zu vereinigen, hinaus. Das wird im zweiten wichtigen Schritt des kommentierenden Gesprächs vollends deutlich: Im ἔρως, so die Diskutanten meldet sich das Bedürfnis nach Unsterblichkeit. Das zeigt sich schon in der schlichten Wahrheit, dass jemand seine Nachkommen liebt, weil er in ihnen seine Zukunft über den Tod hinaus sieht. Im Kern heißt es: »Um der Unsterblichkeit willen begleitet einen jeden dieses Streben (σπουδή) und dieser ἔρως.« (Symp 208b) Und weil das so ist, kann man zwei Arten von Zeugungslust unterscheiden: Es gibt die Zeugungslust dem Leibe nach, die auf körperliche Vereinigung und Nachkommen zielt. Es gibt aber auch Zeugungslust gemäß der Seele: »es gibt solche, (…) die auch in der Seele Zeugungskraft haben viel mehr als im Leib, für das nämlich was der Seele angemessen ist zu erzeugen und erzeugen zu wollen, (…) Weisheit und jede andere Tugend.« (Symp 208e–209a) Wer dazu in der Lage ist, ist nicht weniger als ein Göttlicher (θείος). (209b) Damit ist das Ensemble der platonischen Liebesphilosophie beieinander. Der Argumentationsgang über das wahrhafte Erkennen, das nur unkörperlich möglich ist und sich daher erst nach dem Tod voll ausbildet, schießt zusammen mit dem Gedanken über ἔρως, der in seiner Spitze ἔρως der Seele nach ist und das auszubilden bestrebt ist, was allein der Seele entspricht. Beide Wege führen zur göttlichen Sphäre: Sie sind ein Werk des Gottes und wer sie tut, ist göttlich.
… adaptiert in der christlichen Theologie Die christliche Nachgeschichte des hier skizzenhaft Ausgebreiteten ist gewaltig. Der ›attische Moses‹ wurde teils direkt rezipiert, vielfach jedoch über neuplatonische Rezeptionswege zu einem entscheidenden Stichwortgeber und For-
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mulierungshelfer der Vätertheologie.91 Das gilt selbstverständlich auch für das Verständnis des Zusammenhangs von Liebe und Gott, wie die Väterzeit ihn formuliert. Ein Blick darauf soll an Hand der Theologie von Aurelius Augustinus († 430) erfolgen. Sein Werk ist unbestritten die wichtigste Drehscheibe platonisch inspirierter christlicher Theologie in die westliche Welt: Augustinus denkt und schreibt lateinisch, rezipiert griechische Literatur nur in Übersetzung und gibt der zu seiner Zeit bereits voll entfalteten und durchdachten theologischen Terminologie dadurch eine eigene Wendung. Sie ist für die gesamte Theologie des Westens, auch nach den konfessionellen Umbrüchen des 16. Jahrhunderts, bestimmend geworden. Keine Evaluation dessen, was »Liebe« wohl theologisch soll bedeuten können, kann deshalb an ihm vorübergehen. Auch hier möchte ich sowohl exemplarisch als auch in zwei Schritten vorgehen. Den ersten macht eine kurze Betrachtung zu einer der bekanntesten Augustinus-Stellen überhaupt, zum Bericht über das sogenannte mystische Gespräch mit seiner Mutter Monnica. Hier kann man Augustinus’ christlichen Liebesbegriff gleichsam ›at work‹ sehen und zugleich den platonischen Wurzeln nachspüren. Ein Blick, zweitens, in die begriffliche Feinarbeit von Augustins Trinitätslehre sollte die wesentlichen begrifflichen Voraussetzungen ansatzweise klären helfen. Das so genannte mystische Gespräch mit der Mutter steht in Augustinus’ Autobiographie, den Bekenntnissen. Freilich muss man den Begirff ›Autobiographie‹ vorsichtig verwenden.92 Wohl hat Augustinus mit seinem Werk diese Gattung wohl im wesentlichen erfunden, dies aber gewiss auf sehr eigene Art. Denn das ganze Buch ist, was der Titel durchaus schon andeutet, die Ausbreitung des eigenen Lebens in Form eines Bekenntnisses vor Gott: bußfertiger Rückblick und Bitte, Gott möge, was hier geschildert wird, gnädig ansehen. ›Lebensbeichte‹ also, in einem ernsten, noch nicht durchs Feuilleton beschädigten Sinne. In diesem Kontext also berichtet Augustinus über ein religiöses Gespräch mit seiner Mutter. Es findet an ihrem letzten Lebenstag statt und vermittelt auf seine Weise ihre sehr spezielle Bedeutung für den Autobiographen, weil sie als Christin Augustinus’ Weg durch andere Religionen und Weltanschauungsformen nicht immer glücklich gestimmt begleitete. Es geht um Folgendes:93 Augustinus und 91 Zu Plotin, dem neben seinem Schüler Porphyrios für Augustinus wichtigsten Neuplatoniker vgl. W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt/M. 1985 und ders., Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt/M 2001. 92 Vgl. D. Ritschl, Augustins ›Confessiones‹ als normative Autobiographie? Beobachtungen zu Struktur und Logik von Biographie und Autobiographie, in: Biographie als religiöser und kultureller Text, hg. von A. Schüle, Münster 2002, 109–123. 93 Vgl. M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006, 68–70.
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seine Mutter stehen am Fenster. Sie fragen sich, wie es wohl sein mag, ganz bei Gott zu sein und welchen Dingen oder Umständen dann bleibende Bedeutung zukommt. Die Durchmusterung des dafür in Frage kommenden Inventars nimmt die Form eines gedanklichen Aufstiegs von niederen zu höheren Gütern an. Stufe für Stufe lassen die beiden zunächst das hinter sich, was nur dadurch anziehend ist, dass es auf die Sinne wirkt, das vordergründig Attraktive, die Anziehungskraft der Sexualität und anderes. Die ganze Welt der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände, so bewunderungswürdig einzelne ihrer Elemente auch sein mögen und so sehr man sich an ihr als Gesamtheit von großer Komplexität erfreuen kann, muss doch zurückbleiben, eben weil sie anders als sinnlich nicht wahrgenommen wird. Augustinus und seine Mutter übersteigen diesen Bereich und landen bei einer Betrachtung ihrer körperlosen Seelen. Diese sind von der Schwere der Sinnlichkeit frei, aber immer noch nicht das, was in der Gemeinschaft mit Gott bleibend und wirklich ist. Noch einen Schritt gehen sie weiter, »ut attingeremus regionem ubertatis indeficientis, ubi pascis Israel in aeternum veritatis pabulo, et ubi vita sapientia est, per quam fiunt omnia ista, et quae fuerunt, et quae futura sunt; et ipsa non fit, sed sic est ut fuit, et sic erit semper; quin potius fuisse, et futurum esse non est in ea, sed esse solum, quonium aeterna est; nam fuisse et futurum esse, non est aeternum.«94 »auf dass wir eine Region nicht eingeschränkter Fülle berührten, wo du Israel auf der Aue ewiger Wahrheit weidest, und wo das Leben Weisheit ist, jene Weisheit, durch die alles entsteht, sowohl das, was schon entstanden ist als auch das, was noch entstehen wird. Sie selbst aber wird nicht, sondern sie ist so, wie sie geworden ist, und wird so immer sein; denn früher geworden-sein und künftig-sein ist nicht in ihr, sondern nur Sein, weil sie ewig ist. Denn geworden-sein und künftig-werden ist nicht in Ewigkeit.«
Was an diesem Stück auffällt, ist das In- und Miteinander von platonischen Motiven und biblischen Metaphern. Die platonischen Motive sind vor allem die der Unveränderlichkeit und Letztgültigkeit. Augustinus betont besonders den Aspekt, dass die Ewigkeit dieses Bereichs sich dadurch auszeichnet, dass Ewigkeit auf der einen Seite und Veränderung bzw. Werden/Vergehen auf der anderen in striktem Gegensatz stehen. Weil das so ist, ist das Leben in diesem Bereich durch etwas ausgezeichnet, was allen anderen Lebensformen nicht, jedenfalls nicht vollumfänglich zukommt: Es ist Wahrheit und Weisheit. Diese Wahrheit und Weisheit, soviel ist durch den zuvor beschrittenen Gang durch die Fülle der Anschauung und auch durch den nichtmateriellen Bereich der Seele klar, ist ein Bereich, der vom Dinglichen oder Stofflichen in keiner Weise berührt oder beschwert ist. Die direkte Parallele zur ›Zone‹ dingfreier reiner Erkenntnis, wie sie im oben gegebenen Phaidon-Zitat vorkommt, ist nur zu augenfällig. 94 Conf IX.24, hier nach Sancti Augustini Confessionum Libri Tredecim, auf Grundlage der Oxforder Edition hg. von K. v. Raumer, Stuttgart 1856, 222.
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Neu und anders ist die explizite Verknüpfung des platonischen Gedankens mit biblischen Metaphern. Die Rede vom Weiden Israels spielt auf den biblischen Topos der Fürsorge Gottes für sein Volk an, biblisch immer wieder belegt, wobei die bekannteste Aussage die aus Ps 23 sein dürfte, wo der Beter bekennt, dass Gott ihn auf grüner Aue weiden und zu frischem Wasser führen würde. Das Motiv ist, durchaus im Gegensatz zu Ps 23, aber wesentlich gemeinschaftlich zu verstehen: Gottes Volk, gleichsam Gottes Herde ist es, die geweidet wird. Das ist aus Belegen wie Ps 80,2 und Ez 34,14 ziemlich deutlich, spielt im bekannten Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,4–7) eine Rolle und kehrt sogar in einer Anweisung des österlichen Jesus an Petrus wieder, seine Schafe zu weiden (Joh 21,15–19). Augustinus dürfte mit »Israel auf der Aue der ewigen Wahrheit« also keine andere Größe als die bei Gott verherrlichte Kirche gemeint haben.95 Das ist die spezifisch christliche Lesart der postmortalen Erkenntnisgememeinschaft, an die Sokrates kurz vor seinem Tod denkt. Ohne dass ein direkter literarischer Bezug irgend zu erkennen wäre kann man noch darauf hinweisen, dass auch das mystische Gespräch kurz vor einem exemplarischen Tod, nämlich kurz vor dem von Augustinus’ Mutter Monnica platziert wurde. Die Szene zeigt, wie jetzt hoffentlich klarer ist, Augustinus’ Liebesbegriff ›at work‹: In dem Gespräch wird exemplarisch verdichtet, wohin christliche Liebe sich wendet, die ernstlich fragt, was und wie zu lieben für sie ansteht. Sie wendet sich von den falschen Bindungen der materiellen Welt ab und dem zu, das in Ewigkeit neben der verfließenden Zeit steht. Dort gehört es der Gemeinschaft an, der Gott dort dauerhaftes Bleiberecht gewährt. Die in der obigen Aufzählung genannten platonischen Aspekte tauchen hier in spezifisch christlicher Lesart vollständig wieder auf. Zwei für Augustinus typische Momente sollen jedoch noch etwas näher bestimmt werden, der Aspekt, dass Gleiches mit Gleichem oder doch zumindest Ähnliches mit Ähnlichem in der Liebe zusammenkomme, sowie der, dass dies ein Phänomen im Inneren eines Menschen ist. Beides kann mit einigen Bemerkungen zu einem weiteren Großwerk aus seiner Feder geschehen, zu De Trinitate.96 Dieses Buch vereint ausführliche biblisch-theologische Erwägungen zur Frage der Dreieinigkeit Gottes mit philosophischen Fragen. Biblisch-theologisch stellt 95 Augustinus’ Lehre von der Kirche könnte an dieser Sachstelle angetragen werden. Sie ist in sich allerdings hoch komplex, weil er sie im Rahmen einer Theologie der Geschichte entwickelt, zu der er sich aufgefordert sah, nachdem im Jahr 410 Rom von den Westgoten erobert worden war und sich die Frage nach Gottes Souveränität im Weltgeschehen stellte. Die kurze Erwähnung im hier gegeben Zitat stellt gleichsam die Zielbewegung der Ekklesiologie dar, ihre gesamte Vorgeschichte beschreibt Augustin in seinem opus magnum De Civitate Dei (Vom Gottesstaat). 96 Textnachweise aus Aurelius Augustinus, De trinitate, Lateinisch/deutsch, neu übersetzt, kommentiert und herausgegeben von J. Kreuzer, Hamburg 2001.
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Augustinus klar, dass die auf den Konzilien von Nicaea (325) und Konstantinopel (381) beschlossenen Formulierungen zur Dreieinigkeit Gottes aus dem Glauben heraus zutreffen. Er will aber über diese Feststellungen hinausgehen und sucht in den philosophischen Passagen Argumente, die diese Gotteskonzeption wenn nicht belegen, so doch erläutern und verständlich machen. In diesem Zusammenhang werden die für uns wichtigen Bestimmungen entfaltet. Zunächst zu dem Argument, dass in der Liebe gleich und gleich oder doch ähnlich und ähnlich aufeinandertreffen: Dass Gott kein Teil der Welt ist, sondern ihr ewig gegenüber, steht für Augustinus völlig außer Frage. Entscheidend ist dann, wie die Nicht-Welthaftigkeit Gottes bestimmt ist. Gänzlich in Übereinstimmung mit dem trinitarischen Dogma stellt Augustinus hier fest: Gottes Wesen ist Beziehung. Er ist nicht zunächst eine Gott-Substanz, zu der die Relata der göttlichen Personen dann sekundär hinzutreten, seine Gottheit besteht vielmehr genau darin, dass Vater, Sohn und Geist miteinander in Beziehung stehen. In diesem – hier nur abstrakt vorstellbaren – Gedanken ist mitgesetzt, dass Gott die Liebe ist. Dieses Zitat aus 1 Joh 4,16 sieht Augustinus darin eingelöst, dass das Beziehungswesen, das Gott ist, eben diese Liebe ist. Gott agiert Liebe nicht nur aus, er ist sie wesenhaft und ewig. (386f; 354f) Dass nichts nicht-Göttliches dieser Liebe gleicht, ist klar und entsprechend würde Augustinus nicht wie Platon davon sprechen können, dass jemand in der Nähe Gottes theios, göttlich wäre. Was er sucht, sind Analogien und Bilder der ewigen relationalen Liebe, die Gott ist. Es gibt sie, so Augustinus, an manchen Orten, in bevorzugter Weise aber im menschlichen Geist. Genauer: Der menschliche Geist in actu ist ein triadisches mentales Geschehen und damit unter den Geschöpfen das, was der ewigen Trinität Gottes am nächsten kommt. Das freilich ist, wie der Herausgeber des Werks zu Recht betont, hoch anzusetzen: » … daß sich die mens [menschlicher Geist, M.H.] als ›Bild‹ begreift – als ›bloßes‹ Bild jener Trinität gegenüber, die sie als göttlich denkt, aber eben doch als ihr Bild […]. Es ist nicht das ›Abbild‹ eines daneben verfügbaren ›Urbildes‹, sondern die erscheinende Wirklichkeit eben dieses gedachten ›Urbildes.«97 Menschliche mens lässt Gottes Wirklichkeit geschöpflich erscheinen. Augustinus analysiert menschliche Denkakte und es zeigt sich ihm eine triadische Struktur: »Nichts aber ist so sehr in meiner Erinnerung wie die Erinnerung (memoria) selbst. Also erinnere ich mich ihrer ganz. Ebenso weiß ich, daß ich einsehe (intelligo), was immer ich einsehe, und ich weiß, daß ich will (volo), was immer ich will; was ich aber weiß, das erinnere ich. Also erinnere ich mich meiner ganzen Einsicht und meines ganzen Willens.« (125) Das ist das Ternar aus Er97 Kreuzer, Trinitate XI, dort auch die Nachweise aus dem Text von De trinitate. Die neuplatonischen Wurzeln und einige Fernwirkungen des Gedankens in der frühen Renaissance zeigt W. Beierwaltes, Platonismus im Christentum, Frankfurt/M. 22001, 172ff.
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innerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas). In ihr erscheint in der Welt, wie Gott in sich ist. Und weil das in-sich-Sein Gottes Liebe ist, ist der Denkakt dessen nächste geschöpfliche Realisationsform. Mit diesen – hier nur sehr knapp benannten – Bestimmungen liegt das Material können die beiden oben angekündigten Aspekte beschrieben werden: 1. Liebe heißt für Augustinus, dass die Liebe, die Gott wesenhaft ist, im geschöpflichen Abbild Wirklichkeit wird. Darin kommen nicht Gleich und Gleich zusammen – das ist für den christlichen Theologen, der die schöpfungstheologische Fundamentaldifferenz zwischen Gott und Geschöpf mitdenkt, undenkbar – wohl aber das geschöpflich der Ewigkeit Gottes Nächststehende. 2. Dies nun geschieht als mentaler Vorgang im Inneren einer Person: Die Analogie zu Gott ist im nichtsinnlichen Vorgang in einer Person auffindbar. Die Idee, Liebe sei ein Tatbestand in einem Menschen, ist hier frei von romantischen Elementen späterer Konzeptualisierung, ihre Lokalisierung im Inneren der Person ist jedoch in aller wünschenswerter Deutlichkeit angelegt. So weit die kurzen Bemerkungen zur Rezeption und christlichen Umdeutung der Liebesphilosophie Platons bei Aurelius Augustinus: Gott ist der Inbegriff der Liebe. Sein nächstes menschliches Analogat, so ist in De Trinitate zu lernen, ist rein mental und im Innern des Menschen aufzufinden. Macht der sich auf, manifest die Nähe Gottes zu suchen, so wird ihn, wie aus den Confessiones berichtet, der Weg über alle leiblichen und irdischen Bindungen hinausführen. Das ist die – mindestens für die Theologie des lateinischen Westens – dominierende Lesart dessen, was unter Liebe soll verstanden werden können. Im nächsten Abschnitt will ich an einer Grundüberzeugung festhalten, nämlich der, dass Gott die Liebe ist. Auch der platonisch-augustinische Gedanke, Liebe sei wesentlich Streben und Begehren, erscheint mir richtig. Freilich ist die hier vorgestellte Traditionslinie an entscheidenden Punkten nachgerade dramatisch einseitig, so dass die Argumente, die jetzt vorgestellt und beworben werden sollen, durchaus Züge einer Gegengeschichte haben.
Eine theologische Gegengeschichte I: Grundgedanke Es geht nicht darum, den platonisch-augustinischen Zugang toto coelo für unmöglich zu erklären: Solche mit dem Gestus der subversiven Verdachtshermeneutik vorgetragenen Kritiken geben sich gern nietzscheanisch, entkommen aber dem Umstand, dass auch sie in einer vom Kritisierten geprägten Welt leben, nicht
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wirklich.98 Deswegen ist mit dem kurzen Hinweis darauf zu beginnen, wo es geradezu richtig und wünschenswert ist, in der platonisch-augustinischen Welt zu leben. Das bezieht sich auf zwei Hauptpunkte. Einmal ist Platons phänomenologische Bestimmung von Liebe als Begehren gewiss richtig: Wer liebt, ist hingerissen und diesem seinem Hingerissen-Sein schlicht und ergreifend ausgeliefert. Platon macht das in vielen Beschreibungen, weit über das Symposion hinaus, deutlich. Es gehört dabei gewiss zu den Stärken dieser reichen Phänomenologie, dass eros nicht auf das leibliche Begehren beschränkt ist, sondern Hingerissensein durch andere Objekte und Zustände genauso mit einrechnet. Solchen eros zurückzuweisen käme einer reichlich schlichten Leibbetonung gleich, die überdies nur spiegelte, dem cartesischen Leib-Seele-Dualismus gründlich aufgesessen zu sein. So weit also, so unbestreitbar richtig in Platons Phänomenologie. Vergleichbares gilt in einem ganz anderen Sachbereich für zentrale Elemente von Augustinus’ Trinitätslehre. Es gibt vieles, was an ihr zu Recht ausgesetzt wird, die psychologische Verengung, wie sie oben beschrieben wurde, allem voran. Ein Grundzug freilich ist bleibend wichtig gebleiben: Die Gottheit Gottes ist nicht ein Substrat oder eine Substanz, die sich erst sekundär trinitarisch entfaltet. Vielmehr ist Gott Gott präzise als dreieiniger. Es gibt kein Wesen Gottes, das den Relationen der trinitarischen Personen zueinander noch zu Grunde läge, vielmehr ist Gott Gott, weil er in sich lebendige Beziehung ist. Augustinus’ Betonung und begriffliche Durchdringung dieses Umstands ist hoch zu schätzen, zumal in einem theologischen Klima, wie es sich in der westlichen Theologie entwicklelt hat, die viel eher bereit ist, die Einheit einer Gottsubstanz zu betonen als die reale Beziehungshaftigkeit Gottes in die Mitte einer christlichen Gotteslehre zu rücken. Mit seiner Betotung des Primats der Relation in der Trinitätslehre sichert Augustinus zudem die vollumfängliche Interpretation des Satzes, dass Gott Liebe sei: Liebe ist keine seiner nachgelagerten Eigenschaften, vielmehr das Ereignis seines Wesens. Diese knappen Bemerkungen zur Trinitätslehre mögen hier erratisch erscheinen oder als theologische Begriffs-Huberei, deren Sinn außerhalb entsprechender Oberseminare nicht einzusehen ist. Für den Theologen sind sie wichtig, weil auch im Folgenden das Primat der Relation behauptet werden soll, sowohl für die Rede von Gott als auch für die zwischen Gott und Mensch und unter Menschen. Das verbindet die hier kurz zu benennenden Einsichten mit 98 Zu studieren ist das z. B. an Michel Foucaults Spätwerk Sexualität und Wahrheit. Während Band 1 kaum weniger als ein Meisterstück von Foucaults Analyse einer Ordnung der Diskurse darstellen dürfte, gleiten die beiden Folgebände nachgerade erstaunlich ins Deskriptive ab, vgl. M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Band 1: Der Wille zum Wissen, Band 2: Der Gebrauch der Lüste, Band 3: Die Sorge um sich, Frankfurt/M. Neudruck 2002, 72002 und 6 2000.
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dem problematischen Vater der westlichen Theologie, von dem sie, wie gleich deutlich werden sollte, vieles trennt. Grundgedanke dessen was hier neu und anders zu sagen ist, ist dies: Nach Platon und Augustinus sucht in der Liebe Gleiches das Gleiche oder doch zumindest das in aller fundamentalen Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf signifikant Ähnliche. An diesem Argument hängt die, wenn man so will, ExodusFörmigkeit des platonisch-augustinischen Liebesbegriffs: Die Liebe zu (dem) Gott ist Werk desjenigen im Menschen, was ihn mit seiner leibhaften, irdischen Existenz gerade nicht verbindet: Gott und Seele gehen zusammen und das stellt alles Weitere ins zweite und dritte Glied. Ich möchte wahrscheinlich machen, dass, wenn es theologisch um Gott und Liebe geht, das strikte Gegenteil richtig ist: Das Wesen der Liebe besteht nicht darin, dass Gleiche bzw. Ähnliche einander anziehen, das Wesen der Liebe besteht in der Hinneigung zum Anderen. Diesem Aspekt (2) der eingangs genannten These gilt im Folgenden die Hauptaufmerksamkeit. Dass, entfaltet man ihn richtig, auch Aspekt (1), also die Rede vom Ereignischarakter der Liebe sinnvoll ist, dürfte über den Weg der Implikation deutlich werden. Die platonisch-augustinische Traditionslinie übersieht dieses Wesensmerkmal der Alterität beinahe völlig. Sublimiert ist es in ihr noch vorhanden, etwa in der Scheu, sich dem zu stellen, dass Seele und Ewiges miteinander in Kommunikation geraten, wie es etwa die Logik des Aufstiegs in Platons Höhlengleichnis deutlich macht. Augustinus macht deutlich, dass die Betrachtung des Bereichs in dem Gott auf ewig Israel weidet, eine flüchtig-kostbare ist. Aber für beide gilt doch: Scheu und flüchtig mögen sie sein, aber die Seele ist in beiden Vorstellungswelten dann und genau dann zu Hause, wenn sie fern von ihrer irdischen Verhaftetheit am leiblosen Ziel ist. Genau dem ist zu widersprechen, phänomenologisch wie im dazugehörigen theologischen ›heißen Kern‹. Und schon für den betrachtenden Zugang zu einer liebenden Zweierbeziehung gilt doch wohl: Was Liebe so sprichwörtlich aufregend macht, ist, dass es um die Überschreitung der Ich-Grenze hin zum Anderen geht: Das Aufeinander-zu und, gelingt es, Ineinander zweier verschiedener Identitäten ist das schlechterdings Aufregende. Das gilt für alle Ebenen einer Beziehung, beileibe nicht nur für körperliche Berührung und sexuelle Vereinigung: Zwei Identitäten kommen zusammen – und es sind verschiedene Identitäten, verschiedene Geschichten, verschiedene bewohnte Welten. Sie lernen einander kennen, beginnen zu interagieren und – ist die Beziehung von Dauer – entwickeln Gemeinsames. Fände sich hier aber Gleiches und Gleiches, dann wäre eine der Identitäten untergegangen und die Beziehung mit ihr, weil die eine Seite dann zum zentrumslosen Appendix der anderen verkümmert wäre. Gesucht sind demnach Denkmodelle, die das Wesen der Liebe als Zueinanderkommen von Ungleichen zu verstehen lehren.
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A fortiori gilt das für explizit theologische Erwägungen: Die Begegnung von Gott und Welt ist nicht vorrangig eine, die das Gott inmitten aller Unähnlichkeit Ähnliche sucht und zu sich erhebt. Sie ist genau im Gegenteil das Weltabenteuer Gottes dergestalt, dass es ihm gefällt, sich auf die Begegnung mit dem ihm gerade Entgegengesetzten, dem gerade Anderen einzulassen. Für seine Theologie des Aufstiegs zu Gott muss Augustinus an einer ganzen Reihe biblischtheologischer Erzählzusammenhänge schlicht vorbeilesen, die genau dies behaupten: Gott neigt sich zum ihm Fremden und Anderen herab, er erwählt das Unscheinbare und gerade nicht Göttliche, und er begibt sich selbst inmitten dieses ihm ganz Ungleichen. Das ist, nach einem Exkurs zur Subjektphilosophie und vermittels eines religionsphilosophischen Zwischenschritts kurz zu illustrieren.
Exkurs: Liebe als Hinneigung zum Anderen und die Konzeption des Subjekts Mit dem Ansatz, Liebe vom Phänomen der Alterität her zu begreifen, ist ein grundsätzlicher Dissenspunkt zum in den Abschnitten 1 und 2 Entwickelten verbunden. Augustinus’ Konzeption der Spur der Trinität im mentalen Akt des Individuums hat eine gewaltige Nachgeschichte in der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität. Spätestens seit René Descartes und John Locke ist das Subjekt Kern der philosophischen Bemühung. Die Frage danach, wie die Selbstbeziehung des Subjekts zu denken sei und was füglich Selbstbewusstsein ist, darf als philosophische Grundfrage der Neuzeit gelten. Sie ist, ganz gleich wie nah oder fern sich der jeweilige Denker dem Bischof von Hippo Regius wähnte und ob er Gebrauch von theologischen Argumenten machte, von dessen Konzeption mentaler Selbstbezüglichkeit geprägt. Ist sie für Augustinus noch Wirklichwerden der Selbstbezüglichkeit Gottes, so erscheint das schon bei Descartes nurmehr in eigentümlicher Brechung und im Grunde erst wieder in Hegels Selbstbewusstseinstheorie mit dem Gedanken, das menschliche Subjekt sei präzise die Abschattung von Gottes eigener Subjektivität. Gleichviel: was diese so unterschiedlichen Herangehensweisen ans Thema von Subjektivität und Selbstbewusstsein eint, ist, dass sie das Subjekt als Einheit in sich vorstellen. Personalität ist Sichselbstgleichheit, und in theoretischer wie praktischer Vernunft geht es wesentlich um die Selbstentsprechung dieser Sichselbstgleichheit: Das Verhalten zu sich ist eine reflexive Operation, bei der das Subjekt sich selbst zum Objekt wird. Liebe als Hinneigung zum Anderen begriffen kann im Rahmen dieses Subjektparadigmas nicht befriedigend bearbeitet werden. Es erstaunt nicht, dass die Theoretiker, die im Folgenden zu Wort kommen, deshalb dem Mainstream der philosophischen Neuzeit kritisch gegenüberstehen. Entsprechende Entwicklungen auf dem Gebiet der Theorie des Selbstbewusstseins gibt es, an dieser Stelle muss es ein Plakat tun. Man kann es unter Bezug auf eine wichtige Arbeit von Ernst Tugendhat malen: Im Gegensatz zu den neuzeitlichen Modellen, die Selbstbewusstsein im Wesentlichen als gelingenden Selbstbezug denken, geht es ihm um »die Konzeption eines praktischen Selbstverhält-
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nisses, das sich aus der Interaktion mit anderen konstituiert«.99 Die Konstitution des Subjekts geschieht nicht primär und auch nicht letztlich durch Selbstbezug, sie geschieht durch das Spiel der Interaktion mit Anderen und damit durch das Phänomen der Anerkennung. Mit ihm tritt ein Momentum auf, das es in den Selbstbezüglichkeitstheorien des Selbstbewusstseins nicht gibt. In Georg Wilhelm Friedrich Hegels Rechts- und Sozialphilosophie spielt es eine bedeutende Rolle. Allerdings zeigt Tugendhat, dass Hegel den Anerkennungsgedanken bedenklich einseitig auslegt: Wohl konstituieren Individuen einander wechselseitig durch Anerkennung, allerdings ist der gesellschaftliche Aggregatzustand dieser Anerkennung zu beachten. Er besteht darin, dass Einzelne das verbindlich anerkennen, was in der gegebenen Gesellschaft gilt. Das Momentum persönlicher Freiheit und Interaktion verschwindet. Hegels Betonung der Objektivität des Gesollten nimmt der an sich völlig richtigen Betonung des Gedankens wechselseitiger Anerkennung die Spitze und erstickt den mit ihr verbundenen Freiheitsgedanken: »Die Möglichkeit eines selbstverantworteten, kritischen Verhältnisses, zum Gemeinwesen, zum Staat wird von Hegel nicht zugelassen, vielmehr hören wir: die bestehenden Gesetze haben eine absolute Autorität; was vom Individuum zu tun ist, steht in einem Gemeinwesen fest; […] das ist es, was Hegel mit der Aufhebung der Moralität in die Sittlichkeit meint.«100 Freiheit ist dann, wie Tugendhat unter Bezug auf §§ 484 und 514 von Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ausführt, »die von der Macht des Bestehenden ausgehenden Pflichten« zu erfüllen.101 Dieser Gedanke – der seinerseits auf der Idee, Wahrheit sei als Einheit von Subjekt und Realität zu verstehen, fußt – verspielt den Gewinn des Ansatzes bei der Anerkennung. Diese erforderte ein offenes System, Hegel bietet, dem ersten Augenschein entgegen, ein geschlossenes.102 Wesentlich auf Tugendhats Einsichten nimmt der entsprechende Abschnitt aus Charles Taylors großer ideengeschichtlicher Nachzeichnung der Neuzeit Bezug.103 Einer der großen Erkundungsgänge steht unter dem Stichwort ›Innerlichkeit‹ und beschreibt, wie in der Neuzeit das Bild eine isolierten Individuums in den Mittelpunkt rückt, dessen wesentliche Vollzüge in seinem Inneren stattfinden. Explizit ist der Anschluss an Augustinus: »Augustin ruft uns stets in Innere. Was wir brauchen, liegt ›intus‹, wie er uns immer wieder mitteilt.«104 Und weiter: »Augustins Hinwendung zum Selbst war eine 99 E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt/M. 1979, 41. 100 Tugendhat, Selbstbewußtsein 349. 101 Ebd. Bezug auf G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke 10, Frankfurt/M. 1986, 303 und – deutlicher noch – 318: »Die frei sich wissende Substanz, in welcher das absolute Sollen ebensosehr Sein ist, hat als Geist eines Volkes Wirklichkeit. […] Die Person aber weiß sich als denkende Intelligenz jener Substanz als ihr eigenes Wesen, hört in dieser Gesinnung auf, Akzidens derselben zu sein, schaut sie als ihren absoluten Endzweck in der Wirklichkeit […]; so vollbringt sie ohne die wählende Reflexion ihre Pflicht als das Ihrige und als Seiendes und hat in dieser Notwendigkeit sich selbst und ihre wirkliche Freiheit.« 102 Tugendhat, Selbstbewußtsein 350.355. 103 C. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitliche Identität, Frankfurt/M. 1996, Bezug auf Tugendhats genanntes Werk 68.140.871. 104 Taylor, Selbst 238.
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Hinwendung zur radikalen Reflexivität, und eben dadurch wirkte die Sprache der Innerlichkeit unwiderstehlich. Das innere Licht ist dasjenige, welches scheint, wenn wir uns selbst gegenwärtig sind; es ist dasjenige, welches untrennbar damit verbunden ist, daß wir Geschöpfe mit einem Standpunkt der ersten Person sind.«105 Diese Innerlichkeit, die zugleich die Loslösung des Individuums aus seinen sozialen Bezügen mit sich bringt, sieht Taylor in den großen Individualitätstheorien der Neuzeit wieder am Werk. Bei Descartes zeigt sich eine zurückgezogene, desengagierte Vernunft, John Locke – wohl der Höhepunkt der Entwicklung – und seine gegenwärtigen Leser denken das Selbst im Grunde nur noch punktförmig.106 Dem hält Taylor entgegen: »Ein Selbst ist man nur unter anderen Selbsten. Es ist nie möglich, ein Selbst zu beschreiben, ohne auf diejenigen Bezug zu nehmen, die seine Umwelt bilden.«107 Um das durchzuführen, visiert Taylor, wie Tugendhat, eine gegnerische Leitunterscheidung an: Es ist nicht so, dass die Identität des Selbst ein zu erkennender Gegenstand wäre, der dann entsprechend desengagiert oder punktförmig erscheint. Vielmehr steht ›Selbst‹ oder ›Identität‹ sinnvollerweise für dasjenige, was das Leben eines Einzelnen belangvoll macht und also nach Richtigkeit und Wichtigkeit sortiert. Dann aber gilt: »Solche Personen sind keine neutralen, punktförmigen Gegenstände; sie existieren nur in einem bestimmten Raum voller Fragen und durch bestimmte konstitutive Belange. Diese Fragen und Belange berühren das Wesen des Guten, an dem ich mich orientiere, und die Art meines Verhältnisses zu diesem Guten. Doch dann wird, was als Einheit zählt, durch die Reichweite der jeweiligen Belange definiert und durch den genauen Gehalt dessen, was in Frage steht. Und das, was in Frage steht, ist im Allgemeinen und kennzeichnenderweise die Gestaltung meines Lebens als Ganzen. Das Leben läßt sich nicht willkürlich bestimmen.«108 Das Selbst, so Taylor, befindet sich immer schon in einem moralischen Raum und die Frage nach der Identität ist falsch gestellt, wenn sie nach einem Was des Objektbezugs fragt. Vielmehr handelt es sich um eine Lokalisierungsfrage: »Wissen, wer ich bin, ist eine Unterart des Wissens, wo ich mich befinde. Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont angeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden sollte bzw. was ich billige oder ablehne. Mit anderen Worten, dies ist der Horizont, vor dem ich Stellung zu beziehen vermag.«109 Im letzten Zitat wird bereits deutlich, dass Taylors Lösungsansatz in kommunitaristische Richtung zielt und ja in der Tat als eine Leit-Ausarbeitung des Kommunitarismus gilt.110 Ob und wenn ja wie weit man in diese Richtung zu gehen hat, wenn der Grundgedanke einleuchtet, dass die Frage nach der Identität eine Lokalisierungsfrage ist, ist hier nicht zu entscheiden. Wohl aber können Tugendhat und Taylor beispielhaft 105 106 107 108 109 110
Taylor, Selbst 243. Taylor, Selbst 262ff und 288ff. Bündig: 318. Taylor, Selbst 69. Taylor, Selbst 99f. Taylor, Selbst 55. Vgl. J.-P. Wils, Die hermeneutische Signatur der kommunitaristischen Liberalismuskritik, in: Kommunitarismus und Religion, hg. von M. Kühnlein, Berlin 2010, 16–37. Neuere Entwicklungen in Taylors Werk werden in den Beiträgen zu diesem Sammelband von H. Joas (231ff) und Th. Rentsch (243ff) kommentiert.
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dafür stehen, wie mit dem Selbstbewusstseinsthema zu verfahren ist, wenn die Schwierigkeiten mit dem Innerlichkeits- und Objektivierungsparadigma manifest werden.
