Menschenbild und Gesellschaft: Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie 9783495998878, 9783495998861


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Einführung
Teil 1 Helmut Plessner. Philosoph und Soziologe – Wissenschaft als Beruf in der Endzeit des bürgerlichen Humanismus
Helmuth Plessner. Philosoph und Soziologe – Wissenschaft als Beruf in der Endzeit des bürgerlichen Humanismus
Zusammenfassung
1
a) Helmuth Plessner – »Philosophie als Beruf« in der Endzeit des »bürgerlichen Humanismus«
b) Wissenschaftssoziologische Fragestellungen
1.1 Kontinuität und Diskontinuität – »Nachgeholtes Leben«
Verlust der Identität
Plessners Optionen nach der Rückkehr in die Bundesrepublik – Gibt es ein »nachgeholtes Leben« auch in der »Wissenschaft als Beruf!«?
1.2 Lassen sich »verlorene Lebensjahre« »nachholen«? Die Herausforderungen eines interdisziplinären Programms
Literatur
2 Interdisziplinarität ist der Anspruch der Philosophischen Anthropologie Plessners
a) Philosophische Anthropologie und empirisch arbeitende Fachwissenschaften
»Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie«. Plessners Bedingungen für einen interdisziplinären Diskurs
»Soziale Rolle und menschliche Natur« – »Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung« – Der Diskurs zwischen Philosophischer Anthropologie und Soziologie
Resümee
b) Das Wagnis der »Stufen des Organischen und der Mensch«»Eine neue Wissenschaft mit neuer Methodik« – Plessners Strategie der Risikominderung
Wie schont Plessner die »Empfindlichkeit der älteren Generation«?
Interdisziplinarität Philosophie – Biologie: ein Versuch
Exkurs: Das erkenntnisleitende Interesse Plessners
Interdisziplinarität – Philosophische Anthropologie in Beziehung zu Geschichtswissenschaften und historischer Soziologie – ein Desideratum
Philosophische Anthropologie und Ökologie im Diskurs – Jakob von Uexkülls Bedeutungslehre
c) Das Scheitern der Konzeption Plessners an dem Widerstand der Fachdisziplinen
Literatur
Nekrologe
Helmuth Plessner zum Gedächtnis(4. September 1892 – 12. Juni 1985)
Teil 2 Aspekte der Soziologie
Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?Ein Plädoyer für die Phänomenologie
1. Mein Weg zur Soziologie
2. 1959 – Eine Wende in der deutschen Nachkriegssoziologie
3. Der Wertbezug der soziologischen Forschung
4. Welchen Stellenwert hat der primäre Zugang zu den gesellschaftlichen Tatsachen?
5. Praxisorientierung
6. Lehre in der Diaspora – Die »Lehrgestalt« der Bindestrichsoziologien
7. Das Ehrenamt – Politisches Engagement intra et extra muros
8. Die Zukunft ist Vergangenheit (De toekomst is verleden tijd, Fred Polak 1946)
Literaturverzeichnis
Der Emigrationsverlust 1931 auf 1938
A. Methodische Einschränkungen
B. Ergebnisse
Interessenpluralismus und empirische Sozialforschung
Zur Frage der politischen Voraussetzungen der Soziologie
I.
II.
III.
IV.
Moderne Kunst und industrielle Arbeit
a) Die Argumente
b) Die »Zerspaltung der Künste« und die Rationalisierung der Arbeit
c) Die »Kommentarbedürftigkeit« von moderner Kunst und industrieller Arbeit
d) Die Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit
Der Tod. Ein unbewältigtes Problem für Mediziner und Soziologen
Soziologische Aspekte des Todes
I. Gesellschaftliche Todeserfahrung
II. Anthropologische und sozialgeschichtliche Aspekte
III. Zur Soziologie des Todes
Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit?
Soziologie und politische Kultur
Anthropologischer und politischer Freiheitsbegriff
Begriff und freiheitverbürgende Funktion der Soziologie
Theorie gesellschaftlicher Erscheinungen und Philosophische Anthropologie
Was bleibt?
Literatur
Aufklärung durch Soziologie?
Die anthropologische Wende
Der Weg der Soziologie in Deutschland (Helmuth Plessner)
Ein Paradigma soziologischer Aufklärung als Tatsachenforschung: die Sozialpsychiatrie
Was waren die Ergebnisse? Und welche weiterreichende Folgen hatten die Untersuchungen?
Was waren die weiterreichenden Folgen?
Literaturhinweise
Sozialforschung – ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung
1 Das Programm der Sozialforschung
2 Realisierungsschritte
2.1 Die Demokratisierung der Gesellschaft nach der nationalsozialistischen Diktatur
2.2 Die Modernisierung der Gesellschaft
2.3 Umbau der Gesellschaft und neuer Schub der Ökonomisierung gesellschaftlicher Verhältnisse
2.4 Zwischenbilanz
3 Strukturen der Sozialforschung
4 Kontinuität und kumulativer Erkenntnisgewinn
5 Kodifizierung der Ergebnisse
6 Zukunftsperspektive der Sozialforschung
Literatur
Teil 3 Studien zur Medizinsoziologie
Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie
Der klinische Beobachtungsfehler
Der Morbiditätstrend
Zur Frage der Ätiologie
Der Beitrag der Soziologie
Ein Beispiel: Zur Soziogenese der Fettsucht
Epidemiologie und Sozialmedizin
Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin
Multidisziplinäres und sozialmedizinisches Konzept
Exkurs zum Prinzip divergierender Bezugssysteme
Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit
Wann werden wir in der BRD eine Gesundheitspolitik haben?
Wandel des Krankheitspanoramas
1. Konzentration der medizinischen Forschung
2. Patientensteuerung der Gesundheitsdienste
3. Therapeutische Entmündigung des Patienten
Prinzipien der Volksgesundheit
Gesundheit als Ziel der Forschung und der Therapie
Realisierung einer Politik der Volksgesundheit
Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens– naturwissenschaftlich kausale und sozialwissenschaftlich normative Betrachtungsweise –
Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin – Zur Partizipation im Gesundheitswesen
Volksmedizin eine romantische Utopie?
Medizinales Herrschaftsverhältnis
Vervollständigung der Medizin-Technokratie
Vorsorgeerfolg hängt von Laienmitwirkung ab
Vertrauenskrise gegenüber der Organisation
Laienpartizipation – offener Horizont einer Weiterentwicklung
Revolution überkommener Organisationsformen
Wie wird der Patient Beteiligter?
Zur Partizipation im Gesundheitswesen
Vorbemerkung: Interaktionistischer oder systemanalytischer Aspekt?
Laienmedizin und professionelle Medizin
Abwehr der Laienkontrolle
Herrschaft der Experten
Laienpartizipation in der Perspektive einer zukünftigen Medizin
1. »Grenzen der Medizin«
2. Programmorientierte Medizin oder
3. Medizinische Informationssysteme
Was verdankt die Medizin der Soziologie?
1.0 »Unmittelbarer Praxisbezug?«
2.0 Interpretierte Rollenbeziehungen
2.1 Der strukturell-funktionale Rollenbegriff
2.2 Der interaktionistische Rollenbegriff
3.0 »Definitions«prozesse und -instanzen
4.0 »Alltagswissen« als Quelle ärztlicher Entscheidungen
5.0 Versuch einer Gewichtung
Schrifttum
Kommunales Gesundheitswesen – eine historische Erinnerung oder ein zukunftsfähiges Konzept?
Weiterentwicklung des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung oder Neuorientierung der Strukturpolitik?
Die Gesundheitsreform 1969–1976 der ersten sozialliberalen Koalition war ein gesellschaftspolitisches Experiment – mehr nicht!
Argumente für eine Stärkung kommunaler gesundheitspolitischer Verantwortung – ein historischer Rückblick
Welche Konsequenzen hat eine solche historische Erinnerung?Was können wir aus einer Besinnung auf die innovativen Konzepte städtischer Gesundheitspolitik für die Zukunft lernen?
Chancen einer kommunalen Gesundheitspolitik – Stategien des bottom up
Beitragsnachweise
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Menschenbild und Gesellschaft: Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie
 9783495998878, 9783495998861

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Christian von Ferber

Menschenbild und Gesellschaft Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie Herausgegeben von Dr. Alexander Brandenburg

https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Christian von Ferber

Menschenbild und Gesellschaft Studien zur Philosophischen Anthropologie, Soziologie und Medizinsoziologie Herausgegeben von Dr. Alexander Brandenburg

https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Wir danken dem Verein zur Förderung der Azneimittelanwendungsforschung für die Förderung dieses Projektes.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99886-1 (Print) ISBN 978-3-495-99887-8 (ePDF)

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1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet https://doi.org/10.5771/9783495998878 verlag-alber.de .

Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Teil 1 Helmut Plessner. Philosoph und Soziologe – Wissenschaft als Beruf in der Endzeit des bürgerlichen Humanismus . . . . . . . . . . . . .

29

Helmuth Plessner. Philosoph und Soziologe – Wissenschaft als Beruf in der Endzeit des bürgerlichen Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Helmuth Plessner – »Philosophie als Beruf« in der Endzeit des »bürgerlichen Humanismus« . . . . . . b) Wissenschaftssoziologische Fragestellungen . . . . 1.1 Kontinuität und Diskontinuität – »Nachgeholtes Leben« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlust der Identität . . . . . . . . . . . . . . . Plessners Optionen nach der Rückkehr in die Bundesrepublik – Gibt es ein »nachgeholtes Leben« auch in der »Wissenschaft als Beruf!«? . 1.2 Lassen sich »verlorene Lebensjahre« »nachholen«? Die Herausforderungen eines interdisziplinären Programms . . . . . . . . . .

33

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Interdisziplinarität ist der Anspruch der Philosophischen Anthropologie Plessners . . . . . . . . . . . . . . . . a) Philosophische Anthropologie und empirisch arbeitende Fachwissenschaften . . . . . . . . . . . »Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie«. Plessners Bedingungen für einen interdisziplinären Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 39 39 39 40 40 44 46 46 47

5 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Inhaltsverzeichnis

»Soziale Rolle und menschliche Natur« – »Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung« – Der Diskurs zwischen Philosophischer Anthropologie und Soziologie . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Wagnis der »Stufen des Organischen und der Mensch«»Eine neue Wissenschaft mit neuer Methodik« – Plessners Strategie der Risikominderung Wie schont Plessner die »Empfindlichkeit der älteren Generation«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interdisziplinarität Philosophie – Biologie: ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Das erkenntnisleitende Interesse Plessners Interdisziplinarität – Philosophische Anthropologie in Beziehung zu Geschichtswissenschaften und historischer Soziologie – ein Desideratum . . . . . . Philosophische Anthropologie und Ökologie im Diskurs – Jakob von Uexkülls Bedeutungslehre . . . c) Das Scheitern der Konzeption Plessners an dem Widerstand der Fachdisziplinen . . . . . . . . . . .

63

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

49 53 54 56 56 57 59 61

Nekrologe

Helmuth Plessner zum Gedächtnis / (4. September 1892 – 12. Juni 1985) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Teil 2 Aspekte der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . .

75

Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?Ein Plädoyer für die Phänomenologie . . . . . .

77

1. Mein Weg zur Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . .

77

2. 1959 – Eine Wende in der deutschen Nachkriegssoziologie

81

3. Der Wertbezug der soziologischen Forschung . . . . . .

85

4. Welchen Stellenwert hat der primäre Zugang zu den gesellschaftlichen Tatsachen? . . . . . . . . . . . . . .

88

5. Praxisorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

6 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Inhaltsverzeichnis

6. Lehre in der Diaspora – Die »Lehrgestalt« der Bindestrichsoziologien . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

7. Das Ehrenamt – Politisches Engagement intra et extra muros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

8. Die Zukunft ist Vergangenheit (De toekomst is verleden tijd, Fred Polak 1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

Der Emigrationsverlust 1931 auf 1938 . . . . . . . . . .

109

A. Methodische Einschränkungen

. . . . . . . . . . . . .

109

B. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

Interessenpluralismus und empirische Sozialforschung Zur Frage der politischen Voraussetzungen der Soziologie . . . .

115

I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

Moderne Kunst und industrielle Arbeit . . . . . . . . .

135

a) Die Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

b) Die »Zerspaltung der Künste« und die Rationalisierung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142

c) Die »Kommentarbedürftigkeit« von moderner Kunst und industrieller Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

d) Die Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

7 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Inhaltsverzeichnis

Der Tod. Ein unbewältigtes Problem für Mediziner und Soziologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Soziologische Aspekte des Todes . . . . . . . . . . . . .

181

I.

Gesellschaftliche Todeserfahrung . . . . . . . . . . . .

181

II. Anthropologische und sozialgeschichtliche Aspekte . . .

184

III. Zur Soziologie des Todes

. . . . . . . . . . . . . . . .

203

Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit? . . . . . . .

213

Soziologie und politische Kultur . . . . . . . . . . . . . . .

213

Anthropologischer und politischer Freiheitsbegriff . . . . . .

214

Begriff und freiheitverbürgende Funktion der Soziologie . . .

216

Theorie gesellschaftlicher Erscheinungen und Philosophische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

218

Was bleibt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222

Aufklärung durch Soziologie? . . . . . . . . . . . . . . .

223

Die anthropologische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Der Weg der Soziologie in Deutschland (Helmuth Plessner)

225

Ein Paradigma soziologischer Aufklärung als Tatsachenforschung: die Sozialpsychiatrie . . . . . . . . . .

229

Was waren die Ergebnisse? Und welche weiterreichende Folgen hatten die Untersuchungen? . . . . . . . . . . . . . . . . .

230

Was waren die weiterreichenden Folgen? . . . . . . . . . . .

230

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

236

Sozialforschung – ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung . . . . . . .

239

1

Das Programm der Sozialforschung . . . . . . . . . . .

239

2

Realisierungsschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Demokratisierung der Gesellschaft nach der nationalsozialistischen Diktatur . . . . . . . . . . .

241

8 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

241

Inhaltsverzeichnis

2.2 Die Modernisierung der Gesellschaft . . . . . . . . 2.3 Umbau der Gesellschaft und neuer Schub der Ökonomisierung gesellschaftlicher Verhältnisse . . 2.4 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

242 243

3

Strukturen der Sozialforschung . . . . . . . . . . . . .

245

4

Kontinuität und kumulativer Erkenntnisgewinn . . . . .

246

5

Kodifizierung der Ergebnisse

. . . . . . . . . . . . . .

247

6

Zukunftsperspektive der Sozialforschung . . . . . . . .

253

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

256

Teil 3 Studien zur Medizinsoziologie . . . . . . . . . . .

257

Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259

Der klinische Beobachtungsfehler . . . . . . . . . . . . . .

264

Der Morbiditätstrend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

270

Zur Frage der Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

Der Beitrag der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272

Ein Beispiel: Zur Soziogenese der Fettsucht . . . . . . . . .

275

Epidemiologie und Sozialmedizin . . . . . . . . . . . . . .

278

Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin

242

Multidisziplinäres und sozialmedizinisches Konzept . . . . . . .

281

Exkurs zum Prinzip divergierender Bezugssysteme . . . . .

290

Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit

Wann werden wir in der BRD eine Gesundheitspolitik haben? . .

295

Wandel des Krankheitspanoramas . . . . . . . . . 1. Konzentration der medizinischen Forschung 2. Patientensteuerung der Gesundheitsdienste . 3. Therapeutische Entmündigung des Patienten

. . . .

296 297 299 301

Prinzipien der Volksgesundheit . . . . . . . . . . . . . . .

305

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

9 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Inhaltsverzeichnis

Gesundheit als Ziel der Forschung und der Therapie . . . . .

307

Realisierung einer Politik der Volksgesundheit . . . . . . . .

310

Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens– naturwissenschaftlich kausale und sozialwissenschaftlich normative Betrachtungsweise –. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

315

Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin – Zur Partizipation im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

337

Volksmedizin eine romantische Utopie? . . . . . . . . . . .

338

Medizinales Herrschaftsverhältnis . . . . . . . . . . . . . .

339

Vervollständigung der Medizin-Technokratie . . . . . . . . .

342

Vorsorgeerfolg hängt von Laienmitwirkung ab . . . . . . . .

343

Vertrauenskrise gegenüber der Organisation . . . . . . . . .

344

Laienpartizipation – offener Horizont einer Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

346

Revolution überkommener Organisationsformen . . . . . .

351

Wie wird der Patient Beteiligter?

Zur Partizipation im GesundheitswesenReferat gehalten auf der Tagung »Woran krankt unser Gesundheitswesen?« vom 30.1. bis 1.2.1976 in Hofgeismar. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

353

Vorbemerkung: Interaktionistischer oder systemanalytischer Aspekt? . . . .

353

Laienmedizin und professionelle Medizin . . . . . . . . . .

355

Abwehr der Laienkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . .

359

Herrschaft der Experten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

362

Laienpartizipation in der Perspektive einer zukünftigen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Grenzen der Medizin« . . . . . . . . . . . . 2. Programmorientierte Medizin oder . . . . . . 3. Medizinische Informationssysteme . . . . . .

364 366 368 370

. . . .

. . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

. . . .

Inhaltsverzeichnis

Was verdankt die Medizin der Soziologie? . . . . . . . .

375

1.0 »Unmittelbarer Praxisbezug?« . . . . . . . . . . . . . .

376

2.0 Interpretierte Rollenbeziehungen . . . . . . . . . . . . 2.1 Der strukturell-funktionale Rollenbegriff . . . . . . 2.2 Der interaktionistische Rollenbegriff . . . . . . . .

377 378 380

3.0 »Definitions«prozesse und -instanzen . . . . . . . . . .

382

4.0 »Alltagswissen« als Quelle ärztlicher Entscheidungen . .

385

5.0 Versuch einer Gewichtung . . . . . . . . . . . . . . . .

388

Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

389

Kommunales Gesundheitswesen – eine historische Erinnerung oder ein zukunftsfähiges Konzept? . . . . .

393

Weiterentwicklung des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung oder Neuorientierung der Strukturpolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

393

Die Gesundheitsreform 1969–1976 der ersten sozialliberalen Koalition war ein gesellschaftspolitisches Experiment – mehr nicht! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396

Argumente für eine Stärkung kommunaler gesundheitspolitischer Verantwortung – ein historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

398

Welche Konsequenzen hat eine solche historische Erinnerung? Was können wir aus einer Besinnung auf die innovativen Konzepte städtischer Gesundheitspolitik für die Zukunft lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403

Chancen einer kommunalen Gesundheitspolitik – Stategien des bottom up . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

407

Beitragsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

411

11 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Einführung

Christian von Ferber wurde am 8.3.1926 in Schwerin/Mecklenburg geboren; 1952 Dipl. Volkswirt an der Universität Göttingen; Pro­ motion (»Arbeitsfreude«); 1955 Habil. für Soziologie Universität Göttingen; 1952–1962 Assistent am Soziologischen Seminar der Uni­ versität Göttingen; 1962–69 o. Professor der Sozialwissenschaften TU Hannover und ab 1966 Lehrbeauftragter und Honorarprofessor für Soziologie der Medizinischen Hochschule Hannover; 1969–1978 o. Professor der Universität Bielefeld; 1978–91 o. Professor für Medi­ zinische Soziologie (Mediz. Fakultät) Universität Düsseldorf; 1978– 1990 gleichzeitige Wahrnehmung der Aufgaben an der Mediz. Fakul­ tät der Universität Köln; bis ins hohe Alter Mitarbeit in zahlreichen Kommissionen und Arbeitskreisen. Für den Schüler von Helmuth Plessner ist Soziologie immer ein Werkzeug der Freiheit gewesen. Empirische Sozialforschung und Soziologische Theorie dienen einer philosophisch- anthropologisch begründeten Freiheit des einzelnen Menschen genauso wie der Offe­ nen Gesellschaft mit ihren freiheitlichen, sozialen und rechtlichen Verbürgungen. In einer solchen politischen Kultur ist Soziologie geboren und zuhause und kann nur hier ihre freiheitssichernden Potentiale entfalten und zur Geltung bringen. Mit dieser Auffassung von Soziologie hat Helmuth Plessner einer neuen Generation von Soziologen nach der NS‑Herrschaft Maßstab und Orientierung gege­ ben und der Bundesrepublik Deutschland ein bleibendes Ferment der Freiheit, wie von Ferber es immer wieder unterstreicht. Wer den Soziologen von Ferber in seinen verschiedenen Funk­ tionen als Lehrer an der Universität, als Leiter einer Kommission, als Vortragender in Veranstaltungen, als Zuhörer in kleineren und größeren Kreisen, als Impulsgeber und Anreger neuer Lösungswege in kommunalen und staatlichen Zusammenhängen, als Moderator von Streitgesprächen und als Verantwortlicher verschiedener Projekte erlebt hat, kann ermessen, wie sehr seine Auffassung von Soziologie

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Einführung

sein Denken und Handeln geprägt hat und wie überzeugend seine Persönlichkeit auf Fachleute wie interessiertes Publikum wirkte. Sicherlich liegt ein Schwerpunkt der wissenschaftlichen Tätigkeit des Soziologen von Ferber auf dem Gebiet der Medizin-Soziologie, der Sozialmedizin, der Public Health-Forschung, der Gesundheitsund Sozialpolitik. Doch darf man dabei sein wesentliches und die Soziologie als Anwendungswissenschaft überschreitendes Interesse an einer philosophischen Reflexion der conditio humana nicht über­ sehen. Dieser Aspekt liegt den hier versammelten Arbeiten als Krite­ rium zugrunde. Im Folgenden werden die hier veröffentlichten Arbeiten von Christian von Ferber in der gebotenen Kürze vorgestellt: Der erste Teil der Studien enthält eine grundlegende Arbeit über »Helmuth Plessner. Philosoph und Soziologe – Wissenschaft als Beruf in der Endzeit des bürgerlichen Humanismus«, an der Christian von Ferber bis ins hohe Alter geschrieben hat. Er hat dieser Arbeit eine eigene Zusammenfassung gegeben. Der Nachruf »Helmuth Plessner zum Gedächtnis (4. Sep­ tember – 12. Juni 1985)« sieht die Bedeutung Helmuth Plessners darin, in der Zeit nach der nationalsozialistischen Herrschaft die Soziologie erneuert und begründet zu haben. Seine »Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer« haben dazu einen heraus­ ragenden Beitrag geleistet. Mit seiner umfassenden philosophischen Schulung und der in seiner »exzentrischen Positionalität« liegenden Wesensbestimmung des Menschen gab Plessner einer neuen Sozio­ logen-Generation einen Maßstab und eine Orientierung mit, die vor dem Verrennen in Theorien wie vor deren Dogmatisierung schützten. Die von Plessner unter der Erfahrung der Emigration geschriebene »Verspätete Nation« ging auf dem Boden der Philosophischen Anthropologie den Wurzeln des 3. Reiches und den Gründen seiner demagogischen Wirkung nach. Von der Fruchtbarkeit für die Sozio­ logie und die Philosophische Anthropologie zeugen bis heute Pless­ ners Werk und seine anhaltende Wirkungsgeschichte. Der zweite Teil der Studien beginnt unter dem Titel »Interdisziplina­ rität und Praxisorientierung – nur eine Utopie? Ein Plädoyer für die Phänomenologie« mit einer Darstellung des Werdeganges von Christian von Ferber in der Nachkriegszeit unter dem Einfluss und in den Kreisen von Helmuth Plessner und anderen Lehrmeistern

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bis hin zum Professor der Soziologie, der seinen eigenen Weg findet und besonders auf den Feldern der Medizin-Soziologie, der Sozialme­ dizin und der Gesundheitswissenschaften (Public Health) das Gehen neuer Pfade vorbereitet und begleitet. Dabei geht es ihm besonders um die Auswertung seiner in vielfältiger Praxis und unterschiedli­ cher Theoriebildungen erworbenen Erfahrungen für die soziologische Arbeitsweise. Drei Orientierungen ist er gefolgt: Wissenschaft ist mehr als der Erwerb methodischer und theoretischer Kompetenz. Skepsis ist gegenüber Aussagen angebracht, die keinen Bezug zur primären Wirklichkeit herstellen können, und Wissenschaft ist auf Werte des menschlichen Lebens bezogen. Was Helmuth Plessner 1959 auf dem Jubiläums-Soziologentag sagt, bleibt sein Wegweiser: »Gerade als Tatsachenforschung, nicht als normative Wissenschaft, als Theorie der gesellschaftlichen Erscheinungen wird Soziologie heute zu einem Ferment der Kritik, zu einem Werkzeug der Freiheit.« Ein Forscher-Leben lang hat von Ferber die Phänomenologie (Hart­ mann, Plessner, König) hochgehalten und auf sie seinen primären Zugang zu den gesellschaftlichen Tatsachen zurückgeführt. Verständ­ lichkeit- Beobachtung- Lebenserfahrung, die ihn auszeichnen und seine Ausstrahlung erklären, dürften ebenfalls zu den Ergebnissen seiner phänomenologischen Schulung gehören. Der Band III der von Helmuth Plessner herausgegebenen »Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer« ist von Christian von Ferber unter dem Titel: »Die Entwicklung des Lehr­ körpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864– 1954« bearbeitet worden. In einem unscheinbaren, aber wirkungs­ starken Abschnitt der umfassenden Untersuchung beschäftigt er sich damit, den Emigrationsverlust 1931 auf 1938 der an den Hochschulen Lehrenden zu beziffern. Bis zu diesem Zeitpunkt war eine empirisch abgesicherte Schätzung dieses Verlustes noch nicht durchgeführt wor­ den. Mit annähernd 39 Prozent des Lehrkörpers wurde der Aderlass beziffert – ein unermesslicher, bis heute nachwirkender Verlust an wissenschaftlicher Substanz für die deutsche Universitätslandschaft. In der Nachkriegszeit fand eine solche Untersuchung leicht den Widerstand der vielfach im NS-Denken verhafteten Gesellschaft und ihrer akademischen Kreise. Es war also auch ein Akt des Mutes, solche Exkurse in die Studie einfließen zu lassen. Helmuth Plessner selbst war stets darum bemüht, sich nicht als Emigrant zu profilieren, der seine gebliebenen Kollegen kritisiert. Er hatte genug damit zu tun, seine dreibändige Studie insgesamt vor Argwohn, Anfeindun­

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gen und Skepsis zu schützen. Heute sind die nationalsozialistische Personalpolitik an den deutschen Hochschulen und der unfreiwillige Exodus vieler Wissenschaftler zentrale Themen der Zeitgeschichts­ forschung geworden. »Interessenpluralismus und Empirische Sozialforschung« thematisiert die Frage, wie sich eine in Interessengruppen verfan­ gene Gesellschaft mit hoher Bevölkerungsdichte und mit vielfältigen Ansprüchen an das Leben auf Dauer erhalten und fortentwickeln kann. Dazu zählen die Organisation der Interessen in Verbänden verschiedener Gattung genauso wie eine Empirische Sozialforschung, die diesen Verhältnissen eine sachliche und verfügbare Gestalt zu geben weiß. Die Verallgemeinerung ihrer Aussagen relativiert die Positionen eines konkreten gesellschaftlichen Rollensystems und bereitet den Boden für den notwendigen Interessenausgleich wissen­ schaftlich vor, indem sie es auf einen postulierten übergreifenden Funktionszusammenhang bezieht. Das Recht der Stärkeren überrollt nicht die Belange der solidarischen Vielen. Der durch Offenheit der Lebensführung und Sachlichkeit der Situationserfassung charakteri­ sierbare Mensch ist in der Lage, Kompromisse nicht als Mangel, sondern als Gewinn zu werten. »Moderne Kunst und industrielle Arbeit« setzt sich mit dem in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzenden gesamtgesell­ schaftlichen Vorgang auseinander, der seit Max Weber als Rationa­ lisierung des Lebens bezeichnet wird. Die Epoche der Industrialisie­ rung entbindet die Künste aus ihren traditionellen Aufgaben und führt zu einem Verlust bewährter Orientierungen in der modernen Kunst genauso wie die neue industrielle Organisation der Arbeit traditions­ reiche, Sicherheit gewährende Arbeitsverhältnisse aufhebt und neue existentielle Herausforderungen mit sich bringt. Die Entsprechungen zwischen den beiden zu einer grundlegenden Umstrukturierung des Gesellschafts- und Kulturprozesses führenden Vorgängen lassen sich in der »Zerspaltung der Künste« und Rationalisierung der Arbeit (Spezialisierung), in der »Kommentarbedürftigkeit« von moderner Kunst und industrieller Arbeit (Abstraktion) und in der Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit wiederfin­ den (Psychologisierung). Es ist keineswegs erstaunlich, dass diese Veränderungsprozesse auf Kritik und Widerspruch stoßen. Die For­ derung nach Arbeitsfreude, die auf einer tiefbegründeten Bejahung der Arbeit durch die Persönlichkeit beruht, und die Erwartung der wiederkehrenden »Mitte« in der künstlerischen Gestaltung haben

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ihre Wurzel in der »alten« vorindustriellen Welt. Es ist eine pessimis­ tische Zeitkritik, die den Mittelschichten zugeordnet werden darf, die ihren gesellschaftlichen Aufstieg noch mit einigem Recht ihrem Arbeitsethos zuschreiben dürfen und sich selbst als Schmied ihrer beruflichen Qualifikation sehen können. Arbeitsfreude wird zum Restposten einer mittelständischen Kritik an der industriellen Gesell­ schaft. In der Studie »Der Tod. Ein unbewältigtes Problem für Mediziner und Soziologen« werden zentrale Ergebnisse der empi­ risch-soziologischen Forschung über Sterben und Tod vorgestellt: In unserer Kultur gelingt es dem Toten nicht, im Abschied vom Leben der Öffentlichkeit das darzustellen, was er war. Die Einzigartigkeit seiner persönlich- individuellen Existenz mit ihren vielen Sozialbezie­ hungen und den verschiedenen Rollen bleibt unsichtbar. Ein weiterer Befund: Das Sterben in Anstalten, Krankenhäusern und Heimen fällt aus dem Rahmen und wird von sozialer Distanz zum Pflege­ personal und von Isolation gegenüber der Patientengemeinschaft geprägt. Sterben ist nicht eingeplant. Der dritte Befund besagt, dass das Sprechen über Sterben und Tod nach Möglichkeit vermieden wird. Die Todesproblematik der industriellen Gesellschaft besteht darin, dass die Fragen, die das factum brutum menschlicher Existenz­ form, der Tod, uns aufgibt, sozio-kulturell unbewältigt sind. Eine 2000-jährige Geschichte einer Symbolisierung des Todes als Chance zum ewigen Leben haben wir gegen eine radikale Diesseitigkeit des Daseins eingetauscht. Ein tragfähiges Konzept des Lebens mag in der anthropologischen Deutung des Todes liegen. Sie macht das Anrecht des Menschen geltend, als Persönlichkeit in den sozialen Rollen, als Biographie in der zeitlichen Erstreckung seines Lebens und als Teilhaber an den Institutionen gewürdigt zu werden. Findet diese Würde keinen Ausdruck in der Gesellschaft, bedarf es ihrer Kritik. Ausgangspunkt der Arbeit über »Soziologische Aspekte des Todes« ist die These der philosophischen Anthropologie, dass sich der Mensch zur Welt und zu seinem Verhalten in Distanz begeben kann. Diese individuelle Freiheit ermöglichende »exzentrische Posi­ tion« steht in Gegensatz zu dem hohen Maß an Befangenheit gegen­ über der soziokulturellen Normenwelt, zu der in der entwickelten Industriegesellschaft auch die soziale Ignorierung des Todes gehört. Das Memento mori gibt dem Menschen Abstand zum Hier und Jetzt, relativiert die sozialen Anforderungen und bricht den gesell­ schaftlichen Totalitarismus, der sein Disziplinierungspotential nicht

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zum Thema machen will. Die Verweigerung des Denkens an den Tod ist kaum als Symbol selbstgewählter Freiheit zu werten, wohl aber als ein Zeichen für eine Unfreiheit aus Gedankenlosigkeit und ein Zurückbleiben hinter den humanen Möglichkeiten. Gehörte es anfangs zur bürgerlichen Lebensanschauung, in Gegnerschaft zum klerikalen »Primat des Todes« die mit der Endlichkeit des Menschen verbundenen Ansprüche zu ignorieren und dem Tod heroisch zu begegnen, so muss in einer nicht-bürgerlich dominierten Gesellschaft das Motiv anderswo gesucht und im weiten Feld der sozialen Dis­ ziplinierung und Domestizierung verortet werden. Allein das von Kritikern der industriellen Arbeitswelt konstatierte Zerbrechen einer persönlichkeitsgebundenen Zeiterfahrung durch die betriebsgebun­ denen Organisationsformen und die damit gegebene Schwierigkeit, das Leben in verschiedenen Zeitprogrammen in ein erlebtes, ein­ heitliches Feld zu koordinieren, vermindert angesichts des Todes unseren Freiheitsspielraum. »Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit?« In der poli­ tischen Tradition der westlichen Demokratie mit ihren bürgerlichen Freiheitsrechten entstanden, gehören Empirische Sozialforschung und soziologische Theorie zu dem Inventar einer offenen Gesellschaft. Hier erfüllt die Soziologie die Funktion einer »institutionalisierten Dauerkontrolle gesellschaftlicher Verhältnisse in kritischer Absicht und in wissenschaftlicher Form«. Gegenüber einer solchen politischfreiheitlichen Kultur, die das Spannungsverhältnis zwischen offener Gesellschaft und anthropologischer Freiheit des Menschen im Gleich­ gewicht weiß, ist die deutsche Gesellschaft durchaus »verspätet«. Sie hat kein labiles Gleichgewicht und stellt die Vorzüge der freiheitlichen Gesellschaft nicht an die erste Stelle. Diese Selbstgefährdung der Menschen, die in ihrer anthropologischen Freiheit begründet liegt, geschieht von innen heraus und begünstigt die Entwicklung einer totalitären geschlossenen Gesellschaftsform. Es ist nur logisch, wenn Soziologie in solchen Spannungsverhältnissen die Aufgabe erhält, zur Erhaltung der Freiheit beizutragen und ein »Ferment der Kritik« und ein »Werkzeug der Freiheit« zu sein. Soziologie setzt sich in der doppelten Bedeutung des Freiheitsbegriffes einerseits für eine plura­ listisch, liberale Demokratie, andererseits für die Selbstentfaltung des Menschen ein, sich zu dem zu machen, der er ist. Mit der Auswande­ rung der Soziologie aus den Universitäten verliert die freiheitliche Soziologie ihre institutionellen Garantien. Doch schwerwiegender

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dürfte es sein, wenn die strukturelle Distanz des Menschen zu sich und seinen eigenen Schöpfungen weiter zu Lasten der Freiheit zunimmt. »Aufklärung durch Soziologie?« Die Abkehr von religiösen und politischen Autoritäten in der Orientierung der Menschen und ihre Zuwendung zu der methodisch-wissenschaftlichen Ergründung der Natur und ihrer historisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten macht die mit Aufklärung einhergehende anthropologische Wende aus. Das Wissenssystem liefert fortan eine immer stärkere und unum­ kehrbare Grundlage für unsere Lebensgestaltung. Als Kompass wird die Aufklärung die Aufgabe haben, die Erkenntnisse bereitzustellen, die dem Kriterium der Menschenwürde genügen und helfen, das Leben in einer Wolfsgesellschaft zu verhindern. Nur eine Soziologie, die Tatsachenforschung und Gesellschaftsanalyse mit dem Begriff der Freiheit zu verbinden weiß, kann aufgrund ihrer gesellschaftli­ chen und selbstkritischen Analysen zu einem Werkzeug der Freiheit werden. Auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der Gesundheitssys­ temforschung ist es die Sozialpsychiatrie gewesen, die gezeigt hat, wie fruchtbar und befreiend eine solche Soziologie für die Versorgung von psychisch Erkrankten sein kann. »Sozialforschung – ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung« setzt mit der Über­ legung ein, dass nur in einer offenen Gesellschaft, in der Freiheit vor jeder Art von Bevormundung und Begrenzung gesellschaftlicher Macht zu Hause sind und in der die gesellschaftliche Entwicklung auf Spontaneität und innovative Prozesse setzt, die Soziologie gedeihen kann. Aber auch die Gesellschaft selbst benötigt die soziologische Forschung, will sie bei allem Wandel ihren freiheitlichen Charakter bewahren und zugleich zukunftsfähig bleiben. Der von den zurück­ gekehrten Emigranten und der ersten Nachkriegsgeneration geleis­ tete Beitrag der Sozialforschung zur Demokratisierung der Gesell­ schaft nach der nationalsozialistischen Diktatur fällt positiv aus. Es folgen zahlreiche, auf die Modernisierung öffentlicher Dienstleis­ tungssysteme gerichtete Programme mit emanzipatorischem Cha­ rakter. Der einsetzende Umbau der Gesellschaft findet im Zeichen der Globalisierung der Märkte und des Zusammenwachsens der europäischen Gemeinschaft und mit einem eng damit verbundenen neuen Schub der Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse statt. Damit entstehen neue Anforderungen an die Sozialforschung, auf die sie nicht optimal vorbereitet ist. Ihr Beitrag zur Theoriebil­ dung, der Wissenstransfer in die Praxis, die Rolle der Evaluation

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und die Verbundforschung gehören zu ihren weniger erfreulichen Arbeitsfeldern. Auch ist für eine Neuorientierung eine Bilanzierung ihrer Forschungsergebnisse zu einem kumulativen Erkenntnisgewinn unerlässlich. Der Trend zur monodisziplinären Spezialisierung und die zunehmende positivistische Wertehaltung an den Universitäten machen es der Soziologie schwer, die Interdisziplinarität zu verwirk­ lichen und die Realität gegen Wunschvorstellungen zu behaupten – also die offene Gesellschaft zu erhalten. Der dritte Teil gibt uns einen Einblick in die gesundheitspolitischen und sozialmedizinischen Überlegungen, mit denen Christian von Ferber über einige Jahrzehnte auf die universitäre Lehre und For­ schung, aber auch auf die Praxis vieler Institutionen und Akteure eingewirkt hat. Epidemiologie erforscht die Krankheit unter dem soziologischen Gesichtspunkt der Gruppe und verlagert damit den Schwerpunkt der medizinischen Forschung von der Klinik in das sogenannte Feld. Wie und mit welchen Ergebnissen solche Forschung stattfindet, wird an der Framingham-Studie (koronare Herzkrankheiten) und an der Manhattan-Studie (psychische Störungen) aufgewiesen. Es sind diese ersten epidemiologischen Studien mit ihrem unglaublich faszinieren­ den Studiendesign, die soziologische Methoden und Kategorien mit der medizinischen Systematik der Krankheiten verknüpfen. Hier arbeiteten Mediziner und Soziologen gemeinsam an Untersuchun­ gen zur Frage der Entstehung von Krankheiten. Es war die Zeit der Geburt der Epidemiologie! Die »Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie« sieht von Ferber in ihrer Bereitstellung erprobter Untersuchungsmethoden für diesen neuen Denkansatz der medizinischen Forschung, vor allem aber in der Zulie­ ferung der Merkmale der gesellschaftlichen Differenzierung sowie der gesellschaftlichen Sanktionen, die ein bestimmtes Verhalten bewerten und steuern. Es ist also eine interdisziplinäre Zusammen­ arbeit zwischen epidemiologisch-medizinischer Vorgehensweise und Soziologie erforderlich, um Gesundheit und Krankheit als kollektiv produzierte Zustände zu entschlüsseln. »Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin« kann durch­ aus gesprochen werden, wenn die Soziologie bei der Ermittlung der Zusammenhänge, die zwischen der Krankheit und den gesell­ schaftlichen Erscheinungen (Wohnen, Ernährung, Stress) bestehen, der Medizin Hilfe leistet. Auch die Unterstützung der psychosomati­

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schen Betrachtungsweise (von der in der Medizin üblichen Betrach­ tung der Krankheitsgeschichte zur Krankengeschichte und vom in der Psychosomatik üblichen Betrachten des Einzelfalles zum Blick auf überindividuelle Zusammenhänge der soziokulturell gestalteten Umwelt) etwa durch Bereitstellung der Ergebnisse der Kleingrup­ penforschung bei einer Familienproblematik kann ein Nutzen sein. Doch dieser Nutzen bleibt in beiden Fällen äußerlich und berührt beide medizinischen Konzepte wenig, insofern die soziologische Sicht additiv hinzugefügt wird. Bei diesem Verfahren kommen relevante Fragen nicht zur Sprache. Der Nutzen der Soziologie für die Medizin liegt tiefer und besteht in der Anwendung soziologischer Theorien und Forschungsmethoden auf die zentralen Probleme der Medizin. Die Erkrankung eines Arbeitnehmers kann zum Beispiel zumindest drei öffentlichen Bezugssystemen mit unterschiedlichen Ergebnissen zugeordnet werden: die Bewertung seiner Erkrankung durch seine Ärzte, durch die Krankenkasse als Versicherungsfall und durch den Betrieb als Arbeitsunfall. So wird es mit der Anwendung des sozio­ logischen Prinzips divergierender Bezugssysteme leichter möglich, die lebenspraktischen Probleme des Patienten in den Blickpunkt zu stellen, anstatt ihm vorgefertigte Lösungen anzubieten. Zwar werden die lebenspraktischen Probleme des Patienten in spezifisch wissen­ schaftliche Lösungen transformiert, aber die Frage nach der Angemes­ senheit dieser Lösung bleibt doch offen. Als legitimer Anwalt der Existenzbedürfnisse der Bürger trägt die Soziologie die Verantwor­ tung dafür, dass die Artikulierung dieser Bedürfnisse gelingt und nicht durch das Eigengewicht von Institutionen und Personen überlagert oder verfremdet wird. Mit dem Beitrag »Gesellschaftliche Grundlagen der Volks­ gesundheit« wird die Politik Anfang der 70er Jahre aufgefordert, auf den Wandel des Krankheitspanoramas von den Infektionskrank­ heiten zu den langsam fortschreitenden Krankheiten wie Krebs und Gefäßerkrankungen zu reagieren. Den bahnbrechenden Erfolgen der Medizin stehen ungelöste Aufgaben von vergleichbarer Mächtigkeit gegenüber. Die Forschung konzentriert sich allerdings auf die Sys­ tematisierung der Krankheiten und ihrer Merkmale und typischen Verläufe und verliert dabei die Menschen mit ihrem Risikoverhalten aus dem Blick. Gesundes Essen, ausreichend Bewegung und das Unterlassen des Rauchens werden als die drei wichtigsten, die Volks­ gesundheit fördernden Maßnahmen erkannt. Es werden Vorschläge für einen Wandel des Gesundheitsbewusstseins der Bürger durch

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das Anstoßen kollektiver Lernprozesse gemacht. Gesundheit als Verhalten ist kein Zustand, sondern eine durch Erfahrung geleitete Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer leiblichen Existenz. Richtpunkt der Gesundheitspolitik soll nicht länger die Krankheit oder das Vermeiden von Krankheiten sein, sondern die Erhaltung und Steigerung der Gesundheit. Neben der universitären Forschung sollen auch der Öffentliche Gesundheitsdienst und die Einrichtungen der Sozialversicherung mit Forschungspotential ausgestattet werden. Der Anspruch der Bürger oder Sozialversicherten geht über die Verteilung der Finanzmittel hinaus. Der Vorschlag, das Gesundheitsbudget aus Steuereinnahmen zu finanzieren und sein Wachstum mit dem Wachs­ tum des Bundeshaushaltes bzw. des volkswirtschaftlichen Wachstums zu verzahnen, zeugt von der Offenheit des Denkens und der gedank­ lichen Konsequenz der Reformvorschläge. In der zum achtzigsten Geburtstag von Helmuth Plessner erschiene­ nen Festschrift findet sich der Aufsatz: »Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens – naturwissenschaftlich kausale und sozialwissenschaftlich normative Betrachtungs­ weise«. Es geht um einen neuen Zugang zum Verständnis unserer Krankheitsbilder. Für das vorige Jahrhundert zeigte sich, dass die Verbesserung in der Versorgung mit Nahrungsmitteln, mit Wohnun­ gen, mit Medikamenten, mit Ärzten Schutz nur vor den Krankheiten gab, die aus dem körpernahen milieu naturel (George Friedman) hervorgingen und mit diesen Mitteln wirksam bekämpft werden konnten. Diesem Fortschritt müssen wir eine Gegenrechnung auf­ machen: Andere Krankheiten haben an Bedeutung gewonnen, die auf der Grundlage verbesserter Lebensbedingungen (im milieu tech­ nique) allererst ihre Ausbreitungschance erhielten: Arteriosklerose, Diabetes, Lungenkarzinom, die psychosomatischen Erkrankungen, die Neurosen. Es sind Krankheiten, die vom Verhalten der Men­ schen bestimmt sind und die geisteswissenschaftlich hermeneuti­ schen Deutungen unterliegen. Offensichtlich besteht ein Zusammen­ hang zwischen Umweltveränderung, dem Verhalten der Menschen und dem Krankheitsspektrum. Mehr Nahrungsmittel, komfortablere Wohnungen, Rückgang körperlicher Beanspruchung, mehr Zeit, mehr spezialisierte und technisch besser gerüstete Ärzte, wirksamere Medikamente und längere Lebensdauer bilden die ökonomische und gesellschaftliche Basis dieses neuen Krankheitsspektrums. Eine rein naturhistorische Klassifizierung der Krankheiten verschleiert daher

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den menschlich-geschichtlichen Zusammenhang, dem die Krankhei­ ten der Menschen in den entwickelten Industriestaaten entstammen und aus dem die Problemsicht erwächst. Die Krankheitssituation, in der sich der Anspruch der Medizin bewähren muss, wissenschaftlich begründete Therapie anzubieten, geht aus einer industrialisierten Umwelt hervor. Die Epidemiologie der sogenannten Zivilisations­ krankheiten kann daher gar nicht umhin, die Erklärungsmodelle einer Entstehung von Krankheiten aus ihren gesellschaftlichen Bedin­ gungen heraus zu entwickeln. Die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse und das soziale Verhalten werden aber bei der Verwirk­ lichung therapeutischer Absichten nicht hilfreich sein. Die Zivilisa­ tion, die sich auf der Grundlage der Industrialisierung durchgesetzt hat, und die wir mit Georges Friedmann als milieu technique von einem vorindustriellen Zustand des milieu naturel unterscheiden, bringt ihr spezifisches Krankheitsspektrum hervor, das wir Zivilisa­ tionskrankheiten nennen. Epidemiologen können zeigen, dass der Wandel vom milieu naturel zum milieu technique große gesundheit­ liche Veränderungen gebracht hat. Zivilisationskrankheiten entste­ hen nicht aus der biologischen Natur des Menschen, sondern sind Folgen seiner eigenen geschichtlich-gesellschaftlichen Produktion seines Verhaltens. Unter Hinweis auf die Auswirkungen, die nach naturwissenschaftlich begründeter Ansicht die zivilisatorischen Ver­ änderungen auf die Lebenserwartung begründet haben, stellt Manfred Pflanz fest: »Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Einschrän­ kung des Rauchens und die Rückkehr zu normaler Ernährung und normaler körperlicher Aktivität die beiden Maßnahmen der primä­ ren Prävention sind, die bei Menschen im mittleren und höheren Lebensalter die höchste gesundheitliche Dividende ergeben könnten. Im Vergleich hierzu spielen alle anderen präventiven Maßnahmen und Vorsorgeuntersuchungen vermutlich eine untergeordnete Rolle.« Die Zivilisationserkrankungen entstehen nicht aus der biologischen Natur des Menschen, sondern sind die Folge seiner eigenen geschicht­ lich-gesellschaftlichen Produktion – die industrielle Vergesellschaf­ tung ist die geschichtlich erste von Menschen produzierte Lebensform (milieu technique). Die soziokulturelle Variabilität der elementaren Verhaltensweisen gerät in den Mittelpunkt epidemiologischer Auf­ merksamkeit. In der Arbeit »Volks -und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin- Zur Partizipation im Gesund­ heitswesen« wird die moderne Medizin als ein Dienstleistungs-

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und Produktionsbetrieb vorgestellt, der die Massennachfrage nach Gesundheitsleistungen auf der Grundlage der Industrialisierung und ihrer Anwendungsmöglichkeiten befriedigt. Die vorzugsweise Beschränkung auf Leiden und Gebrechen, denen mit mechanistischer Diagnostik und Therapie beizukommen ist, ermöglicht eine arbeits­ teilige, technisch-industrielle Produktionsweise. Die medizinische Großtechnik produziert ihr Anwendungssituationen gleich mit und macht den Arzt zum Erfüllungsgehilfen einer anlageintensiven Tech­ nostruktur (Galbraith). In der Bekämpfung der Infektionskrankhei­ ten, aber auch in der modernen Chirurgie bringt die Industrialisie­ rung und Technifizierung der Medizin unbestreitbare Erfolge, ohne dass überhaupt ein eigenes Engagement der Patienten erforderlich wird, wohl aber Gehorsam. Denn im Unterschied zu gewerblichen Dienstleistungen sind ärztliche Dienstleistungen auf die Mitarbeit des Patienten angewiesen. Das führt insbesondere im Krankenhaus zu einer Unterwerfung der Patienten unter das Regime der Medizin bzw. zu einem technokratischen, d. h. zu einem durch Expertenwis­ sen und durch Expertenzugang begründeten Herrschaftsverhältnis. Doch bleibt im Großen und Ganzen das Problem der Partizipation unhinterfragt. Es kann leicht der Eindruck entstehen, dass das beherr­ schende Problem der medizinischen Versorgung einer Bevölkerung lediglich in der Bereitstellung der Finanzmittel bestehe. Doch stellt sich die Situation in Zeiten eines Wandels des Krankheitspanoramas und der Aktivierung des Patienten anders dar: Die gesundheitlichen Gefahren – zum Beispiel der chronisch-degenerativen Erkrankungen der zweiten Lebenshälfte – liegen in der menschlich produzierten Umwelt begründet, dem milieu technique (Georges Friedman). Die Medizin hat eine Reihe natürlicher Gefahren gebannt, den gesell­ schaftlichen Gefährdungen der Gesundheit und dem Wandel des Krankheitsgeschehens ist sie nicht nachgewachsen. Die gesellschaft­ lichen Grenzen, die heute der Erhaltung der Gesundheit gezogen sind, hat die Medizin nicht überwunden. Vorsorge, Früherkennung und Rehabilitation dieser, in der menschlich produzierten Umwelt der industriellen Gesellschaft entwickelten Zivilisationserkrankun­ gen bleiben ohne engagierte Mitwirkung der Patienten wirkungslos. Die Verhaltensweisen der Bevölkerung, ihre Mitarbeit an der Erhal­ tung ihrer Gesundheit enthalten ein weit höheres Wirkpotential als die technisch hoch ausgerüstete und mit Expertenwissen glänzend ausgestattete und wohlorganisierte Medizin – vorausgesetzt das Wir­ kungspotential ließe sich für ihre Gesundheit mobilisieren. Wenn

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Arztmedizin und Laienmedizin einen Weg der Zusammenarbeit fän­ den und technologische Effizienz der Medizin mit der Partizipation der Bevölkerung verbunden wäre, dann könnte ein gesellschaftlichmedizinischer Fortschritt einsetzen, der über technologische Effizienz hinausgeht. Ein solches Ziel bedarf eines modernen Gesundheits­ wesens, dem Planung, Koordinierung und Kooperation wesentliche Aufgaben sind. Wie wird der Patient Beteiligter? Die Mitverantwortung der Patienten für ihre Gesundheit und die Partizipation der Laien am Gesundheitswesen sind schwach entwickelt. Um den Spielraum für eine Beteiligung zu erhöhen, bedarf es einer besonderen auf Patienten und Laien gerichteten Förderung. Beteiligte Patienten und aktive Laien würden die Wirksamkeit der Medizin erheblich verbessern. Doch gibt es Widerstand gegen eine Partizipation der Laien: Das in allen akademischen Berufen enthaltene Element der Expertenherr­ schaft, der Technokratie, haben die Ärzte am ausgeprägtesten verwirk­ licht. An die Berufsarbeit der Mediziner werden umfassende Ansprü­ che an ihre Kompetenz gestellt. Die Grenze zwischen Medizin und Laien wird daher deutlich markiert. Medizinische Halbbildung gilt als gefährlich. Die Mediziner haben den Anspruch der Wissenschaft, einen gesellschaftlichen Lebensbereich zu ordnen, am weitesten aus­ gedehnt und am konsequentesten gegen Beobachtung und gegen Zugriff von außen abgedichtet. Unter solchen Bedingungen kann eine Verbindung zwischen den wissenschaftlichen Grundlagen der Medi­ zin und dem Alltagswissen der Laien nicht gut gedeihen. Gleichzeitig gibt es Tendenzen, die auf eine Änderung dieser Situation hindeuten: der Übergang des Gesundheitswesens aus der Expansions- in die Rationalisierungsphase, die Orientierung der Medizin an diagnosti­ schen und therapeutischen Programmen, die spezifische Zielgruppen ansprechen (Diabetes, Bluthochdruck, etc.), sowie die Einführung gesundheitspolitischer Informationssysteme. Sehr deutlich zeigt sich bei der Bekämpfung der chronisch-degenerativen Erkrankungen die Notwendigkeit, neue Wege zu gehen und die Patienten zu beteiligen. Anstrengungen zur Senkung von Morbidität und Mortalität müssen auch auf alle dafür in Betracht kommende Lebensbereiche ausgedehnt werden- Schule, Arbeit, Wohnen. Zweifellos werden in einer zukünf­ tigen Medizin die Kontakte zwischen Medizinern und Laien normal, häufiger und intensiver sein. Auch wird die Öffentlichkeit stärker beteiligt sein, wenn Gesundheitsfragen auf der Tagesordnung stehen.

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Was verdankt die Medizin der Soziologie? Wie von anderen Fachdisziplinen erwartet der Arzt für die Entscheidungssituationen im Alltag auch von der Soziologie diagnostische und therapeutische Hil­ fen. Da die Beratungs- und Therapiesituationen im ärztlichen Alltag (ambulante Praxen, Klinik, Gesundheitsamt, usw.) außerordentlich variabel und zudem sehr komplex sind, erfordert die Arzt-Patienten­ situation verschiedene theoretische Konzepte zu ihrer Auslegung: Der Rollenbegriff, den die strukturell-funktionale Theorie entwickelt hat, eignet sich besonders dafür, die in der Berufsrolle des Arztes enthaltenen Strukturelemente zu erfassen, die die Interaktion mit den Patienten hemmen oder erleichtern. Der Symbolische Interaktionis­ mus hilft die Kontakte zwischen Arzt und Patient als interpretierte Rollenbeziehungen zu verstehen. Das Lernen der Patientenrolle fin­ det in der doppelten Auseinandersetzung mit der Krankheit und mit dem Arzt statt. Die Arztrolle kann unter Umständen störend in die Kommunikation mit dem Patienten eingreifen. In die Auslegung der Arzt-Patient-Beziehungen gehen noch weitere strukturelle Elemente ein wie die Überlegenheit des ärztlichen Expertenstatus, der oft durch seine Dominanz eine Kommunikation mit dem Patienten erschwert. Zudem stellen bestimmte Krankheiten besondere Herausforderun­ gen für eine Kommunikation dar. Die Sprachsoziologie geht auf die Kontakte im Medium des unterschiedlichen Sprachgebrauchs ein. Oft besteht die Gefahr, das gesicherte ärztliche Wissen zu über­ schreiten oder den Patienten durch ärztliche Feststellungen ungewollt abzuwerten. Es bleibt festzuhalten, dass die Komplexität der ArztPatient-Beziehung ein differenziertes, mehrere theoretische Ansätze nutzendes Vorgehen verlangt und keineswegs mit naivem Zugriff bewältigt werden kann. Kommunales Gesundheitswesen- eine historische Erin­ nerung oder ein zukunftsfähiges Konzept? Das Gesundheitswe­ sen ist ein Geflecht organisierter Interessen, die sich gegenseitig begrenzen und in der Waage halten. Aber es gibt durchaus einige Prozesse, die auf die Veränderung dieses Machtgefüges zielen: Die Bestrebungen der Patienten und der Bürger, mehr Rechte zu erhal­ ten, gehören dazu genauso wie die Bestrebungen der gesetzlichen Krankenversicherung, den Leistungsrahmen zu beschränken. Inno­ vative Formen der berufs-, organisations- und sektorübergreifenden Zusammenarbeit sind unumgänglich notwendig, will man die festge­ fahrenen Strukturen aufbrechen und das Verhältnis von Leistungsauf­ wand und gesundheitlichem Zustand der Bevölkerung verbessern.

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Die Kommune hat die Nähe zu den Bürgern und den Institutionen, die notwendige Interessenneutralität sowie eine Legitimation durch Wahlen, bringt also die besten Voraussetzungen mit sich, ein bür­ gernahes, abgestimmtes und effektives Gesundheitsmanagement in einem überschaubaren Einzugsgebiet vorzuhalten und alle Bürger zur Erhaltung ihrer Gesundheit zu motivieren. Mit dem ÖGD-Gesetz Nordrhein-Westfalens von 1997 haben kommunale Selbstverwal­ tung und ihr Pendant Selbstbeschränkung der Landesregierung eine Chance für eine Gesundheitspolitik bottom up an Stelle der bisher betriebenen Politik des top down bekommen. In der zum 65. Geburtstag veröffentlichten Festschrift für Chris­ tian von Ferber ist ein von seinen Anfängen im Jahre 1952 bis zum Jahre 1989 reichendes Schriftenverzeichnis enthalten, das die innovativen Ansätze seiner Überlegungen und das breite Spektrum seiner Arbeitsgebiete über vier Jahrzehnte dokumentiert: Kritik und Engagement. Soziologie als Anwendungswissen­ schaft. Festschrift für Christian von Ferber zum 65. Geburtstag. Her­ ausgegeben von Reinhardt P. Nippert, Willi Pöhler, Wolfgang Slesina, R. Oldenbourg Verlag München 1991. S. 557–578. Ein besonderer Dank gilt Prof. Hans-Ulrich Lessing, der das Projekt von Beginn an unterstützt hat und stets ein offenes Ohr für unsere Anliegen hatte. Da Christian von Ferber aber bis ins hohe Alter produktiv tätig war und noch viele weitere Arbeiten veröffentlich hat, ist der auf Vollständigkeit bedachte Leser vorerst auf eigene Suche angewiesen. Die Arbeit dürfte sich lohnen. Wie Sie an der Rechtschreibung und an der Uneinheitlichkeit der Beitragsgestaltung feststellen werden, sind die einzelnen Beiträge im Original übernommen worden. Alexander Brandenburg

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Teil 1 Helmut Plessner. Philosoph und Soziologe – Wissenschaft als Beruf in der Endzeit des bürgerlichen Humanismus

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Helmuth Plessner. Philosoph und Soziologe – Wissenschaft als Beruf in der Endzeit des bürgerlichen Humanismus

Zusammenfassung In seinem Werk »Die Stufen des Organischen und der Mensch« (1928) hat Helmuth Plessner seine Konzeption der »Philosophischen Anthropologie« vorgestellt und eingehend begründet. Seine Konzep­ tion ist nicht etwa eine Philosophie neben den vielen Erfahrungs­ wissenschaften vom Menschen (Natur- und Geisteswissenschaften, Medizin und Gesellschaftswissenschaften), sondern eine kritische Methode für eine rationale Begründung des universalen Anspruchs, sich auf den Menschen als solchen zu beziehen. Bisher erschließen die genannten Erfahrungswissenschaften ihr Arbeitsgebiet aus der Fülle menschlichen Daseins und seiner Zeugnisse unter praktischen Gesichtspunkten geleitet von »Theorien mittlerer Reichweite«. Phi­ losophische Anthropologie thematisiert dagegen den universellen Anspruch: Was ist der Mensch? Diese Frage beantworten die »Wis­ senschaften vom Menschen« pragmatisch jeweils beschränkt auf ihr Arbeitsgebiet und auch die Philosophen weichen auf Versatzstücke theologischer oder ideologischer Abkunft aus. Mit seiner Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? überwin­ det Plessner den traditionalen Stand der Erkenntnis: Der Mensch ist sich selbst verborgen (»homo absconditus« Plessner, H. 1969) und daher sich selbst zur Erforschung aufgegeben; in Freiheit verant­ wortet er sein Dasein vor Natur und Geschichte. Aus der Position wissenschaftlicher Rationalität fordert Plessner die Erfahrungswis­ senschaften vom Menschen und die Philosophen zur Prüfung ihrer Bezugnahmen auf den Menschen nicht nur rhetorisch heraus, sondern er erwartet die »radikale Reduktion« ihrer selbstgemachten oder gar theonomen »Anthropologien«. Philosophische Anthropologie über­ nimmt eine in der Geschichte der Philosophie vor allem von Dilthey vorbereitete und daher gleichsam überfällige erkenntnistheoretische

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Helmuth Plessner. Philosoph und Soziologe

Funktion: »Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte ... Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Hermeneutik, Konstituierung der Hermeneutik als Philosophische Anthropologie: Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Hori­ zonte« (Plessner, H. 1928: 30). Vielleicht waren es die Radikalität seiner Konzeption und der zu erwartende Umfang eines interdisziplinären Projekts, das alle Wissenschaften vom Menschen anging, die Plessners Programm für die Verwirklichung seiner Ideen ins Abseits der Plessner Rezeption geraten ließ. Hans-Ulrich Lessing (2008) erwähnt das Programm und analysiert es überzeugend im Hinblick auf seine Begründung im Werk Diltheys. Carola Dietze (2006) geht in ihrer »Wissenschaftlichen Biographie« der Leitfrage nach, warum Plessner nach seiner Rückkehr aus der Emigration (1950) seine Konzeption nicht weitergeführt hat. Letztlich findet die Autorin keine überzeugende Antwort. Auf der Grundlage des von Carola Dietze erstellten (vermutlich) vollständigen Schriftenverzeichnisses (Dietze, C. 2006: 545–555) und ihrer hervorragend dokumentierten Lebens- und Werkgeschichte Plessners thematisiert unser Beitrag ihre Frage neu. Unsere Fragestel­ lung konzentriert sich auf Plessners wissenschaftliche Arbeitsweise, seine Selbsteinschätzung als Wissenschaftler sowie auf die Zeugnisse, in denen er die Erfahrungen in der Emigration und seine Rückkehr in ein »post-nationalsozialistisches« und geteiltes Deutschland reflek­ tiert. Ausschlaggebend für die Beantwortung der Untersuchungsfrage ist allerdings die Analyse der Veröffentlichungen Plessners, in denen er selbst sein Programm verwirklicht hat. Unsere Analyse rechtfertigt die folgenden Feststellungen: – Sein Vorhaben, so wie er es 1928 formuliert hatte, wurde von Plessner auch nach 1950 nicht aufgegeben: – Die Verwirklichung der von Plessner geplanten und von ihm selbst initiierten interdisziplinären Zusammenarbeit von Philosophie und Erfahrungswissenschaften scheiterte bereits 1928 (Die Stufen des Organischen und der Mensch) am Positivismus der Erfahrungs­ wissenschaftler, hier der Biologen. Nach seiner Rückkehr 1950 fand sein erkenntnistheoretisches Programm angesichts des desolaten Zustands der Theorie, die 12 Jahre nationalsozialistische Wissen­ schaftspolitik und der Krieg an den Universitäten hinterlassen hatten, keine Resonanz. Plessner stieß auch in seiner hoch angesehenen Position in Göttingen nach 1950 auf keine Diskussionspartner (auch

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nicht unter seinen Schülern), geschweige denn auf kooperationsbe­ reite Kollegen oder Kolleginnen für eine Verwirklichung seiner Ideen. Zu dem philosophischen Empirismus Poppers bedeuteten seine philo­ sophisch-anthropologischen Diskussionsangebote an Biologen, Psy­ chosomatiker und Soziologen keine ernst zu nehmende Alternative, auch nicht für die wenigen, die wie Thure von Uexküll (Die Umwelt­ forschung als subjekt- und objektumgreifende Strukturforschung, 1983) oder Ralf Dahrendorf philosophisch aufgeschlossen und kom­ petent waren. Neben dieser Situation des in der Wissenschaftskultur vorherrschenden Selbstverständnisses und dem eklatanten Mangel an wissenschaftlichem Potential spielen die zeitgeschichtlichen Ereig­ nisse wie Emigration und Zweiter Weltkrieg zwar eine verstärkende, aber keine Schlüsselrolle. Dieses Ergebnis wird anhand der Litera­ tur erarbeitet. Angesichts globaler Verflechtungen der Kulturen hat Plessners Axiom von der »Unergründlichkeit des Menschen« und seine hierauf sich gründende Forderung nach einer »radikalen Reduktion« der prag­ matisch gewonnenen Bezugnahmen auf »den Menschen« durchaus an Aktualität gewonnen. Sie ist in den Erfahrungswissenschaften vom Menschen zu einem Gebot ihrer wissenschaftlichen Rationali­ tät geworden.

1 a) Helmuth Plessner – »Philosophie als Beruf« in der Endzeit des »bürgerlichen Humanismus« »Es gibt keine allgemein gültige Methode zur Gewinnung historischer Ergebnisse ... Es gibt nur allgemein einzuhaltende Richtlinien für die Vorbedingungen, ohne deren Erfüllung eine geschichtswissenschaftli­ che Leistung nicht möglich ist. In der Naturwissenschaft bringt die Methode die alternative Fragestellung und damit auch die Antwort hervor. In der Geschichtswissenschaft liegen die Kriterien nur negativ fest. Schon die Fragestellung entspringt einer freien Auffassung von den historischen Zusammenhängen. In der Deutung, Bewertung und der produktiven Synopsis der Bruchstücke, schon in dem, was man als Quelle gelten lässt und was nicht, zeigt sich der auswählende Blick konstitutiv für die Gliederung des historischen Stoffes.« (Plessner 1923: 145)

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Helmuth Plessner. Philosoph und Soziologe

»In a considerable number of countries which, for about a hundred of years, have enjoyed a practically complete freedom of public discus­ sion, that freedom is now suppressed and replaced by a compulsion to coordinate speech with such views as the government believes to be expedient, or holds in all seriousness. It may be worth our while to consider briefly the effect of that compulsion, or persecution, on thoughts as well as actions.« Leo Strauss (1952)

Helmuth Plessner (1892–1985), Philosoph und Soziologe, war von 1920 bis Anfang der 70er Jahre an mehreren Universitäten in Deutschland und in den Niederlanden, in der Schweiz und in den USA tätig. Seine beiden philosophischen Hauptwerke: »Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes« (1923) und »Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die Philosophische Anthropologie« (1928) machten ihn auch außerhalb der Philosophie als Begründer der Philosophischen Anthropologie bekannt (Dietze 2006: 42–48 und 61–72; Schwemmer 2005: 154; Accarino/Schloßberger 2008). Die radikale Umgestaltung der Uni­ versitäten und der Wissenschaftspolitik durch das N.S.-Regime ver­ hinderte es, dass Plessner mit einer von ihm erstrebten Berufung auf ein Ordinariat für Philosophie in Deutschland die universitäre Anerkennung seiner Konzeption fand. Auch auf Dauer verlor er die Chance, seine Ideen zur Philosophischen Anthropologie zu verbreiten und auf dieser Grundlage sein Programm für die erkenntnistheore­ tischen Grundlagen der Kulturwissenschaften weiterzuentwickeln. Zwar kehrte er nach 17 Jahren aus den Niederlanden an die Universität Göttingen zurück, aber nicht – wie ursprünglich geplant – als Nach­ folger des Philosophen Nicolai Hartmann, sondern auf ein Ordinariat für Soziologie mit einem Lehrauftrag für Philosophie. Plessner wurde wie vielen anderen, die wie er von dem anti­ semitischen Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums betroffen waren, bereits zum Sommersemester 1933 die venia legendi entzogen (1) und emigrierte in die Niederlande. (1) Für die erstaunliche Tatsache, dass »nicht-arischen« Hochschul­ lehrern schon vor dem SS 1933 (Mai 1933) Lehrverbot und Entlassung mitgeteilt wurde, gibt Wegeler (1996) eine überra­ schende Erklärung. Schon zu Beginn der 20er Jahre legte in Göttingen ein Student der Chemie eine Kartei der jüdischen Lehrpersonen an deutschen Universitäten an. Diese Kartei wurde über den NS-Studentenbund in die Regie der NSDAP übernom­

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men. Daher konnte sofort nach der »Machtergreifung« an den deutschen Universitäten der Antisemitismus exekutiert werden. Zu Plessners Entlassung siehe Dietze 2006: 89–94. Dort erhielt er 1936 eine Dozentur für Philosophie (Plessner 1937) und wurde 1938 auf eine Stiftungsprofessur für Soziologie berufen und Leiter eines Instituts mit dem Auftrag, empirische Forschung zu betreiben (Plessner 1938). Die von ihm eingeleitete Untersuchung zur Situation der Privatdozenten an den niederländischen Universitäten ging in den Wirren der deutschen Besatzung während des Krieges verloren (Dietze 2006: 182 Anm. 47). Plessner selbst wurde von den deutschen Besatzungsbehörden entlassen und entging in einem Ver­ steck der Verhaftung und Deportation. Nach 17 Jahren Exil und im Alter von 58 Jahren nahm er die Berufung auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Göttingen an und leitete dort bis zu sei­ ner Emeritierung (31. März 1962) das »Seminar für Soziologie«. Hier zeigte er eine erstaunliche Vielseitigkeit in der Anregung, Beratung und Förderung von Nachwuchswissenschaftlern und deren Forschun­ gen. Er war verantwortlich für eine Reihe von Projekten (2), insbe­ sondere für die umfassend angelegten und – nach den Besprechungen zu urteilen – methodisch beispielgebenden und eine dringende Reform der Personalstruktur der Universitäten anmahnenden »Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer« (Pless­ ner: 1956). (3) (2) S. dazu das Verzeichnis der »Göttinger Abhandlungen zur Sozio­ logie« im Ferdinand Enke Verlag Stuttgart und Dietze (2001). (3) Die Rezensionen aus den führenden Fachzeitschriften des In-und Auslandes sowie Besprechungen im Rundfunk und in der Presse sind im Verlag noch vorhanden und belegen sowohl die fachwis­ senschaftliche Anerkennung der Untersuchungen (z. B. auch in Großbritannien und in den USA) als auch deren Beachtung in den Massenmedien als Grundlage einer Reform. Er übernahm zudem in der sich neu organisierenden wissenschaftli­ chen Selbstverwaltung der Universität Göttingen das Amt des Dekans der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät sowie das des Rektors. In diese Zeit fällt auch die Wiedereinstellung der wegen ihrer Unterstützung der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik zunächst ihrer Ämter enthobenen Professoren; an diesen Entschei­ dungen wurden unter Beachtung ihrer wiederhergestellten Autono­ mie auch die akademischen Gremien, Fakultäten und Senat, betei­

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ligt. (4) In den Fachgesellschaften für Philosophie und Soziologie wurde er jeweils zum Präsidenten gewählt, auch war er Hauptgutach­ ter der deutschen Forschungsgemeinschaft für Philosophie. (4) Cornelia Wegeler machte uns darauf aufmerksam, dass die Über­ nahme von Ämtern in der akademischen und wissenschaftlichen Selbstverwaltung durch Remigranten insofern kein Zufall ist, als dies auch im Interesse der Hochschulpolitik der britischen Besatzungsmacht lag. In der Universität Göttingen war bereits seit 1946 ein britischer university officer tätig (Bird 1981). Das Verzeichnis seiner Veröffentlichungen (Dietze 2006: 545–557) offenbart eine erstaunliche Vielfalt und Aktualität der Themen, zu denen Plessner sich zum Teil auch in Wiederaufnahme, Weiter­ führung oder Neuveröffentlichung seiner Arbeiten aus den 20er und 30er Jahren an dem wissenschaftlichen Diskurs und an der öffent­ lichen Diskussion beteiligt hat (Dietze 2006: 497–509). Nicht zuletzt im Blick auf dieses vielseitige produktive Engagement Plessners versteht sich der von Carola Dietze gewählte Titel »... nachgeholtes Leben« – wohlgemerkt – ohne ein nachgesetztes Fragezeichen! Beeindruckend an der Biographie Helmuth Plessners ist nicht allein die von den zeitgeschichtlichen Ereignissen ungebrochene Kon­ sequenz, mit der er seinen Lebensentwurf bis ins hohe Alter hinein verfolgte (Plessner 1969 und 1975). Bereits während des Studiums hatte er sich unter ausdrücklichem Verzicht auf einen akademischen Beruf (er hatte zunächst ein Medizinstudium begonnen) für die Wissenschaft als Beruf entschieden, und zwar hier für eine fachliche Orientierung, bei der mangels objektivierbarer Kriterien letztlich die subjektive Meinung der jeweils anerkannten Autoritäten über eine Berufung auf eine Professur auf Lebenszeit entscheidet. Er entschied sich für die Philosophie und hier für eine grundlegende Fragestel­ lung: Wie ist in einer zugleich kritischen und konstruktiven Überwin­ dung der auf die Naturwissenschaften bezogenen Erkenntnistheorie Immanuel Kants einerseits und der Geschichtsphilosophie Wilhelm Diltheys anderseits Kulturwissenschaft als Wissenschaft im Sinne des strengen im 19. Jahrhundert entwickelten Wissenschaftsbegriffs möglich? (5) (5) Siehe hierzu die weit in die Problemgeschichte ausgreifenden Begründungen seiner Fragestellung in Plessner 1923 und 1928. Die Soziologie rechnet Plessner zu den Kulturwissenschaften.

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In der Tat ein anspruchsvolles Programm und dementsprechend mit einem hohen persönlichen Risiko verbunden. Denn er musste für diese Fragestellung eine methodisch überzeugende Konzeption ent­ wickeln. Das Ergebnis seiner Forschung musste in Konkurrenz zu den bereits anerkannten Positionen ebenso wie zu aktuellen alternativen Entwürfen (z. B. Martin Heideggers und Karl Jaspers’) die Meinung der Fachöffentlichkeit gewinnen. Wie der von Carola Dietze ausge­ wertete Briefwechsel mit Josef König zeigt (König/Plessner 1994), war sich Plessner dieses Risikos durchaus bewusst. Zudem bekam er die Konkurrenz von zwei Seiten her unerwartet drastisch zu spüren. Nach Erscheinen der »Stufen des Organischen und der Mensch« (1928) erhob Max Scheler gegen ihn einen – wie sich im Ergebnis dann herausstellen sollte – unbegründeten Plagiatsvorwurf. (6) (6) Letztlich ist dieser Vorwurf erst mit der sorgfältigen Recherche und Dokumentation von Carola Dietze endgültig vom Tisch (Dietze 2006: 64 ff.). Denn nach Plessners Rückkehr in die Bun­ desrepublik setzte Arnold Gehlen diesen Vorwurf wieder in Umlauf, um sein »Verschweigen« Plessners als Begründers der Philosophischen Anthropologie während der NS Zeit zu recht­ fertigen (Dietze 2006: 461 ff.). Wie gering substantiiert Schelers Vorwurf gegen Plessner war, geht aus Henckmanns Rückblick auf Schelers anthropologische Anschauungen hervor (Henckmann 2010: 19–49). Zum andern zeigte der spektakuläre Erfolg von Heideggers Fun­ damentalontologie (2006: »Sein und Zeit« erschien zuerst 1927), auf welchem schwankenden Boden der fachöffentlichen Meinungs­ bildung Plessner mit seinem Entwurf um eine Anerkennung für die Berufung auf ein Ordinariat warb. Die nationalsozialistische Wissenschafts- und Universitätspolitik schied ihn aus dieser Konkur­ renz aus und stellte Plessner vor die radikalere Alternative, seinen Lebensentwurf als Emigrant zu verwirklichen oder in einer zunächst »Halbariern« noch gegebenen Nischenexistenz zu resignieren. Mit Deutschland blieb er verbunden, jedoch den zeitgeschichtli­ chen Rahmenbedingungen entsprechend (Dietze 2006: Kap. 6): – –

1923–1933 in der Weimarer Republik als Privatdozent und außerplanmäßiger Professor für Philosophie, also als »Nicht­ ordinarius« 1933–1950 in den Niederlanden als »Emigrant«; zunächst Sti­ pendiat in der Position eines (Privat)Dozenten, dann Inhaber

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einer Stiftungsprofessur für Soziologie, 1946–1950 ordentlicher Professor für Philosophie in Groningen (mit deutscher Staatsan­ gehörigkeit!) ab 1950 Rückkehr in die Bundesrepublik auf einen Lehrstuhl für Soziologie und als Direktor eines Seminars nach 1962 als Emeritus zunächst an der New School for Social Research, New York, USA und danach als Gastprofessor an der Universität Zürich. Er starb am 12. Juni 1985 in Göttingen.