Der religionsphilosophische Zwischenschritt, der jetzt folgt, hat die Aufgabe, den Gebrauch theologischer Prämissen anzuplausibilisieren. Aus Gründen, die hier nicht zureichend entfaltet werden können, sind gelingende theologische Argumentationen nicht von ihrer erfolgreichen Absicherung in nicht-theologischen Diskursen abhängig.111 Freilich zeigen sie eine gewisse Sperrigkeit, da ihre Wirklichkeitsunterstellungen eingestandenermaßen von eigener Art sind, da sie sich auf Quellen berufen, die nicht alle Diskursteilnehmer als gültig erachten werden und weil sie zugleich behaupten, Wirklichkeitsunterstellungen zu unterbreiten, die aber alle Menschen angehen. In dieser Lage, in der sich eine selbstbewusst betriebene Theologie immer befindet, mag eine hinführende Zwischenüberlegung angemessen sein. Sie wird erzählt unter Bezug auf den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Sein epochemachendes Werk ›Ich und Du‹ ist ein Musterbeispiel religionsphilosophischer Argumentation. Es beginnt eine dichte Schilderung unter Prämissen, für die allgemeine Einsehbarkeit durchaus erwartet werden kann. Das Abschreiten der Schilderung führt Buber dann an die Grenze theologischen Sprechens. Wissend, dass man nun einen anderen Bereich beträte, blickt er gleichsam hinüber, ohne aber den Blickwechsel tatsächlich zu vollziehen, an dem ihm doch, ausweislich zahlreicher anderer Werke, ganz maßgeblich gelegen ist. Das ist weder ängstlich noch inkonsequent, es wahrt vielmehr beiderseits die Eigenständigkeit des Denkens. In ›Ich und Du‹ legt Buber eine kleine aber dichte Philosophie der menschlichen Beziehung vor, die wesentlich vom Gedanken der Alterität geprägt ist und der zugleich an die Grenze des Sprechens von der alteritätsgeprägten Beziehung von Mensch und Gott führt. Der Grundgedanke ist, dass es zwei mögliche menschliche Grundverhaltensweisen, oder wie Buber selbst sagt, Grundworte gibt: Die Beziehung Ich-Es und die Beziehung Ich-Du. Das Grundwort Ich-Es bezeichnet Verhaltensweisen, in denen ein souveränes Subjekt in Beziehungen zu Sachen eintritt. Es erkennt und es gebraucht diese Sachen. Sache in diesem Sinn kann auch ein anderer Mensch sein, sofern er eben Objekt der Erkenntnis ist oder aber als Mittel zu einem Zweck eingesetzt wird. Solche Ich-Es-Beziehungen müssen nicht per se schlecht sein und leicht lässt sich der Nachweis führen, dass 111 Vgl. zu diesem Punkt Hailer, Glauben und Wissen, 233–248; ders., Materialien zum Selbstverständnis der evangelischen Theologie als universitärer Wissenschaft, Bayreuther Beiträge zur Religionsforschung Heft 10, 2005; 44 S. Online veröffentlicht und frei zugänglich unter www.bbrf.de; ders., Theologische Apologetik und die altkirchlichen Apologeten. Bemerkungen zu (k)einem Gespräch, in: Ad veram religionem reformare. Frühchristliche Apologetik zwischen Anspruch und Wirklichkeit, hg. von C. Schubert und A. von Stockhausen, Erlangen 2006, 1–28.
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kein Mensch ohne sie zu leben vermag: Schon der Erwerb einer Tageszeitung ist ohne die Etablierung einer Ich-Es-Beziehung zum Verkäufer am Kiosk schlicht nicht möglich. Und doch lässt Buber keinen Zweifel daran, dass eine Welt, in der es nur solche Beziehungen gäbe, eine kalte und schreckliche Welt wäre. Ihr fehlte der Charakter der Begegnung, ihr fehlte das Antlitz des Anderen und ihr fehlte der unnennbare Zauber, der aus echter Begegnung entspringt. Mit einer Formulierung, die wohl nicht zufällig an Immanuel Kants Konzeption des Naturmechanismus’ erinnert, schreibt Buber: »In der Eswelt waltet uneingeschränkt die Ursächlichkeit.«112 Sie ist wohlgeordnet und berechenbar, aber sie ist gänzlich frei von Überraschung, von Freiheit und eben damit von Begegnung. In der Beziehung Ich-Es gibt es nur isolierte Subjekte, »Eigenwesen«, wie Buber sagt.113 Es gibt Freude in dieser Welt, aber es ist eine kalte Freude, die »Wollust des Erraffens und Schatzhütens«.114 Dem steht das zweite Grundwort gegenüber, das Ich-Du heißt. Auch es kann nicht alleine bestehen, aber es führt das in der Eswelt isolierte Subjekt buchstäblich in eine neue Welt: »Die Eswelt hat Zusammenhang im Raum und in der Zeit. Die Duwelt hat in Raum und Zeit keinen Zusammenhang. Das einzelne Du muß, nach Ablauf des Beziehungsvorgangs, zu einem Es werden. Das einzelne Es kann, durch Eintritt in den Beziehungsvorgang, zu einem Du werden. […] Die Du-Momente erscheinen in dieser festen und zuträglichen Chronik als wunderliche lyrisch-dramatische Episoden, von einem verführenden Zauber wohl, aber gefährlich ins Äußerste reißend, den erprobten Zusammenhang lockernd, mehr Frage als Zufriedenheit hinterlassend, die Sicherheit erschütternd, eben unheimlich, und eben unentbehrlich.«115
Echte Begegnung hat Durchbrechungscharakter. Wer nur in der Eswelt lebte, würde sich ihr immer mehr und mehr anähneln und zu einem isolierten Subjekt unter Dingen und Dingbezügen werden. Dagegen gilt: »Der Mensch wird am Du zum Ich.«116 Die Alterität des Beziehungsereignisses ist also nachgerade Bedingung dafür, dass Menschen zu Menschen werden und menschlich bleiben. So weit der Grundgedanke von ›Ich und Du‹. Buber gibt dem Ganzen eine prototheologische Pointe. Sie hat wesentlich damit zu tun, dass er die Du-Momente, wie aus dem längeren Zitat ersichtlich, wesentlich als Ereignisse und Widerfahrnisse deutet. Die Eswelt ist genauso erwartbar wie alltäglich. Die Duwelt ist dagegen riskant und unplanbar, sie ereignet sich und entzieht sich zu112 M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 51984, 53 (der Band enthält neben Ich und Du noch weitere Werke zum Thema). 113 Buber, Prinzip 65. Die Parallele zu dem, was Charles Taylor ›das punktförmige Subjekt‹ nennt (s. o. Anm. 21), ist nur zu augenfällig. 114 Buber, Prinzip 107f. 115 Buber, Prinzip 37. 116 Buber, Prinzip 32.
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gleich dem Versuch, sie anzuleiten und zu planen. Dies Momentum des nichtzuhanden-Seins und des Aufblitzens ist es, was zu Bubers prototheologischer Pointe führt. Einer der Schlüsselsätze heißt: » Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zum … ewigen Du.«117 Widerfährt das Geschenk der Begegnung, so öffnet dies ein Fenster des Verständnisses dafür, dass es eine Quelle solcher Begegnung gibt, ihrerseits nicht anders als Du-haft denkbar. Die Dus, die Menschen hoffentlich hin und wieder sind, können gar nicht anders als nach der Du-Begegnung wieder in die Ich-Es-Welt zu wechseln – und das ist, wie gesagt, auch nicht notwendig schlecht so. Was sich in der Du-Begegnung aber zeigt, ist die Ermöglichung von Du, die geschenkhaft ist und doch vorausgesetzt werden muss. Und von dieser Ermöglichung gilt, dass sie, im strikten Gegensatz zu allen Du-Ereignissen in der Erfahrungswelt, niemals Es wird: »Nur ein Du hört seinem Wesen nach nie auf, uns Du zu sein. […] Das ewige Du ist es seinem Wesen nach.«118 Hier sind wir an der Grenze theologischen Sprechens angekommen. Buber überschreitet sie nicht, etwa hin zu einem jüdischen Erzählbündel oder einer christlichen Gotteslehre, obwohl Begriffe aus der metaphysischen Tradition, wie eben zu sehen, durchaus eine Rolle spielen. Spuren werden gleichwohl gelegt, so spielt etwa der Terminus ›Offenbarung‹ eine Rolle. Anhand seiner wird hinreichend deutlich, wie die tastende Buber’sche Gottesrede gänzlich im Rahmen der Alteritätslogik gedacht ist: »Die Gottesbegegnung widerfährt dem Menschen nicht, auf daß er sich mit Gott befasse, sondern daß er den Sinn an der Welt bewähre. Alle Offenbarung ist Berufung und Sendung.«119 Nicht sucht Gleiches das Gleiche sondern Begegnung ruft in weitere Ereignisse der Beziehung von Ich und Du. – Was unter explizit christlich-theologischen Prämissen unter dem Ereignis Liebe zu verstehen ist und wie man dabei dem ungeheuren Satz, Gott sei die Liebe, näher kommen kann, ist mit diesen Bemerkungen vorabgebildet.
Eine theologische Gegengeschichte II: Biblische und trinitätstheologische Schlaglichter Zunächst zu den biblisch-theologischen Erzählzusammenhängen, die Augustinus für seine Liebestheologie, in der Gleiches Gleiches sucht, auslassen oder doch eigenwillig interpretieren muss.120 Es beginnt damit, dass, obschon Augustinus 117 118 119 120
Buber, Prinzip 72. Buber, Prinzip 100f. Buber, Prinzip 117. Hermeneutisch setze ich dabei voraus, dass der Rückgriff auf einzelne Bibelstellen immer riskant ist, weil er zu Fehlabstraktionen verleitet. Ganze Erzählzusammenhänge oder, wie man auch sagen könnte, Erzählungsbündel zeigen viel eher Stetigkeiten und ermöglichen
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sich vom manichäischen Dualismus begründet absetzt, seine Theologie der Schöpfung Gottes Würdigung des Anderen seiner selbst nicht zureichend in den Blick bekommt. Sieht man sich den ersten Schöpfungsbericht als Bündelung alttestamentlicher Zeugnisse zum Thema Geschöpflichkeit an, so ergeben sich unübersehbar deutliche Betonungen des Alteritätsthemas.121 Drei markante Aspekte machen das deutlich: 1. Die Erzählung pointiert die Nichtweltlichkeit Gottes und die Nichtgöttlichkeit der Welt. Zugleich macht sie wiederholt deutlich, dass Gott das für gut erklärt, was eben nicht göttlich ist. Deutlich wird dieser Zug z. B. in Gen 1, 14–17 wo davon die Rede ist, dass Gott »Lampen« macht, die er an den Sphären des Himmels aufhängt. Im Kontext einer polytheistischen Umwelt, für die die Gestirne Gottheiten waren und auf die Göttlichkeit der Grundkräfte des Kosmos hinweisen, ist das eine deftige Polemik: Die Welt ist nur Welt, ganz ungöttlich, und selbst die erhabenen Größen in ihr sind nichts als Geschöpfe. Das nun schießt zusammen mit dem Kommentar, der am Ende jedes Schöpfungstages feststellt: »Sieh’ – gut!«122 Gottes Wohlgefallen dient also präzise dem, was nicht göttlich ist. Dieses wird bejaht, gelobt und als lebenszuträglich gepriesen, nicht jedoch etwas in der Schöpfung, was Gott besonders ähnlich wäre. 2. Bei der Erschaffung des Menschen (Gen 1,26–30) wird eine Sonderrolle im Gegenüber zu anderen Geschöpfen betont. Gott geht mit sich zu Rate und beschließt die Schöpfung zu seiner Ähnlichkeit und als sein Ebenbild. Auch das Wiedererkennen, das es möglich macht, im Anschluss an die Bibellektüre theologische Lehren zu formulieren, obwohl die Bibel selbst keine Lehre enthält. Theologische Lehre ist sortierende und erklärende Antwort auf das, was im Zuge von Ableitungen und Summierungen sich als Stetigkeit und/oder Erwartbarkeit zeigt. Der Rückgriff auf einzelne Schriftstellen hat demgegenüber die Funktion der Verdeutlichung und Präzisierung, nie aber den der Begründung. Ausführlicher ist diese hermeneutische Grundentscheidung erläutert in Ritschl und Hailer, Grundkurs 28ff., für eine Durchführung vgl. M. Hailer, Gott und die Götzen. Über Gottes Macht angesichts der lebensbestimmenden Mächte, Göttingen 2006, 267ff.396ff und vor allem W. Krötke, Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes »Eigenschaften«, Tübingen 2001. 121 Es handelt sich um Gen 1,1–2,4a, das sog. Siebentagewerk. Literarisch geht es direkt in die zweite Schöpfungserzählung Gen 2,4b–25 über, die nach weit verbreiteter Ansicht unter Alttestamentlern eine ältere Tradition repräsentiert. U. a. aus diesem Grund ist der erste Schöpfungsbericht als Summierung besonders geeignet. 122 Die geläufige Übersetzung »Siehe, es war sehr gut«, trägt eine Imperfektkonstruktion herein, die es so im antiken Hebräisch nicht gibt. Sie verleitet dadurch zu der Fehlinterpretation, als schaue Gott auf ein vergangenes Ereignis zurück und beurteile seine zeitlich zurückliegende Tat als (damals) gelungen. Die hier gebotene viel direktere Übersetzung macht klar, dass es um die Güte des geschöpflichen Zustands hier und jetzt geht. Alttestamentliche Schöpfungstheologie ist durchgängig nicht an Ursprungsspekulationen interessiert, sondern artikuliert das Erstaunen darüber, dass Mensch und Mitgeschöpf in einer geschenkhaft zukommenden und lebenszuträglichen Welt leben dürfen.
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hier ist genaues sprachliches Hinsehen erforderlich. Die hebräischen Vokabeln für das, was gewöhnlich als »Ähnlichkeit« und »Ebenbild« wiedergegeben wird, heißen ( ֶצֶלמzelem) und ( ְדּמוּתdemut). Sie markieren nicht eine Ähnlichkeitsbeziehung wie die zweier artverwandter Gegenstände, sondern vielmehr die einer Vertretung:123 Die Menschen sind nach Gen 1,26–30 Gottes Ansprechpartner und seine Sachwalter auf Erden. Der schöpfungstheologische Grundgedanke, dass Gott das für gut heiße, was ihm gerade unähnlich ist, wird so konkretisiert, dass er präzise dieses als sein Gegenüber würdigt und zur Sachwaltung einsetzt. Die dualistische Anmutung der platonisch-augustinischen Tradition hat hier keinerlei Anhalt. Im Gegenteil: Menschen sind gerade als leibhafte und als zweigeschlechtlich existierende Wesen zur Stellvertretung und Sachwaltung gerufen. 3. Der Schluss des ersten Schöpfungsberichts Gen 2,1–4a warten mit der für den sogenannten gesunden Menschenverstand überraschenden Erkenntnis auf, dass nicht etwa der Mensch, sondern der Sabbat, die Ruhe Gottes, die Krone der Schöpfung ist. Damit bekommt die biblische Schöpfungstheologie eine eschatologische Note: Schöpfung hat eine Zukunft, die nicht in ihr, sondern die in Gott ruht. Diese Zukunftsverheißung aber gilt der gesamten Schöpfung und nicht einem Geschöpf, geschweige denn dessen vermeintlich herausragendstem Ausstattungsmerkmal. In einem weiteren markanten alttestamentlichen Erzählbündel steht es nicht anders. Gemeint ist die Theologie der Bundesschlüsse.124 Das Alte Testament berichtet von einer Reihe von Bundesschlüssen zwischen Gott und Mensch: Gott 123 Die alttestamentliche Fachdiskussion hat wahrscheinlich gemacht, dass die beiden Begriffe aus der altorientalischen Vertretungslogik stammen: Das Standbild eines Herrschers vertritt dessen Macht und Präsenz, auch wenn er selbst nicht gegenwärtig ist, durchaus so, wie das Konterfei des deutschen Bundespräsidenten in Amtsstuben und diplomatischen Vertretungen die Präsenz der grundgesetzlichen Ordnung insinuiert. Vgl. B. Janowski, Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, 140– 174. Janowski übersetzt die hier genannten hebräischen Begriffe als »sein Bild/seine Statue« (143, i.O. herv.) und verdeutlicht so den genannten Zusammenhang. Als Überblick zur neueren alttestamentlichen Anthropologie vgl. Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie, hg. von B. Janowski und K. Liess, Freiburg u. a. 2009. 124 Im Gegensatz zur Rede von der Schöpfung ist hier schon eher von »Theologie« zu reden, da in übergreifenden Erzählkomplexen ein reiches Verweis- und Kommentierungsgeflecht in Bezug auf die Bundesschlüsse Gottes mit den Menschen vorhanden ist. Die Bundestheologie bildet eine Grenze zwischen Erzählungen und Kommentierung dieser Erzählungen und markiert somit einen der Übergangsbereiche zwischen Erzählbündel und expliziter Lehre. Zur Bundestheologie insgesamt vgl. die neueren Überblicke C. Dohmen, Der neue Bund im alten. Studien zur Bundestheologie der beiden Testamente, Freiburg u. a. 1993; W. J. Dumbrell, Covenant and Creation. A Theology of Old Testament Covenants, Carlisle 1997; C. Levin, Die Entstehung der Bundestheologie im Alten Testament, Göttingen 2004.
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bietet seine Partnerschaft und seinen Schutz an und ruft Menschen im Gegenzug dazu in den Stand der Erwählung: Herausgerufen aus der Menschheitsfamilie, zu besonderer Treue Gott gegenüber und zur Weitergabe dieser Treue an andere. So verhält es sich etwa mit dem Bund mit Noah nach dem Ende der Sintflut, (Gen 9,1–17) mit der Berufung Abrahams, (Gen 12,1–3; 15,17–21), an zentraler Stelle mit dem Bundesschluss zwischen Gott und dem aus Ägypten befreiten Volk (Ex 24,1–11) und schließlich mit der Verheißung eines neuen Bundes, den Gott in die Herzen der Menschen schreiben wird. (Jer 31,31–34) Auch im Rahmen der Bundestheologie ist deutlich, dass es ein Verhältnis zwischen Ungleichen ist: Die Idee, ein Vertrag regle Dinge zwischen Gleichen, wird durcheinandergebracht und ins Asymmetrische verschoben. Entsprechend ist die Bundestheologie zugleich eine Theologie des Scheiterns von Menschenseite her: Gerade die, die sich ihres Erwähltseins gewiss wähnen, werden darauf gestoßen, dass sie mitnichten über andere Menschen erhoben sind. Im Gegenteil: Erwähltsein kann von Menschen aus verspielt werden und führt dann dazu, den Segensraum Gottes zu verlassen und sehr konkret zu scheitern. Die dafür einprägsamste Erfahrung Israels ist der Verlust der Staatlichkeit des Südreichs Juda und die Katastrophe des babylonischen Exils im Jahr 587 v. Chr. Durchgängig wurde sie als Ergebnis der menschlichen Untreue im Bund gedeutet, am eindrücklichsten wohl vom Propheten Ezechiel, der in einer Vision schaut, wie die Herrlichkeit Gottes das satte und selbstzufriedene Volk verlässt und es also seiner Gegenwart beraubt. (Ez 11,22–25) Dass Gottes Bundestreue gleichwohl nicht aufhört, macht allzumal deutlich: Gemeinschaft hat er mit dem von ihm radikal Verschiedenen.125 Das Muster wiederholt sich im Neuen Testament durchaus. Verschiedene neutestamentliche Traditionszusammenhänge betonen einmütig, dass in Jesus Gott im ihm gegenüber seienden und nachgerade fremden Bereich auftritt. Wohl am eindrücklichsten ist die erzählerische Logik des Johannesevangeliums davon geprägt. Ein Auszug aus dem Prolog macht deutlich, wie Gott hier in sein Gegenteil geht und das dies zugleich eine konfliktgeladene Nachgeschichte hat: 1 Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und Gott (gottgleich) war der Logos. 2 Das war im Anfang bei Gott. 3 Alle Dinge sind durch ihn gemacht, und ohne ihn ist nichts gemacht, was gemacht ist. 4 In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. 5 Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht erfasst. […] 10 Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. 11 Er kam in das Seine; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. 12 Die ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an 125 Die Strukturgleichheit von Schöpfungs- und Bundestheologie an diesem Punkt hat immer wieder dazu geführt, die beiden Bereiche als eng verzahnt zu denken. Prominent ist hier die Formulierung von Karl Barth geworden: Die Schöpfung ist der äußere Grund des Bundes, der Bund der innere Grund der Schöpfung, K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Band III/1, Zürich 41970, 103ff.258ff.
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seinen Namen glauben, 13 die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind. 14 Und der Logos wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit (Treue).126
Das Fremdheits- und Alteritätsmotiv sollte deutlich genug sein, zumal in den Versen 5, 10 und 11. Ab Vers 12 wird die angesprochene Konfliktgeschichte thematisiert: Die Ankunft des Logos löst eine zwiespältige Nachgeschichte aus, abgekürzt gesagt in Glauben und Unglauben. Es ist, wie hier exemplarisch zu zeigen war und wie Karl Barth einprägsam formulierte »Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde«127, der in den neutestamentlichen Christologien beschrieben wird. Entsprechend aktualisieren die neutestamentlichen Zeugnisse den alttestamentlichen Alteritätsgedanken und interpretieren ihn im Licht des für sie grundstürzenden Ereignisses, dass in Jesus Christus Gott selbst unter den Menschen erschienen ist. Die trinitarische Lehrbildung der Kirche sucht diesen biblischen Bestimmungen Rechnung zu tragen. Für die hier anstehende Klärungsaufgabe kann das Grundanliegen der Trinitätslehre mit folgenden zwei Hauptpunkten beschrieben werden: (1) Die biblischen Bezeugungen von Gottes Werk und Gegenwart sind von der Art, dass sie inhaltlich vielfältig sind und an verschiedene Pole oder Aktzentren denken lassen; (2) die biblischen Bezeugungen von Gottes Werk und Gegenwart lassen den Schluss zu, dass Gott nicht etwas zeigt, sondern sich selbst. In der Reflexion auf diese beiden Grundtatbestände führte in einer Geschichte teils hoch komplizierter Auseinandersetzungen zur trinitarischen Begrifflichkeit, die Gott als Einen denkt, dessen Einheit aber nur in der Differenzierung und im Zusammenwirken der drei trinitarischen Personen zu denken ist.128 Das ist die Grundüberzeugung, die in die Bestimmungen der ökumenischen Konzilien von Nicaea (325) und Konstantinopel (381) eingeflossen ist, nach denen Gott eine οὐσία in drei ὑποστάσεις ist, ein göttliches Wesen, das aus drei Aktzentren/Personen konstituiert wird.129
126 Joh 1,1–14, Luther-Übersetzung 1984, leicht verändert, wesentliche Anregungen dafür von K. Wengst, Das Johannesevangelium Bd. I, ThKNT 4,1, Stuttgart 2000, 35. 127 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik IV/1, Zürich 1953, 171. 128 Die Literatur dazu ist Legion. Vgl. die glänzenden Überblicke bei A. M. Ritter, Dogma und Lehre in der Alten Kirche, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte Bd. 1, hg. von C. Andresen, Göttingen 1982, 99–283; C. Markschies, Alta Trinità Beata. Gesammelte Studien zur altchristlichen Trinitätstheologie, Tübingen 2000; B. Studer, Mysterium Caritatis. Studien zur Exegese und zur Trinitätslehre in der Alten Kirche, Rom 1999. 129 Eine philologisch nicht gedeckte aber sinngemäß richtige Hilfsvorstellung für ὑποστάσεις ist: ›Die Filiale einer Firma, die in dieser Filiale voll präsent ist, zugleich aber andere Filialen, jedoch keine den Filialen übergeordnete Konzernbasis hat‹.
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Die Väter dieser beiden Konzilien stellten Erwägungen an, wie die wechselseitige Konstitution der trinitarischen Personen zu denken sei und kamen zu Vorstellungen, die später mit dem Begriff der περιχώρησις gefasst wurden. Dies Substantiv wird vom Verbum περιχωρεῖν, etwa: »ineinanderfließen« gebildet und kürzt folgende Anschauung ab: Menschen, die in einer ernsthaften Beziehung zueinander stehen, konstituieren einander wechselseitig. Das wird schon daran sichtbar, dass jemand, der in einer solchen Beziehung lebt, seine eigene Geschichte nicht ohne Bezug auf die jeweils andere Person erzählen kann: Die eigene Identität wird mitgetragen, mitbestimmt, mitausgerichtet von der der jeweils anderen Person – und umgekehrt. Das gilt auch für Beziehungen über die Generationsgrenze hinweg: In einem gewissen Sinn kann man sagen, dass die Eltern eines Kindes dies Kind durch Zeugung, Schwangerschaft und Geburt konstituieren. Aber ganz genauso richtig ist es, dass das (werdende und geborene) Kind seine Eltern zu Eltern konstituiert. Auch hier gilt also, dass Beziehung gleich wechselseitiger Konstitution von Identität ist. Diesen Aspekt meint der Begriff περιχώρησις und stellt so klar: Gott ist von Ewigkeit her ein lebendiges wechselseitiges Konstitutionsgeschehen von Vater, Sohn und Geist. Seine ›Außenwirkungen‹, also Schöpfung, Erhaltung, Sendung des Sohnes, Gegenwart im Heiligen Geist, geben das nach außen, was er in sich ist. Das lebendige, liebende Beziehungsgeflecht Gott bleibt nicht in sich, sondern gewährt der Schöpfung Raum, wendet sich auch von den Menschen nicht ab, als diese ihrerseits sich von Gott abwenden und ist in Sohn und Geist selbst unter ihnen präsent. Das primäre Bildmaterial mancher Konzilsväter und anderer Theologen aus dem griechischen und syrischen Raum ist dabei das des Beziehungsgeflechts von Personen untereinander, näherhin der Familie.130 Für unseren Zusammenhang ist nun entscheidend, dass Augustinus’ oben berichtete Idee, die nächste Analogie zur Trinität im Selbstvollzug des menschlichen Geistes zu sehen, diese Bildlichkeit entschieden ablehnt.131 Damit freilich schränkt er gleich zwei wichtige Momente entscheidend ein: Das Alteritätsmoment in der Liebe, da er sie auf ein Ereignis in einer Person verlegt, und, direkt damit verbunden, das Ereig130 Bekannt wurde die entsprechende Ausführung des Gregor von Nazianz († 390) in seiner V. theologischen Rede, der letzten in einer Reihe von Ansprachen, in denen er 379, also zwei Jahre vor dem Konzil von Konstantinopel das Ergebnis der Synode von Nicaea 325 erläuterte (Or. theol. V,11, z. B. nach der Ausgabe: The Five Theological Orations, hg. von A. J. Mason, Cambridge 1899, 158f). Dies Motiv wird gegenwärtig für die Lehre von der Kirche wieder diskutiert, vgl. M. Volf, Trinität und Gemeinschaft. Eine ökumenische Ekklesiologie, Mainz 1996; J. D. Zizioulas, Being as Communion. Studies in Personhood and the Church, Crestwood 21993. Kritisch äußert sich U.H.J. Körtner, Versöhnte Verschiedenheit. Ökumenische Theologie im Zeichen des Kreuzes, Bielefeld 1996, 77f.111f. 131 Augustinus, De trinitate, Buch XII, 5–6 (in der in Anm. 11 genannten Ausgabe nicht enthalten, zugänglich z. B. über die online-Ausgabe der Bibliothek der Kirchenväter, vgl. http://www.unifr.ch/bkv/bucha205.htm).
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nismoment in der Liebe, weil die primäre Bildlichkeit nun nicht mehr transportiert, dass Liebe etwas sei, was sich mit und zwischen Personen ereigne.132 Für beides aber ist, wie hier kurz aufzuweisen war, die biblisch-theologische Grundlegung allemal gut und die trinitätstheologische Begrifflichkeit passend entworfen.
Fazit: Liebe als Hinneigung zum Anderen und als Ereignis Liebe, so die hier vertretene These, ist ein Phänomen zwischen Personen und zugleich wesentlich als Hingezogensein zum Anderen zu begreifen. Den größten Raum in den vorstehenden Erwägungen nahm das Alteritätsmotiv (2) ein, also die Intuition, Liebe sei wesentlich als Hinneigung zum Anderen zu begreifen. Das eingangs genannte Motiv (1) ist mehr oder weniger direkt mit ihm verbunden und hat es zur sachlichen Voraussetzung: Weil und sofern Liebe das Hingezogensein zu etwas oder jemand ist, das, der oder die ungleich und andersartig mit dem Liebenden ist, wird deutlich, dass es eine Reduktion wäre, sie als Phänomen ›in‹ einem Bewusstsein zu verstehen. Sie verbindet wesentlich und sie ist deswegen das Ereignis, das mit den Liebenden geschieht. Der umgangssprachliche Satz eines frisch Verliebten, der sagen mag: »Es hat mich erwischt!« erweist sich so gerade in seiner passivischen Konstruktion als höchst sachhaltig. Miroslav Volf hat dies in eine prägnante Formulierung gefasst: »At its core, love is not a feeling at all, but an action, a way of being, in active care for others – for the integrity of their bodies and souls, as well as for their flourishing.«133 Ich ginge allenfalls an dem Punkt weiter, dass Liebe nicht, wie das Zitat es nahezulegen scheint, die Existenzform von Individuen ist, sondern ein Ereignis, das sich mit ihnen und durch sie abspielt. In der Theologie wird, wie dargelegt, behauptet, dies sei so, weil letztlich Gott das Ereignis der Liebe ist. Wer das behauptet, setzt mit, dass jedes Ereignis der Liebe auf der Welt seinen Grund in Gott hat, der die Liebe ist. Dieser Gedanke ist mitunter streng gefasst worden, so als sei nur diejenige Liebe, die sich vor Gott bekennt und zur Treue verpflichtet, Liebe im Vollsinn und damit sakramentale Weitergabe des Ereignisses von Gott = Liebe. Dies ist die Überlegung hinter dem 132 Augustinus’ immanente Trinitätslehre ist freilich um einiges komplexer als es sein Vorschlag für deren Widerspiegelung in der geschöpflichen Realität nahelegt. Ihr tendenzielles Problem besteht in einer Unterordnung des Heiligen Geistes, der nach Augustinus der Vorgang der Liebe zwischen den Personen des Vaters und des Sohnes ist und deswegen nicht im selben Umfang als Person gedacht wird wie die beiden anderen Personen der Trinität, vgl. De trinitate V 11.12, Nachweis wie Anm. 47. 133 M. Volf, Against the Tide. Love in a Time of Petty Dreams and Persisting Enmities, Grand Rapids MI/Cambridge 2010, XI.
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sakramentalen Verständnis der Ehe. Wer es exklusiv versteht, müsste allerdings behaupten, dass es außerhalb der gültig geschlossenen Ehe keine gelingende Liebesbeziehung gibt, von der sich irgend sagen ließe, sie habe es mit Gott = Liebe zu tun. Aus Gründen, die bei anderer Gelegenheit entfaltet werden müssen, scheint mir das viel zu eng. Wer es weiter fasst, landet bei der interessanten Implikation, dass auch Liebesbeziehungen, die den theologischen Gedanken nicht kennen oder ihn ablehnen, von der Liebe, die Gott ist, umfasst werden. Die bekannt gewordene Kurzformel aus dem 1. Johannesbrief legt dies jedenfalls nahe: »Gott ist die Liebe (ἀγαπή). Und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.« (1Joh, 4,16) Das mag außertheologisch als Usurpation gelesen werden, gehört in der Sachlichkeit der Theologie selbst allerdings zu der Thematik, dass Gottes Behütung nicht an das explizite Bekenntnis zu ihm gebunden ist. – Die Bibelstelle legt aber genauso eine Begrenzung theologischen Wissens nahe: Denn es ist davon die Rede, dass das Ereignis des Liebens es ist, das dazu verhilft, in Gott zu bleiben, und nicht etwa ein wie auch immer gefasstes ›höheres Wissen‹. Um diese Begrenzung zu wissen, ist für die theologische Arbeit unerlässlich.
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Der Sturz eines Vorbilds in der Mediengesellschaft ist ein Ereignis im öffentlichen Raum. Es ist zugleich eines, das nach einer theologischen Aufarbeitung nachgerade ruft, weil die öffentlich gebrauchten Interpretamente theologischer Natur sind oder zumindest von dort entlehnt. Der Sturz von Vorbildern ist demnach ein Vorgang öffentlicher Theologie, zivilreligiös inszeniert, mit allem, was dazugehört: heilige Räume und Zeiten, sakrales Inventar und Personal, nicht zuletzt eine Agende, die im öffentlichen Kult abgearbeitet wird. Hier folgt ein Blick auf den Vorgang der Etablierung und des Sturzes eines Vorbilds (1.) und sodann eine Analyse der bei solchen Vorgängen üblicherweise in Stellung gebrachten theologischen Interpretamente. Es handelt sich meines Erachtens um den Motivkomplex von Sündenfall und Engelssturz (2.) und um das Thema der Stellvertretung (3.). Das Schlusswort (4.) geht kurz auf des Phänomen öffentlicher Theologie an sich ein.
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Kleine Anatomie eines Vorgangs öffentlicher Theologie Vorbilder sind per definitionem öffentlich, und sei die Öffentlichkeit noch so klein. Entsprechend ist die Installation, die Wirksamkeit und der Sturz von Vorbildern ein Gefüge von Vorgängen, die manchen Gesetzmäßigkeiten öffentlicher Darstellung gehorchen. Idealtypisch gesprochen geht ein solcher öffentlich-theologischer Vorgang so vor sich: 1. Sakralisierung zum Vorbild. Vorgänge, die dazu führen können, gibt es viele: Durch Herkommen, Amt oder Tätigkeit wird einer Person zugetraut, über anderen zu stehen, ihnen als Vorbild, Identifikationsfigur und Objekt der Ehrung/Verehrung zu dienen. So entsteht ein Sacrum, eine öffentliche Person, herausgehoben aus der Menge der Gewöhnlichen und ihnen doch funktional zugeordnet. Der Sakralisierungsvorgang kann sehr schnell gehen, etwa beim unerwarteten Helden des Alltags, der ohne Rücksicht auf die eigene Unversehrtheit einen anderen rettet, oder beim unerwarteten sportlichen Erfolg. Er kann aber auch langwierig sein, sich allmählich entwickeln oder durch geschickte mediale Inszenierungen hervgerufen werden. Letzteres beispielsweise wusste der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, als er sagte, man regiere Deutschland »mit BILD, BamS und Glotze«. Richtig: Wer die Vorgänge der Idolatrisierung kontrolliert, kontrolliert den Markt der öffentlichen Heiligen. Dass er der Marktförmigkeit ihrer Prozesse dann umso härter ausgeliefert ist, wird Schröder gewusst haben und erfuhr es ja auch am eigenen Leibe. 2. Funktion als Sacrum. Das Vorbild in actu hat mehrere Funktionen. Es repräsentiert, es bietet Identifikationsmöglichkeiten und es agiert stellvertretend. Der Reihe nach: Vorbilder, die nicht letztlich »eine/r von uns« sind, sind keine. Vorbilder fallen nicht vom Himmel, sie kommen aus unserer Mitte und erleben einen Prozess der Sanktifizierung. Einigermaßen peinlich, aber in aller wünschenswerten Deutlichkeit zeigte sich das in der »Bild«-Schlagzeile anlässlich der Papstwahl Josef Ratzingers: Er repräsentiert uns ganz Gewöhnliche und nicht zufällig ist der Kult des Vorbilds da am intensivsten, wo sich – wie etwa am Geburtsort Marktl am Inn – die Gewöhnlichkeit des jetzigen Vorbilds besonders gut erleben lässt. Weiter: Weil es einer von uns ist, bietet das Vorbild die Möglichkeit, sich in es hineinzuversetzen. Das Vorbild zeigt: Es ist menschenmöglich, so zu werden wie sie/er. Die sportlichen Leistungen der Biathletin Magdalena Neuner oder der Schwimmerin Britta Steffens etwa sind die von Menschen wie du und ich. Ausnahme wohl, aber eben menschliche Ausnahme, Hineinträumen und Nacheifern sind ausdrücklich erlaubt. Schließlich: Was das Vorbild tut und ist, tut und ist es auch an Stelle derer, deren Vorbild es ist. Wieder bietet sich der emeritierte Papst an: Keuschheit, moralische Strenge und eine vita contemplativa, deren Auf-
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richtigkeit selbst geschworene Gegner nicht bestreiten, dienen auch dazu, dass er sie stellvertretend für die ausagiert, die so nicht leben und ihn doch als für sie funktional wichtig benennen. Priesterliches Selbstverständnis kommt dafür teilweise wie gerufen. Der Sturz und seine Veröffentlichung. Und wieder gibt es viele Möglichkeiten. Gleich ist ihnen zum einen eine mehr oder weniger ausgeprägte Dramatik und die mediale Vermittlung des Geschehens. Oft handelt es sich um die Dramatik eines kurzen Augenblicks: Die Veröffentlichung eines kompromittierenden Fotos entlarvt die Untreue des vorgeblich guten Ehemanns und Vaters; der Nachweis des Plagiats lobt den Plagiierten und stürzt den, der sich ohne Namensnennung bediente; der ausbleibende sportliche Erfolg zieht noch einige Reporterfragen über die Ursachen nach sich, danach werden die Kameras abgeschaltet. Doch auch der erodierende, allmähliche Sturz des Vorbilds geht nicht ohne Dramatik und nicht ohne Prozesse medialer Vermittlung vonstatten. Diejenigen, die den Eindruck haben, von Zeitungen allmählich »heruntergeschrieben« worden zu sein, werden ein Lied davon zu singen wissen. Selbstbezichtigung und Reue. Die öffentliche Beichte ist unerlässlicher Teil des Vorbildsturzes. Besonders ausgeprägt sind die zugehörigen Ritualformen in der Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten von Amerika: Die Selbstbezichtigung Präsident Bill Clintons über sexuelle Verfehlung mit nachfolgendem »prayer for the President« ist die vielleicht deutlichste Ikone dafür. Wo die öffentliche Beichte fehlt, zieht sie den umso tieferen Sturz nach sich. Um bei Kollegen von Clinton zu bleiben: So verhält es sich etwa im Fall von Richard Nixons Watergate-Affäre oder des augenscheinlich bis heute spannungsfreien Selbstbildes von George W. Bush. Katharsis oder Verschwinden. Wessen Katharsis als erfolgreich gewertet wird, wird bleiben können oder doch moralischen Kredit peu à peu wieder aufbauen können. Wo sie nicht stattfindet oder nicht für glaubhaft genommen wird, verschwindet eine öffentliche Person als öffentliche Person. Welch immensen Leidensdruck das offenbar freisetzt, lässt sich besonders bei jähen Abbrüchen der Vorbildfunktion sehen. Politiker- wie Sportlerviten stellen mehr als genug Stoff dafür bereit. Neuorientierung oder Erosion der Gemeinde. Das Vorbild war Vorbild für jemanden. Öffentliches Vorbild konnte es nur dann sein, wenn es sich dabei um eine sozial erkennbare Größe handelt. Der Sturz des Vorbilds zieht eine Krise derer nach sich, für die es Vorbild gewesen ist. Was aber geschieht dann? Mehrere Varianten sind denkbar: Einmal könnte die Gemeinde – der Begriff »Fangemeinde« kommt nicht von ungefähr – andere Vorbilder inthronisieren. Die Suche nach Leitfiguren politischer Parteien etwa läuft regelmäßig in diesem Sinne ab. Auch Leistungssportler stehen regelmäßig Schlange, den
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nicht mehr leistungsfähigen oder -bereiten Kollegen alsbald zu ersetzen. Denkbar ist auch ein Identitätswandel der Gemeinde, nachdem ihr Vorbild keines mehr ist. Aus heutiger Sicht kurios aber als dafür sprechendes Beispiel kann der Entschluss der französischen Revolutionäre gelten, die Verehrung des christlichen Gottes in Notre Dame de Paris einzustellen und dafür den Kult des höchsten Wesens zu installieren. Dieser Kult währte nicht lange, aber für die hier gemeinte Umwidmung ist er das vielleicht deutlichste Beispiel. Schließlich ist der Fall denkbar, dass nach dem Verschwinden des Vorbilds die ihm einst zugehörende Gemeinde erodiert. Mit Regelmaß sieht und hofft es etwa ein samstags erscheinendes Nachrichtenmagazin in der Ikonographie seiner Titelseite so bezüglich der römisch-katholischen Kirche. Margot Käßmann? Tiger Woods? Der eine oder andere katholische Bischof ? Helmut Kohl? Es ist nachgerade beliebig, das Geschick welcher Person von öffentlicher Aufmerksamkeit, die der Vorbildfunktion für wert erachtet wurde, man hier einsetzt. Die Soziologie wird Verstehensmittel bereit stellen können, die die gesellschaftliche Funktion des Vorbildsturzes über das hier Plakatierte hinaus beschreiben lehren. Mir geht es im Folgenden um diejenigen theologischen Interpretamente, die diesem Vorgang öffentlicher Theologie zu Grunde liegen. Sie machen ihn erkennbar und – theologisch recht interpretiert – korrigier- und als heilsamen lesbar. Das jedenfalls ist die Hoffnung einer kritischen Begleitung öffentlicher Theologie.
Der Mythos vom Engelssturz und der Sündenfall Der erste Bereich theologischer Erklärungen, in den man gelangt, ist die biblische Erzählung vom Sündenfall und die mit ihm in Verbindung gebrachte Tradition vom Sturz des Teufels. Die biblische Erzählung sieht den Sündenfall als Ineinander von Verführung und freiem Willensakt. Was davon zu welchem Anteil beteiligt ist, lässt sich streng exegetisch kaum ausmachen und spiegelt mit Regelmaß eher den Geist der Ausleger und Auslegerinnen. Das, notabene, muss nicht falsch sein, solange klar ist, dass es so funktioniert und vermutlich auch nicht anders möglich ist. Es geht um folgendes: In Gen 3,1–7 wird erzählt, wie die Schlange der Frau im Paradies den Genuss der Frucht vom verbotenen Baum der Erkenntnis durch Versprechungen schmackhaft macht, vor allem dadurch, dass Gott den Genuss doch gar nicht verboten haben könne und dass die Effekte dieses Essens sehr gewinnbringend sein müssten. Die Frau stellt sodann eigene Erwägungen über den Genuss der verbotenen Frucht an, isst davon und auch ihr Mann tut es, der bei ihr ist und dem sie davon gibt.
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Die crux interpretum ist nun, wie hier Verführung und eigener Entschluss ineinander liegen. Man kann das Stück so lesen, als seien Mann und Frau auf die listige Schlange hereingefallen und als sei der Sündenfall also etwas, was mit ihnen geschieht und sie in einen Strudel zieht, für den sie selbst eigentlich nichts können. Mindestens ebenso gut möglich ist die Lesart, nach der die Schlange die Frau auf etwas aufmerksam macht, was sie durch eigene Erwägung verifiziert und wofür sie sich entsprechend aus eigenem Willen entscheidet. Im ersteren Fall ist Sünde ein Verhängnis, etwas, was über die Menschen kommt und sie sich zu eigen macht, im zweiten Fall ist Sünde die Folge menschlicher Freiheit (in keinem Falle richtig ist die Idee, die Frau habe den Mann zur Sünde verführt und sei also Urheberin der Sünde, aber das ist eine eigene Geschichte). Man wird es so sagen können: Der Sündenfall und damit der Charakter menschlicher Sünde und Fehlbarkeit hat mehrere Aspekte. Keiner von ihnen deckt das Phänomen ganz ab, vielmehr verweisen sie aufeinander und begrenzen einander wechselseitig. Zunächst: Sünde ist Verführt-werden. Sünde ist eine Macht, Sünde belegt mit Beschlag, fasziniert, bedroht, verführt, schlägt in ihren Bann. Paulus formuliert es eindrücklich: So tue nun nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. (Röm 7,17–20) Es entspricht menschlicher Erfahrung und der des Glaubens, zu etwas hingerissen zu sein, dessen Verderblichkeit über kurz oder lang zu Tage liegt. Diesen Aspekt zu betonen, ist wichtig, weil in Sachen »Sünde« kaum etwas so weit verbreitet ist, wie das moralistische Missverständnis, als sei Sünde allein das, was man nicht tun dürfe und es deswegen heimlich tut. Es ist beispielsweise sinnlos, einem Alkoholiker zu sagen, das Öffnen der nächsten Flasche Schnaps sei moralisch schlecht – er ist, wie immer es dazu kam und wie immer er davon wegkommen mag – der Macht des Alkohols verfallen. Moralische Kategorien sind entsprechend nachrangig. Freilich, alles ist das nicht. Es gibt mit vollem Recht eine Seite des christlichen Redens von der Sünde, die sie als Wille zur Ferne Gottes versteht. Wer sie tut, will sie. Wer sie tut, handelt auf eigene Rechnung und eigenes Risiko, erfährt sich oftmals erst in seiner ganzen angemaßten Autonomie, indem er sie tut. Dieser Aspekt erklärt nicht die ganze Sünde, aber ohne sie verkäme sie zur bequemen Ausrede, man habe gegen diesen Dämon ja leider nichts machen können. Und beiden gemeinsam ist, dass der Sündenfall dem Urelternpaar widerfährt, und das heißt: Es ist die Sache aller Menschen, die hier verhandelt wird, gleich, wann sie lebten, leben oder leben werden, gleich, was sie glauben und gleich, wozu sie sich berufen wissen.
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Das ist die unerlässliche Doppelcodierung christlicher Rede von der Sünde. Bevor sie aufs Titelthema angewandt wird, ist freilich noch eine Ergänzung nötig. In der öffentlichen Theologie spielt nämlich noch ein weiteres Momentum eine Rolle. Es ist schwerer zu fassen, weil es zwar im Motivarsenal öffentlicher Deutungen angekommen, seine Herkunft aber deutlich schwieriger zu bestimmen ist. Gemeint ist der Mythos vom Engelssturz. Nach ihm hat sich Folgendes abgespielt: Vor der Erschaffung der Welt schuf Gott die Engel als den Hofstaat, der ihn umgibt, ihm dient und huldigt. Einer aus dieser Schar rebelliert hochmütig gegen Gott und wird deshalb mitsamt seinen Getreuen aus dem Himmel gestürzt. Dort, wo er landet, erbaut er sein eigenes schreckliches und gottfernes Reich. Er wird zum Antipoden Gottes, denn von diesem seinem Reich aus greift er immer wieder in die Geschichte ein, zum Beispiel, indem er sich als Schlange getarnt ins Paradies einschleicht und so den Sündenfall des Urelternpaars provoziert. So erzählt es beispielsweise die vielleicht bekannteste literarische Aufarbeitung der biblischen Sündenfallerzählung, John Miltons Paradise Lost (1665/ 1674). Die biblische Sündenfallgeschichte erhält hier eine Rahmung, für deren entscheidende Momente es keinen biblischen Anhalt gibt, die aber dennoch etwa ab dem 3. Jahrhundert christliche communis opinio war. Ihre Ursprünge sind schwierig zu erheben: Zwischentestamentliche Literatur wird dafür genannt – etwa der slawische Henoch –, als sicher gilt der Bezug auf das große Werk Περὶ Ἀρχῶν (»Von den Anfängen«) des Theologen Origenes von Alexandrien († 254). Pikanterweise ist es ausgerechnet dieses Werk, das Origenes den Vorwurf des Irrlehrers einbrachte, weswegen aus ihm, der der erste große Gelehrte des Christentums war, niemals »St. Origenes« wurde. Gleichviel: Der Mythos vom Engelssturz verbreitete sich schnell und besetzte die Scharniere der Deutungen bis hinein in die Ikonographie: Von Michelangelo bis Hieronymus Bosch und weit darüber hinaus sind die bildlichen Darstellungen der Hölle immer mit der Logik des uranfänglichen Engelssturzes konzipiert worden. Was ist daran so faszinierend? Zwei Motive dürften es sein. Zum einen bekommt die Geschichte von Welt und Gott einen Zug, der ins Dualistische geht: Gott hat einen wirklichen Widerpart. Der finstere Herr der Hölle ist es, mit dem Gott im Kampf liegt, auch wenn sein Sieg als letztlich ausgemacht gilt und entsprechend dem Paradise Lost ein Paradise Regained entspricht (wieder John Milton, diesmal 1671). Die Geschichte von Gott zu Gott wird also als dualistisch getönter großer Kreislauf verstehbar. Und das ist in nuce bereits das zweite Motiv: Der Mythos vom Engelssturz zeigt sich als sehr erklärungskräftig. Er erklärt, was die biblische Sündenfallgeschichte irritierenderweise offen lässt: unde malum – woher das Böse? Ganz klar: Der Satan sucht sich die Schlange, da sie List symbolisiert und bemächtigt sich ihrer seinerseits listenreich, nämlich in deren Schlaf (so jedenfalls bei Milton, 9. Buch, Vers 107ff). So kam das Böse in die
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Welt, genauer: der Böse. Die Menschen sind seine Knechte, aber nicht seine Urheber. So weit ein knapper Blick auf das biblisch-nachbiblische Motivinventar in Sachen Sündenfall und Engelssturz. Was davon spielt denn nun eigentlich eine Rolle, wenn es um gefallene Vorbilder geht? Und, in konstruktiver Absicht: Was hilft dem Verstehen auf ? Der Reihe nach: Gefallene Vorbilder werden nicht ohne Häme gern als gefallene Engel stilisiert. Seht her, heißt es denn, er oder sie, anmaßend gestartet, ist doch nur eine/r, wie wir alle sind. Das spielt in der Tat mit dem Motiv des Engelssturzes. Der Grund ist hier im Wesentlichen die Vergrößerung der Fallhöhe: Wird jemand zum Engel ernannt, dann stürzt er weiter, als wäre er nur unseresgleichen. Miltons und anderer Motive werden bemüht, um das – je nachdem bewunderte oder gehasste – Vorbild recht gründlich zerschellen zu lassen. Jemand war hoch gestiegen mit engelsgleicher Moral, die ihn oder sie zum Vorbild hatte werden lassen. Entsprechend tief ist der Fall. Das, wie soeben zu sehen war, funktioniert nur dann gut, wenn man sich auf den Mythos des Engelssturzes konzentriert und die eigentümliche biblische Logik des Sündenfalls – das Ineinander und Miteinander von Verhängnis und Freiwilligkeit – ignoriert. Zumal damit die Haltung leicht einhergehen kann, dass der tiefe Sturz des Vorbilds die eigene Mühe, es ihm gleichzutun, überflüssig macht: Wenn Vorbilder doch stürzen, was brächte es schon ein, ihnen nachzueifern? Das ist, wenn man so will, ein doppelter Zynismus, betrieben mit dem nachbiblischen Motiv: Des anderen Fallhöhe bestaunen und belächeln und zugleich sich dessen vergewissern, dass die eigene Bequemlichkeit gute Gründe hat: Einer stürzt draußen vorbei und ich brauche mich aus dem (Fernseh-)Sessel erst gar nicht zu erheben. Was könnte indes geschehen? Wendet man die doppelt codierte Logik der biblischen Erzählung vom Sündenfall aufs plötzliche Ende eines Vorbilds an, so ergibt sich folgendes dreiteiliges Bild: 1. Die wohlfeile Exklusion des Zuschauers aus dem Vorgang ist nicht möglich. Er oder sie weiß, dass das, was mit dem Vorbild geschah, alle betreffen kann, auch sie/ihn selbst. Die biblische Sündenfallgeschichte geht auf die strikte Allgemeingültigkeit und Unentrinnbarkeit des Vorgangs, so dass auch hier gilt: Du bist der Mann/die Frau! Das ist einer der großen Unterschiede zum nachbiblischen Sündenfallmythos, der eine Sicht von außen auf das Ganze vorschlägt. Doch, wenn man das Ganze meint sehen zu können, wo soll man denn dann selbst sein? Doch wohl höchstens an der Stelle Gottes – aber dann hat die Logik der Schlange bereits gewonnen, die genau dies versprach: »Ihr werdet sein wie Gott«. Präzise so also nicht, sondern: dabei und darinnen. 2. Sünde ist, was immer sie sonst noch ist, auch im Rahmen des freien Willens zu erklären. Daran ist nicht zu rütteln und das ist der Punkt, an dem die Verantwortlichkeit des Vorbilds, das vielleicht bald keines mehr ist, unabweisbar
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wird. Das machte den raschen und schnörkellosen Rücktritt Margot Käßmanns von den Ämtern der Landesbischöfin und der Ratsvorsitzenden so glaubwürdig und vielleicht – die Ereignisse sind bei Niederschrift dieser Zeilen noch nicht lange genug her, es zu beurteilen – ist er genau darin selbst vorbildlich gewesen. 3. Sünde ist, was immer sie sonst noch ist, auch im Rahmen des Verhängnisses zu erklären. Sie geschieht und sie reißt mit. Es mag Akte des freien Willens geben, auch und besonders da, wo wir von Sünde und Verfehlung sprechen müssen. Aufs Ganze gesehen aber gilt: Der freie Wille ist nicht ein Prädikat des Menschen, der freie Wille ist ein Prädikat Gottes. Strafrechtliche und disziplinarrechtliche Ansprüche bleiben von dieser Feststellung gänzlich unberührt. Was sich ändert, ist das Ausmaß, in dem jemand zum Vorbild erhoben wird: Eben weiter nicht, als im Rahmen der Universalität der Sünde angemessen. – Das ist eine Entlastungsregel, die manchen gern geübten Empörungsautomatismus unmöglich macht. So zeigte etwa der »Spiegel« in der 14. Kalenderwoche 2010 eine Rückenansicht von Papst Benedikt XIV. mit der Überschrift »Der Unfehlbare«, wobei das »Un« durchgestrichen war. Vor dem Hintergrund der Sündenfallgeschichte ist dieser Titel vollständig banal – davon ganz abgesehen, dass auch die strengste katholische Auslegung nie die Unfehlbarkeit des Amtsträgers behauptet, sondern die einer genau umrissenen und extrem selten gebrauchten Form päpstlicher Äußerungen. So weit ein erster Gang durch Motive öffentlicher Theologie. Er konzentrierte sich auf den Vorgang des Sturzes und empfahl, bei der dahinter liegenden Theologie deutlich zwischen der biblisch-theologischen Sichtweise und einer nachbiblischen Weiterung zu unterscheiden. Diese Unterscheidung verhilft dazu, von Schadenfreude in falscher Distanz wegzukommen und das eigene Involviertsein in den Sturz des Vorbilds zu erkennen. – Was damit allerdings noch nicht im Blick war, ist die Vorbildfunktion des Vorbilds. Auch diese – und im Falle des Sturzes, ihr Enden – ist theologisch codiert. Dem dient der folgende Überlegungsgang unter dem Stichwort der
Theologie der Stellvertretung Wer zum Vorbild wird, übernimmt eine Funktion, die an Stelle anderer Menschen für diese anderen Menschen etwas tut. Oben wurde genannt: Es repräsentiert, es bietet Identifikationsmöglichkeiten und es agiert stellvertretend. Es geht jetzt darum, inwiefern auch dies ein Vorgang öffentlicher Theologie ist und was mit ihm passiert, wenn das Vorbild stürzt.
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Um öffentliche Theologie geht es dabei insofern als Begriff und Thema der Stellvertretung eine zentrale theologische Konzeption darstellen: Gott tritt an die Stelle des Menschen und handelt an seiner Statt und für ihn– und damit geht einher, dass dieses Tun Gottes den Menschen, an dessen Stelle und für für den gehandelt wurde, nicht unverändert lässt, sondern ihn herausruft und verändert. So verhält es sich etwa mit dem stellvertretenden Handeln der alttestamentlichen Propheten. Von manchen von ihnen sind sog. Zeichenhandlungen überliefert, die das Gemeinte verdeutlichen. Hosea etwa wird aufgefordert, eine Hure zur Frau zu nehmen und mit ihr Kinder zu zeugen (Hos 1,2–9). Diese Ehe ist ein Zeichen für die Untreue Israels gegenüber Gott. Der am Berg Sinai geschlossene Bund zwischen beiden wird hier durch den Bund der Ehe wiedergegeben, die Hure steht für Israel. Mitgesetzt ist, dass sie sich für alltäglichen Lohn ihren Liebhabern an den Hals wirft (Hos 2,7). Auch die Kinder, die der Prophet mit seiner Frau bekommt, sind zeichenhaft, weil sie durch ihre Namen die Untreue des Volkes ausdrücken. Eines ist nach einem schuldbeladenen Ort benannt, andere tragen Namen, die »die Unbegnadigte« und »nicht mein Volk« bedeuten. – In dieser drastischen Zeichenhandlung sind der Prophet und seiner Familie in mehrfacher Weise Stellvertreter geworden. Sie repräsentieren einerseits Gott am Ort seines Volkes: Eigentlich sollte es sich um einen festlichen Bund handeln und doch ist diese Ehe dabei herausgekommen. Israel hat Gott erniedrigt. Zugleich repräsentieren sie das Volk vor Gott: Weil es so lebt, sind seine Kinder unbegnadigt und nicht mehr Gottes Volk. Das ist der erste wichtige Zug der Stellvertretung: Der Stellvertreter – hier: die stellvertretende Existenz der Prophetenfamilie – repräsentiert, wie es um die Beteiligten steht. Das nun geht zusammen mit dem Eintreten-für-andere, also damit, dass das Handeln des Propheten anstelle des Volkes geschieht – und doch sein neues und verändertes Verhalten nach sich ziehen soll. Der Prophet tut und zeigt in aller Deutlichkeit, was Israel eigentlich ist und tut. Auch handelt er an Gottes Statt, indem er klarmacht, was Gott in seinem Bund eigentlich tut: Die Verbindung mit einer Frau einzugehen, die Treue nicht kennt. Dies stellvertretende Handeln hat nun die Funktion, das so angeredete Volk herauszurufen, zu mahnen und zu verändern. Ihm sollen die Augen aufgehen, gleichsam die Erkenntnis dämmern: So kann, so soll und so wird es nicht bleiben! Die Zeichenhandlung des Propheten ist also stellvertretend insofern, als sie die Sinnesänderung und Buße des Volkes nach sich zieht. Diese beiden Momente – Repräsentation und Eintreten-für-andere – machen den Kern des biblischen Stellvertretungsgedankens aus. Sie lassen sich vielfach wiederfinden, etwa in der Existenz des Volkes Gottes als solchem und zentral im neutestamentlichen Zeugnis von der Rolle Jesu Christi. Grund genug, zu fragen, wie denn die öffentliche Theologie des Stellvertretens durch Vorbilder aussieht und welche Lehren theologisch aus dem Fall von Vorbildern zu ziehen sind.
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Es wurde schon angedeutet: Die repräsentierende Funktion von Vorbildern ist weitgehend unbestritten. Zumindest ein Reiz dessen, dass es öffentliche Vorbilder gibt, liegt darin, dass sie aus »ganz normalen« Menschen bestehen: Der Polizistensohn aus Marktl am Inn wird Papst, die geschiedene und mit einer Krebserkrankung belastete Mutter von vier Kindern EKD-Ratsvorsitzende. Das öffentliche Bild mancher Politiker ist bewusst so aufgebaut, dass Heimatverbundenheit in ihm eine tragende Rolle spielt. Vorbild sein heißt dann, die reale Möglichkeit aller zu verkörpern, im Prinzip auch so werden zu können wie die zum Vorbild erkorene Person. Sie ist Realsymbol des Erstrebenswerten und zwar so, dass sie zweierlei setzt: a) man kann tatsächlich so sein, b) jeder und jede ist es, der oder die so sein kann. Schwieriger ist die Sache mit dem Aspekt des Eintretens-für-andere. Man wird hier in aller Vorläufigkeit zwischen einer stillstellenden und einer motivierenden Funktion unterscheiden können. Die stillstellende Funktion des Vorbilds ist diese: Die rezipierende Gemeinschaft kann sich dessen beruhigen, dass es das Vorbild gibt, weil es an ihrer Statt handelt. Das ist zum Beispiel nicht ganz ohne Süffisanz beim Besuch des Papstes auf dem Kölner Weltjugendtag im Jahre 2005 beobachtet worden. Man kann nämlich durchaus fragen, ob die Zehntausende junger Menschen, die untertags dem Oberhaupt der römischkatholischen Kirche zujubelten, sich in den Nachtstunden an die von ihm verkündete Sexualmoral hielten. Das wirft es ein Licht auf die hier gemeinte stellvertretende Funktion des Vorbilds: Es ist gut, dass einer oder eine kleine Gruppe so vorbildlich handelt – er vertritt die anderen damit, die nicht in der Lage oder willens sind, sich daran zu halten. Das Vorbild ist die explizit religiöse oder aber die säkularisierte Variante dessen geworden, was die katholische Tradition diejenigen Menschen nannte, die die sog. evangelischen Räte – Armut, Keuschheit, Gehorsam – stellvertretend für das nichtgeweihte Leben durchexerzierten. Und weil es hier beileibe nicht nur um kirchliche Würdenträger geht, darf man schließen: Auch die säkulare Gesellschaft hat ihren Kirchenschatz der guten Werke, die von einigen stellvertretend für die anderen erworben werden und über dessen Existenz diese »anderen« sich in der Normalität ihres Lebens beruhigen. So weit zur stillstellenden Funktion. Die andere, die motivierende Funktion ist diese: Das Vorbild ruft auf und bewegt zur Änderung des eigenen Verhaltens. Das Vorbild mahnt oder lockt, ist streng oder positiv-charismatisch, jedenfalls ist es eines, das die ihm Zugehörigen geneigt macht, dem von ihm propagierten Lebensstil folgen zu wollen. Das ist der Idealfall des Vorbilds – jedenfalls von ihm aus gesehen. Im Kern handelt es sich um eine tugendethische Konzeption: Jemand, der sich in eine Haltung eingeübt hat, kann gar nicht mehr anders, als ihr gemäß zu handeln. Das beste Beispiel dafür ist nicht ein im landläufigen Sinne »tugendhaftes« Leben, also etwa ein enthaltsames oder anderweitig
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entsagungsvolles, das beste Beispiel ist vielmehr das eines gut trainierten Läufers: Er kann nicht nicht gut in Form sein (er kann allenfalls so tun, als würde er frühzeitig müde, aber das ist etwas anderes). Das Vorbild kann nicht anders als auf dem fraglichen Gebiet gut, reif, vollkommen zu sein und die auf es bezogene Gemeinschaft hofft, der Bezug auf es möge in ihnen Ähnliches stiften, und sei es in Abschattung. So sehen die peer groups ihr Vorbild und das ist es, was sie sich als Effekt in sich selbst von ihm erhoffen. Gelingt es, dann tritt das Vorbild motivierend und aktivierend für sie ein. Und im Augenblick des Sturzes? Keine Frage: Die Vorbildfunktion erlischt. Im Augenblick des Sturzes wird klar, dass das Vorbild nur dann funktioniert, wenn es gelingendes, siegendes Vorbild ist. Anders gesagt: Die Funktion des Vorbilds ist gnadenlos, für es selbst und für andere. Das erfahren die – vorgeblich oder tatsächlich – fallenden Vorbilder am eigenen Leibe: Die medial wohl geübte Routine etwa, den Kratzer im Image des vormals zum Vorbild Erklärten zu finden, mag manchmal durchaus zu Recht am Werke sein. Sie kann aber ganz genauso harsch demontierende und strikt ungerechte Züge annehmen. Wie etwa Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung dabei vorzugehen pflegt, ist immer wieder dokumentiert worden. Heinrich Böll hat dieser Ungnade im selbsternannten Namen des Volkes mit »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« ein literarisches Denkmal gesetzt und Günther Wallraff ließ dem sein womöglich bestes Exemplar von Enthüllungsjournalismus folgen. Der Hinweis auf die Gnadenlosigkeit der Vorbilder ist deshalb wichtig, weil sich genau hier ein Unterschied zur biblischen Theologie der Stellvertretung auftut. Die Figuren, die hier zur Stellvertretung gerufen werden, sind nicht etwa Große, deren Fall verhütet werden muss. Es sind Fallende, Gefallene, Kleine, Unscheinbare: Der Prophet und seine nach gängigen gesellschaftlichen Rollenbildern entehrte Frau. Das unscheinbare Volk, das sich zwischen den Riesenreichen am Nil und im Zweistromland eher wie ein besserer Landkreis ausnimmt. Der kleinste von acht Brüdern, der zum König über Israel gesalbt wird (1Sam 16,1–13). Schließlich der Knecht Gottes, von dem es heißt, dass er keine Gestalt hatte, die uns gefallen hätte (Jes 53,2). Die junge Kirche griff auf Verse wie diese zurück, um Jesu stellvertretende Tat für die Menschen zu erklären. In der biblischen Rede von der Stellvertretung gibt es also ein Motiv, das sich in der veröffentlichten Theologie so nicht findet. Man könnte es das Motiv des radikalen Positionswechsels nennen. Das Eintreten-für-andere wird, biblisch induziert, so gedacht, dass derjenige, der für andere eintritt, sich an ihren Ort begibt. Die Fallhöhe, in der öffentlichen Theologie geradezu Signum für das Ende der Vorbildfunktion (vgl. oben), ist hier radikal anders besetzt: Für andere da zu sein heißt, nicht vorbildhaft über ihnen zu stehen, sondern an ihrem Ort zu weilen und ihre Existenz zu teilen. Hehre Vorbilder entstehen so nicht, wohl aber
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die geteilte Existenz. Anhand des Motivs des radikalen Positionswechsels artikuliert die biblische Tradition eine genauso scharfe wie heilsame Kritik an der Logik des Vorbilds. Die Gnadenlosigkeit, ja die Kälte des gewöhnlichen Vorbilds wird umso deutlicher, je weiter man sich auf das Positionswechselmotiv einlässt. Es vermag beide zu verwandeln: Den Vorbildern nimmt es die schwindelnde Höhe, in der es nur kalt und einsam werden kann, denen, die es zum Vorbild erkoren, die Illusion, man könne nur wachsen und reifen, wenn man zu Vorbildern aufschaue und die nicht merken, dass einem dabei der Hals steif wird. Erst angetippt dabei ist, aber zu einer ausführlichen Theologie der Stellvertretung gehört freilich, dass es Gott ist, der seine Beauftragten in die Stellvertretung sendet und in seinem Sohn den radikalen Positionswechsel selbst vollzieht.
Schlussbemerkung: Zweierlei öffentliche Theologie Die Sichtung des Motivinventars ergab zunächst, dass es sich bei öffentlichen Vorbildern um ein veritables Stück öffentlicher Theologie handelt. Wo es darum geht, Vorbilder im Augenblick ihres Sturzes zu beobachten und theologisch zu kommentieren, da schienen zwei Motivkomplexe aufgerufen, die Rede von Engelssturz und Sündenfall einerseits und die von der Stellvertretung andererseits. Beide ergaben reiches Anschauungs- und Kommentierungsmaterial für die Fälle öffentlicher Theologie. Bei beiden zeigte sich aber auch dies: Sieht man näher zu, dann kommentiert die biblisch induzierte Theologie den öffentlichen Vorgang nicht nur und macht ihn erklärbar. Sie kritisiert ihn und rückt ihn ins rechte Licht. In Sachen Sündenfall ging es vor allem darum, die Haltung des vermeintlich moralisch überlegenen Zusehens aufzugeben und bei der Theologie der Stellvertretung um die Enttarnung der Gnadenlosigkeit des etablierten Vorbilddiskurses. Dem steht die jüdische und christliche Behauptung entgegen, es sei Gott selbst, der seine Gesandten und sich selbst dem radikalen Positionswechsel unterwirft, um die zu sich zu holen, die sein sind und werden sollen. So zeigt sich am Schluss, dass es zweierlei öffentliche Theologie gibt: Diejenige zuerst, die öffentliche Ereignisse erklärbar macht und ihnen Sinn einstiftet. Und dann die, die von den Wahrheitsansprüchen des Glaubens herkommt und die erste und ihre gesellschaftlichen Realitäten kritisch analysiert und betrachtet. Verzichtete man auf die erste, so verzichtete man auf Zeitgenossenschaft. Ließe man die zweite vor lauter Zeitgenossenschaftlichkeit bleiben, so bliebe alsbald nichts mehr zu sagen.
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Ein ABC-Schütze wird nach seinem ersten Schultag gefragt, wie es denn gewesen sei, in der Schule. Die Antwort: »Ganz nett, aber ich soll morgen wieder hingehen.« Die Frage muss erlaubt sein, warum das komisch ist. Die überraschende Antwort des Dreikäsehochs thematisiert nämlich eine nur vorgebliche Selbstverständlichkeit: Wer sagt denn bitte und mit welchem Recht, dass der Freiheitsentzug für den Erstklässler nicht nur an diesem einen Tag besteht, sondern mindestens neun, wenn nicht gar zwölf oder 13 Jahre lang währen darf ? Pädagogische Vollzüge sind in der Tat freiheitsentziehende Maßnahmen – und zwar in der Schule wie über sie hinaus. Das gilt für den Aufenthalt der zu Erziehenden an einem bestimmten Ort zu bestimmten Zeiten, es gilt für Tätigkeiten, die nicht zu tun sie eben nicht frei sind und für anderes mehr. Das macht die Erziehungswissenschaft einem weithin um sich greifenden Trend zur empirischen Forschung direkt entgegen zu einer notwendig an Werten und/oder Normen orientierten Disziplin. Denn wer Freiheit entzieht und Handlungen vorschreibt, muss dafür entsprechend gute Gründe vorweisen können. Der Hinweis, die zu Erziehenden seien ja noch klein, wird allein nicht genügen. Ganz gleich nun, welcher pädagogischen Richtung man sich zurechnet, die Werte- und Normbildung innerhalb der Erziehungswissenschaft wird ohne eine Denkfigur der Antizipation nicht auskommen: Wer erzieht, erzieht im Vorblick auf einen Zustand, der noch nicht eingetreten ist. Dieser Zustand muss im Rahmen der – geltenden oder noch auszuhandelnden – Werte oder Normen als ein guter ausweisbar sein, um die erziehenden Mittel zu rechtfertigen. Es ist bei näherem Hinsehen sogar noch mindestens einzurechnen, dass (1) der zu erreichende Zustand nur mit einem relativen Genauigkeitsgrad angegeben werden kann. Das Telos der Erziehung muss sich also auch im Zustand der Unschärfe als gut bzw. richtig erweisen lassen. Ferner (2) ist einzurechnen, dass auch die beste Erziehung unter optimalen Bedingungen das Erreichen des Erziehungsziels nicht garantieren kann. Das verschärft die Begründungslage für den antizipierenden Gedanken abermals: Er muss selbst dann richtig sein und die Wahl der – wie gesagt, freiheitsentziehenden und Zwang ausübenden – Mittel rechtfertigen, wenn einst rückblickend konstatiert werden muss, dass das genannte und hinreichend begründete Erziehungsziel nicht erreicht werden konnte. Schließlich (3) muss der zu antizipierende Zustand von der Art sein, dass er Mittel zu seiner Erreichung beschreiben lässt, die ihrerseits eine Überprüfung an den in Geltung stehenden Werten oder Normen erfolgreich überstehen können: Zwecke stehen begründungslogisch zwar über den Mitteln zu ihrer Erreichung, nur in ganz engen Ausnahmefällen lassen sie aber solche
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zu, die ihrem eigenen Begründungsgefüge widersprechen. – Die Ansprüche an die Findung und Begründung pädagogischer Werte bzw. Normen sind also alles andere als gering und es erstaunt nicht, dass die Pädagogik vor Etablierung als eigenständiger akademischer Disziplin in aller Regel der philosophischen Ethik zugeschlagen wurde. Hier folgt ein Erwägungsgang, der die rasch skizzierte Problemlage pädagogischer Normen-/Wertefindung gewiss nicht löst, innerhalb ihrer aber zur Klarheit beitragen soll. Ich mache dabei von zweierlei Gebrauch: Zum einen wird die Intuition entfaltet, dass Lehren einen elementaren Akt zwischenmenschlicher Stellvertretung darstellt: Im antizipierenden Blick auf das, was und wie sein Erziehungsbefohlener einst werden kann und soll, hält der Erziehende ihm die Stelle frei – einschließlich aller Risiken, die mit solchen Antizipationen verbunden sind. Ferner sind die erzieherischen Vollzüge selbst Teil des stellvertretenden Handelns, weil sie zumindest dem Wunsch nach genau darauf hinauslaufen, der andere könne die ihm bereit gehaltene Stelle erreichen und als ihm gemäße, ja von ihm erstrebte Stelle, für sich annehmen. Zum anderen wird die Tradition der Pädagogik aufgerufen, an den Diskursen der Ethik zu partizipieren. Aus noch zu klärenden Gründen werden hierfür sowohl philosophische als auch theologische Beiträge zur Ethik aufgerufen.
Der normative Charakter von Erziehungszielen. Erste Näherung im Dialog mit der Erziehungswissenschaft Dass pädagogische Interventionen ethisch begründet werden müssen, ist keine neue Einsicht. Für die jüngere Erziehungswissenschaft hat dies insbesondere Micha Brumlik deutlich gemacht, der in mehrfacher Weise direkten Anschluss an ethische Diskurse suchte. Sein hierfür einschlägiger Sammelband trägt das Problem im Titel: »Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe«. Es ist aufschlussreich, an welche ethischen Diskurse er anschließt und welche Leitbegriffe dabei Verwendung finden. Am Anfang steht eine einfach klingende aber durchaus nicht einfach zu beantwortende Frage: » … ob und in welchem Ausmaß wir als Pädagogen dazu verpflichtet sind, anderen dazu zu verhelfen, sie selbst zu werden.«134 Man könnte nun meinen, dass die Antwort bereits im Fragebestandteil »als Pädagogen« steckt: Pädagogen sind eben solche Menschen, die anderen dazu verhelfen, sie selbst zu sein. Das freilich wäre dann doch eine petitio principii, die bei allem relativen Recht, bereits Vorausgesetztes zu explizieren, wohl kaum gemeint sein kann. Und so ist es sinnvoll, dass Brumlik 134 M. Brumlik, Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe, Berlin/Wien 2 2004, 159.