Um es mit einer von ihm selbst oft verwendeten Maxime zu charak­ terisieren. Er war bereit und entschlossen, »aus einer Schamade eine Fanfare zu machen«! Als ihm für die von ihm geplante Weiterführung der Philosophischen Anthropologie in Deutschland die Vorausset­ zungen entzogen wurden, ergriff er die ihm als Emigranten gewährten bescheidenen Chancen, an seiner Konzeption weiterzuarbeiten sowie an den niederländischen Universitäten die bisher nicht vertretene Soziologie als ein neues Fach zu begründen (1938). Als er sich für eine Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland entschieden hatte, scheiterte die von ihm erstrebte Nachfolge Nicolai Hartmanns auf das Ordinariat für Philosophie in Göttingen. Daraufhin machte er Göttingen zu einem der Zentren, von denen aus die Soziologie ihre Position in einer »offenen Gesellschaft« (Plessner 1960 a; Siberski 1967) definieren und unter Konkurrenz behaupten konnte. Ungeachtet freundschaftlich gemeinter Bedenken (anlässlich der Übernahme der Präsidentschaft in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), dass die ihm inner- und außerhalb der Universität ange­ botenen Ämter mit den Erwartungen konkurrierten, die sich an die Ausführung seines Programms der Philosophischen Anthropologie richteten (Dietze 2006: 493/494), übernahm er alle die genannten Positionen im Wissenschaftsmanagement. Er nutzte allerdings die herausgehobene Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit, um seine Kon­ zepte an prominenter Stelle sichtbar zu machen und ihnen den Weg zu bereiten. Die Vorträge, die er von diesen Positionen aus gehalten hat, gehören allerdings nicht nur deswegen zu seinen auch im fach­ wissenschaftlichen Diskurs stark beachteten Veröffentlichungen (z. B. Plessner 1960 a, b, c). Es ist das besondere Anliegen der Biographie Carola Dietzes, diese Entscheidung Plessners, öffentlich Einfluss zu nehmen, als einen Wesenszug seiner Persönlichkeit überzeugend dokumentiert zu haben (Dietze 2006: 417–449, 493–494).

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b) Wissenschaftssoziologische Fragestellungen 1.1 Kontinuität und Diskontinuität – »Nachgeholtes Leben« Carola Dietzes Darstellung der Lebens- und Werkgeschichte Helmuth Plessner beschränkt sich nicht auf den Horizont einer wissenschaftli­ chen Biographie. Die Autorin versteht ihre Arbeit ausdrücklich auch als einen Beitrag zur Emigrationsforschung. Carola Dietze hat für die zeitgeschichtliche »Kategorie« von Lebensläufen der »Remigranten« die Metapher »nachgeholtes Leben« eingeführt (Dietze 2006: 10). Man wird ihrer Maßstäbe setzenden Biographie allerdings nur dann gerecht, wenn man die Metapher auch als Hypothese diskutiert. Dabei gilt es zweierlei zu unterscheiden: die Verarbeitung des traumatischen Ereignisses selbst und das Ergreifen der Chancen, die eine Wiedereinsetzung in den aberkannten, aber auch in den »verhinderten« Status bietet. Verlust der Identität Neben dem Verlust seiner bürgerlichen und akademischen Rechte hat Plessner vor allem die Auslöschung seiner kulturellen Identität getroffen. Dass ihm seine Zugehörigkeit zu Deutschland, dessen Kultur und Geschichte genommen wurde, empfand er als ein trauma­ tisches Ereignis, über das er sich nach der sensitiven Darstellung von Carola Dietze fast zu niemandem unmittelbar geäußert hat. Das Erlebnis gehörte für ihn offenbar zu den Erfahrungen, über die Menschen – wenn überhaupt – sich anderen gegenüber nur in einer sublimierten Form mitteilen können. Aus seinen noch frischen Erfahrungen heraus entstand 1934 bereits das Buch »Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche« (Pless­ ner, H. 1935/1959; Dietze 2006: 130–162). Nach seiner Rückkehr stoßen wir unter diesem Suchmuster auf Vorträge wie »Über Men­ schenverachtung« (1952) oder »Das Problem der Unmenschlichkeit« (1966). Unter diesem Aspekt gelesen wird seine »Selbstdarstellung« (1975) zu einem herausragenden Beispiel für eine Sublimierung von Erfahrungen mit politischer Gewalt. Diese Erfahrungen widerspra­ chen zutiefst seiner geistigen Haltung. Seine Persönlichkeit und sein wissenschaftliches Selbstverständnis waren von der Tradition des bürgerlichen Humanismus geprägt. Plessner war von der kulturellen Bedeutung und der geschichtlichen Überlegenheit dieser Tradition

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überzeugt – ungeachtet der Ereignisse unter dem Nationalsozialis­ mus und ihrer Folgen (H. Plessner 1959). Diese Überzeugung bildet den Kern seiner Identifizierung mit der deutschen Kultur. Sie moti­ vierte sein vielseitiges öffentliches Engagement für eine demokrati­ sche Zukunft der Bundesrepublik und macht seine Sorge um ein Scheitern verständlich (Dietze 2006: 526). Plessners Optionen nach der Rückkehr in die Bundesrepublik – Gibt es ein »nachgeholtes Leben« auch in der »Wissenschaft als Beruf!«? Die Metapher »Nachgeholtes Leben« richtet den Blick vor allem auf die Optionen Plessners nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik. Legen wir dieses Erkenntnisinteresse zugrunde, dann formuliert Carola Dietze einen Leitfaden, mit dem Plessners Veröffentlichungen bis zu seiner Emeritierung (1950–1962), aber auch danach analysiert werden können. Ein solcher Leitfaden erweist sich vor allem als eine unentbehrliche Hilfe in der Beantwortung der unausweichlichen Frage nach der von Plessner vor seiner Emigration programmatisch in Aussicht gestellten Weiterführung seiner Philosophischen Anthro­ pologie (Plessner 1928: 69 ff.). In der Emigration und nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik hat Plessner seinen innovativen For­ schungsansatz aus den 20er Jahren zwar wiederholt ergänzt und kommentiert, aber ihn nicht der gewandelten Forschungssituation, gerade auch der eigenen entsprechend weiterentwickelt. Zugespitzt formuliert: Warum hat Plessner den Ansatz seiner Hauptwerke vor seiner Emigration, eine umfassende Begründung der Philosophischen Anthropologie zu entwickeln und aus dieser Position heraus eine erkenntnistheoretische Wende der Kulturwissenschaften einzuleiten, nicht weitergeführt? Dafür gibt es auf den ersten Blick hin verständ­ liche Gründe persönlicher Art, die den Kern der Frage allerdings nicht berühren.

1.2 Lassen sich »verlorene Lebensjahre« »nachholen«? Die Herausforderungen eines interdisziplinären Programms Als Plessner aus der Emigration zurückkehrte und die Chance erhielt, seine philosophischen Arbeiten fortzusetzen, war er bereits 58 Jahre alt. »Zurück zu den Wurzeln« hätte bedeutet, sich überwiegend,

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ja vermutlich ausschließlich auf die Weiterentwicklung und Ausdif­ ferenzierung seines anthropologischen Ansatzes zu konzentrieren und diesen in den Zusammenhang der gewandelten philosophischen Problemlage einzubringen. Angesichts seiner Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime, mit den weiterhin bestehenden Ver­ flechtungen der Kollegen und wissenschaftlichen Institutionen mit diesem Regime konnte die Option »Einsamkeit und Freiheit« für ihn nicht akzeptabel sein. Insofern war es konsequent, aus seiner Position heraus und mit seinen Erfahrungen sich für die Gestaltung der Verhältnisse in der Bundesrepublik zu engagieren. (7) Zur Situation der deutschen Universitäten nach 1945 findet deren konsequente Umgestaltung zur Sicherung der nationalsozialisti­ schen Herrschaft (1933–1945) kaum Beachtung. Nur in Kennt­ nis der Gesinnungskontrolle aller zukünftigen Hochschullehrer durch den Reichskultusminister lassen sich deren Folgen für die Haltung der Lehrkörper nach dem Ende des Regimes abschät­ zen. Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik machte von 1934 an jede Habilitation von einem positiven Bescheid des Reichskultusministers abhängig (Busch 1959: 137). Grundlage der Beurteilung war die Teilnahme an einem »Dozentenlager«. Gegen diese Entmachtung der Fakultäten im Dienste einer poli­ tischen Kontrolle der Universitäten gab es keinen Protest, nicht zuletzt, weil mit dem zustimmenden Votum des Reichskultus­ ministers die Verbeamtung als Hochschuldozent verbunden war. Das Regime erfüllte damit eine alte Forderung (seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg) der »Nichtordinarien« (Privatdozenten und außerplanmäßige Professoren). 1945 hatten 10 Habilitati­ onsjahrgänge die Kontrolle ihrer Zuverlässigkeit im Sinne des NS Regimes erfolgreich durchlaufen, ganz zu schweigen von der nationalsozialistischen Berufungspolitik während 1933–1945. In gleicher Weise wurde die Zuverlässigkeit der Studenten bei der Immatrikulation überprüft, sie mussten Mitglieder der NSDAP sein oder ihrem Eintritt in die Partei durfte keine Bedenken ent­ gegenstehen. Plessner beteiligte sich an der Erneuerung der Universität Göttingen. Er übernahm Aufgaben als Dekan und als Rektor, engagierte sich bei der Reorganisation der wissenschaftlichen Fachgesellschaften für Philosophie und Soziologie als deren Präsident, gründete und leitete das Seminar für Soziologie der Universität, stand in der Ver­

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antwortung für ein umfangreiches Forschungsprojekt »Zur Lage der deutschen Hochschullehrer« (Plessner 1956) und engagierte sich für die Seminare für Erwachsenenbildung an der Universität (university extension). Auf diesem Hintergrund seines ehrenamtlichen Engage­ ments müssen wir die Anforderungen bedenken, die eine Wiederauf­ nahme seines Programms der »Philosophischen Anthropologie als Grundlegung der Kulturwissenschaften« an die Organisation seiner eigenen Arbeit gestellt hätten. Plessners naturwissenschaftliche Ausbildung, speziell in der Biologie, kam ihm bei seiner Hinwendung zur Philosophischen Anthropologie zugute. Sein Ansatz, über einen phänomenologischen Zugang zur Theorie der Biologie eine Philosophische Anthropolo­ gie zu entwickeln, um sie naturwissenschaftlich und philosophisch zu begründen, gab ihm eine innovative Chance. Er erarbeitete eine sowohl methodisch anspruchsvolle als auch theoretisch weit reichende Konzeption. Rückblickend verstehen wir heute, welche Herausforderungen seine Konzeption an ihre Verwirklichung stellte. Sein Forschungsansatz – und auch das war neu – war interdisziplinär ausgerichtet, Natur- und Geisteswissenschaften, Philosophie und Erfahrungswissenschaften zu einem Diskurs herausfordernd. Daher war es absehbar, dass er Konflikte heraufbeschwören würde. War es angesichts des Arbeitsstils, wie ihn Plessner als Nichtordinarius mit Lehrauftrag in Köln oder unter der Ausnahmesituation als Emigrant in den Niederlanden nolens volens gewohnt war, überhaupt zu erwar­ ten, derartige Ansprüche zu erfüllen? (8) Einen Eindruck von den philosophischen und erkenntnistheo­ retischen Problemen, die Plessners Forschungsansatz aufwirft, vermitteln die Beiträge zur Plessner Rezeption in den Interna­ tionalen Jahrbüchern für philosophische Anthropologie, Bde. 1 und 2). Plessners Arbeiten während dieser Zeit (1920–1950) entstanden überwiegend in einer Klausur in Wiesbaden (Dietze 2006). Diese Form der Arbeit war für die grundlegenden konzeptionellen Aufga­ ben sicherlich ausreichend, ja vielleicht sogar Erfolg versprechend. War dieser Arbeitsstil jedoch für die weitere Ausarbeitung und die methodisch gesicherte Entwicklung seines Programms zur anthropo­ logischen Grundlegung der Kulturwissenschaften noch ausreichend? Ein so grundlegendes interdisziplinäres Konzept verlangt eine aus­ schließliche Konzentration auf die interdisziplinären Prozesse, deren

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Organisation sowie eine arbeitsteilige, wenn nicht gar betriebsför­ mige Zusammenarbeit über eine längere Zeitperiode hinweg, als sie Plessner 1950 noch zur Verfügung stand. Es gibt also zureichende Gründe dafür anzunehmen, dass Plessner letztendlich selbst darauf verzichtete, das von ihm in den »Stufen des Organischen und der Mensch« (1928) formulierte Programm für eine anthropologische Grundlegung der Kulturwissenschaften wieder aufzunehmen. Diese Interpretation ist plausibel – aber gilt sie ohne Ausnahme für jeden Wissenschaftler? – auch für jeden Philosophen? Plessner war sich seines Ranges im Kreis der Philosophen als Begründer einer innovativen Disziplin der »Philosophischen Anthropologie« durch­ aus bewusst (Dietze 2006: 490–497). Mit seinen Veröffentlichungen hatte er sich in die Annalen der Philosophie eingeschrieben. Das bezeugen nicht zuletzt seine Veröffentlichungen zu seinem Werk nach 1950 (Dietze 2006: 497–515). Sollte er wirklich, nachdem ihm eine seinem wissenschaftlichen Rang entsprechende Position übertragen worden war, darauf »verzichtet« haben, sich den grundlegenden Fragen einer Weiterführung seines Werkes wieder zuzuwenden? Die von ihm allererst noch zu entwickelnden Konsequenzen einer Philosophischen Anthropologie für eine Grundlegung der Kul­ turwissenschaften wurden von ihm aus bisher nicht untersuchten Gründen bereits 1928 zurückgestellt und waren dann während seiner Jahre in der Emigration nur unter erschwerten Bedingungen zu reali­ sieren. Nach 1950 jedoch unter dem offenen Horizont einer herausra­ genden Position an der Universität Göttingen den substantiellen Kern seiner Lebensarbeit preiszugeben, um unter den bereits zeitlich limi­ tierten und überdies im Einfluss beschränkten Möglichkeiten wissen­ schaftlicher und akademischer Selbstverwaltung dem Wissenschafts­ management zu dienen, hätte die Annahme eines Linsengerichts für ein innovatives Vermächtnis bedeutet. So wie – selbstkritisch und ironisch zugleich – in der von ihm initiierten und herausgegebenen Hochschullehrerstudie eine Studie aus den U.S.A. zitiert wird: »admi­ nistration is a kiss of death« (Caplow/McGee 1958).

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Literatur Nahezu alle Veröffentlichungen Plessners sind mehrfach erschienen. Für unseren Beitrag ist das Erscheinungsjahr unentbehrlich; für die Leser dagegen das aktuelle Erscheinungsjahr, zu dem Plessners Veröf­ fentlichungen für ihn am ehestens verfügbar sind. Daher geben wir im Text das Erscheinungsjahr an und haben auch das Literaturverzeichnis für Plessner danach chronologisch geordnet, aber eine aktuelle Aus­ gabe für die Veröffentlichung benannt. Accarino, Bruno / Matthias Schloßberger (Hg.) (2008): Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, in: Jahrbuch für phi­ losophische Anthropologie. Bd. 1, Berlin (Akademie Verlag) (jetzt: De Gruyter Verlag). Bird, Geoffrey (1981): Die Wiedereröffnung der Universität Göttingen. In: Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich, in: Veröffentlichungen der Historischen Kom­ mission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Bd. 5., Stutt­ gart (Klett-Cotta Verlag), S. 167–171. Busch, Alexander (1959): Die Geschichte des Privatdozenten, Göttinger Ab­ handlungen zur Soziologie, 5. Bd., Stuttgart; Ferdinand Enke Verlag. Caplow, Theodore / Reece J. McGee (2001), The Academic Marketplace, New Brunswick and London (Transaction Publishers), 2001, p. 83. Es handelt sich um eine erweiterte Neuausgabe von 1958. Dietze, Carola (2001): Nach siebzehnjähriger Abwesenheit ... Das Blaubuch. Ein Dokument über die Anfänge der Soziologie in Göttingen nach 1945 unter Helmuth Plessner, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1997/98 (2001), S. 243–300. Dietze, Carola (2006): Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985. Göttingen (Wallstein Verlag). Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit, 19. Aufl. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. Henckmann, Wolfhart (2010): Über die Entwicklung von Schelers philosophi­ schen Anschauungen, in: Becker, Ralf / Joachim Fischer / Matthias Schloss­ berger (Hrsg.): Max Scheler und Helmuth Plessner im Vergleich, in: Interna­ tionales Jahrbuch für philosophische Anthropologie, Bd. 2 (2009/2010), Berlin: Akademie Verlag, S. 19–49. König, Josef / Helmuth Plessner (1994): Briefwechsel 1923–1933, Hrsg. HansUlrich Lessing/Almut Mutzenbecher, Freiburg/München (Verlag Karl Alber). Plessner Helmuth (1923): Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiolo­ gie des Geistes. In: Gesammelte Schriften III, S. 7–315. Plessner, Helmuth (1928): Die Stufen des Organischen und der Mensch, Einlei­ tung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften IV.

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Literatur

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2 Interdisziplinarität ist der Anspruch der Philosophischen Anthropologie Plessners a) Philosophische Anthropologie und empirisch arbeitende Fachwissenschaften In der Tat ist es ein gewichtiges Argument, dass die Realisierung von Plessners Programm nur über die Öffnung der traditionellen und durch Eigeninteressen gesicherten Grenzen unter den Wissenschaften zu realisieren ist. Ihre Markierungen von Arbeits-, Forschungs- und Lehrgebieten sichern denjenigen, die Wissenschaft zu ihrem Beruf gewählt haben, mit der Zugehörigkeit zu einer scientific community soziale Identität und auch die Ressourcen zur Ausübung ihres Berufs. Die Bewahrung der Fachgrenzen ist einerseits durch Interessen gesi­ chert, aber anderseits auch gefährdet. Denn die Funktionalität dieser Organisation wissenschaftlicher Arbeit ist dem Gefälle fortschreiten­ der Spezialisierung und mit dem Wandel relevanter Fragestellungen der Erosion ausgesetzt (Weber 1988: 208 und 214; Plessner 1924, 1956 a). Dieser Wandel gilt sowohl in Bezug auf die Organisation selbst als auch für die beteiligten Personen. Beides motiviert Kräfte der Beharrung. Für eine philosophische Reflexion dagegen ist die Definition von Fach- und Forschungsgebieten für Zwecke der Wissen­ schaftsorganisation wie Universitäten, Fachgesellschaften oder der Wissenschaftsförderung willkürlich, weil partikularen Zwecken aus­ gesetzt. Aus diesem stets prekären Zustand wissenschaftlicher Arbeit erwachsen für gebietsübergreifende Fragestellungen und Projekte, die auf der Ebene der überkommenen Gebietsbezeichnungen eine inter­ disziplinäre Zusammenarbeit initiieren wollen, unvorhersehbare und schwierig einzuschätzende Widerstände. Plessner waren aus seinen wissenschaftssoziologischen Arbeiten (Plessner 1924, 1956 a) diese Probleme vertraut. Daher hat er bereits in den 20er Jahren Strategien entwickelt, um für seine eigenen Vorhaben solche Risiken zu vermei­ den bzw. zu verringern. Von vornherein strebt er keine »interdisziplinäre« Zusammen­ arbeit im Rahmen der Fachgliederung an, wie sie durch die Bedürf­ nisse der Wissenschaftsorganisation vorgegeben ist. Durchgängig unterscheidet er in seinen Veröffentlichungen zwischen der Philo­ sophie und den empirisch arbeitenden Fachwissenschaften. Diese sind in dem gesellschaftlichen Prozess fortschreitender Rationalität gefangen und von diesem getrieben (Plessner 1924, 1956 a). Seine

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Konzeption der Philosophischen Anthropologie strebt mit einer »Ver­ schränkung der Perspektiven« von Philosophischer Anthropologie und empirisch arbeitenden Fachwissenschaften eine erkenntnistheo­ retische Grundlegung der Wissenschaften an, die sich auf »den Men­ schen als solchen« beziehen. Eine Verschränkung der Perspektiven stiftet zwischen der Philosophie als Grundlagenwissenschaft und den empirisch arbeitenden Fachwissenschaften eine wissenschaftstheore­ tische Beziehung. Um es mit den Worten Plessners zu sagen: Die Philosophische Anthropologie legt die »Wurzeln des Menschseins« offen (H. Plessner 1975, 1938, 1969) und stiftet damit einen gemein­ samen theoretischen Bezugsrahmen – wohlgemerkt keine normative Ordnung – für die Fachwissenschaften. Für seine Konzeption – und das unterscheidet ihn prinzipiell von Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky – gilt das Prinzip der »Werturteilsfreiheit« (Plessner 1924) (1). Plessner will die philosophische Dimension der Fachwissenschaften aufspüren und anthropologisch begründen. Es verfehlt daher von vornherein die Frage unserer Untersuchung, wenn wir dem Programm Plessners ein Verständnis von Interdisziplinarität unterlegen, wie sie seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts aus pragmatischen wissenschaftsorganisatorischen Bestrebungen gefor­ dert und gefördert wird. Ein solches Vorverständnis verstellt uns sofort – wie wir sehen werden – den Blick auf die Probleme, die der Ausführung seines Programms von Beginn an, also nicht nur erst seit 1950 im Wege gestanden haben. (1) Aus diesem Grunde ist es verfehlt, für den »Aufbruch der Phi­ losophischen Anthropologie« im 21. Jahrhundert diese wissen­ schaftstheoretisch bedeutsamen Unterschiede der Konzeptionen Schelers, Plessners und Gehlen/Schelsky für unwichtig zu erklä­ ren (Fischer 2006).

»Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie«. Plessners Bedingungen für einen interdisziplinären Diskurs Den Bezugsrahmen, in dem die Philosophische Anthropologie und die »Wissenschaften vom Menschen« in den Diskurs eintreten soll­ ten, um für sich gemeinsam eine erkenntnistheoretische Wende ein­ zuleiten, hat Plessner in seiner Antrittsvorlesung als »Privatdozent« an der Philosophischen Fakultät der Universität Groningen 1936 defi­ niert. Er hat diese Vorlesung (ob Zufall oder bewusst) am 30. Januar

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1936, also am 3. Jahrestag der N.S.-Diktatur in Deutschland gehalten. Die »Aufgabe der Philosophischen Anthropologie« gibt die Antwort des Philosophen auf die Infragestellung des »Menschen als solchen« durch Philosophie, Wissenschaft und Politik im Dienst des National­ sozialismus (Dietze 2006: 174–175). »Der Mensch« kann sich in des Wortes strengster Bedeutung »verlieren«, er kann aus seiner von ihm geschichtlich zu verantwortenden Existenz herausfallen, wenn er in dieser Verantwortung keine Würde mehr erkennt. Dieser Würde kann sich der Mensch im 20. Jahrhundert nicht mehr aus einer fraglosen Überlieferung heraus versichern. So ist ihm, wenn er die Zweifel an der erschütterten Überlieferung so ernst wie nur irgend möglich nimmt, sein Menschsein als Tatsache und als Aufgabe zum Problem geworden. (Plessner 1937: 43, 1953). Daher muss es das Ziel des interdisziplinären Diskurses der Wissenschaften vom Menschen sein, sich der »Wurzeln des Menschseins« zu vergewissern. Ihr Leitfaden dorthin kann nur die »radikale Skepsis« an den überkommenen Selbstvergewisserungen durch Theologie, Philosophie oder der Wis­ senschaften sein. Deren auch geschichtlich wirksam gewordenen Menschenbildern setzt Plessner die »Unergründlichkeit des Men­ schen«, dessen »Weltoffenheit« und das Risiko »des Sich-Verlierens« entgegen. Die Philosophische Anthropologie weist den Wissenschaf­ ten vom Menschen nicht nur den Weg und das Ziel für den Diskurs, sondern formuliert auch dessen Spielregeln. Die Einhaltung von 3 Grundsätzen wird von Plessner als unabdingbar gefordert: a)

b)

c)

»... jedem Aspekt, von dem aus der Anspruch erhoben werden kann, dass in ihm menschliches Wesen erscheint, ob der physi­ sche, psychische, geistig-sittliche oder religiöse, ist der gleiche Wert für die Aufdeckung des ganzen menschlichen Wesens zuzu­ billigen.« »Die Einheit, welche den Aspekten zugrunde liegt und den Übergang vom einen zum andern, etwa vom biologischen in den historischen, vom psychologischen in den soziologischen, vom theoretisch vergegenständlichenden in den existentiell-tätigen möglich macht, darf nicht äußerlich den Aussagen der Philoso­ phie, der Wissenschaften und des Lebens einen Rahmen liefern wollen; sie muss von derselben Ursprünglichkeit sein, wie sie der Mensch in seinem Geschichte werdenden Dasein beweist, indem er sie sich erringt.« »›Der‹ Mensch (seiner Spezies nach) bildet zwar ihre Leitkatego­ rie, aber nicht zum Zweck einer bloßen Klassifikation, sondern

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der Sicherung einer Unergründlichkeit, welche den Ernst der Verantwortung vor »allen« Möglichkeiten ausmacht, in denen er sich verstehen und also sein kann«. (Plessner 1937: 38–39, 1953) Die bei Plessner in seinen Veröffentlichungen selten anzutreffende lehrbuchartige Systematisierung seiner Methode in diesem Text kon­ trastiert zu seiner engagierten Stellungnahme zu den Voraussetzun­ gen und Folgen der NS-Diktatur in Deutschland (vielleicht auch als Tarnung gegenüber der Reichsschrifttumskammer). Sie belegt für unsere Fragestellung sehr anschaulich, wie überlegt und konkret zugleich Plessner auch in der Emigration an der Umsetzung seines Programms zur interdisziplinären Wende in den Kulturwissenschaf­ ten, ja mehr noch in den Wissenschaften vom Menschen gearbeitet hat. Die Veröffentlichung der Ergebnisse an Wendepunkten seines eigenen Lebensweges löst zugleich eine der von ihm entworfenen Bedingungen für den interdisziplinären Diskurs ein: »Die Einheit ... muss von derselben Ursprünglichkeit sein, wie sie der Mensch in seinem Geschichte werdenden Dasein beweist, in dem er sie sich erringt.«

»Soziale Rolle und menschliche Natur« – »Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung« – Der Diskurs zwischen Philosophischer Anthropologie und Soziologie Als Philosoph und Soziologe konnte Plessner mit sich selbst den interdisziplinären Dialog zwischen Philosophischer Anthropologie und empirisch arbeitender Fachwissenschaft führen. Zwei Jahre vor seiner Emeritierung hat er diesen Diskurs meisterhaft und paradig­ matisch ausgeführt. Die Soziologie hatte sich in den 50er Jahren in der Bundesrepublik in einer neuen Generation von Soziologen organisiert und erstrebte den Anschluss an den internationalen Standard zurück zu gewinnen (Soziologie und moderne Gesellschaft: Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages 1959; Schelsky 1959). Verblüffend einfach und im Ergebnis überzeugend begegnen sich Soziologie und Philosophie in der Beantwortung der Frage: Wie können empirisch evidente Begriffe auf der Grundlage einer philosophischen Theorie des Menschen überprüft und anthropologisch begründet werden oder bleiben auf andere Legitimationen angewiesen. »Soziale Rolle« als ein Schlüssel- und Leitbegriff der Sozialforschung (Dahrendorf 1958; Plessner 1960 b) und das »Theorem der Selbstentfremdung des

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Menschen« in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation (Plessner 1960 a, Gehlen 1952/53) werden von ihm auf ihre Belastbarkeit im Bezugsrahmen seiner Konzeption analysiert. In seinem Beitrag in der Festschrift für Theodor Litt entwickelt Plessner (1960 b) im Diskurs mit Dahrendorfs »Homo sociologicus« (1958) die umfassende Bedeutung des Begriffs der Sozialen Rolle für eine Erforschung der Strukturen der Gegenwartsgesellschaft in den wirtschaftlich führenden Ländern. Soziale Rolle fungiert hier als ein vielseitig verwendbarer Begriff. Er macht die Herausforderungen verständlich, denen die Menschen als Funktionsträger und als Person in ihren vielseitigen gesellschaftlichen Verpflichtungen ausgesetzt sind. Der Begriff bildet wie auf einer Blaupause die Erfahrungen aus der Inanspruchnahme ihrer Leistungen und die z. T. konfligierenden Forderungen, ja Rollenkonflikte ab, denen die Menschen sich dabei ausgesetzt sehen. Für den Träger der Rollen schließt der Begriff die Möglichkeit einer Selbstdeutung ein: Er ist das Subjekt aller Rollen, die er sich als seine Leistung zurechnen, aber zu denen er auch auf Distanz gehen kann. In diesem Begriffsverständnis der empirischen Sozialforschung ist »Soziale Rolle« ein historisch ent­ standener Begriff, der an die gegenwärtig prägende Gesellschaftsform gebunden ist und hier der Sozialforschung für deren Aufgaben einen adäquaten Bezugsrahmen bietet. In seinem theoretischen Anspruch als ein Fach- und Arbeitsbegriff der empirischen Sozialforschung in den Gesellschaften der Gegenwart ist er allerdings für die Phi­ losophische Anthropologie nicht relevant. Erst seine Verwendung auch für die Erforschung von Gesellschaften anderen Typus, z. B. der Feudalgesellschaft des Mittelalters oder in der EthnoSoziologie, denen die neuzeitliche soziokulturelle Ausprägung von Persönlichkeit und Rollenträger in funktionellen Sozialbeziehungen in Systemen fremd ist, macht ihn als einen strukturellen, d. h. geschichtsunabhän­ gigen Begriff für die Philosophische Anthropologie interessant: »Dass empirische Soziologie so vorgehen kann, indem sie den funktionellen Rollenbegriff als ein universales Mittel der Analyse von Gesellschaf­ ten jeden kulturellen Typs gebraucht, sich durch das Selbstverständnis des Rollenträgers nicht mehr leiten lässt und nur auf seine fakti­ sche Funktion im jeweiligen gesellschaftlichen Ganzen Gewicht legt, muss etwas über das Verhältnis der menschlichen Natur zu ihrer gesellschaftlichen Existenz allgemein aussagen, obwohl der Kunst­ griff dieser analytisch-empirischen Methode darin besteht, dieses Verhältnis aus der ganzen Betrachtung selber auszuklammern und

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den Philosophen zu überlassen.« (Plessner 1960 b: 234) Mit dieser Feststellung hat Plessner den interdisziplinären Diskurs zwischen der Fachwissenschaft Soziologie und der Philosophischen Anthropologie eröffnet und kommt zu dem Ergebnis: »Offenbar ist die Deutung, die wir unserer sozialen Existenz geben, nämlich Träger von Rollen, von Funktionen zu sein, auf eine Formalisierung hin angelegt, die andere Gesellschaftstypen primitiver, archaischer, theonomer Prägung mit einbegreift – allerdings unter Verzicht auf deren Selbstdeutung. Unser rationales Selbstverständnis gewinnt seine Formalisierbarkeit aber aus der Idee des Menschen als eines zwar auf soziale Rolle über­ haupt verwiesenen, aber nicht durch eine bestimmte Rolle definierten Wesens«. (Plessner 1960 b: 234–235) Die zunächst den Bedürfnissen der Forschung folgende Auswei­ tung des Begriffs der Sozialen Rolle, seine »Formalisierbarkeit« für Vergesellschaftung der Menschen schlechthin, erhält bei Plessner eine anthropologische Begründung. Mit dieser Feststellung bezieht er sich auf seine 1928 in den »Stufen des Organischen und der Mensch« ausgearbeitete Konzeption. Biologisch als Lebewesen zeichnet sich der Mensch durch die ihm gegebene Chance aus, sich in »seiner« Gegenwart, in seinem »Jetzt« auf sich selbst beziehen zu können. Im Bilde gesprochen: Als Schauspieler seine Rolle zu spielen. Die Selbstbezüglichkeit des Rollenträgers als das Subjekt aller seiner Rollen und deren Funktionsleistungen in gesellschaftlichen Systemen (das Rollenverständnis der Sozialforschung) wird in der Konzeption Plessners zu einem Paradigma des anthropologischen Verhältnisses des Menschen zu sich selbst. In den »Stufen des Organischen und der Mensch« hatte Plessner den interdisziplinären Diskurs mit der Biologie seiner Zeit geführt und das pragmatisch von Jakob von Uexküll entworfene »tierische Subjekt« formalisiert. Als das »Zentrum« eines artspezifischen »Bau­ plans« kommt es allen organischen Lebewesen auch dem Menschen zu und gewinnt aber dann in der Struktur des Menschen die Ver­ dopplung seiner Position in der Ex-»Zentrizität«, dem Vermögen des Selbstbezüglichkeit, hinzu. Mit der Formalisierung dieses Struktur­ merkmals für die Mannigfaltigkeit der Daseinsweisen des Menschen begründet Plessner den anthropologischen Status seiner philosophi­ schen Konzeption. Aus dem »Doppelgänger Sein« des Menschen im Verhältnis zu sich selbst, der dem empirischen Begriff der »Sozia­ len Rolle« zu seiner anthropologischen Bedeutung verhilft, ergibt

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sich eine wichtige Konsequenz für seine Verwendung als Fachbegriff der Soziologie. Seine Formalisierung in der Perspektive der Philosophischen Anthropologie spart das in der Soziologie verwendete inhaltliche Selbstverständnis der Selbstbezüglichkeit aus. Hier wird diese Per­ spektive des Begriffsinhalts durch variable kulturelle Leitbilder aus­ gefüllt. Diese können einen Anspruch als ein philosophisch anthro­ pologischer Begriff im Sinne der Exzentrizität nur dann erheben, wenn sie in entsprechender Weise formalisiert werden können. Plessners Anthropologie hält dafür den Begriff der »Weltoffenheit des Menschen« oder den seiner »Unergründlichkeit« (»homo abs­ conditus«) bereit. Von dieser wissenschaftstheoretisch stringenten Unterscheidung aus kann Plessner überzeugend »Anthropologien« abwehren, die, etwa ausgehend von Herder, aus der biologisch gese­ hen vergleichsweise geringen Spezialisierung seiner Sinne und seiner Körperorgane den Menschen als »Invaliden« seiner höheren Kräfte (seiner kulturellen Leistungen) charakterisieren. In seiner Kritik fragt Plessner ironisch zurück, ob »der Mensch« dann vielleicht als der »Kriegsteilnehmer« seiner niederen Anlagen zu charakterisieren sei. Konsequent im Sinne der von ihm 1936 in seiner Antrittsvorle­ sung an der Universität Groningen formulierten Bedingungen für den Diskurs zwischen Philosophischer Anthropologie und Fachwissen­ schaften (Plessner 1937) hält Plessner daher gegenüber Dahrendorf den Anspruch, den dessen Interpretation der Situation des Trägers oder Subjekts aller seiner Rollen erhebt, anthropologisch nicht für gerechtfertigt. Das Verhältnis, in dem das Subjekt zu seinen gesell­ schaftlichen Funktionen steht, wird anthropologisch nicht durch das von »Persönlichkeit« und »Selbstentfremdung« abgebildet. Die Rol­ len, die die Person in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit spielt, ent­ fremden die Persönlichkeit nicht einer Existenz, die sie eigentlich sein sollte, sondern geben ihr gerade die Chance der Selbstverwirklichung, die sie allerdings verfehlen kann. Das ist dann – ebenso konsequent empirisch dann im Kontext der soziologischen Struktur/des Funktio­ nalismus gesehen –, ein sozialpsychologisches (z. B. »burn out«), aber kein anthropologisches Problem! In der Universalität des Rollenbe­ griffs, wie ihn die Soziologie für Subjekt und Rolle verwendet, ist er ein anthropologischer Begriff, der die Beziehungen der Menschen zu den Formen ihrer Vergesellschaftung strukturell oder von Haus aus auf einen adäquaten Begriff bringt. Vergesellschaftung ist für den »Menschen als solchen« wesentlich. Plessner hat dafür den Begriff des

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»Menschen als Doppelgänger« verwendet oder wissenschaftstheore­ tisch gesprochen von einer »Verschränkung der Perspektiven« von Fachwissenschaft und Philosophischer Anthropologie. Dahrendorf hat die Kritik Plessners ausdrücklich als gerechtfer­ tigt anerkannt. Allerdings hat er das in Plessners »Soziale Rolle und menschliche Natur« auch enthaltene Angebot für einen inter­ disziplinären Diskurs nicht aufgenommen. In seinem autobiographi­ schen Beitrag (1998) bezieht er sich auf Plessners Aufsatz als eine »Rezension« seines »homo sociologicus« (1958). Anderseits war Dahrendorfs »homo sociologicus« für Plessner vermutlich die einzige und letzte Chance, die Fruchtbarkeit seines erkenntnistheoretischen Paradigmas für eine der sich nach dem Ende der NS Herrschaft neu orientierenden Kulturwissenschaften aufzuzeigen.

Resümee Das Ergebnis legt uns eine Präzisierung der Fragestellung nahe. Plessner hat nach 1928 durchaus sein Programm weiter verfolgt, das eine erkenntnistheoretische Grundlegung der »Wissenschaften vom Menschen« durch die Philosophische Anthropologie anstrebte. 1936 in seiner Antrittsvorlesung als Dozent für Philosophie an der Universität Groningen, 1960 als Ordinarius für Soziologie und Phi­ losophie in Göttingen. Alle Vermutungen, Plessner habe von sich aus den Umständen entsprechend von seinem Vorhaben Abstand genommen, finden in seinen Publikationen keine Bestätigung. Aller­ dings blieb ihm die Resonanz auf seine Veröffentlichungen versagt (Dietze 2008). Die »Wissenschaften vom Menschen« deckten ihren Theoriebedarf auf andere Weise. Plessner respektierte diesen Wandel in den Erwartungen der Fachwissenschaften an die Philosophie – er verstand die Skepsis der Nachkriegsgeneration gegenüber der »Kul­ tursoziologie«. Seine Eröffnungsansprache auf dem 14. Deutschen Soziologentag 1959 endet mit der Einschätzung: »Man ist behutsamer geworden, man expoliert nicht mehr so ungehemmt, man schwelgt nicht mehr in Riesenprojekten und Perspektiven von Fortschritt oder Verfall, aber auch das Verständnis für die theoretische Kleinarbeit ist im Wachsen, für die Kritik der soziologischen Begriffsbildung, für die Brechung der Knechtschaft unter der Tyrannei der falsch gewordenen Worte. Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit.« (Soziologie und moderne Gesellschaft 1959: 16)

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Plessners realistische Einschätzung eines Wandels im Wissen­ schaftsprozess selbst (Weber 1988: 208), der seit den Zwanziger Jah­ ren eingetreten war, erwartet daher eine andere Fokussierung des Problems. Anstatt der Frage nachzugehen: Wie stand Plessner per­ sönlich zur Realisierung seines Programms? erscheint es erfolgver­ sprechender, die Risiken zu analysieren und einzuschätzen, die von Beginn an aus den Bedingungen des Wissenschaftsprozesses selbst einen »Erfolg« von Plessners interdisziplinärem Projekt gefährdeten. Wenn wir aus heutiger Sicht als einen allerdings »schwachen« Indi­ kator für den »wissenschaftlichen Erfolg« eines Beitrags zur Wissen­ schaft den statistischen Nachweis ansetzen, dass ein Beitrag in einer Zeitschrift, die ihre Qualität durch ein Review-Verfahren sichert, wenigstens ein einziges Mal zitiert wird, dann bleiben 50 % aller Ver­ öffentlichungen »ohne einen messbaren Erfolg«! (Redner 1998) Auch ohne eine statistische Unterstützung dafür beibringen zu können, liegt daher die Annahme nahe, dass die »Erfolgsrisiken« einer Publi­ kation auch zu Plessners Zeiten hoch waren, wie auch aus der Bio­ graphie Carola Dietzes hervorgeht. Oder wie die Verleger es seit jeher wissen: »habent fata sua libelli!«. Die Zensur der NS Diktatur hat solche bereits »intern« gegebenen Risiken der Veröffentlichungen und der von ihnen verbreiteten Konzeptionen außerdem selektiv erhöht.

b) Das Wagnis der »Stufen des Organischen und der Mensch« »Eine neue Wissenschaft mit neuer Methodik« – Plessners Strategie der Risikominderung Das naheliegende Problem, für die von ihm geplante Konzeption der »Philosophischen Anthropologie« als einer wissenschaftstheore­ tischen Grundlegung der Kulturwissenschaften die Anerkennung der Fachöffentlichkeit zu gewinnen, hat Plessner sehr weitsichtig bereits 1924 in seinem wissenschaftssoziologischen Beitrag für den von Max Scheler herausgegebenen Sammelband beschrieben: »Dieser eminente Wagnischarakter der akademischen Laufbahn (ein gerechter Ausgleich für die Vorzüge des Ordinariats) ist dem modernen Forschungstyp förderlich, ja, man kann sagen, spezifisch angepasst. Der Privatdozent kann das Wagnis verringern und seine Chancen vergrößern, indem er sich entweder einem oder mehreren offiziellen Fachvertretern attachiert (ihre Arbeiten fortsetzt usw.), das

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heißt in Schülerstellung als Geselle eines Meisters, als Glied einer Schule verharrt – und hier haben wir den soziologischen Grund für Schulenbildungen an Universitäten – oder indem er eine neue Wissenschaft mit eigenem Gebiet und eigener Methode zu begründen sucht. Im ersten Fall dient er der stetigen Fortentwicklung eines Fachs, der Vertiefung, Verschärfung und Erweiterung der Einsichten, im zweiten Fall der fortschreitenden Fächerbildung und Versachlichung aller Lebens- und Seinsbezirke. Was er im zweiten Fall riskiert, vermeidet er im ersten: die Empfindlichkeit der älteren Generation durch neue Forderungen und Begriffe zu verletzen.« (Plessner 1956, Bd. I: 32) Als Plessner 1928 – er war damals 36 Jahre alt – »Die Stufen des Organischen und der Mensch« veröffentlichte, war er seit 5 Jah­ ren habilitiert, außerplanmäßiger Professor (d. h. ohne Planstelle) an der Universität Köln und hoffte auf eine Berufung auf ein frei werdendes Ordinariat für Philosophie. Seine neue Veröffentlichung sollte dazu beitragen, seine Chancen für eine Berufung zu verbessern (König/Plessner 1994). Als Philosoph, »der eine neue Wissenschaft mit eigenem Gebiet und eigener Methode zu begründen suchte« und als Geisteswissenschaftler ohnehin, dessen »auswählender Blick (nach seiner Auffassung) konstitutiv die Gliederung des historischen Stoffs bestimmt«, hatte er in der Anlage und in der Argumentation seines Werks ausreichend Spielraum, »die Empfindlichkeit der älteren Generation« zu schonen, die nach dem damals üblichen Prinzip der Selbstergänzung über die Besetzung frei werdender Ordinariate in der Philosophie entschied. Daher ist es berechtigt und naheliegend, die »Stufen des Organischen und der Mensch« nach einer von Leo Strauss (1952) vorgeschlagenen Methode zu analysieren. Welche Rücksichten oder Veröffentlichungsstrategien bestimmten bereits Plessners Kon­ zeption der »Philosophischen Anthropologie«? (2) Zur trostlosen, ja beschämenden Lage der Nichtordinarien an den deutschen Universitäten siehe die »Mitteilungen des Verbandes der deutschen Hochschullehrer« (XII Jg. Heft 11/12 Dezember 1932). 3 Monate vor der »Machtergreifung« durch Hitler. Das Strukturproblem der personellen Ergänzung des Lehrkörpers an den Wissenschaftlichen Hochschulen war auch die Schlüsselfrage der groß angelegten, von H. Plessner und D. Goldschmidt 1952 initiierten Untersuchung »Zur Lage der deutschen Hochschulleh­ rer« 1956 (Hg. Helmuth Plessner).

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Wie schont Plessner die »Empfindlichkeit der älteren Generation«? Wer sich unter der Fragestellung von Leo Strauss nach der Kunst der Gestaltung eines Textes den »Stufen des Organischen und der Mensch« aus dem Jahre 1928 zuwendet – auch ergänzt um die Interpretationen Plessners, die er bis in sein hohes Alter hinein veröffentlicht hat (Plessner 1969) –, sieht sich sehr bald durch eine von ihm selbst gesetzte Beschränkung seines Ansatzes irritiert. Die unvermittelte Verkürzung der Ziele kontrastiert sichtbar zu der sorg­ fältigen und umfassenden Herleitung seiner Fragestellung. In der Exposition seiner Fragestellung greift Plessner weit in die Problem­ geschichte der Philosophie zurück, verzichtet aber dann überraschen­ derweise darauf, den Ertrag dieser Analyse auch für die Exposition der Ergebnisse zu nutzen. Für die von ihm für sein Arbeitsprogramm vorgeschlagenen Vorgehensweise bezieht sich Plessner ausdrücklich auf Max Scheler, Josef König und Georg Misch (Plessner 1928: 9–12 und 63–77). Diese Philosophen haben seiner Meinung nach gesicherte und anerkannte Methoden entwickelt, die hinsichtlich der erreichbaren Evidenz ihrer Ergebnisse einen Vergleich mit den Methoden der experimentellen Naturwissenschaften aushalten kön­ nen. Hermeneutik und Phänomenologie im Verständnis der genann­ ten Philosophen definieren für Plessner den methodischen Standard für seine Konzeption der Philosophischen Anthropologie.

Interdisziplinarität Philosophie – Biologie: ein Versuch Allerdings erweitert Plessner den Anwendungsbereich dieser Metho­ den in einer innovativen Weise. Mit seiner Gegenstandserweiterung schlägt er einen Weg außerhalb der Paradigmen der Phänomenologie (Henckmann 2010: 19–49) und der Hermeneutik der 20er Jahre ein. Während die von ihm genannten Philosophen ihre Vorgehensweise ausschließlich an Inhalten entwickelt und erprobt haben, die sich auf historische Ereignisse und Prozesse oder auf wertbezogenen Akte richten, also auf Selbstzeugnisse des Menschen, die auf Fragen nach ihrem Sinn antworten, wendet sich Plessner »Strukturfragen« einer Philosophie der Biologie zu. Damit betritt er methodisch gesehen von beiden Seiten, der Phänomenologie und der Biologie, Neuland. Denn für die »Strukturen« des Lebendigen ist weder eine historische oder gesellschaftliche Bedeutung noch ein sinnhafter Bezug gegeben

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(von Uexküll 1909). Beides wird von Plessner (1967) für »seine« Kon­ zeption im Unterschied zu den von ihm als methodische Wegweiser genannten Philosophen prinzipiell nicht erwartet. Das von Plessner entworfene Bild des Menschen als Lebewesen der Natur und Träger der Kultur verwendet als einen Leit- oder Schlüsselbegriff den der »Position«. Diese ist allen Lebewesen als »Zentrum« ihres Lebens gemeinsam (von Uexküll 1909; Plessner 1928, 1950). Als sein »Alleinstellungsmerkmal« im Reich des Leben­ digen ist die »Position« des Menschen dadurch ausgezeichnet, dass er als Gattungswesen sich zu dem allen Lebewesen eigenen »Zen­ trum« wiederum selbst verhalten kann. Er hat die Chance einer Verdoppelung seiner Position außerhalb des »Zentrums«. Mit der »Ex-Zentrizität« seiner Position entsteht für den Menschen eine Verdopplung des Aspekts auf seine körperliche Existenz. Er hat seinen Körper und ist zugleich sein Körper (Plessner 1928). Lessing (2008) macht darauf aufmerksam, dass Plessner hier explizit auch auf Fichtes Identitätsphilosophie insofern zurückgreift, als die Person sich diese Chance in Form einer Setzung (von »Ich« und »Nicht-Ich«) zu eigen macht. Daher ist jeweils zu prüfen, ob das Subjekt der »Exzentrizität« als Person oder als Genus gemeint ist, für das eine »Setzung« nicht nachvollziehbar ist. Plessner würde vermutlich mit einer »Verschrän­ kung beider« antworten. Es ist hier nicht der Ort, den Schlüsselbegriff der Anthropologie Plessners in extenso zu diskutieren (vgl. die Beiträge, in: Accarino / Schloßberger 2008). Um die Konstruktion dieses Begriffes für heu­ tige Denkgewohnheiten verständlich zu machen und zugleich sein Handicap für die von Plessner angestrebte anthropologische Grund­ legung der Kulturwissenschaften offenzulegen, wäre außerdem eine ausführliche Darstellung der Problemlage in der Philosophie der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts erforderlich. Wir beschränken uns hier auf einige problemgeschichtliche Voraussetzungen, die Plessner bei dem Entwurf für seine anthropologischen Schlüsselbegriffe leiteten.

Exkurs: Das erkenntnisleitende Interesse Plessners Die Überwindung des Gegensatzes von Natur- und Geisteswissen­ schaften, die grundsätzliche Verschiedenheit ihrer Methoden zur Gewinnung »gesicherter Erkenntnisse« könnte – so die Erkenntnis leitende Annahme Plessners – über einen innovativen erkenntnis­ theoretischen Weg gelingen. Da der Mensch, seine Sinne, sein Ver­

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stand, die Vernunft, sein Körper letztlich Ursprung und Ziel seines Wissens ist, sollte auch die Entzweiung der Wissenschaften mit der Ergründung der Struktur des Menschen oder – wie Plessner (1969) später einmal formuliert – mit »einer Offenlegung der Wurzeln des Menschseins« entschlüsselt und überwunden werden können. Insoweit verstand Plessner sich in der Nachfolge Immanuel Kants, unlösbar erscheinende Sachprobleme über eine Besinnung auf das den Menschen gegebene Erkenntnisvermögen neu zu formulieren, um eine Lösung der Aporien zu finden. Einen entscheidenden Schritt in diese Richtung hatte Plessner bereits in der Ästhesiologie der Sinne (1923) getan (Lessing 2008). In diesem erkenntnistheoreti­ schen Werk begründete er die eigenständige Bedeutung sinnlicher Wahrnehmungen des Menschen (sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, fühlen) für die Erfahrung des Lebens und »seiner Welt«. Mit der Eröffnung dieser Perspektive hatte er erkenntnistheoretisch den Blick geöffnet für ein neues Verständnis, ja der »Evidenz« der Alltagserfahrung, dass wir »einen Körper haben«, ihn als Mittel der Fortbewegung und als Werkzeug gebrauchen, ihn als Organismus diagnostizieren und therapieren, und »ein Körper sind«, in ihm Schmerz, Leid, Zufriedenheit, Lust, Geborgenheit und Furcht emp­ finden. Jedoch ungeachtet des Wechsels der Perspektiven in unserer Selbsterfahrung bleiben wir ein- und derselbe. Es besteht eine »Total­ relativität aller Sinneseindrücke auf die Person«. Wir stehen selbst im Zentrum der beiden Wahrnehmungsperspektiven, ausgestattet mit »Vernunft« und »Verstand«, aber auch mit allen Sinnen. Dieses »Zentrum« lebendigen Daseins soll – in der Tradition der Philosophie seit Immanuel Kant – neben das »ich denke« treten, das alle unsere Beurteilungen von Sachverhalten begleitet. Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage schlägt Plessner eine Lösung für die seiner Zeit unter Philosophen und Biologen ebenso umstrittene, wie engagiert gesuchte Definition des »Lebendi­ gen«, des »organisch Lebenden« vor. Lebendig sind Gegenstände, die ein »Zentrum« besitzen und sich gegenüber ihrer Umwelt mit einer selbst beeinflussten Grenze (Haut, Membran) absetzen und behaup­ ten. Diese Definition gründet sich für Plessner nicht nur auf empirisch gewonnene Merkmale – dann wäre sie vorläufig und für neue Erkenntnisse offen –, sondern trifft eine strukturelle Aussage. Das Zentrum dieses Lebendigen bezeichnet Plessner als »Position«. In der »Position« ist die Beeinflussbarkeit der Grenze gegenüber der Umwelt (als ein strukturelles Merkmal) enthalten. Darin wird die

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zeitliche Veränderung als ein mitlaufendes Strukturmerkmal mitge­ dacht – andernfalls machte die Beeinflussbarkeit der Grenze keinen Sinn. Zeit ist in dieser Begriffsverwendung nicht nur als ein äußerer zeitlicher Maßstab gedacht, sondern als die ständige Bewegung der »Position« selbst von einem »Vorher« zu einem »Nachher«. Zeitlich gesehen ist die »Position« also das Moment in einer Bewegung (z. B. des »Wachstums« oder des »Stoffwechsels«, natürlich auch jeder Aktion), die im Prozess des Lebens zeitlich voranschreitet. So wie es bei Heraklit – in Parenthese zu Plessner gesprochen – heißt: »Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu«. Dieser Exkurs war erforderlich, um darauf aufmerksam zu machen, dass Plessner bereits in der Suche nach der Struktur des Lebendigen, das zu seiner Zeit ein aktuelles, unter Biologen wie Philosophen immer wieder neu diskutiertes Problem im Schnittpunkt von Philosophie und Theorie der Biologie bildete, sein Erkenntnis leitendes Ziel aus dem Auge verliert, den Menschen in seiner Fülle als Lebe- und Kulturwesen im Fokus der von ihm angestrebten erkennt­ nistheoretischen Wende zu behalten. Diese konzeptionelle Schwäche in seiner Argumentation hat – offenbar durchaus im Einverständnis mit Plessner – Günter Dux (1970) angemahnt.

Interdisziplinarität – Philosophische Anthropologie in Beziehung zu Geschichtswissenschaften und historischer Soziologie – ein Desideratum In seinem kenntnisreichen und einfühlsamen Nachwort »Helmuth Plessners philosophische Anthropologie im Prospekt« macht Günter Dux (1970) auf zwei Themen aufmerksam, deren Vertiefung und Weiterführung den »Stufen des Organischen und der Mensch« für das Verständnis sowohl der Konzeption Plessners als auch der Rezeption der »Philosophischen Anthropologie« überhaupt unverzichtbar sind. Günter Dux vermisst die Entfaltung des »eher statischen Konzepts der exzentrischen Position des Menschen« in der Geschichte. Denn wenn wir aus unserer heutigen Erfahrung, d. h. aus einer vom Menschen beherrschten Umwelt, zurückblicken, dann muss sich der Durchbruch zu der Versachlichung der Welt nicht nur entwicklungsgeschichtlich ereignet, sondern auch einen Weg zur »Weltoffenheit« zurückgelegt haben, auf dem es möglicher Weise auch Verzweigungen oder Gabe­ lungen gegeben hat. Für die Philosophische Anthropologie enthalten die »Anthropogenese« ebenso wie die Geschichte des philosophisch

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geschöpften Begriffs der »Exzentrizität des Menschen zu seiner Umwelt« ungelöste Fragen. Sie lassen sich nicht allein mit einer wissenschaftstheoretischen Unterscheidung von Philosophie einer­ seits und empirisch arbeitenden Fachwissenschaften anderseits beant­ worten. Plessners Begriff der »Exzentrizität der Position des Menschen« führt – so, wie er ihn entfaltet – auf die Personalität hinaus; sie steht im Mittelpunkt der Erläuterung. Der Doppelaspekt der Exzentrizität wird von jeder einzelnen Person erfahren und charakterisiert sie als menschliche Person im Unterschied zum »tierischen Subjekt«. Sie ist also sein »Alleinstellungsmerkmal« im Reich des Lebendigen. Da die Gattung Mensch sich nur erhalten kann, wenn die Menschen sich vergesellschaften in der Verbindung der Geschlechter und der Genera­ tionenfolge, aber auch in der auf Dauer angelegten Vergesellschaftung ihrer Arbeit und in der gemeinsamen Abwehr von Gefahren und in der gemeinsamen Bewältigung von Risiken wie Veränderung der Umwelt oder Krankheiten, ist eine Daseinsweise der »exzentrischen Positio­ nalität« nur auf der Grundlage von Vergesellschaftung möglich. Für die Daseinsweise der »exzentrischen Positionalität« als einem Schlüsselbegriff der philosophischen Anthropologie, die zu­ dem eine Erkenntnis begründende Funktion in den Kulturwissen­ schaften übernehmen soll, bedarf es daher einer Entwicklung der Beziehungen dieses Begriffs zu den historischen und gesellschaft­ lichen Dimensionen, die dieser Begriff implizit immer bereits ein­ schließt, ja einschließen muss, wenn wir ihn als Begriff der Philo­ sophischen Anthropologie, also als Ergebnis einer philosophischen Reflexion der Daseinsweise des Genus »Mensch« formulieren. Wie Dux betont, sind diese Dimensionen in der Konzeption Plessners enthalten, aber von ihm in den »Stufen des Organischen und der Mensch« ebenso wie in seinen folgenden Veröffentlichungen nicht angemessen entfaltet worden. Die Schlüsselfrage von Carola Dietze wurde daher bereits 1970 von Günter Dux als ein offenes Problem von Plessners Konzepts erkannt und zugleich als Herausforderung für »Plessners Schüler« formuliert, aber nicht als eine analytische wissenschaftssoziologische Fragestellung bearbeitet.

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Philosophische Anthropologie und Ökologie im Diskurs – Jakob von Uexkülls Bedeutungslehre Plessner knüpft in der Entwicklung seiner Konzeption an eine Ahnen­ reihe zur Philosophie des Lebens an, von Dilthey und Bergson zu Driesch, und sieht sich in seiner innovativen Konzeption durch einen Biologen bestätigt, dessen Beobachtungen und Experimente Fragen aufwerfen, die – wenn überhaupt – nur auf der Ebene einer philoso­ phischen Argumentation eine Antwort erwarten lassen (Thure von Uexküll 1983; Adolf Portmann 1983). Jakob von Uexküll (1864–1944) – wie Plessner ein akademischer Außenseiter – stieß bei seinen Beob­ achtungen und Experimenten auf das Phänomen, dass biologisch gesehen die Ausstattung eines Tieres »seiner« spezifischen Umge­ bung entspricht (J. von Uexküll 1905, 1921). Seine Sinnesorgane ebenso wie das Potential und die Kompetenz seines Verhaltens sind einem Ausschnitt aus der ihn umgebenden Natur eingepasst. Das Beziehungsgefüge von Umweltreizen und Sinnesempfindungen, von Aktionsimpulsen und Aktionspotential, von Umgebung und Lebens­ chancen oder – in der Terminologie Jakob von Uexkülls gesprochen – von »Merkwelt« und »Wirkwelt« verlangt nach einer Erklärung, die sich erfahrungswissenschaftlichen Methoden entzieht. Wie sind art­ spezifische Sinneswahrnehmungen und die der Lebenserhaltung die­ nenden Verhaltensweisen miteinander verknüpft. J. von Uexküll pos­ tuliert für die Beziehungen zwischen Wahrnehmung und Aktion, zwischen »Merkwelt« und »Wirkwelt« ein »Zentrum« und eröffnet damit eine theoretische Diskussion über ein »tierisches Subjekt« (Plessner 1938, 1965; Portmann 1983; Th. von Uexküll 1983). Wie ist diese gegenseitige Entsprechung von artspezifischen Ausstattungen und »Umgebungen« entstanden, die letztlich die Chancen für das erfolgreiche Überleben der Individuen ebenso wie der Arten garan­ tiert? Und was verbürgt ihre Dauer? Worin unterscheidet sich die jeweils artspezifische Umgebung der Tiere von der Umwelt des Men­ schen? Bezeichnet der »Welt«-Begriff (in »Merk- und Wirkwelt«) nicht einen Horizont, der hinter den »Umwelten« liegt, aber den Tie­ ren prinzipiell verschlossen ist? (Plessner 1965). Hier ist daher phi­ losophische Begriffsarbeit gefordert! M. a. W. Die Entdeckung Jakob von Uexkülls wirft Fragen auf, die nach einer theoretischen oder gar einer philosophischen Beantwortung verlangen. Jakob von Uexküll hat diese von ihm selbst aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen von seinem erfahrungswissenschaftlichen

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Forschungsansatz nicht beantworten können und wollen (Portmann 1983; Uexküll, Th. 1983). Plessner kannte die Arbeiten von Jakob von Uexkülls und wusste um ihre Bedeutung (Plessner 1928, 1938, 1950). Er macht sie zur erfahrungswissenschaftlichen Grundlage seiner Konzeption der Philosophischen Anthropologie. Wie ist dieses nach Arten unterschiedliche, aber jeweils spezifi­ sche Passungsverhältnis von »Innenwelt« der Tiere und der »Außen­ welt« ihres erfolgreichen Überlebens entstanden? Wie erhält es sich selbst im Gleichgewicht? Gibt es, philosophisch anthropologisch gefragt, ein »tierisches Subjekt«? Und – wenn der Mensch in den Stu­ fen des Organischen einen natürlichen Ort hat – wie ist er lokalisiert? In jedem Falle – so lautet die Interpretation Plessners (1928 und 1967) – gibt es, wie J. von Uexküll aufgrund seiner Beobachtungen postuliert hat, ein »Zentrum« in der biologischen Ausstattung der Tiere, von der aus die Zweckmäßigkeit ihrer biologischen Ausstattung für das ihnen wie allem Lebendigen innewohnende Bestreben, sich und seine Gattung zu erhalten, empirisch beobachtet werden kann. Diese theoretische Annahme J. von Uexkülls (1905, 1921) macht Plessner (1928) zur Grundlage für eine philosophisch anthropologische die Biologie interdisziplinär einbeziehende Analyse. Von dieser Bestimmung der Positionen in »Welt und Umwelt« der Tiere, genauer gesagt, der »Zentren« ihres erfolgreichen Überle­ bens unternimmt Plessner folgerichtig den zweiten Schritt zu der »Ex-Zentrizität« der Position des Menschen als Natur- und Kultur­ wesen. Diese Position sichert ihm seine Chancen, sich erfolgreich unter Konkurrenz in der Natur zu behaupten. Sie sichert ihm die Möglichkeit, hinter seiner »Umgebung« eine »Welt« zu entdecken und seine Umgebung zu versachlichen. Der Mensch ist nicht nur sein Körper, sondern hat diesen zum Gebrauch, er lebt in seiner Umgebung und versachlicht sie unter einem weiteren Aspekt zu seiner Umwelt. Die in der Biologie von Jakob von Uexküll vollzogene Wende zur Ökologie wird von Helmuth Plessner in einer innovativen Konzeption für die Philosophische Anthropologie fruchtbar gemacht. So wie J. von Uexküll die Biologie um eine »neue Wissenschaft mit eige­ ner Methode« erweitert hat, begründet Plessner die Philosophische Anthropologie als eine neue Disziplin mit einem die Tradition über­ schreitenden Anspruch. Mit der Einbeziehung der Biologie gelingt ihm ein interdisziplinärer Durchbruch. Nahezu triumphierend for­ muliert er seinen »Arbeitsplan für die Grundlegung der Philosophie des Menschen....Neuschöpfung der Philosophie unter Begründung

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der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte.... Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte« (Plessner 1928: 68/69).

c) Das Scheitern der Konzeption Plessners an dem Widerstand der Fachdisziplinen Der von Plessner angekündigte interdisziplinäre Durchbruch ist nicht erfolgt. Eine Analyse von Plessners Texten mit der von Leo Strauss vorgeschlagenen Methode führt zu den folgenden Befunden. Diese machen verständlich, warum Plessner die Ansprüche seiner Konzep­ tion nicht eingelöst hat: 1.

Jakob von Uexküll lehnte es grundsätzlich ab, für die Ergebnisse seiner Beobachtungen und Experimente einen erkenntnistheo­ retischen bzw. philosophischen Bezugsrahmen zu entwerfen. Er begnügte sich damit, für die in seiner Forschungsarbeit aufbrechenden theoretischen Fragen metaphorische Bilder aus der Musik zu verwenden. Seine Zurückhaltung findet 60 Jahre danach in der Neuherausgabe und Würdigung seines Werks (1983) durch Adolf Portmann und Thure von Uexküll deren aus­ drückliche Zustimmung. Beide Autoren erwähnen die Veröffent­ lichungen Helmuth Plessners nicht. Dessen Angebot zu einem interdisziplinären Dialog auf der Grundlage seiner Konzeption oder gar zu einer gemeinsamen Arbeit fand bei den Biologen weder in den 20er Jahren noch ein halbes Jahrhundert danach Resonanz. Vielleicht hat dazu auch Plessners ambivalente Hal­ tung gegenüber dem Werk J. von Uexkülls beigetragen. Plessner erwähnt in den »Stufen des Organischen. ...« die Arbeiten J. von Uexkülls nicht an zentraler Stelle und mit einem ironisierenden Unterton, verständlicher Weise. Jakob von Uexküll war im Blick der an den Universitäten etablierten Biologen ein Außenseiter und daher nicht anerkannt. Er widmet seine »Bedeutungslehre« (1940) »Meinen wissenschaftlichen Gegnern zur freundlichen Beachtung empfohlen«. Selbstbewusst setzt er sich in einem Vorwort mit der Kritik auseinander, die Max Hartmann (Zoologe und Philosoph (1876–1962), seit 1914 Direktor am Max-PlankInstitut für Biologie) gegen ihn in Umlauf gesetzt hatte (von

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2.

3.

Uexküll, J. 1983: 177–179). Daher hätte Plessner vermutlich mit einer ausdrücklichen Bezugnahme an einer für seine eigene Kon­ zeption zentralen Stelle sich mehr geschadet, als J. von Uexküll genutzt. Er hat dann 1938 bzw. 1950 und 1969 in zwei Veröf­ fentlichungen die bahnbrechenden Arbeiten J. von Uexkülls in ihrer Bedeutung für die Biologie und für die Philosophische Anthropologie eingehend gewürdigt. Über der – wie es scheint – begrifflich formalen Beziehung, die zwischen J. von Uexkülls »Zentrum«, das im Organismus der Tiere die Verbindung zwischen »Merkwelt« und »Wirkwelt« herstellt, und der »Position« in der Konzeption Plessners besteht, darf allerdings eines nicht übersehen werden. Uexkülls Forma­ lisierung seiner Beobachtungen hatten primär die Lebensdien­ lichkeit der von ihm entdeckten artspezifischen Umwelten im Blick. Die Passung von selektiv wahrgenommener und genutzter Umwelt sicherte die Lebensfähigkeit und den Bestand der Arten. Das Risiko dieser artspezifischen Umwelten für deren Bestand wird uns heute dank der Einsicht in ökologische Zusammen­ hänge immer stärker bewusst. Plessners Darstellung der Position übernimmt das »Zentrum« aus der Konzeption der Bedeutungs­ lehre von J. von Uexküll, beschränkt und konzentriert sich jedoch auf die philosophisch begriffliche Explikation des Begriffs der Position und der ihr für den Menschen gegebenen Chance der Exzentrizität sowie der daraus entwickelten »anthropologischen Grundgesetze«. Mit dem Wechsel in der Begriffsverwendung vom »Zentrum« zur »Position« gerät jedoch das die Erkenntnis leitende Interesse J. von Uexkülls, die Lebensdienlichkeit seiner Konzeption, aus dem Blick. Dies hat mehrere Konsequenzen für die Resonanz und eine weitere Ausarbeitung der Philosophi­ schen Anthropologie. Einige hat G. Dux (1970) bereits benannt. Wir wollen hier neben der Biologie nur noch eine weitere erwäh­ nen, die für die von Plessner geplante interdisziplinäre Aufgabe der Philosophischen Anthropologie wahrscheinlich sogar viel­ versprechender gewesen wäre. Mit einer Rezeption der ökologischen Dimension der Beobach­ tungen und Forschungen J. von Uexkülls durch Plessner wäre unweigerlich auch die Volkswirtschaftslehre mit ihren Grundbe­ griffen in einen Diskurs mit der Philosophischen Anthropologie geraten. Die Volkswirtschaftslehre war während der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts in Europa überwiegend noch historisch

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und philosophisch orientiert. Sie stand theoretisch noch in den Anfängen ihrer Mathematisierung und verfügte praktisch nur über wenige aussagekräftige statistische Indikatoren, Sie war also noch offen für die philosophische Dimension ihrer Grund­ begriffe wie Bedürfnis, Arbeit, Vergesellschaftung der Arbeit, Eigentum, Produktionsfaktoren, Technik und produzierte Pro­ duktionsmittel, Vorratsbildung und Kapital. 1932 wurden die Frühschriften von Karl Marx veröffentlicht, darunter erstmals sein Manuskript »Philosophie und Nationalökonomie« (Lands­ hut 1955). Auf diese Schrift hat Plessner ausführlich Bezug genommen, als er im WS 1951/52 seine erste Vorlesung »Phi­ losophische Anthropologie« in Göttingen hielt (3). Die inter­ disziplinäre Beziehung von der Philosophischen Anthropologie zur »Nationalökonomie« zu entwickeln oder gar zu vertiefen, war allerdings an den Universitäten der Bundesrepublik ange­ sichts des sich verschärfenden Ost/West-Konflikts zunehmend aussichtslos. Plessner ist daher in seinen wiederkehrenden Vor­ lesungen zur Philosophischen Anthropologie nie mehr auf dieses Thema zurückgekommen (3), auch Carola Dietze erwähnt die­ ses Thema oder den Namen von Karl Marx in Beziehung zur Philosophischen Anthropologie nicht. Auch bot mit der Rezep­ tion der angloamerikanischen Ökonomie und dem Vordringen mathematischer und statistischer Modelle die historische Per­ spektive in der Volkswirtschaftslehre kaum noch Chancen für einen Dialog mit der Philosophischen Anthropologie. (3) Persönliche Mitteilung Christian von Ferber. Die von Carola Dietze aufgeworfene Frage nach dem nachgeholten Leben von Helmuth Plessner (Dietze 2006) findet ihre Antwort in der Organisation der Wissenschaften vom Menschen selbst. Die Erfah­ rungswissenschaften verweigern sich der Philosophischen Anthropo­ logie selbst dort, wo diese deren Grundsatzfragen zu beantworten beansprucht. Uneingelöst geblieben ist der von Plessner formulierte Anspruch an die Erfahrungswissenschaften vom Menschen darauf, eine »radikale Reduktion« der von ihren pragmatisch entworfenen, weil unausweichlichen Bezugnahmen auf »den Menschen als sol­ chen« vorzunehmen. Vielleicht ist es an der Zeit, im Zeichen »univer­ saler Menschenrechte« dem von Plessner entworfenen Leitfaden des homo absconditus ernsthaft in das noch Unbegangene zu folgen!

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Literatur Nahezu alle Veröffentlichungen Plessners sind mehrfach erschienen. Für unseren Beitrag ist das Erscheinungsjahr unentbehrlich; für die Leser dagegen das aktuelle Erscheinungsjahr, zu dem Plessners Veröf­ fentlichungen für ihn am ehestens verfügbar sind. Daher geben wir im Text das Erscheinungsjahr an und haben auch das Literaturverzeichnis für Plessner danach chronologisch geordnet, aber eine aktuelle Aus­ gabe für die Veröffentlichung benannt. Accarino, Bruno; Schloßberger Matthias (Hg.) (2008): Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, Jahrbuch für Philoso­ phische Anthropologie, Bd. 1, Berlin (Akademie Verlag). Dahrendorf, Ralf (1958): Homo sociologicus: Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden (Springer VS); Köln/Opla­ den (Westdt. Verlag), Bd. 10 (1958), 2; 3, S. 178–208; 345–378. Dietze, Carola (2006): Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985. Göttingen (Wallstein). Dietze, Carola (2008): »Kein Jud’ und kein Goi«: konfligierende Selbst- und Fremdwahrnehmungen eines assimilierten »Halb-Juden« in Exil und Remi­ gration: das Beispiel Helmuth Plessner, in: »Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause«: jüdische Remigration nach 1945, Göttingen: Wall­ stein Verlag (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden), S. 224–246. Dux, Günter (1970): Helmuth Plessners philosophische Anthropologie im Pro­ spekt. Ein Nachwort, in: Helmuth Plessner, Philosophische Anthropologie, Frankfurt am Main (S. Fischer Verlag) 1970, S. 253–316. Fischer, Joachim (2006): Philosophische Anthropologie – Ein wirkungsvoller Denkansatz in der deutschen Soziologie nach 1945, in: Zeitschrift für Sozio­ logie, 35 Jg., Heft 5, S. 322–347. Gehlen, Arnold (!952/53): Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie XL (1952/53), S. 338–353. Henckmann, Wolfhart (2010): Über die Entwicklung von Schelers anthropolo­ gischen Anschauungen, in: Becker, Ralf; Fischer, Joachim; Schlossberger, Mat­ thias (Hg.) (2009/2010): Philosophische Anthropologie im Aufbruch, Inter­ nationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Bd. 2, Berlin (Akademie Verlag). S. 19–49. König, Josef / Helmuth Plessner (1994): Briefwechsel 1923–1933, Hrsg. Hans-Ulrich Lessing / Almut Mutzenbecher, Freiburg/München (Verlag Karl Alber). Landshut, Siegfried (Hg.) (1953): Karl Marx. Die Frühschriften, Stuttgart (Krö­ ner-Verlag).

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Literatur

Lessing, Hans-Ulrich (2008), Plessners Hermeneutik der Sinne und die Reha­ bilitierung der Naturphilosophie, in: Internationales Jahrbuch für Philosophi­ sche Anthropologie, Bd. 1, Berlin (Akademie Verlag), S. 37–50. Plessner Helmuth (1923): Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiolo­ gie des Geistes, Das Problem als kulturphilosophisches Thema, in: Gesam­ melte Schriften III, S. 145. Plessner, Helmuth (1924): Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität- Tradition und Ideologie, in: ders. (1966), Diesseits der Utopie, Düsseldorf/Köln (Eugen Diederichs Verlag), S. 121–142. Plessner, Helmuth (1928): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einlei­ tung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften IV. Plessner, Helmuth (1937): Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie, in: Gesammelte Schriften VIII, S. 33–51. Plessner, Helmuth (1938): Over het object en de beteekenis der Sociologie, Openbare Les gegeven bij den aanvang sijner Colleges en de opening van het Sociologisch Instituut. Groningen 1938, in: Gesammelte Schriften X, S. 80– 94. Plessner, Helmuth (1950): Über das Welt- Umweltverhältnis des Menschen, in: Gesammelte Schriften VIII, S. 77–87. Plessner, Helmuth (1953): Über Menschenverachtung, in: Gesammelte Schrif­ ten VIII, S. 105–116. Plessner, Helmuth (Hg.) (1956): Untersuchungen zur Lage der deutschen Hoch­ schullehrer, 3 Bde., Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht). Plessner, Helmuth (1960 a): Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung, in: Gesammelte Schriften X, S. 212–226. Plessner, Helmuth (1960 b) Soziale Rolle und menschliche Natur, in: Gesam­ melte Schriften X, S. 227–240. Plessner, Helmuth (1965): Der Mensch als Naturereignis, in. Gesammelte Schriften VIII, S. 267–283. Plessner, Helmuth (1967): Der Mensch als Lebewesen, in: Gesammelte Schriften VIII, S. 314–327. Plessner, Helmuth (1969): Homo absconditus, in: Gesammelte Schriften VIII, S. 353–366. Plessner, Helmuth (1975): Selbstdarstellung, in: Ludwig J. Pongratz (Hg.), Phi­ losophie in Selbstdarstellungen I, (Felix Meiner Verlag) Hamburg 1975, in: Gesammelte Schriften X, S. 302–341. Portmann, Adolf (1983) Ein Wegbereiter der neuen Biologie. In: Uexküll, J. v. (1983): IX–XXI. Redner, S. (1998): How popular is your paper? An empirical study of the citation distribution, in: The European Physical Journal B, Bd. 4, S. 131–134. Schelsky, Helmut (1959): Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düssel­ dorf (Diederichs Verlag). Soziologie und moderne Gesellschaft: Verhandlungen des 14. Deutschen Sozio­ logentages vom 20. bis 24. Mai in Berlin (1959), Stuttgart (Enke Verlag).

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Strauss, Leo (1952), Persecution and the art of writing. (The Free Press). (Ausgabe: University of Chicago Press Edition, 1988) Uexküll, Jakob von (1905): Leitfaden in das Studium der experimentellen Biologie der Wassertiere, Wiesbaden (Bergmann Verlag) Uexküll, Jakob von (1909): Umwelt und Innenwelt der Tiere, 2. Aufl., Berlin (Julius Springer) 1921. Uexküll, Jakob von (1940): Die Bedeutungslehre, Bios, Bd. 10, Leipzig (J. A. Barth). Uexküll, Jakob von; Kriszat, Georg (1983): Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Mit Vorwort von Alfred Portmann und einer Einleitung von Thure von Uexküll, Frankfurt am Main (Fischer- Taschenbuch-Verlag). Uexküll, Thure von (1983): Die Umweltforschung als subjekt- und objektum­ greifende Strukturforschung, in: Uexküll, J. v. (1983) S. XXIII–XIVIII. Weber, Max (1988): Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpoli­ tischer Erkenntnis, in: Hrsg. von Johannes Winckelmann (1988): Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, (7. Auflage), Tübingen (J. C. B. Mohr) 1988, S. 146–214.

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Nekrologe Helmuth Plessner zum Gedächtnis (4. September 1892 – 12. Juni 1985) Helmuth Plessner, der am 12. Juni im Alter von 93 Jahren in Göttingen verstorben ist, gehörte zu dem Kreis von Wissenschaftlern, die die Soziologie nach der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland erneuert und in der Bundesrepublik begründet haben. 1951, im Alter von 59 Jahren, übernahm er an der Universität Göttingen einen Lehr­ stuhl für Philosophie und Soziologie und wurde der erste Direktor des Soziologischen Seminars. Mit finanzieller Unterstützung der Deut­ schen Forschungsgemeinschaft führte er die »Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer« durch (Göttingen, Vanden­ hoeck und Ruprecht, 3 Bde. 1956). Sie waren ein groß angelegter Ein­ stieg in die empirische Wissenschaftssoziologie in der Absicht, zur geistigen und organisatorischen Erneuerung der deutschen Univer­ sität beizutragen. Plessners Seminare bildeten den Sammelpunkt für viele Soziologen, Politologen und Philosophen der Nachkriegsgene­ ration. Wie kaum ein anderer verkörperte er in seiner Person die Tra­ ditionen deutscher Wissenschaftskultur, die einer neuen Soziologen­ generation Maßstab und Orientierung sein konnten. 1892 in Wiesbaden als Sohn eines Arztes geboren, studierte er Zoologie und Philosophie in Freiburg, Berlin, Heidelberg und Göttin­ gen. Unter seinen akademischen Lehrern sind Hans Driesch, Windel­ band und Edmund Nasserl zu nennen. Er habilitierte sich 1920 an der Universität Köln, wurde dort 1926 a. o. Professor für Philosophie, 1933 von der nationalsozialistischen Regierung entlassen. Die Niederlande boten dem Emigranten eine neue akademische Wirkungsmöglichkeit. 1934 Dozent, 1939 Professor für Soziologie und Philosophie an der Universität Groningen. 1943 vom Deutschen Reichskommissar ent­ lassen, überlebte er dank dem Schutz seiner Freunde im Untergrund, 1945 wiedereingesetzt, kehrte er 1951 in die Bundesrepublik zurück. Seine Anziehungskraft als akademischer Lehrer gründete in einer seltenen Vereinigung von profunder philosophischer, vor allem erkenntniskritischer Kompetenz, einem wachen Blick für die im weitesten Sinne politische Bedeutsamkeit wissenschaftlicher Frage­ stellungen, einem offenen Verständnis sowie einer richtigen Ein­ schätzung gegenüber der empirischen Sozialforschung mit der Gabe treffsicherer und brillanter Formulierung. Ungeachtet der respekthei­

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Nekrologe – Helmuth Plessner zum Gedächtnis

schenden Würde seiner Person und der wissenschaftlichen Ehrenäm­ ter, die er versah – er war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, Rektor der Universität Göttingen, Mitglied wissenschaftlicher Akademien – war Helmuth Plessner im persönlichen Verkehr von einem bezwingenden Charme. Jedem seiner Schüler werden Gespräche und Begegnungen mit ihm ein eindrückliches und unvergeßliches Erlebnis bleiben. Die Überzeugungsfähigkeit seiner wissenschaftlichen Position liegt – wie er es selber einmal gegenüber Theodor W. Adorno formu­ liert hat – in der »phänomenologischen Analyse, die es erlaubt, empi­ rische Aussagen und philosophische Aussagen gleichermaßen wieder in ursprüngliche Sicht zu bringen. Wo immer die Gefahr auftaucht, daß Theorien sich verrennen oder Probleme dogmatisch werden, läßt sich phänomenologisch zu dem, woran Probleme und Theorien anset­ zen, ein vortheoretischer, direkter ›anschaulicher‹ Kontakt gewinnen. Wie man diese phänomenologische Praxis interpretiert, ist dabei ganz gleichgültig.« (Immer noch Philosophische Anthropologie? Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag 1963). Worin gewinnt die phänomenologische Analyse ihren methodi­ schen Halt, insbesondere in den kritischen Situationen, in denen »Theorien sich verrennen« und »Probleme dogmatisch werden«? Für Helmut Plessner gibt es auf diese Frage zwei Antworten, eine retrospektive und eine prospektive Auskunft. Rückblickend sind für ihn die möglichen erkenntnistheoreti­ schen Positionen einer Begründung der historischen Wissenschaften vom Menschen durchgespielt. Als Philosoph hat er sich mit den erkenntnistheoretischen Begründungen seit Kant auseinandergesetzt (vgl. das Einleitungskapitel zu »Die Stufen des Organischen und der Mensch« 1928 sowie sein Vorwort zur 2. Auflage 1966). Die erkennt­ nistheoretische philosophische Schulung sichert vor theoretischen Kurzschlüssen und vorschnellen Problemvereinfachungen. Von die­ ser erkenntnistheoretisch geschärften metatheoretischen Position aus kann Plessner daher den »Weg der Soziologie in Deutschland« (Präsi­ dialadresse zum 50jährigen Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Berlin 1959) souverän nachzeichnen. Doch diese metho­ dische Sicherung der phänomenologischen Analyse fordert den hohen Preis einer jahre-, ja jahrzehntelangen erkenntnistheoretischen phi­ losophischen Bildung, die zweifelsohne auch auf generationsspezifi­ schen und damit auf kaum wiederholbaren Bedingungen beruht.

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Nekrologe – Helmuth Plessner zum Gedächtnis

Prospektiv will Plessner in der Philosophischen Anthropologie der phänomenologischen Analyse den sicheren Weg einer Begrün­ dung der Wissenschaften vom Menschen bereiten. »Eine Vorstellung von der Daseinsart des Menschen als eines Naturereignisses und Pro­ dukts ihrer Geschichte gewinnt man nur im Wege ihrer Kontrastie­ rung mit den anderen uns bekannten Daseinsarten der belebten Natur. Dazu bedarf es eines Leitfadens, als den ich den Begriff der Positionalität wählte, eines, wie ich glaube, fundamentalen Merkmals, durch welches belebte sich von unbelebten Naturgebilden unterschei­ den. Der Charakter der Positionalität ist bei aller Anschaulichkeit weit genug, um die Daseinsweisen pflanzlichen, tierischen und menschli­ chen Lebens als Variable darzustellen, ohne auf psychologische Kate­ gorien zurückzugreifen. Aber auch der Begriff Positionalität ist keine Konstruktion, sondern an der anschaulichen Struktur sogenannter Dinge unserer Wahrnehmung gewonnen« (Vorwort zur 2. Aufl. der »Stufen« 1966). Als »Naturereignis« in der Reihe des Lebendigen ist der Mensch durch seine »exzentrische Positionalität« geprägt, durch die Verdopplung seiner selbst in der Struktur seiner Daseinsart. Er steht in der Situation als Betroffener, Entscheidender, Handelnder, und er steht über der Situation als ein sich selbst in der Situation ver­ gegenwärtigender, seine Lage objektivierender, sich in der zeitlichen Dimension frei bewegender Mensch. Er ist sein Körper, hier ist er verletzlich, letztlich tödlich gefährdet, und er hat seinen Körper, in dem er sich darstellt, mit dem er sich bewegt, agiert, zu andern in Kontakt tritt, dessen Leistungen der Verwirklichung individueller und kollektiver Ziele dienen. Die bei aller Anschaulichkeit zugleich abstrakte, weil nur in dialektischen Begriffen explizierbare, kategoriale Bestimmung der menschlichen Daseinsart bricht mit einseitigen, weil letztlich vorder­ gründigen Wertungen verhafteten Wesensbestimmungen des Men­ schen. Mit Plessner kann man nur überlegen spöttisch Versuche registrieren, den Menschen vorschnell mit »der Industrie als dem aufgeschlagenen Buch seiner Wesenskräfte«, mit dem Monopol der Sprache oder mit der Instinktverunsicherung und Triebenthemmung zu identifizieren. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat Plessner selbst seine Philosophische Anthropologie gegenüber konkurrierenden Ver­ suchen abgehoben (so in seiner Rektoratsrede 1960 »Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung«, in der Festschrift für Adorno 1963 und im Vorwort zu den »Stufen ...« 1966). Er hat aber auch die Fruchtbarkeit seines Ansatzes für die soziologische Begriffs­

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Nekrologe – Helmuth Plessner zum Gedächtnis

bildung überzeugend dargetan: So bereits in seiner frühen Schrift »Grenzen der Gemeinschaft« (1924), in seinem Beitrag »Soziale Rolle und menschliche Natur« (1960) sowie in seiner großen Einlei­ tung zur Propyläen-Weltgeschichte »Die Frage nach der Conditio humans« (1961). Eine in seiner Philosophischen Anthropologie angelegte radikale wissenssoziologische Konsequenz hat – wenn ich recht sehe – Pless­ ner nie gezogen. Wenn die kategoriale Verknüpfung von Selbstbetrof­ fenheit, als in der Situation stehen (Positionalität), und Reflexion, als über der Situation stehen (Exzentrizität), die menschliche Daseinsart ausmacht, dann gibt es für die Wissenschaften vom Menschen kein privilegiertes Wissen, keine Vorzugsstellung des Wissenschaftlers gegenüber dem Laien. Die phänomenologische Analyse, die die »ursprüngliche Sicht« wiederherstellt, stellt dann nicht nur eine kritische Gegeninstanz gegenüber Theorien dar, »die sich verrennen«, sie rückt nicht nur dogmatische Problemsichten zurecht, sondern sie setzt die jedem Menschen gegebenen Wissensbestände in ihr ursprünglich gegebenes Recht ein. Wie souverän Plessner die phänomenologische Analyse auf dem Boden der Philosophischen Anthropologie beherrschte, zeigt sein unter der Erfahrung der Emigration entstandenes Buch »Die verspätete Nation«, erstmals 1935 unter dem Titel »Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche« in der Schweiz erschienen. »Es will die Wurzeln der Ideologie des Dritten Reiches aufdecken, und die Gründe, aus denen sie ihre demagogische Wirkung entfalten konnte.« Dieses Buch ist ein Zeugnis von der tiefen Erschütterung und einer ebenso gründlichen wie umfassenden Selbstverständigung eines Menschen, der mit der deutschen Kultur sich aufs engste verbunden fühlte: »Mit welchem Vergangenen aber sind wir verbunden, da wir es selbst sind, denen die Verantwortung zufällt, die Grenze zu dem ›in uns‹ zu ziehen, was vergangen und verabschiedet sein soll und was nicht? Unter dem Eindruck der Dinge, die sich 1933/34 in Deutschland ereigneten, hatte sich mir diese Frage gestellt« – schreibt Plessner in seiner Einführung zur 2. Auflage 1959. »Nicht nur, weil mir der Abschied von Deutschland schwer wurde, den seine damalige Regierung mir aufzwang, auch nicht, weil die Ereignisse von Anfang an die Wendung ins Verhängnisvolle und Unaufhaltsame eines leichtfertig heraufbeschworenen Geschicks erkennen ließen, sondern weil mir in dem Fremden, Rohen, Gewalt­ tätigen der Aktion, die vorgab, eine Revolution zu sein, um ihren

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Nekrologe – Helmuth Plessner zum Gedächtnis

verbrecherischen Charakter zu verdecken, ein spezifischer Abfall von dem, eine spezifische Entartung dessen wirksam zu werden schien, welches zum Besten des deutschen Geistes, zum Besten auch seiner lebendigen, zukunftsträchtigen Möglichkeiten gehört.« Zu recht hat dieses Buch eine erstrangige Bedeutung unter den Veröffentlichungen gewonnen, in denen sich auch in der Bundesrepublik die Ausein­ andersetzung mit der nationalsozialistischen Epoche unserer Gesell­ schaft zu regen begann. »Wenn Könige bauen, haben die Kärrner zu tun« – dieses Wort Friedrich Schillers über Kant könnte auch als Motto über dem Werk und der Wirkungsgeschichte Helmuth Plessners stehen. Der Reichtum seiner Analysen, die Vielfalt seines wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Engagements, das einige Aufsatzsamm­ lungen (Zwischen Philosophie und Gesellschaft 1953, Diesseits der Utopie 1966) erahnen lassen, wird in der Gesamtausgabe seiner Arbeiten im Suhrkamp-Verlag derzeit vollständig sichtbar und für die Rezeption und Weiterführung seiner Gedanken verfügbar. Vor allem wird es diese Ausgabe ermöglichen, die wichtigen Querver­ bindungen zwischen seinen Arbeiten herzustellen, die in sehr ver­ schiedenen Arbeitszusammenhängen entstanden, sich bei der weiten Ausstrahlung seiner Persönlichkeit an ganz unterschiedliche Publika wenden. Das auch in der Bundesrepublik sich erneuernde Interesse an phänomenologischen Analysen in der Soziologie dürfte aus der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners wichtige Impulse und entscheidende Orientierungen erwarten.

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Teil 2 Aspekte der Soziologie

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie? Ein Plädoyer für die Phänomenologie

1. Mein Weg zur Soziologie Neben meinem standesamtlichen Geburtsdatum ist der 6. Juni 1944 für mich ein biographisch ebenso bedeutsames Datum. Als mich am Abend des 6. Juni 1944 amerikanische Soldaten im hügeligen Gelände bei Viterbo einsammelten – ich lag dort seit Stunden mit einem zerschossenen Bein –, wollte mich einer von ihnen zunächst aus Vergeltung für ihren gefallenen Offizier erschießen, der nicht weit von mir lag. Dieser aufgebrachte GI gab sich als Sohn des früheren amerikanischen Konsuls in Hamburg zu erkennen und fuhr mich in gebrochenem Deutsch mit einem für meine Ohren schauderhaften amerikanischen Akzent an: »Du aussagen, du dumme Ratten, du!« und richtete seine MP auf mich. – Warum er letztendlich nicht abdrückte, weiß ich nicht. Jedenfalls fand ich mich bald auf einer Bahre in einem amerikanischen »Sancar« wieder und erfuhr, daß die Alli­ ierten am Morgen an der französischen Kanalküste gelandet und Brü­ ckenköpfe gebildet hatten. Die Division, bei der ich Dienst tat, wurde im Sommer von Italien nach Rußland verlegt und dort mehr oder weniger aufgerieben. Ich habe mich an diese Rettung aus dem sich ankündigenden Chaos zeitlebens dankbar erinnert. Sie brachte mir die Befreiung aus einem unlösbar gewordenen Konflikt. Im April hatte ich erfahren, daß ich auf Anordnung des Reichsstatthalters vom Stu­ dium ausgeschlossen war. Gleichwohl war ich Soldat und fühlte mich meinen Kameraden verpflichtet, mit denen mich das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein in der gemeinsamen Gefahr verband. Die Rückkehr nach Deutschland im Januar 1946 offenbarte die Realität der Katastrophe, von der ich mir bislang nur aus Zeitungs­ berichten ein Bild machen konnte. Eine Rückkehr nach Mecklenburg, in die SBZ, und ein Studium an einer der dortigen Universitäten war ausgeschlossen. So begann ich, mir »im Westen« eine Bleibe zu

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

suchen, einen Arbeitsplatz und Unterkunft zu finden und vor allem einen Studienplatz zu bekommen. Mein Abiturzeugnis gab es noch und das Abitur (1943) war das letzte, das noch anerkannt wurde. Durch Vermittlung von Freunden konnte ich mich in Göttingen für Philosophie einschreiben. Meine Versuche, von dieser Basis aus einen Studienplatz in der Medizin oder in der Chemie zu erhalten, scheiter­ ten. So studierte ich ab dem 3. Semester neben der Philosophie, die mich schon während meiner Schulzeit in einem kleinen Zirkel unter der begeisternden Anleitung eines Pastors neben der Schule in ihren Bann gezogen hatte, Volkswirtschaftslehre. 1947 stand dieses Fach noch diesseits seiner ökonometrischen Verschulung; die Theorie war eng, ja unlösbar mit der Wirtschafts­ politik verbunden: Erich Egner (Historische Schule), Gisbert Rittig (Sozialismus) und Wilhelm Kromphardt (Neoliberalismus) verkör­ perten ganz unterschiedliche, ja diametral entgegengesetzte theo­ retische Positionen mit dementsprechenden wirtschaftspolitischen Schwerpunkten und Konsequenzen. Von allen dreien habe ich in methodischer Hinsicht Bleibendes gelernt; ihnen verdanke ich meine Einführung in das wissenschaftliche Studium, auch unabhängig vom Fach, und die wichtige Einsicht, daß verschiedene theoretische Orientierungen sinnvoll nebeneinander bestehen können, und daß Theorie nicht abgelöst von ihrer praktischen Anwendung gelehrt werden kann. Neben dem volkswirtschaftlichen Studium blieb viel Zeit für die Philosophie, für die Rechtswissenschaften (Arbeits- und Steuerrecht, Öffentliches Recht und Staatslehre), für das Studium von Spanisch und Russisch, für den Besuch theologischer Vorlesungen und für das reiche kulturelle Angebot Göttingens. Die Erfahrung, daß Wissenschaft mehr ist als der Erwerb metho­ discher und theoretischer Kompetenz in einem Spezialgebiet, die Skepsis gegenüber allen Aussagen, die keinen Bezug zur primär erfahrbaren Wirklichkeit herstellen können, das Wissen darum, daß Wissenschaft auf Werte menschlichen Lebens bezogen ist, sie aus­ zulegen und sie zu verwirklichen bestrebt sein muß – diese drei Orientierungen haben sich mir in diesen Jahren gebildet und gefestigt. In meinem philosophischen Studium bei Nicolai Hartmann und später dann bei Josef König und Helmut Plessner fand ich diese Orientierung in der Phänomenologie ausgehend von Edmund Husserl begründet. Die Phänomenologie, nicht als eine philosophische Spezialdisziplin, sondern als kritische Gegen- und Prüfinstanz der »positiven« Wissen­

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1. Mein Weg zur Soziologie

schaften ebenso wie als Vertrauen auf den gesunden Menschenver­ stand, ist auch die Grundlage meines Verständnisses von Soziologie geworden und geblieben. Vermutlich hätte mich nach dem Diplomexamen mein Weg als Postgraduierter in die Volkswirtschaftslehre geführt, eine Disserta­ tion zur kommunalen Finanzwirtschaft unter besonderer Berücksich­ tigung der Sozialausgaben war geplant und durch ein Praktikum bei der Stadt Göttingen vorbereitet, als zwei Ereignisse einen Wechsel zur Soziologie begünstigten. Da in meinem Examensjahrgang sich zu wenig Kandidaten für Betriebswirtschaftslehre angemeldet hatten, wurde mir ein betriebs­ wirtschaftliches Thema gegeben, für das ich allerdings einen Vor­ schlag machen durfte. Mit Beratung und Unterstützung von Dietrich Goldschmidt schlug ich ein betriebssoziologisches Thema vor: »Las­ sen sich Wurzeln der modernen Betriebssoziologie bereits in den Untersuchungen des Vereins für Socialpolitik nachweisen?« Diese Untersuchungen waren zu Beginn dieses Jahrhunderts von Max und Alfred Weber initiiert worden. Für eine 6-Wochen-Arbeit mit festem, sogar auf die Ausgabe Uhrzeit des Themas bezogenen Termin ein riskantes Unternehmen. Zum Glück für dieses, von den Quellen her gesehen historische Thema waren wenigstens die Bände des Vereins für Socialpolitik in der Göttinger Universitätsbibliothek voll­ ständig vorhanden. Doch, was wußte 1952 ein deutscher Student der Philosophie und Volkswirtschaftslehre von der angloamerikanischen Betriebssoziologie? Gleichwohl war mit der Bearbeitung dieses The­ mas ein erster Schritt in die Soziologie getan. Der Zufall wollte es, daß nach Abschluß meines Diplomexamens Wilhelm Baldamus aus Birmingham zu Gastvorlesungen nach Göt­ tingen kam. Goldschmidt machte mich mit ihm bekannt. Baldamus schlug mir für eine Dissertation das Thema »Arbeitsfreude« vor und übernahm mit Plessner die (Mit)Betreuung des Vorhabens. Aus einem intensiven, von Baldamus’ Seite mit unendlicher Geduld und einem bewunderungswürdigen Einfühlungsvermögen geführten, mehrjäh­ rigen Briefwechsel habe ich den damals relevanten Stand der Indus­ trie- und Betriebssoziologie aus erster Hand »gelernt« und wurde von ihm zugleich in die Arbeiten der führenden amerikanischen Theoretiker, Talcott Parsons und Robert K. Merton, eingeführt; seine Literaturhinweise haben mich mit den entscheidenden soziologischen Veröffentlichungen bekannt gemacht. Mein »Soziologie-Studium«

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

war eine Mischung von learning by doing, »Privatunterricht« bei einem genialen Tutor und Selbststudium. Doch von einer Diplomurkunde und einem Dissertationsthema konnte man damals wie heute nicht leben. Daher war es ein glückli­ ches Zusammentreffen, daß die DFG die »Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer« von Plessner und Goldschmidt mit einem namhaften Betrag förderte. Diese auf eine breite empirische Materialgewinnung angelegten Forschungen benötigten viele studen­ tische Hilfskräfte. Auf diese Weise war vielen Doktoranden, nicht nur aus der Soziologie, der Lebensunterhalt auf eine wissenschaftsnahe Weise gesichert. Für die angehenden Soziologen wurden die Göttin­ ger Universitätsstudie und das Soziologische Seminar zur Einstiegs­ pforte und zum Mittelpunkt ihrer wissenschaftlichen Orientierung. In den dreieinhalb Jahren vom Herbst 1952 bis zum Frühjahr 1956 arbeitete ich in »Wechselschicht« an der »Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864– 1953« (1956) und an der »Arbeitsfreude« (1955/1959). Die Spannung zwischen einem theoretischen Thema, der Verortung der Arbeits­ freude – wir würden heute sagen – als einem gesellschaftlichen Deutungsmuster, und einer empirischen Arbeit, die anhand weniger, aber für 23000 Hochschullehrer ermittelten Daten ihres beruflichen Werdegangs die Entwicklung der deutschen Universitäten in der Epoche ihres Aufstiegs und ihres Niedergangs nachzeichnen wollte, hat mich zutiefst beunruhigt und in Spannung gehalten. Für keine der beiden Aufgaben war ich theoretisch geschult und empirisch gerüstet. Das, was ich mir mühsam aus der Literatur, aus dem Briefwechsel mit Baldamus oder in den Plessner-Seminaren und Forschungskolloquien aneignete, verstärkte eher meine Unsicherheit und Unzufriedenheit, als daß es mir half, die »Landschaft der Arbeitsfreude« geistig zu ordnen und die statistischen Ergebnisse zum Berufungs- und Habi­ litationsalter der deutschen Hochschullehrer sinnhaft zu interpretie­ ren. Diese Spannung zwischen der begrifflich theoretischen Arbeit und der empirischen Sozialforschung hat mich seitdem begleitet und wiederkehrend zu Versuchen geführt, die Kluft zu überwinden.

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2. 1959 – Eine Wende in der deutschen Nachkriegssoziologie

2. 1959 – Eine Wende in der deutschen Nachkriegssoziologie Blickt man auf die Geschichte der deutschen Nachkriegssoziologie zurück, so läßt sich der Soziologentag in Berlin zum 50jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Soziologie und moderne Gesellschaft, 1959) als Wendemarke eines Übergangs von den Wiederbegründern der Soziologie: T. Adorno, M. L. Horkheimer, H. Plessner, R. König und H. Schelsky zu der ersten Nachkriegsgenera­ tion der Soziologen ausmachen: H. P. Bahrdt, H. Popitz, J. Habermas, L. von Friedeburg, H. Pross, G. Baumert, F. Tenbruck, H. Kluth, R. Tartler, D. Claessens, D. Goldschmidt, Chr. Graf von Krockow, P. von Oertzen, Th. Pirker und B. Lutz u. a. ausmachen. Dieser Übergang läßt sich am Zusammentreffen von zwei Entwicklungen festmachen: –



dem Bedürfnis nach Kodifizierung: Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, König, Fischer Lexikon Soziologie, Handbuch der Empirischen Sozialforschung, Der Tagungsband: Soziologie und moderne Gesellschaft; hier insbesondere die Ansprache des Präsidenten, Plessner (auf diese werde ich im folgenden noch näher eingehen) und der Beitrag von Hans Achinger, Soziologie und Sozialreform; zusammen mit seinem kurz vorher in der rde erschienenen Buch »Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik« war dies die wesentliche Grundlage für eine soziologisch argumentierende, in Konkurrenz zu einer wirt­ schaftswissenschaftlich begründeten Sozialpolitik, den ersten bahnbrechenden Veröffentlichungen aus der Nach­ kriegsgeneration: Technik und Industriearbeit; Das Gesell­ schaftsbild des Arbeiters; Industriebürokratie; Betriebsklima; Sozialprestige; Alter in der modernen Gesellschaft; Die Entschei­ dung; Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft; homo sociologicus; Arbeiter, Management, Mit­ bestimmung; Untersuchungen zur Lage der deutschen Hoch­ schullehrer etc.

Die genannten Veröffentlichungen enthalten neben dem Versuch der Kodifizierung, sie geschah durchaus zukunftsorientiert im Blick auf die angestrebte Institutionalisierung der Soziologie in Forschung und Lehre (Einrichtung von Diplomstudiengängen, Strukturierung der Lehre als Haupt- und Nebenfach, Verankerung im Stellen- und Haushaltsplan der Universitäten), ein ganzes Spektrum an Optionen

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

zur Identifikation als Soziologe. Denn mit dem Generationenwechsel allein war der Übergang von der Wiederbegründungsphase in eine Institutionalisierung, in eine »Gestalt«, an der sich Selbstbild und Fremdbild scheiden konnten, die dem Bedürfnis nach Identifikation und Abgrenzung festen Halt gab, keineswegs abgeschlossen. Die fol­ genden 60er und 70er Jahre lassen sich als einen Aufbruch zu neuen Ufern, als eine in rasantem Tempo sich vollziehende Binnendifferen­ zierung der Soziologie verstehen, die sich spätestens seit dem zweiten Berliner Soziologentag 1978 einer vereinheitlichenden Abbildung sperrt, ja für manche geradezu eine Auflösung in gesellschaftliches Alltagswissen oder in Beliebigkeit bedeutet. Sehr überzeugend und für meine eigene Orientierung als Sozio­ loge letztlich wegleitend hat in dieser Übergangszeit, während der sich die deutsche Nachkriegssoziologie in ihrer ersten Generation formte, Plessner in seiner Eröffnungsrede zum Jubiläums-Soziologentag 1959 eine Perspektive für die Soziologie formuliert (hier zitiert nach der Fassung, die über Rundfunkvortrag und Wochenzeitschrift eine brei­ tere Öffentlichkeit erreicht hat, 1966): »Man darf der deutschen Soziologie, die seit 1945 erst wieder arbeiten kann, nicht den Vorwurf machen, daß sie in Reaktion auf zu viel Theoretisiererei und Globalismus von früher nun im Erhebungs­ gewerbe ohne Perspektive zu versinken droht. Erstens wäre die Reak­ tion bei Menschen, die ideologisch so strapaziert worden sind und so viel Enttäuschungen zu verarbeiten haben, mehr als verständlich. Zweitens haben wir in puncto Empirie einen ungeheuren Nachhol­ bedarf. Aber der Vorwurf selbst stimmt nicht. Man ist behutsamer geworden, man extrapoliert nicht mehr so ungehemmt, man schwelgt nicht in Riesenprospekten und Perspektiven von Fortschritt und von Verfall. Aber auch das Verständnis für die theoretische Kleinarbeit ist im Wachsen: für die Kritik der soziologischen Begriffsbildung, für die Brechung der Knechtschaft unter der Tyrannei der falsch gewordenen Worte. Gerade als Tatsachenforschung, nicht als normative Wissen­ schaft, als Theorie der gesellschaftlichen Erscheinungen wird Sozio­ logie heute zu einem Ferment der Kritik, zu einem Werkzeug der Freiheit« (ebda. S. 53/54). An dieser Einschätzung der sich formierenden Nachkriegssozio­ logie ist aus meinem Verständnis dreierlei bedeutsam: –

die Hinwendung zu den »gesellschaftlichen Tatsachen«; diese sind keine Domäne der Soziologie. Vielmehr ist diese bei der Untersuchung gesellschaftlicher Tatsachen auf Kooperati­

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2. 1959 – Eine Wende in der deutschen Nachkriegssoziologie





onspartner in den Wissenschaften, aber auch aus der Praxis angewiesen. Einer Soziologie, die nicht mehr sein will als Sozio­ logie, wird eine klare Absage erteilt, der Wertbezug: »Eine institutionalisierte Dauerkontrolle in kri­ tischer Absicht und in wissenschaftlicher Form – und nur das ist Soziologie als Fach – rechtfertigt sich allein gegenüber einer offe­ nen Gesellschaft, die aus Achtung vor dem einzelnen Menschen oder im Interesse der Mobilisierung seiner produktiven Kräfte ihre Planung bewußt begrenzt und sich selber Räume ihrer eige­ nen Gestaltung zugesteht« (Plessner ebda. S. 53), die Skepsis gegenüber soziologischen Theorien, die der Kontrolle an der Empirie und – für den Phänomenologen Plessner – am common sense entbehren: »die Brechung der Knechtschaft unter der Tyrannei der falsch gewordenen Worte«. In der Tat: hierin spricht sich ein Vermächtnis der Generation aus, die Deutschland nach 1933 verlassen mußte – und zurückgekehrt ist.

Wertbezug und Skepsis gegenüber soziologischen Aussagen, die den Bezug zu den gesellschaftlichen Tatsachen verloren haben, ja der Wirklichkeit ihre Begriffe überstülpen und sie damit zudecken, bezeichnen das prekäre Verhältnis der Soziologie zur Politik (und seit den 60er Jahren auch zur Wissenschaft von der Politik, deren Schmähwort »die elende Fliegenbeinzählerei« das Auseinanderdrif­ ten der beiden Sozialwissenschaften auf einen ideologischen Punkt brachte). Beide Orientierungen, Skepsis und Wertbezug, zwingen den Soziologen zur Kooperation, zur Suche nach Wegen zur Verge­ wisserung über die in den gesellschaftlichen Tatsachen aufscheinende Wirklichkeit, zur begrifflichen (Selbst)Kritik sowie zur Offenlegung des Wertbezuges seiner Forschungen, aber auch seiner Lehre. Es leuchtet ein, daß ein solches Programm der Soziologie, das eigentlich nur die Eckpunkte benennt, an denen man sich über seine Arbeit Rechenschaft ablegen kann – wenn man es will, und wer will es schon, vor allem, wenn dieser Weg ins Dunkel des Zweifels führt? –, von keinem allein geleistet werden kann. Die für mich wesentlichen Arbeiten sind daher stets im ständigen gedanklichen Austausch und in der Zusammenarbeit bei gemeinsamen Projekten mit Kollegen und Mitarbeitern entstanden. Noch in Göttingen waren es das Doktorandenkolloquium von Plessner und – in den beteiligten Personen z. T. überlappend – der Kreis um Willy Strzelewicz (Göttinger Seminarkurse der Erwachse­ nenbildung) sowie ein informeller Kreis um Elias Siberski und LW.

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

Nauta; in Hannover das Sozialwissenschaftliche Seminar mit Balda­ mus, Willi Pöhler, Fritz Gebhardt, Hans Albrecht Hesse und Peter Gleichmann sowie die Zusammenarbeit mit Karl Peter Kisker und Manfred Pflanz, aber auch mit praktizierenden Medizinern wie Karl Kohlhausen und Hero Silomon. In Bielefeld dann die gemeinsame Arbeit mit Peter Christian Ludz an den Materialien zur Lage der Nation sowie die gemeinsame Herausgabe des Handbuchs der Sozial­ medizin mit Hans Schaefer, Karl Peter Kisker und Maria Blohmke; in Düsseldorf die gemeinsame Arbeit mit Pöhler, Gerd Peter, Wolfgang Slesina und Liselotte von Ferber an der Entwicklung einer Konzeption zum Arbeitsschutz bei arbeitsbedingten Erkrankungen (Integriertes Verfahren zur Analyse arbeitsbedingter Krankheiten (IVAaK) und Gesundheitszirkel). Diese Konzeption entstand in einem Arbeitskreis zur phänomenologischen Arbeitssoziologie, der sich regelmäßig in Bochum oder Düsseldorf traf. Bis in die Gegenwart hinein reicht die Zusammenarbeit mit Hans Joachim Jesdinsky (L) und Liselotte von Ferber (1994) zur Gesundheitsberichterstattung auf der Grundlage von Sekundärdaten der Krankenkassen, sie führte zur Gründung einer Arbeitsgruppe zur Primärmedizinischen Versorgung, die seit 1994 an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität zu Köln arbeitet; gemeinsam mit Gerd Lehmkuhl und Tilmann Eiliger werden Projekte im Nordrhein-Westfälischen Forschungsverbund durchgeführt. Auch diese Projekte zeichnet eine enge Kooperation mit Einrichtungen der Praxis aus. Die Zusammenarbeit in den genannten Gruppen diente häufig der Vorbereitung und Durchführung empirischer Projekte, sie stand aber ganz wesentlich unter der Absicht, die mit der Erforschung »gesellschaftlicher Tatsachen« unabweisbar verbundenen theoreti­ schen Fragen zu klären, z. B. die Bedeutung gesellschaftlicher Vorur­ teile in der Erwachsenenbildung, die Grundlagen von Sozialmedizin und Medizinsoziologie, die Kodifizierung einer phänomenologischen Arbeitssoziologie, die Erweiterung des Arbeitsschutzes zur Gesund­ heitsförderung etc. In diesen Diskussionen war ständig auch der Wert­ bezug der gemeinsamen Forschung präsent, er sorgte für Spannung, aber auch für Konflikte. Die Zusammenarbeit in Projektgruppen kann die Klärung des theoretischen Zugangs und des Wertbezuges soziologischer For­ schung ganz wesentlich stimulieren und fördern, sie macht aber die Formulierung einer eigenen Position nicht entbehrlich. Der Rückgriff auf die „›offene Gesellschaft« (so Plessner) oder auf den Universa­

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3. Der Wertbezug der soziologischen Forschung

litätsanspruch der Menschenrechte (so Strzelewicz) kann nur den Rahmen dessen bezeichnen, was mit Plessners Anspruch an die Soziologie, sie solle »ein Ferment der Kritik und ein Instrument der Freiheit« im Forschungsprozeß oder in einem Forschungsprojekt sein, gemeint ist. Die Auskunft, es genüge den Referenzrahmen seiner empirischen Forschung in theoretischer Hinsicht anzugeben und den Wertbezug offenzulegen, hat mich ihrer unverbindlichen For­ malität wegen nie zu befriedigen vermocht. Allerdings wird es dann wesentlich schwieriger, theoretische und methodische Sicherheit zu gewinnen, und zwar in zweierlei Hinsicht: –



der Gefahr wirksam zu begegnen, dem »sozial Erwünschten« unkritisch aufzusitzen; mit dem wachsenden Bestreben, öffent­ liche Forschungsförderung an gesellschaftspolitischen Zielen zu orientieren, gewinnt diese Gefahr sozusagen eine existenti­ elle Dimension einen Zugang zu den »gesellschaftlichen Tatsachen« zu bahnen, der einerseits die Verzerrungen und Entstellungen durch ihre spezialwissenschaftlichen (Re)Konstruktionen durchschaut und aufhebt, andererseits sich nicht willkürlichen Interpretationen ausliefert. Methodisch gilt es die Paradoxie zu überwinden, daß gesellschaftliche Tatsachen nur in einer wissenschaftlichen Bearbeitung für den Forscher präsent werden, aber stets in dieser Form auch auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit verweisen, die in ihrer einzelwissenschaftlichen Bearbeitung nicht aufgeht und die z. B. die Indikatorenforschung als gegeben voraussetzt. Aus diesem Dilemma verspricht die Phänomenologie einen anderen Weg, als ihn – aus dem breiten Angebot eines pluralistischen Verständnisses von soziologischer Theorie – eine der verschiede­ nen Gesellschaftstheorien weisen.

3. Der Wertbezug der soziologischen Forschung Die Gefahr, dem jeweils sozial Erwünschten hinterherzulaufen, lauert an jedem Kreuzwege: bei der Wahl der gesellschaftlichen Tatsachen, denen man sich zuwendet, der Einwerbung von Drittmitteln aus den angebotenen Förderprogrammen und letztendlich bei Design und Interpretation der Ergebnisse der eigenverantwortlich durchgeführ­ ten Forschungsprojekte.

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

Auf den beiden ersten Kreuzwegen spielen biographische Bedin­ gungen sicher eine wesentliche Rolle. Meine Entscheidungen für die Soziologie der Universität, für Sozialmedizin/Medizinsoziologie und für Public Health ist eng mit meinem Lebensweg verbunden und mit den Menschen, denen ich begegnet bin. Auch die Rolle des Antragstel­ lers bei der DFG, bei der Stiftung Volkswagenwerk oder später dann beim BMFT ist durch »Gelegenheiten« bestimmt. Beide »Wahlen« lassen jedoch hinreichend Spielraum für die eigene Gestaltung der Projekte. Hier ist daher die Gefahr der Selbsttäuschung am größten, für Forschungsergebnis zu halten, was in Wahrheit nur Bestätigung der gerade herrschenden Meinung ist. Für die Schärfung der Selbstkritik gibt es sicher keine Rezepte; hier kann vermutlich jeder nur seine Erfahrungen mitteilen, wie er die wissenschaftliche Skepsis bei sich wachzuhalten versucht hat. Gewiß spielen auch generationsspezifische Erfahrungen eine Rolle: »die Brechung der Knechtschaft unter der Tyrannei der falsch gewor­ denen Worte«, wie Plessner es auf den Punkt gebracht und in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Dahrendorf (»homo sociologi­ cus«) aus der Philosophischen Anthropologie heraus begründet hat (»Soziale Rolle und menschliche Natur«). Wissenschaftliche Skepsis als Soziologe erfordert Distanz gegenüber herrschenden Meinungen (auch in der eigenen Zunft) und gegenüber der Aktualität. Der Soziologe kann sie für sich auf verschiedenen Wegen gewinnen: –



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über die Anthropologie (Philosophische Anthropologie und cul­ tural anthropology), hier war für mich der Tod als äußerste Grenze der Vergesellschaftung ein wichtiges Thema (Chr. von Ferber 1963; Nassehi und Weber 1989) über das Festhalten der theoretischen Einsicht, daß gesellschaftli­ che Wirklichkeit mit dem Schöpfen von Bedeutungen, Beziehun­ gen und Strukturen durch einzelne entsteht. Die Bezugnahme auf diesen Entstehungsakt ist unverzichtbar (von Ferber 1964) mit dem Vertrauen auf den Innovationsvorsprung von Basis­ bewegungen gegenüber etablierten Strukturen. Gesellschaft kann nur als Prozeß verstanden werden. Und schließlich mit dem Eingeständnis der Widersprüchlichkeit von Gesellschaft selbst, wie sie in methodologischer Wendung bereits im Wert­ urteilsstreit von Max Weber für die Politikberatung durch Sozio­ logen formuliert wurde (von Ferber 1959; 1970 c).

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3. Der Wertbezug der soziologischen Forschung

Angesichts dieser verschiedenen, jede in sich theoretisch auf gute Argumente gegründeten Möglichkeiten, Distanz zur eigenen Arbeit, wie aber auch zu denen der Zunft zu gewinnen, ist mir die metho­ dische Selbstlähmung mancher überzeugter Empiriker stets fremd geblieben, nicht zuletzt auch angesichts der Grenzen, die der Empiri­ schen Sozialforschung in der Gewinnung gesellschaftlicher Tatsachen gezogen sind. Ob und gegebenenfalls wie methodenkritische Grundsätze die­ ser Art kodifiziert werden – so wie es sich Merton für soziologi­ sche »Theorien mittlerer Reichweite« erhofft hatte, leider ist kaum einer seinem Vorschlag gefolgt, in der Soziologie einen kumulati­ ven Erkenntnisprozeß einzuleiten – kann hier dahingestellt bleiben. Soviel scheint mir allerdings sicher zu sein, in den gesellschaftlichen Kontexten, in denen gesellschaftliche Instanzen auftragsgemäß indi­ viduelle Lebenslagen und Zustände eingreifend beeinflussen wie in der Sozialpolitik, in der Medizin, in der Sozial- und Präventivmedizin, in der Sozialpsychiatrie; in der Gesundheits- und Selbsthilfeförde­ rung, wird die Soziologie kaum umhin können, Position zu beziehen, wie sie es denn selber mit der individuellen Selbstbestimmung meint. Sie muß Prüfkriterien für die Situationen entwickeln, in denen gesell­ schaftliche Programme und Akteure, selbst dann, wenn sie einem naiven Vorverständnis folgend hilfreich gemeint sind, an die Grenzen individueller Selbstbestimmung geraten. Soziologie in der Sozialpolitik, Sozialpsychiatrie, Sozialmedizin, Medizinische Soziologie, Gesundheitswissenschaft haben es mit pre­ kären Situationen individueller Lebensgestaltung zu tun (Chr. von Ferber 1967; Chr. und L. von Ferber 1978). Um in diesen Situationen die Menschenwürde zu wahren und die Gleichheit im Zugang zu ele­ mentaren gesellschaftlichen Ressourcen zu sichern, werden zielge­ richtet professionelle sozialstaatliche Hilfen auf Dauer eingerichtet – Sozialpolitik und Versorgung mit Gesundheitsgütern haben in unse­ rem Jahrhundert den Eigenwert von gesellschaftlichen Institutionen erlangt. Andererseits aber müssen Sozialprogramme und professio­ nelles Handeln sich gerade um der Achtung dieser Menschenwürde – konkret gesprochen – um der Achtung der Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung ihrer Klienten willen zurücknehmen, sich bewußt begrenzen: »in einer offenen Gesell­ schaft, die aus Achtung vor dem einzelnen Menschen oder im Inter­ esse der Mobilisierung seiner produktiven Kräfte ihre Planung bewußt begrenzt und sich selber freie Räume ihrer eigenen Gestaltung

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zugesteht« (Plessner a. a. O. S. 53). In dieser Situation wird die Sozio­ logie unweigerlich zu einem Ferment der Kritik an Professionen, Organisationen, Behörden und gesellschaftspolitischen Program­ men. Die Funktion der Soziologie in den erwähnten gesellschaftlichen Kontexten, »ein Ferment der Kritik und ein Instrument der Freiheit« zu sein – wie Plessner es programmatisch forderte – äußert sich allerdings selten unmittelbar in praktischen Situationen, obwohl nicht zu leugnen ist, daß gesellschaftspolitische Programme wie die Reform der Universitäten, des Bildungswesens oder die der psychiatrischen Versorgung maßgebend von Soziologen mitgestaltet wurden – aller­ dings mit mehr oder weniger Geschick und Erfolg. Die Funktion der Soziologie ist primär eine analytische, Situationen auslegende und erhellende. Sie erschließt eine Metaebene, auf der die verschie­ denen in einer Situation gegebenen Sichtweisen und Handlungspro­ gramme einander begegnen können: die Sichtweise der Profis und die der Laien, die Laienhaftigkeit der Profis (Hesse 1991) und die »Professionalität in eigener Sache« der Laien, die Sichtweise der Großorganisationen, der Institutionen Sozialer Sicherheit und die der »kleinen Gefahrengemeinschaften« (Achinger) oder der individuellen Lebensstile etc. Die soziologische Metaebene, die sich unter dieser Perspektive auftut, kann wiederum methodisch diszipliniert werden als »Diver­ genz der Bezugssysteme« (Chr. von Ferber 1970 a) oder als »konfliktsimulierende Funktion der Wissenschaft« (Chr. von Ferber 1970 c). Die Gefahr eines wertneutralen, im rein Analytischen verharrenden Relativismus und der daraus folgenden Paradoxie politischen Han­ delns, wie sie Max Weber als eines der Grundlagenprobleme der Soziologie hinterlassen hat, ist freilich mit der Einführung einer Metaebene des Diskurses nicht überwunden. Sie läßt sich vermutlich ebensowenig ausschließen wie der Irrtum in den »positiven« Wis­ senschaften. Hier wie dort gilt die Gefahrenbegrenzung durch metho­ dische Absicherung und durch kollegialen Diskurs.

4. Welchen Stellenwert hat der primäre Zugang zu den gesellschaftlichen Tatsachen? Gesellschaftliche Tatsachen werden theoriegeleitet mit den Metho­ den der Empirischen Sozialforschung erschlossen – so die Auskunft

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4. Welchen Stellenwert hat der primäre Zugang zu den ges. Tatsachen?

der Lehrbücher. Doch gesellschaftliche Tatsachen, zumal in einer »Wissenschaftlichen Zivilisation«, gehören nicht allein der soziologi­ schen Begrifflichkeit, stets sind andere Wissenschaften beteiligt wie die Medizin, die Rechtswissenschaft, die Wirtschaftswissenschaften, die wissenschaftliche Sozialpolitik etc. und in den gesellschaftlichen Kontexten, in denen individuelle Lebenslagen oder Lebensstile zum Bezugspunkt der Analyse und planvoller gesellschaftlicher Gestal­ tung werden, auch die subjektiven Theorien der Menschen, um die es geht. Wie spielt der Soziologe dieses außer- und präsoziologische Wissen ein, ohne zum Proselyten anderer Wissenschaften zu werden (der Mediziner, Juristen, Sozialpolitiker im Gewande des Soziologen) oder sich zum Laien aufzuspielen (der Soziologe als Sprecher selbst­ postulierter Alltagstheorien)? Bei der Umschiffung dieser Klippen bin ich weniger aus schü­ lerhafter Anhänglichkeit als aus einer – vermutlich bereits in frü­ hen Sozialisationserfahrungen begründeten – Distanz zum Wissen­ schaftsbetrieb meiner phänomenologischen Schulung bei Hartmann, Plessner und König treu geblieben. »Zeigen Sie es am Phänomen«, »bitte keine einzelwissenschaftlichen Theorien« – diese Sätze aus den Seminaren und Doktorandenkolloquien haben sich mir tief einge­ prägt. Soziologie – sie war ja biographisch ein Spätling meines Studi­ ums, ein Pfropf auf Philosophie und Volkswirtschaftslehre – mußte sich im reflektierten Alltagsbewußtsein und im Diskurs bewähren. Die Forderung, soziologische Aussagen sollen allgemeinverständlich sein – jeder Soziologe weiß aus bitterer Erfahrung des Nichtverstan­ denwerdens unter dem ständigen Vorwurf des Soziologendeutsch oder -chinesisch, wie schwer diese Forderung zu erfüllen ist, wenn man sie ernst nimmt –, bekam aus der Phänomenologie heraus einen theoretisch und methodisch gesicherten Hintersinn. Die Beobachtung – auch ein Stiefkind der Methodenbücher zur Empirischen Sozial­ forschung – erhielt die ihr zukommende unverzichtbare Bedeutung zugewiesen. Die Phänomenologie gab mir das Vertrauen in die Quelle einer primären gesellschaftlichen Lebenserfahrung zurück, der man sich durch reflektierte, aber auch im Diskurs mit anderen aufbereitete Anschauung vergewissern konnte. Soziologische Theorien und die Methoden der Empirischen Sozialforschung ebenso wie die Paradigmen der Wissenschaften, die in die gesellschaftlichen Tatsachen eingehen, sie auf vielfältige Weise (mit)konstituieren, sind für die phänomenologische Grundein­ stellung hilfreiche Instrumente. Sie erweitern die Primärerfahrung,

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und sie erleichtern Diskurs und Mitteilung. Phänomenologie ist kein Rückfall in ein vorwissenschaftliches Zeitalter, sondern eine Bezugsebene reflektierter Erfahrung, auf der es möglich wird, Ein­ sichten zu ordnen, sie auf Schlüssigkeit und Widersprüchlichkeit, auf Bedeutungsschwere und Zukunftsgehalt hin zu bewerten. In diesem phänomenologischen Diskurs vermag die Soziologie als Fer­ ment der Kritik und als ein Instrument der Freiheit kategoriale Bestimmungsgründe des Sozialen (diesseits metaphysischer Überhö­ hungen) einzubringen: seine reale Widersprüchlichkeit und seine Prozeßhaftigkeit oder sein Veränderungspotential. Nach meinem Dafürhalten gibt es keinen anderen soziologischen Zugang zu den gesellschaftlichen Tatsachen, die wir unter den Inhal­ ten der Empirischen Sozialforschung oder unter den sogenannten Bindestrichsoziologien rubrizieren. Aufgrund dieser Einstellung halte ich Unterscheidungen, die das soziologisch Zugängliche von den eigentlichen Inhalten abgrenzen: die Religionssoziologie von der Religion, die Rechtssoziologie vom Recht, die Arbeitssoziologie von der Arbeit etc. für überflüssig, ja für irreführend. Es handelt sich dabei m. E. um eine defensive Übernahme der von außen an die Soziologie herangetragenen Klischees, die die eigentliche Potenz der Soziologie verstellt und entwertet, Multi- und Interdisziplinarität nicht nur als ein hehres Ziel moderner Wissenschaft gebetsmühlen­ artig einzufordern, sondern beides als »Bindestrichsoziologie« zu praktizieren, indem sie die Mitkontrahenten und Mitproduzenten gesellschaftlicher Tatsachen aus Wissenschaft und Praxis zum Diskurs einlädt und herausfordert. Die von Carl Brinkmann bereits sehr früh herausgestellte »Sozio­ logische Dimension der Fachwissenschaften« (1952) bedeutet – in diesen Zusammenhang gestellt –, daß in jedem Fachwissenschaftler ein Soziologe steckt, jemand also, der unter Einklammerung seiner Fachwissenschaftlichkeit zum soziologischen Diskurs in der Phäno­ menologie fähig und bereit ist, wenn man ihn dazu einlädt. Aus meiner Erfahrung in der Sozialpolitik und in der Medizinsoziologie könnte ich unschwer eine nicht geringe Anzahl von Persönlichkeiten nennen, mit denen ein solcher Diskurs durchaus auch mit praktischen Konsequenzen geführt werden konnte. Ich beschränke mich hier auf drei Namen: Kisker (Handbuch der Sozialmedizin), Pflanz (Kom­ mission zur Weiterentwicklung der Sozialen Krankenversicherung), Jesdinsky (Gesundheitsberichterstattung). Vermutlich begegnet man solchen Persönlichkeiten leichter, wenn man als Soziologe in der

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4. Welchen Stellenwert hat der primäre Zugang zu den ges. Tatsachen?

Diaspora arbeitet (an der Technischen und an der Medizinischen Hochschule in Hannover, an der Medizinischen Fakultät in Düssel­ dorf)!? Die Erforschung gesellschaftlicher Tatsachen auf phänomenolo­ gischer Grundlage ist freilich keine Veranstaltung eines soziologi­ schen Oberseminars oder eine gepflegte Diskussionsrunde, wie sie auf Kolloquien und workshops anzutreffen ist. Die Beziehung zur Praxis und – wenn sie gelingt – die antizipatorische Einbeziehung der Wirksamkeit von Forschungsergebnissen ist für den phänomeno­ logischen Ansatz unverzichtbar; nur auf diesem Wege ist der Zugang zur primär erfahrenen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu gewinnen. Die Wege der Diffusion soziologischer Erkenntnisse in die Praxis hat die erste Nachkriegsgeneration der Soziologen sich erst allmählich erschlossen und die darin aufgegebene Problematik nach meinem Eindruck in trügerischer Selbstgewißheit lange unterschätzt. Der Vorschußkredit an Akzeptanz, der den Soziologen bis in die 70er Jahre hinein entgegengebracht wurde, hat darüber hinweggetäuscht, daß soziologische Erkenntnis nicht aus sich selbst heraus wirkt. So habe ich selbst viele Signale, die mich hätten nachdenklich stimmen müs­ sen, erst sehr spät angemessen eingeschätzt. Hierfür zwei Beispiele. Die Göttinger Hochschullehrerstudie (Plessner 1956) war als ein Beitrag zur Reform der Universitäten nach dem Dritten Reich ange­ legt; sind die »deutschen Universitäten«, wie es damals von konserva­ tiver Seite (Hermann Heimpel) behauptet wurde, »im Kern gesund« geblieben? Eines Tages erschien eine Abordnung der Medizinischen Fakultät der Georg August Universität, um Plessner aufzufordern, die Interviewerhebung einzustellen. Die aktuellen Erhebungen der Untersuchung, die dem neu gegründeten Wissenschaftsrat dienen sollten, wurden auf dessen Anweisung vom Statistischen Bundesamt wiederholt, weil der Wissenschaftsrat sich auf die Untersuchungen eines Soziologischen Seminars nicht glaubte stützen zu dürfen, um seine Reputation nicht zu gefährden. Daß die Reform der westdeut­ schen Universitäten sich dann aus ganz anderen Quellen speiste als aus einer naiven rationalistischen Überschätzung soziologischer Forschungen, wissen wir inzwischen alle – nur sollte man sich darüber Rechenschaft ablegen, daß die in die soziologischen Forschungen »Zur Lage der deutschen Hochschullehrer« (und in gleichzeitige, ähnlich gerichtete Untersuchungen, z. B. Gebhardt 1967; Pöhler 1968) investierten Reformerwartungen naive Projektionen waren. Für mich persönlich bedeutete es eine große Überraschung, daß wenigstens

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die wissenschaftliche Investition nach fast vier Jahrzehnten auf einer inzwischen gereiften methodischen und theoretischen Grundlage nicht gänzlich vergebens gewesen ist (Schmeiser 1994). Das »Handbuch der Sozialmedizin« (3 Bde., Stuttgart 1975– 1977) sollte die Versuche der Deutschen Forschungsgemeinschaft, »Sozialmedizin und Epidemiologie« zu fördern, aber auch die gesund­ heitspolitischen Absichten, die das BMFJG mit der Gründung des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie beim Bundesgesund­ heitsamt verfolgte (Gesundheitsbericht 1971), von seiten der Wissen­ schaft unterstützen und für diese Arbeitsgebiete eine methodische und theoretische Orientierung schaffen. Wir, die Herausgeber, waren der Überzeugung, daß die Präsentation einer noch weitgehend unbe­ kannten, aber innovationshaltigen Dimension des Wissens, vor allem seiner interdisziplinären Bezüge und Verflechtungen dazu beitragen würde, auch die institutionellen Bedingungen für Sozialmedizin, Medizinsoziologie, Epidemiologie und – in enger Verbindung mit diesen – für Medizinische Statistik und Gesundheitsökonomie, und sei es auch nur in der Planung, zu schaffen. Die schlichte Nichtbeach­ tung des opus in der scientific community war bemerkenswert, die Unkenntnis über dieses Handbuch unter den Sozialmedizinern, die 10 bis 15 Jahre danach die soziale Dimension der Medizin aufs neue für sich entdeckten, stimmt nachdenklich. Wissenschaftspolitisch und -organisatorisch und dazu noch gegen den Strom biomedizinischer Orientierung und Spezialisierung bewirkt man eben nichts mit ratio­ nalen Argumenten. Bemerkenswerte, aber erfolgreiche Parallelen aus der gleichen Zeit des Ausbaus der Wissenschaften in der Bundesrepublik sind die Arbeitsmedizin, die Medizinische Statistik und die (Sozial-)Psychi­ atrie, die sich in der gleichen Epoche gut etabliert haben – allerdings ohne den auch hier naheliegenden Anspruch auf Interdisziplinarität und mit dem Rückenwind gesellschaftlicher Nützlichkeit und dem­ entsprechender Professionalisierung (Arbeitssicherheitsgesetz 1973, Psychiatrieenquête 1974, Arzneimittelgesetz 1977). Ob die Public Health-Initiative seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre den Durch­ bruch zur Synergie von Medizin und Sozialwissenschaften bringen wird, wäre hinsichtlich der (Miß)Erfolgsbedingungen zu untersuchen. Diese Initiative ist ebenfalls ein Test auf fakultätsübergreifende Inter­ disziplinarität und auf Praxisbezug im Gegensinne zu einem an den Universitäten übermächtigen Trend zu Spezialisierung und Praxis­ ferne, die der universitären Karriere der Forscher dienlicher sind.

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5. Praxisorientierung

Eine Wende, an der ich meine eigenen Fehleinschätzungen korrigiert habe, brachte das Programm »Humanisierung des Arbeits­ lebens«, dessen erster wissenschaftlicher Leiter der Projektträger­ schaft Pöhler war (1979; 1982). Aus der Zusammenarbeit mit Pöhler und als Vorsitzender des Fachbeirats zum HdA-Programm habe ich vieles zu den Umsetzungsdefiziten von wissenschaftlicher Forschung und den auf diesem Gebiet bestehenden Handicaps der Soziologie sowie zu deren Überwindung hinzugelernt. Erfahrungen, die ich in die Folgeunternehmungen wie den Untersuchungen zu den arbeits­ bedingten Erkrankungen, zu den Gesundheitszirkeln, zur Gesund­ heitsberichterstattung, zum Laienpotential, zur Patientenaktivierung und Gesundheitsselbsthilfe und zu den Gesundheitskonferenzen einbringen konnte. Worin kommt in diesen Untersuchungen ein gewandeltes und erfolgversprechenderes Verständnis für die Diffu­ sion soziologischer Erkenntnis in die »gesellschaftlichen Tatsachen« hinein zum Tragen?

5. Praxisorientierung Eine der wesentlichen grundbegrifflichen Unterscheidungen der Soziologie in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg ist die von Struktur und Funktion, insbesondere in der Formulierung, wie sie Merton für die Theorien mittlerer Reichweite vorgeschlagen hat. Sie bildet für die Untersuchung gesellschaftlicher Tatsachen ein hilfreiches theoretisches Werkzeug, weil sie für den soziologischen Zugang eine entscheidende Ausgangsfrage klärt: Gibt es Defizite der Struktur? dann bedarf es daher einer Strukturveränderung oder gar -erweiterung, oder gibt es Defizite in der Funktionserfüllung? dann müssen die Funktionen in gegebenen Strukturen aktiviert oder unter­ stützt werden, um gegebene Zustände und Prozesse zieladäquater zu entwickeln oder zu gestalten. Die Veränderung von Strukturen greift in der Regel in beste­ hende Machtverhältnisse ein, sie verändert die Einflußchancen von Gruppen. Die Entwicklung der sozialstaatlichen Dienstleistungssys­ teme in der Bundesrepublik, ihre Expansion auf der Basis volkswirt­ schaftlichen Wachstums wurde von soziologischer Seite in den 60er und 70er Jahren vornehmlich unter dem Struktur- und – eng damit verknüpft – unter dem Machtaspekt fokussiert: Demokratisierung des Bildungswesens, Demokratisierung der Hochschulen, Demokratisie­

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

rung des Sozialstaates, Demokratisierung des Gesundheitswesens etc. Wenn die mit öffentlichen Mitteln unterhaltenen, im öffentlichen Interesse handelnden Institutionen nicht den Erwartungen entspre­ chend arbeiten, dann liegt es an den verkrusteten Machtstrukturen, die im Wege der Demokratisierung und durch Partizipation aufge­ brochen und verändert werden müssen. Die Funktionsweise wurde einseitig als abhängig von der Struktur gesehen: Die soziologische Defizitanalyse ersetzt die Diagnose komplexer sozialer Dienstleis­ tungssysteme und überantwortet die Lösung dem Aushandeln neuer Machtkonstellationen unter den z. T. neu formierten, ja entstande­ nen Interessenten. Unsere Generation ist Tat- und Zeitzeuge, z. T. versteht sie sich auch als Opfer, einer permanenten Hochschulreform. Diese schiebt auf der Basis immer neuer Gesetze und Satzungen sowie deren stän­ digen Novellierungen die Machtkonstellationen, die Einflußzonen und am Ende nur noch Prestigesymbole hin und her und nimmt dabei die Funktionen, vor allem die Funktionsdienlichkeit der verän­ derten Strukturen, gar nicht mehr in den Blick. Es reizt schon zu einem homerischen Gelächter, wenn die »Qualität der Lehre«, die Evaluation von Lehrveranstaltungen und Forschungsleistungen um die Wende der 80er und 90er Jahre, also zwei Jahrzehnte nach der »kulturellen Wende« Ende der 60er Jahre, »entdeckt« wird. Sollte diese Entdeckung nicht längst durch die Gremien erfolgt sein, deren Persiflage inzwischen zu einer Literaturgattung geworden ist? Diese bedient sich vorzugsweise der Soziologie als Sujet – hier darf sie auf eine Erwartungshaltung der Leser zählen – trifft aber im Kern ein naives analytisches Vorverständnis der Soziologie von der verhandel­ ten Sache. Funktionen in Systemen zu aktivieren, sie neu zu orientieren oder gar zu gestalten, fordert der Soziologie einen anderen Zugang zu den gesellschaftlichen Tatsachen ab. Analytisch muß sie den Ent­ scheidungen und Routinen nachspüren, die das System letztlich kon­ stituieren, indem sie es im Alltag fortlaufend reproduzieren. Es gehört zu den grundlegenden Einsichten der Soziologie, daß die »Muster« der Entscheidungen und Routinen nicht den im System verordneten Regeln folgen. Die Erfahrungen aus den Hawthorne Experiments reproduzieren sich auch in den sozialstaatlichen Dienstleistungssys­ temen entsprechend der größeren Handlungsautonomie der Akteure mit einem bunteren Spektrum. Wer diese Entscheidungsprozesse und Routinen beeinflussen will, muß sie nicht nur offenlegen – die

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5. Praxisorientierung

methodischen Erfahrungen der Kulturanthropologie und der Ethno­ methodologie sind dabei von besonderem Nutzen – er muß auch Wege entwickeln, die Entscheidungen und Routinen zurückzuwerfen, sie als Spiegel der Realität offenkundig zu machen, um über Lernpro­ zesse Veränderungen zu bewirken. Der Soziologe ist in mehrfacher Hinsicht als Systemberater und -entwickler involviert. Da Systeme die Tendenz haben, sich nach außen abzuschotten, setzen der Feldzugang, vor allem aber das Offenhalten des Feldes nicht nur Vertrauenswürdigkeit, sondere auch Kompetenz zum Sys­ temmanagement voraus. In jedem Falle ist der Soziologe stärker in die ablaufenden Prozesse involviert, als nach den Modellen der Evaluationstheoretiker und -methodiker »erlaubt« ist. Nach meinem Dafürhalten sollten wir daher versuchen, unser Engagement positiv zu definieren, anstatt es als faulen Kompromiß zwischen methodi­ schen Standards, denen wir natürlich immer verpflichtet sind (die­ ses Bekenntnis kostet nichts), und den Verhältnissen abzuwerten, die »leider nicht so sind«. Wenn ich meine Erfahrungen aus der Sozialpolitik, aus der Sozialmedizin und Medizinsoziologie sowie neuerdings aus Public Health systematisieren sollte, würde ich vier Bausteine nennen, auf denen die Praxisorientierung ruht: –







die Sekundärdatenforschung, die die realen Entscheidungen und Routinen aufbereitet und auswertet, die primär für administra­ tive Steuerung dokumentiert werden (Sekundärdatenforschung spielt allerdings in den Methoden-Handbüchern der Soziologie eine nachrangige Rolle) die Entscheidungsprozeßforschung mit den Methoden der cul­ tural anthropology. Nur diese kann dazu beitragen, die in den Alltagsroutinen verschütteten und von Selbstdeutungen zuge­ deckten »patterns of behaviour« zu enträtseln, ihren, gerade den Akteuren selbst verborgenen Sinn zu entschlüsseln die Arbeit mit interdisziplinären und interprofessionellen Pro­ jektgruppen von Betroffenen und Beteiligten, von denen die Er­ gebnisse der Entscheidungsprozeßforschung aufgearbeitet und in Vorschläge und Empfehlungen umgesetzt werden die Evaluation der eingeleiteten Veränderungsprozesse.

Die methodischen und theoretischen Bausteine sind ersichtlich nicht aus einem Guß, sie sind ein hybrides Konglomerat von Instrumenten, um gesellschaftliche Tatsachen zu analysieren »als Ferment der Kritik und als Instrument der Freiheit«; Freiheit, hier wie bei Plessner

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

im Sinne der Aufklärung verstanden, gesellschaftliche Zwänge, die Lebenschancen verkümmern lassen, in gemeinsamer Arbeit aufzuhe­ ben.

6. Lehre in der Diaspora – Die »Lehrgestalt« der Bindestrichsoziologien Die Position zwischen den Fachwissenschaften und die Nähe zu einem gesellschaftlichen Kontext fordern ihren Preis. Soziologie als »Neben­ fach«, als »soziologische Dimension« in einer Fachwissenschaft muß um zwei Überlebensbedingungen kämpfen: –



um einen Platz im Curriculum in der Ausbildung zu dem Beruf, für den der gesellschaftliche Kontext neben den »Kernfächern« außerdem wichtig ist – meist stellt sich die Einsicht in die Rele­ vanz der Soziologie, wenn überhaupt, erst nach dem Studium ein, und um die Aufrechterhaltung der Beziehungen zum Forschungs­ stand in der Soziologie selbst.

Es war sicher eine günstige Konstellation meiner Generation, daß sie eine breite und relativ lange Phase der eigenen Orientierung zur Soziologie hin und in der Soziologie selbst durchlaufen hatte, ehe sie sich der gesellschaftlichen Tatsachenforschung zugewandt hat. Von Hannover aus – meiner ersten Station als Professor – habe ich bewußt weiterhin Lehraufträge in Göttingen und Hamburg wahrgenommen, um soziologisch nicht einzutrocknen. Sicher war es in dieser Hinsicht wichtig, vor meinem »hauptamtlichen« Enga­ gement in der Medizinsoziologie fast zehn Jahre an einer Soziologi­ schen Fakultät zu lehren. Aus dieser Erfahrung heraus würde ich es für gut halten, wenn auch vermutlich schwer zu realisieren, daß Soziologen, die die soziologische Dimension in einem anderen Fach­ bereich vertreten, Gelegenheit bekämen, für einige Jahre wieder an einen soziologischen Fachbereich zurückzukehren. Dieser geplante Wechsel läge vermutlich auch im Interesse der Soziologiestudenten im Hauptfach, Arbeitsbereiche während ihres Studiums authentisch und fundiert kennenzulernen, in denen sie möglicherweise später beruflich tätig werden. Lehre in der Diaspora ist allerdings ein heilsames Training, um die Relevanz und den Gehalt soziologischer Begrifflichkeit und der

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6. Lehre in der Diaspora – Die »Lehrgestalt« der Bindestrichsoziologien

empirischen Methoden für sich selbst zu überprüfen. Der Zwang, sich für Nichtsoziologen verständlich auszudrücken, schleift Soziolo­ gismen ab und reduziert die Verwendung von Fachausdrücken auf das unbedingt Notwendige. Die Vorgehensweise in den Lehrveranstal­ tungen ist notwendigerweise problemorientiert. Zunächst müssen die Probleme auf den Tisch, für deren Bearbeitung die Soziologie hilfreich sein kann. Dieser Schritt erleichtert die hierauf aufbauende Vorstellung soziologischer Methoden und Begriffe. Der eigentlich notwendige nächste Schritt allerdings, Begriffe und Methoden aus der Soziologie heraus zu begründen, ihre Reichweite und Anwendungs­ möglichkeiten zu diskutieren, fällt in der Regel dem geringen curricu­ laren Entfaltungsspielraum der Soziologie als Nebenfach (der geringe »Curricularwert«) und – dadurch mitbedingt – dem mangelnden studentischen Interesse zum Opfer. Seminare mit anspruchsvollen Themen bleiben auf den Kreis der Mitarbeiter oder auf gemeinsame Veranstaltungen mit Kollegen beschränkt. Angesichts des Interesses mancher Fachbereiche, die Soziologie im Nebenfach durch Angehörige ihrer eigenen Zunft vertreten zu lassen, die sich eine Zusatzqualifikation in Soziologie (auf welchem Wege und mit welchem Ergebnis auch immer – zu der Qualifikation wären eigentlich die Fachgesellschaften gefragt!) erworben haben, stellt sich die berechtigte Frage nach der Zukunft der Soziologie als Nebenfach in der Lehre, aber auch nach der Perspektive soziologischer Tatsachenforschung an den Universitäten. Die Tendenz zur Auswan­ derung an außeruniversitäre Institute ist unübersehbar. Unabhängig von der Professionalisierung der Soziologie als Nebenfach stellt sich die Frage nach der »Lehrgestalt« der BindestrichSoziologien. Der einfache Weg, wie die Verlage es sich vorstellten, ein »prominenter« Vertreter des (Neben)Faches schreibt ein Lehrbuch, entspricht – wenn ich meine Erfahrungen in der Sozialmedizin/Medi­ zinsoziologie resümiere – weder der curricularen Plazierung des Faches noch – damit natürlich zusammenhängend – den Bedürfnissen der Studierenden. Den »intensivsten Lehrerfolg« habe ich schließlich mit meinen »Materialien« für »Prep-Kurse« in Vorbereitung auf die mündlichen Prüfungen in der Ärztlichen Vorprüfung, dem sogenann­ ten Physicum, gemacht. Diese Prep-Kurse hatte ich eingerichtet, um überhaupt eine »einvernehmliche« Wissensgrundlage für das inter­ kollegiale Prüfungsgespräch vorgeben zu können, »Lehrgestalt« als »Erste Hilfe« zur Prüfungsvorbereitung also. Eine Aufsatzsammlung in der Reihe rororo Studium (Der kranke Mensch in der Gesellschaft,

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

gemeinsam mit L. von Ferber) erwies sich ebenso als eine Fehlein­ schätzung wie ein Lehrbuch »Soziologie für Mediziner« (1975). Ein Vorlesungsskript, das jedes Semester gegen eine Schutzgebühr an die Hörer in Köln und Düsseldorf verteilt wurde, hat auf diese Weise sicher eine weite Verbreitung erlangt, die Studierenden von dem Mitschreiben entlastet, aber mehr Nutzen hat es vermutlich nicht gestiftet. Am einleuchtendsten für die Dissemination der »soziologischen Dimension« in der Medizin erschienen mir problemorientierte, mul­ tidisziplinär erstellte Materialien für integrierte, also nicht einzelwis­ senschaftlich organisierte Lehrveranstaltungen, die von mehreren vom verhandelten Problem unmittelbar angesprochenen Fächern getragen und verantwortet werden – sie sind i. B. an der Harvard Medical School in Gebrauch. Sie haben den großen Vorteil, daß sie im interkollegialen fachübergreifenden Diskurs entstehen und erfahrungsorientiert fortgeschrieben werden können. Aufgrund der unglückseligen Verzahnung von Stellenzuweisung und Ressourcen­ zuteilung nach Fachgliederung und Lehrdeputat einerseits und der Unterbewertung der Lehre in der Karriereplanung der Hochschulleh­ rer in Deutschland andererseits haben solche Vorschläge m. E. keine Chance. Oft habe ich mich gefragt, welchem Zweck eigentlich die im Zuge der Reformbewegung in den 70er Jahren eingerichteten hochschuldidaktischen Zentren dienen, wenn solche elementaren Anforderungen von ihnen nicht unterstützt werden. Fazit: Die Lehrgestalt der Nebenfach-Soziologien kann die Strukturprobleme des deutschen Hochschulunterrichts ebensowenig lösen wie die hochschuldidaktischen Zentren der 70er Jahre oder die Programme zur »Qualifizierung der Lehre«, wie sie sich wohl­ meinende Ministeriale ausdenken. Die Situation, die sich mir wie­ derkehrend in den entsprechenden Kommissionen auf Fakultätsund Universitätsebene dargestellt hat, war für mich ein Anschau­ ungsunterricht zu dem Bonmot von Simon, dem Vorsitzenden des Wissenschaftsrates: »Die deutsche Universität ist nicht mehr im Kern gesund« – der »Glaube an die Gesundheit im Kern« war das Trost- und Hoffnungswort, mit dem man sich nach 1945 zu ersparen gedachte, das Versagen der deutschen Universität unter dem Nationalsozialis­ mus weniger für sich selbst als für die Zukunft aufzuarbeiten – »sie ist im Kern vermodert!«.