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das Problem aufwirft, ohne eine schnelle Antwort bei der Hand zu haben. Die Antwortstrategie kommt gleichsam vom anderen Ende her und lautet: Es gibt in der Tat eine pädagogische Pflicht, anderen zum Selbstsein zu verhelfen, weil sie wesentlich so sind, wie wir selbst. Würden wir ihnen dazu nicht verhelfen, würden wir das eigene Selbstsein prinzipiell in Frage stellen müssen, was bei Gefahr des Widerspruchs gegen das Descartes’sche cogito ergo sum nicht gut möglich ist. Wie kommt es zu dieser durchaus weitreichenden Behauptung? Den Anfang macht eine einleuchtende Differenzierung: Man kann zunächst einmal anwaltliches und vormundschaftliches Tun auseinanderhalten. Der Anwalt tritt für eine andere Person ein, die sich über ihre Ziele und Interessen im Klaren ist und Beistand braucht, weil sie sich im juristischen Bereich nicht selbständig bewegen kann. Vormundschaftlich zu Vertretende sind dagegen nicht nur im juristischen Bereich unselbständig, sie sind darüber hinaus nicht in der Lage, ihre eigenen Interessen zu kennen und zu artikulieren, wiewohl sie ihre ureigenen Interessen darstellen. Dies führt zu einer ersten Definition: »Eine advokatorische Ethik ist ein System von Behauptungen und Aufforderungen in bezug auf die Interessen von Menschen, die nicht dazu in der Lage sind, diesen selbst nachzugehen sowie jenen Handlungen, zu denen uns jene Unfähigkeit anderer verpflichtet.«135 Lebensweltliche Beispiele sind leicht denkbar, beginnend bei der Reinlichkeitserziehung des Kleinkinds, die diesem nicht in jedem Fall Freude macht und die es doch rückblickend als sein Interesse bezeichnen wird, bis hin zum Abiturienten, der einer Lehrerin dankt, obwohl oder gerade weil sie ihn einige Jahre zuvor als schwierigen Schüler erlebte und auch maßregeln musste. Es scheint also ein teleologisches Moment zu sein, um das die Frage nach der Begründung einer advokatorischen Ethik kreist: Es gibt Menschen, die ihre eigenen Interessen nicht kennen. Diese Interessen sind aber von der Art, dass sie ihnen als ihre Interessen einleuchten würden, wenn sie sie denn kennen würden. Deshalb zielt das advokatorische Handeln auch darauf, diese Interessen nicht nur subsidiär zu verwalten, sondern die Interessenträger zur eigenen Wahrnehmung ihrer Interessen zu befähigen: Das Kindergartenkind ist dankbar, wenn es keine Windel mehr tragen muss und der Abiturient hält die ihm zuerkannte Hochschulreife für ein intrinsisches Gut. Freilich liegt ein Einwand nahe: Was ist, wenn die stellvertretend ausgemachten und verfolgten Interessen niemals zum eigenen Interesse des Menschen werden, für den hier gehandelt wird? Es könnte ja immerhin sein, dass der 135 Brumlik, Advokatorische Ethik 161, i.O.herv. In einer anderen Formulierung: »Im advokatorischen Handeln maßt sich ein des Handelns und der Artikulation fähiger Autor kraft seiner rationalen Einsicht das Recht an und mißt sich die Pflicht zu, namens der Artikulation nicht fähiger Lebewesen deren Rechte für sie wahrzunehmen.« (89)
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besagte Schüler die Mühen des Wegs zum Abitur nicht nur gegenwärtig nicht einschlagen möchte, sondern mit einem ›niedrigeren‹ Bildungsabschluss, einer entsprechenden Berufsausbildung und einem anderen Verhältnis von Arbeit, Freizeit und Einkommen objektiv glücklicher ist, als wenn er den akademischen Weg einschlüge. In einem solchen Fall würde die Bemühung, ihn zum Erreichen des Abiturs zu bewegen, keine Serie advokatorischer Akte mehr sein, sondern letztlich einen fremdbestimmten Zugang zur Persönlichkeit darstellen. Und mehr noch: Wer sagt denn, dass mündiges und verantwortliches Leben einem genuss- und rauschvollen Leben wirklich vorzuziehen ist, das auf Bildung, Selbstbestimmung und Verantwortung zu Gunsten intensiven lustvollen Lebensgenusses gerade verzichtet? Der Heterogenitätsvorwurf an das teleologische, stellvertretende Moment einer advokatorischen Ethik kann recht vielfältige Formen annehmen. Brumliks Antwort auf diesen Einwand ist zweiteilig: Einmal, so sagt er, lässt sich zeigen, dass in unserer Gesellschaft mündige Menschen gegenüber unmündigen in vielfacher Weise privilegiert werden. Es ist deshalb ein gerechtigkeitsethisches Gebot, Mündigkeit in möglichst umfassendem Umfang hervorzurufen.136 Das dürfte, wie schon ein rascher Blick auf Einkommenschancen, demokratische Partizipation und anderes zeigt, durchaus zutreffen. Fraglich scheint mir aber, ob es sich dabei wirklich um ein gerechtigkeitsethisches Axiom handelt: Wenn Mündigkeit die Chancen auf Partizipation und Wohlstand erhöht, dann handelt es sich um ein Gebot der Klugheit, mündig zu werden. Mehr als dass es im eigenen und egoistischen Interesse liegt, mündig zu werden, ist damit freilich noch nicht gesagt. Der explizite Anschluss an eine normative Theorie der Gerechtigkeit müsste dann allererst noch zeigen, warum Strebensziele, die Mündigkeit voraussetzen, gerechtigkeitserheblich sind, andere hingegen nicht. Man könnte etwa an die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls denken, die in ihren obersten Prinzipien mit den Faktoren umfassende Partizipation und Verteilung des Besitzes zu jedermanns Vorteil arbeitet.137 Micha Brumlik wählt zur Ergänzung des an dieser Stelle offenkundig unvollständigen Arguments einen anderen Weg, der sich transzendentalphilosophischer Mittel bedient. Ansetzend bei der Frage, warum denn ein von Mündigkeit geprägtes Leben erstrebenswerter sein solle als ein lust- und rauschvolles, heißt es: »Indem wir voller Unbehagen an unseren Zwängen leiden oder uns sehnsüchtig an Erfahrungen von Entgrenzung und Ekstase erinnern, tun wir das vom Standpunkt eines mündigen Subjekts aus, das sich zeitweilig oder teilweise seiner Mündigkeit begeben 136 Brumlik, Advokatorische Ethik 166. 137 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 41988, 81, vgl. die leicht veränderte Formulierung in ders., Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt/M. 2003, 78.
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hat. Ohne die vorausgesetzte Folie selbstbewußten, mündigen Lebens gibt es weder Leiden an der Entfremdung noch Lust an der Entgrenzung, womit sich Mündigkeit und Personalität als Sinnbedingung derartiger Erfahrung erweisen.«138
Erst die anders als mit Kategorien der Mündigkeit nicht beschreibbare Normalität macht es möglich, das Außergewöhnliche als Außergewöhnliches zu erleben. Wenn das richtig ist, ist die Prärogative der Mündigkeit fürs erste argumentativ gesichert. Dann wäre, mit dem frühen Nietzsche gesprochen, der apollinische Zugang zur Wirklichkeit derjenige, der den abgründigen Genuss des Dionysischen allererst möglich macht, und zwar unter der Bedingung, dass nach der dionysischen Ekstase der Rückweg in die relative Nüchternheit des apollinisch geprägten Alltags auch wieder gefunden wird.139 Das Argument stammt hingegen nicht originär aus einer Auseinandersetzung mit Nietzsche, sondern aus dem Umfeld der von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel geprägten Diskursethik. Diese reflektiert auf die Voraussetzungen, die jemand – eingestandenermaßen oder nicht – unterstellt, sobald er/sie kommunikative Handlungen unternimmt: Wer mit dem Ziel spricht, verstanden zu werden, setzt bei sich und seinen Zuhörern Mündigkeit voraus. Eine Sprecherin muss annehmen, dass sie zur Formulierung konsistenter Sätze in der Lage ist, und sie muss annehmen, dass ihre Gesprächspartner in der Lage sind, sie zu verstehen. Das ist, in allererster Näherung formuliert, das »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft«.140 Wer nun mit Unmündigen verkehrt, kann bei Strafe des Selbstwiderspruchs nicht anders, als ihnen kontrafaktisch Mündigkeit zu unterstellen und also zu ihrer Bemündigung beizutragen. Das Argument wird an dieser Stelle nur knapp mitgeteilt, lässt sich im Sinne Brumliks aber wohl so ergänzen: Wer im beschriebenen Sinne mündig ist, weiß notwendig, dass er/sie einen Prozess von Unmündigkeit zu Mündigkeit durchlaufen hat, der ohne advokatorische Eingriffe anderer nicht zum Ziele geführt hätte. Wenn irgend der Gleichbehandlungsgrundsatz gilt, dann darf der Weg zur Mündigkeit anderen nicht vorenthalten werden. Brumlik schließt in aller Deutlichkeit: »Daß die Unmündigen mündig werden sollen, ist eine unabweisbare, geradezu kategorische Forderung, die aus jeder Diskursethik hervorgeht.«141
138 Brumlik, Advokatorische Ethik 166. 139 F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, Kritische Studienausgabe Bd. 1, hg. von G. Colli und M. Montinari, München 1988, 9–156, bes. 25–30.34–42.57–71. In einer Studie, in der von der später häufig anzutreffenden Bedenkenlosigkeit gegenüber den kritisierten Positionen noch nichts zu spüren ist, hat Peter Sloterdijk interessante Beobachtungen dazu mitgeteilt: Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt/ M. 1986. 140 Untertitel von K.-O. Apel, Transformation der Philosophie II, Frankfurt/M. 1976. 141 Brumlik, Advokatorische Ethik 167.
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Soweit eine Herleitung eines obersten normativen Erziehungsziels. Man wird ihr Stringenz und Plausibilität nicht absprechen wollen. Weiterführende Fragen ergeben sich, wenn einige der Implikationen dieses Argumentationsgangs näher betrachtet werden. Es soll hier einerseits um die Eigenart und mögliche Grenze der Diskursethik gehen und andererseits um den mitgesetzten Begriff der Person. Zu beiden Aspekten kann bei weiteren Ausführungen von Micha Brumlik angeknüpft werden. Zunächst also (1) zur Eigenart der Diskursethik. Brumlik beherzigt zunächst den Einwand, dass die Diskursethik universale Geltung beansprucht, ohne doch universal sein zu können. Denn wer die Teilnahme am rationalen Diskurs zum Kennzeichen seiner Ethik macht, schließt evidentermaßen nichtrationale Lebewesen von der Teilnahme aus. In ihrer klassischen Gestalt hatte die Diskursethik behauptet, dass Rationalität ein Wesensmerkmal des Menschen sei und entsprechend alle Menschen am ethischen Diskurs teilhätten. Dies trifft nun in Gestalt der bekannt gewordenen Kritik Peter Singers auf folgende Dilemmabeschreibung: Entweder wird schlicht gesetzt, dass alle Menschen rational seien – dann aber ist diese Ethik entgegen ihrer Behauptung beschränkt, nämlich auf eine biologische Species. Singers bekannt gewordener despektierlicher Begriff dafür ist der des Speziesismus.142 Oder aber die Diskursethik beschränkt sich auf diejenigen (menschlichen oder nichtmenschlichen) Akteure, die ihren rationalen und sprachpragmatischen Mindestanforderungen genügen. Da dies eine stattliche Anzahl von Menschen ausschließt, würde sie wieder zur eigenen Basisannahme in Konflikt geraten und partikularistische Züge annehmen.143 Nun ist es allgemein anerkannte Tatsache, dass Menschen von Menschen erzogen werden, und dass es sich dabei um etwas Richtiges und Wünschenswertes handelt. Peter Singers Erwägungen zu einer Ethik über den menschlichen Bereich hinaus dürfen insoweit außer Betracht bleiben.144 Das Dilemma ist dadurch freilich nicht verschwunden, hat sich aber verschoben: Eine Diskursethik erkennt entweder nur Diskursteilnehmer als vollwertig an und ist insofern tatsächlich partikularistisch. Alternativ denkt sie an zu Diskursteilnehmern zu erziehende Menschen und agiert stellvertretend für sie als künftige Diskursteilnehmer und insofern paternalistisch.145 Wenn es nun irgend Recht und/oder Pflicht zur Erziehung geben sollte, fällt die erste Idee, die ›Nichtdiskursiven‹ eben auszuschließen, offenkundig aus. Es bleibt füglich die Frage, ob der als unvermeidlich erkannte Paternalismus näher beschrieben und von seinem negativen 142 P. Singer, Praktische Ethik. Neuausgabe, Stuttgart 21994, 90–94 u. ö. 143 Brumlik, Advokatorische Ethik 91. 144 Singer, Praktische Ethik 82–114; ders., Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, Erlangen 2015 (zuerst 1975); ders., Ethik und Tiere. Eine Ausweitung der Ethik über unsere eigene Spezies hinaus, in: Tierethik, hg. von F. Schmitz, Berlin 2014, 77–87. 145 Brumlik, Advokatorische Ethik 93.
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Beiklang befreit werden kann. Anders gesagt: »Dürfen Menschen andere Menschen erziehen und wenn ja, warum?«146 In einem Argumentationsgang, in dem sich die teils hitzigen Debatten um die Versuche in antiautoritärer Erziehung und u. a. Michel Foucaults Behauptung, es seien nicht die Individuen zu erziehen, sondern die repressiven Strukturen der Gesellschaft anzugehen,147 widerspiegeln, zielt Brumlik ein grundsätzlich positives Bild an, dass advokatorisch = paternalistisch für andere entschieden werden dürfe. Das Kernargument ist hier im Wesentlichen das bereits genannte: Die Gesellschaft ist jetzt und auf absehbare Zeit von der Art, dass Mündige in ihr deutliche Vorteile gegenüber Nichtmündigen erringen. Es wäre also fahrlässig, potenziell Mündigen die Entwicklung zur Mündigkeit nicht zu ermöglichen. Brumlik kombiniert das mit dem Argument, dass nach aller Erfahrung die Selbstregulation auf dem Weg zur Mündigkeit nicht oder jedenfalls nicht ausreichend funktioniert.148 Trifft beides zu, so ist hinlänglich erwiesen, dass Unmündigen durch pädagogische Intervention zur Mündigkeit verholfen werden soll. Hier zeigt sich das wohl klassische Problem der Diskursethik: Sie ist universalistisch angelegt und wirft – hier ist die Handschrift der Habermas-Generation der Frankfurter Schule ganz deutlich – auch Kant und den strengen Kantianern ethischen Solipsismus vor.149 Zugleich aber muss sie gleichsam an den Rändern der rationalen Diskursgemeinschaft kommunikative Standards zulassen, die den etablierten Diskursregeln wiedersprechen – und das um der rationalen Diskursgemeinschaft willen. Dieser in der erziehungswissenschaftlichen Anwendung deutlich zu Tage tretende Umstand hat der Diskursethik den Vorwurf falscher sprachphilosophischer Analysen eingetragen: Es handle sich, so Thomas Rentsch, um »linguistischen Idealismus (…). Die Diskursethik stellt eine Engführung des Kommunikationsverständnisses dar. Ein Paradigma vernünftigen Lebens, obgleich ein sehr gutes, soll zu dem Paradigma erhoben werden: Das der Diskurse.«150 Und wie ein Reflex auf die erziehungswissenschaftliche Anwendungsprüfung heißt es dann: Die Diskursethik stellt »das sowohl unmögliche wie unnötige Unternehmen der Deduktion von Lebensformen aus Sprachformen dar. Anders gesagt: Auch die Diskurse weisen Züge der Konstitution der moralischen Praxis, jedenfalls Züge der rationalen Praxis auf; aber sie allein kon146 Brumlik, Advokatorische Ethik 96, i.O.herv. 147 A.S. Neill, Das Prinzip Summerhill, Reinbek 1971; M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 151993 (1977). 148 Brumlik, Advokatorische Ethik 101f. 149 Bedenkenswerter Widerspruch bei D. Horster: Der Kantische »methodische Solipsismus« und die Theorien von Apel und Habermas. In: Kant-Studien, 73 (1982), 463–470. 150 Th. Rentsch, Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt/M. 21999, 55.
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stituieren weder diese Praxis, noch lassen sie sich zu den vornehmlichen und ausgezeichneten Modi der Praxis hochstilisieren, in welchen sich die Konstitutionsbedingungen zeigen. (…) Aus diesem Grund ist der rigorose Schnitt zwischen Fragen des Guten und des vernünftigen Lebens und Fragen der Universalisierung von Normen im Wege der diskursiven Einlösung ihrer Geltungsansprüche eine künstliche Operation, analog der problematischen Dichotomie von materialen, inhaltlichen Orientierungen und formalen Prozeduren.«151
Die Diskursethik läuft also bei lauterster und unterstützenswertester Absicht Gefahr einer Fehlabstraktion, bei der insbesondere die Felder außer Blick geraten, für die pädagogisches Handeln sich interessiert. Das Ziel solchen Handelns lässt sich gut begründen. Der Weg dahin muss aber zum bloß Vorläufigen und im Rahmen der Theorie gar nicht adäquat Abbildbaren erklärt werden. Das macht die Zielstellung nicht falsch, verlangt aber nach geeigneten Instrumentarien, um dem Weg dorthin den Eindruck des Provisorischen zu nehmen. Das gleiche Problem zeigt sich, ergänzend gesagt, (2) im Personbegriff, mit dem Brumlik operiert. Er lautet definitorisch: »Person sei dasjenige männliche oder weibliche, der Gattung Mensch angehörende Individuum genannt, dem wir die prinzipiell vorhandene Fähigkeit zuschreiben, Bedürfnisse und Wünsche zu haben, über ein biographisch kontinuierliches Selbstbewußtsein zu verfügen und sich zu sich selbst und zu anderen so verhalten zu können, daß dies Verhalten sowie mögliche Folgen als das eigene anerkannt wird, für das unter gegebenen Umständen auch die Verantwortung zu übernehmen ist.«152
Diese Personkriterien weisen – die Speziesfrage einmal beiseite – frappierende Ähnlichkeit zur Kriterienliste von Peter Singer auf.153 Brumlik muss sich nun in keiner Weise vorhalten lassen, seine Distinktion zwischen ›Mensch‹ einerseits und der hier definitorisch umrissenen ›Person‹ andererseits zu sozialethischen Zielen zu führen, die denen Singers ähneln würden.154 Es fragt sich dann aber, warum er zu einer Persondefinition greift, die das Personsein über die Vorhandenheit von Eigenschaften definiert und damit den pädagogischen Alltag nur als Ausnahmefall dessen in den Blick bekommt, was noch nicht ist. In einer Formulierung kommt Brumlik einer Lösung sehr nahe: »Wir kommen also – wenn wir uns selbst als Personen verstehen wollen – gar nicht umhin, das Faktum wechselseitiger Beeinflussung zuzugeben und damit auch den ganzen 151 152 153 154
Ebd. Brumlik, Advokatorische Ethik 97. Vgl. Abschnitt I.3 in diesem Band. Vgl. nur Brumlik, Advokatorische Ethik 100, wo in kantischen Bahnen eine »Begründung des Anspruchs auf Personwerdung« skizziert wird, die bei Singer vermöge seiner engen Fassung des Präferenzutilitarismus außer Blick gerät – man kann auch sagen: die er sich zwecks heikler Vereinfachung der Problemlagen außer Blick schafft, vgl. Praktische Ethik 60–67.123–129.
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Bereich der Personwerdung nicht als Naturprozeß, sondern als Handlungsfeld zu konzipieren. Damit wissen wir aber, daß Personen sich zu Nicht- oder NochNicht-Personen handelnd verhalten und daß diese Handlungen (…) darauf hinzuzielen haben, daß den Noch-Nicht-Personen ihre Personwerdung ermöglicht wird.«155 Dem ist gänzlich zuzustimmen. Es fragt sich nur, warum die Beobachtung auf die Personwerdung beschränkt bleiben soll. Wenn schon die Personwerdung als Handlungsfeld zu konzipieren ist – warum gilt dies nicht gleichermaßen für die Person überhaupt? Es ist durchaus naheliegend, grob zwischen heranwachsenden und reifen Personen zu unterschieden und sie entsprechend auch mit unterschiedlichen Rechten, Pflichten, Freiheiten und Zumutungen auszustatten. Aber ›fertig‹ in dem Sinn, dass nun die unveränderliche und auch keiner Veränderung mehr bedürftige Person da wäre, ist doch wohl keine Person. Daher lautet das Plädoyer, nicht nur die Jahre der – hier einmal als Kindheit und Jugend gedachten – Personwerdung als Handlungsfeld zu begreifen, sondern diese Beschreibung auf Personen überhaupt auszudehnen. Personen sind und bleiben wesentlich durch Interaktion, Austausch, wechselseitige Anerkennung und Stellvertretung konstituiert. Im Lauf des Heranwachsens und der späteren Lebensgeschichte verändern sich wohl die Inhalte und vermutlich auch die Gewichtung von Interaktion, Austausch, Anerkennung und Stellvertretung, nicht jedoch, dass das Prädikat ›ist eine Person‹ und die vier genannten Größen wesentlich zusammengehören. Dies bedeutet zugleich, dass das Personprädikat nicht einen komplexen Gegenstand unter Gegenständen bezeichnet, sondern nur unter Inblicknahme von intersubjektiven Handlungsvollzügen angemessen in den Blick gerät. Das Thema gehört in die praktische, nicht in die theoretische Philosophie, es gehört – auch wenn dieser Horizont in der laufenden Erwägung gerade abgeblendet ist – auch für die Theologie in die Ethik und nicht in eine inventarisierende Anthropologie, in der es sich in Lehrbüchern und Kompendien oft genug vorfindet. Eine kurze Standortbestimmung. Geklärt werden soll, mit welchem Recht und auf welchem Wege im erzieherischen Handeln advokatorisch für die Schutzbefohlenen vorgegangen werden darf oder gar soll. Wer erzieht, muss behaupten, zugunsten einer anderen Person antizipierend und damit stellvertretend vorzugehen und danach entsprechend in deren Lebensvollzug einzugreifen. Im hier vorgenommenen Erwägungsgang wurden zunächst Recht und Pflicht zu solchen stellvertretenden Vollzügen beleuchtet, wobei sich die Mündigkeit der zu Erziehenden als plausible Leitabstraktion darstellte. Ein erziehungswissenschaftlicher Zugang, der dafür auf die Erwägungen der Diskursethik zurückgreift, hat, so das 155 Brumlik, Advokatorische Ethik 103.
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Zwischenergebnis, gute Aussichten, das Ziel stellvertretenden Handelns in der Erziehung zu beschreiben. Freilich geschieht dies um den nicht geringen Preis, den Weg dorthin nicht im Rahmen der eigenen Prämissen abbilden zu können und damit zum bloß Vorläufigen erklären zu müssen. Es ist also zu fragen, mit welchen Theoriemitteln der Bereich, in dem Erziehung stattfindet, adäquater in den Blick genommen werden kann.
Theorie und Vortheorie. Eine Klassikerlektüre Es ist also ein Blick in den Bereich nötig, der aus diskurstheoretischer Sicht vorläufig ist und einen Übergangsbereich darstellt. Und nun gehört es zu den theoriegeschichtlichen Überraschungen, dass wichtige Hinweise dafür ausgerechnet bei dem Denker zu finden sind, der mit gutem Grund als Pate einer Prinzipienethik gilt, wie die Diskursethik sie darstellt: bei Immanuel Kant. Seine »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« kann und soll in diesem Sinne gelesen werden.156 Kommt man von der Lektüre der drei Kritiken und den Schriften zur Moralphilosophie her, dann handelt es sich um ein eigentümliches Werk: Die Anthropologie ist zwar streng durchkomponiert, vom Stil her aber leichtfüßig, über Strecken fast erzählerisch und spart nicht mit Anekdoten. Kant hat sie spät – 1798 in erster und 1800 in zweiter Auflage – zum Druck gegeben, nachdem er sie über 30 Jahre lang jedes Wintersemester als Vorlesung gehalten hatte.157 Sie ist Teil des exoterischen Werks, demgegenüber die Kritiken und Zugehöriges durchaus als sein esoterisches Werk verstanden werden dürfen. In der eigenen Terminologie handelt es sich um den Unterschied zwischen reiner Philosophie einerseits und Weltkenntnis andererseits.158 Schon aus der Regelmäßigkeit der öffentlichen Vorlesung und der schließlich erfolgten Drucklegung wird man schließen dürfen, dass ›Weltkenntnis‹ für Kant von erheblicher Wichtigkeit war. Die weitgehende 156 Zum Standardwerk von R. Brandt, Kritischer Kommentar zu Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, Hamburg 1999, kommt in jüngerer Zeit noch R.B. Louden, Kant’s Impure Ethics, From Rational Beings to Human Beings, Oxford 2002, bes. 3–31.33–61.167ff, sowie Th. Sturm, Kant und die Wissenschaft vom Menschen, Münster 2009, bes. 367ff. M. Foucault, Einführung in Kants Anthropologie, Berlin 2010, 13–117, ist ein erst jetzt zugänglich gewordenes Frühwerk aus dem Jahr 1961. 157 Im Sommersemester las Kant dann genauso regelmäßig und mit großem Anklang Geographie, was, da er bekanntlich den Raum Königsberg nie verließ, zumeist mit spöttischem Unterton vermerkt wird. Kant hat deren Drucklegung anscheinend erwogen, dann aber aus Altersgründen davon Abstand genommen, vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. von W. Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1983, 395–690, 402 = BA XIV. Nachweise im Folgenden nach der Akademie-Ausgabe. Gesperrte Hervorhebungen werden durchgängig kursiv wiedergegeben. 158 Kant, Anthropologie BA XIIIf.
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Ignoranz, mit der diese und in der Anlage ähnlich einzustufende Schriften in der Regel bedacht werden, wird Kants Absicht ganz offenbar nicht gerecht.159 Das ist für unseren Zusammenhang umso bedauerlicher, weil gerade in der Anthropologie-Vorlesung Kants pädagogische Absichten deutlich zu Tage treten. Was Erziehung ist, peilt Kant bereits durch die erste Distinktion an, die zugleich den Titel seines Werks erklärt: Systematische Anthropologie gibt es einerseits in physiologischer Hinsicht, also als Beschreibung der Natur des Menschen, oder aber in pragmatischer Hinsicht »auf das, was er als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll.«160 Es geht um »Regeln des Verhaltens«,161 und erst sie machen das Pragmatische an der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht aus. Die Tatsache der Freiheit – zu begründen und auf ihre Normen hin zu analysieren in der ›reinen‹ Philosophie – eröffnet ein Feld, in dem Beschreibung und Regelungsbedarf aufeinandertreffen und teils auch ineinander übergehen: Es kann beobachtet werden, was Menschen mit ihrer Freiheit anstellen. Diese Beobachtungen aber sind zu kontrastieren mit einer Erkundung des Möglichkeitsspielraums und mit dem Sollensaspekt. Wer sich das vornimmt, erwirbt Kenntnisse, die ihm nicht mehr die Zuschauerperspektive überlassen, sondern ihn vielmehr auf die Suche nach dem für ihn Guten schicken. Präzise dies ist der Bedeutungsumfang des Wortes ›pragmatisch‹. Die Erwägungen der Vorlesung sind von einer anthropologischen Grundeinsicht geprägt, die zwischen zwei Polen eingespannt ist. Auf der einen Seite steht eine durchaus nüchterne Grundeinsicht: »Von dem Tage an, an dem der Mensch anfängt, von Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein, und der Egoism schreitet unaufhaltsam fort; wenn nicht offenbar (denn da widersteht ihm der Egoism anderer), doch verdeckt und mit scheinbarer Selbstverleugnung und vorgeblicher Bescheidenheit, sich desto sicherer um Urteil anderer einen vorzüglichen Wert zu geben.«162 Auf der anderen Seite – und auch fast am anderen Ende des Buches – findet sich diese Zielstellung: »Die Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung des Menschen und die Charakteristik seiner Ausbildung ist folgende. Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren; wie groß auch sein tierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des
159 Das gilt nicht nur für zahlreiche philosophiegeschichtliche Kompendien und Einführungen in Kants Denken, sondern auch für die ansonsten verdienstvolle Geschichte der Pädagogik von Albert Reble, der Kant keine zwei von 397 Seiten widmet und auf ihnen weder Anthropologie noch Pädagogik erwähnt, vgl. A. Reble, Geschichte der Pädagogik, Stuttgart 11 1971, 194f. 160 Kant, Anthropologie BA IV. 161 Kant, Anthropologie BA 104. 162 Kant, Anthropologie BA 5f.
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Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von den Rohigkeiten seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen.«163
Der erste Teil der Schrift, um den es hier gehen muss, kann als Inventarisierung der vorvernünftigen Vermögen des Menschen gelesen werden. Kant behandelt unter anderem Selbstgefühl,164 Sinnenvermögen, Einbildungskraft, Affekte und Leidenschaften. Kurz kommt er dabei auch auf die ›oberen Erkenntnisvermögen‹ Verstand, Urteilskraft und Vernunft zu sprechen, dies aber nur im Rahmen einer »anthropologische[n] Vergleichung«,165 d. h. eines Erwägungsgangs, wie die genannten Vermögen bei der anthropologischen Zielstellung zum Einsatz kommen und wann etwa mit ihrer Erreichung gerechnet werden kann. Sichtlich ist also von dem die Rede, was Verstand, Urteilskraft und Vernunft vorausliegt. Damit ist gesetzt: Es gibt sowohl lebensgeschichtlich wie im alltäglichen Umgang keinen unvermittelten Zugriff auf Verstand, Vernunft und Urteilskraft. Sie müssen vielmehr im Prozess der Erziehung erworben werden und stehen auch dem Erwachsenen nicht ›einfach so‹ zu Gebote. Vielmehr müssen die alltäglichen Umstände so organisiert werden, dass eine Chance auf Betätigung der oberen Vernunftvermögen überhaupt entstehen kann. Sie sind in Genese- und Zugriffsprozesse eingebunden und ohne diese nicht zu haben. Was gelegentlich als Kants anthropologischer Pessimismus bezeichnet wurde – vgl. die eben zitierten ›Rohigkeiten‹ der menschlichen Natur –, ist wohl eher ein grundständig pädagogischer Zugang: Was den Menschen zum Menschen macht, ist von ihm selbst allererst zu gewinnen und seinem ›tierischen Hang‹ abzuringen. Eine Darstellung der Vernunftvermögen ohne die Pädagogik auf sie hin wäre also unvollständig. Um nichts geringer sollte der systematische Ort der Anthropologie im Verhältnis zu den kritischen Schriften bewertet werden.166 Es findet sich eine Fülle von Beispielen mit recht unterschiedlichen Abstraktionsgraden. Eine Erwägung etwa über Gewohnheiten und ihr Verhältnis zu
163 Kant, Anthropologie B 318f. Vgl. BA 167, wo der Gedanke unter Anspielung auf die bekannte Formel vom Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit variiert wird. 164 Hier finden sich Formulierungen, die geeignet sind, die Entdeckung des Unbewussten durch Sigmund Freud vorwegzunehmen: » (…) daß gleichsam auf der großen Karte unseres Gemüts nur wenige Stellen illuminiert sind«, oder: »So ist das Feld dunkler Vorstellungen das größte im Menschen.« Kant, Anthropologie BA 17 bzw. 18. 165 Kant, Anthropologie BA 116. 166 »Der ganze erste Teil der Anthropologie hat dann die pragmatische Funktion, dem Leser an der Entwicklung der anthropologischen Strukturen klarzumachen, daß diese Würde nicht gegeben ist, sondern durch Leistung errungen und stabilisiert werden muß. Der Mensch ist eben erst Mensch, insofern er etwas aus sich macht.« G. Böhme, Philosophieren mit Kant. Zur Rekonstruktion der Kantischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M. 1986, 223.
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Tugend und Pflicht kann man in den traditionellen Bereich der Ethik zählen.167 Das ist bei der Frage, ob Wohlgefallen an etwas und Geschmack eine moralische Qualität haben könnten, schon durchaus nicht mehr so offensichtlich. Kant beantwortet sie vorsichtig-positiv: Geschmack führt zu Gesittetheit. Dies ist zwar ein durchaus äußerer Zustand, aber doch einer, der zur »Beförderung der Moralität« geeignet ist: »Den Menschen für seine gesellschaftliche Lage gesittet zu machen, will zwar nicht ganz so viel sagen, als ihn sittlich-gut (moralisch) zu bilden, aber bereitet doch, durch die Bestrebung, in dieser Lage anderen wohlzugefallen (beliebt oder bewundert zu werden) dazu vor.«168 Ähnliches gilt unter anderem für bestimmte Affekte.169 Man kann und soll diskutieren, ob alle diese Beispiele überzeugend sind. So endet der erste Teil der Anthropologie mit einer Erörterung, wie denn eine Tafelrunde beschaffen sein müsste, die gedanklich anregend zu sein verspricht. Kant diskutiert die ideale Anzahl der Beteiligten, stellt fest, dass es sich um eine Herrenrunde handelt sollte und hält unter anderem Konversationsregeln parat.170 Das kann man durchaus etwas wunderlich oder altbacken finden. Kant selbst klassifiziert die Erwägung gegenüber den Reflexionen der reinen Moral gegenüber als »unbedeutend«, fügt aber hinzu, dass es äußere Bedingungen für gelingende Gespräche nun einmal gibt.171 Denkt man an die Festlegung der Trinkregeln zu Beginn von Platons Symposion, unstreitig einem der grundlegenden Texte der westlichen Philosophie, so befindet er sich damit durchaus in guter Gesellschaft.172 Mag hier also mehr ernstlich zu Erwägendes vorhanden sein, als es einer oberflächlichen Lektüre scheint, so ist das in den ganz in der Konvention des 18. Jahrhunderts gearbeiteten Passagen über die unterschiedlichen Rollen von Mann und Frau gewiss nicht der Fall, und auch dass Kant dabei den »Zweck der Natur bei Einrichtung der Weiblichkeit« bemüht,173 macht die Sache nicht besser, sondern ist nichts anderes als eine falsche Essentialisierung volatiler Rollenzuweisungen.
167 168 169 170 171 172 173
Kant, Anthropologie BA 35–39. Beide Zitate: Kant, Anthropologie BA 191. Kant, Anthropologie B 219–222. Kant, Anthropologie B 244–250. Kant, Anthropologie B 250. Symp 176a–178a. Kant, Anthropologie B 283–295, Zitat B 286. Angesichts der zwar noch unabgeschlossenen, aber in vielen Teilen dennoch höchst beeindruckenden Erfolgsgeschichte der Emanzipation und ihrer akademischen Etablierung in den Gender Studies scheint mir die Behauptung von Gernot Böhme, der diesbezügliche wissenschaftliche Fortschritt habe »den Verfall einer bestimmten Art von Wissen mit sich gebracht und damit diesen Bereich dem Irrationalismus, d. h. individuellem oder diffus kollektivem Vorurteil überantwortet«, schlicht falsch zu sein. (Philosophieren mit Kant 220)
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Hier und an anderen Stellen finden sich argumentative Untiefen, die auch nicht überspielt werden sollten. Systematisch wichtiger ist jedoch eine andere Frage: Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht erstrebt den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit und also die Herrschaft von Verstand, Urteilsvermögen und Vernunft über Trägheit und Rohheit der menschlichen Natur. In welchem Verhältnis stehen nun die drei oberen Vernunftvermögen zur Fülle der vor-vernünftigen Situierungen, die Gegenstand der Untersuchung sind? Die Antwort auf diese Frage kann durchaus überraschen und lässt sich an der Verhältnissetzung eines vorvernünftigen zu einem vernünftigen Vermögen aufzeigen: »Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler: sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung von anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen; weil ein jeder andere, daß es hiemit eben nicht herzlich gemeint sei, dabei einverständig ist, (…)«174
Diese Bemerkung ließe nun ohne weiteres eine Kritik dieser Äußerlichkeit und ein prinzipienethisches Argument erwarten, diese ›Schauspielerei‹ zu Gunsten von Freiheitskausalität aus reiner Vernunft zu unterlassen. Überraschenderweise geht der Satz aber so weiter: »(…) und es ist auch sehr gut so, daß es in der Welt so zugeht. Denn dadurch, daß Menschen diese Rollen spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt und gehen in die Gesinnung über.«175 Ergänzend, einen Absatz später: »Die Natur hat den Hang, sich gerne täuschen zu lassen, dem Menschen weislich eingepflanzt, selbst um die Tugend zu retten, oder doch zu ihr hinzuleiten.«176
Das ist wohl so zu lesen: Vorstufe bleibt Vorstufe. Aber es handelt sich offenbar um notwendige Vorstufen, die im Zuge der (Selbst-)Erziehung zur Vernunft und Autonomie ihr eigenes Recht und ihre eigene Würde haben. Die oft bemängelte Geschichtslosigkeit der kantischen Vernunftkonzeption hat hier ihr relatives Gegenlager. Und für die Frage nach einer adäquaten Stützungstheorie für den Weg zum Erziehungsziel ergibt sich Folgendes: Der Weg der Diskursethik, zuerst ideale Bedingungen des Kommunizierens zu entwerfen und dann zu fragen, ob es einen Weg zu ihnen gibt, erweist sich als Fehlabstraktion, weil er von der Praxis abstrahiert, in der jeder Diskurs, auch der der Diskursethik, eingebettet ist. Der vortheoretische Bereich ist also in seiner eigenen Würde in den Blick zu bekommen.
174 Kant, Anthropologie BA 42. 175 Ebd. 176 Kant, Anthropologie BA 44.
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Lebenswelt und Autonomie. Ein Beitrag aus der praktischen Philosophie Der Erzieher im Sinne von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist ein fürsorglicher Patriarch. Er würdigt den vortheoretischen Bereich, aber er würdigt ihn ausdrücklich als einen, den alle zwar durchschreiten, aber tatsächlich hinter sich lassen sollten. Genauer: Auch derjenige im Sinne Kants, der Verstand, Urteilskraft und Vernunft zu gebrauchen imstande ist, wird die sozialen Vermittlungsformen nicht verlassen. Immer wieder werden sie ihm in vermeintlicher Äußerlichkeit die Betätigung der Vernunftvermögen ermöglichen. Aber er hat ihre Vorläufigkeit und auch ihren Trug definitiv durchschaut. Im platonischen Bild gesprochen: Der vernunftautonome Mensch hat die Höhle verlassen und kennt die Wahrheit. Aus lebenspraktischen Gründen kehrt er in die Höhle zurück. Dass Schattenbilder wirklich nur Schattenbilder sind und was Freiheit von der Fesselung bedeutet, weiß er allerdings. Der Erzieher kann deswegen nur das Ziel haben, seine Zöglinge ihm gleich werden zu lassen und das heißt, in einen wesentlichen Zustand der Ungleichheit zu allen anderen zu bringen. In diesem Abschnitt gehe ich der Intuition nach, dass die Würdigung der vortheoretischen Welt, wie sie mit Kants Spätwerk gegen die heutigen Vertreter der Prinzipienethik betont werden kann, ein richtiger Schritt ist, aber noch nicht weit genug geht. Die vortheoretische Lebenswelt ist nicht nur Vehikel zu Vernunft und Autonomie. Sie ist vielmehr deren wesentliche Konstitutionsbedingung. Das ist unter Bezug auf einen Beitrag zur praktischen Philosophie von Rang zu explizieren und dann wiederum auf die Frage zu beziehen, warum in den Lebensvollzug anderer Menschen erzieherisch eingegriffen werden darf. Zugleich zeigt sich in dieser Darstellung diejenige Konzeption von Autonomie, auf deren Folie ein explizit theologisches Konzept von Autonomie entfaltet werden kann. Immanuel Kants ›unsaubere Ethik‹ in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht kann als Kritik an heutigen kantisch inspirierten Ethiken gelesen werden und weist nachdrücklich auf den Eigenwert der alltäglichen Lebenswelt. Das gilt auch und gerade dann, wenn eine Lektüre im Abstand von über 200 Jahren nur zu deutlich macht, wie sehr sich die Lebenswelt in den bildungsnahen Milieus Mitteleuropas verändert hat. Die hier vorzustellende Konzeption begrüßt diesen Schritt durchaus, zeiht ihn aber der Halbherzigkeit: Lebenswelt ist kein Vehikel und kein Objekt, sie ist vielmehr in basaler Weise sinnkonstitutiv. Das ist der Leitgedanke aus Thomas Rentschs bereits zitierter Studie »Die Konstitution der Moralität«. Auf der Basis von Überlegungen, die in innovativer Weise Einsichten aus der Lektüre von Werken Ludwig Wittgensteins und Martin Heideggers zusammenführen,177 legt Rentsch eine Strukturbeschreibung des 177 Th. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen der Anthropologie, Stuttgart 1985.