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7. Das Ehrenamt – Politisches Engagement intra et extra muros

7. Das Ehrenamt – Politisches Engagement intra et extra muros Für Angehörige meiner Generation bedeutet das Engagement in der praktischen Politik intra et extra muros eine Selbstverständlichkeit. Die Mitarbeit in der Akademischen Selbstverwaltung habe ich selbst dann noch als eine »Dienstpflicht« übernommen, als solche Aufgaben sich zunehmend ad absurdum zu führen begannen, zur »geplanten Zeitverschwendung« wurden. Ein Trost für mich auf diesem Holz­ wege war das Wort Max Webers über die »Paradoxiepolitischen Han­ delns« ... »Aber deshalb darf dieser Sinn, der Dienst an einer Sache, doch nicht etwa fehlen, wenn anders das Handeln inneren Halt haben soll« (Weber 1958, S. 535). Ermutigender, wenn auch nicht frei von wiederkehrenden Zwei­ feln an der Wirksamkeit solchen Engagements, war die Mitarbeit in Kommissionen der Bundesministerien (BMA, BMFJG und BMFT), bei der DFG (Sozialmedizin und Medizinische Epidemiologie), beim DGB (Soziale Selbstverwaltung und WSI-Studie zur Gesundheits­ sicherung), bei der Robert Bosch Stiftung (Krankenhausfinanzierung und Murrhardter Kreis) und derzeit bei der Bundesärztekammer (Zentrale Ethikkommission). Den für mich mit diesen Aktivitäten verbundenen eigenen Lernerfolg kann ich gar nicht hoch genug einschätzen. Wer als Soziologe Politikberatung als einen wesentlichen Teil seiner Berufsaufgabe ansieht, kann nach meinem Eindruck nur durch die Mitarbeit in interdisziplinär und interprofessionell zusam­ mengesetzten Gremien lernen, die an aktuellen Problemen arbeiten. Ich habe während der vergangenen drei Jahrzehnte viel gelernt, mit Konflikten und Niederlagen umzugehen, wie man soziologische Argumente einbringt, seine Unabhängigkeit wahrt, aber auch über politische Entscheidungsprozesse, den Einfluß von Verbänden, politi­ schen Parteien und von einzelnen Persönlichkeiten als Sprecher und Funktionär organisierter Interessen sowie – nicht zu vergessen – über die verhandelte Sache selbst. Neben der Forschung war es die Mitarbeit in den genannten außeruniversitären Gremien, die mir meine Identität als Soziologe vermittelt und widergespiegelt, ja gegeben haben, während ich mich zunehmend gegenüber der Universität entfremdet, auch gegenüber der eigenen Zunft distanziert sah und habe.

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

8. Die Zukunft ist Vergangenheit (De toekomst is verleden tijd, Fred Polak 1946) Was können wir über die Zukunft der »Erforschung der gesellschaft­ lichen Tatsachen«, über den zukünftigen Status der »soziologischen Dimension der Fachwissenschaften« aus der Vergangenheit lernen? Bei einem solchen Versuch dürfte es in einem ersten Schritt darum gehen, verständliche Gründe dafür anzugeben, warum gut begründete und zielorientiert angelegte Versuche, in den Fachwissenschaften die Bindestrichsoziologien auf Dauer zu beheimaten, nicht den erwarte­ ten Erfolg gebracht haben: Verständliche Gründe für die Unverständ­ lichkeit des Scheiterns anzugeben oder – mit Merton zu sprechen – »strategische Erkenntnisse aus unerwarteten Entdeckungen« zu gewinnen. Was sagt uns das »serendipity pattern« Mertons (1957), wenn wir es auf den Weg der Soziologie als gesellschaftliche Tatsa­ chenforschung anwenden? Aus meinen Erfahrungen möchte ich mich hier auf Medizini­ sche Soziologie, Sozialmedizin und Public Health (Gesundheitswis­ senschaft) beschränken. Sie sind nach meinem Eindruck der am weitesten über die Grenzen von Einzeldisziplinen und benachbarten Fachbereichen hinausgehende Versuch, Soziologie und naturwissen­ schaftlich/biomedizinische Anwendung von Wissenschaft zu beider­ seitigem Nutzen miteinander zu verbinden, die vielberedeten Syn­ ergieeffekte einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit einzufahren. Vielleicht handelt es sich dabei sogar um den anspruchsvollsten Ver­ such, die »soziologische Dimension der Fachwissenschaften« zu ent­ falten. Die ersten Ansätze gehen bereits auf die Mitte der 60er Jahre zurück. Das erste Institut für Sozialmedizin wurde 1967 an der Medi­ zinischen Hochschule Hannover gegründet, nachdem bereits 1966 die Soziologie in das Lehrprogramm des ersten Studienjahrgangs dieser neugegründeten Reformhochschule aufgenommen war. Wir überblicken also heute für die Institutionalisierung der soziologischen Dimension in der Medizin drei Jahrzehnte. Anlaß für die Imple­ mentation waren die Reformen der 60er und 70er Jahre: Reform­ hochschulen (Hannover und Ulm) und die erste Gesundheitsreform 1968–1972 (in diese Jahre fallen grundlegende Gesetze zur Reform und Aufgabenerweiterung der Gesetzlichen Krankenversicherung, vgl. Gesundheitsbericht 1971). Die Implementierung erfolgte nicht konzentrisch, sondern multizentrisch – strategisch gesprochen –

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8. Die Zukunft ist Vergangenheit (De toekomst is verleden tijd, Fred Polak 1946)

in der Form von Brückenköpfen in den verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens: in der Hochschulmedizin an den Medizi­ nischen Fakultäten (Einführung der Fächer Medizinsoziologie und Sozialmedizin im Rahmen der »Ökologischen Fächer«), im Öffentli­ chen Gesundheitswesen (Gründung des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie des Bundesgesundheitsamtes), in der Gesetzli­ chen Krankenversicherung (Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung, Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen). Wegen des hohen Drittmittelbedarfs epidemiologischer Forschung waren diese Gründungen flankierend unterstützt von Forschungspro­ grammen der DFG (Medizinische Epidemiologie und Sozialmedizin; Medizinische Soziologie), des BMFT (Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit; Humanisierung des Arbeitslebens). Die Mittel, die in jener Zeit für Forschungsprojekte dieses aufkei­ menden Wissenschaftsbereichs zur Verfügung gestellt wurden, sind unter Berücksichtigung des inflationären Verfalls der Forschungs-DMark wesentlich größer als das, was heute nach einem Vierteljahr­ hundert unter dem neuen Etikett »Public Health« zur Verfügung steht! Allein für die Hessen-Studie des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie des BGA, die repräsentative Daten über die Morbidität und die Versorgung der Bevölkerung unter besonderer Berücksichtigung chronischer Krankheiten erbringen sollte, wurden 40 bis 60 Mill. DM während vier Jahren ausgegeben. Warum haben diese zielgerichteten und dem damaligen Stand des Wissens über Strategien der Forschungsförderung durchaus entsprechenden Implementationen keinen kumulativen Erkenntnis­ prozeß im Sinne Mertons eingeleitet? Was haben die Soziologen versäumt oder verkehrt gemacht? Was können wir für die Zukunft aus dem Mißerfolg lernen? Die »multizentrisch« angelegte, auch unter den Forschungsför­ derern kaum abgestimmte Entwicklung des Fachbereichs: Epidemio­ logie, Sozialmedizin, Medizinsoziologie, Gesundheitspolitik in der und für die Medizin hat unter den an diesem Forschungsunternehmen beteiligten Wissenschaftlern zu keinem gemeinsamen Verständnis über die Sache geführt. Konkurrenzdenken und monodisziplinäre Profilierung bis hin – in völliger Verkennung des zu erschließenden Potentials – zur Gründung eigener Fachgesellschaften beherrschen bis heute das Feld. Die Soziologie, seit ihrer Traumatisierung im Zuge der 68er Bewegung in sich heillos zerstritten, konnte noch nicht einmal als gemeinsames »Feindbild« einen fächerübergreifen­

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

den Konsens, geschweige denn eine Kooperation zwischen Sozialwis­ senschaften und Medizin herbeiführen. Belastet wurde die Zusam­ menarbeit überdies durch die der soziologischen Orientierung (der sozialen Dimension in der Medizin) angesonnene Fundamentalkritik der Medizin und der ärztlichen Ausbildung – diese Rollenübernahme lag nahe, war doch die Aufnahme der Medizinischen Soziologie und der Sozialmedizin in den Fächerkanon der Medizinischen Fakul­ täten ein Ergebnis der Studienreform. So verstellte die hochschulin­ terne Perspektive (die »Nabelschau«) den Blick auf die gemeinsame Sache, die es allererst gemeinsam zu entdecken galt. Denn in der Herausforderung, die Anwendungsorientierung des zu entwickeln­ den Forschungsbereichs als gemeinsame Aufgabe zu formulieren, lag letztendlich der Schlüssel zu einem gemeinsamen, die Forschungsdis­ ziplinen übergreifenden Verständnis und damit zum Erfolg. In dieser Herausforderung, an einer gemeinsamen Gestaltungs­ aufgabe sich als ein Wissenschaftsbereich zu entwickeln und zu profilieren, unterschied sich die Situation der Sozialmedizin und ihrer Bereichsfächer in den 60er und 70er Jahren von der ihrer Vorläufer, der Hygiene und Sozialhygiene vor 1933. Die großen Sammelwerke von M. Mosse und G. Tugendreich (1913) und von Adolf Gottstein, Arthur Schloßmann und Ludwig Teleky (1925–1927) waren dem Ziel verpflichtet, eine soziale Gesundheitssicherung für die arbeitende Bevölkerung aufzubauen, so wie es das Soziale Grundrecht auf Gesundheit der Weimarer Reichsverfassung eingefordert hatte (Chr. von Ferber 1971). Unter diesem sozialpolitischen Ziel fanden sich die zum Bereich der Sozialhygiene gehörenden Disziplinen seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zusammen. Dieses Ziel war in den 50er Jahren erreicht. Auf dem Programm stand jetzt die Weiterentwicklung des bestehenden, allerdings – gesundheitspolitisch gesehen – sekto­ ral aufgesplitterten Gesundheitssystems (Gesundheitsbericht 1971). Gesundheitssicherung als gesellschaftspolitische Aufgabe war inzwi­ schen zum Gegenstand eines hochdifferenzierten Systems geworden: Kassenärztliche Versorgung, Krankenhausversorgung, Öffentliches Gesundheitswesen, Finanzierung über die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung und über die Sozialhilfe, Finanzautonomie der Krankenkassen, Soziale Selbstverwaltung durch Arbeitgeber und Gewerkschaften, eine Vielzahl von Sozialleistungsträgern und Inter­ essenorganisationen etc.

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Gerade die neuen Aufgaben, die auch international gesehen eine Modernisierung des Gesundheitssystems erforderten, waren ord­ nungspolitisch auf die verschiedenen Zweige verteilt ohne ein gemeinsames Konzept – zu dieser Aufgabe war eigentlich die Wis­ senschaft gefordert, Ideen einzubringen. So wurden die Psychiatrie­ reform, die Prävention, die Reform der Finanzierung der Kranken­ hauswirtschaft, die Rehabilitation sowie – in organisatorischer Hinsicht – die Entwicklung von Steuerungselementen für die unter dem warmen Regen des wirtschaftlichen Wachstums expandierende Gesundheitswirtschaft inkremental irgendwie angepackt. Eine wis­ senschaftliche Unterstützung und Konzeptentwicklung leisteten nicht die Universitäten, sondern die Gewerkschaften (WSI Studien Nr. 20, 35, 60, 63 u. a.). Eine Ausnahme bildet die Psychiatriereform. Sie hatte vermut­ lich deswegen Erfolg, weil der Brückenschlag zwischen Hochschul­ psychiatrie und Sozialadministration gelang und ein Einvernehmen über die sozial- und gesundheitspolitischen Ziele hergestellt wer­ den konnte. Obwohl die Soziologie weltweit zur Reform der psychi­ atrischen Versorgung beigetragen hat, ist dieser »Erfolg« den Haupt­ fachsoziologen in der Regel unbekannt. Auf die gesellschaftspolitische Herausforderung, Ideen zu einer Weiterentwicklung sozialer Dienstleistungssysteme zu generieren und politisch tragfähige Konzepte für Zukunftsaufgaben wie Prä­ vention, Rehabilitation, Gesundheitsförderung, Selbsthilfeunterstüt­ zung, Qualitätssicherung und Systemmanagement zu entwickeln, war die deutsche Nachkriegssoziologie schon von ihrem Ansatz und ihrem Selbstverständnis her gesehen schlecht vorbereitet. Wenn die gesellschaftspolitischen Aufgaben in der Weiterent­ wicklung von differenzierten sozialen Dienstleistungssystemen lie­ gen, dann gehören zur wissenschaftlichen Politikberatung elemen­ tare Kenntnisse der Systeme Sozialer Sicherheit. Die Soziologie hat sich der Sozialpolitik von Ausnahmen abgesehen verweigert. Das Angebot von Achinger auf dem Soziologentag 1959 (Soziologie und Sozialreform) wurde nicht verstanden (Pausengespräch: »Was soll uns dieser Vortrag?!«). Das Sonderheft der Kölner Zeitschrift »Soziologie und Sozialpolitik« (18 Jahre später! herausgegeben von Kaufmann und Chr. von Ferber) war ein Spätzünder und blieb folgen­ los. Die in der zweiten Hälfte der 70er Jahre gegründete Sektion in der DGS – auch ein Spätentwickler – beschäftigt sich mit allen möglichen Themen, jedoch nicht mit den aktuellen und konkreten

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

Fragen der Weiterentwicklung des Systems Sozialer Sicherheit. Die Verbindung zu praxisnahen Instituten, wie z. B. dem Wissenschaftli­ chen Institut der Ortskrankenkassen, riß nach dem frühen Unfalltod seines ersten Leiters, Ulrich Geißler, ab. Der soziologische Beitrag zur Weiterentwicklung des Gesundheitssystems beschränkte sich daher auf die Sachverständigen- und Beraterrolle in den Gremien des BMA, des BMFT und des DGB und verteilte sich auf wenige Schultern. Daher hinterließ der Tod von Geißler und Pflanz kaum zu schließende Lücken. Eine Brücke zwischen den gut ausgestatteten Instituten, die eine praxisnahe Auftragsforschung trieben (Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie des BGA, Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung und Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen), und der universitären Forschung wurde zu beiderseitigem Schaden nicht geschlagen. Den Hochschulinstituten fehlte die Praxisnähe, den anwendungsorientierten Instituten, die eine an Interessenorgani­ sationen gebundene Auftragsforschung betrieben, ging schrittweise die wissenschaftliche Unabhängigkeit verloren bis hin zur Sprach­ losigkeit. Die soziologische Dimension von Medizin und Gesund­ heitspolitik löste sich in eine Landschaft von Inseln auf, zwischen denen der Schiffsverkehr infolge von Treibstoffmangel und Windstille eingestellt wurde. Reformen haben in der Regel auch für die Wissenschaft »ihre Zeit« im Sinne des Kairos oder des Mondfensters. Die erste Gesund­ heitsreform der 70er Jahre, die auf die Modernisierung und den Ausbau des Gesundheitssystems gerichtet war, ging in den 80er Jahren mit einem suboptimalen Beitrag der Soziologie zu Ende. Seit Mitte der 80er Jahre steht die Konsolidierung, seit Anfang der 90er der Umbau des Gesundheitssystems und die Neuorientierung der Sozialsysteme, die es finanzieren, auf der Tagesordnung. Die Strukturprobleme der Forschung, die die neue Wende in der Sozialund Gesundheitspolitik wissenschaftlich vorbereiten, begleiten und unterstützen sollten, sind allerdings die gleichen geblieben. Sie sind nur durch ein abgestimmtes Vorgehen in der Forschungsförderung und in der scientific community erfolgreich anzugehen. Zur Erläute­ rung möchte ich hier nur stichwortartig die wichtigsten nennen: – –

die gegenseitige Akzeptanz von Soziologie und Biomedizin die Berührungsängste der sozialpolitischen Institutionen und der Sozialleistungsträger gegenüber der Wissenschaft. Keiner von ihnen möchte eigentlich die Transparenz, die die Wissen­

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8. Die Zukunft ist Vergangenheit (De toekomst is verleden tijd, Fred Polak 1946)

– –

schaft ihnen mit »Gesundheitsberichten« verspricht, weil sie das Wissen über sich selbst dann mit anderen teilen müssen und mögliche Konsequenzen nicht länger wie bisher durch Informa­ tionssperre beherrschen können der hohe Drittmittelbedarf öffentlich überzeugungsfähiger For­ schungsprojekte. Er ist nur über langfristig und zielorientiert angelegte Förderungsprogramme zu decken die Inkompetenz der Soziologie in der Sozial- und Gesundheits­ politikberatung.

Unter welchen Bedingungen könnte die Soziologie sich in diesen Prozeß einbringen? Wie kann sie Forschungsergebnisse produzieren, die eine informierte Politik unterstützen? Wie kann sie zugleich deren selektiver Nutzung entgegenwirken? Wie kann sie Wissensbestände im Sinne einer anwendungsbezogenen Grundlagenforschung entwi­ ckeln, die es ermöglichen, aktuelle Fragen der Politik mit längerem Atem und größerem Vorlauf zu beantworten? Fragen, die sich am Ende dieses Beitrages nicht mehr beantwor­ ten lassen. Ich beschränke mich hier darauf, auf vier erste Schritte einer denkbaren Strukturbildung hinzuweisen. a)

b)

c) d)

Das System Sozialer Sicherheit muß ein fester Bestandteil der Ausbildung und der Fortbildung in der Soziologie bilden. Dabei kommt der didaktischen Aufbereitung in der interdisziplinären Kooperation mit Ökonomen und Juristen sowie mit Vertretern der sozialpolitischen Praxis eine herausragende Rolle zu. Sozial- und Gesundheitspolitik müssen als prozeßgestaltende Elemente der gesellschaftlichen Entwicklung begriffen und ana­ lysiert werden. Hierfür bietet die Geschichte der europäischen Wohlfahrtsgesellschaften, aber auch die Deutschlands, ein rei­ ches Anschauungsfeld, das bisher allererst durch Pionierunter­ suchungen aufgeschlossen wurde, und das dringend einer multiund interdisziplinären Bearbeitung bedarf. Sozialpolitikberatung, ihre aktuellen Themen, ihre Möglichkei­ ten und Grenzen gilt es als ein zentrales Thema von Forschung und Lehre zu entwickeln. Das Instrument der Verbundforschung, bei der unter einem die Einzelprojekte übergreifenden Thema mehrere Forschergruppen arbeitsteilig, einander ergänzend und in methodischen Fragen sich gegenseitig unterstützend zusammenarbeiten, muß als ein Standardangebot der Soziologie in der anwendungsorientierten

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

Forschung gelten (vgl. Forschungsverbund Laienpotential 1987). Die herkömmlichen Qualitätskriterien, unter denen Forschungs­ projekte beurteilt werden, müssen in dieser Richtung weiterent­ wickelt werden. Die Konsequenzen, die sich aus diesen vier strukturbildenden Schrit­ ten für die Organisation von Lehre und Forschung in der Soziologie ergeben, liegen auf der Hand. Soziologie muß sich ausdrücklich wieder zu ihrer Funktion als Anwendungswissenschaft (Nippert, Pöhler, Slesina 1991) nicht nur bekennen, sondern diese Funktion auch bei sich ausbilden und weiterentwickeln. Anderenfalls wird sich die ohnehin bereits abgebrochene Brücke zwischen Soziologie und ihrer wissenschaftspolitischen Aufgabe, die soziologische Dimension der Fachwissenschaften zu entfalten, nicht wieder aufbauen – zu beiderseitigem Schaden.

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106 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Literaturverzeichnis

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Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie?

P1essner, H.: Soziale Rolle und menschliche Natur (1960). In: Gesammelte Schrif­ ten. Bd. LX. Frankfurt am Main 1985, S. 227–249. Plessner, H.: Der Weg der Soziologie in Deutschland. In: Ders.: Diesseits der Uto­ pie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie. Düsseldorf/Köln 1966, S. 36– 54. Pöhler, W.: Auslese und Förderung. Göttingen 1968. Pöhler, W: Information und Verwaltung. Stuttgart 1969. Pöhler, W. (Hrsg.): »... damit die Arbeit menschlicher wird.« 5 Jahre Aktionspro­ gramm Humanisierung des Arbeitslebens. Bonn 1979. Pöhler, W., Peter, G.: Erfahrungen mit dem Humanisierungsprogramm. Von den Möglichkeiten und Grenzen einer sozial orientierten Technologiepolitik. Köln 1982. Pöhler, W.: Arbeit und Subjekt. In: Nippert, R. P., Pöhler, W, Slesina, W: (Hrsg.): Kritik und Engagement. Soziologie als Anwendungswissenschaft. München 1991, S. 75–85. Pöhler, W.: Die Bedeutung situativer Analysen für die Arbeitsgestaltung. In: Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik. 1. Jg. 1991, S. 45–63. Schelsky, H.: Ortsbestimmung der deutschen Soziologie. Düsseldorf/Köln 1959. Schmeiser, M.: Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal des Professors und das Schicksal der deutschen Universität 1870–1920. Eine verstehend soziologische Untersuchung. Stuttgart 1994. Siberski, E.: Untergrund und offene Gesellschaft. Stuttgart 1967. Strzelewicz, W.: Der Kampf um die Menschenrechte. Stockholm (schwedisch) 1943, Hamburg (deutsch) 1947. Strzelewicz, W. (Hrsg.): Das Vorurteil als Bildungsbarriere. Göttingen 1965. WSI-Studien: Nr. 20 Die Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1971. Nr. 35 Sozialpolitik und Selbstverwaltung. Köln 1977. Nr. 60 und 63 Der solidarischen Gesundheitssicherung die Zukunft. Köln 1987 und 1988.

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Der Emigrationsverlust 1931 auf 19381

A. Methodische Einschränkungen Eine eigene Untersuchung wurde den Emigrationsproblemen nicht gewidmet, sie hätte, ausgehend von der Personalkartei, eine Verfol­ gung jedes einzelnen Falles erfordert, Sie war im Rahmen des Unter­ suchungsprogrammes nicht zu leisten. Gleichwohl bringt der Ver­ gleich des im W.S. 1931/32 erfassten Personenkreises mit denen der folgenden Stichjahre der Untersuchung (1938/1949/1953) die Schwerpunkte des Emigrationsverlustes und der Wiedergutmachung nach dem Kriege innerhalb statistischer Relationen deutlich zum Vor­ schein. Dieser Bestandsvergleich enthält zwar zugleich auch den ›natürlichen‹ Abgang durch Tod oder normalen Wechsel des Tätig­ keitsfeldes innerhalb/ausserhalb der Universität (in erster Linie Mediziner), doch lässt sich diese Fehlerquelle bis zu einem gewissen Grade durch entsprechende Gruppierung der Zählungen eingrenzen. ›Tabellarisch‹ zusammengefasst: Unsere Untersuchung ist un­ vollständig in der Erfassung folgender Gruppen von Hochschulleh­ rern, die aus politischen oder rassischen Gründen von einer Lehr- und Forschungstätigkeit im 3. Reich an den von uns erfassten Hochschu­ len ausgeschlossen wurden; im einzelnen sind dies: a) b) c) d)

1

Hochschullehrer, die sich nach dem Ende S.S. 1931 habilitiert haben, vor 1938 aber bereits wieder ausscheiden mussten. Hochschullehrer, die 1931 zum Lehrkörper gehörten, aber erst nach 1938 (bis Kriegsende) die Hochschule verlassen mussten. Der wissenschaftliche Nachwuchs, der nicht mehr zur Habilita­ tion oder zu einem Lehrauftrag gelangt ist. Die Hochschullehrer, die nach 1945 an die deutschen Hochschu­ len zurückgekehrt sind, aber im W.S. 1949/50 bereits verstor­ ben waren.

Vgl. hierzu auch E. Y. Hartshorne, a. a. O., und H. Pross, a. a. O.

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Der Emigrationsverlust 1931 auf 1938

e)

Die Hochschullehrer, die nach dem W.S. 1949/50 an eine der Universitäten Mitteldeutschlands zurückgekehrt sind.

Die von unserer Untersuchung angegebenen Zahlen sind ungenau, insoweit sie die über die aus politischen oder rassischen Gründen verfolgten Hochschullehrer mit enthalten: a) b)

Die zwischen 1931 und 1938 (jeweils Stand Ende Sommersemes­ ter) Verstorbenen. Die zwischen 1931 und 1938 im normalen Wechsel der Berufs­ tätigkeit Abgegangenen,

B. Ergebnisse Unter Berücksichtigung der gegebenen Einschränkungen ist an den vorgelegten Tabellen bemerkenswert: 1.

2.

3.

In Prozent des Bestandes von 1931 sind am stärksten die Wirt­ schafts- und Sozialwissenschaften, Mathematik/Geographie, Geisteswissenschaften sowie die Rechtswissenschaft betroffen. Sie verloren über 1/3 (bis zu 41 %) ihrer Ordinarien und Nicht­ ordinarien. Der Verlust an Nichtordinarien ist absolut und prozentual grös­ ser als an Ordinarien, auch wenn man die Mediziner wegen des bei ihnen besonders hohen ›normalen‹ Abgangs (s. oben) ausser Ansatz stellt. Ordinarien insgesamt

723, in % der unter 60jährigen des Lehrkörpers

WS 1931/32

29 %

Nichtordinarien insge­ samt

1236, in % der unter 60jährigen des Lehrkörpers

WS 1931/32

33 %

Obwohl dem Lebensalter nach die Nichtordinarien eine bessere Chance hatten nach 1945 an die deutschen Hochschulen zurück­ zukehren, gehören von ihnen nur 13 % (absolut 159 von 1236), von den Ordinarien dagegen 17 % (126 von 723) 1949 oder 1953 wieder zum Lehrkörper der erfassten Hochschulen.

110 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

B. Ergebnisse

4.

Differenziert nach dem Beruf des Vaters sind unter den politisch und rassisch Verfolgten gegenüber dem Gesamtlehrkörper über­ proportional folgende Herkunftsgebiete vertreten: Hochschullehrer, Rechtsanwälte, Fabrikanten, Grosskaufleute und Kaufleute, Privatiers, Rentiers, unterproportional dagegen sind beteiligt: Lehrer (an höheren und Volksschulen), höhere und mittlere Beamte, Richter, Geistliche, Angestellte, Bauern/Landwirte.

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Der Emigrationsverlust 1931 auf 1938

112 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

B. Ergebnisse

1)

ohne Honorarprofessoren, Lektoren und Lehrbeauftragte. 2) einschließlich technischer Dienst, Post und Eisenbahn. 3) Apotheker, Tierärzte, Chemiker, Architekten, Ingenieure. 4) Infolge der mangelnden Präzisierung »Kaufmann« im Sprachgebrauch sind hier z. T. neben dem Einzelhändler auch »Fabrikanten« und Angestellte mit enthalten.

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Interessenpluralismus und empirische Sozialforschung Zur Frage der politischen Voraussetzungen der Soziologie Helmuth Plessner zum 65. Geburtstag gewidmet

I. Bereits in Geschichte und Systematik der angewandten Wissen­ schaften nimmt die Empirische Sozialforschung deutlich eine Son­ derstellung ein. Auf Entstehung und Entwicklungsrichtung der »technischen« Disziplinen gesehen, kennen wir zwei typische Erscheinungsformen, denen die Empirische Sozialforschung trotz wiederholt unternommener Versuche nur gewaltsam einzuordnen ist: die Kunstlehre und die Anwendung exakter Wissenschaft. Der Zwang zur Reproduktion ihres gesellschaftlichen Daseins hat die Menschen schon lange vor einer rationalen Systematisierung des Wissens in den modernen Forschungsorganisationen veranlaßt, ihre Erfahrungen in der Bestellung des Bodens, in der Nutzung des Waldes, in der Tierzucht sowie in den Handwerken und Gewerben zu sammeln und weiterzugeben. Erst mit der Entwicklung der Grund­ lagenforschung schießt in diesen Erfahrungshorizont pragmatischer Kombinatorik, der bis dahin die Lösung praktischer Probleme anver­ traut war, das eigengesetzliche Moment autonomer Wissenschafts­ dynamik ein, ohne jedoch die »gewachsenen« Kunstlehren vollends zu verdrängen.1 Die Ergebnisse theoretischer und experimenteller Naturwissen­ schaften dagegen haben einen ganzen Katalog von technischen Anwendungsbereichen aus sich herausgesetzt, an die bei der Bearbei­ tung wissenschaftsimmanenter Probleme noch gar nicht gedacht war. Vgl. hierzu Helmuth Plessner, Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschul­ lehrer. Bd. I: Landbauwissenschaften und Forstwirtschaftslehre, bearbeitet von P. v. Blankenburg und Ch. Graf v. Krockow, Göttingen 1956 S. 257 ff. Ein deutlicher Hinweis ist ferner die starke Entwicklung, die die Allgemeinen Natur­ wissenschaftlichen Abteilungen, insbesondere aber die Physik, an den Technischen Hochschulen genommen haben. 1

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Interessenpluralismus und empirische Sozialforschung

Elektrotechnik, die Chemie der Kunststoffe und die Atomtechnik2 sind bekannte Beispiele für eine allgemeine Fundierung der Praxis in einer autonomen Theorie. Der revolutionierende Einfluß, den der Fortschritt prinzipieller Naturerkenntnisse gleichsam »en passant« auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen in der Neuzeit genommen hat, ist oft bewundernd beschrieben worden. Er wirkt nach in der gegenwärtigen Diskussion um die geeigneten Formen der Wissenschaftsförderung, die auf Priorität der zweckfreien wissenschaftlichen Forschung, die der immanenten Logik ihrer eige­ nen Produktion folgt, vor der unmittelbar praxisbezogenen Auftrags­ forschung drängt.3 Beide Entwicklungsmodelle praxisbezogener Disziplinen aber, die Kunstlehre »auf dem Wege zur Wissenschaft« im Dienste seit altersher gepflegter Zwecke, und die Technologie, die auf der Grund­ lage reiner Theorie entsteht, können – ungeachtet zahlloser Versuche in dieser Richtung – der Empirischen Sozialforschung nicht zum Vor­ bild ihrer eigenen Gehversuche werden. Sie trägt die Last aber auch die Chance, sich ein neues Verhältnis von Wissen und Gesellschaft, von Praxis und Theorie zu erschließen. Wohl findet auch sie auf verschie­ denen Gebieten gesellschaftlichen Lebens eine Tradition von Verhal­ tensmaximen (»Grundsätze« der Personal-, Sozial-, Wissenschafts-, Kultur-, usw. -politik) vor, die einen erprobten Erfahrungsschatz enthalten und für die Zukunft zu bewahren trachten;4 ihr bleibt daher ebenfalls der Kampf gegen die Trägheit eingeschliffener Verfahren nicht erspart und nur schrittweise vermag sie neuen, überlegenen Verhaltensweisen Raum zu schaffen. Doch über die fehlende Aufnah­ mebereitschaft bestehender Verhältnisse für das Neue hinaus5 ist der »Fortschritt« im gesellschaftlichen Bereich mit einem Sonderproblem belastet, das die Empirische Sozialforschung von anderen technischen Disziplinen unterscheidet. Vgl. Werner Heisenberg, Atomwissenschaft und Technik. Rede gehalten anläßlich der Immatrikulationsfeier in Göttingen. 19. November 1955. 3 Aus wissenschaftstheoretischen Überlegungen heraus vgl. hierzu auch Norbert Elias, Problems of Involvement and Detachment. In British Journal of Sociology, VII 1956: 226–255. 4 Für die gegenwärtige Situation der »Personalpolitik« in den Werken der Deutschen Stahlindustrie z. B. Theo Pirker, Siegfried Braun, Burkart Lutz, Fro Hammelrath, Arbeiter, Management und Mitbestimmung, Düsseldorf 1955. 5 Vgl. hierzu die aufschlußreichen Mitteilungen zu,dem Thema »The Social Conse­ quences of Technical Progress« in: International Social Science Bulletin Vol. IV, No. 2, 1952. 2

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Interessenpluralismus und empirische Sozialforschung

Jeder Gewinn an Einsichten in die verschiedenen Aspekte der Gesellschaft bedeutet im Unterschied zur Naturerkenntnis nicht Auf­ deckung von Angriffsflächen und Nutzungschancen menschlichen Zugriffs auf freie Naturkräfte, die über die verschlungenen Wege der Güterdistribution mehr oder weniger von allen angeeignet werden, sondern in den Ergebnissen der Empirischen Sozialforschung nehmen zwischenmenschliche Verhältnisse sachliche und damit verfügbare Gestalt an. Die Sozialforschung enthüllt die zwingende Logik in der Auswirkung von Rechtsverhältnissen, Satzungen, Organisationsfor­ men, kurz der Institutionen, auf deren Grundlage Menschen einander begegnen, mit deren Hilfe sie Erfolg und Risiko, Ansprüche und Verpflichtungen ihres gesellschaftlichen Zusammenwirkens unter­ einander aufteilen. Ihre Arbeit ordnet nicht willenlose Geschöpfe, sondern definiert die Rollen, die den Triebfedern menschlicher Schick­ sale: brennender Ehrgeiz, ausgewogener Gleichmut, dumpfe Empfin­ dungslosigkeit ihre gesellschaftliche Bahn vorzeichnen. Die Sozialfor­ schung findet sich damit zugleich in den Mechanismus einbezogen, der auf den Ausgleich gesellschaftlicher Interessen in einer bestimm­ ten Richtung hinwirkt. Denn den Leitfaden, an dem eigenmächtige Zweckverfolgung sich orientiert oder ihre Grenze findet, bilden in unserer abendländischen Geschichte die »Verallgemeinerung des Erfolges«, die Eingrenzung von Willkür und Zufallsgewinn sowie die Kontrolle gesellschaftlicher Monopolstellungen. Der Eroberung von Macht und Einfluß, wie sie die Entdeckungsgeschichte der groß­ betrieblichen Formen menschlicher Kooperation auf ökonomischem, politischem und kulturellem Gebiet begleitet, folgt – zumindest der Tendenz nach – die Einrichtung von Überwachungs- und Distributi­ onsmechanismen auf dem Fuße – bis zu der Grenze, die die Klugheit im Interesse einer Erhaltung der Talente setzt. Diesen Erfahrungsprozeß der Menschen innerhalb ihrer gesell­ schaftlichen Kooperationsverhältnisse systematisiert die Empirische Sozialforschung; er weist ihr die Funktion einer »geheimen Guil­ lotine« erworbener Rechte zu und macht sie in einem gleichsam perennierenden »Prozeß« der sozialen Gerechtigkeit zum Anwalt der Übervorteilten, Unterdrückten und Entrechteten. Gewinn an gesellschaftlicher Einsicht bedeutet daher stets Einbuße an persönli­ cher Macht und freier Befriedigung der Eigeninteressen bestimmter

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Gesellschaftsgruppen.6 Die Verallgemeinerung ihrer Aussagen, die die Empirische Sozialforschung als Wissenschaft erstrebt, relativiert die Positionen eines konkreten gesellschaftlichen Rollensystems, in dem sie es auf einen postulierten übergreifenden Funktionszusam­ menhang bezieht. Diese vermittelnde »zwischen-menschliche« Position unter­ scheidet die Sozialforschung als Kunstlehre von den übrigen ange­ wandten Disziplinen. Sie macht die Vieldeutigkeit ihrer Ergebnisse aus und verbietet eine unmittelbare Umsetzung wissenschaftlicher Einsichten in technische Anleitungen und Gebrauchsanweisungen, so dringend ein solches Verlangen auch immer von den an Veränderung interessierten Kreisen an sie herangetragen wird. Sie raubt damit soziologischen Aussagen die fraglose Überzeugungskraft, mit der sich überlegene technische Verfahren auf anderen Gebieten durchset­ zen, und scheint um der Unparteilichkeit ihrer Stellung willen eine möglichst klare Scheidung der Empirischen Sozialforschung von der Sphäre des politischen Handelns zu fordern. In dieser Trennung von Sozialforschung und gesellschaftlich-politischer Praxis wird damit in der Breite gesellschaftlicher Beziehungen gleichsam die Zweigleisig­ keit von politischer und Verwaltungsbürokratie zum Prinzip erhoben, allein mit dem Unterschied, daß hier die institutionell inkarnierte Machtüberlegenheit nicht bei den beratend-vorbereitenden, sondern bei den politisch-entscheidenden Instanzen liegt. Bei derartig spröden Beziehungen zur Praxis kann es nicht wundernehmen, daß die empirische Forschung eine stärkere Anleh­ nung an die soziologische Theorie sucht. Die geduldige Hoffnung, daß nach dem Vorbild der Experimentellen Naturwissenschaften eines Tages eine entwickelte Theorie menschlichen Verhaltens eine autonome Forschung auch für die Soziologie ins Leben rufen wird, findet immer wieder Vertreter. Die Fülle verfügbarer empirischer Einzeldaten aus alten Ländern und Kulturen eröffnet mit einer enzy­ klopädischen Beschreibung »menschenmöglicher« Situationen und Verhältnisse die Gelegenheit, die Variationsbreite menschlichen Han­

6 Vgl. hierzu z. B. die Untersuchungen von Wilhelm Baldamus über die »distributive« Wirkung verschiedener Lohnsysteme im Verhältnis von Arbeit und Kapital. The Relationship between Wage and Effort, in The Journal of Industrial Economics. Vol. V. 1957: 192–201.

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delns erschöpfend zu durchmessen.7 Die Erschließung neuer Dimen­ sionen statistischer Bearbeitung gesellschaftlichen Handelns in der Elektronenmechanik liefert dieser Beschreibung das entsprechend exakte methodische Rüstzeug.8 Zweifellos liegt in der Konvergenz empirisch-soziologischer Untersuchungen im industriellen Zivilisationsprozeß sowie vor allem auch im internationalen Vergleich ein fruchtbarer Ansatz für die For­ mulierung allgemeiner Aussagen, die der Forschung wissenschaftsimmanente Ziele setzen. Ein sich schrittweise auffüllender Kanon theoretischer Einsichten in Grundstrukturen moderner Industriege­ sellschaften auf dem Felde der großbetrieblichen Produktion, der Familie, des Status, der Parteien, der Hochschulen usw. erzwingt mit der Kumulation des Wissens auch eine Einengung und Konkre­ tisierung der Fragestellungen. Die Verfolgung dieses methodischen Ansatzes drängt den Sozialforscher mehr und mehr in die »klassische« Position des Richters, der die Zeugin »Theoria« auf die Stichhaltig­ keit ihrer Aussagen hin ins Verhör nimmt. Doch bei aller Objekti­ vität, die ihnen auf Grund methodischer Standards gebührt, haftet den empirisch gewonnenen Ansätzen soziologischer Theorie über das »Problembewußtsein« wissenschaftlicher Forschung hinaus eine Unabgeschlossenheit, eine Offenheit ihrer Aussagen an, die in der perspektivischen Natur der Soziologie unaufhebbar begründet liegt.9 Jede verallgemeinernde Aussage über die Organisationsform zwi­ schenmenschlicher Beziehungen kann – gerade insofern sie zutref­ fend ist – gar nicht anders als in die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse normativ zurückwirken. Der Echoeffekt politischer Mei­ nungsforschung ist nur ein Sonderfall einer allgemeinen Wirkung, die von Ergebnissen soziologischer Untersuchungen ausgeht. Die von ihnen entwickelten Tatsachen und Strukturzusammenhänge werden auch, ohne daß dies ausdrücklich in ihrer Intention liegt, über die verzweigten Kanäle der Meinungsbildung zu Gesichtspunkten der Orientierung gesellschaftlichen Handelns,10 – sei es auch nur in der Zum organisatorischen Prinzip wird dieser Ansatz in den sich alle drei Jahre wiederholenden »Welt«-Kongressen für Soziologie. 8 Zu dieser Perspektive vgl. die Angaben bei Helmut Schelsky, Die Sozialen Folgen der Automatisierung, Düsseldorf–Köln 1957, insbesondere S. 11 ff. 9 Helmuth Plessner, Over het Object en de Beteekenis der Sociologie, Groningen – Batavia 1938, insbes. S. 12. 10 Einen aufschlußreichen Aspekt sprachlicher Formulierung entwickelte Thornton Wilder in seiner Rede auf der Buchmesse Frankfurt, wo er auf den »Klassen«charakter 7

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Form, daß Interessenten die Einkleidung ihrer Orientierung in die Unparteilichkeit wissenschaftlicher Objektivität suchen. Die Freiheit in der Verwendung des Wissens um gesellschaftliche Verhältnisse ist selbst dort ursprünglich vorhanden, wo die Ausle­ gung gesellschaftlichen Daseins einer bestimmten Parteilinie folgt; sie tritt daher um so plastischer hervor, in je stärkerem Maße bereits von den Grundideen der Verfassung her die gesellschaftliche Dynamik vom freien Spiel der Kräfte getragen wird. Die Tabuierung totalitärer Kontrollen in den freiheitlichen Demokratien westlicher Prägung überläßt die Auswertung gesellschaftlichen Wissens grundsätzlich der jeweiligen Kräftekonstellation im Vertrauen auf die Kontrolle, die die Wachsamkeit der öffentlichen Meinung gewährt. Die praktische Nutzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse genießt hier zumin­ dest noch urheberrechtlichen Schutz; dagegen unterliegen sozialwis­ senschaftliche Forschungsergebnisse dem freien, unkontrollierten Gebrauch, da die Gesellschaftsordnung für das Erfinderrecht als einer Sonderform des Privateigentums den Mißbrauch tatbestandsmäßig noch erfaßt, die Auswertung gesellschaftlicher Verhältnisse aber der Privatautonomie und damit dem Recht des Stärkeren anheimstellt. Die allmähliche Freisetzung der Sozialforschung aus dem Gän­ gelband vordergründiger praktischer Interessen vermag daher in den Ansätzen zu autonomen soziologischen Fragestellungen die Bezie­ hungen zwischen Theorie und Praxis zu lockern, indem gesellschaft­ liches Wissen sich zu eigener struktureller Dynamik verselbständigt, niemals aber entläßt sie die Empirische Sozialforschung aus dem Bereich des Handelns. Eine zunehmende Verselbständigung der Gesellschaftstheorie gegenüber der Praxis wird sogar mit wachsen­ der Unsicherheit praktischer Erfolge erkauft, da sie soziologische Forschungsergebnisse einem immer weniger kontrollierbaren, weil vielfältig vermittelten Prozeß überantwortet, der über die Art ihrer praktischen Verwendung entscheidet. Damit aber steht die Gefahr ungewollter oder sogar nachteiliger Auswirkungen soziologischer Forschung vor der Tür.

von dichterischen Stereotypen aufmerksam machte. In: Die Welt 8. X. 57, Nr. 234 – S. 5.

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II. Die Ambivalenz in dem Verhältnis von Empirischer Sozialforschung und gesellschaftlicher Praxis, wie sie der Strukturvergleich mit den Entwicklungsmodellen anderer angewandter Disziplinen zu Tage fördert, erfordert um der interessenvermittelnden, rationalisierenden Funktion der Sozialforschung willen eine Synthese. Damit ist der Sozialforschung die Aufgabe zugewiesen, eine Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis herzustellen, die der überkommenen Wis­ senschaftsorganisation von ihren Voraussetzungen aus fremd ist. Denn von ihren Leitideen aus gesehen, scheint mit dieser Forderung die Quadratur des Zirkels zur Diskussion zu stehen. Wissenschaftliche Objektivität, Unparteilichkeit gutachtlicher Äußerung aus der vertieften Kenntnis gesellschaftlicher Strukturzu­ sammenhänge heraus schließen die Verantwortung für die politische Entscheidung vom Ansatz her bereits aus; – offenbar zu Recht. Denn die Zurechnung auch des praktischen Erfolges beeinträchtigte den sachlich unbefangenen Blick des Wissenschaftlers und widersprä­ che damit dem spezifischen Leistungswert der wissenschaftlichen Arbeit, in dem der »pouvoir neutre« im Hader der Parteien selbst interessierter Anteilnahme anheimfiele. Andererseits aber die Ver­ wertung gesellschaftlicher Einsichten dem Durchsetzungsvermögen der beteiligten Gruppen im Vertrauen auf eine prästabilierte Har­ monie konkurrierender Kräfte zu überlassen, erwartet ein Maß an Selbstverleugnung, das zu dem praktischen Zweck soziologischer Erhebungen merkwürdig kontrastiert und den wissenschaftlichen Impuls des Soziologen sterilisiert. Der Naturwissenschaftler kann es sich in der Regel leisten, von der praktischen Verwendung seiner Untersuchungsergebnisse abzu­ sehen oder sie einer unbestimmten Zukunft zu überlassen, da ihre Geltung entweder überhaupt oder zumindest auch einem situations­ unabhängigen System angehört; in den Sozialwissenschaften dage­ gen beträgt die Spanne zwischen Aktualität einer Untersuchung und ihrer »nur noch« geschichtlichen Relevanz häufig wenige Jahre; darin gleichen sie den Zeitungen, die aus der Aktualität über die Makula­ tur in geschichtliche Bedeutung hineinwachsen. Weiterhin beruht die Methode, die Meinung der unmittelbar Beteiligten zu erfragen und auszuwerten, weitgehend geradezu auf der Voraussetzung, daß in der Soziologie »der Impuls zum Handeln erst die Objekte der

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Welt dem handelnden Subjekt aufschließt«11. Diese lebendige Quelle gesellschaftlicher Erkenntnis um einer Grenzziehung zwischen Theo­ rie und Praxis willen zuzuschütten, die sich für bestimmte Zwecke als Konvention sinnvoller Arbeitsteilung bewährt hat und allein deswegen für wissenschaftliche Arbeit schlechthin Geltung beanspru­ chen kann, geht an dem Prinzip wissenschaftlicher Sachgerechtigkeit selbst vorbei. Denn eine Konvention auch dort festzuhalten, wo sie ihrer eigenen Intention zuwiderläuft, auf ihr beruhende menschliche Kooperation zur Entfaltung zu bringen, verfehlt die zweckrationale Struktur unserer Gesellschaftsordnung. Eine solche Haltung ist auch nicht mit einem Hinweis auf die gebotene Werturteilsfreiheit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis zu begründen, die implizite auch heute noch die Standardliteratur als verbindliche Maxime beherrscht.12 Sie verkennt den geschichtlichen Sinn der hochschulpolitischen Entscheidung, die Max Weber in sei­ nen Formulierungen für sich als »Politiker« und für die Schichten getroffen hat, bei denen seine Haltung Resonanz hatte. Die Beschrän­ kung der Aufgaben, wie sie Max Weber »von seinen Wertungen« aus für die Universitäten vornimmt, kann – bei historisch-soziolo­ gischer Interpretation – situationsgerechte Bedeutung nur für die relativ kurze »national-liberale« Blütezeit der deutschen Universitä­ ten, d. h. etwa zwischen 1890 und 1914, beanspruchen. Die Forderung nach Konzentration der Ausbildung auf die »fachmäßige Schulung seitens fachmäßig Qualifizierter« und die Definition des pädago­ gischen Einflusses der Hochschulen als Erziehung zur »intellektuel­ len Rechtschaffenheit« spiegeln ein wissenschaftsgeschichtlich und gesellschaftlich deutlich abgegrenztes Reflexionsstadium des politi­ schen Anspruches der Wissenschaften und sind in dieser Beziehung einer Ideologisierung von Haus aus keineswegs entzogen: Die Haltung Max Webers setzt sich ab von den sozialpolitischen Anschauungen der jüngeren historischen Schule der deutschen Natio­ nalökonomie und hat sich bereits weit von dem politischen Anliegen entfernt, das die deutschen Universitäten mit den demokratischen Bestrebungen in Deutschland bis zum Scheitern der bürgerlichen Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 3. Aufl. Frankfurt 1952 S. 6. Vgl. Artikel »Empirische Sozialforschung« in Handwörterbuch der Sozialwissen­ schaften 9. Bd., Stuttgart, Tübingen, Göttingen, S. 419 ff. Alfred McClung Lee, Standards and Ethics in Soziological Research, in Proceedings of the 2nd World Congress of Sociology, Vol. 4, Lüttich 1953. 11

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Erhebung verband. Die politische Sterilität wissenschaftlicher Arbeit, die mit der Enthaltung vom Werturteil zum Grundgesetz erhoben wird, hat bereits wenige Jahre nach ihrer Vorlage im Verein für Sozi­ alpolitik (1913) ein Mann wie C. H. Becker bitter beklagt13 und hat sich bei der nationalsozialistischen Machtergreifung entscheidend gerächt. Die Vermeidung politischer Parteinahme, die in dieser Maxime dem Wissenschaftler abgefordert wird, war – institutionell gesehen – von der Entwicklung der Universitäten zu reinen Forschungsanstal­ ten unter dem Einfluß der Naturwissenschaften und der Medizin begünstigt. Diesen Wissenschaften, die schon in ihrer Personalpolitik vermittels einer Instituts- und Kliniks„hierarchie« eine autonome Stellung genießen, verbürgte auch die Eindeutigkeit ihrer Forschungs­ ergebnisse eine selbstverständliche Unabhängigkeit im Verhältnis zur Gesellschaft. Für den Sozialwissenschaftler aber bedeutete der Verzicht auf ein politisches Interesse, das ihm über das jedem Staatsbürger zukommende Maß erhöhte Verantwortung auferlegte, wesentlich mehr als nur die Erfüllung der wissenschaftlichen Stan­ dards seiner Zeit; vielmehr war dieser Verzicht – von der unbeabsich­ tigten Nebenwirkung abgesehen, daß sie persönlicher Timidität einen Ehrenschutz verlieh – zugleich die von der geistigen Avantgarde des Bürgertums ausgesprochene Abdankungserklärung im Klassen­ antagonismus Vorkriegsdeutschlands.14 Das Bild von der aus Klas­ senschranken entbundenen, »freischwebenden Intelligenz« ist wohl auf keine Bildungsschicht treffender bezogen als auf die bürgerliche Gelehrtenwelt der Jahrhundertwende, deren politischer Horizont uns in den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik und in dem Stil seiner Untersuchungen beispielhaft vor Augen tritt. Selbst überwie­ gend aus der Bourgeoisie entstammend, war ihr Klassenbewußtsein in einem Objektivitätsanspruch (natur)wissenschaftlicher Haltung gebrochen und befangen zugleich, so daß ihr nach der Entfremdung von ihrer eigenen Klasse auch die Alternative, der Weg in das Lager des revolutionären Proletariats, verschlossen blieb. Den geschicht­ lich-sozialen Kräften der Zeit, »Manchestertum«, Marxismus und Feudaladel, in gleicher Weise fernstehend, ohne sichtbare Hoffnung 13 Gedanken zur Hochschulreform, Leipzig 1919. Vgl. ferner Eduard Heimann, Grundlagen und Grenzen der Sozialpolitik. In Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 182, München und Leipzig 1931. 14 Vgl. die Bemerkungen bei Lujo Brentano, Zum Jubiläum des Vereins für Sozialpo­ litik. In: Schriften des Vereins für Sozialpolitik, 163 Bd. München und Leipzig 1923.

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auf eine Vermittlung dieser tief verwurzelten Klassengegensätze lag die Chance progressiver Entfaltung für die deutsche Intelligenz allein im Reiche der Forschung. Ihre politische Neutralitätserklärung versöhnte – so schien es – die Sozialwissenschaften mit dem herrschenden Wissenschaftsideal und eröffnete ihnen den gleichen Weg systematisch-wissenschaftli­ cher Arbeit, der die Naturwissenschaften zu ungeahnten Erfolgen geführt hatte. Dieser gab zumindest die Hoffnung auf eine Integra­ tion der jungen und institutionell so gut wie ungefestigten Diszi­ plin in die universitas literarum. Aber diese Entscheidung, an ihrer Oberfläche genommen von rein methodologischer Bedeutung, nahm in der schicksalhaften Verwechslung wissenschaftlicher Objektivität mit gesellschaftlicher »Exterritorialität« die politische Haltung der deutschen bürgerlichen Intelligenz in sich auf. Der Irrgarten einer nur noch formalen Soziologie, in der die realen Geschehnisse zu unwesentlichen Schemen abstrakter Beziehungen verblaßten, war damit aufgetan. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Werturteilsfreiheit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis sind heute nicht mehr gegeben; der Orientierung unserer Organisation des Wissens haben sie jedoch einen bleibenden Stempel aufgeprägt. Die geforderte Synthese zwi­ schen wissenschaftlicher Objektivität und politischer Verantwortung der Empirischen Sozialforschung kann daher – eben weil die ihr zugrundeliegende Problematik sich in geschichtlichen Maßstäben herausgebildet hat15 –, nicht für sie und ähnlich strukturierte Dis­ ziplinen isoliert vollzogen werden. Dies würde die Einheit eines durch Generationen bewährten wissenschaftlichen Ethos sprengen und mit der Loslösung aus traditionell gefestigtem Ansehen die Sozialforschung der institutionellen Grundlagen berauben, die sie aus der Organisation des Wissens übernimmt. Nur in einer prinzipiellen Bereitwilligkeit aller Wissenschaften, öffentliche Verantwortung zu tragen, liegt daher für die Empirische Sozialforschung eine Chance, ein weniger problematisches Verhältnis zur Praxis einzugehen. Erst die durchgehende Erschütterung des naiven Fortschrittsglaubens, Wissenschaft könne gar nicht anders als segensreich wirken, wird das für die wissenschaftliche Haltung zur Maxime erhobene Desinter­ esse an der Verwertung von Forschungsergebnissen problematisieren und an seine Stelle eine stärkere öffentliche Anteilnahme setzen. 15

Vgl. auch Helmuth Plessner, Over het Object ..., S. 10.

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In einem irgendwie beschaffenen politischen Mitspracherecht der Wissenschaft sind daher die Möglichkeiten für eine Entfaltung der Empirischen Sozialforschung zu suchen, die der Eigentümlichkeit ihres Ansatzes in vollem Maße gerecht werden. Die »Realbedingung« für die Erfüllung dieses Programms aber liegt in der zunehmenden Zuspitzung und Verfeinerung des Gruppen­ antagonismus der industriellen Gesellschaft. Denn eine »chinesische Erstarrung des Geisteslebens«, die in der Anschauung Max Webers den idealtypischen Widerpart des Wertpluralismus der industriel­ len Gesellschaft bildet16, ist auf Sozialforschung höchstens in der Form bürokratischer Verwaltungsroutine angewiesen; die gruppen­ zentrierte Organisation von Interessen dagegen, die zunehmend die hockindustrialisierten Massendemokratien strukturiert, bedarf für die Auseinandersetzung geradezu der wissenschaftlich-strategischen Beratung17 wie der unparteilich vermittelnden Schiedsinstanz. Funk­ tionen, die auf Grund des von den Naturwissenschaften erworbe­ nen »good-will« erwartungsvoll der jungen soziologischen Disziplin anvertraut werden. Trotz alarmierender und zum Teil auf umfassende Literatur­ kenntnisse gestützter Untersuchungen18 über die »oligarchischen Herrschaftsverbände19« unserer Gesellschaft ist es jedoch im gegen­ wärtigen Stadium kaum möglich, sich für den Zweck unserer Unter­ suchung ein klares Bild von den Entwicklungstendenzen in dieser allgemein als zentral empfundenen Frage zu machen. Die Behaup­ tung eines zunehmenden Gruppenantagonismus in der industriel­ len Gesellschaft auf die an ökonomischen Strukturen orientierten These einer »Verschärfung der Klassenkämpfe« zu stützen, vermag außer orthodoxen Marxisten niemanden zu überzeugen. Gerade die 16 Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpoliti­ scher Erkenntnis. 17 Vgl. hierzu die Untersuchung von Vance Packard, The Hidden Persuaders, New York 1957. 18 Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Hamburg. 1951, Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände? Stuttgart 1951, Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin 1956. Vgl. ferner zu diesem Thema die vom Bundesverband der Deutschen Industrie im März dieses Jahres veranstaltete Diskussion, veröffentlicht unter dem Titel »Der Staat und die Verbände«, Heidelberg 1957, sowie den Bericht von Günther Remmling, Die Interessenverbände in der westlichen Welt. Zur Frage der gesetzlichen Regelung der Verbändeeinflüsse in einzelnen Ländern. In: Z. Polit. 4. Jg. (NF) 1957, S. 169–186. 19 Werner Weber, a. a. O.

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kritische Beschäftigung mit den drei Apokalyptischen. Reitern, die nach Marx den Kapitalismus für die Machtergreifung des Proletari­ ats reif machen: Verelendung der Arbeiterschaft, Konzentration des Kapitals und Verschärfung der Krisen, hat auf Tendenzen aufmerksam gemacht, die wie die Vollbeschäftigung, die Bildung eines neuen Mittelstandes und die Reallohnsteigerung dank gewerkschaftlicher Organisation dem Zweiklassenantagonismus und einer krisenhaften Zuspitzung des Verteilungsproblems widersprechen. Bessere Schul­ bildung, erhöhte Anforderungen an die Qualifikation der Arbeit20 sowie die Einbeziehung in einen umfassenden Kulturbetrieb haben unter der Arbeiterschaft die Einstellung zur Arbeit versachlicht und die Arbeitskämpfe von der blinden Emotionalität der Maschinen­ stürmerei und eschatologischer Hoffnungen auf eine wahre kommu­ nistische Gesellschaft befreit. Die größere Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaften hat dem Verteilungsproblem, vor allem auch in Krisen- und Notzeiten, den Stachel eines Kampfes um die nackte Existenz genommen. Gerade die handfesten Gegensätze im Bereich der Güterversorgung also, die der marxistischen Gesellschaftstheorie das Faustpfand für eine unvermeidliche Revolutionierung der Ver­ hältnisse waren, scheinen im Zuge der industriellen Entwicklung an Zündstoff verloren zu haben.

III. Diese beruhigenden Aspekte, die die revolutionären Voraussagen des Marxismus ihrer unmittelbar überzeugenden Wirkung berauben, täuschen jedoch über die wahre Situation hinweg. Ihnen haben sich seit dem Beginn dieses Jahrhunderts Erscheinungen hinzugesellt, die zwar einer systematischen Deutung durch eine politische Theorie ent­ behren, wegen ihrer Fremdartigkeit gegenüber den überkommenen Formen gesellschaftlicher Willensbildung aber dem Bild anarchischer Interessenkämpfe erneut Wirklichkeit verleihen. Der Zusammen­ schluß zu Interessenverbänden der verschiedensten Gattung – von ihren hervorstechenden Formen, den Gewerkschaften und politischen Parteien, über die relativ politisch-neutralen Sportverbände mit ihren 20 Theo Pirker, Siegfried Braun, Burkart Lutz, Fro Hammelrath, Arbeiter, Management und Mitbestimmung, Düsseldorf 1955.

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z. T. in die Hunderttausende gehenden Mitgliederzahlen bis zu den Liebhabervereinigungen der Kleingärtner, Briefmarkensammler und Brieftaubenzüchter hin – wird als eine so allgemeine Erscheinung angesehen, daß »organisiertes Interesse« zum typischen Merkmal der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur erhoben wird.21 Die Vorteile großbetrieblicher Organisation – z. T. bereits vom organisierten Geg­ ner in der strategischen Auseinandersetzung aufgezwungen –, dienen der langfristigen Sicherung immer neuer Anliegen und Bedürfnisse und üben je länger desto mehr einen unwiderstehlichen Sog zur all­ gemeinen Organisierung der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt des Interesses aus. Die subjektivierende Wirkung einer zunehmen­ den Entlastung von Millionen aus der täglichen Fron eines fast ausschließlich von der Arbeit diktierten Lebenslaufes hat über das Verteilungsproblem in der Güterversorgung hinaus eine große Zahl weiterer Lebensbereiche erschlossen, in denen gegensätzliche Auffas­ sungen um institutionelle Stabilisierung eines Ausgleiches ringen. Von der ökonomischen Sphäre, deren unversöhnbare Gegensätze die Artikulation der Gesellschaft für eine Epoche zu bestimmen schienen, hat sich die Auseinandersetzung organisierter Interessen zu einer allgemeinen Erscheinungsform einer weitgehend gewandelten und differenzierten Gesellschaftsstruktur ausgeweitet. Dieser wachsenden Entwicklung des Verbandswesens gegenüber bedeutet auch seine häufig hervorgehobene Ordnungsfunktion22 keinen Gewinn. Denn die Verschleierung der Geschäftsführung gegenüber der Öffentlichkeit, die mit Bürokratisierung und Verselb­ ständigung der Funktionärschichten unvermeidlich eintritt, hebt die stabilisierende Wirkung der Organisation nach außen hin weitgehend wieder auf und besteht unmittelbar nur in einer prinzipiell-mögli­ chen rationalen Durchsichtigkeit. Die wissenschaftliche Auswertung der eigenen Situation durch einen akademischen Mitarbeiterstab in Gestalt von Syndicis, Betriebsberatern, Marktbeobachtungsinsti­ tuten, Reklamefachleuten, Fachreferenten usw.23 sowie die Formali­ sierung der Kommunikation selbst entfremden die Wahrnehmung von Interessen dem gemeinverständlichen »natürlichen« Standpunkt. Von ihm aus gesehen, ergeben sich im Felde einer abstrakten Strate­ gie überraschende Kompromisse oder eröffnen sich unverständliche 21 22 23

Joseph K. Kaiser, a. a. O. Joseph H. Kaiser, a. a. O. mit Bezug auf Max Weber. Fußnote 17.

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Gegensätze. Und um die Verwirrung der Öffentlichkeit vollkom­ men zu machen, hat die Verlegung der Auseinandersetzung in ein wissenschaftliches Medium eine unausweichliche Subjektivierung wissenschaftlicher Objektivität zur Folge. Methodisch einwandfreie Analysen verhelfen in ihrem unauflöslichen Widerstreit, in den sie auf Grund ungeklärter Voraussetzungen geraten, nur dem zugrundeliegenden Interessengegensatz der Parteien zu artikulierter Erschei­ nung.24 Diese Trübung des allgemeinen Urteils räumt dem Recht des Stärkeren die Priorität ein, das in der Garantie freier Interes­ senverfolgung bereits seine verfassungsmäßige Grundlage besitzt, und betont das Sonderinteresse vor den solidarischen Belangen der breiten Massen. Doch in diesen Erscheinungen sind nur Teilbereiche tieferliegen­ der Strukturen getroffen. Die Ausweitung des Gruppenantagonismus über die Gütersphäre hinaus auf alle Lebensbereiche, in denen die Verteilung von Vorteilen, Chancen und Lasten in Rede steht, und die Verlagerung der Auseinandersetzung in ein exklusives, allgemeiner Anschauung weitgehend unzulängliches Terrain sind ihrerseits Ant­ worten auf eine ungeheure Steigerung des gesellschaftlichen Macht­ potentials. Sie begleiten einen dynamischen Prozeß der Erschließung und Ausnutzung gewaltiger Naturkräfte und ungeahnter Organisati­ onsreserven menschlicher Kooperation25. Perspektiven, die Millionen eine Lebensführung in Aussicht stellen, die Jahrhunderte hindurch immer nur wenigen Auserwählten beschieden war, bezeichnen den Entdeckungsweg gleichsam eines irdischen Paradieses. Sie eröffnen aber auch die Abgründe der Auseinandersetzung um Verteilung, Beherrschung und Kontrolle dieses der Menschheit über Nacht geschenkten Reichtums. Im Bereich staatlicher und wirtschaftlicher Macht hat die Aus­ einandersetzung um die Kompetenzverteilung in der Leitung und Steuerung der verschiedenen Einflußbereiche bereits eingesetzt: Anwendung von Gewalt, die bürgerliches Rechtsdenken nach hart­ näckigem, Jahrhunderte währendem Kampf gegen feudales Fehde­ recht aus der wirtschaftlichen Verkehrssphäre als erlaubtes Mittel 24 Z. B. Paulssen, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberver­ bände, in seinem Referat zur sozialpolitischen Lage, Göttingen 19. VII. 1952 mit Bezug auf die wirtschaftswissenschaftlichen Institute der beiden »Sozialpartner«. 25 Mit Recht betont Werner Weber die »Prosperitätsabhängigkeit« der Verbandsent­ wicklung. In: »Der Staat und die Verbände«.

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verbannt hatte, ist über Streik und Aussperrung als »normalen« Formen, im Konfliktsfall Ansprüche durchzusetzen und Entscheidun­ gen zu erzwingen, in die Sphäre des Wirtschafts-Verkehrs zurückge­ kehrt.26 Die Gestaltung »gerechter« Lohn- und Arbeitsbedingungen obliegt der Finanzkraft und dem Einfluß auf die Meinungsbildung des jeweils stärkeren Rivalen.27 Anpassungsfähigkeit an dynamisch sich verändernde Situationen und die Bereitschaft, jeden sich bie­ tenden Vorteil im wirtschaftlichen Interessenkampf wahrzunehmen, kennen nur vorübergehenden »Burgfrieden« und überlegene Stärke als letzte Instanz. Die »klassische« Gewaltenteilung, wie sie dem realpolitischen Dualismus von monarchischer Exekutive und bürgerlicher Legislative des neunzehnten Jahrhunderts entsprach, ist vor dem oligarchischen Herrschaftsanspruch einer Vielzahl von Interessenten zerfallen. In die monokratische Form der Verwaltung, deren Kontinuität Sicher­ heit der Ermessensentscheidung und die Tradition einer verantwor­ tungsbewußten und tatfreudigen Bürokratie gewährleistete, werden mit der Politisierung immer weiterer Spitzenpositionen Breschen geschlagen.28 Durch sie dringen die Ansprüche und Wünsche orga­ nisierter Interessen ein und nehmen Einfluß auf die unparteiische Wahrnehmung sich ständig mehrender öffentlicher Aufgaben. Mit dem Schwinden eindeutiger Zuständigkeiten zerfließt die öffentliche Verantwortung staatlicher Verwaltung in einem Halbdunkel von Trä­ gern politischer Gewalt, die sich einer Erfassung in der überkomme­ nen Alternative von privat und öffentlich entziehen. Die Zerfaserung politischer Formen unter dem Andrängen von Kräften, mit denen die geschriebenen Verfassungen nicht rechnen, scheint gegenwärtig noch keineswegs abgeschlossen. Für eine Stabilisierung des in Bewegung geratenen politischen Kräftefeldes aber fehlen vorerst die realen und begrifflichen Voraussetzungen.29 Im Prozeß politischer Aktivierung – vor allem im Sinne politischer Verantwortung –, der nach Interessen gegliederten Gesellschaft hat die »Zukunft allererst begonnen«.

26 Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, Schriften Bd. I, Frankfurt 1955: 1–30. Joseph H. Kaiser, Der politische Streik. Bonn 1956. Mit reichen Literaturhinweisen. 27 Wilhelm Baldamus, Die Motivation der Arbeit. In Dt. Universitätszeitung, 9. Jg. Nr. 23, Dez. 1954: 6–8. 28 Theodor Eschenburg, a. a. O. 29 Joseph H. Kaiser, a. a. O., S. 308 ff.

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Es spricht vieles dafür – jedenfalls auf übersehbare Zukunft hinaus –, daß dieser Interessenantagonismus auf den verschiedenen gesellschaftlichen Gebieten, die durch ihn zum Teil erst erschlossen werden, keinem Endstadium zustrebt, – weder einer Katastrophe, die wie ein reinigendes Gewitter die Kraftfelder auflöst, in denen Gruppen von Menschen einander entfremdet sind, noch einer all­ mählichen Befriedung und Gesittung unter einem »Gesetz abneh­ mender Gewalt«30 Vielmehr ist es durchaus wahrscheinlich, daß die Organisation von Interessen den spezifischen Weg darstellt, auf dem eine hohe Bevölkerungsdichte mit entwickelten Ansprüchen an die Lebenshaltung auf die Dauer überhaupt zu realisieren ist. Die Beschränkung des individuellen Horizonts, in dem die Gesamtsitua­ tion nur in symbolischen Abbreviaturen Eingang finden kann, hat gerade dort, wo rationale Einsicht in die eigene Situation erreicht wird, eine unvermeidliche Betonung egoistischer Strukturen zur Folge. Das »wohlverstandene Selbstinteresse«, das den Durchbruch aus den »primären« Werkverbänden und lokalen Arbeitsgemeinschaften zu gesellschaftlicher Kooperation und damit zu einem Prinzip von ungeahnter Effizienz bezeichnet, hat sich sogar für die kommunis­ tische Diktatur in Rußland als der entscheidende Faktor für eine Rationalisierung der menschlichen Arbeit erwiesen.31 Individualis­ mus, egozentrische Orientierung sind nicht nur eine unvermeidbare Folge gesellschaftlicher Kooperation, sondern offenbar auch eine not­ wendige Bedingung für die Wahrnehmung der hiermit frei werdenden produktiven Chancen. Die Erschließung eines »höheren Daseins« auf einer »erwei­ terten Stufenleiter der Produktion«, das den mannigfachen Zufäl­ ligkeiten und der schicksalhaften Gebundenheit eines »milieu natu­ rel«32 entrückt, seine Elemente nach eigenem Bauplan entwirft, geht offenbar den Weg einer Rationalisierung von individuell beschränk­ ten Standpunkten, – von Interessen. Die sacherschließende Kraft standpunktorientierten Denkens erhält damit eine fundamentalere Bedeutung, als sie ihr eine wissenssoziologische Analyse zuerken­ nen wird, die dieses Denken allein an der naturwissenschaftlichen

Friedrich v. Wieser, Das Gesetz der Macht, Wien 1926. Werner Hofmann, Die Arbeitsverfassung der Sowjetunion, Berlin 1956. 32 Georges Friedmann, Les conditionnements psychosociologiques du milieu techni­ que et milieu naturel. In Journal de Psychologie, Jan.–Mar. 1952.

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Alternative von wahr und falsch mißt.33 Offenheit der Lebensfüh­ rung und Sachlichkeit der Situationserfassung, die die Philosophi­ sche Antropologie als den Menschen charakterisierende Seinsweisen versteht, bilden unter dieser Perspektive korrelierende Begriffe zu einer nach dem Prinzip vielfältiger Interessenverfolgung kooperie­ renden Menschheit.34 Die Institutionalisierung in Verbänden und Organisationen, die die Interessenwahrnehmung in den industriellen Massendemokratien von der der kleinbetrieblichen Demokratien beginnender Industrialisierung unterscheidet, erscheint in dieser Beziehung als Variation einer fest fundierten Konstanten. Die gewalt­ same Unterdrückung der Interessentenverbände oder ihre Verstaatli­ chung, wie sie im Eifer der Diskussion mitunter als geeignete Aushilfe erscheint,35 greift daher tiefer in das Gefüge unserer Gesellschaft ein, als es auf den ersten Blick hin erscheinen mag.36

IV. Das zählebige Leitbild schicksalhafter Daseinsverhältnisse, die, einer Diskussion und Gestaltung weitgehend entzogen, im demütigen Vertrauen auf eine höhere Fügung hingenommen wurden, verführt immer wieder dazu, die Stabilisierung der vom Gruppenegoismus beherrschten Auseinandersetzung in unserer Gesellschaft von der Wiederherstellung ständischer Ordnungen oder zumindest einer berufsständisch gebundenen staatlichen Exekutive zu erwarten.37 Zur Kritik dieser Betrachtungsweise vgl. Norbert Elias, a. a. O. Helmuth Plessner, Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie. In: Studium Generale. 9. Jg., Heft 8, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1956, S. 445–453. 35 Mit dieser Ansicht setzt sich auseinander die vom Bundesverband der Deutschen Industrie veranstaltete Diskussion, »Der Staat und die Verbände«, vgl. ferner Günther Remmling, a. a. O. 36 Vgl. Christian von Ferber, Die gesellschaftliche Rolle des Interesses. In: Dtsche Universitäts Zeitung. 13. Jg., 1958 Nr. 4. 37 Z. B. Theodor Eschenburg, a. a. O. Vgl. aber auch seinen Diskussionsbeitrag in »Der Staat und die Verbände«, S. 30/31. Eschenburg fordert hier »vor allem eine stärkere Pflege der politischen Sitte«, die »durch den Einbruch in die Moral, der im Dritten Reich erfolgte, in erheblichem Maße beeinträchtigt« wurde. Auch vertritt er die Auf­ fassung, »daß die anstehenden Probleme durch eine Institutionalisierung nicht gelöst werden können. Wir ... sollten daher versuchen, eine neue Staatlichkeit zu schaffen, die der veränderten Gesellschaftssituation entspricht«. Nicht unerwähnt darf ein die gegenwärtigen deutschen Zustände kennzeichnendes Element der Stabilisierung blei­ 33

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Die feste Hand obrigkeitlicher Willensbildung oder die Vorgabe auf Autorität gegründeter Entscheidungskompetenzen scheinen einer solchen Auffassung eine mögliche Garantie gegen ruinöse Auswüchse allgemeiner Interessenkonkurrenz zu bieten. Dabei aber wird in der Regel auf eine eingehende Diskussion der naheliegenden Frage verzichtet, ob angesichts des konstitutiven Charakters, den Interes­ senorganisation und -kollision für die industrielle Gesellschaft besit­ zen, eine restaurative Politik, die ihre Leitbilder aus vorindustriellen Gleichgewichtsverhältnissen abstrahiert, überhaupt ein adäquates Mittel darstellt. Möglicherweise liegt gerade die Gefahr einer kor­ rumpierenden Entwicklung des Gruppenantagonismus industrieller Massendemokratien in der Konkurrenz um den Einfluß auf eine machtmäßig privilegierte »Schlüsselgewalt«, die als deus ex machina für eine friedliche Beilegung von Konflikten sorgt und damit auch ein gut Teil Verantwortung für die Einhaltung der Spielregeln übernimmt. Die hiermit gegebene Garantiehaftung einer dritten, übergeordneten Instanz wird tendenziell sogar eine Interessenverfolgung »auf Biegen und Brechen« bis zur Aufgabe jeder Eigenverantwortlichkeit fördern. Nicht in der Stabilisierung einer interessenfreien und damit dem Zugriff jeder verwegenen Machtübernahme offenen Staatsma­ schinerie also ist eine wirksame Kontrolle gruppenegoistischer Aus­ einandersetzungen zu suchen – sie steht in der Geschichte am Beginn jeder Diktatur, die den Verfall allseitiger Entwicklung eines Volkes einleitet. Vielmehr ist die Realisierung des im Widerstreit der Interessen angelegten Fortschritts nur mit einer Verflüssigung erstarrter institutioneller Fronten zu erreichen. Sie allein vermag eine Klärung der Situation zum Kompromiß herbeizuführen, der aus dem Zwang zur Kooperation heraus unausweichlich gefordert ist, denn in der »Konkretisierung« gesellschaftlicher Interessenkonkur­ renz sind »Gewinn und Verlust«, »Festigung« und »Schwächung« reziproke Größen. Kompromißbereitschaft gehört daher zu dem ben, auf das Werner Weber, ebda., aufmerksam macht: »Die Situation in den Jahren nach dem Zusammenbruch hat überdies zu einer merkwürdigen Erscheinung gerade in unserem Sozialleben geführt, nämlich dazu, daß viele Männer, die einstmals im Staat eine verantwortliche Stelle bekleidet haben, gerade in den Verbänden wieder ein Betätigungsfeld gefunden haben. Für sie war und ist das Agieren in den Verbänden eine geradlinige Fortsetzung ihres Bemühens um die Ordnung des Gemeinwesens. Dafür lassen sich glücklicherweise zahlreiche Beispiele anführen.« Für unsere Betrach­ tung ist die staatserhaltende »Partei« der 131er als eine Übergangserscheinung anzu­ sehen, wir können uns daher eine Auseinandersetzung mit diesem Problem hier ersparen.

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jedem Interesse innewohnenden Durchsetzungswillen unmittelbar hinzu, sie gilt es institutionell zu stärken. Denn auch geschichtlich hat sich bereits die Wahrnehmung der Chance zur Teilübereinkunft, die der liberalen Vorstellung von der Aufspaltung des vernünftigen Gesamtprozesses auf eine Vielzahl agierender Einzelwillen zugrunde liegt, als ein adäquateres Verhalten erwiesen als ein Verharren auf dem Standpunkt des »alles oder nichts«, wie das Beispiel der Gewerk­ schaftsbewegung deutlich zeigt. In diesem perennierenden Prozeß der Interessenvermittlung, dessen Fortdauer die Grundlage einer Gesellschaft bildet, die auf steigende Ausnutzung von Naturkräften und zunehmende Rationali­ sierung menschlicher Kooperation gerichtet ist, besitzt die Empirische Sozialforschung offenbar ideale Voraussetzungen, eine Schlüsselstel­ lung einzunehmen: Sie ist von Haus aus zu einer die Standpunkte der Interessengegner umgreifenden Situationsanalyse imstande, sie verfügt über das methodische Rüstzeug für eine Kritik illusionärer Leitbilder, in ihr ist auch die Vergangenheit am lebendigsten aufbe­ wahrt,38 um die Stärke geschichtlicher Tendenzen zu spüren, und in der Konvergenz ihrer Fragestellung sowie in der Kumulation ihrer Erfahrung liegt deutlich eine Chance für die Koordinierung voraus­ eilender und nachhinkender gesellschaftlicher Teilprozesse. Demgegenüber ist die Bereitschaft der Empirischen Sozial­ forschung, diese ihr von der Gesamtsituation angetragene Stel­ lung einzunehmen, gegenwärtig allerdings verhältnismäßig gering entwickelt, obgleich aus der Einsicht in die sich abzeichnende funktionelle Bedeutung der Sozialwissenschaften von der Praxis verschiedentlich derartige Aufforderungen an ihre Adresse gerich­ tet werden.39 Die bereits geschilderte Trennung von Wissenschaft und Pra­ xis, die unsere gegenwärtige Wissensorganisation belastet, steht der Übernahme politischer Verantwortlichkeit außerordentlich hindernd entgegen. Zu ihrer Überwindung bedarf es – eine weitgehende Ände­ rung wissenschaftlicher Gesamtorientierung vorausgesetzt – von seiten der Sozialwissenschaften vor allem der Entwicklung neuer Methoden, wissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit 38 Jedenfalls sollte dies der Fall sein, vgl. Adolf Geck in Soziale Welt. Jg. 8. 1957, S. 96 in seiner Besprechung von Franz Wester, Die Vierzigstundenwoche und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung. Ferner Wilhelm Hennies, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, Tübingen 1957. 39 Z. B. Paulssen, a. a. O.

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zu bringen. Hierfür genügen nicht allein die Aktualität der Fragestel­ lung, die Publikation und ihre Verbreitung mit den vorhandenen Massenkommunikationsmitteln sowie öffentliche Diskussion auf Kongressen und Generalversammlungen, sondern die Aktivität muß außer auf diese herkömmlichen Formen wissenschaftlicher »public relations« auch darauf gerichtet sein, die von einer Untersuchung betroffenen Kreise dazu zu veranlassen, von den Untersuchungser­ gebnissen Notiz zu nehmen und ihre Aktionen daran zu orientie­ ren. Solange es nicht gelingt, den beteiligten Gruppen ihre eigene Situation im Rahmen übergreifender Funktionszusammenhänge zum Bewußtsein zu bringen und zu einer Entscheidung gegenüber den auf­ gedeckten Problemen herauszufordern, erfüllen empirisch-soziologi­ sche Untersuchungen allein die Funktion einer Berichterstattung und dienen der Materialsammlung zur Zeitgeschichte. Ohne ein fortwäh­ rendes Drängen, die erhobenen gesellschaftlichen Tatbestände unter grundsätzlichen Perspektiven zu erörtern und dementsprechende praktische Schlußfolgerungen zu ziehen, bleibt die Auswertung von »Lage«berichten dem jeweiligen Gutdünken überlassen und befördert schließlich Verschleierung und Tarnung. Die Sozialgeschichte ist ein einziger Beleg für die krisenverschärfende Macht unzeitgemäßer Situationseinschätzung; ihre Auswirkung aber erstreckt sich nicht allein auf die durchgehenden Klassen- und Schichtungsverhältnisse, sondern gilt in gleicher Weise für gesellschaftliche Organisationen und Institutionen. Nur in der Institutionalisierung einer ständigen, Verflüssigung gesellschaftlicher Interessengegensätze durch Beob­ achtung kritischer Erscheinungen und durch kontinuierliche Diskus­ sion strittiger Probleme wird eine Erstarrung der Fronten und ein Versinken im nur Gegensätzlichen verhindert. Die versachlichende Funktion einer »Clearing«stelle im gesell­ schaftlichen Prozeß fortschreitender Kooperation, zunehmender Daseinsansprüche und allgemeiner »Organisierung« von Interessen ist das notwendige Korrelat einer in Interessentengruppen zerfalle­ nen Gesellschaft. Zu dieser Aufgabe aber ist offenbar keine Einrich­ tung mehr berufen als die Wissenschaft, für die die Vereinigung einander widerstreitender Erfahrungen selbst ein wichtiges methodi­ sches Prinzip bildet. Die Konkretisierung abstrakter Gegensätze, die Versachlichung weltanschaulich gebundener Denkweisen und damit das Anbahnen möglicher Teillösungen bildet ohnehin Bestandteil soziologischer Forschung; ihnen zur praktischen Wirksamkeit zu verhelfen, bedarf es allein der Initiative.

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a) Die Argumente Eine theoretische Bearbeitung der Beziehungen, die – grob gesagt – zwischen technisch-ökonomischer und künstlerisch-kultureller Pro­ duktion offenbar bestehen, liegt außerhalb der marxistisch gebun­ denen Literatur nur in wenigen verstreuten Ansätzen vor. Wohl fehlen selten in kultursoziologischen und allgemein gesellschaftskri­ tischen Betrachtungen ausdrückliche Bezugnahmen auf die industri­ elle Gesellschaft, auf ihren Arbeits- oder Leistungscharakter, auf ihre technisch-ökonomischen Strukturen etc.; der Versuch, die in einer gemeinsamen Kommunikations- und Interpretationssphäre behei­ mateten Sinnbeziehungen von »Arbeit und Kultur«1 in einem syste­ matischen Sinne zu erfassen, ist bisher kaum unternommen worden. Die institutionelle Verselbständigung der Produktionsbetriebe hat ungeachtet ihrer entscheidenden gesamtgesellschaftlichen Bedeutung einer isolierten Betrachtung der industriellen Arbeit Vorschub geleis­ tet. Das »Ressort«-denken in verschiedenen Soziologien bildet in dieser Beziehung das getreue Abbild einander »entfremdeter« Gesell­ schaftssphären. Das Verhältnis von Industrie und Gesellschaft gehört daher, wie Dahrendorf unter Bezugnahme auf Schelsky hervorhebt, zu dem »bisher am stärksten vernachlässigten Bereich der Industrieund Betriebssoziologie«2.

1 Die gleichnamige Arbeit von Frohme aus dem Jahre 1905 erhebt keine systema­ tischen oder wissenschaftlichen Ansprüche. Sie ist eine populäre Darstellung der Geschichte der menschlichen Arbeit, vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der nicht-wirtschaftlichen Zielsetzungen, mit denen die Arbeit im Laufe der Kulturge­ schichte verbunden gewesen ist. Als gewerkschaftliche Aufklärungsschrift im besten Sinne – »die Belehrung und Aufklärung der Verbandsmitglieder möglichst zu fördern« heißt es im Vorwort des »Vorstandes des Zentralverbandes der Maurer Deutschlands« – stellt sie ein wertvolles Dokument für die Arbeitsgesinnung der gewerkschaftlichen Führungsschichten der deutschen Arbeiterschaft dar. 2 Dahrendorf, Betriebssoziologie, S. 10.

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Die Erscheinungen, die im Sinne unserer Fragestellung den die verschiedenen Soziologien der industriellen Gesellschaft übergreifen­ den Gegenstand ausmachen, sind allerdings seit langem bekannt. Bereits im Jahre 1907, veröffentlichte der Kunsthistoriker Richard Hamann, fast gleichzeitig mit dem Ergänzungsband zur Deutschen Geschichte, »Das Zeitalter der Reizsamkeit«, von Karl Lamprecht, eine umfangreiche Untersuchung über den »Impressionismus in Leben und Kunst«. Der jene Zeit beherrschenden theoretischen Auf­ fassung gemäß versuchte Hamann den Nachweis eines einheitlichen Stilzusammenhanges zu führen, der über die Ähnlichkeit der Form­ elemente die bildenden Künste, Dichtung, Musik und Philosophie untereinander sowie diese mit den vorherrschenden Lebens- und Ver­ haltensweisen in Familie, Geselligkeit und Öffentlichkeit verbindet. Die gesellschaftlichen Bedingungen, die vornehmlich die Ausprägung eines gemeinsamen impressionistischen Stils fördern über naturge­ gebene Vorteile hinaus, wie Klima oder Talent, erblickt Hamann im großstädtischen Milieu, das wirtschaftlich wie gesellschaftlich eine unübersehbare Vielzahl von Individuen miteinander in einen flüchtigen, auf wenige Berührungspunkte eingeschränkten Kontakt bringt. Als die den Impressionismus tragende und propagierende Gesellschaftsschicht bezeichnet er daher das Judentum, dessen urbane Existenzweise ihm offenbar einen festen Bezugspunkt für eine Defini­ tion des selbst impressionistischen Charakters des »Großstädtischen« zu geben verspricht. Obgleich Hamanns Konzeption kulturelle wie gesellschaftliche Erscheinungen gleichermaßen umfaßt, sieht er noch an der industriellen Arbeit vorbei, die bald in der Rede vom »geistigen Arbeiter« gesellschaftlichen Symbolwert erhalten sollte. Von bleibendem Interesse sind daher weniger die Interpretation und die soziologische Begründung, die der Impressionismus in der Darstellung Hamanns erfährt, als die kenntnisreiche, ungemein viel­ seitige Materialsammlung, die auf viele zeitgeschichtlich bedeutsame Einzelzüge hinführt. Wesentlich für unsere Fragestellung aber sind die Grundcharaktere des »Impressionismus«, die, nicht an eine vor­ übergehende Richtung innerhalb der modernen Kunst gebunden, mit hintergründigen Strukturänderungen der Gesellschaft in Zusammen­ hang stehen. Sie kehren in nur wenig abgewandelter Form in neueren kunstgeschichtlichen bzw. kultursoziologischen Überlegungen wie­ der und zeigen eine überraschende Ähnlichkeit mit zeitlich parallelen Strukturentwicklungen der Arbeitsverhältnisse.

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a) Die Argumente

Die Merkmale, in denen für Hamann die Gemeinsamkeit des Stils für die Künste, die Philosophie und die Lebensführung zum Ausdruck kommt, lassen sich unschwer in zweifacher Richtung syste­ matisieren. Der Sache nach prägt sich der Impressionismus in Spezia­ lisierung und Isolierung der einzelnen Künste bzw. Lebensbereiche aus. Grundlage dieser Vereinseitigungs- und Abkapselungstenden­ zen bilden – häufig in Anlehnung an wissenschaftliche Perspektiven entworfene – Programme für die Darstellung »reiner« Phänomene des Optischen, des Taktilen, des Musikalischen, aber auch der dichte­ rischen Aussage: Farbe und Licht in der Malerei, »Tastimpressionen des Weichen und Harten, des Knöchernen und Weichen« in der Plastik, Klang und Klangfarbe in der Musik, die sinnliche Wirkung von Worten und Wortfolgen in der Dichtung rücken im Zuge die­ ser Bestrebungen zu selbständigen Darstellungszwecken auf. Die partielle, aber dafür um so mannigfaltigere Inanspruchnahme des einzelnen in verschiedenen »Ressorts« sachlichen Zusammenwirkens und kommunikativer Beziehungen spiegelt sich im Zerfall der Fami­ lienbande, in Individualisierung und Vereinsamung. Der Eigenart dieser Sachstrukturen entsprechen bestimmte psy­ chische Dispositionen. Seiner subjektiven Auswirkung nach gehören zum Impressionismus Verfeinerung des Empfindungs- und Gefühls­ lebens, Erwecken der Ansprechbarkeit auf sinnliche Reize, Bewußt­ heit sinnlichen Genießens. Die Psychologie rückt zur Grundlagen­ disziplin der Geisteswissenschaften auf und wird in popularisierter Form allgemeines Bildungsgut. Die mögliche Konzentration auf die Eindrücke eines Sinnesgebietes bzw. die Inanspruchnahme durch Sinnesreize, die ohne Rückgriff auf Erinnerungen, ohne Aktivierung einer bereits angesammelten Allgemeinbildung rein situativ verarbei­ tet werden können, ruft auch im Subjekt die Spezialisierung und Isolierung als psychische Disposition hervor, die in der Sache bereits angelegt und von ihr gefordert ist. Die Herauslösung der Künste aus den übergreifenden Aufgaben etwa des »Gesamtkunstwerks« oder mythologischer und historisierender Darstellungen wird von der Einstellung des Subjekts gleichsam nachvollzogen, unterstützt und getragen durch die partielle und vorwiegend sinnliche Anforderung der impressionistischen Kunst. Gefördert wird diese Konzentration auf das »Sinnliche« durch die gleichzeitige Verlagerung des künstleri­ schen Effektes von der Ebene sinnhafter Bezüge religiöser, mythologi­ scher oder historischer Art in den Bereich der künstlerischen Behand­ lung. Programmatisch zugespitzt in der Forderung, »den Gegenstand

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Moderne Kunst und industrielle Arbeit

so einfach, so bekannt als möglich zu wählen, und alle Kunst durch die Behandlung hineinzutragen«3, rückt das »Interessante« in der Form des Seltenen, Ausgefallenen, aber auch des Paradoxen, Widersinnigen und einer »biedermeierlichen« Tradition bewußt Entgegengesetzten zur ästhetischen Kategorie auf. Hamanns Interpretation des impressionistischen Stils, die wir hier in ihren Grundzügen wiedergegeben haben, ist angelegt als Beschreibung der spezifischen Merkmale einer abgegrenzten Epo­ che. Im Zusammenhang der nachfolgenden kunsthistorischen und sozial-psychologischen Analysen gesehen, erweist sie sich als eine Darstellung, in der die wesentlichen Charaktere moderner Kunst und der »Seele im technischen Zeitalter« bereits getroffen sind. In der »Zerspaltung der Künste« sieht z. B. Sedlmayr4, den wir in diesem Punkt als Repräsentanten einer allgemein vertretenen Auffassung zitieren, eine der »Hauptwurzeln« der Kunstepoche seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. »Seit dieser Zeit«, meint Sedlmayr, »beginnen die Künste sich voneinander abzusondern. Die verschiedenen Gebiete des Kunstschaffens streben danach, ›autonom‹, autark, jede in ihrem Gebiet ›absolut‹ ... zu werden und sich in völliger ›Reinheit‹ darzustel­ len, einer Reinheit, die man geradezu als ethisches Postulat empfin­ det.« »An dieser Tendenz hat man ein gutes Kriterium ..., um zu ent­ scheiden, welche Strömungen der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts ›modern‹, welche konservativ und reaktionär sind. Ja, indem man diese Tendenz zur Isolierung der Künste als gegeben voraussetzt und Schritt für. Schritt aus den einzelnen Kunstgattungen das ausscheidet, was sie an vermeintlich fremden Elementen in sich enthalten – zum Beispiel aus der Malerei das Element des Plastischen, der Linie, des Architektonischen, des Bühnenhaften; das Transzendente, das Lite­ rarische, das Gegenständliche, – gelingt es, wesentliche historische Erscheinungen der modernen Kunst abzuleiten und gleichsam zu erzeugen, die man bisher einfach als historische Tatsachen hinneh­ men mußte.« »Die noch nicht dagewesene Ausfaltung, Ausgesprochenheit, sozusagen Hautnähe und Ungeniertheit des psychologisch Eigen­

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Hamann, a. a. O., S. 232. Sedlmayr, a. a. O., S. 64 ff.

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a) Die Argumente

schaftlichen selbst« bildet für Gehlen5, dem wir fundierte Untersu­ chungen über das Verhältnis von Psyche, Psychologie und Gesell­ schaft verdanken, die Grundstrukturen des Seelischen in der industriellen Zivilisation. »Der verwickelte Zerfall der Ideale und Wertgefühle, wie er im Inneren des einzelnen den ungeheuren Umwälzungen der neueren Zeit entspricht, hat ... seine eigene Pro­ duktivität an der staunenswerten Differenzierung des Psychischen ... Wohl noch niemals waren so viele Menschen mit den feinsten Anten­ nen ausgestattet, und das Zeitalter der Vermassung erweist sich ... als dasjenige, in dem die ausschweifendste Zufälligkeit der Subjektivität Anspruch auf öffentliche Geltung und Beachtung erhebt – und das erfolgreich.« In dieser Entwicklung sieht Gehlen den Beleg für seine These, »daß die moderne Seele gleichzeitig mit der Wissenschaft von ihr und mit der Kunst entsteht, in denen sie abgespiegelt wird ... die beiden letzteren sind ... die repräsentativen modernen seelischen Zustände selber, diese so hochgradig bewußten, auf sich selbst reagi­ blen und darum sich differenzierenden, ausfaltenden Gebilde«. Die Ähnlichkeit der Argumente, mit denen diese voneinander unabhängigen Darstellungen die Entwicklungstendenzen der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts und die Eigenart der seelischen Zustände in einer großstädtischen bzw. industriellen Kultur schildern, ist auf den ersten Blick hin auffällig. Ihre Grundvorstellungen bilden – auf eine Formel gebracht – Rationalisierung der einzelnen Kunstgattun­ gen auf der Grundlage ihrer spezifischen Darstellungsmittel sowie Verfeinerung und Steigerung der seelischen Reagibilität, hervorgeru­ fen und gefördert durch die aus dem Zerfall intensiver Sozialbindun­ gen herrührende Individualisierung. Wem das kontinentale arbeits- und betriebssoziologische Schrifttum seit der Jahrhundertwende vertraut ist, wird auch die Übereinstimmung dieser kulturhistorischen Beschreibungen mit den Darstellungen bestimmter Erscheinungen der Industriearbeit bemer­ ken. Das Schicksal der menschlichen Arbeit, wie es sich mit ihrer Einordnung als Produktionsfaktor in den industriellen Arbeitsprozeß gestaltet hat, stellt einen zeitlich weitgehend parallelen Rationali­ sierungsprozeß dar, der die menschliche Arbeit aus familien- bzw. feudalwirtschaftlichen Sozialordnungen herauslöste und – im Prinzip 5 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, insbes. S. 57 ff. Vgl. ferner »Urmensch und Spätkultur«, »Soziologischer Kommentar zur modernen Malerei« und »Das Ende der Persönlichkeit«.

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jedenfalls – auf spezifische Leistungscharaktere reduzierte. Mit dieser Spezialisierung der menschlichen Arbeit aber geht eine deutliche Psychologisierung der Arbeitsverhältnisse einher. Die psychischen Aspekte der täglichen Arbeit werden als Thema der Arbeitswis­ senschaften entdeckt: »Arbeit und Rhythmus«, »Psychopathologie der Industriearbeit«, »Wechselseitige Anpassung von Arbeit und Mensch«, »Die kleine Gruppe im Betrieb«, »Betriebsklima«, »Emo­ tional engineering« u. ä. bezeichnen die Stationen einer psychologi­ schen und sozialpsychologischen Erforschung der Industriearbeit. Die praktische Bedeutung dieser Forschungsergebnisse wie vor allem ihre publizistische Breitenwirkung aber sind unüberhörbare Anzeichen für das vorliegende Bedürfnis nach einem psychologisch begründeten Verständnis der Industriearbeit. Die nicht nur zeitliche Parallelität, mit der künstlerische Produk­ tion und menschliche Arbeit sich während der Industrialisierungsepo­ che seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts einander in ihrer Entwick­ lung berühren, wurzelt offenbar nicht – das sei hier ausdrücklich vermerkt – in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis, wie es z. B. für Haushalt und Marktwirtschaft, für Familie und Industriearbeit besteht. Die gesellschaftliche Trennung von künstlerischer und wirt­ schaftlicher Arbeit gehört einer wesentlich früheren Epoche an. Auch beruht die Übereinstimmung der Entwicklungstendenzen, die in der modernen Kunst und in der industriellen Arbeit zu erkennen sind, auf wenigen, allerdings grundsätzlichen Eigenschaften. Dementspre­ chend bewegt sich eine nähere Begründung dieses Zusammenhanges auf einer verhältnismäßig abstrakten Ebene der Darstellung. Moderne Kunst und industrielle Arbeit begegnen sich in dem gesamtgesellschaftlichen Vorgang, den wir seit Max Weber für gewöhnlich als Rationalisierung des Lebens bezeichnen. Die Berech­ tigung, diesen aus der Analyse der Produktions- und Konsumtions­ verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft gewonnenen Begriff zur Charakterisierung des »Modernen« in der neueren Kunstge­ schichte heranzuziehen, leiten wir aus der – zur Industrialisierung zeitlich parallelen – »Zerspaltung der Künste« her, wie sie zusam­ menfassend Sedlmayr beschrieben hat. Denn auch die Bewegung zur »Autonomie« in den Künsten vollzieht sich unter dem Einfluß naturwissenschaftlicher Vorstellungen nach einem bewußt gestalte­ ten Programm. Zudem bildet eine intensive Beschäftigung mit der Technik künstlerischer Gestaltung sowie deren »Revolutionierung« die Folge dieser Spezialisierung. Die Entbindung der Künste aus

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a) Die Argumente

traditionellen Aufgaben – beispielhaft aufweisbar in dem Aufgeben der Abbildfunktion durch die Malerei6 – zieht den Verlust einer vertrauten, symbolhaltigen Kommunikationssphäre nach sich, in ähnlicher Weise, wie die industrielle Organisation der Arbeit tradi­ tionsreiche, Sicherheit gewährende Arbeitsverhältnisse aufgehoben hatte. Und schließlich räumt die Herauslösung des Individuums aus Sozialbindungen schicksalhafter Art und die damit eingetretene Sub­ jektivierung der Lebensverhältnisse der Psychologie eine bevorzugte Stelle für den planvollen Einsatz der menschlichen Arbeit wie für die Durchsetzung künstlerischer Absichten ein. Mit dem Aufweis dieser »Entsprechungen« zeitlich paralleler Rationalisierungsvorgänge ver­ binden wir zugleich eine methodische Absicht. Die Kategorien der Rationalisierung des Handelns, die in der Sicht Max Webers das Entwicklungsgesetz der abendländischen Sozial- und Kulturgeschichte charakterisiert, treffen keine Vorent­ scheidung hinsichtlich eines bestehenden Bedingungsverhältnisses zwischen den einzelnen Komponenten des sich zweck- und wert­ rational strukturierenden Gesellschafts- und Kulturprozesses. Eine Zurückhaltung, die mit den Begriffen Industrialisierung und Indus­ triegesellschaft, die sich in neuerer Zeit für die Bezeichnung der gleichen Erscheinung eingebürgert haben, deutlich aufgegeben ist.7 Ferner sind »Rationalisierung«, »Zweck«- und »Wertrationalität« als rein deskriptive Kategorien entworfen, die eine wertende Parteinahme bewußt vermeiden wollen. Die Anwendung dieser positivistisch-neu­ tralen Optik auf die »Entsprechungen« zwischen moderner Kunst und industrieller Arbeit wird es uns im folgenden erleichtern, den gesell­ schaftlichen Standort der pessimistischen Urteile über den »Verlust« der Arbeitsfreude und der »Mitte« zu bezeichnen. Die – bis in die Begriffsbildung hinein zu vollziehende – Ein­ sicht in die geschichtlich unaufhaltsame und vom Willen einzelner oder gesellschaftlicher Gruppen unabhängige Umstrukturierung des Gesellschafts- und Kulturprozesses auf der Grundlage »rationaler« Prinzipien macht jedes Werturteil über diese Kulturentwicklung zu einer »interessierten« Stellungnahme. Das Bedauern über das Verlas­ sen von Sozialformen, die geschichtlich zu einer endgültigen und werthaltigen Gestalt herangereift waren, wird im Kontrast zu der unleugbaren Folgerichtigkeit im Preisgeben des Überlieferten zum 6 7

Plessner, Moderne Malerei. Jantke, Industriegesellschaft, S. 35 ff.

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Moderne Kunst und industrielle Arbeit

Ausdruck des Interesses. Die Interessenbedingtheit gesellschaftlicher Werturteile aber verpflichtet eine wissenssoziologische Kritik zur Beantwortung der Frage: Cui bono? Dieser Aufgabe sind die folgen­ den Erörterungen im Hinblick auf den »Verlust« der Arbeitsfreude und der »Mitte« gewidmet.

b) Die »Zerspaltung der Künste« und die Rationalisierung der Arbeit Die enge Beziehung, in der die moderne Kunst zur Naturwissenschaft und Technik steht, mag sie unmittelbar von diesen abhängen, Anre­ gungen empfangen oder sich ihrer Sprache zur eigenen theoretischen Rechtfertigung und Begründung bedienen8, teilt sie mit der indus­ triellen Arbeit. Eine gemeinsame Beziehung, die eine Tendenz zur Rationalität der künstlerischen Produktion offenbart, wie sie uns für die wirtschaftliche Arbeit bereits selbstverständlich geworden ist und die, wie wir meinen, auf dem gleichen gesellschaftlichen Ursprung beruht. Zwar fehlt in der modernen Kunst das Motiv, das in der wirtschaftlichen Produktion die menschliche Arbeit neuartigen tech­ nologischen Bedingungen unterwirft und ihre weitgehende Anpas­ sung an technisch-ökonomische Erfordernisse erzwingt: Künstleri­ sche Ideen verbinden sich Naturwissenschaften und Technik nicht mit der Absicht einer Produktionssteigerung, wohl aber suchen sie in dieser Verbindung einen ihnen angemessenen Ausdruck zu finden; im gleichen Sinne, wie letztlich auch die menschliche Arbeit in der wissenschaftlichen Definition ihrer Produktionsbedingungen, d. h. in der »Versachlichung« von Lohnfindung und Autoritätsbeziehungen, in der »Rationalisierung« des beruflichen Aufstiegs etc. das ihr eigene Maß und Ziel erstrebt. Hier wie dort sehen wir das gleiche Prinzip am Werk: ein Streben nach Einsichtigkeit und Verständlichkeit, die mit Hilfe wis­ senschaftlicher Methoden und Erkenntnisse erreicht werden sollen. Es entspringt aus der gemeinsamen Erfahrung, eine sinnvermittelnde Tradition zu überwinden kraft Besinnung auf spezifische Chancen innerhalb einer eingeschränkten, »isolierten« Situation. Denn auf bei­ 8 Haftmann, a. a. O., Plessner, Moderne Malerei, Gehlen, Soziologischer Kommentar zur modernen Malerei u. a.

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b) Die »Zerspaltung der Künste« und die Rationalisierung der Arbeit

den Gebieten wird der gleiche Übergang vollzogen aus konventionel­ len Beziehungen innerhalb eines relativ begrenzten gesellschaftlichen Zusammenhanges – hier der Bedarfdeckungswirtschaften und des Kundenmarktes, dort der »Werkstatt« und der »gegenständlichen« Aufgabe seitens eines gesellschaftlich homogenen und unmittelbar beteiligten Publikums9 – in Richtung auf ein rational begründetes Verständnis der eigenen Rolle in einer gewandelten Gesellschafts­ situation. Die »Zerspaltung der Künste« besitzt in der »Verselbständi­ gung« der Arbeitsverhältnisse eine auffällige Parallele. Die Struktur des Verhaltens unterliegt gleichgerichteten Verän­ derungen. Die sinnvermittelnden Faktoren werden aus dem Gegen­ stand der Produktion gleichsam zurückgezogen und in die Technik des Produzierens verlagert10: Die Stelle variierender Auffassungen von bekannten, in der kulturellen Tradition verankerten Themen vertritt das Experimentieren mit Methoden für beliebige oder zumindest »unwichtige« Themen, das Motiv tritt an die Stelle des Themas. Ähnlich spielen für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg der Fabrikanten und Manager die Gegenstände ihrer Produktion eine nebensächliche Rolle, die Berufsbezeichnung des Arbeiters wandelt sich in die Kennzeichnung seiner produktionstechnischen Funktion ab, während noch der Handwerker durch den Gegenstand seines Handwerks bezeichnet und gesellschaftlich eingestuft war. Die Refle­ Für die‚ Emanzipierung des Künstlers aus einem ausgeprägten gesellschaftlichen Milieu seines Berufsstandes sowie seiner Auftraggeber bietet die Geschichte des Impressionismus ein hervorragendes Beispiel. Die Impressionisten verließen das Atelier, das für die Maler ihrer Zeit ein Stück ihrer Berufswelt bedeutete, wie für den Gelehrten die Studierstube oder den Handwerker die Werkstatt. Ihre ersten Ausstellungen, die nicht in den traditionell eingeführten Pariser Salons stattfanden, wurden zu gesellschaftlichen Skandalen. Von Monet weiß Knaurs Lexikon der moder­ nen Kunst bezeichnenderweise zu berichten: »Seiner Herkunft nach gehörte er zum Besitzbürgertum; er blieb während seines ganzen Lebens dieser Gesellschaftsklasse verbunden, deren Vorrechte er genoß ... Er hat doch gerade diese Schicht während seiner Laufbahn aufs heftigste brüskiert, denn seine Malerei war in den Augen der wohlhabenden Bürger außerordentlich revolutionär.« In die gleiche Richtung weist die Bedeutung, die der Geniebegriff für die gesellschaft­ liche Rolle des Künstlers im ausgehenden 19. Jahrhundert einnimmt. Für die »Genesis der modernen Malerei« hat Plessner diesen Zusammenhang entwickelt, ebda. 10 »Mit (der) purifizierenden Rückwendung des Malers unter der Idee einer größt­ möglichen Ehrlichkeit gegenüber dem bloßen Eindruck wird die Richtung auf Wie­ dergabe immerhin noch beibehalten, ihr Gegenstand nur nach vorn verlegt, sozusagen den effektiven Möglichkeiten des Auges unter Verzicht auf die darüber hinauswei­ sende gegenständliche Intention angenähert.« Plessner, Moderne Malerei, S. 416. 9

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Moderne Kunst und industrielle Arbeit

xion auf die Art der technischen Behandlung, auf die Auswahl der durchgeführten Lösung bildet daher ebensosehr eine via regia zum Verständnis der modernen Kunst, wie sie als »institutionalisierte Dauerhaltung« das dynamische Element der industriellen Produk­ tion ausmacht. Das unternehmerische Handeln, als stilbegründende Leistung so gut wie als produktions- bzw. finanztechnisches Erfinder­ talent, setzt sich unter diesen Bedingungen als allgemeiner Maßstab des Erfolges durch. Hiermit eng zusammenhängend verlieren die Kriterien, nach denen die gesellschaftliche Adäquatheit der wirtschaftlich-berufli­ chen bzw. der künstlerischen Leistung sich bemessen, ihren konven­ tionellen Charakter und werden zunehmend in rationalen Begrün­ dungen gesucht. Arbeit und Arbeitsplatz büßen ihren religiösen und ethischen Sinngehalt ein, der ihnen in einer kirchlich fundierten Sozi­ alordnung und noch unter einer ungebrochenen Vormachtstellung bürgerlicher Schichten zukam, und werden offen für eine zweckra­ tionale Interpretation im Sinne einer marktorientierten Vorteilsab­ wägung oder eines von den beruflichen Fortkommenschancen her entworfenen Lebensplanes11. In der modernen Kunst wird eine kulturell eingewöhnte und in einer vordergründig anschaulichen Naturauffassung begründete Gegenständlichkeit preisgegeben, die der künstlerischen Auffassung während der unmittelbar vorangegangenen Jahrhunderte selbstver­ ständlich gewesen war. Die Problematisierung dieses Gegenstandsbe­ wußtseins aber verbindet sich z. T. unmittelbar mit modernen mathe­ matisch-physikalischen Naturvorstellungen zu einem künstlerischen Programm: Die kommende Kunst wird die Formwerdung unserer wissenschaftlichen Überzeugung sein (Franz Marc12). Überwiegend aber wird die Abwendung von einer fraglos gülti­ gen »natürlichen« Weltansicht bewußt reflektiert in der verfremden­ den Gestaltung von Traumgesichten und Entwürfen reiner Phantasie. Die Absicht der Erschließung einer – dem naiven Weltverständnis – unwirklichen Bild-und Formenwelt aber liegt in einer ausdrück­ lichen Kontrastwirkung. Ihren Gegenspieler findet diese in einer nachwirkenden »gegenständlichen« Auffassung von den Aufgaben der Kunst, aufrechterhalten kraft einer jahrhundertealten Tradition,

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Im einzelnen vgl. hierzu den voranstehenden Abschnitt, insbesondere S. 23 ff. Weitere Hinweise vgl. bei Haftmann, a. a. O.

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c) Die »Kommentarbedürftigkeit« von moderner Kunst und industrieller Arbeit

die als sinkendes Kulturgut in den aufsteigenden kleinbürgerlichen Schichten wieder eine ungebrochene Resonanz findet. Das Verhältnis der modernen, insbesondere der bildenden Kunst zu sich selbst ist also vermittelt in einem bewußten Gegensatz zu ihr »entfremdeten« Aufgaben, etwa – besonders ausgeprägt – der Abbildfunktion in der Malerei.13 In ganz ähnlicher Weise aber steht die industrielle Arbeit zu der institutionell sich von ihr ablösenden konsumtiven Lebenssphäre in einer doppelten Beziehung des Kontrastes sowie der gegenseitigen Voraussetzung. Ihre steigende Produktivität – so gewinnt es unter dieser Perspektive jedenfalls den Anschein – wird erkauft um den Preis einer Verlagerung von Befriedigung und Interesse auf konsum­ tive Ziele; die Arbeits»gemeinschaft« wird zur Konsumenten»gesell­ schaft«.

c) Die »Kommentarbedürftigkeit« von moderner Kunst und industrieller Arbeit Die »Verrätselung ihrer äußeren Erscheinung«, die »Schwerverständ­ lichkeit«, »Abstraktheit«, »Kommentarbedürftigkeit«, welche gleich­ lautenden Ausdrücke die Interpreten der modernen Kunst auch immer wählen, um die erschwerte Zugänglichkeit moderner Kunst­ werke für das Verlangen nach unmittelbarer Sinnverständlichkeit zu beschreiben, ist industrieller Arbeit und moderner Kunst gemeinsam. Wir treffen auf ein ähnlich lautendes Vokabular, wenn auch weniger reichhaltig, in der Charakterisierung der industriellen Arbeitsverhält­ nisse; die systematische Einführung in den betrieblichen Arbeitspro­ zeß, als wichtiger Programmpunkt einer sozialen Betriebspolitik, versucht den negativen Auswirkungen dieser Situation bereits prak­ tisch entgegenzuwirken. Die Bedeutung der gleichgerichteten Entwicklung zur »Abstrakt­ heit«, welcher die moderne Kunst und die Institutionen der indus­ 13 »Wenn sich die imitative Komponente in künstlerischer Wiedergabe, zunächst gewiß nur unvollkommen, in einem technischen Verfahren (sc. der Photographie) von der persönlichen Leistung ablösen ließ, fühlte der Künstler sich dazu gedrängt, seinen Ehrgeiz in anderer Richtung zu befriedigen und das Persönlich-Unvertretbare seiner Auffassung vom Gegenstand zur eigentlichen Aufgabe der Darstellung, auch der dar­ stellenden Wiedergabe zu machen.« Plessner, Moderne Malerei, S. 412. – Vgl. auch Anm. 91.

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Moderne Kunst und industrielle Arbeit

triellen Arbeitswelt zu folgen scheinen, liegt u. E. nicht bereits in der »Kommentarbedürftigkeit« (Gehlen) als solcher. Die Komplizie­ rung der beiden Sachgebiete und eine dementsprechende »Speziali­ sierung« der ihnen zugehörenden Kommunikationsmittel kann bei der herkömmlichen Verschiedenheit von künstlerischer Produktion und wirtschaftlicher Arbeit voneinander unabhängig geschehen und daher in ihrem Zusammentreffen zufälliger Natur sein. Das Recht, beide Vorgänge aufeinander zu beziehen, räumt erst der Aufweis ihres gemeinsamen Ursprungs ein. Darin, daß die »Spezialisierung« des Wissens um Kunst und Arbeit die Einheit einer bestimmten gesellschaftlichen Lebensanschauung zerbricht, die wir in einem vor­ läufigen Sinne als mittelständisch-kleinbürgerlich bezeichnen wollen, erblicken wir das – in unserem Zusammenhang – Aufschlußrei­ che an der Entfremdung, in die Kunst und Arbeit gegenüber dem gemeinen Verständnis zu geraten scheinen. Die gemeinsame Wurzel ihrer »Kommentarbedürftigkeit« liegt also in der Freisetzung einer bestimmten gesellschaftlichen Tradition und insoweit ihrer Ideologi­ sierung. Die unproblematische Gemeinverständlichkeit der Arbeitsver­ hältnisse findet ihre Grenze nicht erst an den Fabriktoren der industriellen Großbetriebe, sondern bereits unter gesellschaftlichen Bedingungen, die den durch die Arbeit zu sichernden Lebenserfolg nicht länger in selbstverständlicher oder unvermittelter Weise verfüg­ bar halten. Die Abhängigkeit der wirtschaftlichen bzw. beruflichen Existenz von einem Produktionsprozeß, der nach sachlichen, d. h. von persönlichen Erwägungen unmittelbarer Art weitgehend freien Gesichtspunkten Arbeitsplätze zur Verfügung stellt, verändert oder gar wieder zum Verschwinden bringt, übersteigt die Verständnis­ fähigkeit jedes normalen Menschen, soweit er sich ihm schutzlos ausgeliefert fühlt. Die Bedrohung vitaler Lebensinteressen durch die Abhängigkeit von einem Gesellschaftsmechanismus, der einem planvollen, aber den Interessen des einzelnen häufig gleichgültigen oder gar feindlichen menschlichen Zusammenwirken seine Existenz verdankt, problematisiert ein Verständnis der eigenen Situation. Nur insoweit eine Zunahme rationaler Durchschaubarkeit auch Sicherheit gewährt, wird also die »Kommentarbedürftigkeit« der Institutionen der industriellen Arbeit abnehmen. Die vergleichsweise geringere »Abstraktheit« der vorindustriel­ len Arbeitsverhältnisse beruht demgegenüber im wesentlichen auf den »Sicherheitsgarantien«, die sie für die Einrichtung der wirtschaft­

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c) Die »Kommentarbedürftigkeit« von moderner Kunst und industrieller Arbeit

lichen und gesellschaftlichen Existenz auf der Grundlage der Arbeit gewährten: Patriarchalische Fürsorgepflicht, die Chance persönlicher Bewährung in der Arbeit sowie die Teilhabe an der göttlichen Schöp­ fungsordnung steckten den Kreis ab, innerhalb dessen der einzelne Geborgenheit vor unerwartetem Mißgeschick fand und dessen gesell­ schaftliche Stabilität – weil nur aus beschränktem Verkehr zu erschüt­ tern – zugleich persönlicher Tüchtigkeit auch den Erfolg nicht versa­ gen konnte. In idealtypischer Verkürzung erscheinen diese Arbeitsverhält­ nisse in zweifacher Hinsicht gegenüber jeder Sorge abgeschirmt: Den Fall persönlicher Katastrophe deckte die patriarchalische Gefahren­ gemeinschaft, höhere Gewalt wie Mißwachs, Feuersbrunst, Krieg, Pestilenz etc. half der religiöse Glaube überwinden, dagegen sicherte der zähe Bestand gesellschaftlicher Ordnungen dem persönlichen Erfolgsstreben gleichbleibende Bedingungen zu.14 M. a. W.: Die Wir­ kungen frustierender Ereignisse waren in der gesellschaftlichen Bei­ standspflicht bzw. in dem Glauben an ein gemeinsames von Gott ver­ ordnetes Schicksal aufgefangen, während der persönliche Einsatz innerhalb der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse lediglich mit voraussehbaren Störungen zu rechnen hatte. Ihn Hinblick auf diesen hier und da für einige Generationen historisch nachweisbaren Zustand erscheint es allerdings sinnvoll, von einer unmittelbar ver­ ständlichen Arbeitssituation zu sprechen. Findet die »Kommentarbedürftigkeit« der industriellen Arbeits­ verhältnisse ihre soziologische Begründung also in einem schwer wägbaren Risiko, das sie der Daseinsvorsorge bereiten, so setzt die »Verrätselung« der modernen Kunst mit dem Verlust einer symbolhaltigen Kommunikationssphäre ein, die im Bereich geisti­ ger Verständigung Sicherheit des Ausdrucks und des gegenseitigen Verstehens gewährleistete. Für den Beleg dieser These können wir darauf verzichten, die umfangreiche Literatur über die Beziehungen der modernen Kunst zur »Krise der Zeit« zu bemühen. Der Zusam­ menhang, der zwischen den gesellschaftlichen Erschütterungen seit der »imperialistischen Phase« des Kapitalismus: Arbeiterbewegung, Großindustrie, Revolutionen von rechts und von links; Massenver­ nichtungen und -vertreibungen; »heiße« und »kalte« Kriege; »leben 14 Welche Bedeutung dem Verhältnis von persönlicher Zielstrebigkeit und gesell­ schaftlichen Bedingungen im Sinne von »Mitteln« zum »Erfolg« zukommt, weist Robert K. Merton a. a. O. eindringlich nach.

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Moderne Kunst und industrielle Arbeit

mit der Bombe« etc. und einer krisenbewußten, zeitkritischen Kunst besteht, ist ebenso auffällig wie vordergründig; er bietet daher keine erschöpfende Erklärung für die Entwicklung zur »abstrakten« Kunst. Auch Hocke, der den sinngesetzlichen Beziehungen zwischen dem europäischen Manierismus des 16. und 17. Jahrhunderts und Motiven der modernen Kunst eingehende Aufmerksamkeit schenkt, sieht im »Bewußtwerden epochaler Krisenerscheinungen«15 nur eine aller­ dings besonders eindringliche Parallelerscheinung16. Ebenfalls wollen wir die Ablehnung der »modernen« Kunst durch die nationalsozialis­ tische oder bolschewistische Diktatur, die in ihr eine Gefährdung tota­ ler Herrschaftsansprüche und Sicherheitsgarantien erblickte und sie daher mit den Feinden des Regimes identifizierte, lediglich als einen Hinweis auf tiefer verankerte gesellschaftliche Sicherungsbedürfnisse werten, die von der modernen Kunst nicht befriedigt werden. Zur »Schwerverständlichkeit« moderner Kunstwerke trägt zunächst die eigentümliche Paradoxie bei, daß wohl keine Epoche bisher an die Schöpfungen ihrer Künstler die Forderung nach Allge­ meinverbindlichkeit gerichtet hat, ohne zugleich den Kreis Bach- bzw. kunstverständiger Auftraggeber oder ihres Publikums in einem festen gesellschaftlichen Sinne vorzugeben. Das »Gesamtkunstwerk«, des­ sen Verfall Sedlmayr seit dem 18. Jahrhundert in der europäischen Kunst nachweist und mit beredten Worten beklagt, erhielt seine Einheit aus der gesellschaftlichen Symbiose, zu der sich geschicht­ lich jeweils führende Gesellschaftsschichten und Künstler zusam­ menfanden. Der historischen Abfolge »führender« künstlerischer Aufgaben17, wie sie Sedlmayr aufzählt und die für ihn den Weg zur »individualistischen Auflösung« einer umfassenden Kunstauffassung bezeichnet, läßt sich daher unschwer eine korrelative Reihe gesell­ schaftlicher Eliten gegenüberstellen: Kirche – Geistlichkeit; Schloß, Landschaftsgarten – Fürsten, Adel; Denkmal, Museen, Theater, Aus­ stellungs- und Fabrikhallen – Bürgertum. Hocke, a. a. O. S. 55 ff. Vgl. hierzu auch die aufschlußreichen Bemerkungen bei Plessner, Moderne Male­ rei, S. 418/19. 17 »Führend dürfen diese Aufgaben heißen: 1. weil sich ihnen die gestaltende Phan­ tasie mit besonderer Vorliebe zuwendet; 2. weil hier die größte Sicherheit der Haltung erreicht wird und oft ein fester Typus entsteht; 3. ganz besonders, weil von ihnen, wenn auch in beschränktem Bereich, etwas wie stilbildende Kraft ausstrahlt, weil sich ihnen andere Aufgaben angleichen und unterordnen; 4. weil sie bewußt oder unbe­ wußt mit dem Anspruch auftreten, die Stelle der alten großen sakralen Architekturen einzunehmen und eine eigene Mitte zu bilden.« Sedlmayr, a. a. O., S. 14. 15

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c) Die »Kommentarbedürftigkeit« von moderner Kunst und industrieller Arbeit

Über die Verständnisschwierigkeiten der von diesen Kunst­ schöpfungen jeweils ausgeschlossenen Gesellschaftsschichten, der Bauern und Arbeiter, kann Sedlmayr insoweit hinweggehen, als sie zugleich vor den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen gerechtfer­ tigt erscheinen. Diese Schranken, welche bestimmten Gesellschafts­ schichten auf kulturellem und speziell auf künstlerischem Gebiet die »Allgemein«-Verbindlichkeit der Aufgabenstellung vorbehielten, sind im Zuge der »Fundamentaldemokratisierung« (Mannheim) gefallen. Der schützende Vorhang, der die künstlerische Produktion vor den Augen des »Volkes« verbarg, ist fortgezogen; die künstleri­ sche Aufgabe hat sich damit – gesellschaftlich gesehen – ins Grenzen­ lose erweitert bzw. strebt auf »rationalem« Wege eine Definition ihrer Rolle in der »großen Gesellschaft« an. Ihre verfremdende Wirkung entfaltet die moderne Kunst dabei – wie zu erwarten – vornehmlich bei den kleinbürgerlich-mittelständi­ schen Schichten, die das kulturelle Erbe der bürgerlichen Epoche wei­ tertragen. Die Verfemung der modernen als »entartete« Kunst durch den Nationalsozialismus, den bereits sein Antisemitismus als eine kleinbürgerlich-mittelständische Bewegung ausweist, können wir als einen politischen Protest gegen den Verfremdungseffekt moderner Kunstschöpfungen betrachten. Die gesellschaftliche Wurzel dieses Widerstandes, der von Verständnislosigkeit bis zur Vernichtungswut reicht, aber haben wir – über die vermittelnde Rolle eines Genera­ tionenproblems18 hinaus – in der »Funktion« zu suchen, welche »natürliche« Weltansicht, »Gegenständlichkeit«, der Primat »über­ schaubarer Verhältnisse« für das Selbstverständnis alten und neuen Mittelstandes erfüllen. Der »Verlust der Mitte« in der modernen Kunst versagt den Mittelschichten, die – in erster Linie über das Erziehungssystem – mit dem Kulturprozeß neu in Berührung kommen, die Bestätigung ihrer Ideologie. Der fragwürdige Gedanke, daß individuelles Vorwärtsstre­ ben in der gesellschaftlichen Umgebung ein festes Bezugssystem als sein ihm gemäßes Korrelat besitzt, bildet die Voraussetzung für das gesellschaftliche Selbstverständnis alten und neuen Mittelstan­ des. Notwendigerweise, solange die von diesen Schichten erbrachte

18 In der Beschränkung auf diesen Aspekt liegen u. E. die Grenzen der Bemerkungen von Conrad a. a. O. über den »Verlust der Mitte«.

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Moderne Kunst und industrielle Arbeit

gesellschaftliche Leistung: persönliche Qualifikation19, unter den herrschenden Produktionsbedingungen unentbehrlich und knapp ist, bedarf der Anreiz zu langfristiger Ausbildungs- und Berufspla­ nung gesellschaftlich stabiler Bedingungen, um wirksam zu sein. Die Verallgemeinerung des Bewußtseins, gegen eine »Rolltreppe« gesellschaftlich nach oben zu streben20, würde auf die Dauer den Andrang zu den sogenannten Aufstiegsberufen erheblich schwächen. Die geheimen Befürchtungen der Mittelschichten richten sich daher auf die Faktoren, welche die Stabilität der gesellschaftlichen Bedin­ gungen bedrohen, denen sie ihre gesellschaftliche Sonderstellung ver­ danken: Großkapital, Arbeiterbewegung und wissenschaftlich-tech­ nischer Fortschritt bilden in diesem Gesellschaftsbild die wesentlichen Quellen unvorhergesehener Umwälzungen in der Gesellschaft und erhöhen daher das Risiko für die Maxime, kraft individueller Anstren­ gungen sich erfolgreich im Wirtschaftsleben zu bewähren. Dieser im gesellschaftlichen Standort verankerten mittelständi­ schen Mentalität widerstrebten daher von Haus aus Bewegungsrich­ tung und Inhalt der. modernen Kunst. Der radikale Bruch, den diese gegenüber den vom Bürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts gestellten künstlerischen Aufgaben vollzieht, entfernt die moderne Kunst von der kulturellen Tradition, der sich die Mittel­ schichten kraft ihrer gesellschaftlichen Position sowie nicht zuletzt infolge eines »cultural lag« verbunden wissen, mit dem sie in den Kulturprozeß eintreten. Das »Krisenbewußtsein«, das Vieldeutige, Fragmentarische, Unwirkliche in der modernen Kunst bildet eher eine Bestätigung der geheimen Befürchtungen des Mittelstandes, als daß es seinem Streben nach Übersichtlichkeit, Abgeschlossenheit, Eindeutigkeit, »Gegenständlichkeit« und Sicherheit entgegenkäme. Wenn die »Natur der ästhetischen Wirkung«, wie Josef König über­ zeugend nachgewiesen hat21, diese selbst als solche und nichts weiter ist, dann ist eine Aufgeschlossenheit für Schöpfungen der modernen Kunst eben nur unter Preisgabe des auf unmittelbare Sicherung ver­ wiesenen gesellschaftlichen Standortes des Mittelstandes zu erwar­ ten.

Bereits sehr früh als Argument in der Diskussion um den Mittelstand in der industriellen Gesellschaft von Schmoller, Mittelstand, verwandt. 20 H. P. Bahrdt, Industriebürokratie, S. 111. 21 J. König, a. a. O. 19

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d) Die Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit

d) Die Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit Die Rolle, die die Psychologie in doppelter Gestalt, als allgemei­ nes Wissen und als Technik, für die industrielle Arbeit und die moderne Kunst spielt, beruht auf einander ähnlichen Vorausset­ zungen und unterliegt gleichgerichteten Absichten. Zweifellos hat die Freisetzung des Individuums aus gesellschaftlichen Bindungen umfassender und schicksalhafter Art, die sogenannte Entwicklung zur offenen Klassengesellschaft, einen wesentlichen Beitrag für das Entstehen und die Vorbereitung reflektierten Verhaltens und psycho­ logischer Allgemeinbildung geleistet: Das Individuum wird als Maß schöpferischer Leistung (Genie22) und ökonomischen Fortschritts (Unternehmer„persönlichkeit«23), als Grenze möglicher Anpassung (Psychotechnik) wie als Opfer der Aufhebung von Sicherheitsgaran­ tien ökonomischer, rechtlicher, kultureller und politischer Art unaus­ weichlich auch zum Brennpunkt, in dem die gesellschaftlichen Ver­ hältnisse bewußt werden. Daneben aber führt die Durchdringung der Gesellschaft über ein einheitliches Erziehungssystem und über Mas­ senkommunikationsmittel, die alle Sinnesgebiete bestreichen, zur Ansammlung und Kombination der verschiedenartigsten Erfahrun­ gen, die als Allgemeingut aufgehoben und weitergetragen werden. Es entsteht eine Anreicherung mit »Topoi«, »Modellformen des Gefühls, der Empfindung, des Ideellen und Gedanklichen« (Gehlen), wie sie vorindustriellen Kulturen in diesem Ausmaß unbekannt geblieben sind. In diesem Medium eines populären psychologischen Wissens und einer verbreiteten Differenzierung des Seelischen haben sich industrielle Arbeit und moderne Kunst gleichermaßen einzurichten. Darüberhinaus aber, unter dem Druck ähnlicher gesellschaftlicher Bedingungen, sehen sich beide in Verfolgung der ihnen eigenen Absichten auf die Vermittlung der Psychologie angewiesen. Für die Erforschung der psychologischen Bedingungen, von denen die Produktivität der Industriearbeit abhängt, bildet einen wichtigen theoretischen Wendepunkt die Einsicht, daß die Grund­ voraussetzung der liberalen Lohntheorie einseitig und daher unzu­

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Plessner, Moderne Malerei. Schmoller, Grundriß II., S. 498 ff. u. a.

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Moderne Kunst und industrielle Arbeit

reichend ist24: Die Arbeitsleistung ist weder ausschließlich noch unmittelbar eine Funktion des Lohnsystems. Das Interesse des Arbei­ ters liegt nicht analog dem des Unternehmers vornehmlich in der rationalen Durchsetzung güterwirtschaftlicher Erfolge. Es genügt für die Hebung der Arbeitsproduktivität daher nicht dem individuellen Erwerbsstreben durch ein ausgewogenes Prämiensystem oder durch entsprechende Zurichtung der äußeren Arbeitsbedingungen lediglich den Weg zu ebnen, sondern es gilt die Einstellung zur Arbeit selbst zu beeinflussen. Für das individuelle Interesse an der Arbeitsleistung bildet das »Erwerbsmotiv« lediglich einen unter einer Vielzahl psy­ chischer Bestimmungsgründe; es ist in den entwickelten Industrielän­ dern bereits weitgehend institutionalisiert und konkurriert daher in seiner Wirksamkeit mit einem Katalog von Motiven. Die Preisgabe der Ansicht, daß das individuelle Erwerbsstreben gleichsam aus der Natur des Wirtschaftsprozesses heraus den Kar­ dinalfaktor für das Niveau des persönlichen Arbeitseinsatzes (des »effort«) abgibt, öffnet den Blick für ein ganzes Geflecht von Moti­ ven und macht damit die Motivforschung zu einem strategischen Instrument der Betriebsführung. Die uneingeschränkte Übertragung des bürgerlichen Erwerbsgedankens, wie er im homo oeconomicus der bürgerlichen Nationalökonomie seine klassische Ausgestaltung gefunden hatte, auf die Arbeitsverhältnisse der Industrie erwies sich als ein Fehlurteil, dessen praktisches Versagen in der angewandten Psychologie seine entsprechende Korrektur erfahren hat. Die Romanliteratur des 19. Jahrhunderts war bis zum Aufkom­ men der Tiefenpsychologie an psychologischer »Ergiebigkeit« der Schulpsychologie ihrer Zeit weit überlegen.25 Als Mittel der Dar­ stellung aber diente die psychologische Schilderung der Charaktere vorwiegend einer Entlarvung. Der offenbare Widerspruch zwischen dem Verhaltenskodex einer sich als Elite verstehenden Gesellschafts­ schicht und den tatsächlichen Gegebenheiten wurde hier zum lite­ rarischen Thema. Einer tonangebenden Schicht, der »Gesellschaft« noch nicht zum Vakuum zwischen abstrakten Institutionen geworden war, sondern eine erfüllbare Aufgabe ihres alltäglichen Verkehrs bedeutete, wurde darin der Spiegel ihrer wirklichen Situation vorge­ halten. Die Diskrepanz zwischen unerfüllten Wünschen, praktischem Vgl. Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 302; Elton Mayo, a. a. O.; W. E. Moore, Industrialisation, S. 152 ff. 25 Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 95. 24

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d) Die Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit

Verhalten und den Anforderungen aus überlebten Sozialbindungen tritt im Lichte psychologischer Charakterzeichnung deutlich heraus. Denn in ihr wird ein sozialgeschichtlicher Vorgang ins künstlerische Bewußtsein gehoben, den Gehlen als »Abbau der Idealbesetzung des unmittelbaren sozialen Kontaktes« bezeichnet hat. Psyche, psy­ chologischer Roman und Psychologie empfangen also wesentliche Elemente aus dem sich auflösenden Lebenszusammenhang bürgerli­ cher Schichten. Die Affinität der modernen bildenden Künste zur Reklame26 deutet bereits auf ihre Beziehung zur angewandten Psychologie hin. Der Zwang, die Aufmerksamkeit eines Publikums zu erregen, das vor­ nehmlich nur noch über private Interessen ansprechbar ist, sowie die Erfahrung allseitiger Konkurrenz, vermittelt durch einen Handel, »der eine immer wieder neue überraschende und schockierende Produk­ tion braucht«27, führt wirtschaftliche und künstlerische Produktion den gleichen Weg der »Motivforschung«. Vieles Vordergründige und Zeitgebundene in der modernen Kunst, vor allem aber das Tempo im Wechsel ihrer Richtungen geschieht infolge der Ausrichtung auf eine wechselnde Marktkonstellation. Aber die Beziehungen der modernen bildenden Kunst zur Psy­ chologie erschöpfen sich keineswegs in der Erschließung des Marktes, sondern verbinden sich mit zentralen Absichten: Die Preisgabe der naturalistischen Gegenstandsauffassung in der Malerei z. B. wird gestützt von einer intensiven Beschäftigung mit der Physiologie und Psychologie des Sehens. Die theoretische Begründung des Pointillis­ mus bildet hierfür einen hervorragenden Beleg. Für die absichtliche Verfremdung der »natürlichen« Weltansicht aber bilden optische Täu­ schungen, die von der Psychoanalyse erschlossene Welt des Traumes und des Wunschdenkens sowie die in diesen manifest werdenden Antriebe einen beliebten Vorwurf künstlerischer Gestaltung. Der »Pansexualismus«, der – wie Hocke eingehend nachweist – der modernen Kunst in ähnlich ausgeprägter Form wie dem Manierismus des 16. und 17. Jahrhunderts eigen ist, besitzt in der libido-Theorie Freuds ebenso eine zeitgeschichtliche Parallele wie in der erotischen Erfahrung »zweiter Hand« der Reklame (Gehlen). Das Wissen um 26 »Es nimmt Matisse oder Juan Gris nichts von ihrer Größe, wenn ihre Einfälle auf Krawatten weiterleben, und macht Dufy nicht zum Reklamemaler, weil diese von ihm lernen«; Plessner, Moderne Malerei, S. 418. 27 Plessner, ebda.

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den psychologischen Effekt bildet also eine wesentliche Bedingung für die Intentionen moderner Kunst. Diese kurzen Bemerkungen mögen genügen, um den Bereich abzugrenzen, innerhalb dessen moderne Kunst und industrielle Arbeit ihrer Struktur nach mit ähnlichen Begriffen beschrieben wer­ den: Spezialisierung, Abstraktion und Psychologisierung bezeichnen gemeinsame Wesenszüge, in denen die Erfahrung einer veränder­ ten Situation von künstlerischer und ökonomischer Produktion glei­ chermaßen verständlich wird, allerdings mit Unterdrückung einer Reihe geschichtlicher Schritte: Die Abfolge der Stilrichtungen seit dem 18. Jahrhundert bzw. seit dem Impressionismus, die rhythmi­ sche Wiederholung »industrieller Revolutionen« bzw. die Phasen in der Rationalisierung der menschlichen Arbeit sind unberücksich­ tigt geblieben bei diesem Versuch, moderne Kunst und industrielle Arbeit auf gemeinsame Tendenzen ihrer geschichtlichen Entwicklung zu beziehen. Gerade weil die gleichzeitigen tiefgreifenden Veränderungen gewissermaßen auf der Hand liegen, die in der Situation des Künst­ lers, im »gesellschaftlichen Auftrag« der Kunst sowie in den Arbeits­ verhältnissen im 19. und 20. Jahrhundert eingetreten sind, will uns an dieser Stelle eine Besinnung auf die unserer Beschreibung unbesehen eingefügten Voraussetzungen unumgänglich erscheinen. Die Bezugspunkte der in den vorangegangenen Überlegungen aufge­ zeigten Entwicklungstendenzen liegen offen zutage: Spezialisierung, Abstraktion und Psychologisierung stehen einmal in deutlichem Kon­ trast zu Gesellschaftsverhältnissen, in deren gering differenzierter und verkehrsmäßig abgeschlossener Einheit der einzelne fest einge­ gliedert lebte. Die gesellschaftliche Rolle des Künstlers wie des Bauern oder Handwerkers war mit der nur aus »beschränktem Kreise« zu erschütternden Einheitlichkeit vorindustrieller Gesellschaftsverhält­ nisse vorgegeben, deren Differenzierung freilich dann ihren Ausdruck im Bewußtsein der Krise sowie in der Suche nach neuen Existenz­ grundlagen fand. Zum andern aber bilden die genannten Bewegungsrichtungen ein negatives Korrelat zu dem Bestreben, die »Ganzheit der Person« zu verwirklichen: Die Spezialisierung der Arbeit bis hin zu produkti­ onstechnischen Funktionen, die, aufs äußerste vereinfacht, häufigem Wechsel unterliegen, so gut wie die Preisgabe einer naturalistischen Gegenstandsauffassung in der bildenden Kunst sind mit der Forde­ rung nach abgeklärter Persönlichkeitserfahrung unvereinbar. Das

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d) Die Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit

gleiche gilt für die »kommentarbedürftige« Abstraktheit von moder­ ner Kunst und industriellen Arbeitsverhältnissen. Und schließlich fügt sich die Rolle der Psychologie als Mittel der »Demaskierung« bzw. als Schlüssel zu »unbewußten« Produktivitätsreserven mühelos in eine Situation ein, die zunehmend einer bewußt gestalteten Entfal­ tung der Persönlichkeit die Grundlagen entzieht, d. h. einem Ideal, das in der »Geborgenheit« vorindustrieller Gesellschaftsverhältnisse seine sicherste Stütze besaß. Das sozialgeschichtliche Gefälle also von der agrarisch-feudalen bzw. handwerklich-frühkapitalistischen Gesellschaft zur entfalteten Industriegesellschaft bildet den gemeinsamen Bezugspunkt, von dem aus wir die Strukturentwicklung von moderner Kunst und industri­ eller Arbeit in gleicher Weise verfolgt haben. Dieses Bezugssystem ist allerdings weder selbstverständlich noch ohne Einfluß auf das Ergebnis. Der Versuch, die kritischen Faktoren herauszuarbeiten, die gegenwärtig die Situation der einzelnen Künste oder des Künstlers bestimmen, bzw. eine ähnliche Analyse für den Industrie-Arbeiter durchzuführen, würde zweifellos zu einer anderen Gruppierung der spezifischen Rollenmerkmale führen und vor allem die Verwendung einer Terminologie erzwingen, die frei ist von Bezugnahmen auf Gesellschaftsverhältnisse, die nicht mehr in den Gesichtskreis der lebenden Generation gehören. Die Beschreibung mit Begriffen, die einen unmittelbaren Gegenwartsbezug tragen, sowie die – wenig­ stens versuchsweise – Erfassung der Zukunftsperspektive geschähe notwendig in Konsequenz eines derartigen Ansatzes. Neuere empi­ rische Untersuchungen liefern hierzu eindeutige Belege. Der für ihr Ergebnis bedeutsame Unterschied der beiden Ansätze, die sich gegenwärtig in der Gegenüberstellung von theoretischer Soziologie und empirischer Sozialforschung gewissermaßen zu institutionali­ sieren streben, aber liegt in dem Ausmaß, mit dem diese beiden Bezugssysteme soziologischer Analyse gesellschaftliche Strukturen als vorgegebene Bedingungen in ihre Untersuchungen übernehmen. Wissenssoziologisch schließen nämlich die »unvermittelten« Gegenwartsanalysen, die auf den Kontrast zu vergangenen Sozial­ verhältnissen soweit als irgend möglich verzichten, eine grundsätzli­ che Problematisierung der gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen insoweit aus, als sie sich notgedrungen auf konkrete Untersuchungs­ objekte beschränken und damit die Gesellschaft in ihrem Totalaspekt

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als mehr oder weniger gegeben voraussetzen.28 Eine Beschränkung, die mit bestimmten praktischen Konsequenzen einhergeht. Die Ten­ denz zur Beeinflussung der gesellschaftlichen Dynamik, d. h. die der Soziologie von Haus aus eigene Affinität zum politischen Handeln29 verlagert sich ihrem Schwergewicht nach auf Teilreformen. An die Stelle des Modells der »sozialen Revolution« treten »Transformation« und »Evolution«, beispielhaft abzulesen an den politischen Ansprü­ chen der deutschen Arbeiterbewegung. Zugleich wächst neben einer universalhistorisch oder philosophisch begründeten Soziologie, die von ihrer Methode her bereits kritische Besinnung auf die gesamtge­ sellschaftliche Situation fordert, die empirische Sozialforschung zu einer Disziplin – vermeintlicher oder tatsächlicher – Selbständigkeit heran. Das Dilemma im methodischen Selbstverständnis soziologi­ scher Forschung bringt der untergründig bzw. offen geführte Metho­ denstreit30 mit den gegenseitigen Vorwürfen offen ans Licht: Eine den tatsächlichen Gegebenheiten »entfremdete«, ideologisierte Soziolo­ gie und die der Reproduktion purer Fakten dienende, der »Anpas­ sung« verfallene Sozialforschung bezeichnen in dieser Diskussion die negativen Grenzerscheinungen der »Soziologie heute«; m. a. W.: Inwieweit in der empirischen Forschung, die notwendig Detailunter­ suchung bedeutet, der Bezug auf gesamtgesellschaftliche Bewegungs­ richtungen gewahrt werden sollte, ist gegenwärtig noch eine offene Frage. Über den methodischen Wert eines sozialhistorischen Bezugs­ systems, das in weit stärkerem Maße in gesamtgesellschaftliche Über­ legungen hineinführt und eine Problematisierung der gegenwärtigen Gesellschaftssituation aus der Perspektive voraufgegangener Gesell­ schaftsverhältnisse bereits einschließt, ist also ebensowenig eine Vor­ entscheidung getroffen. Im Zusammenhang unserer Fragestellung können wir uns mit dieser Feststellung begnügen, obwohl der skizzierte soziologische Methodenstreit deutlich einen Schlüssel zur Beantwortung der ein­ leitend aufgeworfenen Frage nach der Strukturentwicklung indus­ triesoziologischer Forschung31 enthält. Die Tatsache allein, daß es methodisch zu sinnvollen Ergebnissen führt, die Transformation Adorno, a. a. O. von Ferber, Interessenpluralismus. 30 Z. B. Jantke, Industriegesellschaft; Plessner, Ansprache; Adorno, a. a. O.; vgl. aber auch die gelegentlichen polemischen Bemerkungen in neueren empirischen Untersuchungen, z. B. die Diskussion um »Modell« und/oder »Idealtypus«. 31 Vgl. S. 4 ff. 28

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d) Die Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit

der gesellschaftlichen Situation der Kunst und der Arbeit von einer gemeinsamen sozialhistorischen Struktur her zu verfolgen, gibt einen ausreichenden Ansatz für eine Kritik der oben zitierten, pessimisti­ schen Urteile über die industrielle Arbeit. Bereits zu dem wertneutra­ len Begriff der Rationalisierung, mit dem wir in Anlehnung an Max Weber den – Arbeitsverhältnissen und künstlerischer Produktion – gemeinsamen Transformationsprozeß beschrieben haben, stehen diese Urteile in einem deutlichen Kontrast. Mit dem Hinweis auf die eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen allein sind sie also kaum zu rechtfertigen. Daneben aber erfahren sie in den ähn­ lich begründeten, wenn auch in ihrem Vokabular reichhaltigeren Verdikten über die moderne Kunst gleichsam eine Verdoppelung. Es macht daher in dieser Hinsicht z. B. keinen Unterschied, ob ich von der »Kommentarbedürftigkeit« der industriellen Arbeit oder der modernen Kunst spreche, ob ich den Verlust der Arbeitsfreude beklage oder die Zerstörung eines persönlichkeitsbezogenen Menschenbildes in der Kunst. Die mögliche Austauschbarkeit und Freisetzung der Argumente von ihrem Gegenstandsbereich legt den genannten pes­ simistischen Urteilen einen umfassenderen Inhalt bei, der über die ursprüngliche Absicht hier und da hinausgehen mag. Der Umfang der negativen Aussage, der der Formulierung nach auf die industrielle Arbeit eingeschränkt erscheint, erweitert sich zu einem kritischen Urteil über die Transformation der Gesellschaft als ganzer, bei Gehlen z. B. bereits deutlich in diesem umfassenden Sinne gemeint. Charakteristische als kritisch empfundene Eigenschaften der Industriearbeit werden, absichtlich und unabsichtlich, zum Anlaß, wie aber auch zum überzeugenden Argument einer umfassenden Gesellschaftskritik. Gleiches gilt natürlich für die düsteren Betrach­ tungen zum »Verlust der Mitte«. Die Unzufriedenheit mit der Gesell­ schaft, für die Industriearbeit und moderne Kunst »Produktion ihres gesellschaftlichen Daseins« und Enthüllung ihrer geistigen Kräfte32 in einem ähnlich notwendigen Sinne bedeuten, wie Handwerk und »naturalistische Gegenstandsauffassung« für die unmittelbar vorauf­ gehende Gesellschaftsepoche, tarnt sich gleichsam in einer Kritik an Teilphänomenen, bei der sie sich einer allgemeinen Zustimmung von vornherein sicher ist. »Kommentarbedürftigkeit« der Kunst und »Fließbandarbeit« werden zum symbolischen Ausdruck einer pessi­ mistischen Zeitkritik, die – eines ursprünglich sozialrevolutionären 32

Plessner, Moderne Malerei.

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Moderne Kunst und industrielle Arbeit

Anspruchs müde geworden – sich kein Urteil über die Gesellschaft als ganzer mehr zutraut und daher auf Teilaspekten sich gleichsam zur Ruhe gesetzt hat.33 Die Forderung, »Arbeitsfreude«, »die auf einer tiefbegründe­ ten Bejahung der Arbeit durch die Persönlichkeit beruht«, unter den Arbeitsbedingungen der modernen Großindustrie zu verwirkli­ chen, besitzt also mit der Erwartung einer wiederkehrenden »Mitte« künstlerischer Gestaltung gemeinsame Beziehungen zu einer pessi­ mistischen Einstellung gegenüber der »industriellen Gesellschaft« schlechthin. »Arbeitsfreude« bedeutet daher offensichtlich ein Postu­ lat, das an die industriellen Arbeitsverhältnisse gleichsam von außen herangetragen wird. Die einleitend erwähnten Beobachtungen von Levenstein, de Man und Ydo34 belegen hinreichend deutlich, daß ein Verständnis oder eine Kenntnis von »Arbeitsfreude« als einem Wert persönlicher Berufserfahrung nicht bei jedem vorausgesetzt werden darf. Auch die Bemerkung Friedmanns35, daß »Arbeitsfreude« eine Asymptote für die Gestaltung der industriellen Arbeitsbedingungen bildet, deutet auf eine kulturelle Norm hin, die Friedmann in der Industriearbeit verwirklicht sehen möchte. Die Hartnäckigkeit, mit der diese Forderung über Jahrzehnte wiederkehrend erhoben wird, und die selbstverständliche Zustim­ mung, der sich dieses Postulat auch heute noch bei weiten Kreisen erfreut, obwohl gegenwärtig wie vor 50 oder 80 Jahren die Chan­ cen äußerst gering sind, für die Masse der Arbeitsplätze in der Industrie Voraussetzungen für eine »tiefbegründete Bejahung der Arbeit« zu sichern, verweist allerdings auf eine feste Einwurzelung in den »gesellschaftlichen Bewußtseinsformen«. Sie ist nicht allein mit der zähflüssigen Veränderung der Vorstellungen zu erklären, unter denen die Schichten, die an der Schriftkultur und an der öffentlichen Meinungsbildung im weitesten Sinne teilhaben, ihre gesellschaftliche Situation auffassen und interpretieren;36 dagegen sprechen eine Reihe 33 Dieser Zwiespalt zwischen einem untergründigen totalen Infragestellen der gegen­ wärtigen Gesellschaft und offener Kritik an Einzelerscheinungen ist deutlich in den Analysen Gehlens zu spüren, der seinen Pessimismus mehr in der Wortwahl als in formulierten Thesen zum Ausdruck bringt. Vgl. hierzu z. B. das oben S. 31 angeführte Zitat aus »Die Seele im technischen Zeitalter«. 34 Vgl. S. 2. 35 Vgl. S. 31/32. 36 »Gegen nichts wehrt sich das Sozialbewußtsein des kleinbürgerlichen und mittel­ ständischen Menschen mehr als gegen die soziale Standortlosigkeit ohne gesellschaft­

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d) Die Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit

von Gegenbeispielen, z. B. der Wandel in den Auffassungen von Ehe und Familie, sowie der unmittelbare Realitätsbezug, den Arbeit und Beruf gerade in der »Industriegesellschaft« besitzen. Vielmehr verdankt die Ideologie der Arbeitsfreude ihr lebendiges Fortbestehen im wesentlichen drei sich stützenden Bedingungen, die im Gesell­ schaftsprozeß selbst gegeben sind. Für die meinungsbildenden Schichten hat die Arbeit auch heute noch – vermeintlich oder tatsächlich – persönlichkeitsfördernde Bedeutung. Die Untersuchungen über die Angestelltenschaft sowie die früher angeführten Arbeiten zur Frage der Arbeitserwartungen mittelständischer Berufe37 bestätigen diese Ansicht. Zugleich ist es auffällig und weist in die gleiche Richtung, daß die Erhebungen über die »job-satisfaction« der Arbeitnehmer in den USA zur gleichen Zeit einsetzen wie die gesellschaftskritische Literatur über den amerika­ nischen Mittelstand (Sinclair Lewis’ »Babbitt«, »Dr. med. Arrows­ mith« u. a.). Bezeichnenderweise wird also die Befriedigung in der Arbeit in den USA, d. h. in einem Land ohne handwerkliche Tradition, mit der Existenz des freien mittelständischen Unternehmers proble­ matisch. M. a. W. Als die wirtschaftliche Erfolgsethik einer bestimm­ ten Phase gesellschaftlicher Entwicklung auf Grenzen ihrer Verwirk­ lichung stieß, wird die Frage nach »job-satisfaction« gestellt. Diese hat daher nicht so sehr handwerkliche Befriedigung in der Arbeit selbst als Zufriedenheit mit der Position und mit den vorhandenen Chancen innerhalb der Stratifikation der »jobs« in der Gesellschaft zum Inhalt. Die Beschneidung der unbegrenzten Aufstiegschancen infolge einer erstarrenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erschüttert die selbstverständliche Zufriedenheit der »middle-class« mit ihrer wirtschaftlichen Position innerhalb einer sich verändernden Gesellschaftssituation. Ähnlich wie Arbeitsfreude ein mittelständi­ sches Leistungsideal handwerklicher Arbeit zum Ausdruck bringt, verkörpert »job-satisfaction« den Leistungsgedanken der »unterneh­ merischen« Mittelschichten und lebt mit seinem Nachwirken unter gewandelten Voraussetzungen fort. Das Erbe dieses persönlichkeitsbezogenen Leistungsethos aber haben hier wie dort die neuen Mittelschichten angetreten, die keine Eliten im alten Sinne sind, d. h. keine die politischen und kultu­ lichen Rang und Geltung ... Dies führt zu einer konstitutionellen Irrealität des sozialen Selbstbewußtseins in der nivellierten hochdynamischen Gesellschaft der industriellen Zivilisation.« Schelsky, Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs. 37 Vgl. S. 24 ff.