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alltäglichen Menschseins vor. Durchgängig gelten dabei zwei kritische Einsichten: Es ist zum einen nicht so, dass die Welt einerseits aus Fakten und andererseits aus Normen und Idealen bestünde. Diese Basisannahme der Prinzipienethik wird sich als falsch erweisen. Sowohl vermeintlich objektive Dingbeschreibungen als auch vermeintlich reine Normen sind nur im Rahmen von Handlungs- und Diskursprozessen zu haben. Zum anderen: Die Analyse der alltäglichen Lebenswelt wird die wesentliche Gemeinschaftlichkeit des Menschseins herausstellen. Insofern ist Heideggers Existentialanalyse fatal einseitig und als Interexistentialanalyse neu aufzusetzen. Die für unsere Zwecke wichtigsten Beobachtungen und Argumente aus diesem Entwurf sind diese: Rentsch fragt zunächst, ob es Bedingungen gibt, die für jede mögliche menschliche Situation gelten und insofern transzendental sind. Er nennt dies Bedingungsgefüge »Grundsituation« und beschreibt unter allem folgende Teilaspekte der Grundsituation: (1) Situationalität: »Wir leben stets eingebunden in bestimmte Situationen. (…) Einzig und allein in ihnen sind uns unsere eigenen Handlungen und Intentionen überhaupt zugänglich und verständlich. (…) Jede überhaupt mögliche (denkbare, fingierbare) Bewegung des Lebens hat eine von ihr unablösliche relevante Umgebung, einen Kontext von sinnkonstitutiven Bezügen, in dem sie allererst erscheint.«178 Nichts im Leben – kein leibhafter Vollzug, kein Gedanke, kein nur je ausdenkbares Ereignis – ist ohne situativen Horizont. »Situationen zählen daher zu den Möglichkeitsbedingungen von Erscheinungen.«179 (2) Menschliches Leben kann nicht anders, als sich zu sich selbst zu verhalten. Weil dies aber – Bedingung (1) – nicht anders als situativ vonstatten geht, kann das Selbstverhältnis nicht im cartesischen Sinn als subjektivistische Innenschau des Individuums gedacht werden. Das Paradigma der Bewusstseinsphilosophie zeigt sich vielmehr als Fehlabstraktion.180 Unhintergehbar ist ferner (3) die Sprachlichkeit des Lebens. Das gilt – Rentsch greift hier auf Wittgensteins bekanntes Privatsprachenargument zurück – auch und gerade für die Selbstverständigung: Sie ist anders als sprachlich nicht möglich, Sprache aber eine sozial vermittelte Größe.181 Zu diesen drei wichtigsten unhintergehbaren Bedingungen menschlichen Lebens treten noch einige andere, die als Näherbeschreibung verstanden werden können. Rentsch nennt unter anderem:182
178 179 180 181 182
Rentsch, Konstitution 68f. Rentsch, Konstitution 69. Rentsch, Konstitution 72f. Rentsch, Konstitution 74–76. Rentsch, Konstitution 76–93.
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(4) Jedes Weltverhältnis ist in Handlungszusammenhänge eingebettet – es ist also nicht so, dass die Welt primär aus Dingen und sekundär aus Gedanken über sie bestehen würde. (6) Menschen müssen immer an einem Ort sein. (7) Menschliches Leben ist zeitlich verfasst, in endlicher, irreversibler und unwiederbringlicher Weise. (8) Die intersubjektive Verfasstheit der menschlichen Grundsituation.183 (10) »Alle unsere Orientierungen, Handlungen und Vollzüge sind leiblich ermöglicht, vermittelt und getragen.«184
Wenn diese Aufweise überzeugen können, dann verschiebt sich das weithin gewohnte Bild: Es ist nicht so, dass die Welt primär aus Subjekten und Objekten besteht und dass die Innenschau des Subjekts das vorzüglich zu bearbeitende Phänomen darstellt. Die Lebenswelt ist primär intersubjektiv verfasst, wogegen die Subjekt-Objekt-Relation ins zweite Glied gerät. Entsprechend gilt auch der Primat der intersubjektiven Verfasstheit der Lebenswelt gegenüber der Frage nach subjektiven menschlichen Möglichkeiten. Mit diesem Aufweis ist, klarer noch als in Kants Anthropologie, die Herabstufung der Lebenswelt zur bloßen Vorhalle der Vernunftbetätigung, zurückgewiesen: Da Menschen niemals anders als situativ, leiblich, sprachlich usw. leben können, gilt dies auch für jeden Akt der Reflexion. Mehr noch: Die geläufige Annahme, es gäbe einerseits Dinge (und Zustände) und andererseits Ideale, wird zurückgewiesen. Rentsch zeigt dies durch die Analyse einer Reihe von Sprechakten: Alltagssprachlich sind Sätze, in denen es rein um Fakten geht, natürlich vorhanden, aber bei weitem nicht dominierend. Der Satz ›Sind das da unten im Tal Tiere oder Menschen?‹ etwa ist einer, der nur nach einem Faktum fragt, weil er eine biologische Differenzierung verlangt. Das ist bei dem Satz: ›Hat er sich dir gegenüber wie ein Mensch verhalten?‹ aber sofort anders, weil ein normativer Aspekt dazu kommt – und dies nicht als sekundär herangetragene Wertung, sondern unmittelbar im Sinngefüge des Satzes. Sätze, »mit denen wir 1. bestimmte Unterscheidungen im Bereich der Faktizität treffen, mit denen wir 2. aber zugleich Differenzierungen im Bereich des Normativen verbinden«,185 sind lebensweltlich hoch signifikant. Daraus ist zu schließen, dass unsere – u. a. wesentlich sprachlich bedingte, s. o. Punkt (3) – Welt »nicht in Fakten einerseits und
183 »Im Horizont meines Lebens, in seinen mannigfachen Situationen, erscheinen andere Menschen, die unüberbietbar ›real‹ in meine eigenen Handlungen und Orientierungen einbezogen sind und eingreifen.« Rentsch, Konstitution 84. 184 Rentsch, Konstitution 88. 185 Rentsch, Konstitution 198, i.O.herv., vgl. 201.
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Ideale andererseits zerfällt.«186 Entsprechend kann das Ziel erzieherischer Eingriffe auch nicht sein, von der bloßen Tatsächlichkeit zur Verwirklichung des Ideals zu führen. Erzieherische Eingriffe in das Leben anderer zeigen sich dann vielmehr als Arbeit an Orientierungsdefiziten in der Lebenswelt selber. Es ist zu erwarten, dass die vorgetragene Analyse Folgen für das Konzept der Autonomie bzw. Mündigkeit – die beiden fürs erste als Synonyme genommen – hat. Denn sie geht ja mit der Kritik des subjektivitätstheoretischen Paradigmas einher, demgemäß Menschen sich durch weltlos-geistigen Selbstbezug in der unanschaulichen Innenwelt ihrer selbst bewusst werden und entsprechend Autonomie als irrtumsarmen, zuverlässigen und handlungssteuernden Selbstbezug erleben und darstellen können. Was also tritt an die Stelle des Autonomiekonzepts im Subjektivitätsparadigma? Zunächst einmal, und das dürfte nach dem Gesagten ohne weiteres einleuchten: Autonomie ist kein utopisches und fiktives Ideal. Sie wird in den situativen Zusammenhängen je nachdem erlebt oder ersehnt. Freilich ist genaueres Zusehen nötig, denn sofern Autonomie nicht einfach ›da‹ ist, andererseits aber auch nicht als Ideal gedacht werden soll, muss wie das überschießende, kontrafaktische Moment der Autonomie soll gedacht werden können. Rentsch weist dafür zuerst einige Missverständnisse ab, unter ihnen, dass Autonomie ein factum brutum wäre oder aber legalistisch verordnet werden könnte. Wie aber lässt sich dann denken, dass die Bestimmung des Menschen zur Autonomie nicht einfach vorhanden ist und also geltend gemacht werden muss? Antwort: »Autonomie ist nicht als Eigenschaft einzelner Subjekte, sondern selbst als kommunikatives Interexistential allein richtig zu verstehen.«187 Es muss ein Außen für ein Innen gedacht werden können, dieses Außen muss ermutigende oder im Bedarfsfall auch korrigierende Funktion haben. Was dafür aus der Analyse der Konstituentien der Lebenswelt gleichsam zur Verfügung steht, ist die wesentlich gemeinschaftliche Dimension des Lebens: Es ist wesentlich intersubjektiv verfasst. Im intersubjektiven Austausch werden Konzepte wie Autonomie möglich. Er ist es auch, der, denkt man an therapeutische Prozesse, zur Wiederherstellung beschädigter Autonomie oder, im juristischen System, zur Einhegung überdehnter Konzeptionen von Autonomie verhilft. Die Basis für diese Konzeption von Autonomie bildet die Annahme, dass Menschen einander wechselseitig zu Menschen konstituieren. Die gemeinsame Welt und ihre Sprache tritt nicht sekundär zu vorhandenen Individuen dazu, vielmehr verhält es sich so, »daß wir Menschen werden (im Sinne der Konstitution einer menschlichen Welt, nicht lediglich genetisch), indem wir in die 186 Ebd., vgl. 206. 187 Rentsch, Konstitution 217, i.O.herv.
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kommunikative Realität einer gemeinsamen Welt eintreten. In dieser kommunikativen Realität lernen wir uns selbst allererst kennen. Vor und außerhalb der kommunikativen Realität von ›uns‹ zu reden, hat gar keinen Sinn.«188 Der Leitbegriff des Abschnitts (»Interexistentialität«) verdankt sich einer grundständigen Kritik an Martin Heideggers Existentialanalyse in ›Sein und Zeit‹: Dort erscheinen gemeinschaftliche Vollzüge nur analog zu Dingvollzügen und der Entwurfscharakter des Lebens ist streng aufs Individuum bezogen. Rentschs Analysen kulminieren im Vorwurf eines »verzeitlichten und verweltlichten Cartesianismus«.189
In diesem Ansatz ist die Vorstellung von – vorhandener oder noch zu erringender – Autonomie weitestmöglich aus der Perspektive des Individuums herausgerückt. Er teilt die Meinung, dass Autonomie errungen werden muss und entsprechend nicht einfachhin vorhanden ist, aber er schlägt vor, dass dies anders als intersubjektiv überhaupt nicht möglich ist, genauer: dass das zu Erringende eine nicht anders als intersubjektiv vorhandene Größe ist. Anders dürfte die Rede vom Interexistential wohl kaum zu verstehen sein. Die, wenn man so will, Ontologie von Autonomie wird von Aspekten der Selbsthabe hin zur Wünschbarkeit und Tatsächlichkeit gemeinschaftlicher Prozesse verschoben. Entsprechend ändert sich nun auch der Blick auf den Weg zur Autonomie. Hatte der eingangs zitierte Micha Brumlik eine Pflicht zur Erziehung auf der Basis eines Klugheitsarguments – mündige Menschen haben erfahrungsgemäß größere Chancen in der uns vertrauten und auf absehbare Zeit sich an diesem Punkt wohl auch nicht ändernden Lebenswelt, also sollten Heranwachsende zur Mündigkeit befähigt werden –, so kommt unter dem Blickwinkel der Interexistentialität die Unverzichtbarkeit der Lebensgestaltung in den Blick: Menschliches Leben kann nur gestaltet gelebt werden. Wegen der sehr langen Reifungsprozesse hat dies unvermeidliche Asymmetrien zur Folge: »Die Menschen sind lernfähig und lernbedürftig, und hierauf gründen sich Formen der interexistentiellen Asymmetrie und Ungleichheit, Formen der Dominanz in der Gestalt sinnvoller Möglichkeiten von Autorität. (…) Die generationellen Asymmetrien bedingen es, daß Menschen in die volle Gliederung der Grundsituation in praktischer Hinsicht erst hineinwachsen.«190 Im Gegensatz zum Autonomiebegriff der diskursiven Tradition lassen sich zwei Hauptunterschiede benennen: (1) Die alltägliche Lebenswelt ist nicht nur Durchgangsstation und Vehikel der Autonomie, sie ist vielmehr deren wesentliche Möglichkeitsbedingung und Bewährungsinstanz. (2) Autonomie ist we188 Rentsch, Konstitution 164. 189 Rentsch, Konstitution 154. Vorarbeiten hierzu bei ders., Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 22003, bes. 261–286.451–460. 190 Rentsch, Konstitution 175f.
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sentlich ein zwischenmenschliches Phänomen und würde geradewegs verfehlt, wenn sie zum ›Besitz‹ oder zur Eigenschaft von Individuen erklärt würde. Mit Bemerkung (2) ist ausdrücklich nicht die Behauptung verbunden, diskursive Modelle würden Autonomie als Egoismus verstehen. Freilich müssen sie, um dies zu ermöglichen, regelmäßig ein Widerlager einbauen, dergestalt, dass die mündig/autonom gewordene Person nichts anderes wünschen kann als dass andere auch dazu gelangten. Der Rentsch’sche Weg erscheint durchaus direkter und hat den nicht gering zu veranschlagenden Vorteil einer nichtreduktiven Anthropologie für sich.
Wege zur Mündigkeit in theologischer Perspektive. Eine Skizze Die Zeit der schroffen Entgegensetzungen ist mit guten Gründen vorbei. In ihnen wurde der Theologie unterstellt, sie könne freiheitliche Bestrebungen nicht unterstützen, weil sie der Unterwerfung des Menschen unter Gott das Wort zu reden hatte – umso schlimmer, wenn dergleichen mit unüberhörbarer Demokratiekritik von Theologen selbst vorgebracht wurde. So also – gottseidank, möchte ich dazu fügen dürfen – nicht (mehr). Eine Skizze, wie theologische Erwägungen die hier diskutierten Entwürfe in Sachen Erziehung zur Mündigkeit aufnehmen und von ihnen profitieren könnten, ist gleichwohl angebracht. Denn bei aller Unsäglichkeit autoritaristischer Denkfiguren in der Theologie ist ja klar zu sehen, dass das Thema Mündigkeit und die Erziehung zu ihr ein theologisch pikantes Thema darstellen: Die Behauptung ist theologisch gesetzt, dass des Menschen bester Teil in seiner Beziehung zu Gott besteht und dass es dabei um Größen geht, die Menschen nicht mündig hervorbringen, sondern die ihnen vielmehr in der Souveränität von Gottes Gnade zukommen: Rechtfertigung, Annahme, Einweisung ins gelingende Leben. Verträgt sich das mit Konzeptionen von Mündigkeit, zumal mit den hier diskutierten? Ich will zeigen, dass die hier zuletzt nach Thomas Rentsch skizzierte Konzeption theologisch überraschend anschlussfähig ist. Die theologischen Optionen in Sachen des Verhältnisses von Abhängigkeit und Mündigkeit lassen sich in zwei hauptsächliche Lager einteilen: Es gibt (1) Theorien, die die Abhängigkeit von Gott vor allem als grundlegende schöpfungstheologische Aussage verstehen und Mündigkeit entsprechend als Kompetenzerwerb auf dieser Grundlage verstehen. Das andere Lager (2) denkt Präsenz und Wirksamkeit Gottes stärker aktualistisch und erprobt in Sachen Mündigkeit deswegen vor allem Gedankenfiguren der Interaktion. Richtung (1) lässt sich mit Blick auf Grundentscheidungen in Friedrich D.E. Schleiermachers epochaler Glaubenslehre skizzieren. Dort wird in erster Näherung die Präsenz Gottes im Rahmen einer Selbstbewusstseinstheorie entfaltet:
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Neben Akten des Erkennens und des Handelns, die jeweils auf ein Objekt gerichtet sind, gibt es ein unmittelbares Moment im Selbstbewusstsein. In diesem werden Menschen dessen inne, dass sie sich selbst nicht gesetzt haben und dass sie sich an der Basis ihrer Existenz einem ihnen externen Grund verdanken, der als Objekt jedoch nicht benennbar ist. Das beschreibt Schleiermacher durch die bekannt gewordene Formulierung über das ›Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‹: »Allein das unsere gesamte Selbsttätigkeit (…) begleitende, schlechthinnige Freiheit verneinende Selbstbewußtsein ist schon an und für sich ein Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit; denn es ist das Bewußtsein, daß unsere ganze Selbsttätigkeit ebenso von anderwärts her ist, wie dasjenige ganz von uns her sein müßte, in Bezug worauf wir ein schlechthinniges Freiheitsgefühl haben sollten.«191
Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit selbst kann offensichtlich nicht der Ort von Mündigkeit und Autonomie werden. Wohl aber weist er ihr den Ort an, denn es ist mit einer Konzeption einer reifen Freiheit zu verbinden: Freiheit, die ihren Namen verdient, weiß darum, dass sie nicht schlechterdings frei ist, sondern dass sie in ihrem Kern stets geschenkte, verdankte Freiheit ist. Der Weg zu Mündigkeit und Autonomie ist folglich einer, der die Bedingtheit und Endlichkeit der Freiheit stets einrechnet. Das zeigt sich auch in den Pädagogik-Vorlesungen, die Schleiermacher dreimal hielt. Dort stehen die Bemerkungen zur religiösen Erziehung ganz am Schluss. Das mag zunächst überraschen, ist aber folgerichtig. Denn Schleiermacher legt dem Aufriss seine seit den Reden von 1799 bekannte Dreigliederung in Sittlichkeit, Wissenschaft und Religion zugrunde: Sittlichkeit beschreibt die aus dem Menschen herausgehenden Akte und Wissenschaft die Bedingungen der Möglichkeit, Welt wahrzunehmen, also gleichsam die in den Menschen hineingehenden. Religion ist, wie weidlich bekannt, für Schleiermacher keines der beiden. Entsprechend trägt er zuerst die sittliche und dann die wissenschaftliche Erziehung vor, um mit der Frage nach der religiösen Bildung zu schließen: »Die Sittlichkeit beruht auf dem Bewusstsein des Menschen von der Identität des Einzelnen und der Gattung (…). Das Religiöse beruht auf dem Bewusstsein gewordenen Verhältnisse des Menschen zur ursprünglichen Quelle alles Lebens und Seins.«192 Hier ist mit den normalen Mitteln der Erziehung gar 191 F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von M. Redeker, Berlin u. a. 71960 (Text der 2. Auflage 1830/31), I, 28. 192 F.D.E. Schleiermacher, Pädagogik. Die Theorie der Erziehung von 1820/21 in einer Nachschrift, hg. von C. Ehrhardt und W. Virmond, Berlin/New York 2008, 260. Synoptische Fragen mit Blick auf die Pädagogik-Vorlesungen von 1813 und 1826 können hier außer Betracht bleiben. Allenfalls der Hinweis mag nützen, dass in der im akademischen Jahr nach dieser Pädagogikvorlesung vorgetragenen ersten Fassung der Glaubenslehre die nur knapp
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nichts zu gewinnen, allenfalls durch persönlichen Kontakt und Vorbild, die Schleiermacher »unmittelbare[n] Einwirkung« nennt.193 Einen Fehler machte überdies, wer meint, das Thema der Religion instrumentalisieren zu können, um etwa in der ethischen Erziehung weiterzukommen. Vielmehr: »Das Bewusstsein des Menschen von seinen Verhältnissen zum höchsten Wesen muss vorausgesetzt werden, wenn über Erziehung gehandelt werden soll.«194 Das Bild ist also ähnlich wie in der Glaubenslehre: Das Gottesverhältnis ist Grund, nicht aber Gegenstand der Frage nach Mündigkeit und Autonomie. Ganz sicher fände der nicht den Weg zur Autonomie, der sich als auf sich selbst begründet verstünde. Autonomie kann aber bei Strafe des Selbstwiderspruchs auf der anderen Seite nicht darin bestehen, uneingesehene Weisungen anderer bloß entgegenzunehmen – das hält Schleiermacher dem Supranaturalismus als seinem Lieblingsgegner in der Glaubenslehre oft genug vor. Es ergibt sich, dass Autonomie nur auf der Basis begriffener Abhängigkeit wird ausgebildet werden können, zugleich der Prozess zur Autonomie aber kein spezifisch theologischer oder religiöser ist. Ein ähnliches Bild ergibt sich mit Hinblick auf Schleiermachers systematische Philosophie, die doppelt so oft als Vorlesung vorgetragene Dialektik. In verzweigten Argumentationen, die eine nähere Betrachtung allemal rechtfertigen würden, geht er vor allem der Frage nach, welcher Natur das Denken ist und bestimmt es wesentlich als Gespräch mindestens zweier Teilnehmer – gewiss ein Ergebnis der jahrelangen Arbeit an der Platon-Übersetzung. Was voraussetzt, wer meint, Hemmungen im Gespräch überwinden zu können, wird danach näher in den Blick genommen: Es muss sich um die Idee des Wissens selbst handeln, weil man von ihr mindestens eine Ahnung haben muss, soll die Behauptung, eine Schwierigkeit erfolgreich ausgeräumt zu haben, denn erfolgreich sein. Was Wissen begründet, kann aber nicht gut selbst Gegenstand des Wissens sein.195 Da Denkende aber beständig auf ihn rekurrieren, ist er für sie unthematisch präsent, in Schleiermachers Terminologie: im unmittelbaren Selbstbewusstsein.196 Dessen Struktur ist – wie eine angemessene Darstellung anstelle dieser Notiz zeigen könnte – identisch mit der des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit. Wieder zeigt sich: Im Versuch, zu Wissen zu gelangen – nicht nur, aber auch daraus besteht der Weg zur Mündigkeit – ist die religiöse Dimension nicht Gegenstand, aber der sie ständig begleitende Grund.
193 194 195 196
skizzierte Theorie des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls am neuralgischen Punkt bereits völlig klar war: Es kann sich nur um ein »reines Gefühl der Abhängigkeit« und nie um etwas handeln, das zu irgendetwas anderem in einem »Verhältniß der Wechselwirkung« steht, F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube 1821–1822. Studienausgabe Bd. 1, hg. von H. Peiter, Berlin/New York 1984, 32. Ebd. Schleiermacher, Pädagogik 261, Herv. d. Verf. F.D.E. Schleiermacher, Dialektik, hg. von R. Odebrecht, Darmstadt 1976, 115. Schleiermacher, Dialektik 186f.189.
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Der Umriss des theologischen Konzepts von Mündigkeit (1) sollte damit deutlich sein. Seine Stärken liegen in recht guter Vermittelbarkeit – dass Freiheit je verdankte Freiheit ist, enträt nicht einer allgemeinen Plausibilität – und in der Vielgestaltigkeit, in der sich dann über Mündigkeit sprechen lässt: Theologischinhaltliche Spezifika werden nicht erwartet. Genau an diesem Punkt melden sich dann freilich auch die Bedenken: Ist es wirklich so, dass es keine eigene theologische Wortmeldung zum Thema der Mündigkeit gibt?197 Das lässt sich durchaus bezweifeln, und genau hier versucht Typ (2) andere Wege zu gehen. Die Grundüberzeugung von Typ (2) lässt sich als aktualistisch bezeichnen: Gott ist absichtsvoll, wirksam und unterscheidend in der Welt gegenwärtig. Menschliche Autonomie entsteht, indem man sich auf diese Welt und Menschen verändernde Präsenz einlässt, und also in einem lebendigen, durchaus nicht einlinigen und kaum je vollständigen Prozess von Wechselwirkungen. Der Blick auf einige Bestimmungen in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik kann das Gemeinte verdeutlichen.198 Wer die Welt und Menschen verändernde Präsenz Gottes behauptet, ruft die theologische Tradition auf, von Prädestination und Erwählung zu sprechen. Im 197 In der Schleiermacher-Rezeption hat das mitunter zu Konzeptionen geführt, die das Gotteskonzept noch weiter in die Inhaltslosigkeit drängen. So hat unter Berufung auf Schleiermacher etwa Christian Danz in seiner Studie zum Problem des Wirkens Gottes erklärt, dass die Chiffre ›Allmacht Gottes‹ ein Momentum der Selbstklärung des Bewusstseins sei, in dem dieses seiner Endlichkeit innewerde: »Im Gottesverhältnis bezieht das religiöse Individuum seine eigene kontingente Lebensgeschichte auf eine Notwendigkeitsdimension, die es ihm erlaubt, diese als notwendigen Bestandteil endlichen Lebens anzuerkennen. Die Kontingenz des eigenen Lebens wird also im Vorsehungsglauben dadurch vom Individuum anerkannt und angeeignet, dass es in einen Totalitätshorizont gestellt und von diesem her einer Neubestimmung unterzogen wird. Kontingente Schicksalsschläge, Krankheit, Tod und Fremdheit werden auf diese Weise als ein notwendiger Bestandteil endlichen Lebens vom Individuum angeeignet. Das Gottesverhältnis ist also sowohl der Ausdruck als auch der Vollzug des Sich-Erfassens der endlichen Selbstbestimmung in seiner bleibend ambivalenten Struktur.« C. Danz, Wirken Gottes. Zur Geschichte eines theologischen Grundbegriffs, Neukirchen-Vluyn 2007, 216. – Hier zeigen sich mindestens zwei erhebliche Probleme: (1) Wenn das Verhältnis zu Gott Integral des Selbstbewusstseins ist, was heißt das für die Behauptung, Gott existiere unabhängig von unseren Gedanken über ihn? (2) Wenn Religiosität und Hinnahme des Zustoßenden identisch sind, wie soll dann noch von Gott gesprochen werden, der die Dinge lt. Apk 21,4 eben nicht so sein lässt, wie sie sind? 198 Damit ist ausdrücklich nicht die Weiterschreibung des mitunter für idealtypisch gehaltenen Gegensatzes Schleiermacher-Barth gemeint, den Barth selbst über lange Jahre pflegte, um ihm in einer seiner letzten Wortmeldungen mindestens teilweise den Boden zu entziehen, vgl. K. Barth, Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, hg. von H. Bolli, München/Hamburg 1968, 290–312. Zur fälligen Neujustierung des Blicks auf das Verhältnis der beiden vgl. Barth and Schleiermacher. Beyond the Impasse?, hg. von J.O. Duke und R.F. Streetman, Philadelphia 1988, bes. den Beitrag von W. Frei, 65–78; Jetzt auch Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses, hg. von M. Gockel und M. Leiner, Göttingen 2015, bes. die Beiträge von B. McCormack, 45–88 und 303–315.
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entsprechenden Paragraphen der Gotteslehre im Rahmen der Kirchlichen Dogmatik setzt Barth Erwählung als Näherbestimmung von Prädestination ein: Es ist nicht so, dass Prädestination ein von Ewigkeit her bestehender propositionaler Ratschluss Gottes wäre – Vergleichbares war in der traditionellen Rede von den decreta absoluta Dei behauptet worden –, vielmehr soll man sie sich als Handlungsvollzug vorstellen: »Der ewige Wille Gottes ist, weil er mit der Erwählung Jesu Christi identisch ist, eine göttliche Handlung in Gestalt einer zwischen Gott und dem Menschen stattfindenden Geschichte, Begegnung und Entscheidung.«199 Entsprechend ist die Metapher der Erwählung für die Sache besser geeignet als die prima vista doch starr anmutende Prädestination. Erwählung nun hat es, überraschend oder nicht, mit der Autonomie des Menschen zu tun: Wenn und weil Gott Menschen erwählt, ruft er sie in die Gemeinschaft mit sich. Das aber ist nichts anderes als ein Akt der Bejahung dieses Gegenübers. Die Bejahung einer bloßen Gnadenmarionette wäre freilich nichts als ein ziemlich seltsamer Selbstwiderspruch. Vielmehr: »Es schafft sich der erwählende Gott als solcher den Menschen zu einem Gegenüber, das seinerseits ihn erwählen und damit als der erwählte Mensch sich bewähren und betätigen darf und wird, das eben im Glauben die Selbsthingabe Gottes (…) annehmen und auf Grund dieser Selbsthingabe sein eigenes Leben haben wird. Es ist also ganz schlicht, aber auch ganz umfassend die Autonomie des Geschöpfs, die im Akte der ewigen göttlichen Erwählung ursprüngliches Ereignis ist und legitime Wirklichkeit wird.«200
Autonomie entsteht ausweislich dieses Zitats im Rahmen von Interaktionsprozessen. Es ist nicht übertrieben, hier die theologische Lesart dessen zu sehen, was Thomas Rentsch Interexistential nennt: Gott hat im Erwählungsakt, in dem er sich selbst entspricht, sich auf das Gegenüber eingelassen. Und zugleich gilt für das menschliche Gegenüber: Was Autonomie genannt zu werden verdient, wird allererst in der bewährenden und betätigenden Antwort auf die Erwählung zur Wirklichkeit. Autonomie ist ausweislich des letzten zitierten Wortes ferner prozesshaft zu denken: Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist nicht fertig, sondern je unterwegs. Dass Prädestination hier nicht einen vorzeitigen Akt des Bestimmens und damit ein über den Menschen verhängtes Fatum meint, hat seinen Grund in der Basisentscheidung von Barths Erwählungslehre: Erwählung ist vorzüglich christologisch bestimmt. Christus ist »der Erwählende und der Erwählte«.201 Im Christusereignis bestimmt »Gott in freier Gnade sich selbst für den sündigen
199 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik II/2, Zürich 51974, 192. Sperrungen im Original hier durchgängig kursiv. 200 Barth, KD II/2, 194. 201 Barth, KD II/2, 101.
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Menschen und den sündigen Menschen für sich«.202 Erwählung geschieht also da, wo Gott und Mensch auf Augenhöhe zusammenkommen. Des Menschen Antwort wird erbeten, wohl sogar gefordert. Aber sie kommt genau nicht mit der Zwangsvorstellung, die dem alten Dekretedenken innewohnt – zumindest in seinen fehlabsolutierten Formen. Das bringt noch eine weitere theologische Pointe mit sich: Der erwählte Mensch ist zur Antwort gerufen, und zwar zu der, »daß er seinerseits Gott wählt«,203 also zu Akt und Tat des Glaubens. Ist das, so kann man sofort zurückfragen, noch Autonomie, von der hier nur wenige Zeilen und bei Barth nur wenige Seiten zuvor die Rede war? Die Antwort ›ja‹ ist erläuterungsbedürftig. Um abstrakte Autonomie im Sinne einer Selbsthabe um der Selbsthabe willen handelt es sich offenkundig nicht. Barth behauptet vielmehr, dass die Vernunft als Trägerin der Autonomie kein neutrales Vermögen ist. Wie der ganze Mensch untersteht sie der Macht der Sünde, so dass man davon ausgehen muss, dass es falschen und deformierten Vernunftgebrauch gibt. Das Freiheitsversprechen, auf Gottes Erwählung zu antworten, ist deshalb nicht formal allein bestimmbar, so als habe eben niemand anders an der Entscheidung mitgewirkt. Vielmehr zeigt sich diese Freiheit inhaltlich: Eigenheit und Selbständigkeit, die den Namen verdienen, sind Eigenheit und Selbständigkeit vor Gott. Die argumentative Durchführung dieses Postulats ist aufwendig, weil inhaltlich gezeigt werden muss, was als rechter und gelingender Freiheitsgebrauch zu verstehen ist – der Nachweis im Sinne einer Theorie negativer Freiheit allein genügt ja nicht. Dies geschieht bei Barth neben der Erwählungslehre vor allem in der Versöhnungslehre, bei der der Mensch als derjenige in den Blick kommt, den Gott erwählt hat und dessen Leben sich entsprechend anders darstellt.204 Nurmehr einige Andeutungen dazu: § 66 der KD heißt »Des Menschen Heiligung« und handelt, so ist im Paragraphenleitsatz zu lesen, von der »Erhebung des Menschen«, die nichts weniger ist als »die Erschaffung von dessen neuer Existenzform als Gottes getreuer Bundesgenosse«.205 Dies stellt sich für Barth als menschliche Entsprechungen zur 202 Ebd. 203 Barth, KD II/2, 197 204 Einige neuere Entwürfe zur Anthropologie können als Durchführung der Behauptung gelesen werden, Anthropologie sei nur in ihrer materialen Durchführung interessant, nicht jedoch als fundamentaltheologische Etüde zu – mitunter – apologetischen Zwecken. Vgl. hierzu besonders G. Sauter, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh 2011 und D. H. Kelsey, Eccentric Existence. A Theological Anthropology, Louisville KT 2009, vgl. Kap. I.2 in diesem Band. 205 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik IV/2, Zürich21964, 564. Der Absatz enthält Material aus M.Hailer, Wiedergeburt. Schleiermacher und Barth zu einem Kernthema der Soteriologie, in: Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses, hg. von M. Gockel und M. Leiner, Göttingen 2015, 155–182, 168–172.
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Treue und Güte Gottes dar. Diese Entsprechungen sind von der Art, dass sie als Existenz des neuen Menschen und damit als ein schöpferischer Akt Gottes beschrieben werden können. Es geht in Gottes Handeln an den Menschen um »eine reale Veränderung ihres Daseins«, um »das neue Leben eines neuen Menschen«.206 Dies veränderte Dasein und neue Leben ist von der Art, dass es »seinem Dasein, dem Dasein ihres Herrn konform wird und ist«.207 Barth betont vor allem zwei Aspekte, zum einen den Ereignischarakter des neu werdenden Lebens und dann den damit verbundenen Freiheitsbegriff. Zum ersten: Barth ist nicht darauf aus, einen Zustand des ›wiedergeborenen‹ Menschen zu beschreiben und er hebt auch nicht darauf ab, dass es sich um eine Bewusstseinstatsache oder einen Zustand des Bewusstseins handeln könnte. Die Frage, was Menschen denken und/oder wessen sie sich bewusst sind, wenn das eben stichwortartig Benannte mit ihnen geschieht, wird nicht ausgespart. Sie steht aber nicht im Fokus und sie hat folgenden Charakter: Menschen finden sich in einem Vorgang, in einem Ereignis vor, eben z. B. in dem Vorgang, in die Nachfolge gerufen worden zu sein. Der neue Mensch findet sich »unter seiner [Gottes, M.H.] Verantwortung und Disposition« stehend.208 Und zum zweiten: Gott eröffnet ein Dürfen und eine Freiheit, die von so bezwingender Art sind, dass der mit ihnen Beschenkte nicht anders kann und nicht anders will, als eben zu dürfen und sich dieser Freiheit zu bedienen: Wer frei ist, kann nur seine Freiheit in die Tat umsetzen, und indem er oder sie das tut, findet er oder sie sich bereits vom Müssen des alltäglichen Getriebenseins befreit.209 Tat und Präsenz Gottes sind so, dass die alltägliche Getriebenheit des Alltags durchbrochen wird. Das sich dann eröffnende Reich der Freiheit ist nicht primär von der Art, dass Freiheit als Wahlfreiheit im Blick wäre, eines nun zu tun oder zu lassen. Vielmehr ist dies Reich der Freiheit eines, in dem der Befreite sich vorfindet und in dem er gar nicht anders kann als das freiheitlich Naheliegende zu vollziehen. Freiheit ist: Der Mensch darf mit seinem Werk am Werk Gottes teilnehmen.210 So viel als Skizze zum zweiten Modell, unter theologischen Prämissen ein Konzept von Mündigkeit zu entwickeln. Es hat den darstellungspragmatischen Nachteil, an außertheologische Diskurse deutlich schlechter anknüpfen zu können als das erste, weil es u. a. eine biblische Hermeneutik voraussetzt und anders als offenbarungstheologisch gar nicht vorgehen kann. Dieser Nachteil wird aber dadurch kompensiert, dass die Fülle der Themen einer materialen Dogmatik zur Verfügung stehen – wirksames Gegenmittel gegen die Tendenz zur 206 207 208 209 210
Barth, KD IV/2, 598 bzw. 634. Barth, KD IV/2, 599 Barth, KD IV/2 ,634. Barth, KD IV/2, 654. Barth, KD IV/2, 671.675.
Interzession. Dogmatische Erwägungen zum stellvertretenden Fürbittgebet
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weitgehenden inhaltlichen Verarmung, die an manchen Stellen in der Traditionslinie des ersten Modells aufzufinden war. An den hier vorgestellten Gedankengang in Sachen Erziehung zur Mündigkeit kann es gleichwohl gut anknüpfen: Es teilt die Kritik an der Prinzipienethik als Engführung und kann die Rentsch’sche Fassung des Autonomiebegriffs als Interexistential zur Gänze nachvollziehen. Man wird es wohl als Spezifizierung oder Regionalisierung dieser Vorstellung von Mündigkeit begreifen können: Wenn es richtig ist, dass Mündigkeit je nur in Austauschprozessen entsteht und in ihnen subsistiert, dann muss das auch für die jeweiligen konkreten Umfelder gelten, in denen Menschen leben und in denen zur Mündigkeit angeleitet werden soll. Ein sektorales sich-Einrichten kann bei Strafe des performativen Selbstwiderspruchs nicht gemeint sein. Wohl aber dies: den eigenen inhaltlichen Dialekt in Sachen Mündigkeit ins öffentliche Gespräch einzubringen.