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Moderne Kunst und industrielle Arbeit

rellen Aufgaben bestimmende Führungsstellung innehaben, denen jedoch die Tradierung »gesellschaftlicher Bewußtseinsformen« in erster Linie zugefallen ist. Ihre Lebensführung bildet der allen Schichten im Wechsel der Generationen erreichbare, zugängliche Erfolg gesellschaftlichen Aufstiegs, nachdem die Spitzenpositionen wirtschaftlicher, politischer, geistiger und künstlerischer Art in ihren Voraussetzungen zunehmend undurchschaubar geworden und aus dem Durchschnittsbewußtsein als realisierbare Chancen geschwun­ den sind. Für diese Schichten bilden »Arbeitsfreude« und »jobsatisfaction« auch heute noch die unabdingbare Grundlage ihres Arbeitsethos, deren Gefährdung sie sich in jeder Richtung zu wider­ setzen suchen. Eine zweite Bedingung, die der Fortdauer der »Arbeitsfreude« dient, bildet der gänzliche Mangel eines »propagierfähigen« Ethos der industriellen Arbeit, das sich gegenüber den herrschenden »nach­ bourgeoisen« Arbeitsidealen durchzusetzen vermöchte. Die betriebli­ che Aufsplitterung des gesellschaftlichen Arbeitsanspruches und die sozialrevolutionäre Hoffnung, von den politischen und wirtschaftli­ chen Vertretungen der Arbeiterschaft genährt, sind neben der spürba­ ren Mißachtung einer rein marktorientierten Einstellung zur Arbeit unüberwundene Hemmnisse für eine Interpretation der normativen Aspekte der Industriearbeit in einem ähnlich umfassenden Sinne, wie dies für die bürgerliche Arbeitsauffassung gilt. Ansätze hierzu sind allerdings in der »Konsumorientierung« zu beobachten, die Riesmann als »Charakter«zug eines sich ankündigenden Leitbildes des Verhaltens beschreibt. In der Verlagerung von Interesse und Befriedigung in die Freizeit erscheint der Verlust der Arbeitsfreude in einem positiven Sinne überwunden. Und schließlich erhält die Subjektivierung des Arbeitsbegriffs in der industriellen Gesellschaft die Ideologie der »Arbeitsfreude« lebendig. Zu dieser Verinnerlichung der Arbeit tragen Leistungsprin­ zip und funktionell-betriebliche Arbeitszuweisung in einem zueinan­ der gegensinnigen Verhältnis bei: Die Durchsetzung des sogenannten Leistungsprinzips in seiner doppelten Funktion, als Gesichtspunkt einer idealen Verteilung der erwerbstätigen Bevölkerung auf die Qua­ lifikations- und Statusstruktur der Gesellschaft sowie als Maßstab des Entgelts für geleistete Arbeit, rechnet den äußeren Erfolg der Arbeit der persönlichen Anstrengung des einzelnen zu. Jeder wird zum »Schmied« seiner beruflichen Qualifikation, zumindest aber des äußeren Zuschnittes seiner Lebenshaltung. Die Produktivität

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d) Die Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit

der Arbeit wird über die Anspornung des Selbstinteresses auch zu einem Kalkül des persönlichen Einsatzes, zu einer Angelegenheit der Rationalisierung persönlicher Fähigkeiten. Die subjektive Last der Arbeit als Anstrengung (»effort«), schlägt als Aufwandsposten in einer psychischen »gratification-deprivation-balance« zu Buch, welche zum wissenschaftlichen Ausdruck persönlicher Arbeitszufrie­ denheit wird. Mit der »stellenplanmäßigen« Fixierung der Qualifikations­ struktur der Gesellschaft aber, mit der Institutionalisierung fester Ausbildungswege, Berechtigungen etc. so gut wie mit der tariflichen Festsetzung der Leistungsentgelte durch kollektive Verhandlungen werden der Möglichkeit persönlicher Zurechnung des Arbeitserfol­ ges deutlich von außen her Grenzen gesetzt. Erfolg und Mißerfolg in der Arbeit erscheinen; als Ergebnis gesellschaftlicher Gewalten, die – der Beeinflussung durch den einzelnen entzogen – ohne Ansehen individueller Tüchtigkeit und persönlicher Fähigkeiten und Neigungen entscheiden. Krisen, technische Umwälzungen, die unper­ sönlichen Zweckstrukturen großbetrieblicher Organisationsformen werden damit zur Frustrierungsquelle individuellen Leistungswillens und persönlichen Einsatzes. Ein prinzipieller Widerspruch der indus­ triellen Arbeitsverfassung, der im Lichte persönlicher Erfahrung eine Subjektivierung des Arbeitsbegriffes vorantreibt. Am stärksten wird dieses Mißverhältnis individuellen Leistungsbewußtseins und seiner gesellschaftlichen Voraussetzungen naturgemäß in den Mit­ telschichten erfahren, die über ihren beruflichen Einsatz langfristig disponieren und daher konjunkturellen Veränderungen der berufli­ chen Stratifikation mit einem besonderen Risiko ausgeliefert sind. Zwei Ergebnisse der Untersuchung sind für den Fortgang unserer Überlegungen an dieser Stelle festzuhalten. Wir definierten38 Arbeitsfreude, -interesse und -zufriedenheit als eine Stellungnahme, die auf Grund gruppenmäßig fixierter »Defi­ nitionen« der Arbeit gegenüber einer relativ allgemeinverstandenen Arbeitssituation (Haben Sie Freude an Ihrer Arbeit? Sind Sie mit Ihrem Arbeitsplatz zufrieden?) eingenommen wird. Die Beschrän­ kung auf den verbalen Aspekt von Arbeitsfreude, -interesse und -zufriedenheit, die eine solche Definition zweifellos nach sich zieht, geschah in Übereinstimmung mit dem überwiegenden Teil der bishe­ rigen Literatur zu dieser Frage und trug zugleich der Kritik an der 38

Vgl. S. 21.

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Betriebsbezogenheit der neueren arbeitssoziologischen Forschung Rechnung39. Arbeitsfreude, -interesse und -zufriedenheit werden mit dieser Bestimmung in einer Bedeutung genommen, die über ihre Funktion als Indizes der Integration in den kooperativen Zusammen­ hang eines Betriebes hinausreicht. Und ferner wiesen wir auf die engen Beziehungen hin40, die zwi­ schen einer bestimmten Vorstellung von Arbeitsfreude (Bereicherung der Persönlichkeit durch die Arbeit) und den Arbeitsverhältnissen der Mittelschichten besteht, deren gesellschaftliche Rolle in Weiter­ führung bürgerlicher Traditionen zugleich ausschlaggebend durch qualifizierte Leistung bestimmt wird. Anhand allgemeiner Überle­ gungen konnten wir Argumente dafür anführen, daß der »Verlust der Arbeitsfreude« in der industriellen Arbeitswelt eine Restposi­ tion einer mittelständischen Kritik an der industriellen Gesellschaft schlechthin darstellt. Diese Ergebnisse erfordern idealiter eine Fortführung der Unter­ suchung in dreifacher Richtung. a)

Die Definitionen der Arbeit wären empirisch über die vorgelegte grobe Differenzierung (Arbeiter–Mittelstand; Gewerbe–Land­ wirtschaft) hinaus in jeder Richtung zu verfeinern, für die eine Ausbildung und Bewahrung bestimmter Arbeitsauffassungen im Zusammenhang einer allgemeineren gesellschaftlichen Ori­ entierung zu vermuten ist. Neben dem System der Leistungsdif­ ferenzierung oder der gewerblichen Wirtschaft kämen dafür in Betracht ethnisch41, religiös42 oder politisch begründete Lebens­ auffassungen. Dabei ist es eine offene Frage, inwieweit diese Definitionen der Arbeit sich zu einem Arbeitsethos zusammen­ schließen, das als solches selbständig tradiert wird, wie z. B. der individualistische Leistungsgedanke des Bürgertums im Gewande protestantischer Ethik bzw. des ökonomischen Libera­ lismus. Historisch sollte, anknüpfend an die Untersuchungen von Max Weber und Bernhard Groethuysen, die Ausbreitung und Ab­ wandlung des bürgerlichen Arbeitsethos verfolgt werden, das sei­ nem Anspruch auf Allgemeingültigkeit sowie seinem »kapitalis­

b)

39 40 41 42

Vgl. S. 4. S. 27 ff. und S. 52 ff. Hierzu s. bereits Dalton, a. a. O. Vgl. die statistischen Hinweise bei Pohle, a. a. O.

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d) Die Rolle der Psychologie in moderner Kunst und industrieller Arbeit

c)

tischen« Gehalt gleichermaßen entgegen sich letztlich nicht alle Arbeitsverhältnisse der industriellen Gesellschaft zu assimilie­ ren vermochte. In Weiterführung und Ergänzung der genannten Untersuchungen aber wäre die Erhaltung und Umprägung tradi­ tionalistischer Arbeitsauffassungen agrarischer oder religiöser Art darzustellen, die unter der Perspektive der Entstehung und Ausbreitung des kapitalistischen Geistes lediglich als traditio­ nale Widerstands- oder Restposten erscheinen.43 Und schließlich wären die gesellschaftlichen Voraussetzungen zu entwickeln, die auf die Ausprägung eines breite Schichten erfassenden Arbeitsethos, insbesondere auf die Ausbreitung des bürgerlichen Leistungsgedankens, fördernd oder hemmend eingewirkt haben. Drei historisch einander ablösende Strukturen verdienen dabei in erster Linie Berücksichtigung: die berufs­ ständische Gesellschaftsordnung, die für »Arbeit« noch keinen übergreifenden national- oder sozialwirtschaftlichen Begriff ent­ wickelt hat44, bzw. die noch die Arbeit eines Berufsstandes (der Landwirtschaft) repräsentativ als gesellschaftliche Arbeit ansieht; die offene Klassengesellschaft, in der alle Arbeit, als gesellschaftliche Leistung verstanden, zum Prozeß der Statusdif­ ferenzierung und damit zum Instrument der Persönlichkeitsbil­ dung (zum individuellen »Lebens«-Mittel) wird; und zuletzt der betrieblich durchorganisierte »Apparat der Daseinsvorsorge«, der die Arbeit, ihrer berufsständischen Gebundenheit sowie ihres individuellen Leistungs- und Erfolgscharakters weitgehend ent­ kleidet, nach Maßgabe organisatorischer Gesichtspunkte funk­ tionell als ein »integrations«-bedürftiges Element versteht45.

43 Vgl. hierzu Jantke, Industriegesellschaft, S. 47 ff., ferner die Ansätze bereits bei Briefs, Michels und Hermes; aus anderer Perspektive heraus auch Bendix, Work and Authority. 44 Ähnlich Williams, a. a. O. für die Worte »culture«, »class«, »art«, »democracy« und »industry« den Nachweis geführt hat, daß diese Ende des 18. Jahrhunderts zu einer neuen spezifisch »modernen« Bedeutung heranreifen, ließe sich bei Vorliegen entsprechender sprachwissenschaftlicher Belege Analoges für das deutsche Wort »Arbeit« aufweisen. Leider stammt der Artikel »Arbeit« in Grimms Deutschem Wörterbuch aus dem Jahre 1854. 45 In ähnlichem Sinne bestimmt Scharmann »die geschichtlichen Bedingungen jener eigentümlichen Formen gesellschaftlicher Arbeitsbesonderung, die heute gemeinhin mit dem Wort ›Beruf‹ bezeichnet wird«, in dem er als entscheidend hierfür die fol­ genden Faktoren ansieht: »die positive Arbeitsgesinnung der Neuzeit, die individua­

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Ein solches Programm übersteigt in jeder Hinsicht Absicht und Gren­ zen dieser Untersuchung. In Auswertung bereits vorliegender theore­ tischer Versuche werden wir uns daher in den folgenden Abschnitten darauf beschränken, die kritischen Gesichtspunkte herauszuarbeiten, die für den der »Arbeitsfreude« (als Wert der Persönlichkeit) unterleg­ ten Arbeitsbegriff strukturbestimmend sind. Denn die Arbeitsfreude setzt, in ihrer persönlichkeitsbildenden Funktion verstanden, einen individualisierten und verinnerlichten Arbeitsbegriff voraus. Erst wenn unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen (sc. des ökonomischen Liberalismus) von der objektiv auf einen verkehrswirt­ schaftlichen Ertrag gerichteten Arbeit ein subjektiver Erfolg im Sinne von Leistung und Status erwartet wird, kann die Erfüllung dieser Erwartung sich als »Arbeitsfreude« niederschlagen bzw. wird die Enttäuschung einer solchen Erwartung als »Verlust« der Arbeitsfreu­ digkeit empfunden. Nur die »private Aneignung« der Arbeitsfreude kann darüber hinwegtäuschen, daß es sich hierbei um einen gesellschaftlichen Vor­ gang handelt. Wohl fast jeder wüßte aus seinem Leben von Augenbli­ cken zu erzählen, in denen er für seine Arbeit Freude empfunden hat. In dieser Beziehung hat Arbeitsfreude mit anderen Tageserlebnissen die Zufälligkeit gemeinsam, mit der sie auftritt. Sie kann nicht erwar­ tet oder bewußt herbeigeführt werden. Sie ist hierin auch nicht vor ähnlichen Erlebnissen der Freude im Zusammenhang mit anderen Tätigkeiten ausgezeichnet, wie z. B. Sangesfreude, Spielfreude, Freude an der Jagd etc. Solange unsere Sprache daher ein besonderes Wort für alle die Tätigkeiten besitzt, die wir als Arbeit empfinden, lassen sich auch Erlebnisse der Freude mit ihm verbinden. Erst die soziologi­ sche Fixierung des Arbeitsbegriffes setzt die privaten Erlebnisse von vielen einzelnen zu dem geschichtlich-gesellschaftlichen Phänomen der Arbeit in Beziehung und legt damit anscheinend individueller Befriedigung einen gesellschaftlichen Sinn bei. Arbeitsfreude büßt dann allerdings ihren rein privaten Charakter ein und verwandelt sich in einen zusammenfassenden Ausdruck von Vorstellungen und Meinungen, die sich im Nachdenken über die Arbeit und im Wandel der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit gebildet haben.

listische Leistungs- und Aufstiegsideologie und die fortschreitende Arbeitsteilung des modernen Produktionsprozesses«, a. a. O., S. 1.

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Der Tod. Ein unbewältigtes Problem für Mediziner und Soziologen*

In memoriam Werner Hofmann † 9. Nov. 1969 Erwin Ackerknecht1 hat in einem kürzlich erschienenen Beitrag »Der Tod in der Geschichte der Medizin« darauf aufmerksam gemacht, daß das medizinisch-wissenschaftliche Interesse am Tod erst im 18. Jahr­ hundert erwachte und sich an einer Laienbewegung entzündete. Die im 18. Jahrhundert sich als Massenbewegung ausbreitende Furcht, als Scheintoter begraben zu werden – in den großen Städten bildeten sich sogar Gesellschaften zur Rettung Scheintoter –, leitete erstmalig eine intensive medizinische Erforschung des Todes ein. Die Parallele zur Gegenwart ist auffällig. Während noch vor wenigen Jahren eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Tode ein esoterisches Unterfangen bedeutete, ist dieses Thema inzwischen von vielen Wissenschaftlern mit Hilfe der Massenmedien erfolg­ reich aufgenommen worden.2 Diesmal allerdings ausgelöst durch aufsehenerregende chirurgische Leistungen, aber immerhin deutlich gespeist durch die Furcht, zwar nicht lebend begraben, aber vielleicht doch schon vor seinem Tode der Unversehrtheit seines Körpers beraubt zu werden. Damals wie heute leitet sich das wissenschaftliche Interesse von einer sich rasch ausbreitenden Einsicht ab, die ärztliches Wissen und Laienverstand zueinander in Gegensatz bringt. Die Verfügbarkeit Dies ist der Text der öffentlichen Antrittsvorlesung, die der Verfasser am 22. November 1969 anläßlich seiner Ernennung zum Honorarprofessor der Medizi­ nischen Hochschule Hannover gehalten hat. 1 Erwin H. Ackerknecht, Der Tod in der Geschichte der Medizin, in: E. Haeflinger und V. Elsasser, Hrsg., Krankenhausprobleme der Gegenwart, Bd. 2., Bern und Stuttgart 1968, S. 202–206. 2 Ein gutes Beispiel hierfür ist die vom Heidelberger Studio, Hrsg., publizierte Diskus­ sion: »Was ist der Tod?, 11 Beiträge und eine Diskussion« (u. a. von Hans Schaefer, Manfred Pflanz, Hans Strotzka, Karl Löwith), München 1969. *

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Der Tod. Ein unbewältigtes Problem für Mediziner und Soziologen

des Todes – und sei es auch nur in Gestalt der Hoffnung, dem sicheren Ende noch einmal zu entrinnen – wird als menschliche Handlungschance entdeckt, doch scheint diese Hoffnung zugleich aus sozialen Gründen verunsichert. Machen diejenigen, denen ein wenig Macht über den Tod gegeben ist, von dieser Macht einen einsichtigen und gerechten Gebrauch? Mit der menschlichen Verfügung über den Tod wird die elementare Frage nach der gesellschaftlichen Verteilung dieser Zugriffschance gestellt. Diese Frage trifft das Verhältnis von Medizin und Gesellschaft an einem höchst empfindlichen Punkt, der zugleich – wie sich zeigen wird – für die Situation der Menschen in der Industriekultur paradigmatische Bedeutung besitzt. Das verständliche Interesse der Laien an einer Beantwortung der Frage: Wer verfügt mit welchen Gründen über die Grenzchancen des Überlebens? wird nicht über medizinisch-technische Auskünfte, auch nicht über juristische Absicherungen allein befriedigt werden können, das zeigt die bisherige Diskussion und lehrt die Erfahrung. Auch theologische und ethische Lösungen besitzen in einer Kultur des Wertpluralismus keine allgemeinverbindliche Kraft, zumindest verbürgen sie keine soziale Sicherheit bei einem elementaren mensch­ lichen Risiko, und auf diese Sicherheit kommt es den Laien an. Wie es um diese Sicherheit tatsächlich bestellt ist, vermögen uns keine Theologen, Juristen und Philosophen, aber auch nicht die unmittelbar betroffenen Mediziner zu sagen.3 Hier liegt eine legitime Aufgabe der Sozialwissenschaften. Denn die Sozialwissenschaften leisten – in einer uns heute vertraut klingenden Sprache formuliert – den Prozeß der Selbsterfahrung, die die Menschen mit den Instru­ menten machen, die sie zur Beherrschung und Steigerung der äußeren Bedingungen ihres Daseins entwickelt haben. Denn nur über gesell­ schaftlich-kulturelle Formen können wir der Ergebnisse des wissen­ schaftlich-technischen Fortschrittes teilhaftig werden, nur durch die gesellschaftliche Organisation der Verteilung kann auch der schlichte Bürger an den Erfolgen der Zivilisation teilhaben. Nun ist der Prozeß der Selbsterfahrung nur zu einem Teil ein wissenschaftlicher Prozeß, an ihm haben nicht nur die Forscher, nicht nur die akademisch Gebil­ deten, an ihm haben im Prinzip alle Anteil. Der Erkenntnisfortschritt der Sozialwissenschaften ist daher auch von Haus aus anders definiert als in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, er ist ein Fortschritt in kollektiver Selbsterkenntnis durch eine primär vorwissenschaftliche 3

Christian von Ferber, Gespräch mit dem Tod, in: Der Internist, erscheint demnächst.

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Der Tod. Ein unbewältigtes Problem für Mediziner und Soziologen

Erfahrung. Aufgabe der Sozialwissenschaften, aber auch Problem ihrer Theoriebildung und ihrer Tatsachenforschung bildet die wissen­ schaftliche Vermittlung einer kollektiven Erfahrung, die den Men­ schen Sinn und Folgen ihrer – in geschichtlicher Dimension gesehen – selbstgewählten gesellschaftlichen Determination erschließt. Zu den unausweichlichen Themen kollektiver Selbsterfahrung gehört der Tod. Wir Menschen wissen nicht von Geburt aus, daß wir sterben müssen. Diese entscheidende Bedingung unseres Lebens ist uns verhüllt und wird uns nur über die Erfahrung mit der Kultur, mit der Gesellschaft erschlossen, in die wir hineingeboren werden.4 Die Verfügung über die Grenzchancen des Überlebens, die die aktuelle Diskussion überdeutlich herausstellt, bildet in Wahrheit nur den Grenzfall einer erfolgreichen Kontrolle der Bedingungen mensch­ lichen Überlebens überhaupt. Der Arzt und die wissenschaftliche Medizin, denen der Wandel der Sterblichkeit in der industriellen Gesellschaft vornehmlich zugeschrieben wird, stehen stellvertretend für einen Gesellschaftsprozeß, der an einer Grenzbedingung unseres Daseins, an einer anthropologischen Grundstruktur ansetzt und ihre Markierung verändert. Wer von Berufs wegen dem Sterben und dem Tod seiner Mitmenschen entgegentritt, kann daher gar nicht umhin, sich dem sozialen Wandel des Todes zu stellen. Dieser Wandel betrifft nicht nur die Veränderung der physisch-materiellen Bedingungen des Todes, den Wandel der Sterbewahrscheinlichkeit, sondern den gleichzeitigen Wandel der Todeserfahrung.5 In einem unerwarteten Reichtum an Perspektiven liegt dieser Wandel in der sozialwissen­ schaftlichen Forschung aufgearbeitet vor. Soziologische Untersuchungen über Sterben und Tod sind aus verschiedenen Erkenntnisinteressen heraus gemacht worden. Ihre Ergebnisse vermitteln ein mosaikhaftes Bild von der Stellung des Todes in der Lebensorientierung unserer Zeitgenossen.

Paul Ludwig Landsberg, Die Erfahrung des Todes, Luzern 1937. Werner Fuchs, Todesbilder in der modernen Gesellschaft, Frankfurt 1969; wesent­ liche Anregungen zu dem vorliegenden Vortrag verdanke ich Werner Fuchs – seine Studie gehört zu den überzeugendsten sozialwissenschaftlichen Bearbeitungen dieses Themas – und einem Symposium »Omgaan met de Dood« (Handling Death), das der »Verbond van medische Studenten Faculteiten in Nederland« im Juni 1969 in Amsterdam veranstaltet hat. 4 5

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1. Soziologen haben die Beerdigungsindustrie untersucht6, sie haben ihre Forschungen also dort unternommen, wo der Tote und seine Angehörigen an die Öffentlichkeit treten, um das Ende eines Menschenlebens bekanntzumachen und die Sozialbeziehungen zu dem Verstorbenen symbolisch zu beenden. Die Aufmerksamkeit, die diese Untersuchungen bei einem breiten Leserpublikum gefun­ den haben, speist sich vornehmlich aus dem Kontrast zwischen den kommerziellen Interessen der Beerdigungsindustrie und dem menschlichen Bedürfnis, eine einschneidende Veränderung von Sozi­ albeziehungen expressiv zu gestalten, sie rituell zu symbolisieren. Diese Untersuchungen spiegeln dabei – mehr oder weniger deutlich ausgesprochen – das gesellschaftlich unbewältigte Verhältnis von Pri­ vatheit und Öffentlichkeit. Das Sterben gehört zu den ganz wenigen Ereignissen im Leben eines jeden Menschen, bei denen seine Existenz als Persönlichkeit zum Gegenstand öffentlicher Beachtung wird. Das, was wir im Alltag unseres Lebens in vielerlei Gestalt als Ehemann und Vater, als Freund und Nachbar, als Arbeitskollege und -untergebener, als Vertragspartner und als Bürger sind, wird nunmehr in seiner Gesamtheit thematisch. Wer war dieser Mensch, von dem jeder, der mit ihm zu tun hatte, nur einen Aspekt, nur einen Teil kannte? Wer war dieser Mensch in seiner ungeteilten Persönlichkeit?

Abbildung 1

6 P. Berger und R. Lieban, Kulturelle Wertstruktur und Bestattungspraktiken in den Vereinigten Staaten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 12 (1960), S. 224 bis 236. Ernest Dichter, Strategy in Desire, London 1960, deutsch: Düsseldorf 1961; Jessica Mitford, The American Way of Death, London 1963, deutsch: Freiburg 1965.

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Alles das aus seinem – und wenn wir an den eigenen Tod denken: aus unserem – Leben, was sich zum Teil gar nicht oder nur flüchtig begegnet, unternimmt im Abschied vom Toten den Versuch einer symbolischen Repräsentation. Hinter allen sozialen Beziehungen, hinter den sozialen Rollen wird der Mensch als Individuum, als erfüllte Zeitlichkeit eines individuellen Daseins zum Brennpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit gemacht (Abb. 1). Die Abbildung zeigt die gesellschaftliche Verfassung des Indi­ viduums, die Verteilung seines Zeithaushaltes und seiner Aktivitä­ ten auf verschiedene sozio-kulturell stilisierte Situationen (soziale Rollen). Ferner verdeutlicht es die Abhebung der sozialen Rollen (den Aspekt der möglichen Selbstdarstellung oder der möglichen gesellschaftlichen Selbstverwirklichung) von der Persönlichkeit (dem Aspekt des energetisch-dynamischen Potentials oder der Identität des Individuums, die jenseits des Biologischen durch die rechtliche und moralische Zurechnung von sozialen Beziehungen und Situationen in Vergangenheit und Zukunft fixiert ist). Der Mediziner wird mit dieser gesellschaftlichen Verfassung seiner Patienten in der »biographischen Analyse« und in der »Sozialanamnese« konfrontiert, hier geht es um die biographische Konvergenz divergenter sozialer Rollen bzw. mit die Ermittlung des Hintergrundphänomens der Persönlichkeit in der Rollenbeziehung Arzt–Patient. Ferner wird in der Medizin die sozio-kulturelle Determination des Individuums problematisch bei den »behinderten« Menschen. Der Krüppel, der Lahme, der Blinde, der Taube, der Irre, der Invalide waren konturierte soziale Rollen einer vergangenen Gesellschaftsepoche. Die »Behinderung«, die diese Rol­ len heute kategorial umgreift, ist kein Rollenaspekt, sondern greift an der hintergründigen Rollenträgerschaft an, sie betrifft die Befähigung zum Rollenspiel. Rehabilitation zielt daher auf die Simulation und Substitution von Prozessen im Erlernen sozialer Rollen. Das Bedürfnis, in den wichtigsten sozialen Rollen persönliche Anerkennung zu finden, als Mensch, nicht nur als Rollen-Partner angenommen zu werden, ist durch eine sozio-kulturelle Distanz zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Rollenträger und Rollenspieler gehemmt. Die öffentliche Bekanntgabe des Todes teilt die Beendigung aller Rollenverpflichtungen mit, sie macht Rollen­ spieler und Rollenträger zum Thema. Denn nicht der Spieler einer Rolle, sondern der Träger aller Rollen ist nicht länger. Die Mitteilung über das Ende eines Menschenlebens an alle, die es angeht, muß daher die sozio-kulturelle Distanz überwinden, die Privatheit und

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Öffentlichkeit, Rollenträger und Rollenspieler in der abendländischen Industriekultur voneinander trennt. Sie kann an einem Ereignis nicht zeigen, was die gesellschaftliche Verfassung als ganze nicht leistet. Und wie uns die soziologischen Erhebungen lehren, mißlingt der öffentliche Auftritt des Rollenträgers, der Persönlichkeit. Er ist zum Scheitern verurteilt, solange die Sozialbeziehungen unserer öffentli­ chen Existenz, insbesondere die des Berufes und der Arbeit, auf spe­ zifische Leistungen gerichtet sind, die die Totalität des Persönlichen bewußt aussparen und die ferner die Lösbarkeit sozialer Beziehungen im Interesse des sozialen Wandels fordern. Das Prinzip der Wandel­ barkeit sozialer Bindungen, für das die Vertretbarkeit der Individuen in sozialen Rollen nur einen Sonderfall darstellt, läßt ein Interesse an der Zeitlichkeit des Persönlichen, an der Biographie, kaum noch auf­ kommen. Daher kollidiert noch im Tod der Wunsch eines jeden Men­ schen, als Persönlichkeit, als das individuelle, auf Sinnverwirklichung ausgerichtete Dasein ernstgenommen zu werden, anerkannt zu wer­ den, mit einer Öffentlichkeit, die aus ihren Regeln gesellschaftlichen Verkehrs eine solche Begegnung nicht wünscht. Die Kommunikation von Mensch zu Mensch, die schon im privaten Lebenskreis, in den kleinen Lebensgemeinschaften der Familie, der Freundschaften und der kleinen Gruppen so selten gelingt, stellt sich zur Öffentlichkeit auch im Tode nicht her. Die symbolische Darstellung als Mitteilung an alle, die es angeht, daß ein Menschenleben sein Ende genommen hat, bleibt hinter dem motivierenden Bedürfnis zurück. Einem Bedürfnis, das wir in Anlehnung an den psychoanalytischen Sprachgebrauch der »unbewußten Motivationen« als »gesellschaftlich ignoriertes oder unartikuliertes Bedürfnis« bezeichnen können. Denn die Hinterblie­ benen handeln ungeachtet der zu Tage liegenden Widersprüchlichkeit der Situation. Die Einheit der individuell-persönlichen Existenz, die sich im Rückblick vom Ende her unausweichlich aufdrängt, zerfällt – gesellschaftlich gesehen, also unter diesseitiger Perspektive – in eine Vielfalt von Aspekten, die sich nur gewaltsam in einem sinngebenden Brennpunkt sammeln lassen. Die öffentliche Mitteilung vom Ableben eines Menschen macht daher das Hintergründige des gesellschaftli­ chen Miteinander gerade dort sichtbar, wo es von Haus aus nicht auf Verständnis hoffen darf: der, um dessen Persönlichkeit es geht, ist dahin, und für die Hinterbliebenen, denen sein Tod ihren eigenen Persönlichkeitswert in Erinnerung ruft, besteht keine Hoffnung, das, was sie jeder für sich sind, auch in den Beziehungen zum anderen zu verwirklichen. Nicht die sich entäußernde Selbstentfremdung des

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Menschen offenbart sich im Tode, sondern die mangelnde Chance der Selbstverwirklichung, der durch die Sozialverfassung auferlegte Zwang zur Privatisierung und damit zur Hintergründigkeit des Per­ sönlichen. 2. Eine zweite soziologische Untersuchungsthematik ist das Sterben in der Institution: im Krankenhaus, im Pflegeheim.7 Unge­ achtet der steigenden Anzahl von Menschen, die ihr Leben in Anstal­ ten beenden, abgelöst von den tragenden Sozialbeziehungen ihres Lebensschicksals, stellt das Sterben ein unbewältigtes Problem der zwischenmenschlichen Beziehungen in den Anstalten dar. Das Ster­ ben widerspricht dem Anstaltsziel, Leben zu bewahren, beschädigtes Leben wiederherzustellen. Das Sterben widerspricht dem Anstalts­ ziel, die Ärzte, Schwestern, Pfleger und Helfer zu entlasten, zu entlas­ ten von den Aufgaben, für die sie ihr Beruf und ihre Arbeitserfahrung nicht vorbereiten. Denn die Erfolgssicherheit – oder wie wir es in einem international gebräuchlicheren Terminus sagen: die efficiency – der Anstaltsorganisation besitzt ihre Grundlage in der Beschrän­ kung, nur die Verhaltensdispositionen von den Mitarbeitern abzuru­ fen, auf die diese durch vorangegangene Sozialisationsprozesse vor­ bereitet sind. Da das Sterben von Menschen in der Zweckbestimmung der Anstalten nicht vorkommt, ja, den erklärten Zielen der Institution widerspricht, wird die Sterbehilfe nirgends erwartet und daher auch nicht in den beruflichen Sozialisationsprozessen thematisch. Hinzu kommt eine weitere Eigentümlichkeit unserer Anstalten, die eine Kommunikation mit dem Sterbenden behindert. In den Sozi­ albeziehungen zum moribunden Patienten wird die soziale Distanz offenkundig, die in den Anstalten zwischen der Kultur der Ärzte und Pflegeberufe auf der einen und der Kultur der Patienten auf der ande­ ren Seite sich auftut. Ärzte und Pflegeberufe leben in einer anderen Welt als ihre Patienten, die Sozialkontakte sind primär zweckvermit­ telt und auf einen »biotechnischen Umgang« ausgerichtet. Pflege ist vornehmlich die Vermittlung materieller Leistungen, die Darbietung physischen Komforts oder die Gewährung biotechnischer Hilfen. Die Unverbundenheit der soziokulturellen Umwelten, die Beschränkung der Interaktion auf ein bio-technisches Zweck-Mittel-System bleibt in der Regel so lange verborgen, wie die Existenzbedürfnisse der Patienten sich mit den Anstaltszielen zur Deckung bringen lassen. Das Sterben offenbart die Grenzen dieser Symbiose (vgl. Abb. 2). 7

Vgl. die Beiträge zu diesem Thema in: E. Haeflinger und V. Elsasser, a. a. O.

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Der Tod. Ein unbewältigtes Problem für Mediziner und Soziologen

Abbildung 2

Die Abbildung 2 hebt die typischen sozio-kulturellen Eigenschaften der Institutionen heraus, in denen Menschen sterben. Es faßt die übereinstimmenden Ergebnisse der soziologischen Untersuchungen über Kranken- und Pflegeanstalten zusammen. Danach können wir unterscheiden die »Kultur« der »Agenten« der Institution von der der Patienten. Beide »Kulturen« stimmen in der formellen Zweckset­ zung der Institution überein, sie verselbständigen sich in der »soziokulturellen Kommunikation«, also im Bereich des interpersonalen Kontaktes, der gegenseitige Selbstbestätigung, der Geborgenheit und Solidarität vermittelt. Wir treffen in der Analyse solcher Institutionen auf eine Symbiose getrennter Kulturen, deren Koexistenz durch das Zweck-Mittel-System der Institution (die formelle Organisation) gewährleistet ist. Diese beiden »Kulturen« zeichnen sich durch folgende Eigen­ schaften aus: A) Zur Kultur der »Agenten« der Institution gehören Ärzte, Schwestern, Pfleger, Anstaltspersonal. Sie gewährt: 1. Physischen Komfort

an Patienten und an »Agenten« der Institution

2. Spezifische biotechnische Hilfen

an Patienten

3. Sozio-kulturelle Kommunika­ an die »Agenten« der Institution tion und Interaktion je für sich untereinander (Status-Grenzen)

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1. und 2. gehören zu den erklärten, ausdrücklichen Zielvorstellungen der Institution. 3. wird zu den informellen, unausdrücklichen Leistun­ gen gezählt. B) Kultur der Patienten: Sie erwartet in Übereinstimmung mit den erklärten Zielvorstellungen der Institution physischen Komfort und spezifische biotechnische Hilfen von den »Agenten« der Institu­ tion, die durch ihre berufliche Sozialisation auf diese Erwartungen vorbereitet sind. Sie entwickelt darüber hinaus spontan und informell eine sozio-kulturelle Kommunikation und Interaktion unter den Pati­ enten. Die Schamgrenze distanziert den sterbenden Patienten aus dem sozio-kulturellen Zusammenhang der Patientenkultur. Der Sterbende gerät in eine dreifache soziale Distanz zur Institu­ tion: 1. Distanz der sozio-kulturellen Umwelt zwischen der der »Agen­ ten« der Institution und der der Patienten. Diese Distanz gilt für alle Patienten. 2. Distanz zu der erreichten Übereinstimmung zwischen Leis­ tungen und Bedürfnissen im Bereich physischen Komforts und bio­ technischer Hilfe. Der Sterbende distanziert sich von den institutio­ nellen Zielen, sein Leben ist nicht länger zu retten oder zu heilen. Diese Distanz gilt nur für die sterbenden Patienten und betrifft ihr Verhältnis zu den »Agenten« der Institution. 3. Distanz zur Patientengemeinschaft. Das Sterben eines Patien­ ten errichtet die Distanz der Peinlichkeit zu den Mitpatienten, es zerstört die sozio-kulturelle Kommunikation und Interaktion, die die Kultur der Patienten trägt. Diese Distanz gilt nur für die sterbenden Patienten und für ihr Verhältnis zu den Mitpatienten. Wir können sagen: Die Lebensbedingungen der Institution, Krankenhäuser, Pflegeheime, sind in der Kategorie der Sterbenden aufgehoben, negiert, vernichtet. Sie bilden die »outcasts« der Institu­ tionen, in denen gleichwohl eine zunehmende Anzahl von Menschen ihr Leben beendet. Das Sterben als Widerspruch zu den Anstaltszielen, als ein Ereignis, das in der beruflichen Sozialisation nicht antizipiert wurde, öffnet gleichwohl einen Horizont möglicher Kommunikation und Interaktion, der den Rahmen anstaltsvermittelter Sozialbeziehungen sprengt. Das Sterben eines Patienten konfrontiert die Beteiligten mit der ungewohnten Aufgabe, fallweise situationsadäquates Verhalten

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zu erfinden.8 Dieser Belastung im Widerspruch zu den entlastenden Mechanismen der Anstaltsorganisation sind wenige gewachsen. Aus dieser Situation führen Verdrängen, Herunterspielen, Ausweichen heraus, in ihr finden Zynismus und Roheit einen geeigneten Nährbo­ den. Die Hilflosigkeit des Anstaltspersonals, wenn es zum Sterben eines Patienten kommt, der Mangel an institutionellen Vorkehrungen selbst elementarer Art: die Sterbenden werden aus der Patientenge­ meinschaft entfernt, sie werden der normalen materiellen Standards beraubt, die biotechnischen Hilfen setzen aus –, alles dies ist hinrei­ chend beschrieben und einer größeren Öffentlichkeit bekannt. 4. Haben die beiden genannten Erkenntniswege der Soziologen gemeinsam, daß sie einen beobachtbaren Verhaltenszusammenhang untersuchen: die Mitteilung von der Beendigung eines Menschen­ lebens, die Beerdigungsriten bzw. das Verhalten, das das Sterben eines Anstaltspatienten auslöst, so kommen wir nun zu einem dritten Untersuchungsfeld. Dieses umfaßt keinen der Beobachtung auch mit wissenschaftlich unbewaffnetem Auge zugänglichen Verhaltenskom­ plex, sondern hier wird nach der Verteilung individueller Verhaltens­ dispositionen gefragt. Die jetzt zu nennenden Untersuchungen fragen nämlich nach der Intensität und Häufigkeit der Todesfurcht, nach der antizipatorischen Beschäftigung mit dem eigenen Tod, nach dem Verhalten beim Verlust des Ehepartners, nach der Differenzierung der Todeserfahrung, nach der Fähigkeit, sich über Sterben und Tod zu äußern.9 Diese Untersuchungen, die ungeachtet ihrer ungewöhnlichen Fragestellung keine Seltenheit sind – häufig sind sie von psychoana­ lytischen Konzepten, vielfach von kommerziellen Interessen ange­ regt –, belegen die Unangemessenheit des kulturellen Ausdrucks gegenüber der gleichwohl anerkannten Wichtigkeit des Todes. Die sprachliche Mitteilung ist deutlich gehemmt. Selbst Menschen, die unmittelbar mit dem Tod durch eigene Krankheit oder durch den Tod naher Angehöriger, deren Sterben sie miterlebt haben, konfrontiert waren, äußern sich kaum und wenn, nur zu ihrem Ehepartner. Das Thema Tod wird im Gespräch gemieden. »Selbst bei den Befragten, die intensiv mit dem Tod konfrontiert wurden, wird nur selten über den eigenen Tod gesprochen. Wenn bei allen Befragten die intensive Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Reinbek b. Hamburg 1957. Alois Hahn, Einstellung zum Tod und ihre soziale Bedingtheit. Eine soziologische Untersuchung, Stuttgart 1968. 8

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Konfrontation mit dem Tod bei etwa über der Hälfte dazu führte, daß sie recht häufig an ihren Tod dachten, so hatte dieses Ergebnis nur bei einem Drittel die Konsequenz, daß sie auch darüber reden. Und selbst bei denen, die über den eigenen Tod reden, beschränken sich Unterhal­ tungen dieser Art auf die Ehefrau.« So berichtet beispielsweise Alois Hahn über seine Erhebung (1966).10 Diese Befragung steht in einer Reihe ähnlicher Untersuchungen, die zu annähernd gleichen Ergebnissen geführt haben. Aussagen aus Amerika, England und Polen deuten darauf hin11, daß wir es hierbei mit einer allgemeinen Erscheinung zu tun haben, die sich in den Ländern des europäisch-nordamerikanischen Kulturkreises in einem nachchristlichen Zeitalter durchgesetzt hat. Sie ist sicher nicht allein mit der Veränderung der Lebenserwartung zu erklären, die den Tod, vor allem den vorzeitigen Tod unausgereiften Lebens seltener gemacht hat, auch können wir sie nicht mit der Verlagerung des Sterbens in Anstalten begründen, die das Lebensende dem alltäg­ lichen Lebenskreise entrückt hat. Vielmehr handelt es sich um einen gleichzeitigen Verlust an kulturellen Kommunikationsformen. Mit der christlichen Überlieferung, vor allem mit der Privatisierung aller Jenseitsvorstellungen, hat der Tod seine Symbolik verloren, er ist kulturell in die Bedeutungslosigkeit abgesunken, ungeachtet seiner Unaufhebbarkeit als factum brutum menschlicher Existenz. Seine anthropologische Position als »Bedingung der Möglichkeit« persönli­ cher Existenz bleibt davon unberührt. Die Zeitstruktur menschlichen Lebens leitet sich aus seiner Endlichkeit ab, die Unausweichlichkeit des Endes teilt jeder Lebensstrecke und im Prinzip jedem Augenblick die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit mit. Wir können also nicht sagen, daß die kulturelle Ausdruckslosigkeit, daß die offenkundige Kommunikationshemmung in dem vorherrschenden Verhältnis zu Sterben und Tod angemessen sei. Das eigentümliche Mißverhältnis zwischen der anthropologischen Bedeutung des Todes und seiner Repräsentation in unserer Kultur, für die die Bewußtseinsinhalte von Befragungspersonen ein Indiz darstellen, können wir schlecht als ein selbstgeschaffenes Problem der Kulturkritik abtun. Es ist ein Anlaß zur Beunruhigung und zur Besorgnis.

Ebd. Ernest Dichter, a. a. O.; Geoffrey Gorer, zitiert bei Werner Fuchs, a. a. O.; Adam Schaff, A Philosophy of Man, London 1963.

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Dieser Auffassung steht auch nicht entgegen, daß die Kommuni­ kationsunfähigkeit oder zumindest -hemmung der Todeserfahrung schon in der Kindererziehung beginnt. In der Sozialisation des Kindes und der Jugendlichen werden Sterben und Tod nur zufällig thematisch. Tod und Sterben sind auf den Schulen nicht curriculum-fähig und in den Familien selbst bei akutem Anlaß kein Gegenstand des erzie­ herischen Gesprächs. So berichtet Werner Fuchs in seinem kürzlich erschienenen, sehr beachtlichen Buch »Todesbilder in der modernen Gesellschaft«12 aus einer Untersuchung von Geoffrey Gorer, daß von 134 Familien, die zum Zeitpunkt der Befragung kürzlich einen Trauer­ fall hatten und zu denen Kinder unter 16 Jahren gehörten, 56 – also mehr als 40 Prozent – ihre Kinder mit der Erfahrung des Todesfalles allein ließen. Sie machten keinerlei nähere Mitteilung und besprachen sich mit ihnen nicht. Obwohl in Deutschland die Situation in den Familien sehr ähnlich sein dürfte, erhielt Hahn auf eine Frage in seinen Interviews überwiegend die Auskunft:.,Das Gespräch über den Tod gehört zur Aufklärung der Kinder« oder »Aufklärung über den Tod ist genauso wichtig wie Aufklärung über die Sexualität«. Er hatte die provozie­ rende und vielleicht die Antworten suggestiv beeinflussende Frage gestellt: »Kürzlich berichteten die Zeitungen, daß einige Volksschul­ lehrer in Süddeutschland im Unterricht mit ihren Schülern über den Tod und damit zusammenhängende Probleme zu sprechen pflegen. Ein Teil der Öffentlichkeit reagierte empört. Was meinen Sie, sollte der Lehrer in der Schule mit den Kindern über Tod und Sterben sprechen oder nicht?« Nur 6 Prozent der Städter und nur 9 Prozent der Dörfler stellten sich auf den Standpunkt, daß der Tod kein Thema für die Kindererziehung sei (N = 105). Untersuchungsergebnisse dieser Art belegen sehr nachdrücklich, daß die Armut der kulturellen Verarbeitung der Todeserfahrung schon in der Erziehung beginnt. Obwohl als Thema nicht tabuiert, wenn es auch in einer bezeichnenden biologischen Distanzierung zugelassen wird: Sexualaufklärung und Aufklärung über das Sterben in einem Atemzuge! kommt dieses Thema im erzieherischen Gespräch selbst dann nicht vor, wenn ein akuter Anlaß nach allgemeinem Verständnis es eigentlich erzwingen sollte. Wer also der Ansicht sein sollte, daß Unwissen käme von der Unbildung, die kulturelle poverté von der fehlenden éducation, der verschiebt das Problem. Auch wenn 12

Werner Fuchs, Todesbilder in der modernen Gesellschaft, a. a. O.

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Sterben und Tod seltener geworden sind – nicht nur die Sterberate der Bevölkerung insgesamt ist gesunken, auch die Todesfälle, bezogen auf die Lebensjahre einer Familie, sind geringer geworden, weil der Kreis aktueller oder naher Verwandtschaft sich verringert hat, der Tod wird seltener Anlaß von Familienfeiern, die Trauerarbeit wird weniger oft erwartet –, auch wenn das Sterben häufiger außerhalb der kleinen Lebensgemeinschaften in Anstalten erfolgt, so hat sich damit die Bedeutung des Todes für die condition humaine nicht ver­ ringert. Die Tatsache der kommunikativen Lücke oder des kulturellen understatement bleibt davon unberührt, die seiner anthropologischen Bedeutung unangemessene Repräsentanz des Todes in unserer Kultur können wir nicht übersehen. Dieses Phänomen wird von den Soziologen verschieden gedeu­ tet. Doch bevor wir diese Deutung diskutieren, wollen wir kurz auf die dargestellten Ergebnisse empirisch-soziologischer Untersuchungen zurückblicken. Wir hatten zunächst den Kontrast von Privatheit und Öffentlichkeit betrachtet und herausgefunden, daß es dem Toten in unserer Kultur nicht gelingt, im Abschied vom Leben der Öffentlich­ keit das darzustellen, was er war. Die Einzigartigkeit persönlicher Existenz, die im Leben auf viele Sozialbeziehungen, auf verschie­ dene soziale Rollen verteilt war, stellt sich auch im rückblickenden Abschiednehmen nicht her. Das Verlangen nach öffentlicher Reprä­ sentation der Biographie geht leer aus. Wir hatten dann weiterhin bemerkt, daß das Sterben in Anstalten, in Krankenhäusern und Pfle­ geheimen, ein Sterben, das gleichsam die kulturell dominante Form des exitus zu werden verspricht, aus dem Rahmen fällt. Der Sterbende gerät in die Zone sozialer Distanz, die die professionelle Kultur der Pflegeberufe von der der Patienten trennt, und der Sterbende wird gegenüber der Patientengemeinschaft infolge einer sich schnell errichtenden Peinlichkeitsschranke isoliert. Von den Anstaltszielen, von den beruflichen Standards her gesehen, aber auch aus der Per­ spektive der Patientengemeinschaft ist das Sterben nicht vorbedacht – wohl der Tod, er fällt in die Zuständigkeit anderer Institutionen, der Pathologie, der Leichenbestattung. Nur der Weg dorthin ist sozio-kulturell nicht aufgearbeitet, er erfordert das fallweise Erfinden von Verhaltensweisen, die der Situation angemessen sind, er erfordert also eine soziale Problemlösung, die wir – unvorbereitet wie wir sind – als Zumutung, als Belastung empfinden, vor der wir ausweichen. Schließlich hatten wir in den Befragungsergebnissen, die uns das Spektrum der Bewußtseinsinhalte unserer Zeitgenossen über den Tod

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wiedergeben, die kulturelle Armut landläufiger Kommunikation über Sterben und Tod entdeckt. Allen drei Aussagen gemeinsam aber ist eine Problematik, die wir als die Todesproblematik der industriellen Gesellschaft bezeich­ nen können. Die Fragen, die das factum brutum menschlicher Exis­ tenzform, der Tod, an uns richtet, sind sozio-kulturell unbewältigt. Wie wir dem Toten, seinem Leben, seinem Verlangen nach Sym­ bolisierung seiner Persönlichkeit im Abschied gerecht werden – diese Fragen haben wir nicht beantwortet. Wie wir dem Sterbenden angemessen begegnen, wie wir mit ihm interagieren sollen, dieses Verhaltensproblem haben wir nicht gelöst. Wie wir vor uns selbst und mit anderen das Ende unseres Lebens reflektieren können, wie wir von der Endlichkeit unseres Daseins auch im Hier und Jetzt reden können, wie wir auf die Eigenart unserer Existenzweise eingehen, deren Zeitstruktur erst in der Endlichkeit erfahren wird, diese Fragen haben wir gemeinsam noch zu wenig bedacht. Wir leben – so können wir ganz allgemein argumentieren – in einer Epoche des Überganges, die die 2000jährige Geschichte einer Symbolisierung des Todes als einer Chance zum ewigen Leben hinter sich läßt und die die radikale Diesseitigkeit menschlichen Daseins eben erst als Aufgabe kultureller Sinndeutung ergreift. Die Soziologie trägt zum Verständnis dieser epochalen Wende in der Ausdeutung des Lebens drei Konzepte bei: a) b) c)

Die Theorie der Verdrängung des Todes, auch der Tabuierung des Todes, Die aufklärerische Deutung der neuzeitlichen Todeserfah­ rung und Die anthropologische Struktur des Todes als Argument der Gesellschaftskritik.

a) Die These von der Tabuierung oder Verdrängung des Todes scheitert an der Verschiedenartigkeit individueller Einstellungen zum Tod, wie sie uns aus Erhebungen entgegentritt. Sie vermag nicht zu erklären, warum die Menschen sich in Befragungen ungehemmt äußern und sich für eine Behandlung dieses Themas im Schulunterricht einsetzen. b) Die aufklärerische Deutung erblickt in der kulturellen Aus­ druckslosigkeit den positiv bewerteten Abbau magischen und religiö­

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sen Jenseitsglaubens.13 Sie wertet die Abschattung der Todesbilder als Emanzipation des Menschen, als Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Die Bilder des Todes gelten ihr als irrational, als ein Versuch, die Selbstführung des Menschen in der Gestaltung seiner Geschichte zu hemmen, ihm die mühsam durchgesetzte Befreiung aus heteronomem Glaubenszwang zu verwehren. In dieser Auffassung konvergieren Georg Lukács14, R. F. Beerling15, Bernhard Groethuysen16 und neuerdings Fuchs. Diese Theorie wird m. E. den soziologischen Befunden nicht gerecht. Sie vermag beispielsweise die hier bespro­ chene Problematik von Privatheit und Öffentlichkeit oder die Negie­ rung der sozio-kulturellen Kommunikation in den Institutionen, die im Akt des Sterbens oder in der Auflösung von Sozialbeziehungen durch den Tod aufscheint, nicht zu interpretieren, ungeachtet der seit langem anerkannten Einsicht, daß hier strukturelle Probleme der Industriegesellschaft angesprochen sind. c) Die anthropologische Deutung, die von der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners17, von seinem Strukturbegriff der exzentrischen Positionalität getragen wird, relativiert die vorgefun­ denen sozialen Strukturen: Rolle, Institution, Zeitstruktur sozialen Handelns auf ihre Bedingungen im Bauplan des Menschen. In der anthropologischen Deutung bildet der Tod, nicht als biologisches Ende, als exitus letalis (Herzstillstand, Hirntod etc.) verstanden, sondern als Wissen um die Endlichkeit menschlichen Lebens, eine konstitutive Bedingung der Humanität. Sie macht in dieser Gesell­ schaft das Anrecht des Menschen geltend, als Persönlichkeit in den sozialen Rollen, als Biographie in der zeitlichen Erstreckung seines Lebens, als Teilhaber an den Institutionen anerkannt, gewürdigt zu werden. Sie wird zur Sozialkritik, wo dieses Anrecht verschüttet wird. Blicken wir von diesem Ergebnis auf den Eingang unserer Überlegungen zurück. Wir haben in Ausschnitten die kollektive Selbsterfahrung vorgeführt, die die Menschen angesichts des Todes 13 Vgl. hierzu vor allem Werner Fuchs, a. a. O., der dieses Argument m. E. am über­ zeugendsten entfaltet hat. 14 Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied–Berlin 1962, zuerst: 1953. 15 Reinier Franciscus Beerling, Moderne Doodsproblematiek, Delft 1945; ders., Dood en samenleving, in: Wijsgerig perspectief 9 (1969), S. 376–390. 16 Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensan­ schauung in Frankreich, 2 Bde., Halle 1927. 17 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 2. Aufl. Berlin 1967; ders., Conditio humana, in: Propyläen Weltgeschichte, Berlin 1961.

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mit der gesellschaftlichen Determination ihres Lebens machen. Wir Menschen wissen nicht von Geburt aus, daß wir sterben müssen, diese elementare Bedingung unseres Lebens ist uns verhüllt und wird uns nur über die Erfahrung mit der Kultur, mit der Gesell­ schaft erschlossen, in die wir hineingeboren werden. Wir unterliegen damit in der Selbstwahrnehmung dieser konstitutiven Bedingung unserer Existenz einer zunächst unbemerkten Beschränkung. Wir sind befangen in einer »selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Erst die Konfrontation der beschränkten Selbstwahrnehmung mit unseren Existenzbedürfnissen befreit uns aus unbemerkter gesellschaftlicher Determination. Das elementare Streben nach Selbstverwirklichung (das, was wir für uns sind, auch für andere sein zu können), das unmittelbare Verlangen nach Teilhabe (dessen, was wir im Leben gemeinsam besitzen, nicht schon im Sterben beraubt zu werden) und das Bedürfnis nach Kommunikation (über die Voraussetzungen unseres Lebens miteinander sprechen zu können), diese Grundbe­ dürfnisse unserer gegenwärtigen Existenz bleiben in den geltenden Formen unserer Gesellschaft unartikuliert, sie werden ignoriert. Erst die sozialwissenschaftliche Forschung vermag die naive Befangenheit unserer Selbstwahrnehmung in Kultur und Gesellschaft aufzudecken und zu überschreiten.18 Jedoch anders, als es uns aus dem Erkennt­ nisfortschritt der Natur- und Ingenieurwissenschaften vertraut ist, kann der Sozialwissenschaftler diese Einsicht nicht stellvertretend für alle, die es angeht, vollziehen. Die Entdeckung allein genügt nicht, ihre Anwendung entzieht sich den Gesetzen ökonomischer oder strategischer Verwertung. Die Befreiung aus naiver Unterwerfung unter die blinde Gewalt sozio-kultureller Determination kann wirk­ sam nur durch uns alle geschehen. Die eingangs gestellte Frage: Wer verfügt mit welchen Gründen über die Grenzchancen des Überlebens? wird erst dann eine befriedigende Antwort finden, wenn Ärzte und Laien auf der Basis einer gemeinsamen gesellschaftlichen Erfahrung urteilen und handeln. Bis dahin werden wir die Entzweiung von ärztlichem Wissen und Laienverstand mit juristischen Kautelen zu beschwichtigen und mit theologischen und ethischen Ausflüchten zu überbrücken versuchen.

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Georg Simmel, Lebensanschauung, München und Leipzig 1918.

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... Todeserfahrung und Lebenserfahrung bilden von Anfang an eine Einheit, weil in der Verkörperung-die Entkörperung als ihr Gegenzug mit­ enthalten ist. Im Außenfeld des Handelns gehören »Nicht« und »Leere« als Hintergrund und Gliederungsschema zudem in zerstreuten Dingen aufgesplitterten Realitätsbild; Kommen und Verschwinden, Machen und Zerstören sind ihre hantierbaren Übergangsweisen, und erst das vom unmittelbaren Bezug zur Praxis sich lösende Denken entdeckt an ihnen begriffliche Schwierigkeiten und die Rätsel des Werdens und Vergehens, des Nichts und des Seins. Helmuth Plessner, Conditio Humana, 1962

I. Gesellschaftliche Todeserfahrung Die im akademischen Leben wie in allen auf Leistungskonkurrenz gestellten Sozialbereichen besonders üppig blühende Gossip charak­ terisiert die Soziologie unter anderem als eine säkularisierte Form der Seelsorge. Die Soziologen – darauf weist man mit Schmunzeln hin – verstünden es wie die Pfarrer, über jedes Thema zu reden. Ja, den Theologen fiele es gegenwärtig leicht, ihre Predigten wieder streng an die Auslegung eines Bibelwortes zu binden, da die Soziologen die gebildete Unterhaltung über Zeitfragen vollauf zu bestreiten wüßten. In der Tat gibt es naheliegende Versuchungen für den Soziologen, die seiner Disziplin gezogenen Grenzen unkritisch zu überschreiten. Der offene Horizont möglicher methodischer Grundlegung, der Selbst­ behauptungszwang im Kreise arrivierter Disziplinen, die Nähe zur sozialen Wirklichkeit und zu einer Öffentlichkeit, deren Einstellung zur Wissenschaft zwischen bewundernder Überschätzung und Furcht geteilt ist – sie schaffen ein Klima, in dem abenteuernder Dilettan­ tismus, aber auch selbstquälerische Skrupel zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen. Es hieße die Situation unseres Faches verken­ In memoriam Otto Schmidt, 1898–1962, ordentlicher Professor für Gerichtliche Medizin an der Universität Göttingen.

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nen, ja, man würde ihm fruchtbare Irrwege verwehren, das heißt, eben die Methode versagen, die ein so kritischer Forscher wie R. K. Merton als »serendipity pattern« der Soziologie ausdrücklich zugesteht, wollte man aus konventionellen Rücksichten die Freiheit soziologi­ schen Fragens beschränken. Eine soziologische Analyse der gesellschaftlichen Todeserfah­ rung – wie abwegig ein derartiges Thema auch zunächst erscheinen mag – rechtfertigt sich aus den konventionellen Fragerichtungen der Soziologie. Auffällige empirische Befunde, die eine spezifische Haltung gegenüber dem Sterben verraten, das theoretische Motiv, eine Fundierung der soziologischen Theorie an der Nahtstelle zu versuchen, an der sich Individuum und Gesellschaft unausweichlich begegnen, und schließlich das sozialkritische Anliegen, die Würde des Menschen in und gegenüber gesellschaftlichen Zugriffen zu behaupten, vereinigen sich in dem Versuch einer Ortsbestimmung des Todes in unserer Gesellschaft. Das Todesthema bleibt nicht län­ ger der schönen Literatur und der Philosophie allein vorbehalten, sondern auch die empirischen Sozialforscher haben sich der subjekti­ ven Seite des Todes ebenso angenommen wie die »Chefideologen« des Marxismus. Sterben und Tod sind in ihrer Bedeutung für das Leben, die Lebensführung und das Lebensgefühl zum Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung geworden. Und ferner, auf welchem Gebiet käme die gesellschaftliche Verfassung der Individuen wohl plastischer zum Ausdruck als in der Erfahrung des Todes, den jeder für sich allein stirbt und dessen unausweichlicher Drohung zugleich sehr viele gesellschaftliche Einrichtungen ihr Dasein verdanken? (Erinnert sei in diesem Zusammenhang lediglich an die drastische Senkung der Sterblichkeit im Zuge der Industrialisierung.) Und schließlich ergibt sich angesichts des Todes und der durch ihn vermittelten Einmaligkeit des Lebens eine letzte Prüfung der Ansprüche, die die gesellschaftlichen Mächte an das Individuum stellen – und nicht nur in den Gesellschaften, die um ihrer Selbstbehauptung willen dem ein­ zelnen den Einsatz des Lebens als äußerste Leistung für das Kollektiv abverlangen. Empirie, theoretische Bedürfnisse und Sozialkritik, also die herkömmlich unterschiedenen Ansätze soziologischer Forschung, finden in der Explikation der gesellschaftlichen Todeserfahrung einen fruchtbaren Gegenstand der Bearbeitung vor. Von unserem empirischen Wissen her können wir das Todes­ problem in unserer Gesellschaft als einen »Topos« bezeichnen, des­ sen Kommunikation außerordentlich behindert ist. Die Hilflosigkeit

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I. Gesellschaftliche Todeserfahrung

gegenüber dem Sterbenden, wie wir sie in den Krankenhäusern beob­ achten,1 die Verlegenheit bei Todesfällen, wie sie der Mangel oder die Beliebigkeit der zugehörigen Konventionen verraten, bestätigen sich in Untersuchungen der Sozialforscher, die – auch das kennzeichnet die Unsicherheit – im Auftrage von Beerdigungsinstituten2 oder aus theoretischem Interesse durchgeführt wurden. Die Kommunika­ tionshemmung, die mangelnde Mitteilungsfähigkeit von Inhalten der Todeserfahrung, tritt überzeugend in einer amerikanischen Stu­ die hervor, die psychosomatische Reaktion und verbales Ausdrucks­ verhalten in Verbindung mit Todesvorstellungen beobachtet hat.3 Danach beantworten wir Mitteilungen, die sich auf den Tod beziehen, »mit gesteigertem Affekt«, wir »reagieren auf dem physiologischen Niveau, wie wenn wir intensiv beeinflußt würden«, während unser übriges Verhalten, vor allem die verbale Bewältigung der Situation, nur schwache Anteilnahme verrät. Die kulturelle Umgebung scheint, ungeachtet der Erregung des sympathischen Nervensystems, die Todesvorstellungen auslöst, diesen Gegenstand aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Soweit die Ergebnisse einer methodisch sehr sorgfäl­ tig überlegten Studie aus den Vereinigten Staaten. Sie finden eine unerwartete Parallele in Beiträgen, die der polnische Philosoph Adam Schaff unlängst veröffentlichte und mit denen er der traditionellen Vernachlässigung der Todesproblematik im Marxismus-Leninismus

1 Die Hilflosigkeit beginnt bei den fehlenden Sterbezimmern in den Krankenanstal­ ten; für die Agonie »genügt« das Badezimmer oder eine provisorisch abgeteilte Ecke im Flur. Wenn es zum Sterben kommt, ist die »Funktion« der Schwestern und Ärzte erfüllt. Konnte noch Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1912) vor der Neuartigkeit dieser Sterbesituation erschrecken, so liest sich seine Schilderung heute wie ein ins Poetische abgeglittener Tatsachenbericht, der die üblichen zivilisa­ tionskritischen Klischees seiner Zeit benutzt (Massenproduktion – Proletarisierung – Anonymität – Technisierung): „.. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben ... Voilà votre mort, monsieur. Man stirbt wie es geradekommt; man stirbt den Tod, der zur Krankheit gehört, die man gerade hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen)« (Inselausgabe, S. 13). 2 E. Dichter, Strategie im Reich der Wünsche, 1961. 3 I. Alexander/M. Adlerstein, Studien zur Psychologie des Todes, in: Perspektiven der Persönlichkeitsforschung, 1961.

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den Rücken kehrt.4 Zu einer dogmatischen Beschäftigung des Mar­ xisten mit dem Todesproblem sah Schaff den Anlaß in eben diesem Widerspruch, daß die weltanschauliche Verdrängung von Sterben und Tod an elementaren menschlichen Bedürfnissen achtlos vorübergeht. Ein Widerspruch, den eine Lehre mit totalen Ansprüchen an den Menschen nicht ungeprüft auf sich beruhen lassen kann. Schaff schreibt: »Solange Menschen sterben ... wird die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach seinem Wert gültig bleiben ... Jede Theorie, die eine Weltanschauung sein will, muß eine Antwort auch auf diese Frage geben.« Der Marxismus kann es sich nicht leisten, diese Frage als töricht beiseite zu lassen. »Denn – so heißt es weiter – der Kampf um die Gemüter der Menschen, den der Marxismus gegen die idea­ listischen Richtungen führt, kann nur gewonnen werden, wenn er diese Probleme übernimmt und ihnen eine andere, eigene Lösung gibt.« Ein bemerkenswerter Versuch, so scheint es mir, die offizielle Kommunikationshemmung, die weltanschauliche Sperre zu durch­ brechen und einer Diskussion über die gesellschaftliche Bedeutung des Todes Raum zu geben.

II. Anthropologische und sozialgeschichtliche Aspekte Die geschilderte Situation, in der die Menschen unserer Zivilisa­ tion dem Tod begegnen und in deren Ausschmückung man um Details nicht verlegen ist,5 reizt zu einer anthropologischen oder sozialgeschichtlichen Interpretation, für die Autoritäten leicht aufzu­ bieten sind. Zunächst – um mit dem Gesichtspunkt einer vergleichenden Verhaltenslehre zu beginnen – könnte die äußere Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod, das Ablehnen einer müßigen Spekulation über das Sterben als Ausdruck der Freiheit des Menschen gewertet wer­ den, in die Sphäre seiner Kommunikation, seiner Situationsbewäl­ In Przeglad Kulturalny unti Nowe Drogi, zit. nach einem Leitartikel von Hansjakob Stehle in der FAZ, Nr. 85 vom 12.4.1961. 5 Zufällig erfuhr ich von einem Gespräch über den Tod im Religionsunterricht der Berufsschulen. Nach der Einführung zum Thema wollte die Lehrerin ihre Schüler dazu veranlassen, ihre eigenen Gedanken beizutragen. Nach längerem Schweigen erhielt sie auf direktes Zufragen die weitere Erörterung erübrigende Antwort: »Ja nun, Frollein, kaputt ist eben kaputt!« – Für die tristen Perspektiven, in die die Sowjetideo­ logie den Tod rückt, vgl. A. Buchholz, Der Kampf um eine bessere Welt, 1960, S. 174 ff. 4

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II. Anthropologische und sozialgeschichtliche Aspekte

tigung und Weltauslegung, Elemente aufzunehmen oder auch sie zu streichen. Dabei bewährt sich die Freiheit des Menschen, seine Existenz selbst festzustellen und in den Konventionen seiner Aus­ drucksmöglichkeiten auf die Dauer festzuhalten, offenbar besonders eindrücklich gegenüber den Grundcharakteren des Lebens: Geburt – Tod – Jugend – Alter – männlich – weiblich. Geschlechter- und Altersrollen sind – wie die Kulturanthropologie überzeugend gezeigt hat – variabel angelegt und entfalten im Vergleich der Kulturen Unterschiede bis zur Gegensätzlichkeit. »Ebenso zeigt das Verhältnis zu Geburt, Altern und Tod eine nahezu uferlose Variabilität ... Der Verkehr mit den Verstorbenen kann für die gesamte soziale Ordnung konstitutiv sein; an den Tod können sich Verpflichtungen knüpfen, die das ganze Leben formen – wir können ihn aber auch sozial zu ignorieren versuchen.«6 Bewahrt eine solche Grundauffassung, die der soziokulturellen Selbstbestimmung des Menschen einen wei­ ten Freiheitsspielraum zubilligt, vor einer vorschnellen Festlegung anthropologischer Verhaltensstrukturen, hält sie von einer naiven Fixierung des Menschen ab, so entbindet sie anderseits doch nicht von der – damit erst gestellten – Aufgabe, der eigentümlichen Bewertung bestimmter Elemente, zum Beispiel des Todes, im Zusammenhang einer Kultur nachzuspüren. Nicht nur verschiedene Auffassungen vom Tode oder unterschiedliche Verpflichtungen gegenüber den Ver­ storbenen- um in unserem Problemzusammenhang zu bleiben – werden dann in ihrer Eigenart allererst verstanden, sondern auch die soziale Ignorierung des Todes, in der sich archaische Kulturen mit der industriell-technischen Zivilisation begegnen, tritt aus dem Dunkel einer vordergründigen Bestandsaufnahme, in der alle Kat­ zen grau sind, in das Licht präziser Aussagen. Denn das Verhalten einiger Eingeborener, die mit ihren Toten als weiterhin Lebenden (sozusagen in einem anderen Aggregatzustand) verkehren und im Tode einen unglücklichen Zufall erblicken,7 weist offenbar nur sehr lose Beziehungen zu scheinbar ähnlichen Gewohnheiten auf, über die die Marktpsychologie der amerikanischen Beerdigungsinstitute zu berichten weiß. Danach wünschen die Angehörigen eines Verstor­ H. Popitz, Soziale Normen, 1961. »Tod, religionsgeschichtlich«, RGG, 3. Aufl. In wie starkem Maße es für unsere Fragestellung an fundierten religionsgeschichtlich vergleichenden Untersuchungen mangelt, belegt dieser Beitrag, der im wesentlichen unverändert aus der vorigen Auf­ lage übernommen wurde. 6

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benen, daß während der Begräbnisfeier von ihm als einem noch Lebenden gesprochen wird.8 Und ferner gilt es als Topos unserer Kultur, den Tod als Unglücksfall, als Kunstfehler der medizinischtechnischen Anstrengungen darzustellen, die zu seiner Abwendung unternommen werden.9 Zum Verständnis unseres Verhaltens zu Sterben und Tod leistet daher die These von der Variabilität menschlicher Kulturen, die diese sogar im Hinblick auf Elementarphänomene der menschlichen Existenz voneinander auszeichnen, einen unbeabsichtigten Beitrag. Zunächst macht sie es sinnvoll, nach den soziokulturellen Bedingun­ gen der Todesauffassung in industriell fortgeschrittenen Ländern zu fragen. Die offenkundigen Verschiedenheiten in den Spekulationen über den Tod – sie haben die Philosophen immer wieder beschäftigt –, vor allem aber die jeweils anders »motivierte« oder soziokulturell »definierte« Indifferenz gegenüber dem Todesproblem provozieren die Frage nach den Mechanismen, die eine kommunikative Materia­ lisation der Todeserfahrung leisten bzw. auf weite Strecken unter­ binden. Darüber hinaus aber erzwingt diese These eine Reflexion über die praktische Bedeutung, die der Einsicht in die Freiheit des Menschen zukommt, über die soziokulturelle Normierung seines Verhaltens seine Selbstbestimmung zu verwirklichen. Denn welchen Wert hätte das Wissen um die variable Gestaltungsfähigkeit des Menschen, der sein gesellschaftliches Verhalten und seine kulturellen Institutionen frei zu produzieren vermag, in unserer Zeit einer bisher unbekannten technischen Beherrschung von Natur und Gesellschaft, wenn eine solche Erkenntnis rein theoretisch bliebe? Welchen Sinn hätte die Anhäufung von Machtpotentialen, die in unserer technisch hochgezüchteten Zivilisation und bei dem erreichten Organisations­ grad der industriellen Vergesellschaftung allerorts stattfindet, wenn die Erkenntnis der soziokulturellen Variabilität des Menschen nicht Bestandteil der Praxis würde? Sicherlich ist es nicht unrealistisch gedacht, die Gefahr einer totalitären Pervertierung der Gesellschaft darin zu suchen, daß die Einsicht in die soziokulturelle Variabilität des E. Dichter a. a. O., S. 176 ff. u. a. Ebd.; vgl. ferner S. Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Gesammelte Werke, Bd. 10, London 1946: »Was den Tod eines andern betrifft, so wird der Kulturmensch es sorgfältig vermeiden, von dieser Möglichkeit zu sprechen ... Wir betonen regelmä­ ßig die zufällige Veranlassung des Todes, den Unfall, die Erkrankung, die Infektion, das hohe Alter und verraten so unser Bestreben, den Tod von einer Notwendigkeit zu einer Zufälligkeit herabzudrücken« (S. 342). 8

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Menschen, in die gesellschaftspolitische Veränderbarkeit der »Selbst­ verständlichkeiten«, in denen er sich inhaltlich selbst bestimmt, zu einer Art von Geheimwissen der Herrschenden würde. Es ist der Alptraum der Soziologen, daß die von ihnen entwickelten Sozio­ techniken gerade mit steigendem wissenschaftlichem Raffinement das ohnehin bestehende Ungleichgewicht von Herrschenden und Beherrschten zu Lasten des gefügigen Materials jeder Herrschaft verstärken und daß sie selbst im Zuge ihres wissenschaftlichen Fort­ schritts sich zu »Sklaven der Macht« herabwürdigen.10 Die Auflösung des gesellschaftlichen Scheins, der die sozialen Normen zu festen unabänderlichen Einrichtungen verdinglicht und das Wollen der Individuen in die Ohnmacht privater Unverbindlichkeit herabdrückt, wird zum Gebot der Praxis, soll das Wissen um die soziokulturelle Variabilität des Menschen nicht lediglich eine hemmungslose Instru­ mentalisierung der sozialwissenschaftlichen Forschung legitimieren. Es ist ein tragisches Paradox der gegenwärtigen gesellschaftlichen Konstellation, daß dreierlei sich miteinander verbindet: die Erkennt­ nis der Freiheit des Menschen gegenüber seiner Naturausstattung, das heißt das Bewußtsein der Unergründlichkeit seiner Natur und damit der Offenheit seiner Zukunft. Die Verfügung über ein stän­ dig wachsendes »Kapital« an technischen Hilfsmitteln, intelligenten Leistungen und sozialer Disziplin, mit anderen Worten, die Fähig­ keit, die Geschichte der Menschen verantwortlich zu gestalten. Und schließlich ein zunehmendes Gefühl der Ohnmacht des einzelnen im Kollektiv, eine wachsende Resignation gegenüber der Auslieferung an einen »schweigenden Totalitarismus der Gesellschaft« (Dahrendorf), ja, die Furcht gerade angesichts der Offenheit einer Zukunft, die mehr Enttäuschungen als Erfüllungen zu verheißen scheint. Mehr noch als diese untergründige Beunruhigung, die ange­ sichts atomarer Vernichtungswaffen und politischer Kraftakte auf dem – allerdings ständig sich verbreiternden – Pfad kalten Krieges nur zu verständlich erscheint, aber kontrastiert die Phantasielosigkeit sozia­ ler Gestaltung zu dem Wissen um die Freiheit des Menschen und zu dem Arsenal seiner technisch-organisatorischen Mittel. In dem Man­ gel an gesellschaftlicher Phantasie, in der Gedankenlosigkeit über die Kriterien sozialen und politischen Handelns, in dem Fehlen einer wirklichen Wertdiskussion unter der Maske sogenannter Werturteils­ 10 Symptomatisch die Studie von L. Baritz, The Servants of Power, A History of the Use of Social Science in American Industry, Middletown 1960.

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freiheit tritt die Misere einer gesellschaftlichen Verfassung offen zu tage, die den Abstand zu den von ihr selbst gesetzten und daher auch ständig neu zu verantwortenden Selbstverständlichkeiten des Lebens verloren hat. Der Mangel an Distanz zu dem, was gesellschaftlich getan und »verantwortet« wird, in der Praxis nimmt sich merkwürdig aus neben der theoretischen These der Anthropologie; daß für den Menschen die mögliche Distanzierung zu seinem Verhalten, die »exzentrische Position« (Plessner) zur Welt und zu sich selbst ihn als Menschen auszeichnet, die conditio humana konstituiert. Aus der Perspektive dieses Gegensatzes von theoretischer Frei­ heit und praktischer Befangenheit gegenüber der soziokulturellen Normenwelt fällt neues Licht auf die soziale Ignorierung des Todes in der industriellen Vergesellschaftung. Denn das memento mori stiftet sehr nachdrücklich eine Distanz zum Hier und Jetzt; der Tod erinnert sehr eindringlich an den »vorläufigen«, »unernsten« Charakter der sozialen Anforderungen, die uns bewußtlos in ihren Bann schlagen, deren gedankenlose Erfüllung zum tierischen Ernst unseres Daseins geworden ist. Ein verbindliches, kommunizierbares Verhältnis zum Tode wiederzugewinnen heißt also den schweigenden Totalitarismus der Gesellschaft brechen, der jede Diskussion über die gesellschaftli­ che Disziplin zu verhindern trachtet. Solange die Fähigkeit, gegenüber seinem Verhalten sich zu dis­ tanzieren – ein Vermögen, das den Menschen erst zum Menschen macht –, nicht eine überzeugende, weil allgemein verbindliche Mate­ rialisation findet, bleibt die These von der soziokulturellen Variabilität menschlichen Verhaltens eine rein theoretische Erkenntnis, die den »Gebildeten« eine rasche Anpassung an die jeweils herrschende Machtkonstellation erleichtert. Eine soziale Manifestation des Todes, der allem Planen eine äußerste Grenze setzt und damit eine Relati­ vierung aller Ziele bewirkt, leistete eine praktische Distanzierung zur sozialen Situation. Eine Materialisierung der Todeserfahrung ver­ möchte in der Praxis den Abstand zum Verhalten herzustellen, der der theoretischen Einsicht und den technischen Möglichkeiten unserer heutigen Situation entspricht. Offensichtlich trüge ein kommunizier­ bares »memento mori« in jedes Verhalten ein kritisches Moment und leistete damit einer »willenlosen Lenkbarkeit intelligenter Massen« (Gehlen) Widerstand. Als Ergebnis dieser Überlegungen können wir festhalten: Er­ schien zunächst die soziale Ignorierung des Todes als Ausdruck einer Freiheit des Menschen, in der soziokulturellen Normierung seines

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Verhaltens sich selbst zu bestimmen – eine Freiheit, die sich offenbar gerade angesichts von Elementarereignissen seiner Existenz bewährte –, so gilt für die praktische Verwirklichung dieser Freiheit genau das Gegenteil. Die Privatisierung der Todeserfahrung, die Verbannung jedes memento mori aus der Öffentlichkeit verschüttet einen wesent­ lichen Zugang, um in der Praxis den Abstand zur sozialen Situation aufrechtzuerhalten, aus dem die Freiheit soziokultureller Selbstbe­ stimmung lebt. Die soziale Ignorierung des Todes in den entwickelten Industriegesellschaften bildet weniger ein Symbol der Freiheit als ein Zeichen für eine verbreitete Unfreiheit aus Gedankenlosigkeit; sie zeigt ein Zurückbleiben hinter den erreichten theoretischen und technischen Gegebenheiten an. Das gegenwärtige Verhältnis zum Tode im Modell des cultural lag zu interpretieren, das heißt, die Aussparung der Todeserfahrung aus dem öffentlichen Bewußtsein als ein Nachhinken in der kultu­ rellen Verarbeitung der Situation zu deuten, wird nahegelegt durch eine sozialgeschichtliche Interpretation, die die moderne Einstellung zum Tode als Verallgemeinerung eines ursprünglich bürgerlichen Lebensgefühls versteht. Die diesseitige Orientierung bürgerlicher Lebensführung, die sich gegenüber dem kirchlich geprägten Ethos durchsetzt, bietet für Todesgedanken keinen Raum. Eine soziale Ignorierung des Todes setzt sozialgeschichtlich mit dem Aufkommen des Bürgertums ein und nimmt – in der Philosophie und in der Literaturgeschichte – an seinem Schicksal teil. Die Lebens- und Existenzphilosophie und – stark unter ihrem Einfluß, vor allem dem Diltheys – die Literaturgeschichte machen in einer spät- oder gar nachbürgerlichen Zeit den Tod zum Thema.11 Hält man an der Identifizierung fest, die die soziale Ignorierung des Todes in der Neuzeit der bürgerlichen Lebenshaltung zurechnet, dann haftet dieser Einstellung in der Gegenwart etwas Unzeitgemäßes an. Dieser Frage wenden wir uns jetzt zu. Geistes- und sozialgeschichtlich gesehen, steht das moderne Verhältnis zum Tode im Zeichen einer Entchristianisierung des Weltbildes. Die Aussparung der Todeserfahrung aus der Öffentlich­ keit erscheint unter dieser Perspektive als Verallgemeinerung einer 11 Für die Literaturgeschichte siehe die klassische Studie von W. Rehm, Der Todes­ gedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, 1928, mit reichen Literaturhinweisen, aus denen die Beziehung zur Lebensphilosophie deut­ lich spricht.

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Haltung, mit der die bürgerlichen Schichten, zu sozialem Einfluß gelangt, gegen die geistige Vorherrschaft einer klerikal bestimmten Lebensanschauung auftraten. In diese Auseinandersetzung zwischen einem sich durchsetzenden bürgerlichen Bewußtsein und kirchlich bestimmten Kreisen gewähren die feinsinnigen Analysen von Bern­ hard Groethuysen einen überzeugenden Einblick. Die »bürgerliche Welt- und Lebensanschauung«, die in Frankreich während des 17. und 18. Jahrhunderts gegenüber dem geistigen Totalitätsanspruch der Kirche an öffentlichem Einfluß gewinnt, spart den Tod aus; die Ansprüche, die mit der Endlichkeit der menschlichen Existenz erwachsen, werden kulturell nicht bewältigt, sie werden ignoriert: Wie Groethuysen – seine Analysen zusammenfassend – es formuliert: »... die gebildeten Laien ... haben den Tod nicht eigentlich verweltlicht, es ist ihnen nicht gelungen, das Bild des Todes in den Gesamtzu­ sammenhang des neuen Bewußtseins zu integrieren. Das Problem des Todes hat keine Lösung gefunden. In dem sonst so klaren Bild, das das bürgerliche Bewußtsein sich geschaffen hat, bleibt etwas Dunkles, Unbekanntes ... Das Problem des Todes als solches tritt immer mehr zurück; das Todeserlebnis verliert immer mehr seine zentrale Bedeutung für das Leben ... Der Bürger ist ein Kind dieser Erde ... Sein Leben genügt ihm. Er bestreitet sozusagen den Primat des Todes.«12 In der geistigen Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, die mit dem Ausschließlichkeitsanspruch einer Verwalterin jenseitiger Heilsgüter die Todesdrohung als Waffe einsetzt, wird das Bürgertum, legitimiert durch seine wirtschaftliche Macht und gestützt auf eine außerkirchliche Kultur, zum ersten modernen Ver­ treter einer Ignorierung des Todes. Leugnung oder Einbeziehung der Todeserfahrung in den christlichen Heilsplan rückte als Alternative in das Zentrum des Weltanschauungskampfes. An der Bewertung des Todes für die Lebensführung entzündete sich der Gegensatz; die Todesauffassung bildete ein Symbol, an dem sich kirchliche und säkulare Lebensanschauung trennten13 – ein für unsere Fragestellung sehr aufschlußreicher Vorgang! Wie Groethuysen zeigt, begann die B. Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 1. Band: Das Bürgertum und die katholische Weltanschauung, 1927, S. 130 ff. 13 Im Jahre 1761 klagt ein Vertreter der kirchlichen Weltanschauung darüber, daß die Anzahl dieser »waghalsigen Menschen ständig wachse, von denen man sagt, daß sie als Philosophen gestorben sind, weil sie der Gottheit getrotzt und ihre ewige Seligkeit verloren haben. Diese unglückliche Zeit ... ist überreich an solchen Skandalen. Sogar 12

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Instrumentalisierung der Todesfurcht im Interesse einer Stützung der kirchlichen Vorherrschaft die Grundlagen des Glaubens selbst zu erschüttern: »Für viele Gläubige ist Gott nichts mehr als ein Gespenst, das Gespenst des Todes.«14 Und weiter: »Die Furcht wird immer mehr zum treibenden Moment alles Glaubens ... Doch da die Furcht nun einmal ein Gefühl ist, das keiner sich gerne eingesteht, konnte es leicht dazu kommen, daß sich schließlich der gebildete Laie überhaupt davor schämte, noch zu glauben ... Darum ist es auch nicht erstaunlich, daß für den gebildeten Laien der Glaube immer mehr als Schwäche gilt, als etwas, was gerade noch gut genug für das Volk ist, dem ehrbaren Bürger aber nicht mehr ziemt.«15 Die heroische Absage an die Todesfurcht, wie sie diese Belege als Kennzeichen des bürgerlichen Lebensgefühls verstehen, wird bis in unsere Zeit hinein mit dem Bürgertum identifiziert. Die diesseitige Orientierung der Lebensanschauung, die für den Todesgedanken nur wenig Raum läßt und der die Endlichkeit der Existenz genügt, ohne über die äußerste Grenze des Daseins zu reflektieren, wird in dem Gesamtzusammenhang der langfristigen Verhaltensänderungen und der Gesellschaftsformen gestellt, die die Sozialgeschichte dem kapi­ talistischen Zeitalter zuordnet. Zu der technisch-zivilisatorischen Eroberung und Beherrschung von Natur und Gesellschaft, die sich in Europa und Nordamerika unter der Führung der »bürgerlichen Schichten« vollzieht, gehört die Abschaffung des Todesproblems in der Öffentlichkeit als auszeichnendes Merkmal des Zeitgeistes hinzu. Lebens- und Existenzphilosophie, die – zum Teil im Gegenwurf zu derartigen Strömungen – die sinngebende Bedeutung des Todes für die menschliche Existenz ins Zentrum rücken, werden, dem Zwang einer solchen Definition folgend, als Krisenerscheinung des bürger­ lichen Zeitalters gewürdigt. Zwar verlockt die Assoziierung von Tod und Krise und liegt die Versuchung nahe, die philosophische Refle­ xion über die brüchige Nachtseite des Lebens – angesichts der Tri­ umphe und Katastrophen einer technisch-zivilisatorischen Beherr­ schung des Daseins mit einer krisenhaften Erschütterung des kulturellen Selbstverständnisses zu identifizieren, dennoch über­ rascht die Übereinstimmung, mit der westliche und marxistische Phi­ losophen die deutsche Todesphilosophie des 20. Jahrhunderts – Sim­ die Weiber sind stolz darauf, als Ungläubige zu sterben, d. h. ohne Hoffnung, ohne Furcht Gottes« (Groethuysen a. a. O., S. 102). 14 A. a. O., S. 109. 15 A. a. O., S. 112 f.

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mel, Heidegger, Jaspers – als Verfallsstufen oder Gegenströmungen einer bürgerlichen Endzeit deuten. Sicherlich hat der Nationalsozia­ lismus, der diese Todesphilosophie gleichsam verarbeitet und sie in doppelter Weise zur Lebenspraxis steigert, in einer Heroisierung des vaterländischen Opfertodes und in dem Zynismus der Vernichtungs­ lager den äußeren Anlaß für eine derartige Deutung gegeben. Die bedeutendsten Untersuchungen zu diesem Thema: Moderne Doods­ problematiek von R. F. Beerling (1945) und die einschlägigen Kapitel der Studie von Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft (1953), suchen beide den Weg von den radikalen, antiwestlichen, irrationalen Problemstellungen der deutschen Lebensphilosophie zu dem roman­ tischen Heroismus und zu der technischperfektionierten Barbarei des Nationalsozialismus nachzuzeichnen, getreu dem Motto von Lukács: »Es gibt keine ›unschuldige‹ Weltanschauung ... Jeder Denker ist ... für den objektiven Gehalt seines Philosophierens vor der Geschichte verantwortlich.« Auf dieser Basis ergibt sich für Lukács’ Schrift »als Stoff: der Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiet der Philoso­ phie« (S. 6). Für »den radikalen Verfall des bürgerlichen Bewußtseins« vor­ nehmlich in Deutschland sieht Beerling ein ernstes Symptom in der Lebensphilosophie, die dazu neigt, die Wirklichkeit »nach relativie­ renden Gesichtspunkten zu zerlegen und zu verflüchtigen ... In der Existenzphilosophie – dem nächsten Schritt auf dem Wege der Zer­ störung – wird das typisch bürgerliche Zutrauen in die Welt in ein fundamentales Unbehagen verwandelt« (S. 45). Die Auflösung des bürgerlichen Lebensgefühls in der Philosophie gehört – so meint Beerling – wesentlich einer »Krisensituation an, in die ... der bürger­ liche Mensch geraten ist und von der sowohl der Nationalsozialismus als auch die Existenzphilosophie Zeugnis ablegen« (S. 46 f.). Für ihn, darin Lukács verwandt, ist es kein Zufall, daß in Deutschland, dem eine bürgerliche Revolution und damit eine politische Wirksamkeit seines Bürgertums versagt geblieben ist, weltanschauliche Zerset­ zungserscheinungen, wie Lebens- und Existenzphilosophie und der Nationalsozialismus, Ursprung und Heimat besitzen. Die antibürgerliche Tendenz der philosophischen Todesproble­ matik gilt beiden Denkern für ausgemacht. »Die Betonung des Todes­ problems bei einem zum Expressionismus neigenden Lebensphilo­ sophen wie Simmel und bei Existentialisten wie Heidegger und Jaspers steht im Widerspruch zu der Gleichgültigkeit oder Zurück­ haltung, die der bürgerliche Rationalismus gegenüber den mit dieser

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Problematik zusammenhängenden Fragen an den Tag legt. Sie bezeichnet das Herausstellen eines Aspektes der Wirklichkeit, von dem der Bürger sich instinktiv abwendet« (Beerling, S. 40). In ähnlichem Sinne lesen wir bei Lukács bereits über Kierke­ gaard, daß seine Philosophie »nichts weiter als die Ideologie des tris­ testen Philistertums, der Angst und des Zitterns, der Sorge ... gegen den bürgerlichen Fortschrittsgedanken ... gerichtet war« (S. 391). Heideggers Philosophie geht »von der subjektiven Wahrheit ... jener Stimmung der Nichtigkeit und Verzweiflung« aus, die als »das Gefühl des Unwesentlich-, ja Nichtig-werdens des bürgerlichen Menschen ... ein allgemeines Erlebnis in der Intelligenz dieser Zeit« bildet. Die Verzweiflung, die er schildert, erhebt »die innere Lage des bürgerli­ chen Individuums ... im sich auflösenden Monopolkapitalismus, vor der Perspektive seines Untergangs« zum philosophischen Begriff (S. 401–402). Die Verzweiflungsstimmung der Existentialphiloso­ phie findet Lukács »gelegentlich« bereits bei Dilthey und Simmel. Er zitiert Dilthey: »Und die heutige Analyse der menschlichen Existenz erfüllt uns alle mit dem Gefühl der Gebrechlichkeit ... der Endlichkeit in allem, was Leben ist, auch wo die höchsten Gebilde des Gemein­ schaftslebens aus ihnen entstehen« (S. 392). Das Todesthema bei die­ sen Philosophen gilt Lukács je nach dem sozialgeschichtlichen Sta­ dium der marxistischen Geschichtsauffassung als antibürgerliche Reaktion oder als Ausdruck bürgerlicher Untergangsstimmung; das Erbe bürgerlicher Ignorierung des Todes hat bei Lukács der Marxis­ mus-Leninismus als die fortschrittliche Philosophie unserer Zeit angetreten. Die referierten Thesen verdanken ihre Überzeugungskraft aller­ dings einer trügerischen Vereinfachung. Zunächst klammert sich eine Interpretation, die den Nationalsozialismus unter Vernachlässi­ gung anderer Perspektiven als Verfall oder Selbstzerfleischung des Bürgertums verstehen will, an eine Komponente; sie übersteigert die historische Seite des Phänomens und sieht an dem strukturellen Prob­ lem des Totalitarismus vorbei, dessen Wurzeln im Organisationsgrad der Gesellschaft unabhängig von der historischen Konstellation zu suchen sind. Die Instrumentalisierung des menschlichen Einsatzes, der »Leistungen« in der Organisation, das mit der industriell-techni­ schen Zivilisation entstehende und sich ausbreitende Motiv der Orga­ nisationsfreudigkeit haben das nationalsozialistische Regime sicher noch weit mehr begünstigt als die Vivisektion des philosophischen Gedankens. In ähnlicher Weise werden wir uns vor einem vorschnel­

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len wissenssoziologischen Urteil zu hüten haben, das die öffentliche Indifferenz gegenüber dem Tod, die Privatisierung der Todeserfah­ rung bis zum Verstummen, in einer spezifisch bürgerlichen Lebensund Weltanschauung verortet. Das Ende des Nationalsozialismus hat in Deutschland kaum eine Renaissance des »Bürgertums« bewirkt, sondern hat seine gesellschaftlich auszeichnenden Konturen bis zur Unkenntlichkeit verallgemeinert. Die Nachkriegsereignisse haben die industrielle Vergesellschaftung Deutschlands mit dem Verlust agra­ risch geprägter Gebiete beschleunigt und in die Reservate vorindustri­ eller Lebensformen (Adel – Handwerk – Kleinhandel – Bauerntum) vorangetrieben. Mit dem Verlust seiner Gegenschichten aber verlor das Bürgertum die Chance der sozialen Selbstidentifizierung. Es hieße dem historischen Gehalt des Begriffes Gewalt antun, wollte man das Lebensgefühl der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Schelsky) weiterhin als bürgerlich bezeichnen. Die soziale Ignorierung des Todes – seiner sozialgeschichtli­ chen Ableitung nach »gesunkenes Kulturgut« bürgerlicher Lebensan­ schauung – steht in der Gegenwart in einem veränderten sozialen Zusammenhang und hält sich auf der Grundlage anderer sozialer Mechanismen durch als zur Zeit ihrer geistesgeschichtlichen Ent­ stehung. Für die normative Bewältigung der (früh-)kapitalistischen Lebenssituation bedeutete die Indifferenz gegenüber dem Tod ange­ sichts ubiquitärer traditioneller Widerstände eine Stärkung sozialen Gestaltungswillens. Die Ausklammerung des Todes aus dem öffent­ lichen Bewußtsein erleichterte das Wagnis sozialer Innovation. Die Abschaffung der Todesdrohung vermochte der allfälligen Neigung zum Quietismus entgegenzuwirken. Man vergegenwärtige sich die Sterblichkeitsverhältnisse jener Zeit und die Bindung der sozialen Kontinuität an den Familienzusammenhang: Die »Unternehmungen« jener Epoche waren dem jähen Zugriff des Todes unvergleichlich stärker ausgesetzt. Die besorgten Testamente der »Wirtschaftsführer« des (Früh-)Kapitalismus spiegeln sehr deutlich das Bewußtsein, den Erfolg seiner Arbeit mit dem Tode zu teilen. Antikapitalistische Gegenbewegungen, die Klassenspannung zu Feudaladel und Proleta­ riat trugen das Ihre dazu bei, die Selbstgewißheit einer bürgerlichen Daseinsführung zu erschüttern, die daher keiner weiteren Infragestel­ lung a tergo bedurfte, um zu sich selbst Abstand zu gewinnen. Die kapitalistische Durchdringung der Gesellschaft hatte noch lange nicht das Maß an Selbstverständlichkeit erreicht, das die sozial auszeich­ nende Rolle der bürgerlichen Schichten entbehrlich machte und damit

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auf die Diskussion von »Alternativen« zu einer bürgerlich-kapitalisti­ schen Lebensform verzichtete. Über den Erfolg einer »Organisierung der Klassengegensätze« – nur zu verständlich in Deutschland auf Grund seines besonderen Schicksals – wird allzuleicht vergessen, daß die Auseinandersetzung zwischen den Gesellschaftsgruppen über die Sozialordnung ein eminent freiheitliches Element enthielt. Indem der »Klassenkampf« zur Diskussion über die Wirtschafts-und Sozial­ ordnung herausforderte, erzwang er die »Rechenschaft« über gesell­ schaftliche Institutionen, stiftete er einen kritischen Abstand zum sozialen Handeln. Die Institutionalisierung industrieller Lebensfor­ men (z. B. das gemeinsame Interesse der »Sozialpartner« am wirt­ schaftlichen Wachstum, an der Konzentration etc.) hat weite Bereiche unserer sozialen Existenz einer Diskussion entzogen und damit einem Fatalismus gegenüber der »zweiten Natur« (Gehlen) der industrielltechnischen Zivilisation Vorschub geleistet. »Keine Experimente« oder auch der Weg des geringsten Widerstandes (»das natürliche Gefälle«) bezeichnen mehr als nur Metaphern der Tagespolitik; sie zeigen eine gewohnheitsmäßige Abplattung sozialer Konturen an. In einem Klima, das die möglichen sozialen Alternativen des technisch-industriellen Fortschritts verwischt, kommt daher der Igno­ rierung des Todes im öffentlichen Bewußtsein ein anderer Stellenwert zu; sie bedeutet nicht länger wie im (Früh-)Kapitalismus einen Selbst­ schutz sozialer »Innovation«, sondern fügt sich einem Traditionalis­ mus der »Entlastung« (Gehlen) ein. Schuf die bewußt diesseitige Orientierung des Bürgertums, solange sie eine sozial auszeichnende Haltung verkörperte, gesellschaftliche Probleme, so erleichtert die Privatisierung des Todes unter der Institutionalisierung industrieller Lebensformen die soziale Entmündigung der Individuen, deckt sie mögliche Kritik vorsorglich ab. Die Verallgemeinerung der ursprüng­ lich bürgerlichen Lebensanschauung auf die Gesellschaft vollzieht sich nämlich im Gewande eines zunehmenden Konformismus, das heißt einer gewohnheitsmäßigen Befolgung von Verhaltensmaxi­ men, die, zu Selbstverständlichkeiten verblaßt, alternative Verhal­ tensregelungen so gut wie ausschließen. Will man ein zutreffendes Bild des gesellschaftlichen Konformis­ mus zeichnen, dann verlohnt es sich, der Realisierung sozialer Uto­ pien in unserem Jahrhundert nachzugehen. Wir sind so sehr darauf eingestellt, die spektakulären Erfolge der naturwissenschaftlichen Technik zu bewundern, daß uns die Wunder der gesellschaftlichen Organisation kaum oder allenfalls von ihren negativen Wirkungen

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her beeindrucken. Beispielsweise können wir der Funktionsfähigkeit der wirtschaftlichen Versorgung, insbesondere in den großen Städten, wesentlich leichter vertrauen als das 19. Jahrhundert; wir können der Abrechnung und Zuteilung in der sogenannten Einkommensum­ verteilung, die Milliardenbeträge aus der einen Hand in die andere überführt, oder der Zusammenführung großer Menschenmassen anläßlich von politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Veranstal­ tungen mit weit größerer Sicherheit entgegensehen als noch die Generationen vor uns, die von der Beteiligung der breiten Massen an gesellschaftlichen Institutionen anarchische Folgen befürchteten. Die Mobilisierung und Beteiligung der breiten Schichten des Volkes (über militärische Zwecke hinaus) gelingen heute nicht allein infolge bestimmter technischer Voraussetzungen (z. B. der Massenkommu­ nikationsmittel), über die wir im Unterschied zu früher verfügen, sondern sind ohne ein intellektuelles Eingehen der Beteiligten auf derartige Situationen – zum Beispiel ohne die Überwindung der Schwelle, die zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen »pri­ mären« und »sekundären Systemen« (Freyer), liegt – aber auch ohne die Bereitschaft zu diszipliniertem Handeln nicht zu denken. Die Kasernierung von Militär in der Nähe großstädtischer Arbeiterviertel, die Kassandrarufe, die bei jedem Schritt einer erweiterten sozialen Sicherheit den Verfall der Arbeitsmoral erwarten, sowie die Polizei­ berichte von Volksfesten und Massendemonstrationen aus vergange­ ner Zeit sprechen eine deutliche Sprache. Sie bilden den Hintergrund der Befürchtungen, die das 19. und beginnende 20. Jahrhundert mit allen Versuchen verband, an den »Schlaf« der breiten Massen des Volkes zu rühren. »Der Prozeß der Zivilisation« (Norbert Elias) beschreibt das Wunder der sozialen Disziplinierung und Domestizierung der Gesell­ schaft im ausgleichenden Gegenzuge zu der Befreiung aus dem Zwang der »physischen« Situation; der Inhalt der seit dem 18. Jahr­ hundert vordringenden »wissenschaftlich-technischen Zivilisation« (Schelsky) liegt gerade in einem Substitutionsprozeß, der physische Zwangsmittel gegen eine gesellschaftliche Normierung des Verhal­ tens austauscht. Die Befreiung von Hunger, Kälte, Verelendung, physischer Unterdrückung, Aberglauben, die durch die Industrialisie­ rung möglich wird und anarchische Spielräume schafft (elementare soziale Rücksichten fallen in dem Maße fort, wie die Drohung mit der physischen Existenzvernichtung an Wirklichkeitsnähe einbüßt), wird durch eine soziale Gewohnheitsbildung auf breiter Front aufge­

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fangen. Alte Kontrollmechanismen sozialen Verhaltens verlieren an Bedeutung. Wie Adolph Loewe es drastisch für die Wirtschaftstheorie ausgesprochen hat: »die traditionellen Zwänge – Hunger und Peit­ sche der Konkurrenz – erzwangen eine weitgehende Gleichschaltung wirtschaftlichen Verhaltens und trugen damit zur automatischen Integration des Gesamtprozesses bei. Die Durchschnittsreaktion der Käufer und Verkäufer war berechenbar, und nicht nur für den wissen­ schaftlichen Beobachter, sondern vor allem für die aktiven Teilnehmer im Markte selber. Wenn nun die ›hungrigen Ratten‹ des alten sozi­ alpsychologischen Mechanismus sich wirklich in freie Menschen ver­ wandeln, die innerhalb weiter Grenzen ihre Entscheidungen variieren können, so wird damit die automatische Organisation des Marktes in Frage gestellt.« Daß es gelungen ist, für die arbeitenden Schichten des Volkes, für die breiten Massen also, höheren Lebensstandard, eine für das 19. Jahrhundert unvorstellbare Sicherheit gegenüber den Stan­ dardrisiken des Lebens (Krankheit, Unfall, Alter, Tod), weitgehende und weiter fortschreitende Entlassung aus der Fron der Arbeit durch­ zusetzen und mit einer Disziplinierung des Verhaltens zu verbinden, die eine fortwährende Steuerung, Kontrolle und Organisierung qua­ lifizierter menschlicher Leistungen gestattet, bedeutet noch mit den Augen des 19. Jahrhunderts gesehen – einen kaum zu erwartenden Erfolg. Die Einbeziehung der Arbeiterschaft in das gesellschaftliche Triebwerk industrieller Vergesellschaftung unter Verzicht auf die »bewährten« Disziplinierungsmittel einer ständigen Drohung mit physischem Zwang: Hunger, Kälte, Verelendung, unter gleichzeitiger Gewährung politischer und wirtschaftlicher Mitbestimmungsrechte führte einen neuen Zustand gesellschaftlicher Organisation herbei. Die Durchsetzung des sozialen und technischen Fortschritts – vor Dezennien noch von den beiden großen Wirtschaftsklassen für sich in Anspruch genommen – ist nunmehr.zu einer gemeinsa­ men gesellschaftlichen Aufgabe geworden. Wirtschaftliches Wachs­ tum, Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivität vereinigt als gesellschaftliche Zielvorstellung alle Gruppen: Großindustrie und Gewerkschaften, Landwirte und gewerblicher Mittelstand, Arbeit­ nehmer und Konsumenten, Wirtschafts- und Finanzpolitiker, militä­ rische Planung und wirtschaftliche Führung sehen die Erweiterung des gesellschaftlichen Machtpotentials in der Interessenrichtung ihrer eigenen Sozialchancen. Nur eine vordergründige Beurteilung wird den »wirtschaftlichen Wachstumsprozeß« mit der Ausdehnung von produktiven Anlagen und dem Sozialprodukt allein identifizieren,

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ohne die gesellschaftlichen Folgen zu berücksichtigen: Die Verwissen­ schaftlichung der Berufssphäre (verlängerte Ausbildung auf höherem, arbeitsteilig spezialisiertem, technischem Niveau), die Technisierung und das Raffinement des Konsums, die fortschreitende Konzentration (großbetriebliche Organisation – Bürokratisierung der Verteilung) bezeichnen – schlagwortartig – Prozesse, die die soziale Regulierung des Verhaltens verstärken, die gesellschaftliche Disziplin erhöhen werden. Neue und erweitere Handlungsspielräume in der wachsenden Beherrschung von Naturkräften und gesellschaftlicher Organisation, die mit dem wirtschaftlichen Wachstumsprozeß anfallen, erfordern um ihrer Aneignung willen das Entstehen neuer sozialer Verhaltens­ weisen. Die Veränderungen in der Berufsstruktur unter der Einwir­ kung des technischen Fortschritts sind wir gewohnt. Die Verallgemei­ nerung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts stellt sich uns gegenwärtig als Aufgabe der gesellschaftlichen Organisation: zum Beispiel die Verteilung der Produktivitätsfortschritte, die einzelne Branchen und Großbetriebe machen, auf die ganze Volkswirtschaft, die Aneignung der Ausbildungschancen durch alle Schichten, die Sicherung eines gehobenen Lebensstandards für alle Erwerbstätigen etc. Die Verselbständigung des technisch-ökonomischen Fortschritts gegenüber einzelnen Klassen und Schichten – die »Organisierung der Klassengegensätze« auf der Basis zunehmender Verteilungschan­ cen schlägt als Problem seiner gesellschaftlichen Aneignung durch alle Gruppen auf die Gesellschaft zurück. Die Verteilung des mate­ riellen Zuwachses, der Lebenschancen (als mögliche individuelle Nutzung gesellschaftlicher Leistungen in der Zeiteinheit), des Pres­ tigegewinns, der sozialen und politischen Einflußmöglichkeiten etc. wird um der Verallgemeinerung willen ein Massenproblem, das nur durch gesellschaftliche Organisation, durch Disziplinierung und Hab­ itualisierung sozialer Gewohnheiten zu meistern ist. Der vielberufene egalitäre Zug der Industriegesellschaft bei offenkundiger sozialer Differenzierung spricht sich gerade darin aus, daß gesellschaftliche Vorzugsstellungen (Eigentum, Autoritätspositionen, Leistungsprivi­ legierungen) als vorübergehende Begünstigungen um des allgemei­ nen Fortschritts willen verstanden werden. Sie werden im Prinzip nur insoweit geduldet, als sie gleichsam das Versprechen enthalten, daß sie selbst oder die durch sie vermittelten Leistungen verallgemeine­ rungsfähig sind. Die Frage nach der Bedeutung einer sozialen Ignorierung des Todes ist daher für einen Gesellschaftszustand neu zu stellen, der den

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industriell-technischen Fortschritt institutionalisiert hat. Im Zeitalter bürgerlichen oder proletarischen Fortschrittsdenkens eine Waffe zur Durchsetzung gesellschaftlicher Innovation, ein Instrument, um die diesseitige Schöpfermacht des Menschen nachdrücklich zu demons­ trieren, wandelt sich die öffentliche Verleugnung des Todes in der entfalteten Industriegesellschaft zu einem Mittel der Entlastung ab, erleichtert sie die Befolgung sozialer Verhaltensvorschriften. Die Privatisierung des Todes ordnet sich den Anstrengungen ein, die Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Kooperation zu erhöhen, unvorhersehbare Entscheidungen auszuschalten, insoweit sie den »reibungslosen« Ablauf gesellschaftlichen Funktionierens in Frage stellen. Der Zug zur Entproblematisierung um der Effektivität des sozialen Reagierens willen gipfelt in der Ausschaltung der Todes- und Endlichkeitserfahrung des Handelns, die jederzeit und mit besonde­ rem Nachdruck die eingefahrene Rangordnung sozialer Gewohnhei­ ten auf den Kopf stellen kann. Der Verdrängung der Todeserfahrung aus dem öffentlichen Bewußtsein gleichgerichtete Tendenzen an die Seite zu stellen, deren Zweck in der Sicherung der kooperativen Effizienz liegt, fällt nicht schwer. Die soziale »Definition« des »Jugendlichen-«, des »Alten-« und des Status der Frauen in der heutigen Gesellschaft von der Erwerbstätigkeit aus zeigen das Vorherrschen der gesellschaftlichen Funktion als Beurteilungsmaßstab der Individuen nur zu deutlich an. Beispielsweise ist die Krankheit der Kinder kein Entschuldigungs­ grund für die erwerbstätige Mutter, der Arbeit fernzubleiben; das Fehlen des Mannes am Arbeitsplatz bei Krankheit der Frau wird von den Tugendrichtern der Arbeitsmoral in der Regel nicht toleriert (die bekannte Maxime: »Wenn jeder das machen wollte, wo kämen wir da hin!« belegt schlagend das Fehlen von gesellschaftlichen Maßstä­ ben für derartige Fälle). Die soziale Rolle des Jugendlichen, besser: seine »Status- und Verhaltensunsicherheit«, leitet sich von der der Erwerbsperson als ein »noch nicht« oder »nur halb« ab; während der »Statusverlust« des alten Menschen als defizienter Modus seiner Erwerbstätigkeit unter dem Aspekt des »nicht mehr« oder »nur noch halb« bestimmt wird. Mag man über die empirische Erfüllung oder Nichterfüllbarkeit dieser Kategorien streiten, nicht zu bezweifeln ist der kategoriale Ansatz, der individuelle menschliche Betätigung zunächst als gesellschaftliche Leistung begreift, sie unter das Prokrus­ tesbett eines sozialen Prämiensystems kooperativer Effizienz spannt. Unter dem hier vorgetragenen Gesichtspunkt der Vergesellschaftung

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Soziologische Aspekte des Todes

durch Leistung und Disziplin gewinnen auch die Suchtgefahren der Industriegesellschaft eine neue Bedeutung. Es wäre zu fragen, inwie­ weit eine Distanzierung zur Gesellschaft zum drogenvermittelten Ausbruch wird, weil die soziale Verklammerung die Schwellenwerte der Abstandnahme vom Alltag erhöht hat. Auf diesem Hintergrund gesehen, ist es sehr merkwürdig, daß orgiastische oder ekstatische Zustände den sozialen Alltag in vorindustriellen Kulturen und in der entwickelten Industriegesellschaft überhöhen, weil in beiden offenbar eine »Selbst«-Behauptung gegenüber dem »sozialen Zwang« nur auf diesem Wege zu erreichen ist, während die Zeit des bürgerlichen Kapitalismus der Ekstase fremd, ja feindlich gegenüberstand. Die »innerweltliche Askese« steht der mystischen Versenkung ebenso unvereinbar entgegen wie dem orgiastischen Taumel. Derartige Erscheinungen als oberflächliche Symptome abzutun, sie als unkritische Zusammenstellung von ihrer Entstehung nach ver­ schiedenartigen sozialpolitischen Problemen zu entkräften, erscheint naheliegend, hält aber näherer Prüfung nicht stand. Denn soziolo­ gisch verstanden werden diese Erscheinungen erst dann, wenn wir sie zu zwei theoretischen Grundfragen in Beziehung setzen, wenn wir nämlich prinzipiell nach dem gesellschaftlichen Status fragen, das heißt nach den Formen, in denen der einzelne sich im sozialen Zusammenhang festmacht, durch die er Verhaltenssicherheit gewinnt und sich als gesellschaftliches Individuum bestimmt, und wenn wir ferner die Erfahrung der zeitlichen Dimension des Lebens strukturell zu bestimmen suchen. Das Bild der sozialen Wertschätzung, die Perspektive auf die besondere Weise gesellschaftlicher Einordnung, enthält zugleich Gradunterschiede der Offenheit zur sozialen Bindung und Verpflich­ tung. Sozialer Status vermittelt zwischen Individuum und sozialer Wirksamkeit, indem der einzelne über das Positionssystem der Gesellschaft sich selbst verwirklicht, seine Individualität ausbildet und formt (Marx – Simmel – Riesman), und auf der anderen Seite gesellschaftliche Ansprüche über die Definition des Status sich der Kooperation und Loyalität der Individuen versichern. Sozialer Status als die Art und Weise verstanden, durch die der einzelne seinen Eigenwert von der Gesellschaft zurückgeworfen erhält, bildet daher auch ein Gefäß der Freiheit in und gegenüber der Vergesellschaftung. Über die gesellschaftliche Definition der Individualität wird Wesent­ liches ausgesagt, wenn eine Gesellschaft radikalen Statuswechsel kennt und als allgemeine Daseinschance bereithält (z. B. den Übertritt

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II. Anthropologische und sozialgeschichtliche Aspekte

in den geistlichen Stand, die Auswanderung als prinzipiellen Neu­ beginn, den Eintritt in eine kapitalistische Eigentumsposition, den »bürgerlichen Tod«) oder ob eine Demokratisierung und Verewigung des Status eingetreten ist, die nur Veränderungen, Variationen auf der Basis eines gemeinsamen Grundstatus kennt, der als Alterna­ tive lediglich die Statuslosigkeit des »clochard« oder des »beatnik« zuläßt. Der Freiheitsspielraum des einzelnen im Hinblick auf seine Vergesellschaftung ist offensichtlich in beiden Fällen ein anderer. Die Gesellschaft, die einen radikalen Statuswechsel gestattet, leistet von vornherein, in ihrer Verfassung bereits, eine starke Relativierung sozialer Ansprüche, während eine gesellschaftliche Verfassung, die ihren Mitgliedern lediglich Variationen einer gemeinsamen Grund­ ausstattung zur Verfügung hält, die Bindung an soziale Verpflichtun­ gen weitaus stärker ausbilden kann. Sie wird hierzu um so eher in der Lage sein, je wirkungsvoller sie Maßstäben der Leistung öffentliche Geltung zu verschaffen weiß. Soweit Statusunterschiede die indivi­ duellen Beiträge nach Maßgabe kooperativer Effizienz zu bewerten vermögen, erreichen die sozialen Ansprüche an das Individuum einen hohen Grad der Selbstverständlichkeit. Ähnliches gilt für die Erfahrung der Zeit. Keine Kategorie des Lebendigen wirkt so prägend in die Individualität hinein wie die Zeit. Zeitbegriff und Individualität hängen unmittelbar zusammen. Der Zeitbegriff hat ähnlich wie die Individualität eine Sozial- und Kultur­ geschichte hinter sich; die Differenzierung der Zeiterfahrung ermög­ licht die Darstellung der Individualität. Strukturierung und Differen­ zierung der Zeiterfahrung16 vollziehen sich im kulturgeschichtlichen Prozeß. Die sprachlichen und literarischen Darstellungsmöglichkei­ ten zeitlicher Strukturen erwachsen innerhalb einer sich verbreitern­ den Erfahrung mit Natur und Gesellschaft. »Die Bildung des Zeit­ begriffs beim Kinde«, über die der Psychologe Jean Piaget17 auf experimentellem Wege vielseitige Einblicke gewinnen konnte, erfolgt auf dem Hintergrund eines spezifisch abendländischen, kulturhisto­ risch gewordenen Zeitverständnisses. Die soziokulturelle Prägung der Zeiterfahrung eröffnet – darin dem sozialen Status vergleichbar – dem einzelnen verschiedene Chancen, seiner Individualität in der Vergesellschaftung sich zu versi­ chern. Das Goethewort: »Mein Saatfeld ist die Zeit«, das als Motto der 16 17

R. Glasser, Studien zur Geschichte des französischen Zeitbegriffs, 1936. La Génèse du Temps chez l’Enfant, Paris 1946, deutsch 1955.

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liberalen bzw. neuhumanistischen Persönlichkeitsidee vorangestellt werden könnte, spiegelt einen Gesellschaftszustand, in dem der ein­ zelne durch seine Arbeit seine Persönlichkeit in der Zeit darstellt und entfaltet. Das Zeitverständnis schreitet hier von dem sich selbst in die Gesellschaft hinein produzierenden Individuum weiter in die gesellschaftlichen Zeitmaße. Deutlich unterschieden im Hinblick auf die Rolle, die das Individuum sich in der Zeit zu geben vermag, scharf abgehoben von dem Freiheitsspielraum, den das gesellschaftliche Zeitverständnis der Ausfaltung der Individualität einräumt, erscheint dagegen der Zustand, den Piaget als individuellen Zeitbegriff unse­ rer heutigen Gesellschaft schildert: »Wenn man an voneinander unabhängige und zugleich sich kreuzende Geschehnisreihen seiner eigenen Vergangenheit denkt (z. B. an folgende vier Reihen: Daten in bezug auf die administrative Seite seiner Laufbahn, Reihe der Publikationen, Privatleben und Ablauf politischer Ereignisse), dann sieht man, daß diese Reihen zwar jede für sich im Gedächtnis sehr lebhaft bleiben können, daß es einem jedoch unmöglich ist, ohne zu überlegen und damit zu operativen Rekonstituierungen zu schreiten, 1. 2.

zu sagen, ob ein bestimmtes Ereignis aus einer der Reihen einem bestimmten anderen aus einer überschneidenden Reihe vorausgeht oder nicht [...] und die jeweiligen abgelaufenen Zeitstrecken zwischen zwei Ereig­ nissen, die zwei verschiedenen Reihen angehören, annähernd [...] abzuschätzen: eine bestimmte Reihe privater oder politischer Ereignisse wird z. B. sehr lang erscheinen, und es werden genaue Daten notwendig sein, um zu zeigen, wie kurz sie eigentlich im Verhältnis zu den anderen Reihen war usw.«18

Mit anderen Worten: Piaget verallgemeinert einen Zustand, den Kritiker der industriellen Arbeitswelt schon sehr früh als Zerbrechen einer persönlichkeitsgebundenen Zeiterfahrung durch die betriebsge­ bundenen Organisationsformen diagnostiziert haben (Alfred Weber in: Auswertung einer Arbeiterenquete des Vereins für Socialpolitik19). Das Leben in verschiedenen Zeitprogrammen, die nur mit Anstren­ gung in ein erlebtes, einheitliches Feld zu koordinieren sind, ist zur Selbstverständlichkeit unserer Kultur geworden. Lebensstadien im A. a. O., S. 353 f. (deutsche Übersetzung). Das Berufsschicksal der Industriearbeiter, 1912. – Zur gleichen Frage siehe auch E. C. Hughes, Men and their work, Glencoe 1958. 18

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Familienverband, Rentenanwartschaft, Dauer der Betriebszugehörig­ keit, politische Epochen laufen über weite Strecken beziehungslos nebeneinander her. Die Zeiterfahrung ist aus der Persönlichkeitskul­ tur ausgewandert; die Individualität als kritische Grenze der Verge­ sellschaftung hat ein wichtiges Feld der Bewährung eingebüßt. Wie auch immer die Fragen des sozialen Status und der Zeiter­ fahrung sich einer verfeinerten Analyse darstellen werden, soviel scheint sicher zu sein, daß hier entscheidende Probleme von Freiheit und Vergesellschaftung, von kritischer Distanz und »exentrischer Positionalität« getroffen sind, die mit der sozialen Materialisation des Todes aufs engste zusammengehen. Sicherlich ist es kein Zufall, daß vergangene Epochen den Statuswechsel als Sterben und Beginn eines neuen Lebens (z. B. Aufnahme in einen geistlichen Orden, eschatologische Hoffnungen der Auswanderer, bürgerlicher Tod) symbolisierten. Und ferner kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die individuelle Zeiterfahrung angesichts des Todes sich als Freiheitsspielraum der Persönlichkeit herstellt. Die soziale Bedeutung des Todes, seine kritische »Funktion« in der Vergesellschaftung, stellt sich daher als ein wichtiges Problem der soziologischen Theorie und der Gesellschaftskritik.

III. Zur Soziologie des Todes Tod und gesellschaftliches Leben setzen einander voraus; individu­ elle Todesgewißheit und kollektive Todeserfahrung sind ineinander verschränkt. Als die natürliche Bedingung ihres Lebens haben Indi­ viduum und Gesellschaft den Tod gemeinsam, angesichts seiner Drohung offenbaren und bewähren sich Individualität und Vergesell­ schaftung gerade in ihrer geschichtlichen Eigenart. Für die Soziologie sollte der Tod daher die Bedeutung eines Kardinalthemas besitzen. Daß ihm die gebührende Beachtung von den Soziologen bisher vor­ enthalten wurde, könnte sogar als Bestätigung dafür gelten, daß die gesellschaftlichen Wirkungen des Todes allzu selbstverständlich, allzu umfassend sind. In der Tat erscheint die »Funktion« des Todes im Leben von Individuum und Gesellschaft vordergründig und als wissenschaftliches Thema uferlos. In welcher soziologischen Frage­ stellung sollte auch die »Struktur der Sterblichkeit« (als Parameter der Bevölkerungsbewegung) mit dem Geschäftsgebaren der Beerdi­ gungsgewerbe – also einer immerhin verwandten Erscheinung –

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konvergieren? Was haben etwa die beispiellosen Erfolge der Medizin in der Abwehr unzeitigen Todes und die Vernichtungslager des Drit­ ten Reiches gemeinsam, daß wir sie als Symptom eines einheitlich zu denkenden gesellschaftlichen Zustandes begreifen könnten? Was dem Tod als soziologischem Problem Konturen gibt, sind nicht seine augenfällige Kommerzialisierung oder der uns Deutsche vor der Geschichte belastende Antagonismus von emphatischer Lebensbejahung und zynischer Lebensvernichtung; was den Tod für eine gesellschaftswissenschaftliche Analyse zu paradigmatischer Bedeutung erhebt, ist vielmehr seine polarisierende Kraft, die sub­ lime Individualisierung und feste gesellschaftliche Bindungen gleich­ zeitig erzeugt. Der Tod ist eine der naturgegebenen Bedingungen, die tief in die menschliche Existenz eingreifend ihre höchstpersönli­ chen Charaktere wie ihre gesellschaftliche Verfassung gleichzeitig zu ausgeprägter Erscheinung bringen. Das Verhältnis des einzelnen zum Tode ist sein unaussprechliches Geheimnis und zugleich ein gesellschaftlich vermitteltes Verhalten. »Die Erfahrung des Todes«20, dem jeder für sich allein begegnet,21 erwächst im gesellschaftlichen Miteinander und ist durch kollektive Vorstellungen geprägt. Der Tod des Nächsten schlägt auf uns selbst als eigene Todesgewißheit zurück. Die Unausweichlichkeit ihres Sterbens verbindet die Menschen in der Gemeinsamkeit der Todesfurcht und vereinigt ihre Anstrengungen in der Bewältigung dieser schicksalhaften Herausforderung. Sterben und Tod – so können wir sagen – bezeichnen Ereignisse der menschlichen 20 Für P. L. Landsberg (Die Erfahrung des Todes, 1937) leitet sich das individuelle Verhältnis zum Tode aus gesellschaftlichen Beziehungen ab; der Verlust des Nächsten führt den Erfahrungsprozeß: »Meine Gemeinschaft mit dieser Person scheint zerbro­ chen: aber diese Gemeinschaft war in gewissem Maße ich selbst, und in eben diesem Maße dringt der Tod in das Innere meiner eigenen Existenz ein und wird eben dadurch unmittelbar spürbar« (S. 30). 21 Offenbar inspiriert durch Dürers Blatt »Ritter, Tod und Teufel« hat Martin Luther nach seiner Rückkehr von der Wartburg (1522) die Einsamkeit in der Auseinander­ setzung mit dem Tode geschildert: »Wir sind alle zum Tode gefordert und wird keiner für den anderen sterben, sondern ein jeglicher in eigener Person muß geharnischt und gerüstet sein für sich selbst, mit dem Teufel und dem Tode zu kämpfen. In die Ohren können wir wohl einer dem andern schreien, ihn trösten und vermahnen zu Geduld, zum Streit und Kampf; aber für ihn können wir nicht kämpfen noch streiten; es muß ein jeglicher allda auf seine Chance selbst sehen und sich mit den Feinden, mit dem Teufel und Tode, selbst einlegen und allein mit ihnen im Kampfe liegen. Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir.« Zitiert nach F. K. Feigel, Das Problem des Todes, 1953, S. 21; eine sehr materialreiche Schrift, die diesen Gedanken ebd. durch weitere Belege aus der Literatur entfaltet.

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Existenz, zu denen Einsamkeit, unaussprechliche Subjektivierung und Vergesellschaftung von Haus aus gehören. Der Tod zieht eine äußerste Grenze zwischen der Subjektivität des Ich und dem anderen, der Gesellschaft. Er bildet einen Fluchtpunkt der Privatheit, der Innerlichkeit; zugleich aber lenkt er gesellschaftliche Kräfte auf sich: Die Bewahrung des Lebens vor frühzeitigem Sterben, das sittliche Verhältnis zum Tode stellen sich nur in gemeinsamer, gesellschaftli­ cher Anstrengung her. Diese Polarität seiner Erscheinungsweise, die Subjektivität indi­ vidueller Todesgewißheit und die Vergesellschaftung angesichts der Todesdrohung, macht den Tod zu einem ausgezeichneten Gegenstand der soziologischen Wissenschaft, teilt man doch der Soziologie seit ihren Ursprüngen gerade das Verhältnis von Individuum und Gesell­ schaft als Problembereich zu. In der Form, wie die soziologische Theorie Individualität und Gesellschaftlichkeit in ihrer gegenseitigen Verschränkung darzustellen und zu klären versteht, erblickt man heute sogar ein Kriterium für das Zureichende ihrer Begriffsbildung.22 Aber auch dann, wenn wir von den speziellen Anforderungen an die gesellschaftliche Theorie absehen, besitzen die Ereignisse, in denen Individuum und Gesellschaft einander unausweichlich begegnen, Schlüsselbedeutung für sozialwissenschaftliche Analysen. In ausge­ sprochenem Maße gilt dies für die Elementarausstattung menschli­ cher Existenz. Die Bedingungen, ohne die das spezifisch menschliche Leben nicht gedacht werden kann – wie eine an Kant anknüp­ fende philosophische Tradition solche anthropologischen Strukturen nennt –, vermitteln einen Einblick in die kulturelle Verfassung der Individuen. In der Bindung an die Elementarstrukturen des Menschen, im Lichte der conditio humana, gewinnen die geschicht­ lichen Erscheinungsformen von Individuum und Gesellschaft ihre Kulturbedeutung. Als Variationen eines ursprünglich gemeinsamen Themas werden sie einer sinnhaften Ausdeutung fähig, geben sie eine geschichtliche Eigenart menschlicher Existenz preis. Die gesell­ schaftliche Verfassung der Individuen, die Eigenart ihrer kollektiven Lebensbedingungen, aber auch die Freiheit der Person in und von der Gesellschaft, der gesellschaftliche Charakter der Privatheit, wird von diesen Bedingungen, die individuelles und gesellschaftliches Leben ermöglichen, in beispielhafter Form widergespiegelt. In ihnen treffen wir auf Konstanten, die festen Kulissen vergleichbar den Szenenwech­ 22

So R. Dahrendorf, Homo sociologicus, 1959.

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sel geschichtlicher und sozialer Variabilität zur Anschauung bringen. Als invariable, außergesellschaftliche, außergeschichtliche Fixpunkte für gesellschaftliches Verhalten werden sie zu Positionen, durch deren Vermittlung Geschichte und Gesellschaft die ihnen eigene Struktur gewinnen. Eine Auseinandersetzung mit den vorgegebenen Bedingungen menschlichen Daseins, die – in welcher Form auch immer – in die gesellschaftliche und geschichtliche Gestaltung des Lebens einbezo­ gen bleiben, ist unausweichlich; die Antworten, die eine Gesellschaft auf die ewigen Fragen der menschlichen Existenz bereithält, werden zu Aussagen über ihre geschichtliche Struktur, über ihre kulturelle Verfassung. Für den Tod stellt sich seine Mittlerrolle zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen vorgegebener Existenz und Geschichte in besonders sinnfälliger Weise dar. Erreichen doch Geschichte und Gesellschaft, als Inbegriffe der Formen verstanden, in denen sich menschliches Dasein in Hier und Jetzt festmacht, in denen unsere Existenz Gegenwart gewinnt, im Tod eine der Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit.23 Denn immer dort, wo die Vergänglichkeit im Lichte eines unwiderruflichen Endes erfahren wird, entsteht in der Reihe der Ereignisse, in der nur zeitlichen Veränderung Gegenwart, heben sich Geschichte und Gesellschaft gegenüber der Natur ab. Eine Soziologie des Todes sieht sich also dem Problem von Konstanz und Variabilität, von Gesellschaft und naturgegebener Existenz an einem bevorzugten Ort gegenüber. Sie sucht den Grenzübergang darzustellen, an dem gesellschaftliche Erfahrung auf die ihr eigenen Bedingungen ihrer Struktur verweist. Das Verhältnis, das Individuum und Gesellschaft zum Tode haben, die soziale und persönliche Mate­ rialisation des Todes stellt sich ihr als Aufgabe. Der Explikation der Todeserfahrung sieht sie sich dabei als methodischem Problem gegen­ über: In welcher Form ist es – soziologisch gesehen – sinnvoll, von einer einheitlich zu denkenden Todeserfahrung zu sprechen? Wider­ spricht nicht die Vielschichtigkeit der Todesproblematik, wie schon der flüchtige Augenschein zeigt, der Rede von einem als solchem darzustellenden Verhältnis zum Tode? Diesem naheliegenden Einwand setzen wir zwei Thesen entge­ gen: Die verwirrende Vielfalt, die wir empirisch als Einstellung zum 23 »Das eigentliche Sein zum Tode, das heißt die Endlichkeit der Zeitlichkeit, ist der verborgene Grund der Geschichtlichkeit des Daseins« (M. Heidegger, Sein und Zeit, 9. Aufl. 1960, S. 386).

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Tode ermitteln, die Unverbindlichkeit und Privatheit der geläufigen Todesvorstellungen, die wir in der Gegenwart feststellen können, gehört einem unserer Gesellschaft spezifischen Verhältnis zum Tode an: Die privatisierte Beziehung zum Tode kennzeichnet die kultu­ relle Struktur der gesellschaftlichen Gegenwart. Und zweitens: Die Todeserfahrung als Gegenstand der Soziologie hat nicht die individu­ elle Ansicht vom Tode, die repräsentative subjektive Meinung zum Inhalt, sondern umgreift wesentlich das institutionalisierte Verhalten mit, das mit dem Tode als einem gewissen Ereignis rechnet, auf den Tod als ein factum brutum der menschlichen Existenz abstellt. Mit anderen Worten: Eine Soziologie des Todes hat als Subjekt der Todeserfahrung nicht nur mit dem repräsentativen einzelnen, sondern auch mit dem Menschen in seiner gesellschaftlichen Verfassung, das heißt mit der subjektiven Meinung und den sozialen Institutionen zu tun. Der Tod als unwiderrufliches »Vorbei«, als unwiederbringliches »Dahin« so sagten wir – macht Geschichte zur Gegenwart, setzt Gesellschaft in ihr Daseinsrecht ein. Verstehen wir unser Verhältnis zum Tode richtig, dann erfüllt sich unser Dasein in radikaler Dies­ seitigkeit, dann leben wir in einem Zeitalter der Gesellschaft, dann stellt sich uns die Geschichte vornehmlich als Gegenwart dar. Denn zweierlei kennzeichnet nach gemeiner Anschauung unsere Todeser­ fahrung: Die Gewißheit des Sterbenmüssens ohne eine gemeinsam geteilte, im religiösen Konsensus bestätigte Sinnhaltigkeit des Ster­ bens und der arbeitsteilig geführte Kampf gegen den Tod, der an vielen Fronten die Grenze zwischen Leben und Tod für eine gewisse Zeit in menschliche Obhut gelegt hat. Weitreichende Kontrolle und Sicherung der biologischen Bedingungen unserer Existenz, Erweite­ rung des Lebensspielraums durch Hinausschieben der Todesgrenze verbinden sich mit Skepsis und Indifferenz gegenüber einer Elemen­ tarbedingung unseres Lebens, die in radikaler Weise die Frage nach Sinn und Bedeutung unserer zeitlichen Existenz provoziert. Sich ständig steigernde Anforderungen an die Leistungsfähigkeit von Biologie, Medizin und öffentlichem Gesundheitswesen, zunehmende kollektive Anstrengungen, sich gegen die materiellen Auswirkungen des Todes zu versichern, gehen mit äußerer Gleichgültigkeit und geheimer Angst gegenüber dem unvermeidlichen Ende einher. Die den wissenschaftlich-technischen Erfolgen zum Trotz sich immer wieder bestätigende Erfahrung, daß sich dem Tod nur ein Aufschub, ein Zeitgewinn abringen läßt, verstärkt – so scheint es – den Aspekt

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der Endgültigkeit unseres Erdendaseins und schwächt zugleich die Frage nach der Sinnhaltigkeit unserer Lebenszeit. Eine wahrhaft paradoxe Bilanz! Sollte der stolze Erfolg industri­ eller Vergesellschaftung: die Verbesserung der Überlebenschance in allen Altersgruppen, die durchschnittliche Verlängerung der Lebens­ erwartung eines Neugeborenen auf das Zweifache, sollte dieser augenfällige Beweis kooperativer Stärke die Resignation gegenüber dem letztlich unvermeidbaren Ende zum Gefährten haben? Oder aber: Genügt bereits die Frist, während der die gesellschaftliche Kooperation Sicherheit vor dem Tod gewährt, während der sie bei der Bewahrung des Lebens solidarische Hilfe verspricht, um die mit dem Tod aufgegebene radikale Frage nach dem Sinn unseres Daseins entbehrlich zu machen, sie in den Hintergrund rein privater Anliegen zu verbannen? Offenbar gilt beides: Das Zutrauen in die diesseitige Vollendung unserer Existenz verbindet sich mit einer geheimen, auf der Schwelle zur Mitteilung zurückgehaltenen Furcht vor dem Sterben. Durch die institutionalisierten Anstrengungen einer vorsorgenden Gesund­ heitspflege bis an eine vorläufige Grenze des Unvermeidbaren zurückgedrängt, hat der Tod den Charakter einer rein individuellen Drohung angenommen. Über die mit Hilfe von Wissenschaft und Organisation mögliche Kontrolle der biologischen Lebensbedingun­ gen hinaus wird der kollektive Kampf gegen den Tod bis zum Unaus­ drücklichwerden der Todesfurcht vorgetragen. Die gesellschaftliche Verfassung duldet in ihrem Bannkreis kein memento mori,24 an dem die kreatürliche Angst vor dem Sterben in eine kollektive Bewegung umschlagen und der radikalen Diesseitigkeit unserer Existenz ihre Selbstverständlichkeit nehmen könnte. Tod und Sterben haben sich entsymbolisiert, sie sind bis zum Unaussprechlichen individualisiert; an die jedem auferlegte Auseinandersetzung mit dem Tode reicht kein verbindliches Wort aus der Gesellschaft heran. Die kollektive »Sterbenshilfe« erschöpft sich in einem objektiven und subjektiven Zeitgewinn: Verlängerung der Lebenszeit durch Bewahrung vor ver­ meidbarem Tode und Abdrängen der Todeserfahrung im Zuge einer 24 »Schon das ›Denken an den Tod‹ gilt öffentlich als feige Furcht, Unsicherheit des Daseins und finstere Weltflucht ... Daß das je eigene Dasein immer schon stirbt ... verbirgt es sich dadurch, daß es den Tod zum alltäglich vorkommenden Todesfall bei anderen umprägt, der allenfalls uns noch deutlicher versichert, daß ›man selbst‹ ja noch ›lebt‹« (Heidegger a. a. O., S. 254).

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bewußt diesseitigen Orientierung des Lebens. In hintergründigen Beziehungen allein vermag der Tod den Sinn des Lebens noch in Frage zu stellen, da er in der radikalen Diesseitigkeit unserer Gesellschaft nur eine private Resonanz besitzt. Für die kollektive Selbstbehaup­ tung hat der Tod seinen Stachel verloren, individuelles Aufbegehren gegen das Sterben tut der Selbstsicherheit diesseitiger Daseinserfül­ lung kaum Abbruch. Einst – zusammen mit den Höllenstrafen – die letzte Waffe eines mittelalterlich-christlichen Totalitarismus gegen Aufklärung und Bürgertum,25 hat der Tod in unserer Zeit jede Fähig­ keit eingebüßt, sich als kritische Instanz der Gesellschaft entgegenzu­ stellen. Die Unvermeidlichkeit des Sterbens vermittelt keine Distanz zum Leben; befreiende, erlösende Wirkungen entfaltet der Tod nur für »gescheiterte«, »verlorene« Existenzen. Die Selbstmordrate wird zum negativen Ausweis sozialen Zusammenhalts.26 Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Privatisierung der Todesdrohung als eine Existenzbedingung eingespielt hat, verdeckt die kollektive Leistung, der dieser Erfolg zu danken ist. Merkwürdiger als unser Verhältnis zum Tode erscheint die in ihm durchgeführte Entmündigung des Individuums. Erstaunlicher als die Verdrängung der Todesdrohung ist die mit ihr zusammenfallende Herrschaft der Gesellschaft über die Inhalte, in denen der einzelne seine Existenz als einen sinnvollen Prozeß begreift. Obwohl vor der entscheidenden Bedrohung unseres Lebens uns selbst überlassen, vertrauen wir uns den kollektiven Bahnen unserer Existenz mit einer ungebrochenen Gelassenheit an, als sei das unwiderrufliche Ende für die Bewertung des Hier und Jetzt ohne die mindeste Bedeutung. Dem epikuräischen Sophismus getreu, daß wir dem Tod nie begegnen können: denn wo er ist, sind wir nicht mehr, während unsere Existenz handgreiflich seine Abwesenheit verbürgt, gestatten wir es dem Tod nur im geheimen als einem sehr intimen Gast, die Sinnhaftigkeit unseres Daseins zu bestreiten. Unsere Frage nach den gesellschaftlichen Mechanismen, die eine solche Todeserfahrung vermitteln und reproduzieren, gewinnt damit unversehens einen gesellschaftskritischen, praktischen Aspekt. Groethuysen a. a. O., S. 93 ff. E. Durkheim, Suicide, A Study in sociology, London 1952: »Suicide varies inversely with the degree of integration of religious society. Suicide varies inversely with the degree of integration of domestic society. Suicide varies inversely with the degree of integration of political society. Suicide varies inversely with the degree of integration of the social groups of which the individual forms a part« (S. 208). 25

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Denn nur insoweit, als wir uns bereit finden, die Inhalte, in denen unser Dasein sich als ein sinnvoller Prozeß bewährt, sub specie mortis zu betrachten, erreicht unsere Existenz ihre eigentlich humane Spannung. Angesichts des Todes erschließt sich die Einheit des Lebens in seiner zeitlichen Erstreckung; von dem unvermeidlichen Ende her wird die Bedeutung der individuellen Lebenszeit und darin zugleich der Sinnzusammenhang jedes einzelnen Daseinsmoments zu einer unausweichlichen Frage gemacht. Mit der Verfügung über die auf­ gegebene Lebenszeit erhält die Eigenverantwortlichkeit der mensch­ lichen Persönlichkeit die Realisierungschance der Bewährung. Das Durchhalten der Persönlichkeit in der Zeit, die Selbstidentifikation über die Zeit hinweg haben die zeitliche Einheit des individuellen Lebens zu ihrer Voraussetzung. An dem möglichen Sinnzusammen­ hang der Lebensstrecke zwischen Geburt und Tod findet der sittliche Wert der Persönlichkeit eine ihm gemäße kulturelle Ausdrucksform. Die enge Beziehung, die zwischen dem Ethos der Persönlichkeit und der Einzigartigkeit des individuellen Lebens angesichts des Todes besteht, hat bereits Georg Simmel beispielhaft herausgearbeitet27 (und er war sicher nicht der erste, der auf diese Sinnbeziehung aufmerksam wurde). Ihre gesellschaftliche Bedeutung aber gewinnen Simmels Analysen aus einer zusätzlichen Überlegung. Die sinnhafte Bedeutung des individuellen Lebens, wie sie die Todeserfahrung unterstreicht, wie der Tod selbst, der eine äußerste Relativierung aller Ansprüche an das Leben leistet, distanzieren das Individuum aus den

»Wir müssen uns von der Parzen- und Knochenmannvorstellung befreien, die den Tod als ein von außen an den Menschen herantretendes, den Lebensfaden als äußere katastrophale Macht abschneidendes Schicksal behandelt und den Tod nur als den Gegenspieler des Lebens sieht, wie ihn die alten Totentänze zeigen. Der Tod ist dem Leben immanent, er wohnt dem Leben ein ... Italienische Porträts und Rubenssche Bilder zeigen scheinbar ein volleres, ungehemmteres, man möchte sagen, lebendigeres Leben; man hat den Eindruck, daß diese Menschen nicht sterben können, es sei denn, daß sie umgebracht werden; der Tod wird zu ihnen kommen infolge eines Dolchstoßes, als Gift, jedenfalls als äußeres Verhängnis. Alle individualistischen Porträts zeigen den leiseren oder deutlicheren Zug des Todes. So sind auch Shakespeares Lustspielfiguren bloße Typen, seine tragischen Helden aber scharf umrissen, weil vom Tode gezeichnete Persönlichkeiten ... Zumal bei Rembrandt ist ... der Tod die stetige Weiterentwicklung einer fließenden Lebensganzheit.. Rembrandts Bilder haben das Dämmernde, in ein Dunkel hinein Fragende, das eben in seiner deutlichsten, schließlich einmal herr­ schenden Erscheinung Tod genannt wird, und um gerade soviel weniger Leben schei­ nen sie, oberflächlich angesehen, zu enthalten; in Wirklichkeit enthalten sie gerade dadurch das ganze Leben« (G. Simmel, Lebensanschauung, 1918, S. 99 ff.). 27

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gesellschaftlichen Bindungen; sie schaffen einen Abstand gegenüber kollektiven Anforderungen. Das individuelle Zeitbewußtsein, das im Ethos der Persönlichkeit zu kultureller Ausformung gelangt, und der Abstand zum Leben, der sich angesichts der Todesdrohung realisiert, vertiefen die kritische Distanz zwischen Individuum und gesellschaft­ licher Gegenwart. Sie halten – in unserer heutigen Terminologie gesprochen – den Hiatus zwischen sozialer Rolle und Rollenträger fest, indem sie den Unterschied zwischen der Einmaligkeit in der Zeit und zeitentrückter Wiederholung zum Konflikt zuspitzen. Oder anders gewendet: Erst dann, wenn wir unsere Gegenwarts- und Ortsbestimmung über die Horizonte gesellschaftlicher Beziehungen hinaus um die Dimension des Todes erweitern, stellt sich die eigen­ tümliche Gebrochenheit her, aus der der Mensch von Haus aus lebt. Die Anerkennung, daß der Zusammenhang des Hier und Jetzt mit dem Wegfall seiner biologischen Grundlagen nichtig wird, setzt zugleich die menschliche Freiheit gegenüber der normativen Kraft des Faktischen in ihre Rechte ein. Zur Einsicht in diese Struktur der »Exzentrizität der menschlichen Position« (Plessner) bedarf es weder Metaphysik noch religiöser Bindungen; ihre praktische Leistung liegt auf der Hand. Leugnen wir die naturgegebene radikale Negation der Lebenszusammenhänge, in denen wir uns verstehen, dann berauben wir uns einer kritischen Macht und bieten wir totalitärer Entartung eine hilfreiche Hand. In dem Maße, wie wir den Tod isolierend als medizinisch-organisatorisches Problem bzw. als rein privates Anliegen definieren und ihm seine gesellschaftlich-kritische Rolle entziehen, zerstören wir die Spannung zwischen kreatürlicher und gesellschaftlicher Existenz, aus der die menschliche Freiheit im gesell­ schaftlich-geschichtlichen Prozeß hervorgeht. Wir treiben dann einer zynischen Todesverleugnung, einer barbarischen Lebensvernichtung im Dienste jedweder gesellschaftlicher Ideologien entgegen. Darin sehen wir die Paradoxie des Todes in unserer Gesellschaft: Vermag der Tod gesellschaftlich-doktrinärer Sinngebung kein kritisches Halt entgegenzusetzen, stellt sich die Unteilbarkeit des Humanen sub specie mortis nicht länger her, dann hat die »Vernichtung unwerten Lebens« leichtes Spiel, greift der Massenmord als bürokratisch orga­ nisierte »Endlösung« um sich.28 Die Frage nach den gesellschaftlichen Es gehört zur Barbarisierung unserer Vorstellungswelt, daß wir in naive Verwun­ derung verfallen, wenn die Menschenschlächter unserer Epoche, Eichmann, Höß, in ihrem Privatleben schlichte Zeitgenossen: Tierfreunde, treusorgende Familienväter, 28

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Soziologische Aspekte des Todes

Grundlagen unserer Todeserfahrung führt also uno acta auf eine Analyse der sozialen Bedingungen totalitärer Entartung hinaus.

Liebhaber klassischer Musik etc. sind. Kaum jemand kommt auf den Gedanken – ver­ mutlich, weil es jeden unter uns hart ankommen würde –, daß die Verspießerung einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« von Menschenwürde lediglich in Festadressen zu handeln weiß, während sie die Inhumanität im Alltag lebt.

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Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit?

»Gerade als Tatsachenforschung, nicht als normative Wissenschaft, als Theorie der gesellschaftlichen Erscheinungen wird Soziologie heute zu einem Ferment der Kritik, zu einem Werkzeug der Freiheit« (X, S. 211).

Mit diesem Satz endet der Vortrag, den Helmuth Plessner 1959 als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zur Eröffnung des Soziologentages in Berlin gehalten hat. Dieser Soziologentag gedachte der 50-jährigen Wiederkehr der Gründung der Gesellschaft deutschsprachiger Soziologen und stand im Zeichen der aktuellen Bedrohung Berlins durch das Chrustschow-Ultimatum. Eine Inter­ pretation dieses Satzes muß vielschichtig ansetzen. In dem Verständ­ nis von Freiheit, das dem Schluß- und Kernsatz seines Vortrages zugrunde liegt, spricht Plessner die aktuelle politische Situation und die Stimmungslage der Teilnehmer an. Zugleich formuliert er tragende Elemente seiner Soziologie. In seiner Aussage kommen drei Argumentationen zusammen: eine politische, eine wissenschafts­ theoretische bzw. ‑soziologische und eine anthropologische Begrün­ dung.

Soziologie und politische Kultur Als Bürger seiner Generation und aufgrund seines persönlichen Schicksals unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurzelte Hel­ muth Plessner in der politischen Tradition der westlichen Demokratie, wie sie in Frankreich und England zur Formulierung und Garantie bürgerlicher Freiheitsrechte geführt hatte. In diesem Verständnis gehört die Empirische Sozialforschung, aber auch die Soziologische Theorie, letztere nicht absichtslos bei Plessner als »Theorie Gesell­ schaftlicher Erscheinungen« bezeichnet, zu einer »offenen Gesell­ schaft«, die »aus Achtung vor dem einzelnen Menschen oder im Inter­ esse der Mobilisierung seiner produktiven Kräfte ihre Planung bewußt begrenzt und sich selber freie Räume ihrer eigenen Gestaltung

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Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit?

zugesteht.« »Offene Gesellschaft« steht bei Plessner für eine politi­ sche Kultur, d. h. für einen historisch-gesellschaftlichen Zusammen­ hang, dem gegenüber Deutschland »verspätet« ist. In einer offenen Gesellschaft erfüllt Soziologie die Funktion einer »institutionalisier­ ten Dauerkontrolle gesellschaftlicher Verhältnisse in kritischer Absicht und in wissenschaftlicher Form« (Bd. X, S. 210). Denken wir an die angloamerikanische Entstehungssituation der Soziologie, so ist diese mit einer politischen Kultur, dem Empirismus und der parla­ mentarischen Demokratie, entstanden, sie ist ein Produkt dieser Kul­ tur und daher von dieser nicht unabhängig übertragbar. Die freiheitssichernde politische Funktion der Soziologie in einer offenen Gesellschaft wird von Plessner einerseits anthropologisch fundiert, zum anderen mit den Eigenschaften begründet, die die Soziologie im arbeitsteiligen System der Wissenschaften, insbeson­ dere im Spannungsverhältnis zu verwandten Wissenschaften wie der Geschichte, der Staatslehre und der Jurisprudenz, aber auch der Bio­ logie auszeichnen. Soziologie entsteht mit dem Wissenschaftssystem, wie es die europäischen Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert ausgebildet haben. Es ist daher einsichtig, ihre Position im Kreis der Wissenschaften aus diesem historisch-gesellschaftlichen Zusammen­ hang heraus zu begründen. Wissenssoziologisch gehört Soziologie der politischen Kultur der westlichen Demokratie an und ist untrenn­ bar mit dem Wissenschaftssystem des späten 19. und der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts verbunden.

Anthropologischer und politischer Freiheitsbegriff Das liberale Freiheitsverständnis der bürgerlichen Gesellschaft und die anthropologische Fundierung der Freiheit des Menschen stehen freilich bei Plessner in einem Spannungsverhältnis. Die Freiheitsund Menschenrechte sind für Plessner ein unverzichtbarer Wert, aber – und damit relativiert er seinen eigenen historischen Standort – gehört es zugleich zur Freiheit des Menschen als Menschen, diesen Wert anders zu setzen, ja ihn, von unserem heutigen Verständnis aus, zu verfehlen. In welchen Eigenschaften Menschen z. B. einander als »gleich« und »frei« setzen, kann die Anthropologie nicht verbind­ lich vorgeben oder vorhersagen (Glastra van Loon). Die strukturell, weil anthropologisch gegebene Gefährdung von innen heraus gilt es gerade in Deutschland »tief zu erfassen«, nur darin liegt die

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Anthropologischer und politischer Freiheitsbegriff

Chance, die politische Freiheit auch angesichts der Verführungen geschlossener Gesellschaften zu bewahren. Anthropologisch zeichnet den Menschen die Freiheit der Selbst­ verwirklichung aus. Das heißt, im gesellschaftlichen Kontext gesehen: »Unser rationales Selbstverständnis gewinnt seine Formalisierbar­ keit ... aus der Idee des Menschen als eines zwar auf soziale Rolle überhaupt verwiesenen, aber nicht durch eine bestimmte Rolle defi­ nierten Wesens ... Mit dieser Struktur vom Doppelgängertum, in wel­ chem Rollenträger und Rollenfigur verbunden sind, glauben wir eine Konstante getroffen zu haben, welche für jeden Typus menschlicher Vergesellschaftung offen ist und eine seiner wesentlichen Vorausset­ zungen bildet.« – So Plessner nahezu zeitgleich zu seinem Berliner Vortrag in seiner Auseinandersetzung mit Dahrendorfs »homo socio­ logicus« (Bd. X, S. 235). Die Freiheit des Menschen, sich stets zu dem zu machen, was er ist, um sich in diesem ständigen Prozeß der Selbst­ verwirklichung selbst zu erfahren: »Nur an dem anderen seiner selbst hat er – sich« (ebda.), fällt nicht mit den bürgerlichen Freiheitsrechten einer offenen Gesellschaft zusammen. Die anthropologische Freiheit des Menschen schließt die ständige Selbstgefährdung keineswegs aus, ja diese politische Möglichkeit ist eine ihrer Bedingungen. Unter den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen zur Mitte dieses Jahrhun­ derts enthält sie die »ständig drohende Umschlagsgefahr in totalitäre Systeme, das heißt in geschlossene Gesellschaften« (Bd. X, S. 210). Der anthropologische Freiheitsbegriff bezieht sich auf »einen (gesell­ schaftlich) höchst labilen Zustand, dessen menschliche Vorzüge bei uns (in Deutschland) aus Gründen der verspäteten nationalen Ent­ wicklung keineswegs so tief erfaßt werden, wie man nach den Erfah­ rungen des Dritten Reiches glauben möchte« (Bd. X, S. 210). Aus dem Spannungsverhältnis liberaler bürgerlicher Freiheit zu den anthropologisch notwendigerweise gegebenen und unter den gesellschaftlichen Bedingungen des Industriezeitalters besonders virulenten Gefährdungen der politischen Freiheit ergibt sich für Pless­ ner die Aufgabe der Soziologie als Wissenschaft, zur Erhaltung der Freiheit beizutragen, ein »Ferment der Kritik« und ein »Werkzeug der Freiheit« im politischen wie im anthropologischen Sinne zu sein.