6.
Interzession. Dogmatische Erwägungen zum stellvertretenden Fürbittgebet
Der Vorgang ist allsonntäglich: Gegen Ende des Gottesdienstes oder – je nach liturgischer Üblichkeit – vor Beginn des Eucharistie/Abendmahls-Teils fordert der Priester oder die Pfarrerin die Gemeinde auf, sich zur gemeinsamen Fürbitte zu erheben. Die Gemeinde betet um Gottes Gegenwart und Behütung in der anbrechenden Woche. Das Gebet thematisiert aber eben nicht nur die Anwesenden und das, was sie vor Gott bringen und worum sie ihn bitten: Fürbitte, die nicht stellvertretende Fürbitte für andere ist, würde kaum als Fürbitte verstanden werden. Der Gebetsakt kurz vor dem Segenszuspruch oder vor Beginn der Mahlfeier ist wesentlich einer, der Ort und Zeit derer, die zu ihm versammelt sind, überschreitet. Menschen, die möglicherweise wissen, dass für sie gebetet wird, werden in die Bitte der versammelten Gemeinde eingeschlossen, genauso aber solche, die davon gewiss keine Kunde haben, ausdrücklich auch manche von denen, die dies für sich gar explizit ablehnen würden. Dieser Vorgang mag als Vorgang im Gottesdienst einer Kirchengemeinde und für die kleineren Gebetsformen im Alltag selbstverständlich sein, so selbstverständlich sogar, dass manche Fürbitten arg routiniert klingen oder aber als ›Katastrophentourismus‹ Ausweis der mehr oder weniger wachen Zeitgenossenschaft ihres Verfassers sind. Freilich haftet dem Fürbittgebet eine Eigentümlichkeit an, die bei aller Wohlvertrautheit eigene Aufmerksamkeit verdient: Warum und mit welchem theologischen Recht wird Gott um Menschen willen angegangen, die diese Bitte selbst nicht vorbringen oder – mehr noch – sie gar für
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sich ablehnen würden? Wir haben es hier offenkundig mit einem Spezialfall des Bittgebets zu tun. Dem Bittgebet allgemein wird an anderer Stelle auf teils kontroverse Weise gebührend Aufmerksamkeit zuteil, so dass ich die Frage nach seiner Begründung und Eigenart weitgehen außer Acht lasse – die inner-evangelische Positionsmarkierung, dass mir die u. a. von Friedrich D.E. Schleiermacher und Albrecht Ritschl vorgebrachte Skepsis am Sinn des Bittgebets überhaupt nicht einleuchtet, muss es hier tun und wird, wenn Nachstehendes irgendwelche Plausibilität hat, einleuchten können. Auch außen vor bleibt die praktisch-theologische Perspektive auf das Phänomen.211 Vielmehr soll schlaglichtartig beleuchtet werden, was vor sich geht und wer die Betenden sind, wenn für andere gebetet wird. Ich benenne dafür zu Beginn eine fundamentaltheologische Implikation des Themas und entwickle sodann die theologische Struktur des fürbittenden Gebets. Im dritten Schritt wird das dahinterliegende Phänomen der Stellvertretung in theologischer Hinsicht entwickelt und im Schlussabschnitt auf die Frage bezogen, wie das Fürbittgebet im Rahmen von Gottes Stellvertretung für Menschen zu stehen kommt.
Die fundamentaltheologische Funktion des Gebets »So gewiß die Dogmatik nicht selbst Doxologie ist, so gewiß kann sie als Lehre von Gott sich nicht von der Doxologie lösen und verselbständigen, ohne Schaden zu nehmen. Die Lehre von Gott ist zwar nicht Doxologie, aber sie hat zur Doxologie hinzuführen und hat ihr zu dienen. Sie sollte darum in der Nähe der Struktur doxologischer Aussagen bleiben.«212 – Mit diesen Sätzen gibt Edmund Schlink eine Meinung wieder, die quer durch die Konfessionen anschlussfähig ist:213 Dogmatik beginnt nicht bei sich selbst sondern erhält ihre Themen aus dem Lob Gottes. Sie ist eine abkünftige Disziplin, die vom menschlichen Vernehmen und Lob Gottes herkommt und ihre Arbeit dann gut macht, wenn sie dies Vernehmen und Lob in rechter Weise orientiert und also wieder zu ihm zurückführt. 211 Informationen und Verweise bei C. Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, Berlin 2009, bes. 423ff; Hilft Beten? Schwierigkeiten mit dem Bittgebet, hg. von M. Striet, Freiburg 2010; Gott bitten? Theologische Zugänge zum Bittgebet, hg. von W. Eisele, Freiburg 2013. 212 E. Schlink, Ökumenische Dogmatik. Grundzüge, Göttingen 32005, 65. 213 Vgl. aus methodistischer Sicht G. Wainwright, Doxology. The Praise of God in Worship, Doctrine, and Life. A Systematic Theology, Oxford 1980, bes. 8–10.62–79.274–283. Dass an diesem Punkt von der Orthodoxie Wesentliches zu lernen ist, zeigen K.C. Felmy, Einführung in die orthodoxe Theologie der Gegenwart, Berlin 2011, 1–26 und J.D. Zizioulas, Lectures in Christian Dogmatics, London/New York 2008, 1–39.
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Dogmatik spricht nicht nur über das Gebet, aber alles, was sie verhandelt, kommt aus dem Reden zu Gott und führt wieder zu ihm zurück. Wenn das Gebet selbst thematisch wird, so handelt es sich also um eine Übung, die die Bedingungen dogmatischen Sprechens selbst in den Blick rückt und also ein Stück Fundamentaltheologie betreibt. Das ermöglicht zunächst Feststellungen eher allgemeiner Art, etwa die, dass Dogmatik, so sehr sie eine intellektuelle Disziplin darstellt, letztlich »nur als Glaubensakt möglich« ist.214 Das zeitigt die unmittelbare Konsequenz, dass zur Selbsteinsicht des Glaubens stets die des eigenen Unvermögens gehört, wenn denn richtig ist, dass das Gebet »der Ausdruck menschlichen Wollens des Willens Gottes« ist.215 Gebet und Dogmatik, obschon im Aktionsmodus unterschieden, haben dann dieselbe Form: dass der Mensch »Gott recht und sich selbst unrecht gibt«.216 Diese Feststellung ist weit mehr als ein rasch geäußerter Ausdruck von Bescheidenheit und Demut. Sie besagt vielmehr, dass die intellektuelle Anstrengung der Dogmatik von der Art sein muss, dass sie auf nachvollziehbare Weise spricht und also im Gestus ihres Sprechens Recht haben möchte, dies aber so, dass sie zu jeder Zeit ermöglicht, dass der, von dem sie spricht, sie ins Unrecht und sich selbst ins Recht versetzt. Dogmatik ist also immer uneigentliche, sich selbst durchstreichende Rede und präzise in ihren Äußerungsformen ein Denken aus der Umkehr heraus. Die Frage, ob diese Form dogmatischen Sprechens in der in diesen Tagen und Jahren fröhlich anschwellenden Flut dogmatischer Lehrbücher immer gesehen und geachtet wird, darf durchaus gestellt werden. Für die in diesem Band zur Prüfung vorgelegten Gedanken gilt das selbstverständlich auch. Freilich ist dies allein hier nicht das Thema. Das Gebet bestimmt auch dann die Form der Dogmatik, wenn es nicht um die basale Form, die Grundhaltung der Dogmatik allein geht. Hierzu hat der eingangs zitierte Edmund Schlink wichtige Beobachtungen beigesteuert. Zunächst konstatiert er eine relative Nähe zwischen Doxologie einerseits und Sätzen theologischer Lehre andererseits: Die Doxologie preist Gott und ruft ihm zu, wie Menschen ihn in seiner Fülle erfahren, verstehen und erhoffen. Indem sie dies tun, blenden sie ihre eigene Situation weitgehend ab. Doxologie ist also im relativen Gegensatz zu anderen Formen des Gebets eher objektivierende Anrede Gottes. Darin liegt ihre durchaus greifbare Nähe zu den Sätzen theologischer Lehre.217 Beim trinitarischen und beim christologischen Dogma etwa ist diese Nähe mit Händen zu greifen – auch wenn der gottesdienstliche Sitz im Leben der Dogmenformulierungenzu oft vergessen wurde und wird. Freilich, und das ist Schlinks zweiter Schritt, wäre es eine problema214 215 216 217
K. Barth, Kirchliche Dogmatik I/1, Zollikon-Zürich 51947, 23. Ebd. Ebd. Schlink, Dogmatik 46.
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Felder der Anthropologie, stellvertretungstheologisch betrachtet
tische Vereinfachung, nur diese eine Form des Gebets als Formberstimmung für die Dogmatik zu benennen. Das »würde nicht nur eine morphologische Verarmung, sondern auch eine inhaltliche Verkümmerung und darüberhinaus Ungehorsam gegen Gott bedeuten«.218 Das ist nun nicht eben wenig! Grund des Vorhalts ist dieser: »Doxologie ohne Bittgebet bleibt nicht mehr wahre Doxologie (…). Wo Gott nur als Er anerkannt, aber nicht mehr als Du angerufen wird, wird er nicht mehr als Vater geehrt. Wo nur die geschichtliche Heilstat gelehrt, aber nicht dem als gegenwärtige Heilstat dem Nächsten zugesprochen wird, wird Gottes Tat nicht mehr als eschatologische rettende Tat bezeugt.«219 Das wird man so verstehen dürfen: Die mehrfache Gestalt des Gebets ist nicht zufällig, sondern sachhaltig. Es ist richtig, Gott für seine Fülle und seine Taten zu preisen und entsprechend in der Dogmatik zu Lehrsätzen zu kommen, die dies diskursiv und zugleich bußfertig zu beschreiben suchen. Wer auf diese Gestalt des Gebets aber allein vertraute, würde einen unverzichtbaren Anteil der theologischen Sachlichkeit nicht in den Blick bekommen. Das Bittgebet macht deutlich, dass Gottes Vatersein darauf aus ist, hier und heute absichtsvoll, unterscheidend und wirksam gegenwärtig zu sein. Gott darf und will angegangen, ja bestürmt werden. Wer dies außer Acht ließe, bekäme entscheidende Facetten der Welt- und Menschenzuwendung Gottes nicht in den Blick. In diesem Sinne weist der Ausgang der Dogmatik vom Gebet ihr die Sachlichkeit an: Es ist nicht nur so, dass die Dogmatik weder bei sich beginnt noch bei sich endet, es ist darüberhinaus so, dass der Beginn der Dogmatik beim Gebet die Sache der Dogmatik inhaltlich präformiert. Die Bitte ist essentieller Teil des Gebets, ins Dogmatische übersetzt: Gottes Vatergüte ist von der Art, dass sie sich von Menschen in die Gegenwärtigkeit rufen lassen will. Die von Friedrich Schiller aufgezeichnete Mutmaßung: »Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen«, zeigt – in Form bürgerlicher Religiosität – genau die Halbierung an, die entstünde, verließe man sich allein auf die Doxologie. Freilich: Kann man denn sagen, dass von den Formen des Gebets her das Themenspektrum der Dogmatik vollständig erfasst wird? Das wird wohl kaum gelingen. Vielmehr stellt die lex orandi die für die Dogmatik eigentümliche Erkenntnisordnung sicher: Im Gegensatz zu eingespielten Gliederungsprinzipien der Dogmatik, die sich an der – vermuteten – Begründungsordnung orientieren, macht sie klar, dass der Entdeckungszusammenhang in Lob und Bitte unüberspringbar ist. Das allein ist noch keine Inhaltsangabe, wohl aber die Eröffnung des spezifischen kommunikativen Zusammenhangs: »Bitte und Klage, Lob und Dank setzen das kommunikative Geschehen in Gang, in welchem das Gebet das theologische Erkennen leitet. Im Gebet als einem Vorgang, in dem Gott und Mensch füreinander erschlossen werden, werden mensch-
218 Schlink, Dogmatik 40. 219 Ebd.
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liche und göttliche Wirklichkeit so zusammengesprochen, daß die menschliche Wirklichkeit im Lichte der göttlichen Wirklichkeit neu zur Erfahrung kommt.«220
Diese fundamentaltheologische Funktion des Gebets für die Dogmatik ist allerdings Grund genug, nicht nur das Bittgebet, sondern seinen Spezialfall des stellvertretenden Fürbittgebets genauer zu betrachten. Hierfür liegt es nahe, den Spieß gleichsam umzudrehen: Wenn es die fundamentaltheologische Funktion des Gebets im eben beschriebenen Sinne gibt – welche materialdogmatischen Aspekte sind denn ihrerseits von Belang, wenn es recht oder gar geboten ist, stellvertretend für andere bittend vor Gottes Angesicht zu treten?
Die Struktur der Interzession Stellvertretende Fürbitte (Interzession) hat vier Strukturelemente: Sie (1) ruft Öffentlichkeiten auf, sie (2) beansprucht fürbittwürdige Not zu benennen und sie (3) setzt performativ mit, dass es Menschen gibt, die zur Fürbitte geeignet sind. Schließlich (4) behauptet sie, dass Fürbitte sinnvolles Tun sei, also auf einen Adressaten treffe, der höre. Die mehrfache Öffentlichkeit der Stellvertretung Wer stellvertretende Fürbitte leistet, muss der Meinung sein, es sei sowohl möglich als auch geraten, an Stelle eines anderen zu treten und für ihn zu sprechen. Der Fürbittende ruft dabei mehrfache Öffentlichkeiten auf: Er eröffnet die Öffentlichkeit (a) der Zwiesprache zwischen sich selbst und dem, für den er eintritt. Ob letzterer das weiß oder nicht: Spricht einer für ihn, so hat er ihn in einen kommunikativen Zusammenhang gestellt. Zunächst besteht dieser Zusammenhang aus diesen beiden, denn es könnte ja schließlich sein, dass sonst niemand weiter an der kommunikativen Handlung beteiligt ist. Nehmen wir aber die eingangs geschilderte Situation der gemeindlichen Fürbitte, so steht die stellvertretende Fürbitte in der (b) gemeindlichen Öffentlichkeit. Wer mitbetet, macht sich die Interzession zu eigen und ist also Teil des Kommunikationszusammenhangs; wer – wie und aus welchen Gründen auch immer – ›nur‹ zuhört, ist gleichwohl Teil dieses Zusammenhangs, nun in Kenntnis darüber, wen oder was andere für der Fürbitte für würdig halten. Dieser Öffentlichkeitsaspekt kann durchaus prekärer Natur sein, weil er die, für die gebetet wird, in eine Öffentlichkeit stellt, die zur Interzession aufgefordert wird, aber nicht verpflichtet werden kann: Es wird öffentlich kund, wer nach Meinung 220 D. Hiller, Art. Gebet VII. Fundamentaltheologisch, RGG4 Bd. 3, 499f, 499.
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eines Fürbittenden dieser Fürbitte bedürftig ist. Das ist bereits (c) die zu informierende Öffentlichkeit. Das kann mit dem Anspruch geschehen, diese Öffentlichkeit zum Handeln aufzufordern oder aber sich der Fürbitte anzuschließen. Freilich ist in dieser Öffentlichkeit der Weg von der Fürbitte zum Pranger nicht sonderlich weit. Mehr als einmal wurde er gewiss absichtlich begangen, und das kaum aus Motiven, die ex post für alle Zuschauer als schätzenswert durchgehen. Ein Beispiel nur: John Lennon tat im Jahr 1966 den gewiss nicht rühmlichen Ausspruch, die Beatles seien populärer als Jesus Christus. Darauf kam es in mehreren Städten der USA zu empörten Versammlungen in denen bekennende ex-Fans ihre Beatles-Platten zerstörten und öffentlich für die Beatles um Verzeihung und Bekehrung beteten. Diesen Vorgängen wird man schwerlich allein altruistische Motive nachsagen können.221 Die Prangerfunktion der zu informierenden Öffentlichkeit einmal beiseite hat es die stellvertretende Fürbitte mit (d) der definitiven Öffentlichkeit zu tun, weil sie wesentlich nicht ein allgemeiner Appell ist, sondern Gott damit in den Ohren liegt. Damit ist zugleich gesetzt, dass die Interzession kein geschickter Appell an die Selbstheilungskräfte dessen ist, für den gebetet wird, so als erschöpfe sich ihr Sinn darin, dass es jemandem gut tue, weil er weiß, für ihn werde gebetet. Auch verfängt die manchmal zu lesende Interpretation des Bittgebets nicht, nach der sein Sinn sei, den Beter zu verändern und ihn z. B. sensibel für soziale Not zu machen. An letzterem ist durchaus Wahres, nicht zuletzt, weil das Bittgebet ja zur Einsicht in zuvor unbegriffene Abhängigkeiten und Verstricktheiten führen kann. Setzte man allerdings allein hierauf, so wäre die Gebetsanrede und damit die Situierung des gesamten kommunikativen Aktes nichts weniger als zynisch: Wer Gott anruft und doch sich selbst und den, für den er betet, meint, macht die definitive Öffentlichkeit zur Funktion seines eigenen Bewusstseins. So billig sollte man einer Religionskritik Feuerbach’schen Zuschnitts besser nicht das Feld überlassen.
221 Nicht ohne Pikanterie ist, dass der Vatikan John Lennon posthum und zum 40-jährigen Jubiläum des »White Album« den inkriminierten Ausspruch in einer offiziellen Mitteilung verzieh (Süddeutsche Zeitung online vom 17. 5. 2010). Er beansprucht damit, diejenige Öffentlichkeit zu sein, der diese Verzeihung stellvertretend für alle Christusgläubigen zukommt, was ja durchaus diskussionswürdig ist. Die gönnerhaft klingende Begründung, es habe sich eben um den Übermut eines Jungen aus der englischen Arbeiterklasse gehandelt (ebd.), macht die Sache nicht besser: Vergebung ist eben – Vergebung, und sollte füglich von der nachträglichen Erklärung des Inkriminierten unterschieden werden.
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Fürbittwürdige Not In diese Öffentlichkeiten nun wird die Situation eines Menschen oder einer Gruppe getragen, von der der Beter annimmt, sie sei der Fürbitte würdig und bedürftig. Es muss sich im weitesten Sinne des Wortes um eine Situation des Mangels handeln, wenn anders Bitte und Dank im Gebet nicht unterscheidbar wären. Bei der Auswahl der einer Interzession würdigen Mangelsituation ist – und sei es implizit – bereits dogmatisches Regelwerk im Einsatz. Denn es ist doch wohl so, dass nicht alles, was jemand als Mangel und Übel empfindet, unter christlich-theologischen Auspizien als ›fürbitt-würdig‹ erscheint. Es gibt hybride Wünsche, eingebildete Krankheiten und Zustände, vor denen bewahrt werden zu wollen im Rahmen des Erzählzusammenhangs der jüdisch-christlichen Bibel als absurd erscheint.222 Auch gibt es Zustände, die, wer sich in ihnen findet, als hinzunehmen oder angemessen betrachtet, was aber aus der Sicht der Fürbittenden gerade falsch ist. Die Fürbitte wendet sich gegen falschen Heroismus genauso wie gegen die Abstumpfung der Wahrnehmung. Im Strukturaspekt (2) zeigt sich also eine Kriteriologie. In ihr wird ausgehandelt, was in bittender Hinsicht vor Gott zu tragen ist, und was nicht. Stellvertretende Fürbitte ist also durchaus nicht die Verlängerung von Wünschen, sondern vollzieht sich als Antwortverhalten auf den Anruf des Evangeliums hin. In seinem Licht zeigt sich allererst, was der Fürbitte würdig ist und was nicht. Das Subjekt der Stellvertretung Wer nicht beliebige, sondern der Kommunikation des Evangeliums geschuldete Inhalte in eine mehrfache Öffentlichkeit trägt, zu der die definitive Öffentlichkeit Gottes gehört, muss dafür in irgendeiner Weise geeignet sein. Deutlich wird dies etwa im katholischen Brauch der Meßstipendien: Gläubige überreichen dem Priester eine Gabe, der im Gegenzug dazu die Messe in einer bestimmten Meinung feiert, d. h. das vom Gläubigen genannte Anliegen – häufig das Andenken Verstorbener – fürbittend vor Gott trägt.223 Hier ist deutlich, dass es eine eigens 222 An dieser Sachstelle setzt die klassische Theodizee den Unterschied zwischen physischen und metaphysischen Übeln an: Nach Leibniz sind metaphysische Übel – die die Unvollkommenheit der Welt entspringen, zu der das unabweisbare Erleiden des Todesschicksals gehört – hinzunehmen, weil sie zur Schöpfung qua Schöpfung gehören; physische Übel hingegen gehen auf den verderblichen Einfluss falschen Freiheitsgebrauchs, i. e. der Sünde zurück, vgl. G.W. Leibniz, Die Theodizee I. Philosophische Schriften, hg. von H. Herring, Bd. 2.1, Frankfurt/M. 1996, 221.239–257. Eine biblisch-theologisch angereicherte Theodizee bestreitet den Sinn dieser Unterscheidung nicht rundheraus, sie bezweifelt aber wohl, dass die beiden Übelklassen sich an Hand des Selektionsfaktors vollkommen/unvollkommen trennen lassen. 223 Die Einzelheiten sind in CIC cc. 945–958 geregelt, wobei c. 945 § 2 einschärft, dass Messen auch dann nach Meinung der Gläubigen zu feiern seien, wenn diese kein Meßstipendium
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ausgebildete und geweihte Person ist, der die Interzession im Rahmen einer ihr vorbehaltenen liturgischen Handlung übertragen wird. Die evangelische Erwiderung, man sehe hier den Dünkel eines Weiheverständnisses, das auf einen ontologischen Unterschied zwischen Laien und Klerus heraus wolle, der biblisch nicht gedeckt sei, lässt meist nicht lange auf sich warten. Sie sagt etwas Wahres, da die Betonung des Priestertums aller Getauften in der Tat zum evangelischen Kernbestand gehört. Freilich betont auch die evangelische Theologie des kirchlichen Amtes, dass die öffentliche Predigt und Sakramentsverwaltung von ordinierten Personen zu vollziehen seien. Damit kommt der von Geistlichen formulierten und vor Gott gebrachten stellvertretenden Fürbitte faktisch eine Sonderrolle zu, auch wenn die Extrastellung des Meßstipendiums evangelisch ausgeschlossen ist und sicher bleiben wird. Einig sind sich beide Seiten – um der Übersichtlichkeit halber beim katholisch-evangelischen Diskurs zu verbleiben – dass Interzession jedenfalls ein priesterlicher Dienst ist. Die reformatorische Kritik am Weihesakrament und der Behauptung eines mit der Weihe einhergehenden character indelebilis besagt genau nicht, dass es die priesterliche Funktion des stellvertretenden Eintretens für andere vor Gott nicht gebe! Sie wird allerdings auf alle getauften Angehörigen des Volkes Gottes erweitert. Das geht mit der direkten Aufforderung an alle Getauften einher, von dieser priesterlichen Vollmacht nun allerdings zu Gunsten des anvertrauten Nächsten auch Gebrauch zu machen. In der an Deutlichkeiten gegenüber Rom nicht sparsamen Adelsschrift von 1520 stellt Luther dies klar: »Dan was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey, ob wol nit einem yglichen zympt, solch ampt zu uben. Dan weyl wir alle gleich priester sein, musz sich niemant selb erfur thun und sich unterwinden, an unszer bewilligen und erwelen das zuthun, des wir alle gleychen gewalt haben, Den was gemeyne ist, mag niemandt on der gemeyne willen und befehle an sich nehmen.«224 Spätestens seit dem Konzilsdokument Lumen Gentium 31f (DH 4157–4158) besteht kein Anlass mehr, hier eine evangelisch-katholische Unterscheidungslehre zu sehen. Der Stellvertretungsdienst der Fürbitte ist dem gesamten Volk Gottes aufgetragen und qualifiziert dieses Volk als priesterlich. Das ist die ekklesiologische Implikation der stellvertretenden Fürbitte und, nebenbei, es dürfte lohnen, von ihr her die dornigen Probleme einer ökumenischen Verständigung in Sachen des ordinierten/geweihten Amtes der Kirche anzugehen.
aufbringen können. Papst Paul VI. hat das Meßstipendium als bewährte Tradition im Motu proprio Firma in traditione vom 13. 6. 1974 ausdrücklich bekräftigt. 224 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, WA 6, 381–469, 408.
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Der Adressat der Interzession Die Struktur der stellvertretenden Fürbitte setzt mit, dass es die unter Aspekt (1.d) genannte definitive Öffentlichkeit Gottes gibt und dass es sinnvoll ist, sich in Form der Bitte an sie zu wenden. Wie in Abschnitt 1 kurz benannt, präformiert dies ein gewichtiges Stück der Gotteslehre. Gottes Vatersein wird so interpretiert, dass er nicht nur Adressat des Lobes ist, sondern dass es sowohl sinnvoll als auch nötig ist, sich mit inhaltlich entsprechend abgewogenen – Aspekt (2) – Bitten an ihn wenden zu dürfen. Der Sprachform der Bitte entspricht dabei keine Erwartungssicherheit – denn gäbe es diese, so müsste man eben nicht bitten. Wohl aber suggeriert die inhaltlich durchgeprüfte Bitte, es sei im Bereich des Erhoffbaren, Gott um dieses oder jenes anzugehen. Er hat sich auf benennbare Weise selbst zu erkennen gegeben, entsprechend ist es möglich, vor ihn mit Bitten zu kommen, die ihn auf eben diese benennbare Weise ansprechen. Ohne dies hier weiter ausführen zu können: Die semantisch dichteste Quelle für Bitte, Lob und Klage auf ›benennbare Weise‹ dürften die Psalmen sein. In ihnen kommt die Benennung Gottes aufgrund seiner Selbstkundgabe zum einen und die sowohl konkreten als auch verallgemeinerbaren Situationen der Beterinnen und Beter in dichtester Weise zusammen. Bereits die innerkanonische Verwendung des Psalters zeigt an, wie die hier nur obenhin genannte Kriteriologie, angemessen von nicht angemessenen Bitten zu unterscheiden, durchgeführt wurde und tagtäglich durchführbar ist. Mit dem Psalter ist man tatsächlich »an der Quelle des Gebets«.225
Stellvertretung Von dieser ersten Sichtung der Struktur der Interzession ist noch nicht deutlich genug in den Blick genommen worden, zu welchem Zweck und Ende jemand meint, an eines anderen Statt vor Gottes Angesicht treten zu sollen – und zu dürfen. Aufmerksamkeit dafür ist aber vonnöten. Denn zumindest für den etablierten Diskurs des souveränen Subjekts hält die Rede von der Stellvertretung durchaus eine Kränkung bereit: Wer der Stellvertretung bedarf, ist offenkundig nicht in der Lage, seine Dinge allein zu regeln und den Verantwortlichkeiten im angemessenen Umfang nachzukommen. Tritt jemand für begrenzte Zeit und/ oder an begrenztem Ort an dessen Stelle, so ist das durchaus ausweispflichtig: Jemanden ›um nichts‹ zu vertreten, wäre offenkundig sinnlos, und da, wo Stellvertretung in bloßen Paternalismus und in Verhinderung von Souveränität 225 M. Oeming, An der Quelle des Gebets. Neuere Untersuchungen zu den Psalmen, ThLZ 127 (2002), 367–384. Vorzüglich durchgeführt wird dies in B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 42013.
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umschlägt, würde sie zu Ersatz und/oder Verdrängung, was bei Strafe des Themaverlusts mit Stellvertretung auch nicht gut gemeint sein kann. Was also ist Stellvertretung? Allgemeine Anthropologie der Stellvertretung: Stelle und Wesen In einer wichtigen Untersuchung hat Christof Gestrich für diese Sachlage vorgeschlagen, zwischen Stelle und Wesen zu unterscheiden. Ein Seiendes/Wesen ist nicht nur durch die ihm zukommenden Wesensattribute ausgezeichnet, sondern auch dadurch, wo und in welchen Konstellationen es sich befindet. Will man über es reden, so muss man immer über beides sprechen, über Wesen und Stelle: »Das Sein ist gebildet vom Seienden und von den Stellen, Örtern, Plätzen oder Gelegenheiten (lateinisch loci, altgriechisch topoi oder, noch treffender: cho¯rai), wo Seiendes jeweils entstehen, präsent sein, vergehen, und von wo es weggehen und wohin es zurückkehren kann.«226 Ein Wesen hat zunächst einmal eine Stelle, der es sich verdankt und die es ermöglicht und umgekehrt lässt sich denken, dass es Stellen gibt, die ohne das Seiende, für das sie da sind, leer und verödet erscheinen müssen. Stellen bestehen ihrerseits aus Wesen, so wie – in Luhmann’scher Terminologie – die jeweilige Umwelt eines Systems selbst aus Systemen besteht: »Jede Stelle ist eine bestimmte Konstellation verschiedener (vergehender) Wesen. Die Stelle (eines Wesens), die bei allen Akten des Vertretens eine zentrale Rolle spielt, ist also definiert als dargereichtes Leben oder als verliehene Lebensgrundlage.«227 Die Basisunterscheidung zwischen und zugleich Zuordnung von Stelle und Wesen dient dazu, eine ontologische Redutkion zu vermeiden: Informationen über ein Wesen sind zureichend nicht nur als Informationen über die ihm eigenen Attribute zu erhalten. Was ein Wesen ist, wird erst klar, wenn man beschreiben kann, wo es sich befindet und in welchen Konstellationen.228 Zugleich 226 C. Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen 2001, 233. 227 Gestrich, Stellvertretung 234. Vgl. die Formulierung von Bernd Janowski: »Der Stellvertreter ist eine intermediäre Instanz, (…) die für den sozialen Zusammenhang sorgt.« Die Handlungen des Stellvertreters haben »zwei unterschiedliche Sachverhalte zum Ziel: zum einen die Repräsentation einer Person oder Instanz, zum anderen die Entlastung einer Person(engruppe) von bestimmten Pflichten für eine begrenzte Zeit.« B. Janowski, An die Stelle des anderen treten. Zur biblischen Semantik der Stellvertretung, in: Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Bd. 1, hg. von J.C. Janowski u. a., Neukirchen-Vluyn 2006, 43–68, 44 und 45. 228 Hier zeigt sich eine gewisse Nähe zu Charles Taylors Konzeption des Selbst, welches auch erst als eingebundenes zureichend thematisch wird: »Wissen, wer ich bin, ist eine Unterart des Wissens, wo ich mich befinde. Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont angeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden sollte
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verhindert die Charakterisierung von Stellen als Konstellation verschiedener endlicher Wesen ein statisches Verständnis der Stelle: Es ist ausdrücklich nicht an ein prästabilisiertes System der Dinge und Menschen gedacht, in dem jedes Wesen einen und nur einen Ort hat, den es aufzusuchen und in den es sich zu fügen hätte. Die konservative lutherische Ordnungstheologie ist es also genau nicht, vielmehr eine Vorstellung der dynamischen Interaktion von Stellen und Wesen, viel eher am Verständnis der actual entity bei Alfred N. Whitehead orientiert.229 Mitgesetzt ist allerdings, dass Wesen – und Gestrich denkt hier nicht nur, aber vor allem an menschliche Wesen – nicht ohne die Stelle existieren könnten, die ihnen die Lebensgrundlage verleiht, die sie selbst sich nicht verschaffen können. Der Gedanke zeigt sich, wendet man ihn theologisch, also vor allem als Schöpfungsaussage: Dass Leben sich als verdanktes vorfindet, heißt, dass die Geschöpfwelt von der Art ist, dass einem Wesen die Stelle tatsächlich bereitet ist. Mit dieser ontologischen Leitunterscheidung im Hintergrund lässt sich zumindest anfangshaft plausibel machen, was bei Akten der Stellvertretung vor sich geht. Es gibt sie gleichsam in beide Richtungen: » (…) daß im Leben selbst ein doppelter Vertretungsbedarf entstehen kann: Bald sollen für Wesen, deren Bezug zu ihrer Stelle irgendwie gefährdet ist oder noch fehlt, passende Stellen durch einen Vertreter freigehalten oder eröffnet werden. Bald aber soll für vorhandene Stellen, deren Bezug zu dem oder den zugehörigen Wesen in Frage gestellt ist (und die dadurch nicht mehr ausgefüllt sind, zur Wüste werden oder krebsartig degenerieren), durch ein sie vertretendes bzw. ›versehendes‹ Wesen erreicht werden, daß sie nicht untergehen. Diese beiden Aspekte – nämlich Versorgung des Wesens mit einer Stelle und Versorgung der Stelle mit einem Wesen – weist das Phänomen der Stellvertretung grundsätzlich auf.«230
Stellvertretung findet nun so statt, dass jemand die Stelle eines Wesens freihält, auf der dies Wesen gerade nicht oder noch nicht ist. Der Stellvertreter vertritt auf der Stelle, aber er besetzt sie nicht. Er handelt nicht anstatt des anderen, er repräsentiert den, der auf Zeit nicht anwesend sein kann. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Stellvertretung kann auch heißen, dass einem Wesen eine Stelle gewährt wird, an der es derzeit noch nicht ist, weil es sie noch nicht gibt. »Ein anderes Wesen hält mir nicht nur die Stelle, sondern es schafft mir eine Stelle. Oder gar: Es selbst wird mir zur Stelle, es selbst wird meine Stelle. (…) Eben diese ›Wesensvertretung‹ geschieht aber dadurch, daß ein anderer sich selbst – sein Wesen, seine Person – uns zur Stelle werden läßt. Menschen braubzw. was ich billige oder ablehne. Mit anderen Worten, dies ist der Horizont, vor dem ich Stellung zu beziehen vermag.« C. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitliche Identität, Frankfurt/M. 1996, 55. 229 Gestrich, Stellvertretung 233. 230 Gestrich, Stellvertretung 235.
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chen in erheblichem Maße andere Wesen als Stellvertreter, bei denen sie sich unterbringen können.«231 Stellvertretung ist anders als strikt personal nicht möglich. Man könnte etwa an das Zusammenleben von Eltern und ihren Kindern denken. Im eben beschriebenen Sinn halten Eltern ihren Kindern tatsächlich die Stelle, und noch mehr, sie versuchen zumindest, die künftige Stelle ihrer Kinder (mit) zu schaffen. Das ist weit mehr als ein mechanischer Vorgang ersetzender Vollzüge und deshalb ist die Metaphorik des ›zur-Stelle-werdens‹ zu Recht eingesetzt. Dass Menschen Stellvertreter brauchen, die ihnen selbst zur Stelle werden, ist Ausweis des Humanum, denn gnadenlos wäre eine Welt und Gesellschaft, in der jede/r nur der eigene Stellvertreter und Anwalt des eigenen Wesens sein dürfte. Zugleich liegt die Theologizität des hier kurz Angerissenen auf der Hand: Was in der traditionellen Sprache der Soteriologie als Gnadenhandeln Gottes beschrieben wird, zeigt sich bei näherem Hinsehen als Geflecht von Akten stellvertreterischer Art. In der evangelischen Lesart: Spricht Gott jemanden gerecht, der es nach Maßstäben des Gerichts doch nicht ist, so hält er ihm die Stelle frei, die derjenige nach Maßgabe seines Wesens besetzen könnte, es aber kraft seiner Sündhaftigkeit nicht tut. Mehr noch: die Gerechtsprechung hat kreative Funktion, weil sie den so Angesprochenen zu dem werden lässt, der er vor Gott sein darf. Auch und gerade die effektive Rechtfertigung ist in eminentem Sinn ein Akt der Stellvertretung. Die Katastrophen der Stellvertretung Es gibt Stile und Kulturen von Stellvertretung, die als fatal, ja katastrophisch bezeichnet werden müssen. Sie sind Legion. Schon rhetorisch naheliegend ist der Hinweis auf Stellvertreterkriege, bei denen ja offenkundig nicht einer dem anderen die Stelle frei hält; vielmehr wird der Konflikt ersatzweise auf nicht unmittelbar Beteiligte verschoben, deren Leid billigend in Kauf genommen wird. Ersetzungsfiguren dieser Art gibt es nun nicht nur in der großen Politik und ihrem Versagen, sie lassen sich auch in den privaten Katastrophen finden: In übertribunalisierten Beziehungen, im Drogenmissbrauch oder in lähmenden Ritualisierungen. Bei katastrophischen Stellvertretungen wird regelmäßig die Logik von Stelle und Wesen verdreht und es kommt zu keiner echten Stellvertretung mehr. Wo etwa Drogenmissbrauch die Zukunft eines Heranwachsenden zerstört, geschieht Folgendes: Das Wesen ist noch auf seine künftige Stelle hin aus. Die Droge erlaubt in der kurzen Phase intensiven Glücks, sich an der künftigen Stelle zu wähnen und also schon dort zu sein. Freilich ist nach Abklingen des Glücks die Einsicht, 231 Gestrich, Stellvertretung 238.
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eben nicht dort zu sein, nicht vermeidlich, was in den nur zu bekannten Teufelskreis der Ersatzkonfigurationen führt. Was geschehen war, ist dies: Der ›falsche Stellvertreter‹ Droge ist in Wahrheit kein Stellvertreter. Denn ein solcher repräsentiert das Wesen an seiner künftigen Stelle. Es hält die Stelle dem Wesen offen und sagt damit zugleich, dass das Wesen an dieser seiner künftigen Stelle noch nicht ist. Das ist gleichbedeutend mit der Eröffnung einer zeitlichen Dimension: Das Wesen erfährt sich als auf die Stelle hin, die für es ein noch-nicht ist. Im Falle unseres Besipiels fällt exakt die Repräsentationslogik der Stellvertretung dahin, und mit ihr die Eröffnung der zeitlichen Dimension. Verfehlte Stellvertretung führt regelmäßig zu Opfern. Beim eben gewählten Beispiel wird das Wesen selbst zum Opfer: Der Drogenkonsum ist verfehlte Repräsentation auf der eigentlich zugedachten Stelle, das Wesen zahlt den Preis, zu ihr nicht voran zukommen und die psychischen und physischen Zumutungen des trügerischen Repräsentanten ertragen zu müssen. Freilich muss durchaus nicht dem Wesen, um das es geht, die Opferrolle zukommen. So gibt es eine Vielzahl von Stellvertretungen, die auf die Stigmatisierung eines Fremdopfers hinauslaufen. Immer da, wo Gruppierungen ihre eigene Stabilität zu sichern versuchen, indem sie ein Drittes ausmachen, das zum Opfer erklärt und abgeschoben wird, tritt die Übertragung der Opferrolle in Kraft. Wo etwa die städtischen Gesellschaften des hohen Mittelalters ihre Stabilität durch die Vertreibung der jüdischen Mitbürger sicherten, geschah genau dies: Das Wesen meint, die ihm zukommende Stelle durch die Assonderung des Repräsentanten erreichen zu können. Der Preis ist freilich die kühl kalkulierte Inkaufnahme des Opfers. Unter Beteuerung des Gegenteils verfehlt das Wesen sich damit freilich selbst. Die Beispiele lassen sich, leider, vermehren. Gewiss würde es lohnen, die christliche Lehre von der Sünde als Panorama verfehlter Stellvertretungen anzulegen. Die Stellvertretung Christi Die Diskussion ist verzweigt,232 ihr Ertrag aber relativ klar: Es ist möglich, ja geboten, Gottes Handeln in Christus an uns in Kategorien der Stellvertretung zu begreifen. Stellvertretend, eine Stelle via Repräsentation freihaltend, handelt Gott beileibe nicht nur in Christus an uns, es handelt sich vielmehr um ein biblischtheologisches Generalsignum. Im vom Christusbekenntnis Benannten zeigt es sich freilich besonders deutlich. Im Gegensatz zu einem ärgerlicherweise zählebigen Missverständnis ist es mitnichten so, als sei das Phänomen der Stellvertretung darauf aus, dass Gott für menschliche Sünde Genugtuung und Rache fordere und statt unserer zu seiner 232 Für Details und Literatur vgl. oben Kap. II.1–2.
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Gnädigstimmung das Opfer seines eigenen Sohnes annehme. Vielmehr ist die biblische Rede von Stellvertretung und Sühne durchzogen von dem, was in der Diskussion mittlerweile inklusive Stellvertretung genannt wird. Hier zeigt sich die Logik, dass der Stellvertreter = Repräsentant den, dessen Stelle er vertritt, in den Vorgang Stellvertretung hineinnimmt und also bewegt und verändert, in aller Deutlichkeit. Zugleich wird klar gemacht, dass es sich bei Gottes stellvertretendem Handeln um eines handelt, das aller menschlichen Stellvertretung zu Grunde und voraus liegt. Der Blick auf zwei klassische biblische Zusammenhänge kann das verdeutlichen. Zum einen ist die Liturgie des Großen Versöhnungstages nach Lev 16 hier einschlägig:233 Die Passage berichtet von zwei miteinander zusammenhängenden Sühneriten. Zum einen wird Aaron aufgefordert, das Heiligtum durch einen Blutritus zu entsühnen und so als Ort des Kontakts zwischen Gott und seinem Volk wieder möglich zu machen, zum anderen wird mit dem als ›Sündenbock-Ritus‹ bekannt gewordenen Vorgang dasjenige, was zwischen Gott und seinem Volk steht, sinnbildlich in die Wüste gejagt: »Während der ›Sündenbock‹ die Verschuldungen Israels aus dem Heiligtum in die Wüste hinausträgt und damit buchstäblich ›entsorgt‹, erwirkt der Hohepriester Versöhnung für Israel, indem er das Blut eines anderen Bocks an das ›Sühnemal‹ (kapporæt) im Innersten des Allerheiligsten sprengt und damit in die unmittelbare Nähe Gottes bringt. Beide Riten – der Sündenbock wird nach außen in die Wüste geführt und das Sündopferblut wird nach innen an die kapporæt gebracht – verhalten sich komplementär zueinander und propagieren zusammen die Botschaft vom versöhnungswilligen Gott, der seinem Volk die Gabe kultischer Versöhnung schenkt.«234
Inklusiv ist diese Form der Stellvertretung, dass in der Tat durch Vermittlung des Priesters an und für Israel gehandelt wird – dies aber stets so, dass es unter Hereinnahme des Volkes geschieht. Nicht anders als von Gott her ist die Neueröffnung der Beziehung und damit das Freihalten der Stelle denkbar, dies aber ist kein distanzierter Akt, sondern einer, der den Kontakt zwischen JHWH und seinem Volk erneuert und es so in das Leben in seiner Nähe hineinzieht. Die Logik der inklusiven Stellvertretung ist auch für die neutestamentlichen Texte zentral, die das Werk Gottes in Christus mit der Metaphorik der Sühne lesen. In Lev 16 sind die ineinander verschränkten Kulthandlungen der Ort, an dem das Nahekommen Gottes anschaulich gemacht wird. »Dieser ›Ort‹ ist nach Paulus Jesus Christus, den Gott als ›Sühnmal‹ und damit als Ort seiner Gegenwart öffentlich hingestellt hat.«235 In Röm 3,21–26 wird dies in besonders dichter Weise ausgesagt. Freilich ist das zu kombinieren mit den Aussagen des Apostels, die ein Mitsein der Gläubigen mit Christus aussagen (Röm 6,4.8; 2Kor 5,14f). Dass Jesus 233 Vgl. oben Kap. II.2. 234 Janowski, Gott (Anm. 23), 311. 235 Janowski, Gott (Anm. 23), 315.
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für uns und unsere Sünden starb, ist also wahr genau darin, dass er uns darin inkludiert. In der Logik des Römerbriefs ist das zunächst das Mitsein Jesu im Schatten des Todes, welcher – anschaulich genug – die Folge der universalen Sündverfallenheit ist. An dieser Stelle vertritt Christus die Gläubigen, weil sie nach Karfreitag wissen, dass auch dieser Ort vorgeblich größter Gottverlassenheit genau nicht gottverlassen ist. Zugleich vertritt der Auferweckte die Gläubigen am Ort des neuen Lebens, zu dem sie mit ihm auferstanden sind. (Röm 6,4) Noch ist nach der Logik von Röm 8,18ff die Zeit des Heils nicht unverwandt angebrochen: Es gibt die Leiden dieser Zeit, so dass die Schöpfung seufzende Schöpfung ist. (Röm 8,18.22) Weil aber Christus die Stelle der Gläubigen auch in der Auferstehungswirklichkeit und der ungebrochenen Gottesnähe vertritt, scheint ein definitives anderes Licht auf Bedrängnisse: Noch manches Übel wird kommen, seine endgültige Überwindung aber ist so gewiss, dass sich das Leid für die, die zu Gott gehören, zum Besten verwandelt.236 (Röm 8,28) Die inklusive Stellvertretung ist in der paulinischen Logik also eine, die Christi Stellvertretung für uns an zwei Stellen denkt: An der Stelle, an der niemand zu sein und bleiben sich denken kann und an der weiteren, die kraft ihrer eschatologischen Fülle über Denken und Wünschen himmelweit hinaus ist. Die Wirklichkeit der Partizipation an dieser Offenhaltung der Stelle nennt Paulus πίστις/Glaube. »›Glauben‹ bedeutet zum einen: empfangen und wahr sein lassen, was Christus für uns getan hat. ›Glauben‹ bedeutet dann aber auch: sich mitnehmen lassen in sein österliches Leben und als solche, die Sünde und Tod bereits im Rücken haben, erste Schritte tun.«237 Glaube ist nun, wie die neuere Paulusforschung wahrscheinlich gemacht hat, nicht das Existenzial eines Einzelnen, sondern wesentlich gemeinschaftliches Ereignis. Die Einladung zur offen gehaltenen Stelle hat eine unabweisbar soziale Dimension, weil sie in die Gemeinschaft des Volkes Gottes führt. Der »paulinische Glaube [zeigt sich] als soziale Kraft des Anteilgebens und Anteilnehmens«.238 – An dieser Sachstelle sollte der Schlüssel für die hier abschließend zu 236 Für eine Analyse der zeittheologischen Implikationen dieser Hoffnungsaussagen vgl. M. Hailer, Gott und die Götzen. Über Gottes Macht angesichts der lebensbestimmenden Mächte, Göttingen 2006, 316–326. 237 B. Kittel, Die Folgen der Sünde und das Geschenk des neuen Lebens. Zwei Hinweise zum Verständnis des Sühnetodes Jesu, in: Für uns gestorben. Sühne – Opfer – Stellvertretung, hg. von V. Hampel und R. Weth, Neukirchen-Vluyn 2010, 117–134, 131, 132. 238 K. Adloff, Paulus – Prophet des Gottesreiches, Stuttgart 2013, 45. Die Arbeiten der ›New Perspective on Paul‹ kreisen zumeist um die Interpretation des Gesetzesverständnisses, das hier abgeblendet bleiben muss. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie der spätestens seit Rudolf Bultmann dominant gewordenen Paulushermeneutik eine Konzentration auf die Rechtfertigung des Einzelnen vorhalten, was sie als Eintrag einer konfessionell-lutherischen Perspektive werten. Dagegen gilt es die soziale Dimension der Hauptinteressen des Apostels
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beleuchtende Frage liegen, wie das stellvertretende Gebet der Christinnen und Christen im Rahmen des stellvertretenden Handelns Gottes verortet ist.
Interzession als Hineingenommensein in Gottes Stellvertretung Interzession ist etwas anderes als Gottes stellvertretendes Handeln. Aber sie ist eben auch stellvertretendes Handeln, was eine Relationsbestimmung der beiden nötig macht. Wer für einen anderen betet, hält ihm vor Gott die Stelle frei, an die er nach seiner – des Betenden – Absicht gehören darf. Der andere kann oder will nicht selbst vor Gott treten, aus welchen Gründen auch immer. In einem Akt geschwisterlicher Vertretung wird gesehen: Da aber darf, da aber soll diese Wesen seine Stelle haben, weshalb die Interzession diese Stelle freihält. Der grundlegende Unterschied zur Stellvertretung Gottes besteht im Charakter der Stelle, die durch die Interzession freigehalten wird von der, die Gottes Stellvertretungen freihalten. Die Stellen der Interzession sind menschliche Möglichkeit und Wirklichkeit: Krankheit etwa, Scham, Zorn, Verantwortung, Irrtum, auch Siechtum, Tod und Trauer, Dank und Freude nicht minder – und wie die fürbittwürdigen Anlässe mehr heißen mögen. Sie alle sind Stellen, von denen gilt: homo sum, homini nil alienum a me puto. Nicht alle sind sie leicht erschwinglich, so dass der stellvertretende Akt der Fürbitte auch die Fürbittenden affiziert und sie das für sich selbst sehen lehrt, was sie als Fürbittanlass für andere entdeckt zu meinen glauben. Es ist doch wohl so, dass etwa das lebenslange Erlernen des eigenen Sterbens da beginnt und geübt wird, wo das auf den Tod zugehende Leiden anderer wahrgenommen und vor Gott gebracht wird. Das Freihalten solcher Stellen vor Gott ist also mitnichten heldisches Tun souveräner Subjekte, vielmehr seinerseits Einübung der Fragmentarität der eigenen Identität, sie sich einzugestehen nie eine leichte Übung ist: Die Fürbitte ist allemal auch Buße derer, die sie vorbringen.239 Freilich verbleibt das alles im Möglichkeitsbereich derer, die die Fürbitte vollziehen. Und das unterscheidet diese Stellen gänzlich von denen, an denen Gottes Stellvertretung stattfindet. Um es noch einmal kurz christologisch zu benennen: Auf den Tod zuzulaufen, ist eine Stelle aller Menschen. Im Tod als Sold der Sünde aber, und damit als Ort der größtmöglichen Gottverlassenheit zu sein, ist keines Menschen souveräne Möglichkeit und – so er denn mit der Semantik wiederzugewinnen: Nicht die Rechtfertigung des (individuellen) Sünders steht im Zentrum des Interesses, sondern die Frage, wie auch die Heiden zum (gemeinschaftlichen) Heil des Volkes Gottes gelangen. Vgl. programmatisch J.D.G. Dunn, The New Perspective on Paul. Revised Edition, Grand Rapids 2008, 99–120.469ff. 239 Vgl. H. Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 22–60.160–182.
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des Christlichen in Berührung kam – jedes Menschen namenloser Schrecken. Keine Stelle für Menschen! Dasselbe gilt vice versa für die Stelle in der unbedingten Gottesnähe, die Christus für die Seinen offenhält und zu der er sie verlockt. Auch sie ist als sie selbst nicht zu denken und je über unsere Köpfe hinaus. Deswegen bleibt nur, bei aller Parallelität der Stellvertretungsvorgänge, den im Wortsinne Grund-legenden Unterschied zwischen Interzession und Gottes eigener Stellvertretung für uns einzuschärfen. Theologische Fehler entstehen sofort, wenn das nicht gesehen wird. In einer frühen Studie im Rahmen der sog. Theologie nach dem Tode Gottes entwarf Dorothee Sölle ein reziprokes Modell göttlicher und menschlicher Stellvertretung. In christologischer Zentrierung sah sie eine doppelte Stellvertretung, nämlich unsere vor Gott und Gottes bei uns: Christus vertritt den abwesenden Gott bei uns. Zu Recht kann man mit Nietzsche sagen, dass Gott tot sei, weil dies ein naives Gottesbewusstsein unmittelbarer Zugehörigkeit meinte. Freilich verschiebt sich dies Wort hin zu: »Gott muß vertreten werden«.240 Das Verhältnis sieht Sölle reziprok: »Als die Zeit erfüllt war, hatte Gott lange genug etwas für uns getan. Er setzte sich selber aufs Spiel, machte sich abhängig von uns und identifizierte sich mit dem Nichtidentischen. Es ist nunmehr an der Zeit etwas für Gott zu tun.«241 Nicht nur, dass diese Theologie offenbar ohne das Osterkerygma und ohne eine Pneumatologie auszukommen schien, die den Namen verdient: Setzt man Gottes und der Menschen Stellvertretung derart auf eine Stufe, verkehrt sich das Leben im Glauben – auch ausweislich des letzten hier zitierten Satzes – in eine neue Gesetzlichkeit. Ganz zu Recht legt Helmut Gollwitzer in seiner von viel Sympathie getragenen Erwiderung an dieser Sachstelle energischen Widerspruch ein, und betont, dass die endültige Erfüllung in Christus bei denen bleibend und wirksam präsent ist, die sich in seinem Namen aufmachen. Wohl vertreten sie Gott vor den Menschen, aber eben so: »Christlicher Glaube ist Einstimmen in das Bekenntnis der Gegenwart Gottes in Jesus Christus, d. h. der endgültigen, vollgenügsamen, unüberbietbaren und bleibenden Erfüllung des Versprechens ›Ich werde da sein‹ durch den Verheißenden in der Erscheinung, dem Geschick und der Auferstehung Jesu von Nazareth.«242 – Die ›Theologie nach dem Tode Gottes‹ war bekanntlich nicht Dorothee Sölles letztes Wort. Mit ihrem frühen Debattenbeitrag aber zeigte sie eine Aporie, in die die Theologie der Stellvertretung besser nicht gerät.
Die Interzession ist eine von mehreren menschlichen Stellvertretungsmöglichkeiten im Rahmen des dem Glauben wesentlichen Gemeinschaftsaspekts. Weil Glaube nie nur ›mein Glaube‹ ist, sondern vielmehr in die Gemeinschaft des Volkes Gottes führt, eröffnen die kategorial eigenen Stellvertretungen Gottes den 240 D. Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie »nach dem Tode Gottes«, Stuttgart Neuauflage 1982, 150. 241 Sölle, Stellvertretung (Anm. 36), 173 (Schlusswort). 242 H. Gollwitzer, Von der Stellvertretung Gottes. Christlicher Glaube in der Erfahrung der Verborgenheit Gottes, München 1967, 114.
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Felder der Anthropologie, stellvertretungstheologisch betrachtet
Raum für die Stellvertretungen der Nachfolge. In dem Maß, in dem die Kirche als Dienstgemeinschaft begriffen werden kann, ist sie auch als Gemeinschaft der zu Handlungen der Stellvertretung gerufenen begreifbar. Das Inventar der Formen ist vielfältig. Interzession steht neben diakonischen, lehrenden, prophetischrufenden, missionarischen Stellvertretungen als diejenige, die dem der Kirche zugemuteten Dienst der leitourgia am ehesten entspricht. Die Liturgie geht nicht auf in ihr, sie wäre ohne sie jedoch unvollständig. Denn Gottesdienst, der nicht über die Grenzen der gottesdienstlichen Gemeinde hinausblickte, liefe akute Gefahr der Selbstgenügsamkeit und würde so dem Gemeinschaftscharakter des Glaubens widersprechen. Glaube partizipiert an der Heilsgegenwart Gottes hier und jetzt, so dass Interzession als Hineingenommensein in Gottes Stellvertretung im Rahmen des für Menschen Möglichen bestimmt werden kann. Diese Verortung dürfte quer durch die Konfessionen geteilt werden können und stellt damit ein gemeinsames Gut in der an ökumenischen Problemen ja nicht armen Ekklesiologie dar.
Ausblick. Stellvertretung, Anerkennung, Gabe. Leitbegriffe im interdisziplinären Diskurs der Theologie
Die in diesem Band vorgelegten Studien versuchen, diese Frage zu bearbeiten: Welches Bild von verschiedenen Themen der theologischen Anthropologie ergibt sich, wenn man sie unter der Leitvermutung bearbeitet, menschliches Leben sei ohne Akte der Stellvertretung nicht zu denken? Um hierzu etwas in Erfahrung zu bringen, habe ich mir eine erhebliche perspektivische Verengung geleistet. Ich vermute, dass Wesentliches in der theologischen Anthropologie zutage tritt, wenn man das Thema Stellvertretung in den Mittelpunkt rückt und zum heuristischen Maßstab bei der Durchsicht anthropologischer Themen macht. Mehr noch: Wenn die Erwägungen in Kapitel II etwas für sich haben sollten, dann lässt sich nicht minder Wesentliches in der Begegnung Gottes mit den Menschen durch den Fokus auf die Kategorie/Metapher der Stellvertretung sichtbar machen. In den Kategorien der traditionellen Loci-Dogmatik gesprochen: Beim Thema Stellvertretung zeigt sich die Verbindung und das Übergangsfeld zwischen Christologie, Rechtfertigungslehre und Anthropologie in wünschenswerter Klarheit. Zugleich wird die Grenze der Loci-Dogmatik deutlich, weil sie Themen isolieren muss, die voneinander getrennt nicht in zureichender Weise bearbeitet werden können. Die perspektivische Verengung auf eine zentrale Metapher ist nötig, um eine Chance auf die erhofften Klarheitsgewinne zu haben, denn wer vermeint ›das Ganze‹ zu sehen, sieht in Wirklichkeit gar nichts. Freilich stellt sie zugleich ein nicht unerhebliches Risiko dar: ›Stellvertretung‹ dürfte eine Metapher sein, die in der theologischen Anthropologie manches sichtbar werden lässt. Zugleich ist sie aber nur eine Metapher. Die mit ihr einhergehenden Bestimmtheitsgewinne dürfen nicht den Eindruck von Einzigkeit erzeugen. Die Aufteilung in einzelne ›Lehrstücke‹ suggeriert, dass diese für sich bestehen und aus sich heraus erklärungskräftig sein könnten. Fehlisolierungen in Sätzen wie ›das Kreuz sagt‹ oder ›von Ostern her verhält es sich so und so‹ mögen dafür typisch sein. Der gewählte Zugang über eine zentrale Metapher sollte solche Fehlabstraktionen verhindern und zugleich die mit ihnen verbundenen Nachteile der Loci-Dogmatik vermeiden. Seinerseits aber besteht er aus einer starken Konzentration und damit
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Stellvertretung, Anerkennung, Gabe
Vereinfachung. Um diese von falscher Eindeutigkeit abzuheben, folgen hier noch einige Hinweise auf Konzeptionen und Theorien, zu denen vom Thema der Stellvertretung her der Anschluss gesucht werden sollte und gewiss weitere Differenzierungen möglich sind. Nach Lage der Dinge handelt es sich um die Diskussionen um die Termini Anerkennung und Gabe/Gabentausch. Im Rahmen der Grundüberzeugung, dass ›Person‹ erst dann zureichend in den Blick kommt, wenn sie nicht durch Rekurs auf sich, sondern durch wechselseitige Konstitutionsverhältnisse verstanden wird, steht die Anerkennungsthematik seit einer Reihe von Jahren im Fokus der Aufmerksamkeit. Das hat bereits intuitiv einiges für sich: Die wechselseitige Konstitution von Personen hat nicht die Form, dass der eine den anderen als Gegenstand mit der Bezeichnung ›Person‹ entdeckt, vielmehr treten beide in eine Beziehung, in der sich für sie zeigt, dass sie mit- und durch einander Personen sind und Personen werden. Das ist, wie oben (II.1) zu sehen war, der Grundunterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹ bzw. der zwischen dinglichem Sein und dem ens morale. In der neueren Sozialphilosophie hat das Thema einige Aufmerksamkeit erfahren. Unter Bezug auf G.W.F. Hegel und G.H. Mead hat Axel Honneth wahrscheinlich gemacht, dass es drei Basistypen von Anerkennung gibt: Zum einen die wechselseitige Anerkennung der Subjekte durch die verschiedenen Formen persönlichen Angezogenseins, etwa durch erotische Beziehung, familiäre Bindungen und durch Freundschaft, sodann die reziproke Anerkennung als Träger/in von Rechten und schließlich, die beiden anderen Formen notwendig ergänzend, die soziale Wertschätzung und Solidarität.1 Liebe, Recht und Solidarität sind anders als als wechselseitige Phänomene nicht zu denken. Auch gehört auf die eine oder andere Weise einer dieser drei Anerkennungstypen zu einem reifen Leben – so jedenfalls die Gegenprobe, der ohne Liebe, Recht und Solidarität doch wohl Entscheidendes fehlen würde. In jedem dieser Typen ist Anerkennung nicht ›einfach da‹, sondern wird in Prozessen der Auseinandersetzung entwickelt und durchaus erkämpft: Liebe etwa kann nicht in permanenter Symbiose entstehen, sondern bedingt, dass voneinander distinkte Personen sich zueinander hinge-
1 A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Berlin 7 2012, 148–211; in ders., Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011 wird das in eine eingehende Beschreibung der »drei relationalen Handlungssysteme der persönlichen Beziehungen, des ökonomischen Marktes und der politischen Öffentlichkeit« überführt. (232) Deutlich ist dabei die Identität des ersten Typs in beiden Werken, während man wohl sagen kann, dass sowohl im Feld ökonomischen Handelns als auch im politischen Bereich rechtliche wie solidaritätsförmige Anerkennungstypen vorkommen. Die Sphäre der Ökonomie rückt in ders., Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015, bes. 51ff, noch einmal in anderer Perspektive in den Mittelpunkt.
Leitbegriffe im interdisziplinären Diskurs der Theologie
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zogen fühlen.2 Analoges lässt sich für die beiden anderen Typen denken. Kampf um Anerkennung – so der gewiss von Hegel inspirierte Titel – ist mit kriegerischer Destruktion genau nicht gleichzusetzen. Die Fehlformen des Kampfes, die eben nicht zu Strukturen der Anerkennung führen und vielmehr desaströse Konsequenzen haben, gibt es gleichwohl: Honneth ergänzt seine Typologie der Anerkennung durch Einbezug des Gegenteils. Das Gegenstück zur Anerkennung durch Liebe ist Vergewaltigung, gegen Anerkennung durch die Zuerkennung von Rechten steht – banal zu sagen, in Realität aber sehr folgenreich – die Entrechtung, gegen die Anerkennung durch Solidarität schließlich die Praxis der sozialen Entwürdigung.3 Anerkennung ist kein Selbstläufer, wiewohl Honneth insgesamt zu optimistisch gestimmten Grundannahmen neigt.4 In den Kämpfen um Anerkennung geht es den Personen laut Honneth um sich selbst: sie wünschen und erstreiten Anerkennung, weil sie »eine notwendige Bedingung der individuellen Autonomie« darstellt.5 Das bringt die von ihm selbst gestellte Frage mit sich, ob Anerkennung damit nicht in eine sekundäre und bloß instrumentelle Rolle gerät: Was ich um eines anderen Wertes willen erstrebe, ist ja offenkundig nicht an sich wertvoll genug, erstrebt zu werden. Es ändert, sagt er, sich freilich »etwas ganz Entscheidendes, wenn ergänzend festgestellt wird, daß ein solches Anerkennungsverhalten zugleich die moralisch angemessene Reaktion auf die Werteigenschaften von Subjekten darstellt«.6 Was ich für mich will, ist von der Art, dass es meinem Subjektsein und dem Subjektsein anderer Personen entspricht. Damit ist Anerkennungsverhalten nicht mehr rein instrumentell, sondern wird »auch zur Erfüllung von etwas moralisch oder ethisch Gebotenem«.7 An dieser Sachstelle entscheidet sich für eine Theorie der Anerkennung nicht wenig: Ist das behauptete Equilibrium zwischen Handeln aus Eigeninteresse und Erfüllung einer ethischen/moralischen Norm überzeugend? Zur Beantwortung dieser Frage wird man wohl die Anerkennungspraktiken von für mündig ge2 Honneth, Anerkennung 163–169, in ders., Freiheit 277–317 wird dies in eine Analyse der Freiheitschancen in der posttraditionalen Familie überführt. 3 Honneth, Anerkennung 212ff. 4 Die Erwägung, dass die Bindungskräfte des Nationalstaats gegenüber der europäischen Integration mehr und mehr verblassen werden (Honneth, Freiheit 612–624) könnte sich angesichts vieler Reaktionen auf das leichtsinnigerweise ›Flüchtlingskrise‹ genannte Phänomen bedauerlicherweise als falsch erweisen. Gerade von der Thematisierung der katastrophischen Gegenformen von Anerkennung im Frühwerk Kampf um Anerkennung (Erstauflage 1992) her hätte das Material für eine kritische Entwicklungsgeschichte der Freiheitsformen bereitgestanden. In der Betrachtung der ökonomischen Felder tritt sie gelegentlich zutage (Honneth, Freiheit 408), prägt aber das Gesamtwerk durchaus nicht. 5 Honneth, Anerkennung 338. 6 Ebd. 7 Ebd.
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Stellvertretung, Anerkennung, Gabe
haltenen Menschen genauer in den Blick nehmen sollen. Ist für sie das Eigeninteresse vorrangig, dann würde die Erfüllung der Norm zum Nebenprodukt des Eigeninteresses und es hätte sich wohl kaum etwas ›ganz Entscheidendes‹ geändert. Das ist erst dann der Fall, wenn plausibel gemacht werden kann, dass Anerkennungspraktiken implizieren, dass der Andere um seiner selbst willen anerkannt wird, dass von ihm gleichsam eine ›objektive Verlockung‹ ausgeht, ihn als das/der anzuerkennen, der er ist. Was die Mitte der Persontheorie von Emmanuel Levinas ausmacht (vgl. oben II.1), ist hier zumindest nicht in der gebotenen Deutlichkeit im Blick: Honneths Anerkennungspraktiker agieren um ihrer selbst willen und haben dabei das implizite Glück, einer höherrangigen Norm zu gehorchen. Eine weitergehende Diskussion, die der Tendenz zur Fehlisolierung des Stellvertretungsthemas widersteht, sollte nach den Nähen und Fernen zwischen Stellvertretungs- und Anerkennungskonzeptionen fragen. Nähen liegen dabei auf der Hand: Beiden Konzeptionen ist gemeinsam, dass es eine Mehrzahl von Praktiken gibt, die zum konstitutiven Bezug der Subjekte aufeinander führt und in denen dieser Bezug ausgelebt wird. Honneths Dreierschema könnte sich beim Versuch, Formen von Stellvertretung einander zuzuordnen, als hilfreich erweisen. Auch ist beiden Konzeptionen gemein, dass sie eine Entwicklungsperspektive beinhalten: Zur reifen Anerkennung gelangt das Individuum in einem lebensgeschichtlichen Prozess und eine Gesellschaft durch Auseinandersetzungen, die nicht wenig Zeit beanspruchen. Durchaus ähnliches gilt, analysiert man menschliche Interaktionen als Stellvertretungen. Die möglichen Unterschiede sind nicht leicht zu fassen. Womöglich ist Stellvertretung eine Teilmenge von Anerkennung: Wo Anerkennung tatsächlich um des Anderen willen geschieht, trägt sie Sorge um sein Selbst und ist insofern Stellvertretung. Wenn Anerkennungsvorgänge in die Logik von Wesen und Stelle übertragbar sind (s. o. II.1, III.6) und also das Engagement für das Selbst des Anderen um seiner selbst willen erkennbar ist, wäre die Teilmenge der Stellvertretungsvorgänge erreicht. Honneths Festhalten an der Terminologie der individuellen Autonomie lässt jedoch vermuten, dass Anerkennung und Stellvertretung nicht identisch sind. Die Terminologie der Stellvertretung wäre dann geeignet, taktische von echter Anerkennung zu unterscheiden. Ob diese ersten Vermutungen – Stellvertretung als Steigerungs- und Authentizitätsform von Anerkennung – zutreffen, ist eine der Fragen, die sich einer eingehenderen Beschäftigung mit den beiden Konzeptionen stellen. Nicht minder klärungsbedürftig wäre, warum Axel Honneth für seine Sicht der Dinge ein gänzlich säkulares Narrativ voraussetzt. Ich erwarte nicht, dass er die theologische Stimme erhebt. Aber warum Anerkennungsformen aus dem religiösen Formenschatz überhaupt keine Rolle spielen, ist doch eine Frage wert. Die – liebenswürdige oder schrullige – Eigenart mancher Angehöriger, am Grab
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naher Verwandter ein imaginäres Zwiegespräch mit dem Verstorbenen zu führen, erklärt er kurzerhand zum Bestandteil »einer rational geduldeten Metaphysik«.8 Nicht nur, dass Metaphysik dadurch als pure Geisterseherei denunziert wird, der Schritt überspielt zur Gänze den Gedanken, dass Kommunikation mit einer nichtweltlichen Größe zumindest denkbar sein könnte. Offenbar schlägt Honneth die Religion der traditionalen Gesellschaft zu, die er als durch Vorgänge rechtlicher und solidarischer Anerkennung überholt ansieht. Das aber ist eine Verkürzung, die nicht nur theologische Theoriebildung schlicht ignoriert, sondern auch erkennbar hinter den Diskussionsstand in der Religionssoziologie zurückfällt.9 Hier tut sich zwischen Sozialphilosophie und Theologie durchaus noch ein reiches Betätigungsfeld auf. In dieses Feld wird auch der Nachweis gehören, dass Terminologie und Sache der Anerkennung schon bedeutend früher präsent sind, als der Rekurs auf Hegel es wahrscheinlich machte. Im Rahmen einer finnischen Arbeitsgruppe bereitet Risto Saarinen begriffsgeschichtliche Untersuchungen vor, die das Thema im christlichen und nichtchristlichen Denken der Antike, im Mittelalter, der Reformations- und der frühen Neuzeit zeigen.10 Auch hier kann der Dialog von Philosophie und Theologie nur profitieren. Etwas anders liegen die Dinge, wenn man die Erwägungen zur Konzeption der Anerkennung heranzieht, die Paul Ricœur in seinem letzten Buch unternahm. Sie folgen zunächst weitgehend den Honneth’schen Bahnen und übernehmen u. a. die an Hegels Frühwerk gewonnene Unterteilung in liebende, rechtliche und solidarische Anerkennung.11 Diese lediglich durch Kommentare angereicherte Wiedergabe bekommt jedoch einen eigenen Zungenschlag: Ricœur wendet sich gegen die bei Honneth systematisch wichtige Vorstellung, dass der Kampf um Anerkennung stets weitergehen müsse und sieht darin eine Neuauflage der schlechten Unendlichkeit: Unbegrenztes Verlangen ruht nie in sich und mutiert also zum Hegel’schen unglücklichen Bewusstsein. »Gegen dieses Unbehagen (…) schlage ich vor, die tatsächliche Erfahrung von dem, was ich Friedenszustände nenne, in Betracht zu ziehen, und sie mit den negativen und positiven Motivationen eines in jenem Sinne ›unendlichen‹ Kampfs zusammenzudenken, wie es die psychoanalytische ›Kur‹ sein kann.«12
8 A. Honneth, Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, 305. 9 Vgl. nur J. Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994, 40ff.211ff; ders., Europas Angst vor der Religion, Berlin 32015. 10 R. Saarinen, Recognition and Religion. A Historical and Systematic Study, vorauss. Oxford, 2016. 11 P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt/ M. 2006, 234–274. 12 Ricœur, Anerkennung 273.
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Unter Friedenszuständen versteht Ricœur Gelegenheiten, bei denen die agonalen Formen der Anerkennung unnötig geworden sind: Das Zusammenleben gelingt umfassend und unmittelbar, es hat es nicht einmal mehr nötig, sich an den Prinzipien der Gerechtigkeit zu orientieren, weil die jeweils andere Person wahrgenommen wird »ohne den Umweg über die allgemeine Regel zu nehmen«.13 Friedenszustände sind also die Momente fraglosen Gelingens des menschlichen Zusammenlebens. Sie haben ihre eigene Sprache, nämlich die der Makarismen und Hymnen und in ihnen gelingt von sich aus, was die Regeln der Anerkennungsvorgänge zwar fordern, aber indem sie das tun, gar nicht anders können, als den Kampfcharakter der Anerkennung zu perpetuieren. Die Friedenszustände – auch schlicht »Agape« genannt – sind wohl insulär als Momente geschenkhaft gelingenden Lebens zu denken.14 Hier drängen sich bis in die einzelnen Formulierungen hinein religiöse Assoziationen auf,15 und man wird wohl eines Elements der Ricœur’schen Religionsphilosophie ansichtig. Ricœur gibt freilich wenig mehr als Andeutungen. Für die weitergehende Diskussion um das Anerkennungskonzept und mit den Ideen zur Stellvertretung dürfte aber zweierlei wichtig sein: Zum einen handelt es sich um eine valide Rückfrage innerhalb der Anerkennungsdebatte. Die Aussicht auf einen je nur fortzusetzenden Kampf um Anerkennung lässt den stets in Anschlag gebrachten Unterschied der Anerkennungsthematik zum Hobbes’schen gewalttätigen Urzustand als Rechtfertigung totalitärer Herrschaft empfindlich klein werden. Überdies gibt es auch bei Axel Honneth durchaus Elemente der Ricœur’schen Friedenszustände, wie etwa die Betonung der Freiheits- und Liebesgewinne innerhalb der posttraditionalen Familie deutlich macht.16 Und zum anderen belastet man die eher hingetuschten Bemerkungen Ricœurs zum Friedenszustand wohl nicht zu sehr, wenn man sie als mit dem Zustand gelingender Stellvertretung identisch ansieht: Wer weder Regel noch Kampf braucht, um dem Anderen zu entsprechen und ihm eine selbstlose Gabe zukommen zu lassen, tut doch nichts anderes, als an seiner Stelle für ihn zu handeln. Ich zweifle, ob es wohlgeraten ist, das theologische Momentum genau hier festzumachen, wie es Ricœur mit der soteriologischen Interpretation des Moments umstandslosen Gelingens zu tun scheint. Dass aber sein Vorschlag, die Phänomenologie der Anerkennung zu erweitern, zu einer theologischen Theorie der Stellvertretung anschlussfähig ist, scheint doch etliches für sich zu haben.
13 Ricœur, Anerkennung 281. 14 Ricœur, Anerkennung 275 u. ö. 15 Ricœur, Anerkennung 278, vgl. die Bemerkung zu Dostojewskis ›Idiot‹ (281), der nach literaturwissenschaftlicher communis opinio eine Christus-Chiffre darstellt. 16 Honneth, Freiheit 277–317.
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Damit ist das Feld der zweiten Metapher, um deren Anschließbarkeit an den Stellvertretungsdiskurs es ging, bereits betreten. Stellvertretung einerseits und das Phänomen der Gabe und/oder des Gabentausches haben offenkundig miteinander zu tun. Wenn Stellvertretung, wie es in der vorliegenden Untersuchung durchgängig geschah, als Zuspielen von Lebensmöglichkeit verstanden werden kann, dann ist ein überlappendes Interesse bei der Auslegung der beiden Metaphern wohl kaum von der Hand zu weisen. Da die theologische Forschung zur Gabemetaphorik in diesen Tagen und Jahren rasant an Dynamik gewinnt, sind hier noch etliche Aufschlüsse zu erwarten. Grundgedanke der teilweise heftig gegenstrebigen Gabetheorien ist dieser: Eine Gabe bringt zusammen und hält zusammen. Zu geben und zu empfangen, sind menschliche Phänomene, die in sehr unterschiedlichen Kontexten auftreten können, etwa als Geschenk, als Opfer, als Spende oder Erbe, materiell wie immateriell, von hohem oder von monetär eher niedrigem Wert. Gemeinsam ist diesen vielfältigen Vollzügen jedenfalls, dass ein – wie auch immer näher qualifiziertes – Gut von einem Menschen oder einer Gruppe auf einen anderen Menschen oder eine andere Gruppe übergeht. Durch diesen Übergang entsteht eine Bindung zwischen den am Gabevorgang beteiligten Personen. Welcher Art diese Bindung ist und welche Konsequenzen mit ihr einhergehen, ist hauptsächlicher Gegenstand so mancher Kontroverse. Sie geht aus von Argumenten in dem Basisbuch der Diskussion überhaupt, das Marcel Mauss im Jahr 1923 vorlegte. Nach ethnologischen Beobachtungen kommt er zu dem Schluss, dass eine Gesellschaft, die nur durch Güter- und Geldkreisläufe miteinander kommunizieren würde, eine schreckliche Gesellschaft sein müsste. Aber: »Ein großer Teil unserer Moral und unseres Lebens schlechthin steht noch immer in jener Atmosphäre der Verpflichtung und Freiheit zur Gabe. Zum Glück ist noch nicht alles in Begriffen des Kaufs und Verkaufs klassifiziert.«17 Der gesellschaftliche Austausch durch Gaben ist also vom System des ökonomischen Tausches zu unterscheiden. Darüber hinaus ist er durch das eigentümliche Gegensatzpaar ›Verpflichtung und Freiheit‹ charakterisiert. Für Mauss steht es außer Frage, dass eine Gabe Gegengaben provoziert und so ein Netzwerk sozialer Bezogenheiten entsteht. Niemand kann ohne solche Bezogenheiten und Netzwerke leben, woraus sich unmittelbar die Pflicht dazu ableitet. Freilich sind sie eben nicht – Stichwort ›Freiheit‹ – durch Angebot, Nachfrage, Preis und die anderen knappheitsbezogenen Aspekte ökonomischen Wirtschaftens charakterisiert. Dem Gabentausch wohnt ein instrinsischer Aspekt von Freiwillligkeit und auch von Überschuss inne. Wer wirtschaftet, ruft die Logik der knappen Güter auf; wer eine Gabe überreicht, insinuiert, dass genug da 17 M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1990, 157.
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ist und dass die Logik der Fülle aufgerufen werden darf. In diesem eigentümlichen Spiel zwischen Verpflichtung und Freiheit entsteht durch Gaben und Gegengaben das Netz sozialer Beziehungen. Es ist nichts weniger als dies: »die Freude am öffentlichen Geben; das Gefallen an ästhetischem Luxus; das Vergnügen der Gastfreundschaft und des privaten oder öffentlichen Festes. (…) Ehre, Selbstlosigkeit und korporative Solidarität sind weder leere Wörter, noch laufen sie der Notwendigkeit zur Arbeit zuwider.«18 Zahllose Studien beziehen sich auf den eben zitierten schmalen Band, auch wenn viele ethnologische Details aus Mauss’ Forschungen im indischen Ozean, dem pazifischen Raum und anderswo inzwischen überholt sein mögen. Umstritten ist dabei besonders die Frage, wie die Abgrenzung der Gabekultur vom ökonomischen Kreislauf der Dinge und des Geldes zu denken ist. Denn je stärker man den Verpflichtungscharakter von Gabe und Gegengabe betont, desto näher rückt sie an den ökonomischen Kreislauf heran und wird unter der Hand ihres eigenen, nämlich des Gabecharakters entkleidet und zu einer Ökonomie zweiter Ordnung. Contra intentionem wäre dann der Gabediskurs eben nicht das Andere der Ökonomie, sondern die Bestätigung seiner Omnipräsenz mit anderen Worten. Nicht nur, aber mit besonderer Wirksamkeit machte Jacques Derrida auf diesen Aspekt aufmerksam. Sein Anliegen war, die Gabe von jedem Anschein der Ökonomisierung freizuhalten. Das bedeutet als erstes, dass eine Gabe nur dann Gabe ist, wenn sie völlig konsequenzlos überreicht wird: Wer auf Gegengabe spekuliert, gibt nicht, er rechnet vielmehr und führt eine Klugheitshandlung zum eigenen Vorteil durch. Damit freilich kann es noch nicht sein Bewenden haben: Die Gabe darf auch für den Empfänger nicht als Gabe erkennbar sein, da sonst er sich womöglich zu einer Gegengabe aufgefordert sähe.19 Nur so ist die Gabe reine Gabe und vom Kreislauf der Ökonomie geschieden. Die Gabe ist damit ein Unmögliches, weil sie unintentional geschehen und empfangen werden muss. Sie ist sogar das Unmögliche, aber präzise das Unmögliche, von dem jeder Mensch lebt: Jede/r ist sich selbst gegeben. Mit dieser paradoxen Intervention hat Derrida die eigentümliche Dynamik des Gabethemas in aller Klarheit aufgezeigt: Wie kann etwas überreicht werden und doch nicht ökonomisch gedacht werden? Die Reinheit seiner Definition hat freilich den nicht geringen Nachteil, dass das zu Definierende in der Definition selbst verschwindet. Auch geht der Beziehungsaspekt dabei tendenziell verloren: Empfängt jemand die Gabe = sich selbst, ohne jedoch des Gabecharakters innewerden zu können, dann entfällt der konnektive Aspekt, der doch zum Gabediskurs gehört und den Mauss etwas altertümlich, aber zutreffend »korpora-
18 Mauss, Gabe 163. 19 J. Derrida, Zeit geben 1. Falschgeld, München 1993, 22 u. ö.
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tive Solidarität« nannte.20 Die Derrida’sche Einrede dürfte deswegen vor allem als genau dies: als Einrede verstehbar sein. Als Position ist sie unmöglich, sie zeigt jedoch die bleibende Schwierigkeit auf, die Gabe nicht zu einer Ökonomie geringerer Größenordnung und gleichsam ›softer‹ Art zu machen. Als Reaktion darauf wurden nicht wenige Vorschläge entwickelt, welche Formen von Gabe sich beschreiben lassen, die Wechselseitigkeit zulassen und dennoch erkennbar von der Logik der Ökonomie unterschieden sind. Ich greife beispielhaft auf die Typologie von Marcel Hénaff zurück, der drei Gabeformen benennt: die zeremonielle Gabe, die wohltätige und die solidarische.21 Die solidarische Gabe – etwa unter Freunden – ist ein Akt der Hilfe unter Menschen, die sich kennen und die entsprechend einander verpflichtet sind. Sie erwartet durchaus eine Gegengabe, etwa, wenn der jetzt aktuelle Geber in eine Situation der Hilfsbedürftigkeit gerät, sie ist auf eine solche Umkehrung der Verhältnisse jedoch nicht notwendig angewiesen. Die wohltätige Gabe ist im Gegensatz dazu auch unter Menschen möglich, die nicht in einem vorgängigen Vertrautheitsverhältnis leben. Sie ist spontan, freudig und erwartet keine Gegengabe, zugleich ist sie das, was Hénaff als biblisch meint ausmachen zu sollen.22 Die zeremonielle Gabe schließlich, der Hénaffs hauptsächliche Aufmerksamkeit gilt, ist im Gegensatz zur wohltätigen fundamental auf Gegenseitigkeit angelegt. Sie erzeugt eine Bindung zwischen Gebern und Nehmern: »Die zeremonielle Gabe ist vor allem ein Verfahren der gegenseitigen öffentlichen Anerkennung zwischen Gruppen in den traditionellen Gesellschaften.«23 Durch sie wird der Andere identifiziert, akzeptiert und geehrt. Das ist ohne Überreichen eines Dings oder Wertes nicht zu denken: Das Überreichte hat dabei nicht nur einen gewissen Wert, es steht überdies für das Selbst des Gebers, so dass dieser Gabetyp zu wechselseitiger Anerkennung führt: »dass man dem Anderen etwas von sich selbst gibt, als Unterpfand und Substitut des Selbst.«24 Der konnektive Effekt dieses Vorgehens ist unschwer zu erkennen, auch lässt sich leicht denken, dass mitnichten nur die traditionellen, sondern auch heutige Gemeinschaften und Gesellschaften in diesem Sinne funktionieren. Im Anschluss an diese und andere Gabediskurse aus Philosophie und Ethnologie und in Auseinandersetzung mit ihnen hat sich in den letzten Jahren eine lebhafte theologische Debatte um das Phänomen entwickelt. Sie ist zum einen bemüht, die theologischen Traditionen namhaft zu machen, für die ›donum‹ kein Fremdwort ist, was sich etwa in der reformatorischen Theologie zeigen
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Mauss, Gabe 163. M. Hénaff, Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, Bielefeld 2014, 58–62. Hénaff, Gabe 60. Hénaff, Gabe 63, i.O.herv. Hénaff, Gabe 65, i.O. teilw. herv.
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lässt.25 Zeigen sich schon in diesen Arbeiten sehr deutlich die systematischen Interessen, so gilt das explizit für eine Reihe von Studien, die im Rahmen bzw. Umfeld eines Forschungsnetzwerks zum Thema entstanden.26 Auch die ökumenische Relevanz der Gabemetaphorik wurde bereits in den Blick genommen.27 Es gibt nun eine ganze Reihe von materialdogmatischen Feldern, in denen die Gabemetaphorik sprechend werden könnte: Ist Gnade etwa eine Gabe, die Gott dem Menschen überreicht? Ähnlich kann man erwägen, ob Gabemodelle dem Verständnis von Abendmahl/Eucharistie aufhelfen oder ob z. B. Nächstenliebe eine Form der Gabe darstellt. Die mögliche Schnittmenge des theologischen Interesses an Gabemodellen und der hier skizzierten Theologie der Stellvertretung dürfte zwei Hauptthemen haben: Zum einen geht es um die Frage, ob Gottes Eintreten für Menschen einen anderen Akzent erhält, wenn es nicht stellvertretungstheologisch, sondern gabetheologisch durchdacht wird. Überzeugt das hier präferierte Modell der inklusiven Stellvertretung, dann sollte sich zunächst eine grundsätzliche Gemeinsamkeit ergeben: Die Rede von der inklusiven Stellvertretung behauptet ja, dass Stellvertretung wesentlich als gemeinschaftseröffnend zu denken ist. Wenn der Gabediskurs nun das Augenmerk nicht (allein) auf die Materialität der Gabe lenkt, sondern auf den konnektiven Aspekt des Gabetausches fokussiert, dann dürfte doch in unterschiedlichen Dialekten vom Selben die Rede sein. Interessant sind dann die jeweiligen Zuspitzungen: Die Rede von der Stellvertretung betont Gottes Aktivität, die anders als personal nicht zu denken ist, der Gabediskurs hingegen die – wenn man so will – Materialität dessen, was aus der Stellvertretung hervorgeht: Es geht ›etwas‹ von Gott zum Menschen und die Rede von der Rechtfertigung bemüht sich um die nähere Beschreibung dieses ›etwas‹. Um den 25 B.K. Holm, Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre, Berlin 2006, bes. 104ff.132ff, ders., Luther’s Theology of the Gift, in: The Gift of Grace. The Future of Lutheran Theology, hg. von N.H. Gregersen u. a., Minneapolis 2005, 78–86. 26 Grundlegend ist die Habilitationsschrift von V. Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg 2013; im von ihr geleiteten Forschungsnetzwerk entstanden u. a.: Die Gabe. Ein »Urwort« der Theologie?, hg. von V. Hoffmann, Frankfurt/M. 2009 und die Themenhefte Ökumenische Rundschau 60 (2011), Nr. 2 sowie Theologie der Gegenwart 55 (2012), Nr. 1. Die abschließende Publikation ist: Die Gabe. Zum Stand der interdisziplinären Diskussion, hg. von V. Hoffmann, U. Link-Wieczorek und C. Mandry, Freiburg/München 2016. Vgl. aus der weiteren Diskussion folgende hilfreiche Sammelbände: God, the gift and postmodernism, hg. von J. Caputo/M. Scanlon, Bloomington IN 1999; Geschenkt – umsonst gegeben? Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, hg. von J. Wohlmuth, Bonn 2000; Gabe und Tausch in Ethik, Gesellschaft und Religion, hg. von M. Rosenberger u. a., Frankfurt/M. 2006; Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, hg. von H. Joas/M. Gabel, Freiburg 2007; Geben und Nehmen, JBTh 27 (2012), hg. von M. Ebner u. a., Neukirchen-Vluyn 2013. 27 R. Saarinen, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville MN 2005.
Leitbegriffe im interdisziplinären Diskurs der Theologie
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Status und die Beschaffenheit dieses ›etwas‹ dürften sich dann die interessanten Debatten ranken. Möglich also, dass die spezifischen Logiken von Stellvertretungs- und Gabediskurs sich komplementär zueinander verhalten. Die zweite Schnittmenge zwischen Gabe- und Stellvertretungsdiskurs findet sich in den Feldern horizontaler Stellvertretung bzw. des entsprechenden Gabetausches. Einige Beispiele wurden hier in Kap. III näher vorgestellt, das Themenfeld ist auch gabetheologisch im Blick.28 Die prekäre Materialität der Gabe ist hier deutlich einfacher in den Griff zu bekommen als bei der Frage nach dem Gabecharakter der Gnade Gottes. Dafür freilich tauscht man das unübersichtliche und nie abschließend beschreibbare Feld der Anthropologie ein. Ob sich Gabe- und Stellvertretungsdiskurs in allen Fällen komplementär zueinander verhalten, kann man zunächst einmal vermuten und auf die dadurch möglichen Bestimmtheitsgewinne hoffen. Dem näheren Zusehen in Einzelstudien kann und soll aber nicht vorgegriffen werden. Anerkennung und Gabe – mindestens an diese beiden Themen und die von ihnen aufgerufenen theoretischen Orientierungsversuche ist die Thematik der Stellvertretung also anschlussfähig. Allen dreien ist gemeinsam, dass es sich um originär theologische und zugleich originär nichttheologische Konzepte handelt. Das ist für die Explikationsaufgaben der systematischen Theologie ein erheblicher Gewinn. Denn sie verhindern zum einen, dass die Theologie in ihren geschlossenen Sprachsystemen allein verbleibt und sich gleichsam semantisch bei sich selber einrichtet. So unersetzbar dieser Rückgang ins Eigene auch ist, er allein könnte die systematisch-theologischen Erklärungsaufgaben keinesfalls ausfüllen, weil sie erst dann in Angriff genommen werden, wenn das jetzt Anstehende im Licht des Evangeliums thematisiert wird. Und umgekehrt gilt: Theologische Erklärungsbemühungen wären nicht gut beraten, wenn sie zu Metaphern und Kategorien greifen, die ihnen zur Gänze extern sind. Das mag man als apologetischen Reflex von Zeit zu Zeit verstehen, es ging und geht jedoch nahezu regelmäßig mit der Tendenz zu inhaltlicher Verarmung einher. Von den hier kurz zu umreißenden Konzeptionen geht dagegen die Nötigung aus, die theologische Binnen- und die Außenperspektive dauerhaft aufeinander bezogen zu halten. Die Vorstellung einer reinen Binnensemantik wäre schon aus leicht einsehbaren kanontheologischen Gründen falsch, eine sich rein außenperspektivisch andienende Theologie verlöre dagegen rasch die Orientierung. Mitnichten muss, wovor Schleiermacher warnte, der Knoten der Geschichte so auseinandergehen, dass das Christentum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben gehe.29 Die Zentralität des Stellvertretungsthemas zeigt sich 28 Vgl. exemplarisch Hoffmann, Gabe 467ff. 29 F.D.E. Schleiermacher, Über seine Glaubenslehre an Herrn Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben,
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Stellvertretung, Anerkennung, Gabe
auch in der Aufgabe der Theologie, die Provokation der Weltlichkeit Gottes den Gesprächspartnern innerhalb wie außerhalb des biblisch induzierten Sprachraums zuzumuten.
Schleiermacher-Auswahl. Nachwort von Karl Barth, hg. von H. Bolli, Gütersloh 1968, 140–175, 146.
Nachweise
»Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?« Ein Bericht über Anthropologie in evangelischer Wahrnehmung – »Wer ist der Mensch?« Anthropologie im interreligiösen Lernen und Lehren, hg. von K. Boehme, Berlin 2013, 75–99. Person und Wiedergeburt in Friedrich D.E. Schleiermachers Glaubenslehre – teilweise in: Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses, hg. von M. Gockel und M. Leiner, Göttingen 2015, 155–182. Widerspruch und Anknüpfung zugleich: Karl Barth über die Person und ihr Neuwerden – teilweise ebd. »Die Person ist vor ihren Zielen da«. John Rawls’ Personkonzept in der Diskussion – Evangelische Theologie 64 (2004), 438–453. Das Neuwerden der Person – Lutherjahrbuch 77 (2010), 239–267. Seele. Zur Wiedergewinnung eines Konzepts – Theologische Zeitschrift (Basel), 69 (2013), 101–117. Freundschaft. Über Selbstsein mit und aus dem Anderen – Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs, hg. von M. Hofheinz, F. Mathwig und M. Zeindler, Zürich 2014, 53–80. Vorbilder. Ein Lehrstück in öffentlicher Theologie – Fehlbare Vorbilder in Bibel, Christentum und Kirchen. Von Engeln, Propheten und Heiligen bis zu Päpsten und Bischöfinnen, hg. von H. Kuhlmann, Berlin 2010, 13–25. Lehren. Warum darf in den Lebensvollzug anderer eingegriffen werden? – Veränderte Fassung von: Erziehung zur Mündigkeit – aber zu welcher?, in: Bildungskonzepte und Bildungsorganisation. Zur Dramaturgie der Wissensgesellschaft, hg. von G. Zenkert, Heidelberg 2017, 107–130. Interzession. Bittgebet und Stellvertretung – Gebetslogik. Reflexionen aus interkonfessioneller Perspektive, hg. von J.E. Hafner, J. Enxing und A. Munzinger, Leipzig 2016, 95–117 (gekürzt). Die anderen Kapitel sind bislang unveröffentlicht, Einleitung 1, II.1, II.2 und der Ausblick wurden eigens für diesen Band geschrieben.
Personenregister
Adloff, Kristlieb 341 Adorno, Theodor W. 81, 179, 257 f. Anselm von Canterbury 189, 202 Apel, Karl-Otto 149, 305, 307 Aristoteles 27, 170, 233, 245, 248–256, 261– 263 Assmann, Jan 106 Athanasius 167 f., 215 Augustinus 129, 231, 240, 260, 270–278, 282, 287 f. Austin, John L. 69 Bader, Günther 175 f. Barth, Karl 13–15, 23 f., 26, 29, 50, 59, 74– 96, 98, 115, 124, 141, 169 f., 173, 194, 202, 260, 285 f., 323–326, 329, 356 Birnbacher, Dieter 104 Bloch, Ernst 70, 234, 257 f. Boethius 72, 100 Bonhoeffer, Dietrich 80, 85, 185, 214, 221, 245, 247, 258 Brandt, Sigrid 176, 186 f., 203, 205, 310 Brumlik, Micha 28, 302–309, 319 Buber, Martin 78, 107, 135–138, 141, 153, 183, 247 f., 280–282 Casanova, José
349
Dalferth, Ingolf U 66, 94, 116, 195, 204, 227, 242 Dantine, Wilhelm 95 Danz, Christian 323 Dennett, Daniel C. 99, 107 f. Derrida, Jacques 143, 352 f.
Dieter, Theodor 104, 170 Dirscherl, Erwin 8, 18, 20–22, 68, 101, 143 Dohmen, Christoph 284 Feldmeier, Reinhard 66, 73, 192, 206, 247 Fischer, Johannes 60, 126, 128, 246 Foucault, Michel 275, 307, 310 Frei, Hans W. 18, 92, 323 Freud, Sigmund 79, 93, 162, 235, 281, 303, 312, 342, 352 Frisch, Ralf 176, 183 Gehlen, Arnold 30, 155 Gestrich, Christof 25, 71, 91, 154–158, 160–165, 171, 188, 204, 207, 233–236, 243, 258–260, 262, 336–338 Girard, René 177–180, 185 Gollwitzer, Helmut 343 Gräb, Wilhelm 56, 67 Gregor von Nazianz 287 Gustafson, James M. 40 Habermas, Jürgen 175, 209, 258, 305, 307 Hahn, Ferdinand 201 Härle, Wilfried 13, 34 f., 37, 39 Hauerwas, Stanley 125 f., 252 Hegel, Georg W.F. 110 f., 120 f., 134, 141, 209 f., 227, 240 f., 277 f., 346 f., 349 Heidegger, Martin 22, 81, 209, 315 f., 319 Heine, Heinrich 163 Hénaff, Marcel 353 Herms, Eilert 76 Hieke, Thomas 181, 184, 191 Hiller, Doris 331
360
Personenregister
Hoffmann, Veronika 354 f. Holm, Bo Kristian 354 Honneth, Axel 120 f., 124, 134, 141, 209 f., 240, 248, 346–350 Hütter, Reinhard 125 f. Janowski, Bernd 176, 181, 186, 189, 191– 193, 199, 284, 335 f., 340 Jenson, Robert W. 212, 222, 224–228 Joest, Wilfried 13, 35–37, 39 f., 42, 114, 116, 125, 219 Jørgensen, Theodor H. 61 f. Jörns, Klaus-Peter 173 Jüngel, Eberhard 79, 85, 94, 207 Kant, Immanuel 28, 65, 98, 110 f., 117, 119, 135, 138, 151 f., 173–175, 214, 240, 246, 281, 307, 310–315, 317 Kelsey, David H. 16, 21 f., 40–47, 325 Kierkegaard, Søren 60, 209, 260 Kittel, Gisela 199, 202, 341 Kleffmann, Tom 15 Knöppler, Thomas 193, 197, 199 f. Kobusch, Theo 100, 119, 138, 162 Körtner, Ulrich 70, 169, 287 Kraus, Wolfgang 197–200 Krötke, Wolf 75, 80, 85, 97, 208, 283 Lehmkühler, Karsten 219 Leibniz, Gottfried Wilhelm 110, 333 Levinas, Emmanuel 18, 20 f., 25, 27, 101, 141, 143–154, 161 f., 164, 209 f., 238 f., 242 f., 248, 348 Levine, Baruch A. 191 f. Link, Christian 65, 119, 218, 232, 354 Locke, John 72, 100, 105–107, 111, 131 f., 139, 277, 279 Löwith, Karl 209 Luther, Henning 235, 342 Luther, Martin 26, 35–37, 39, 60, 63 f., 70, 75 f., 109, 115 f., 170, 183, 193, 211–220, 222–225, 227 f., 238 f., 243, 254, 259, 286, 334, 354 Mannermaa, Tuomo 227 f., 259
212–218, 223–225,
Marquardt, Friedrich-Wilhelm 161 Mauss, Marcel 351–353 McCormack, Bruce 195, 227, 323 Meckenstock, Günther 97 f. Meilaender, Gilbert C. 261 Melanchthon, Philipp 14, 51 Menke, Karl-Heinz 25, 132, 165–171, 207, 210 Miggelbrink, Ralf 190 Mildenberger, Friedrich 26, 119 Milton, John 294 f. Moltmann, Jürgen 94, 127 Nagel, Thomas 76, 110 Niebuhr, Richard R. 51, 56, 60 Nietzsche, Friedrich 79, 125, 237, 305, 343 Oeming, Manfred 335 Origenes 237, 294 Pannenberg, Wolfhart 23, 30–33, 37, 39, 64, 79, 85, 106, 227 Pesch, Otto-Hermann 18, 254 Picht, Georg 119 Platon 25, 27, 119, 150, 152, 154, 249, 265– 268, 273–276, 313, 322 Precht, Richard David 264 Preuß, Horst Dietrich 182, 187 Pröpper, Thomas 18–20, 22, 240 Quante, Michael
100, 107, 131–134
Rahner, Karl 17 f., 20, 23, 260 Rawls, John 23 f., 109–128, 241, 304 Reinders, Hans J. 252, 254 f., 262 Rentsch, Thomas 279, 307, 315–320, 324, 327 Ricœur, Paul 139, 141, 349 f. Ritschl, Albrecht 214, 220, 328 Ritschl, Dietrich 13, 16, 46, 92, 106, 139, 161, 195, 218, 241, 265, 270, 283 Ritter, A. Martin 95, 241, 286 Röhser, Günther 204 Rose, Miriam 248, 254, 256 Rosenzweig, Franz 95, 183, 248
361
Personenregister
Saarinen, Risto 213, 217, 219, 222, 228 f., 263, 349, 354 Sattler, Dorothea 194 Sauter, Gerhard 14, 16, 21, 40, 42–47, 85, 325 Schleiermacher, Friedrich D. E. 23 f., 26, 49–74, 84–86, 90, 92–98, 152, 266, 320– 323, 325, 328, 355 f. Schlink, Edmund 328–330 Schmidt, Werner H. 182, 185, 248 Schmidt-Leukel, Perry 244 Schneider-Flume, Gunda 15 Schnelle, Udo 174, 201 Schoberth, Wolfgang 8, 16, 21, 37 f., 65, 119, 139, 156, 239, 247 Schockenhoff, Eberhard 66, 156 Schwöbel, Christoph 223 f. Searle, John R. 69 Singer, Peter 23 f., 99, 101–108, 117, 131, 306, 308 Sloterdijk, Peter 190, 305 Söding, Thomas 197 f. Sölle, Dorothee 343 Spaemann, Robert 101, 130, 137 f., 140 Spieckermann, Hermann 192, 206 Spinoza, Baruch de 63, 97 f.
Waap, Thorsten 79, 83 Weber, Otto 66 f., 94, 247 Welker, Michael 22, 126 f., 175 f., 186, 201 f., 218, 240 Wengst, Klaus 286 Wenz, Gunther 62, 219 Weymann, Volker 51, 71, 73 Whitehead, Alfred N. 158, 337 Wilckens, Ulrich 197 f., 201, 203 Wittgenstein, Ludwig 21, 315 f., 319 Wohlmuth, Josef 18, 20, 22, 141, 210, 239, 354
Taylor, Charles 281, 336 f.
Zizioulas, John D. 287, 328 Zuckmayer, Carl 202
120, 139–141, 241, 278 f.,
Theißen, Gerd 232 Theunissen, Michael 209 Thomas von Aquin 27, 60, 169, 245, 251, 253 f., 256, 263 Tödt, Heinz-Eduard 66, 246 f. Track, Joachim 87, 166 Troeltsch, Ernst 173 Tugendhat, Ernst 277–279 Volf, Miroslav 287 f. von Goethe, Johann Wolfgang von Lüpke, Johannes 13
264
Sachregister
Allmacht 97, 208, 323 Analogie 25, 55 f., 75, 78, 82, 87, 166 f., 170 f., 207, 273 f., 287 Anerkennung 20, 22, 28, 68 f., 73, 100–102, 107–110, 122, 134, 137, 139–142, 209, 246 f., 278, 309, 345–350, 353, 355 Apokryphen 196 Apologetik 30, 33, 35, 37, 39, 64, 101, 104, 106, 156, 178, 280, 325, 355 Aristotelismus 101, 161 f., 249 f., 253 f., 262 Aufklärung 114 Autonomie 65, 103, 105, 141, 293, 314 f., 318–325, 347 f. Bundestheologie
284 f.
Cartesianismus 81, 102, 105, 144, 275, 316, 319 Chalcedon 52 Christologie 13, 15–17, 22, 25, 35, 42, 49– 52, 55–57, 64, 71 f., 74–77, 79, 82 f., 86, 89 f., 92, 96, 118 f., 149, 162, 164, 168– 170, 172–174, 179 f., 183, 201, 204 f., 209 f., 213 f., 228 f., 240, 242, 254, 286, 324, 329, 342 f., 345 Dankbarkeit 41, 45, 82, 210, 261, 303 Demonstratio religiosa 106 Dezentrierung 183, 209, 228, 236, 257 Doxologie 328–330 Eigenschaftslehre 208 Endlichkeit 17 f., 33, 52, 59, 82, 97 f., 119, 223, 227, 317, 321, 323, 337
Engelssturz 289, 292, 294 f., 300 Ens morale 24, 73, 101, 138 f., 142, 346 Entelechie 233 Ereignishaftigkeit 62 f., 95 f., 171, 226, 247 Erziehung 7, 167, 241, 257, 301 f., 306 f., 309–312, 314 f., 318–322, 327 Eschatologie 16, 35 f., 39, 42, 70–72, 76, 80, 82, 105, 115, 118, 124, 156, 171, 174, 198, 203, 205 f., 233, 239, 257, 284, 330, 341 Ewigkeit 81, 118–120, 218, 271 f., 274, 287, 324 Exteriorität 21, 185, 235, 237, 239, 241, 248 Exzentrizität 16, 24, 39 f., 42, 45, 115–118, 325 Freiheit 19, 55, 60, 88–91, 97 f., 100, 120 f., 134, 138, 141, 147, 155, 158, 164, 210, 216, 223, 225, 237, 240, 242 f., 248, 278, 281, 293, 301, 309, 311, 315, 321, 323, 325 f., 346 f., 350–352 Freundschaft 7 f., 27, 134, 155, 202, 245– 264, 346 Fundamentaltheologie 18, 22 f., 30, 87, 104, 106, 325, 328 f., 331 Fürbitte 176, 327–344 Gabentausch 263, 346, 351 Ganzes 21, 32, 152 Gebet 8, 28, 45, 327–331, 333, 335, 342 Gericht 41, 51, 82, 105, 127, 174, 338 Gewissen 108 f., 139, 221, 226, 234, 252, 287, 353 Glaube 13, 17, 22, 31, 34, 36 f., 42, 50 f., 53, 62, 64, 66 f., 78, 92 f., 96, 109 f., 115 f.,
364
Sachregister
122, 125, 139, 141, 154, 163, 169–171, 173 f., 181 f., 185, 194, 203, 207, 212–217, 220, 222–224, 228, 236 f., 239–241, 254, 256, 258–260, 270, 273, 280, 286, 293, 300, 321 f., 324 f., 329, 341–344 Gottebenbildlichkeit 13, 15, 21, 30, 33 f., 79, 283 f.
Metapher 22, 28, 67 f., 73, 84, 86, 146 f., 155, 165, 171, 173–175, 201 f., 207, 213, 217–219, 222, 227, 229, 243, 249, 271 f., 324, 338, 340, 345, 351, 355 Mitgeschöpflichkeit 34, 255 Mündigkeit 257, 304 f., 307, 309, 318–323, 326 f.
Heiligtum 181, 183, 185, 191 f., 197 f., 200, 202 f., 340 Hingabe 202 f. Hoffnung 22, 41 f., 47, 71, 77, 80, 82, 92, 141, 193 f., 233–235, 248, 268, 292, 355
Narrativität 85, 138–140, 142 Neu-/Thomismus 254
Identität 27, 43 f., 68, 71 f., 79 f., 100, 104 f., 109, 115, 123 f., 127, 133, 138–142, 145, 149, 166 f., 181, 220, 233–236, 239– 242, 258, 276, 278 f., 287, 321, 336 f., 342, 346 Innerlichkeit 69, 80, 137, 151, 195 f., 241, 278–280 Interaktion 22, 73, 101, 278, 309, 320, 337, 348 Interexistential 318 f., 324, 327 Interzession 155, 259–261, 327, 331–335, 342–344 Kantianismus 111, 117–121, 138, 146, 175, 241, 307 f., 312, 314 f. Kirche 7, 14, 17, 25, 28, 37, 47, 49 f., 61, 83, 91 f., 116, 124–128, 139, 157, 161, 165, 168–170, 178 f., 196, 205, 210, 212, 226, 231, 236, 258, 263 f., 268, 272, 286 f., 292, 298 f., 321, 334, 344 Konfession 14, 21 f., 47 f., 171, 174, 232, 263 f., 270, 328, 341, 344 Lebensform 32, 41, 61, 65–67, 69, 259, 268, 271, 307 Lehren 7, 14, 28 f., 54, 123, 142, 155, 165– 167, 170, 187, 209, 243, 276, 283, 292, 297, 301 f. Leiblichkeit 13 f., 61, 266, 276, 284, 316 Liebesverständnis 27, 253 f., 256, 264, 276 f., 288 Loci-Dogmatik 13–17, 21, 83, 345
Offenbarung 19, 22, 46 f., 81, 163, 184, 201, 216, 220, 223 f., 240, 248, 282 Öffentliche Theologie 289–292, 300 Öffentlichkeit 27, 31, 108 f., 123, 126 f., 175, 188, 290 f., 331–333, 335, 346 Opfer 106, 165, 172 f., 175, 177–180, 182 f., 185–187, 189, 192, 199, 202–205, 254, 339–341, 351, 354 Ordo salutis 62, 67, 84 f. Pädagogik 159, 232, 237, 302, 311 f., 321 f. Passivität 18, 20, 59, 65, 89, 109, 145–150, 152, 153, 234, 242, 288 Personalität 49, 99–102, 107 f., 131 f., 277, 305 Personkriterien 24, 99, 102–104, 108, 134, 153, 308 Platonismus 27, 53, 118, 150, 153, 169, 223 f., 260, 265, 267–276, 284, 315 Pneumatologie 13, 26, 40 f., 79, 87, 90, 92– 95, 126, 142, 169, 180, 220, 224, 228 f., 288, 343 Prädestination 160, 323 f. Präsenz Gottes 18, 35, 44, 48, 88, 198, 201, 320, 323, 326 Rechtfertigung 7, 14, 58, 61, 63, 65, 67, 83 f., 86 f., 91–94, 96, 103, 109, 111, 113, 164, 170, 172, 182, 193 f., 196, 205, 212– 214, 216, 220–222, 224–228, 237 f., 243, 258 f., 320, 338, 341 f., 345, 350, 354 Reformation 14, 51, 60 f., 63, 65, 69 f., 75, 109, 114, 116, 170, 211, 220, 243, 334, 349, 353 f.
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Sachregister
Religion 51, 53, 65, 67 f., 70, 74, 94 f., 97 f., 106, 110, 112, 114, 116, 119, 122 f., 125, 127, 152, 161, 163, 173, 175, 177 f., 195 f., 208, 220, 235, 237, 239, 243 f., 270, 279 f., 321 f., 342, 349, 354 Repräsentation 25, 155–159, 162–164, 176, 188, 192, 200, 204, 206, 261–263, 297 f., 336, 339 f. Schöpfung 13–15, 18–20, 23 f., 30, 33–35, 37, 39–41, 52–58, 63, 66, 69, 71 f., 74, 76, 83 f., 87, 91, 96, 108, 126, 148, 160–162, 189 f., 224, 254 f., 259, 274, 283–285, 287, 320, 326, 333, 341 Seele 13, 15, 27, 33, 71, 75, 77, 79 f., 82, 184, 190–192, 195, 225, 231–243, 265–267, 269, 271, 275 f. Selbstbezug 134, 151, 209, 240, 277 f., 318 Selbstheit 145 Stetigkeit 58, 62 f., 68–70, 95, 208, 226, 282 f. Subjektivität 20, 22, 60, 108, 134, 144, 147, 149, 171, 208, 238, 240, 242, 248, 277, 316, 318 Sühne 26, 149 f., 153, 183, 187, 191–193, 197–200, 203 f., 210, 340 f. Sühnetod 199, 201, 341 Sünde 13–15, 17, 26, 33, 35, 41, 47, 54, 58– 62, 68, 76, 87, 91, 93 f., 110, 162, 164 f., 167–169, 172, 174, 178, 183–185, 187– 194, 199 f., 203, 205 f., 216, 222, 293–296, 324 f., 333, 338 f., 341 f. Sündenbock 176 f., 181 f., 184 f., 340 Teilhabe 26, 86, 115, 169, 201, 207, 212 f., 217, 219–229, 259, 304, 341 Theodizee 34, 333 Theopoiesis 213, 215, 218 f., 221, 227, 238 Trinität 16, 22, 33, 40, 42 f., 46, 51, 77, 97, 168 f., 208, 212, 218, 223, 226, 228, 231,
264 f., 270, 272 f., 275, 277, 282, 286–288, 329 Tugend 40, 66, 139, 234, 250, 260, 269, 313 f. Urbild 51, 53–55, 166–169, 273 Utilitarismus 102–104, 107 Verantwortung 37, 66, 70, 88, 119, 145, 147–150, 162, 180, 210, 246, 248, 304, 308, 326, 342 Verborgenheit 15 f., 30, 42, 44–46, 161, 220, 260, 264, 325, 343 Verheißung 36, 40, 45 f., 70, 77, 222, 285 Vernunft 15, 19, 31 f., 34, 65 f., 75, 110, 112–114, 117–121, 127, 138, 173 f., 233, 252, 277, 279, 307 f., 311 f., 314 f., 325 Versöhnung 85, 182, 191–193, 203, 220, 236, 258 f., 340 Versöhnungstag 25, 180, 182–186, 190, 192, 196–199, 202 f., 205 f., 340 Verstand 8, 16, 19, 27, 29, 38, 67, 70, 76, 78, 116, 125, 137, 141, 143, 147, 151, 154, 156, 158 f., 162 f., 185, 195 f., 198, 205, 221, 223, 226, 239, 257, 260, 263, 266, 274, 305, 310, 312, 314–316, 327, 346, 351 Vertrauen 31 f., 63, 123 Vikariat 25, 155–159, 188, 206, 262 Vorbild 27, 54, 155, 289–292, 295–300, 322 Widerfahrnis 20, 92 Wiedergeburt 49, 57–62, 65, 67 f., 70, 72 f., 76, 83–89, 91–96, 325 f. Zeit 7 f., 17, 29, 38, 41 f., 53, 65, 76 f., 81 f., 115, 118 f., 121, 123, 128 f., 133, 145, 152, 157, 163, 178, 184, 190, 192, 201, 226, 234 f., 239, 241, 254, 262, 266, 270, 272, 281, 289, 301, 307, 310, 314, 319 f., 327, 329, 335–337, 341, 343, 348, 352, 355