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Begriff und freiheitverbürgende Funktion der Soziologie Soziologie umspannt für Plessner Empirische Sozialforschung und Soziologische Theorie. Wir unterscheiden noch heute zwischen den Angewandten Soziologien, die sich in eine Vielzahl von kontextbe­ zogenen Soziologien ausdifferenzieren, und Soziologischer Theorie. Ihre beiderseitige Verknüpfung ist ein schwieriges, keineswegs über­ zeugend gelöstes Problem der Soziologie als Wissensdisziplin. Beide sind jedoch bei Plessner fundiert in der Philosophie: in der Phänome­ nologie und spezifischer in der Philosophischen Anthropologie. Die Erkenntnis sozialer Tatsachen mit empirischen Methoden ist für Plessner für die Sicherung politischer Freiheit unverzichtbar, aber Empirische Sozialforschung ist keineswegs auf die sorgfältige Beschreibung von Beobachtungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit beschränkt. Die Ergebnisse der Empirischen Sozialforschung bleiben stets interpretationsbedürftig unter Einbeziehung der Selbstauffas­ sung der Menschen in den Situationen ihres Lebens, in die sie unter konkreten gesellschaftlichen Umständen gestellt sind und die zum Gegenstand empirischer Sozialforschung wurden. Für Plessner gibt es keine Empirische Sozialforschung ohne Bezug auf eine »phänomeno­ logische Theorie gesellschaftlicher Erscheinungen«. Soziologie als Empirische Sozialforschung und als phänomeno­ logische Soziologische Theorie erfüllt ihre Aufgabe als Werkzeug der Freiheit durchaus in der doppelten Bedeutung des Freiheitsbegriffs bei Plessner. In den modernen Industriegesellschaften ist sie ein Weg der Erkenntnis sozialer Tatsachen unabhängig von den Meinungen der gerade jetzt Herrschenden und von den Sollensforderungen der Juristen. In der Distanz zu den herrschenden Meinungen liegt die freiheitssichernde Funktion der Empirischen Sozialforschung. Zu den sozialen Tatsachen gehören auch die Situationsauslegungen und Selbstverständnisse der Betroffenen; doch diese Selbstauslegungen liegen nicht offen zu Tage. Aus ihrer »Verborgenheit« werden sie durch die Empirische Sozialforschung an die Öffentlichkeit gebracht und dadurch entscheidungs- und handlungswirksam. In seiner opti­ mistischen Einschätzung der gesellschaftlichen Funktion der Empiri­ schen Sozialforschung vertraut Plessner der Durchsetzungsfähigkeit wissenschaftlicher Rationalität in der öffentlichen Meinungsbildung pluralistischer Demokratien. Die Garantien für die freiheitssichernde Kraft der Soziologie liegen im Wert der Wahrheit und – mit Max

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Begriff und freiheitverbürgende Funktion der Soziologie

Weber gesprochen – in dessen »faktischer Geltung« sowie in der Funktionsfähigkeit einer liberalen Demokratie. Mit der wissenssoziologischen Begründung der Soziologie in einer geschichtlich verorteten, politischen Kultur ist Plessner im Ver­ gleich mit der Position Max Webers zur Werturteilsfreiheit sozialwis­ senschaftlicher Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit näher geblieben. Das Dilemma der Wertbezogenheit empirischer Sozialforschung wird bei Plessner zwar entfaltet: Das Selbstverständnis der Menschen, d. h. auch ihre Wertordnung in den sozialen Situationen, die die Soziologie untersucht, ist für die soziologische Interpretation sozialer Tatsachen unverzichtbar. Ohne theoriegeleitete, d. h. phänomenologische Inter­ pretation ist für Plessner Soziologie, die diesen Namen verdient, nicht denkbar. Doch eine Lösung für die unausweichlichen Wertkonflikte pluralistischer Gesellschaften kann er nicht anbieten, ohne zugleich die anthropologische Freiheit des Menschen preiszugeben, zu der stets die politische Selbstgefährdung gehört. Er dramatisiert den Wertkonflikt nicht wie Max Weber, der in dem »unauflöslichen Kampf« der Weltanschauungen seine tragische Auffassung von der »Politik als Beruf« begründet, sondern leitet ihn konsequent aus der Philosophischen Anthropologie ab. Die anthropologische Fundierung der Soziologie – und sie bildet das Anliegen seiner soziologischen Arbeiten – macht es verständlich, warum bei Plessner mögliche Konflikte zwischen den Selbstauslegun­ gen der Betroffenen und den soziologischen Interpreten dieser Selbst­ verständnisse nicht zum Problem werden. Die von ihm zur Veran­ schaulichung angeführten Beispiele – so in seiner Groninger Antrittsvorlesung (Bd. X, S. 90 ff.) – machen die Empirische Sozial­ forschung zum Anwalt der gegenüber anerkannten gesellschaftlichen Werten Benachteiligten. Doch eine »institutionalisierte Dauerkon­ trolle gesellschaftlicher Verhältnisse in kritischer Absicht und in wis­ senschaftlicher Form« stößt unausweichlich auch auf die Konflikte gleichrangiger, also konkurrierender gesellschaftlicher Werte, so z. B. in den von ihm initiierten und mitverantworteten »Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer« (1956).

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Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit?

Theorie gesellschaftlicher Erscheinungen und Philosophische Anthropologie Die Soziologische Theorie Helmuth Plessners lässt sich in unserem heutigen Verständnis als phänomenologische Theorie, aber auch als Kulturanthropologie charakterisieren, sofern sie nicht genuin Philo­ sophische Anthropologie ist. Ihre freiheitsichernde Funktion erfüllt sie in der beschriebenen doppelten Bedeutung des Freiheitsbegriffs in einer offenen Gesellschaft für eine pluralistische, liberale Demokratie ebenso wie für die Selbstentfaltung des Menschen, sich zu dem zu machen, was er ist. Ihre freiheitsichernde Potenz kommt in ihrer Position im System der Wissenschaften und in der Ideologiekritik zum Ausdruck Als Fach im Kreise der Wissenschaften – für Plessner ist es selbstverständlich, daß sie eine universitäre Wissenschaft ist, daß sie an dem Privileg »Wissenschaftlicher Hochschulen« teilhat – zeichnet sich die Soziologie durch ihren ganzheitlichen Zugang aus, sie will die »gesellschaftlichen Erscheinungen«, die sie theoretisch auf den Begriff bringt, aus ihrem Lebenszusammenhang verstehen: »In jedem Detail verbirgt sich Theorie« – so formuliert Plessner das Programm der soziologischen Theorie in seiner Groninger Antrittsrede; hier wird er, was bei ihm selten vorkommt, geradezu lehrhaft: »das heißt erstens: ein Gesamt von Tradition und Zukunftserwartungen, von Problemen und Selbstverständlichem, das zu allen Zeiten und überall gegeben ist, wo Menschen Gesellschaft entwickeln.« (Übersetzung aus dem erhaltengebliebenen niederländischen Text, Bd. X, S. 92) Um ihren ganzheitlichen Zugang zu den gesellschaftlichen Tatsachen zu bewah­ ren, muß Soziologie der Verführung widerstehen, in der Spezialisie­ rung Sicherheit und akademische Anerkennung zu gewinnen. Gesellschaftliche Tatsachen sind für Plessner Bewußtseinstatsa­ chen. Als Träger von Sinn sind sie Tatsachen geschichtlichen, aber auch sozialräumlich gebundenen Bewußtseins. Zu der sozialen Rea­ lität als Träger von Bedeutungen bahnt die phänomenologische Methode den vergleichsweise unvoreingenommensten und daher erfolgversprechendsten Zugang. Die sich anscheinend mit dem ganz­ heitlichen Zugang eröffnende Uferlosigkeit gesellschaftlicher Erscheinungen reduziert sich für Plessner mit dem Aufweisen der ihnen eigenen Sinngesetzlichkeit. Auf sie führt die phänomenologi­ sche Analyse im Ergebnis hin; allerdings mit der einschränkenden, sich bescheidenden Bemerkung: »Freilich taugt nicht jeder für

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Erscheinungen der sozialen Welt gebrauchte Allgemeinbegriff zu sinngesetzlichen Analysen. Wir wissen hierüber noch sehr wenig« (Bd. X, S. 204/205). Ungeachtet seiner zurückhaltenden Einschätzung zukünftiger Ergebnisse der phänomenologisch orientierten Sozialforschung (z. B. H. P. Bahrdt 1953, 1958) ist für Plessner die Position der Soziologie im Kreis der Wissenschaften eindeutig bestimmt. Wenn die Freiheit des Menschen darin gründet, sich ständig dessen zu vergewissern, was er aus sich macht, ist die phänomenologische Soziologie sein Wegberei­ ter und sein Berater, aber auch seine Instanz der Rechenschaftslegung. Als Wissen des Menschen über sich selbst im historischen Gesell­ schaftsprozeß befreit die Soziologie das gesellschaftlich fungierende Wissen von der Bevormundung durch die Staatswissenschaften und durch das Herrschaftswissen der praktischen Politik, aber auch von den Verheißungen der Sozialbiologie: Von Plessners Position führt kein Weg zu einer Soziologie als Heilslehre gleich welcher Proveni­ enz. In seiner Ziel- und Funktionsbeschreibung der Soziologie ist Plessners Perspektive durchaus vergleichbar mit anderen program­ matischen Positionen der Wiederbegründung der Soziologie im Nachkriegsdeutschland (Vgl. Popitz und Bahrdt 1957, René König 1958, Helmut Schelsky 1959), aber wirklichkeitsnäher. Gleichwohl ist es ein anspruchsvolles, ja streng beim Wort genommen, die Soziologie und die Soziologen überforderndes Programm. Plessners soziologische Arbeiten konvergieren in der Absicht, die Eigenständigkeit der Soziologie als Wissenschaft aus der phäno­ menologischen Position (Husserl und Dilthey) und hier aus der Phi­ losophischen Anthropologie zu begründen. In dieser Absicht war er seiner Zeit um Jahrzehnte voraus – und blieb einsam. Die phänome­ nologische Methode, von Popitz und Bahrdt (1957) überzeugend und paradigmatisch bereits Anfang der 50er Jahre (Bahrdt 1953) in die sich wieder entfaltende deutsche Soziologie eingebracht, fand zunächst wenigstens keinen bleibenden Einfluß auf die Theorieentwicklung (Pöhler 1969, Chr. von Ferber 1991). Die Wiederentdeckung der phä­ nomenologischen Methode in der deutschen Soziologie durch Berger und Luckmann (1966) und Grathoff ebenso wie der Symbolische Interaktionismus um Matthes und Schütze (1973) orientierte sich an Alfred Schütz und George Herbert Mead. Die Wiederaufnahme einer phänomenologisch orientierten Arbeitssoziologie durch den Arbeitskreis um Willi Pöhler knüpfte bei Bahrdt oder unmittelbar

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bei Husserl an. Die Theorie der autopoietischen Systeme, die derzeit Konjunktur in der soziologisch-theoretischen Diskussion hat, kennt den Namen Plessner nicht – paradoxer Weise, plante doch Plessner in der zweiten Hälfte der 50er Jahre eine Weiterführung seiner Philosophischen Anthropologie unter dem Arbeitstitel »Autopoiesis« (Persönliche Mitteilung).

Was bleibt? Der unmittelbare Aufweis wirkungsgeschichtlicher Einflüsse der Position Plessners ist schwierig und wenig ergiebig. Weiterführen­ der auch für die phänomenologisch arbeitenden Soziologen heute erscheint mir daher eine Formulierung der wesentlichen Bausteine seiner Position (Pöhler 1991, Chr. von Ferber 1994). Gesellschaft ist Prozeß, der durch den Bezug auf handelnde Subjekte sich in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gliedert. Die geschichtliche Dimension und damit das Denken in Situatio­ nen ist für die soziologische Theoriebildung ebenso wesentlich wie die Personalität der gesellschaftlich handelnden Subjekte. Nur für diese gibt es Situationen. Der Bezug auf handelnde Personen und deren Selbstauslegung bestimmt die Auswahl dessen, was soziologisch wesentlich ist. Selbst­ auslegung, Selbstverständnis, aber auch die Fähigkeit des Menschen, Sinn und Bedeutung im Ausdruck, in Werken, in jeglicher produktiver Tätigkeit zu verkörpern, bestimmt den Inhalt und das Ziel soziologi­ scher Arbeit. Soziologie ist Bestandteil des demokratischen Prozesses: Sie macht das »Verborgene«, weil aus dem Blick Geratene öffentlich. Soziologie ist Beobachtung, Tatsachenerkenntnis und phänome­ nologische Interpretation, ohne letztere bleibt Empirische Sozialfor­ schung Soziographie. Gesellschaftliche Tatsachen sind also durch die Elemente Geschichtlichkeit, Personalität der handelnden Subjekte, Sinnstiftung und Bedeutungszuerkennung bestimmt. Die Sinngebungsmacht und das Sinnverstehen des Menschen ist für seine soziale Existenz wesent­ lich. Die anthropologische Selbstbezüglichkeit und Selbstauslegung des Menschen enthält jedoch keine Garantien dafür, daß gesellschaft­ liche Tatsachen offenbar, für alle im Prinzip wahrnehmbar, also öffent­

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Was bleibt?

liche Tatsachen und im demokratischen Prozeß wirksam werden. Die Soziologie hebt die »verborgenen« gesellschaftlichen Tatsachen ans Licht, sie macht sie öffentlich, weil und nur insofern sie als Wissenschaft eine öffentliche Rolle spielt. Die Zugehörigkeit der Soziologie zu einer politischen Kultur und zu einem historisch entstandenen und sich wandelnden Wis­ senschaftssystem wird gegenwärtig zu einem leider viel zu wenig beachteten und daher naiv behandelten Problem. Denn für die Sozio­ logie, wie für alle angewandten Wissenschaften gilt, daß sie aus den zu eng gewordenen Universitäten auswandert. Die Erfüllung der Forderung Plessners: »Gerade als Tatsachenforschung, nicht als normative Wissenschaft, als Theorie gesellschaftlicher Erscheinun­ gen wird Soziologie heute zu einem Ferment der Kritik, zu einem Werkzeug der Freiheit«, verliert zunehmend ihre institutionellen Garantien. In dem Prozeß des Wandels von Gesellschaft und Soziolo­ gie gewinnt Plessners Position allerdings eine von ihm kaum vorher­ zusehende Aktualität. Bei allem optimistischen Vertrauen in den demokratischen Pro­ zeß und in die Funktion der Soziologie, auf den verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens zu rationaler Entscheidungs­ findung beizutragen, bleibt Plessner skeptisch, wohlgemerkt nicht aus politischem Kalkül oder infolge seiner Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus, sondern aufgrund seiner anthropologischen Position. Die strukturelle Distanz des Menschen zu sich und zu seinen eigenen Schöpfungen macht vor der Soziologie nicht halt – dies wäre inkonsequent – »nur an dem andern seiner selbst hat er – sich«. Plessners Aussage über den Menschen gilt auch für seine Soziologie. Diese schließt notwendiger Weise den Begriff ihres politischen und kulturellen Andersseins ein. Für Plessner lag in dieser Möglichkeit allerdings nicht nur eine Gefährdung, sondern stets auch eine Hoffnung. Vielleicht war es dieser skeptische Optimismus oder – treffender gesagt – die philo­ sophisch begründete Freiheit auch im Verhältnis zu sich selbst, die Plessners bleibende Ausstrahlung auf seine Schüler ausmachte und sein Werk gerade außerhalb der Fachgrenzen von Soziologie und Philosophie die uns alle hier auf diesem Symposion überraschende Breite und Vielfalt seiner Wirkung spüren läßt.

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Literatur Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1. Symbolischer Interaktionismus und Eth­ nomethodologie. Bd. 2. Ethnotheorie und Ethnographie des Sprechens, Rein­ bek (Rowohlt) 1973 Berger, Peter L. und Thomas Luckmann, The social construction of reality. New York (Doubleday) 1966, dt. 1969 Bahrdt, Hans Paul, Arbeitsplan einer industriesoziologischen Untersuchung, durchgeführt als Sozialforschung in einem Hüttenwerk des Ruhrgebietes. Manuskript (Archiv SOFI Göttingen) 1953 Bahrdt, Hans Paul, Industriebürokratie, Stuttgart (Enke) 1958, 2. Aufl. 1972 Ferber, Christian von, Subjektive und objektive Arbeitssituation – wo stehen wir in der phänomenologischen Analyse heute?, In: Gerd Peter (Hg.) Arbeits­ forschung? Methodologische und theoretische Reflexion und Konstruktion, Dortmund 1991 Ferber, Christian von, »damit die Arbeit menschlicher wird«. Phänomenologi­ sche Arbeitssoziologie – Positionen und Perspektiven, In: Karl Krahn, Gerd Peter Rainer Skrotzki (Hg.), Willi Pöhler zum 60. Geburtstag. Dortmund (Montana) 1994 (im Erscheinen) König, René (Hg.), Soziologie, Fischer Lexikon Frankfurt (Main) 1957 Matthes und Schütze, s. u. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen Plessner Helmuth, Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer, 3 Bde., Göttingen, (Vandenhoeck & Ruprecht) 1956 Plessner, Helmuth, Gesammelte Werke, 10 Bde. 1. Aufl. Frankfurt/Main (Suhr­ kamp) 1980 ff. Pöhler, Willi, Information und Verwaltung, Stuttgart (Enke) 1969 Pöhler, Willi, Arbeit und Subjekt, In: R. P. Nippert, W. Pöhler W. Slesina (Hg.) Kritik und Engagement Soziologie als Anwendungswissenschaft, München (Oldenbourg) 1991, S. 75–85 Popitz, Heinrich, Hans Paul Bahrdt, Ernst August Jüres und Hanno Kesting, Technik und Industriearbeit, Tübingen (Mohr Siebeck) 1957 Schelsky, Helmut, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf–Köln (Eugen Diederichs) 1959

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Aufklärung durch Soziologie?*

Die Frage im Thema erwartet eine kurze Antwort, aber deren einge­ hende Begründung. Ja – Soziologie trägt zur gesellschaftlichen Aufklärung bei. In dieser Funktion liegt ihre eigentliche Aufgabe im System der Wis­ senschaften. Gesellschaftliche Aufklärung bildet die Essenz ihrer praktischen Verwertung, sie ist der Kern ihrer vielseitigen Anwen­ dung. Dies wird unmittelbar einsichtig, wenn wir uns den Begriff der Aufklärung vergegenwärtigen.

Die anthropologische Wende Aufklärung im Verständnis der geschichtlichen Tradition bezeichnet eine anthropologische Wende in der Orientierung der Menschen. In Abkehr von religiösen und politischen Autoritäten vertraut Aufklä­ rung auf die methodisch-wissenschaftliche Ergründung der Natur, der menschlichen Geschichte und der gesellschaftlichen Gegebenheiten – nicht nur um ihrer selbst willen – sondern um der Orientierung der Menschen in der Welt. Aufklärung und Verwissenschaftlichung sind eng miteinander verknüpft, wir leben in einer wissenschaftlich-tech­ nischen Zivilisation. Aufklärung ist naturwissenschaftliche Erklärung und auf ihrer Grundlage technische Gestaltung. Aufklärung ist historisch-gesell­ schaftliche Analyse und auf dieser Grundlage Politikberatung einer­ seits und – hierin liegt eine Aufgabe, die nur die Soziologie erfüllen kann – Beratung der Bürger und Bürgerinnen in den Entscheidungs­ situationen ihres Lebensalltags. Als naturwissenschaftliche Erklärung und als historisch-gesell­ schaftliche Analyse ist die Aufklärung stets unabgeschlossen und unvollendet. Für die Naturwissenschaften ist diese Behauptung unmittelbar einsichtig. Zwei Jahrhunderte nach dem Aufklärungs­ *

Für den Druck überarbeitete Fassung des Vortrags vom 15. April 1996.

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Aufklärung durch Soziologie?

zeitalter werden wir weiterhin alltäglich Zeuge umwälzender Entde­ ckungen. Populärwissenschaftliche Zeitschriften wie z. B. das »Spek­ trum der Wissenschaft« berichten periodisch über bahnbrechende Erkenntnisse in der Erforschung des Weltraums und der Bausteine der Materie sowie – nicht zu vergessen – in der Entschlüsselung des genetischen Codes. Allerdings selbst nach 200 bis 300 Jahren naturwissenschaftli­ cher Aufklärung nehmen wir diese Entdeckungen mit ambivalenten Gefühlen auf. Sind wir diesen Entdeckungen politisch und moralisch gewachsen? Ist die Gefahr atomarer Katastrophen durch »menschli­ ches Versagen« gebannt? Welche sozialen Konsequenzen ergeben sich aus der angewandten Genetik? Es unterstreicht die Bedeutung der Soziologie als Aufklärungswissenschaft, daß zur Beratung der Politik bei der Abschätzung der Folgen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse neben Theologen, Philosophen, Juristen und Vertretern gesellschaft­ licher Gruppen Soziologen hinzugezogen werden. Weniger einsichtig dagegen sind die Ergebnisse historischgesellschaftlicher Analysen und ihrer praktischen Folgen für die poli­ tische Gestaltung unserer Lebensbedingungen und für die alltägliche Lebensführung. Gibt es in dem uns von den Naturwissenschaften ver­ trauten Sinne einen Erkenntnisfortschritt in den Gesellschaftswissen­ schaften? Einen Erkenntnisfortschritt, der die Politik verbessert, sie wirksamer und menschenwürdiger macht? Gibt es einen Zuwachs an gesellschaftlichem Wissen, der die Menschen kompetenter macht, im Alltag rücksichtsvoller, solidarischer zu handeln? Gilt vielleicht doch ungeachtet aller gesellschaftlichen Aufklärung unverändert das Men­ schenbild, das uns einer der soziologischen Frühaufklärer, Thomas Hobbes, hinterlassen hat: Homo homini lupus – ist der Mensch ist dem anderen ein Wolf; eine Wolfsgesellschaft, die nur mit starker und harter Hand erträglich gestaltet werden kann? Oder gibt es vielleicht doch Hoffnungen, daß Utopien an Wirklichkeitsnähe gewinnen, wie sie so verschiedene Denkrichtungen zu Beginn dieses Jahrhunderts formuliert haben, etwa Kropotkins Utopie von der gegenseitigen Hilfe als einem Prinzip des Lebens, das ebenso wichtig ist wie der Egoismus im Kampf ums Dasein (»Egoismus der Gene«) oder wie der Reformsozialismus der sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung, der nicht nur das Sozialstaatsprinzip in den deut­ schen Verfassungen von Weimar und Bonn, sondern auch seine praktische Verwirklichung bis in die Gegenwart hinein geprägt hat?

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Der Weg der Soziologie in Deutschland (Helmuth Plessner)

Die aufgeworfenen Fragen, so eingängig und antwortheischend sie auch erscheinen, lassen sich nicht im Rahmen eines Vortrages beantworten. Gerade in ihrer Widersprüchlichkeit und Ambivalenz unterstreichen sie die Notwendigkeit, sich nüchtern über die Sozio­ logie in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation Rechenschaft abzulegen. Es erscheint mir daher wichtig, die Ambivalenz im Hinter­ grund präsent zu halten: Auf der einen Seite naturwissenschaftliche Erkenntnisfortschritte, die uns den Schlaf rauben, wenn wir ihre möglichen Folgen bedenken, auf der andern Seite Ergebnisse histo­ risch-gesellschaftlicher Analyse, die anscheinend auf der Stelle treten, Altbekanntes hin- und herwälzen und zu brennenden Problemen betreten schweigen. Zwei Tatsachen, von denen wir bei der Erörterung des Themas: Aufklärung durch Soziologie? ausgehen sollten, sind allerdings festzuhalten. 1.

2.

Die anthropologische Wende der Aufklärung, Wissenschaft in der ganzen Breite unseres Wissenssystems zur Grundlage der Lebensgestaltung zu machen, ist unumkehrbar. Ob wir es uns wünschen oder nicht, wir sind in diesen historischen Prozeß ein­ bezogen. Es gibt keinen Weg zurück zu politisch-weltanschauli­ chen Heilsgewißheiten oder religiösen Glaubenswahrheiten. Die Aufklärung, gleich ob wir ihre naturwissenschaftlichen oder ihre human- und gesellschaftswissenschaftlichen oder andere Erscheinungsformen betrachten, ist unabgeschlossen und unvollendet. Aufklärung als Kompaß in einer wissenschaftlichtechnischen Zivilisation ist ein Langzeitprogramm, von dem wir nur hoffen können, daß es uns jeweils zur rechten Zeit die Erkenntnisse bereitstellt – von denen wir dann auch Gebrauch machen – die das Leben auf dieser Erde menschenwürdiger machen oder die zumindest dem Abgleiten in eine Wolfsgesell­ schaft wirksam begegnen.

Der Weg der Soziologie in Deutschland (Helmuth Plessner) Aufklärung durch Soziologie? erwartet daher Rechenschaft über den Weg der Soziologie in Deutschland nach 1945. Dabei muß ich mich auf die Situation in der Bundesrepublik beschränken – eine Aufarbeitung der Soziologie in der DDR wäre eine wichtige und lohnende Aufgabe, die ich jedenfalls aus dem Stand nicht leisten kann.

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Aufklärung durch Soziologie?

Einen Schlüssel zum Weg der Soziologie nach 1945 enthält die Rede, die Helmuth Plessner 1959 als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zum 50jährigen Bestehen der Gesellschaft deutscher Soziologen in Berlin (West) gehalten hat. Dieses Ereignis bezeichnet über seinen Anlaß als Halbjahrhundertjubiläum hinaus eine Zäsur in der Entwicklung der deutschen Nachkriegssoziologie. 1959 war die Wiederaufbauphase nach der nationalsozialisti­ schen Diktatur abgeschlossen. Die Wiederbegründung der Soziologie war maßgebend durch die Rückkehr von Emigranten geprägt, die überwiegend vor 1933 bereits ihre wissenschaftliche Position gefes­ tigt hatten (Abb. 1). Zugleich – und das markiert die Zäsur – war die erste Nachkriegsgeneration von Soziologen durch eigene Veröffent­ lichungen präsent. Dieses wissenschaftsgeschichtliche Zusammen­ treffen, an dem sich nach dem im wesentlichen von außen induzierten Neubeginn der Soziologie die Konturen einer kontinuierlichen Wei­ terentwicklung abzeichneten, bildete den Anlaß sich grundsätzlich über Herkunft, Ortsbestimmung und die gesellschaftlichen Aufgaben der deutschen Nachkriegssoziologie Gedanken zu machen. Für unser Thema sind gerade die Ausführungen von Helmuth Plessner erhel­ lend. Er schloß seine Ausführungen mit Sätzen, die 40 Jahre danach (1989) eine ganz neue Aktualität gewinnen sollten: »Man darf der deutschen Soziologie, die seit 1945 erst wieder arbeiten kann, nicht den Vorwurf machen, daß sie in Reaktion auf zu viel Theoretisiererei und Globalismus von früher nun im Erhebungs­ gewerbe (gemeint ist die empirische Detail- und Auftragsforschung, die Markt- und Meinungsforschung) ohne Perspektive zu versinken droht. Erstens wäre die Reaktion bei Menschen, die ideologisch so strapaziert worden sind und so viel Enttäuschungen zu verarbeiten haben, mehr als verständlich. Zweitens haben wir in puncto Empirie (gemeint ist die Empirische Sozialforschung) einen ungeheuren Nachholbedarf. Aber der Vorwurf selbst stimmt nicht. Man ist behut­ samer geworden, ... man schwelgt nicht mehr in Riesenprojekten und Perspektiven von Fortschritt oder von Verfall. Aber auch das Ver­ ständnis für die theoretische Kleinarbeit ist im Wachsen: für die Kritik der soziologischen Begriffsbildung, für die Brechung der Knechtschaft unter der Tyrannei der falsch gewordenen Worte. Gerade als Tatsa­ chenforschung, nicht als normative Wissenschaft, als Theorie der gesellschaftlichen Erscheinungen wird Soziologie heute zu einem Fer­ ment der Kritik, zu einem Werkzeug der Freiheit.« (Plessner 1966, S. 53/54)

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Der Weg der Soziologie in Deutschland (Helmuth Plessner)

Aktuell ist der Bezug auf die Stimmungslage deutscher Nach­ kriegssoziologen nach der nationalsozialistischen Katastrophe, deren menschheitsgeschichtliche Bedeutung wohl kaum zureichend erfaßt und dargestellt werden kann. Von wegweisender Bedeutung für die Funktion der Soziologie in einer freiheitlichen Gesellschaft ist die Verknüpfung von Tatsachen­ forschung und Gesellschaftsanalyse mit dem Begriff der Freiheit: Soziologie ein Ferment der gesellschaftlichen und – darin weist sie sich als Wissenschaft aus – selbstkritischen Analyse, ein Werkzeug der Freiheit. Zwei Prinzipien, an denen Plessner die gesellschaftliche Funk­ tion der Soziologie festmacht, haben in der Folgezeit und auch für unsere gegenwärtige Zukunftsperspektive ihre Tragfähigkeit erwie­ sen. 1.

2.

Soziologie ist auf gesellschaftliche Werte bezogen. Sie ist weder wertfrei – also reine Abbildung gesellschaftlicher Verhältnisse – noch Werte setzend – sie schreibt nicht vor –, sondern sie ist auf das Menschenbild freier Menschen bezogen. Für Helmuth Pless­ ner (geb. 1892, aus Deutschland vertrieben 1933, zurückgekehrt 1948 aus Groningen (Niederlande) nach Göttingen) ist es das Menschenbild der westlichen Demokratien, die neben dem Wert der Freiheit, den Werten der Menschenwürde, der Gleichheit und der Brüderlichkeit oder – mit heutiger Semantik – der Solidarität verpflichtet sind. Wer als Soziologe arbeitet, gleich in wessen Auftrag, weiß daher oder er kann es zumindest wissen, welchen Werten er verpflichtet ist – unabhängig davon, wie routiniert oder elaboriert sein theoretisches oder methodisches Design ist. Er kann sich hinter seiner Wissenschaftlichkeit nicht verstecken. Soziologie ist Tatsachenforschung. Gesellschaftliche Tatsachen zeichnen sich dadurch aus, daß sie durch eine Vielzahl von Ein­ flüssen bestimmt sind, unter denen der i. e. Sinne gesellschaft­ liche Einfluß einer unter anderen ist. So sind z. B. die großen Kul­ turbereiche wie Recht, Religion, Kunst stets auch gesellschaftlich bedingt – das rechtfertigt eine historisch-gesellschaftliche Ana­ lyse, wie z. B. empirische Untersuchungen der Rechtspraxis, der Religionsausübung und des Kunstbetriebes. Diese Kulturberei­ che sind aber ganz wesentlich auch aus sich selbst bestimmt und damit Gegenstand von Theologie, Rechtswissenschaft oder Theorie und Geschichte der Kunst. Carl Brinckmann hat zu Recht von der »Soziologischen Dimension der Fachwissenschaften«

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Aufklärung durch Soziologie?

gesprochen. Ähnliches ließe sich für soziale Gegebenheiten wie Gemeinde, Industrie, Berufe, Familie, Jugend und Alter sagen (Abb. 2). Sie alle bilden Gegenstand soziologischer Tatsachen­ forschung und Grundlage für Angewandte Soziologien, lösen sich aber nicht in ihrem soziologischen Aspekt auf. Als Tatsa­ chenforschung schmiegt sich die Soziologie der Differenzierung der Lebensgebiete und der Kulturbereiche an und fächert sich in ein Spektrum von soziologischen Arbeitsgebieten auf, die in der Organisation der Wissenschaften ganz unterschiedlich behei­ matet sind. Für die Soziologie als Tatsachenforschung ergeben sich aus dieser Situation zwei Konsequenzen. 1.

2.

Soziologische Tatsachenforschung ist auf die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften, aber auch mit dem praktischen Selbstverständnis, den Selbstdeutungen der Menschen angewie­ sen, die in den Lebens- und Kulturbereichen zu Hause sind. Sie muß die Deutungsmuster z. B. von Juristen, Pfarrern, Künstlern, aber auch von jungen und alten Menschen, von Männern und Frauen kennen und verstehen. Soziologische Tatsachenfor­ schung ist also stets interdisziplinär und Theorie und Lebens­ praxis verbindend, den Raum der Wissenschaft überschreitend. Soziologische Tatsachenforschung entfaltet ihre aufklärerische Funktion in konkreten Lebensbezügen in der Rechtspraxis, im kirchlichen Leben, im Kunstbetrieb, in der Jugendarbeit, in der Gestaltung des Lebens alter Menschen, in der Frauenemanzipa­ tion etc. Die Leitfrage unseres Themas »Aufklärung durch Sozio­ logie?« stellt sich jedenfalls unter dem selbstkritischen Aspekt der soziologischen Tatsachenforschung kaum noch auf der Ebene der Gesellschaft oder des historischen Gesellschaftsprozesses – was Deutungsversuche natürlich nicht ausschließt – sondern in den konkreten Kontexten der Kulturgebiete und Lebensbereiche. Die aufklärerische Potenz der Soziologie bemißt sich in der Beantwortung von Fragen, wie: Was hat die Soziologie – oder da Soziologie das ist, was Soziologen tun – was haben Soziologen zur Reform des Bildungssystems, des Gesundheitssystems, zur Mitbestimmung in der Wirtschaft, zur Demokratisierung des Sozialstaates, zur Situation von jungen oder alten Menschen bei­ getragen? Ist es ihnen gelungen, den Bezug auf die Grundwerte einer freiheitlichen Gesellschaft wirksam herzustellen, war die

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Ein Paradigma soziologischer Aufklärung als Tatsachenforschung

Soziologie ein Ferment der Kritik, ein Instrument der Freiheit? Und wenn ja, was waren ihre wissenschaftlichen Werkzeuge?

Ein Paradigma soziologischer Aufklärung als Tatsachenforschung: die Sozialpsychiatrie Ich möchte im Folgenden versuchen, Ihnen aus meinem engeren Arbeitsgebiet der Sozialpolitik und der Gesundheitssystemforschung Erfolge, aber auch schreckliche Irrtümer auf dem Wege soziologischer Aufklärung zu schildern. Paradigmatisch ist in diesem Zusammen­ hang einerseits die weltweite Reform der psychiatrischen Versorgung – hier können wir rückblickend auf ein halbes Jahrhundert deutliche Konturen einer Aufklärung durch Soziologie festmachen – anderseits die Neugestaltung der Systeme Sozialer Sicherheit – hier betreten wir Neuland mit allen Chancen und Risiken des Neubeginns. Ende der 50er Jahre publizierten ein Soziologe und ein Psychi­ ater gemeinsam die Ergebnisse ihrer interdisziplinären Tatsachenfor­ schung zur psychiatrischen Versorgung in den U.S.A. unter dem auf­ sehenerregenden Titel »Social class and mental illness« (Hollingshead and Redlich, 1958). Hinter dem publikumswirksamen Titel »Psychi­ sche Krankheit und Soziale Schichtung« stand eine gemeinsame, interdisziplinär von mehreren Forschergruppen getragene Arbeits­ richtung, die die Tatsache aufzudecken bestrebt war, wie es denn tatsächlich um die Hilfe für die Menschen bestellt war, deren Fähigkeit zur Selbstbehauptung geschwächt, ja gestört war. Erreichen denn die psychiatrischen Angebote überhaupt die Menschen, die ihrer bedür­ fen? Wenn nicht, wo liegen die Zugangsschwellen? Wird die Fähigkeit zur Selbstentfaltung und Selbstbehauptung durch gesellschaftliche Bedingungen gestört und geschwächt? Entstehen psychische Störun­ gen eher durch ungünstige gesellschaftliche Umweltbedingungen als durch endogene, in den Individuen selbst liegende Ursachen? Die Ausrichtung der Fragen läßt deutlich den Wertbezug auf – – –

Freiheit: freiheitsbeschränkende Einflüsse auf Selbstentfaltung und Selbstbehauptung Gleichheit: gleicher Zugang zur psychiatrischen Versorgung Solidarität: Mobilisierung von Hilfen für sozial Schwache

erkennen.

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Aufklärung durch Soziologie?

Was waren die Ergebnisse? Und welche weiterreichende Folgen hatten die Untersuchungen? Die sozialpsychiatrischen und epidemiologischen Forschungen, die mit einer beispielgebenden methodischen Sorgfalt und Konsequenz durchgeführt und ausgewertet wurden, ließen die folgenden Gege­ benheiten erkennen, die nicht nur für die USA, sondern für alle vergleichbaren Länder die Situation der psychiatrischen Versorgung charakterisierten (Handbuch der Sozialmedizin B II 1977). 1. 2. 3.

4.

Das Ausmaß der Unter- und Nichtversorgung psychischer Stö­ rungen überstieg bei weitem die Erwartungen. Unter- und Nichtversorgung waren von der Sozialschicht abhän­ gig. Das Ausmaß psychischer Störungen war besonders in den untersten, in den sozialen Grenzschichten erschreckend hoch; dies ließ sich nicht allein durch soziale Abstiegsprozesse erklä­ ren. Die traditionellen Formen psychiatrischer Versorgung waren diesen Problemen nicht gewachsen.

Der Eindruck, den diese Forschungsergebnisse in der Öffentlichkeit der USA machten, war so überwältigend, daß der Präsident John F. Kennedy sie zum Anlaß einer Botschaft zur Reform der psychi­ atrischen Versorgung machte. Für unser Thema »Aufklärung durch Soziologie?« ist dies ein Beispiel dafür, wie die Soziologie als Tatsachenforschung, die unter einem eindeutigen Bezug auf gesellschaftliche Werte steht, ihre aufklärerische Funktion in konkreten gesellschaftlichen Kontexten gemeinsam mit anderen in einem spezifischen Ergänzungsverhält­ nis wahrnimmt.

Was waren die weiterreichenden Folgen? Dem Beispiel der USA sind alle westlichen Industrieländer gefolgt. Sie haben auf der Grundlage soziologischer Tatsachenforschung ihre Systeme der psychiatrischen Versorgung reformiert. Für die Bundes­ republik ist dieser Vorgang in der Psychiatrieenquete von 1972 doku­

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Was waren die weiterreichenden Folgen?

mentiert. Die Reform der psychiatrischen Versorgung ist seitdem ein Dauerthema geblieben. Die Folgen für die Aufklärung zur Soziogenese psychischer Stö­ rungen, aber auch von psychisch mitbedingten somatischen Erkran­ kungen, sowie die Konsequenzen für unser heutiges Verständnis von gegenseitiger Hilfe sind der Öffentlichkeit weit weniger bekannt, gleichwohl von großer praktischer Wichtigkeit, nicht zuletzt für unser Thema den Beitrag der Soziologie zu gesellschaftlichen Aufklärung. Drei Themen, die die genannten Untersuchungen in den USA angeschlagen hatten, haben die soziologische Tatsachenforschung in den folgenden Jahrzehnten beschäftigt: a)

b)

c)

Die Zusammenhänge, die zwischen Sozialer Schichtung und psychischen Störungen bestehen, sind der Öffentlichkeit weit weniger bekannt, gleichwohl von großer Wichtigkeit. Der Bezug auf den Wert der freien Entfaltung der Persönlichkeit und auf den der Gleichheit ist offensichtlich. Die Genese psychischer Störungen: Welche Bedeutung hat der familiale Sozialisationsprozeß? Welche Rolle spielt die Ver­ gabe psychiatrischer Diagnosen (Etikettierung – Psychiatrie als Instanz Sozialer Kontrolle)? Welchen Einfluß haben genetische Bedingungen? – und neuerdings – Wovon hängt die psychische Gesundheit im Alter ab? Die salutogenetische Fragestellung: Am Vergleich großer Bevöl­ kerungsgruppen gewonnene Erkenntnisse – also die Einsichten, die epidemiologische Forschungen vermitteln können – sind Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Auftreten von Risiken. Auf dieser Grundlage können wir ebensogut wie nach den Bedin­ gungen für das Auftreten von Krankheiten nach den Bedingun­ gen für die Gesundheit fragen. Die salutogenetische Frage ist ebenso berechtigt wie die pathogenetische.

Das erstgenannte Problem »Social class and mental illness« hat sich von Sonderfragen abgesehen – z. B. Wohnungslose – als unergiebig erwiesen, weil der Schichtungsbegriff sich als zu grob herausgestellt hat. Statt mit dem Begriff der Sozialen Schichtung operieren wir heute mit dem der »Lebensweise«. Die Bearbeitung des zweiten Themas der »Soziogenese psychi­ scher Erkrankungen« hat zu zwei folgenreichen Irrtümern in der Ein­ schätzung der Familie und der der Psychiatrie als Instanz der Sozialen Kontrolle geführt. Die These von der krankheitsprovozierenden Rolle

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Aufklärung durch Soziologie?

der Familie gehört zu den schrecklichen Fehlleistungen mangelnder methodischer Selbstkritik und fehlender Theoriekontrolle in der Zunft selbst. Überwiegend sind die Familienbeziehungen eine Quelle des Schutzes und der psychosozialen Unterstützung für den psychisch kranken Heranwachsenden. Über Jahrzehnte hat die Sozialpsychia­ trie den Familienangehörigen psychisch Kranker schweres Leid mit unbewiesenen und unberechtigten Vorwürfen zugefügt. Soziologie im Dienst Sozialer Vorurteile also. Ähnlich verheerend war die Theorie, daß psychische Krankheit durch die Benennung von seiten der Psychiater »entsteht«. Da psy­ chische Krankheit sich als Störung der Selbstwahrnehmung und als auffälliges Sozialverhalten manifestiert, bedeutet die Vergabe einer psychiatrischen Diagnose eine Hereinnahme des Patienten in das Sys­ tem der Psychiatrie, eine Psychiatrisierung von Störungen der Selbst­ wahrnehmung und des Verhaltens. Die theoretische Radikalisierung dieses Sachverhalts, daß psychische Krankheit durch die Tätigkeit von Psychiatern »entsteht« und daß die Abschaffung der Psychiatrie das Problem psychischer Erkrankungen löst, hatte verheerende Folgen für die psychiatrische Versorgung. Als Labeling Approach oder als Etiket­ tierungsansatz hat diese »soziologische Theorie« weite Verbreitung gefunden und wurde nicht nur in der Sozialpsychiatrie, sondern auch in der Kriminalsoziologie verwendet. Von diesen schlimmen Verirrungen einmal abgesehen, ist die Frage nach der Genese psychischer Störungen – wenn wir das weite Feld der Stressforschung, also der psychoreaktiven Störungen außer Betracht lassen – mit dem Vordringen genetischer Erkenntnisse im Umbruch begriffen. Das Thema hat jedenfalls aus der Sicht der Soziologie seine Bedeutung gegenüber dem dritten Thema: der Salu­ togenese eingebüßt. Die Beantwortung der Frage: Warum unter äußerlich ähnlich belastenden Umständen die einen Menschen psychisch gesund blei­ ben, während andere z. T. schwer erkranken, ja bleibend geschädigt werden, hat zu überraschenden Erkenntnissen weit über die Sozial­ psychiatrie hinaus geführt. Ich möchte zwei Studien kurz nennen, weil mit ihnen die Entdeckung des Prinzips der Salutogenese verknüpft ist. Aaron Antonovsky (1987) untersuchte in Israel Frauen, die in deutschen Konzentrationslagern überlebt hatten. Er stieß dabei auf die überraschende Tatsache, daß etwa ein Drittel von ihnen diese Zeit ohne bleibende psychische Schäden überstanden hatten, während andere zur Zeit der Untersuchung also Jahre danach, immer noch

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Was waren die weiterreichenden Folgen?

unter schweren psychischen Beeinträchtigungen litten. Die Suche nach einer Erklärung führte Antonovsky zu der Hypothese, daß es gesunderhaltende, salutogenetische Bedingungen gibt, die als Schutz gegenüber belastenden, ja unter extremen Umwelterfahrungen wirk­ sam werden. Er fand seine Hypothese bestätigt, als er aus den Schilderungen der Frauen erfuhr, welche sozialen Bindungen in den Konzentrationslagern ihnen geholfen hatten, die furchtbaren Erleb­ nisse zu verarbeiten. Entscheidend ist die Entdeckung des Potentials an psychosozialer Unterstützung oder social support, das in primären Sozialbeziehungen enthalten ist. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte eine psychiatrisch epidemio­ logische Längsschnittstudie, die in Mannheim einige Alterskohorten Jugendlicher untersucht hat. Traumatisierende Kindheitserfahrungen wurden immer dann ohne bleibende psychische Störungen verarbei­ tet, wenn in den Zeiten extremer psychische Belastungen vertrauens­ volle, Vertrauen spendende, Selbstvertrauen vermittelnde Beziehun­ gen zu anderen Personen, sogenannten Bezugspersonen bestanden (Tress 1986). Der Grundgedanke, daß soziale Primärbeziehungen einen Schutz gegen belastende Umwelterfahrungen geben, ist inzwischen durch eine breite internationale Forschung abgesichert, die nur noch mit Hilfe von Spezialbibliographien überblickt werden kann (Badura 1981). Die Schlüsselbegriffe sind social support (psychosoziale Unter­ stützung), das primäre soziale Netzwerk einer Person, psychosoziale Ressourcen. Neben sozialpsychiatrischen Studien waren es vor allem medizinsoziologische Untersuchungen zur Bewältigung chronischer Krankheiten wie Krebs, Herzinfarkt, Nierenerkrankungen, denen wir bleibende Einsichten in die salutogenetischen Kräfte zwischen­ menschlicher Beziehungen verdanken. Die Entdeckung der salutogenetischen Dimension sozialer Pri­ märbeziehungen ist nicht auf die theoretische Erklärung beschränkt geblieben, daß wir nachträglich wissen, warum die einen belastende Umweltereignissse erfolgreicher oder »gesünder« überstehen als andere. Eine unmittelbare Nutzanwendung ist die gezielte Förderung von Netzwerkbeziehungen bei der Reintegration von geistig und psychisch Behinderten, die aus Anstalten in Formen der offenen Betreuung in Wohngruppen ausgeschleust werden. Programme zur Verhinderung von Anstaltseinweisungen machen von dem Netz­ werkkonzept praktischen Gebrauch.

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Aufklärung durch Soziologie?

Netzwerkförderung ist auch nicht auf soziologisch versierte Sozial- und Gesundheitspolitik beschränkt, sondern wird in den Selbsthilfegruppen und ‑organisationen als eine Soziale Bewegung von den Bürgern selbst getragen. Aufgrund fundierter Schätzungen können wir derzeit davon ausgehen, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland 2,6 Mill. in ca. 67500 Gruppen engagieren; zwei Drittel von ihnen verfolgen gesundheitsbezogene Ziele (Fachtagung des BMFSFJ Selbsthilfe 2000 ISAB 1995). Für alte Menschen, zu deren spezifischen Erfahrungen der Ver­ lust von Bezugspersonen gehört, ist die gezielte Förderung von Kontakten zu anderen Menschen eine wichtige Aufgabe in den Gemeinden. Die Erfahrungen mit dem Pflegegesetz werden uns möglicherweise in dieser Hinsicht neue Einsichten vermitteln. Aller­ dings gilt es hier wie anderwärts, das sozial Erwünschte und die vorfindbaren sozialen Tatsachen auseinander zu halten. Sicher liegt nach diesen Ausführungen vielen die Frage auf der Zunge: »Na, und? Was ist denn schon erreicht, wenn wir nach vier Jahrzehnten über primäre soziale Netzwerke, über social support eingehend Bescheid wissen und davon für Netzwerkförderung prakti­ schen Gebrauch machen? Aufklärung durch Soziologie? Vielleicht ein zu anspruchsvolles Wort für eine bescheidene Sache!« Auf diesen naheliegenden Einwand möchte ich abschließend mit zwei Argumenten entgegnen. 1.

2.

Wenn Helmuth Plessner die Zukunft der Soziologie in der Tat­ sachenforschung, nicht in den großen theoretischen Entwürfen sah, so stand er mit dieser Einschätzung nicht allein. 1957 war in einer zweiten erweiterten Auflage Robert K. Mertons »Social Theory and social structure« erschienen. Dieses Buch – das bemerkenswerterweise nie in Deutschland angemessen rezipiert worden ist – enthält nicht nur eine dezidierte Absage an Theorien der Gesellschaft oder des Gesellschaftsprozesses sondern einen Leitfaden, wie aus der soziologischen Tatsachenforschung ein kumulativer Erkenntnisprozeß entwickelt werden kann. Merton sieht die Zukunft der soziologischen Forschung durch die »Theo­ rien mittlerer Reichweite« bestimmt. Ohne schulmäßig zu werden, habe ich mich im Rückblick auf die kumulativen Erkenntnisfortschritte der Soziologie in der Gestaltung der psychiatrischen Versorgung an Mertons Leitfa­ den orientiert. Ich darf an folgendes erinnern

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Was waren die weiterreichenden Folgen?











die soziologischen Leitbegriffe, die das Feld wirksam er­ schlossen haben, »social class and mental illness«, der fami­ liale Sozialisationsprozeß als der Schlüssel zum Verständnis der Entstehung psychischer Krankheiten haben sich nicht als tragfähig erwiesen, ja z. T. zu schlimmen theoretischen Verirrungen geführt. die Kritik professionellen Handelns, wie sie mit aller Wucht an der psychiatrischen Diagnose aufbricht und mit ihrer Radikalisierung zur Antipsychiatrie einen Rückschritt in der psychiatrischen Versorgung gebracht hat, wurde zweifels­ ohne zu einem Ferment der Kritik professioneller Dienst­ leistungen und führte zu einer veränderten Einschätzung des Laiensystems und der Selbsthilfe. die »unerwartete, aber strategische Entdeckung« im Sinne Mertons betraf die primären sozialen Netzwerke in ihrer supportiven Bedeutung für die Bewältigung von Lebenskri­ sen und den praktischen Gebrauch in der Netzwerkförde­ rung unausgeschöpft ist bisher die von Antonovsky entwickelte Theorie der Salutogenese; wie auch immer man ihre zukünf­ tige Bedeutung einschätzen mag, gehört auch sie zu den unerwartet strategischen Entdeckungen auf dem Wege der Soziologie in der Versorgungsforschung. nicht erwähnt hatte ich das Konzept der »community power«, das bereits in der »Midtown Manhattan Studie« zur Erklärung der Unterversorgung in bestimmten Stadtteilen herangezogen wurde. Diese Theorie könnte im Rahmen der Stadterneuerung und der Stadtentwicklungspolitik eine wichtige Rolle spielen.

Wie in allen Wissenschaften verläuft auch in der soziologischen Tatsa­ chenforschung der kumulative Erkenntnisfortschritt nicht geradlinig. Echte Entdeckungen unerwartet, aber von strategischer Tragweite ste­ hen neben folgenreichen Irrtümern und falschen Theorien. Am Leit­ faden von Helmuth Plessner und Robert K. Merton eine Geschichte der soziologischen Tatsachenforschung in Deutschland nach 1945 zu schreiben, erscheint durchaus als lohnend und dürfte zu Entdeckun­ gen der gesellschaftlichen Aufklärung durch Soziologie führen.

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Aufklärung durch Soziologie?

Literaturhinweise Angermeyer, Matthias C. und Otto Döhner (Hg.) Chronisch kranke Kinder und Jugendliche in der Familie. Stuttgart (Enke) 1981. Angermeyer, Matthias C. und Hellmuth Freyberger, Chronisch kranke Erwach­ sene in der Familie. Stuttgart (Enke) 1982. Antonovsky, Aaron, Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well. San Francisco (Jossey-Bass) 1987. Badura, Bernhard (Hg.) Soziale Unterstützung und chronische Krankheit. Frank­ furt (Suhrkamp) 1981. Ferber, Christian von, Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit? In: Jürgen Friedrich und Bernd Westermann (Hrsg.), Unter offenem Horizont. Anthro­ pologie nach Helmuth Plessner. Frankfurt/Main (Peter Lang) 1995, S. 327– 335. Ferber, Christian von, Erkenntnisfortschritte in der Arbeits- und Stressforschung seit Beginn des HdA-Programms. In: Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik. 3. Jg. 1994 Heft 2, S. 173–183. Handbuch der Sozialmedizin, 3 Bde. Hgg. von Maria Blohmke, Christian von Ferber, Karl Peter Kisker, Hans Schaefer, Stuttgart (Enke) 1975–1977. Hollingshead, A. B. und F. E. Redlich, Social class and mental illness. New York (Wiley) 1958. König, René, Handbuch der Empirischen Sozialforschung. 2 Bde. Stuttgart (Enke) 1962/1969. Laing, B. R. and A. Esterson, Sanity madness and the family. Vol. I. Families of Schizophrenics. London (Tavistock) 1964. Lauter, H. Epidemiologie der großen psychiatrischen Störungen. In Handbuch der Sozialmedizin a. a. O. Bd. II 1977, S. 374–447. Merton, Robert King, Social theory and social structure. New York (The free press) 1957. Merton, Robert King, The bearing of empirical research on sociological theory: The serendipity pattern. In: Ders. Social theory and social structure a. a. O., S. 103–108. Midtown Manhattan Study. Vol. 1. Leo Srole, S. Langner, S. T. Michael, M. K. Opler and M. A. C. Rennie. Mental health in the metropolis. New York (McGraw-Hill) 1962. Midtown Manhattan Study Vol. 2. M. S. Langner and St. T. Michael, Life stress and mental health. New York, Toronto, Ontario 1963. Mueller, D. P. Social networks: A promising direction for research on the rela­ tionship of the social environment to psychiatric disorder. In: Social Science and Medicine. Vol. 14 A 1980, S. 147–161. Plessner, Helmuth, Der Weg der Soziologie in Deutschland. In: Ders. Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie. Düsseldorf/Köln (Eugen Diederichs) 1966 S. 36–54. Aufgenommen in Gesammelte Werke Bd. X. Plessner, Helmuth, Gesammelte Werke. 10 Bde. 1. Aufl. Frankfurt/Main (Suhr­ kamp) 1980 ff.

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Literaturhinweise

Schelsky, Helmuth, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie. Düssel­ dorf–Köln (Eugen Diederichs) 1959. Tress, Wolfgang, Das Rätsel der seelischen Gesundheit, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1986.

Abb. 1 Wiederaufbauphase 1945–1962 Zentren der Soziologie Frankfurt

Göttingen

Köln

Hamburg/ Münster

Adorno Horkheimer Salomon Achinger Neundörfer

Plessner

König

Schelsky

Mainz

Freiburg

(Erlangen/ Nürnberg)

Mühlmann

Bergstraesser

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Aufklärung durch Soziologie?

Abb. 2 Die soziologische Dimension der Fachwissenschaften Anwendungsbereiche der Soziologie (R. König, Handbuch der Empirischen Sozialforschung) Jugend Alter Familie Mobilität

Industrie Berufe Organisa­ tion Militär Sozialer Wandel in Entwick­ lungsländern

Gemeinde Stadt/Land Großstadt

Bildung (Recht) Kriminalsoziologie Medizin Religion Kunst Sprache Psychologie (Vorurteile, Verhalten)

Massenkommuni­ kation Konsum Freizeit Wahlsoziologie

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Sozialforschung – ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung*

Abstract Interdisziplinarität und Praxisorientierung rechnen derzeit zu den Schlüsselqualifikationen für die Wissenschaftsförderung in der Bun­ desrepublik. Doch »im Eifer zusagen, was sein soll, wird übersehen, was ist« (Th. W. Adorno) – die Empirische Sozialforschung hat diese beiden Qualifikationen seit ihrem Neubeginn nach 1945 in einer beispielgebenden Weise verwirklicht. Sie hat den Sozialen Wandel in der Bundesrepublik vorausschauend und unterstützend begleitet: die Demokratisierung nach der NS Diktatur, die Modernisierung der öffentlichen Dienstleistungssysteme (Bildung, Soziale Sicherheit, Gesundheit). Die Ökonomisierung der Gesellschaft stellt derzeit neue Anforderungen an das Selbstverständnis und an die Infrastruktur der Sozialforschung. Die Neuorientierung fordert dazu heraus, den erreichten Forschungsstand zu bilanzieren und im Sinne eines kumu­ lativen Erkenntnisfortschritts zu sichern.

1 Das Programm der Sozialforschung »Eine institutionalisierte Dauerkontrolle gesellschaftlicher Verhält­ nisse und in wissenschaftlicher Form – und nur das ist Soziologie als Fach – rechtfertigt sich allein gegenüber einer offenen Gesellschaft, die aus Achtung vor dem einzelnen Menschen oder im Interesse der Mobi­ lisierung seiner produktiven Kräfte ihre Planung bewußt begrenzt und sich selber freie Räume ihrer eigenen Gestaltung zugesteht.« * Erweitertes Manuskript eines Vortrags, den der Verfasser anläßlich der Feier zum 25jährigen Bestehen des Instituts für Erforschung sozialer Chancen am 25. Oktober 1996 in Köln gehalten hat. Die Herausgeber danken dem Institut für die Freigabe des Manuskripts zum Abdruck.

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Ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung

»Gerade als Tatsachenforschung, nicht als normative Wissenschaft wird Soziologie heute zu einem Ferment der Kritik, zu einem Werkzeug der Freiheit.«

In diesen beiden Sätzen hat Helmuth Plessner (Der Weg der Sozio­ logie in Deutschland 1959 – Hervorhebungen im Text von mir) den gesellschaftlichen Ort und die Funktionen der Sozialforschung prägnant und – bedenken wir den Zeitpunkt: ein Jahrzehnt nach der Wiederbegründung der Soziologie – in seiner Prognose durchaus zutreffend bezeichnet: – –

die Erforschung sozialer Tatsachen, also die Empirische Sozial­ forschung, nicht die Theorie steht im Blick; offene Gesellschaft und Soziologie bedingen einander. Nur wo Freiheit von religiöser und politischer Bevormundung und Begrenzung gesellschaftlicher Macht herrscht, wo die gesell­ schaftliche Entwicklung auf Spontaneität und innovative Pro­ zesse setzt, kann auch Soziologie gedeihen, findet sie einen Gestaltungsspielraum für ihre eigene Entfaltung als Wissen­ schaft vor. Dies ist aufgrund der historischen Erfahrungen in Deutschland evident. Aber es gilt auch die Umkehrung dieses gegenseitigen Bedingungsverhältnisses.

Freiheit ist ein hoher, aber nicht der einzige gesellschaftliche Wert, den es zu sichern gilt. Freiheit als Raum persönlicher Entfaltung ver­ weist auf Chancengleichheit, meint Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen, bleibt gebunden an eine gesellschaftliche Realität, in der es Starke und Schwache, in der es Macht und Ohnmacht, in der es das Streben nach Macht, nach Überwältigung, ja nach Vernichtung des anderen gibt. Freiheit in einer offenen Gesellschaft kann daher nur bestehen, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse gerade auch in ihrem schwer vorherzusehenden Wandel transparent gemacht und in ihren Strukturen durchschaubar gehalten werden. Dies ist eine Aufgabe, die sich ständig unter jeweils neuen Konstellationen stellt. Denn in einer offenen Gesellschaft wandeln sich die Machtstruktu­ ren, entstehen neue gesellschaftliche Zwänge, verändern Stärke und Schwäche ihr Erscheinungsbild, nehmen Willkür und Elend neue Gesichter an. Sozialforschung ist daher gesellschaftliche Aufklärung, jedoch frei von dem Optimismus linearen Fortschritts, unter dem Naturwis­ senschaftler, Mediziner und Ingenieure den Sinn ihrer Arbeit deuten.

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2 Realisierungsschritte

Offene Gesellschaft und die hohe Wertschätzung der Freiheit setzen daher ihre Hoffnung auf die Soziologie – genauer gesagt – auf das in ihr enthaltene Realitätsprinzip. Wie Plessner es formuliert hat: auf »die institutionalisierte Dauerkontrolle gesellschaftlicher Verhältnisse in kritischer Absicht«, die der methodisch gesicherten Wahrheitssuche verpflichtet ist. In der Tat ein anspruchsvolles, ja ein kühnes Programm, angesichts dessen Perspektiven uns heute im Rückblick auf die seitdem vergangenen Jahrzehnte Gefühle der Skepsis, des Ungenügens, ja des Versagens befallen.

2 Realisierungsschritte Gleichwohl – wenn wir unseren Blick schärfen – fällt eine Bilanz des Beitrages, den die Sozialforschung zur gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik geleistet hat, durchaus positiv aus. In dem Bedingungsverhältnis von offener Gesellschaft und Sozi­ alforschung können wir seit dem Ende des Nationalsozialismus drei zeitlich aufeinander folgende, wenn auch sich überlappende Phasen unterscheiden. Sie sind eng mit den Projekten und dem infrastruktu­ rellen Ausbau der Sozialforschung sowie mit ihrem Selbstverständ­ nis verknüpft.

2.1 Die Demokratisierung der Gesellschaft nach der nationalsozialistischen Diktatur In der politischen und moralischen Erneuerung der Gesellschaft nach der nationalsozialistischen Diktatur – hierauf zielte die »Demo­ kratisierung« als Programm – versteht sich die Empirische Sozial­ forschung als ein »Werkzeug der Freiheit«. Themen waren Mitbe­ stimmung und Gesellschaftsbild des Arbeiters, innerparteiliche und innerverbandliche Demokratisierung, Erwachsenenbildung, geistige Erneuerung der Universitäten und der Kirchen. In diesem Prozeß der personellen Wiederbegründung der Sozialforschung war die Begeg­ nung zweier Generationen motivbildend: die der zurückgekehrten Emigranten und die der ersten Nachkriegsgeneration. Die Glaubwür­ digkeit als Zeitzeugen verband die Vertreter eines anderen Deutsch­ land mit der skeptischen Suche einer neuen Soziologengeneration, die die Fundamente nach der Stunde 0 richtig legen wollte. Diese

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Ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung

Begegnung hat der Sozialforschung in der Bundesrepublik bleibende Impulse vermittelt. In dieser Phase blieb die Infrastruktur der Sozial­ forschung eng mit der Einrichtung und dem Ausbau soziologischer Institute an den Universitäten verbunden.

2.2 Die Modernisierung der Gesellschaft Die Modernisierung der Gesellschaft vollzog sich unter programmati­ schen Reformideen: »Bildung ist Bürgerrecht«, Ausbau der Sozialen Sicherung, »Humanisierung des Arbeitslebens«, Hochschulreform, Verhältnis der Geschlechter und der Generationen, Gesundheitsre­ formen, unter ihnen herausragend die Psychiatrieenquete und die Aktionsprogramme zur Rehabilitation. Empirische Sozialforschung diente als Instrument und Wegbereiter gesellschaftspolitischer Pro­ gramme mit emanzipatorischer Zielsetzung. Im Fokus stehen die gesellschaftlichen Chancen des Einzelnen. Die gesellschaftliche Dif­ ferenzierung in die individuellen Lebenslagen hinein findet bevor­ zugte Aufmerksamkeit. In der theoretischen Orientierung schwingt das Pendel von der strukturell-funktionalen Analyse zum symboli­ schen Interaktionismus. Die Funktion der sozialwissenschaftlichen Begleitforschung wurde unentbehrlich. In dieser Phase wurden die Forschungsleistungen in wachsendem Umfang von außer-universi­ tären Instituten erbracht. Die Sozialforschung erfährt eine beispiel­ lose Entwicklung und Differenzierung. Sie diffundiert rasch in die außeruniversitäre Forschungslandschaft und verzweigt sich in die unterschiedlichsten Lebensbereiche. Soziologentage werden zu einem »Markt der Möglichkeiten«; unmittelbar anschaulich bei dem Ver­ gleich der Berliner Soziologentage 1959 und 1979!

2.3 Umbau der Gesellschaft und neuer Schub der Ökonomisierung gesellschaftlicher Verhältnisse Der Umbau der Gesellschaft im Zeichen der Globalisierung der Märkte, des Zusammenwachsens der Europäischen Gemeinschaft in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht und – eng damit verwoben – ein neuer Schub der Ökonomisierung gesellschaftlicher Verhältnisse oder – mit Max Weber gesprochen – der »fortschreitenden ökonomi­ schen Zweckrationalität«. In dieser Phase, in der wir gegenwärtig mit­

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2 Realisierungsschritte

ten drin stecken – verändert die Sozialforschung ihren Schwerpunkt. Das ihr innewohnende Realitätsprinzip fokussiert neue Inhalte. Sozi­ alforschung wird zum Mahner, von dem Prognosen in der Technik­ folgenabschätzung erwartet werden. Neben Theologen und Juristen werden Soziologen in Kommissionen berufen, die sich mit den nor­ mativen Grenzen der biomedizinischen und technischen Fortschritts beschäftigen. Sozialforschung wird zum Anwalt der Schwachen, aber auch der zukünftigen Generationen. Sie fordert gesellschaftliche Werte ein wie Solidarität, das Recht auf Arbeit, Sozialpflichtigkeit der Freiheit, Humanität, Schutz natürlicher Ressourcen, Selbstbestim­ mung. Alte Gegensätze aus dem Beginn des Jahrhunderts erneuern sich auf einer tiefgreifend gewandelten wirtschaftlichen, technischen und sozialen Grundlage – die »neue Armut«, das Gespenst der »Arbeitslosigkeit«, desintegrative Prozesse in den Städten. Das Inter­ esse wendet sich wieder verstärkt makrosoziologischen und interna­ tional vergleichenden Untersuchungen zu. Allerdings gewinnen bei diesen Untersuchungen die Kombination quantitativer und qualita­ tiver Methoden und dementsprechend »pluralistische« theoretische Orientierungen an Bedeutung. Mit dem Erlahmen gesellschaftspoli­ tischer Programme gerät die Sozialforschung zunehmend in Bedräng­ nis bei der Erhaltung ihrer Infrastruktur außerhalb, aber auch inner­ halb der Universitäten. Hier werden soziologische Professuren und Einrichtungen zum bevorzugten, vielleicht auch beliebten Objekt für das Abschmelzen von Polstern aus den »fetten Jahren«.

2.4 Zwischenbilanz Versuchen wir an dieser Stelle eine Zwischenbilanz zu ziehen. Sozialforschung hat sich in der Bundesrepublik nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur aus dem Nichts heraus mit einer erstaunlichen, ja bewundernswürdigen Dynamik entfaltet. Wohlgemerkt, die erste Nachkriegsgeneration der Sozi­ alforscher waren Autodidakten, die – wie Ceram es verklärend beschreibt – »die Hemmschuhe der Fachbildung nicht spürten, die Scheuklappen des Spezialistentums nicht kannten und die Hürden übersprangen, die akademische Tradition errichtet hatte«. (Ceram/ Marek 1995). Nach diesem Motto ist die Sozialforschung nach der Etablierung der soziologischen Institute an den Universitäten rasch aus dem

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Ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung

elfenbeinernen Turm heraus in die unterschiedlichsten Praxisfelder vorgedrungen und hat sich hier eine starke Infrastruktur aufgebaut. Sozialforschung hat auf den Sozialen Wandel der Gesellschaft in der Bundesrepublik sensitiv reagiert, ihn vielfach vorausschauend eingeleitet, ihn wissenschaftlich begleitet und unterstützt. Sozialforschung hat ihre kritische Funktion wahrgenommen. Für viele gesellschaftspolitische Programme hat sie die heißen Kastanien aus dem Feuer geholt, z. B. in der Bildungsreform der 60er Jahre, bei der Humanisierung des Arbeitslebens und bei den Aktionsprogram­ men zur Rehabilitation in den 70er Jahren, bei der Ausfüllung des Begriffs der arbeitsbedingten Erkrankungen im ASiG und bei der Vorbereitung des Pflegegesetzes sowie bei der Institutionalisierung der Gesundheitswissenschaften und des Public Health in den 80er und 90er Jahren. Ohne hier den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, machen die genannten Beispiele zweierlei deutlich – –

Sozialforschung hat sich den Herausforderungen der Praxis gestellt und dabei eine Flexibilität bewiesen, um die sie die Uni­ versitäten trotz permanenter Reformen nur beneiden können. Sozialforschung hat ihre gesellschaftsgestaltenden Möglichkei­ ten zur Entfaltung gebracht. Sie hat sich als ein zuverlässiger Partner sozialer Reformen erwiesen.

Es würde allerdings dem Realitätsprinzip der Sozialforschung wider­ sprechen, wenn in dieser Zwischenbilanz die Irrtümer und Fehlein­ schätzungen sowie offen zu Tage liegende Versäumnisse nicht zur Sprache kämen. Auch hier muß ich exemplarisch verfahren und aus­ wählen. Ganz offensichtlich werden einige wesentliche Erwartungen nicht erfüllt: a)

b)

c)

Die Kodifizierung der Ergebnisse im Sinne projekt- und themen­ übergreifender Erkenntnisse – nur sie verbürgt letztendlich, wie R. K. Merton für die Sozialforschung in den Vereinigten Staaten gezeigt hat, einen kumulativen Erkenntnisgewinn – hat nicht stattgefunden, obwohl es durchaus Vorarbeiten gibt, die genutzt werden könnten. Der Beitrag zur Theoriebildung sowohl im Sinne bereichsspezifi­ scher Theorien in den sogenannten Bindestrichsoziologien als auch im Sinne von Bausteinen zu einer Theorie der Sozialfor­ schung blieb von einzelnen Pionierleistungen abgesehen aus. Für den Wissenstransfer in die Praxis wurden bisher keine über­ tragbaren Lösungen gefunden; es blieb daher notgedrungen

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3 Strukturen der Sozialforschung

d)

e)

überwiegend bei »Insellösungen«, die eigentlich dem immanen­ ten Auftrag der Sozialforschung widersprechen. Die Praxisori­ entierung der Sozialforschung wurde durch keine »Sozialfor­ schungs-orientierung« der Praxis reziprok ergänzt. Über die Gründe gibt es m. W. nur Spekulationen. Die wissenschaftliche Begleitforschung hat die ihr zustehende Rolle der Evaluation weder professionell ausgefüllt noch konse­ quent wahrgenommen und damit eine wichtige Chance zu einer aus der Sache heraus unschwer zu begründenden Unabhängig­ keit gegenüber ihren Auftraggebern verspielt. Verbundforschung, die eine gegenseitige Abstimmung in metho­ discher und theoretischer Hinsicht erleichtert, ja aus sich heraus erzwingt und die den Ergebnissen ein stärkeres Gewicht verleiht, blieb eine seltene Ausnahme.

Das mit diesen Hinweisen beschriebene Zurückbleiben der Sozial­ forschung hinter überzeugenden, ja selbstverständlichen Erwartun­ gen, ihr performance gap betrifft ersichtlich die wissenschaftsinterne Organisation der Sozialforschung, ihre wissenschaftliche Infrastruk­ tur und Kultur. Ihnen wird daher die Wissenschaftsförderung in Zukunft verstärkt Aufmerksamkeit zuwenden müssen. Allerdings sind m. E. in erster Linie die Sozialforscher in eigener Sache gefordert, Lösungsvorschläge zu erarbeiten, z. B. eine Arbeitsgemeinschaft der Sozialforschungsinstitute mit dem Ziel zu gründen, Sozialforschung anders als nur in Methodenhandbüchern und Nachschlagewerken zu profilieren und zu kodifizieren.

3 Strukturen der Sozialforschung In den je nach gesellschaftlicher Phase unterschiedlichen Herausfor­ derungen zeichnet die Sozialforschung zwei Eigenschaften aus, die sowohl ihre Position im Wissenschaftssystem bestimmen, als sie auch ständig infragestellen: –

Der Zwang zur Interdisziplinarität: Gesellschaftliche Tatsachen »gehören« nicht allein der Soziologie. Jede Fachwissenschaft hat ihre »soziologische Dimension« (Carl Brinckmann 1952). Sozi­ alforschung muß sich daher ständig gegen die Gefahr behaup­ ten, »sich selbst zu verlieren«, ihre Identität einzubüßen und damit ihre institutionelle Basis zu verlieren (das Schicksal der

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Ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung



sogenannten Bindestrichsoziologien – wie z. B. der Bildungsso­ ziologie, Arbeitssoziologie und Medizinsoziologie – unter dem Sparzwang an den Universitäten enthält eine unübersehbare Mahnung zum akademischen Stellenwert der Interdisziplinari­ tät). Die Notwendigkeit, die Realität gegen Wunschvorstellungen gleich welcher Art zu behaupten, sie offenzulegen, unbequeme, ja unerwünschte Tatsachen in der Öffentlichkeit zu vertreten. Sozialforschung kann ihre Funktion, das Realitätsprinzip gegen Wunschvorstellungen aufrechtzuerhalten, nur mit politischer Unterstützung, sei es der öffentlichen Meinung, sei es von gesellschaftlichen Gruppen, sei es der politischen Institutionen erfüllen – diese Bedingung gilt in einer wertpluralistischen Infor­ mationsgesellschaft verstärkt –, zugleich aber muß sie in diesen Zweckbündnissen ihre Unabhängigkeit wahren. Sozialforschung muß sich der Paradoxie stellen, wertbezogen zu arbeiten, also Position zu beziehen, Anwalt zu werden, »Partei« zu nehmen, Koalitionen zu bilden, aber zugleich wertfrei, unabhängig, allein den Tatsachen verpflichtet zu bleiben.

4 Kontinuität und kumulativer Erkenntnisgewinn Aus beiden Struktureigenschaften der Sozialforschung ergeben sich spezifische Probleme ihrer Institutionalisierung. Sie betreffen nur äußerlich gesehen ihre Infrastruktur. Im Kern berühren sie ihre Identität und Kontinuität; der kumulative Erkenntnisgewinn der Sozialforschung gerät in Gefahr. a)

b)

Ihre Interdisziplinarität gerät je länger desto stärker in Konflikt mit der monodisziplinären Spezialisierung an den Universitäten (»immer mehr von immer weniger zu wissen«). Dieser Prozeß scheint unaufhaltsam zu sein. Spezialisierung prägt das Rollenund Karriereverständnis in der Wissenschaft; Sozialforschung gerät an den Universitäten in eine Außenseiterposition. Ihr Realitätsprinzip und – damit unauflöslich verbunden – ihre Wertorientierung kontrastieren zunehmend zur positivistischen Werthaltung an den Universitäten. Sozialforschung wird in völ­ liger Verkennung ihres »Gegenstandes« – nichts ist so hart und widerständig auch gegenüber dem Beobachter wie gesellschaft­

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5 Kodifizierung der Ergebnisse

liche Verhältnisse – den sogenannten »weichen« Wissenschaf­ ten zugerechnet. Und die Folge aus ihrer prekären Position an den Universitäten. c)

Ihre starke außeruniversitäre Verankerung steht unter einem doppelten Risiko – dem der Provinzialisierung, weil ihre Basis an den Universi­ täten schwindet, und – dem des Verlustes der Unabhängigkeit, weil die Abhängig­ keit von wechselnden Auftraggebern, die Parzellierung der Aufträge und der ständige Zwang zur Akquisition von Mit­ teln zu wenig Spielraum für die theoretische Verarbeitung und Aneignung des Erforschten lassen.

Beide Risiken stehen einem kumulativen Erkenntnisgewinn im Wege, und nur dieser verbürgt letztlich den Fortschritt in der Sozialforschung. Wenn also offene Gesellschaft und Sozialforschung wechselsei­ tig aufeinander angewiesen sind – und dies war die Ausgangsthese –, dann ergeben sich aus der Anerkennung dieses Bedingungsgefüges klare Optionen für die Wissenschaftspolitik und für die Förderung der Sozialforschung.

5 Kodifizierung der Ergebnisse Wie kann es in der Empirischen Sozialforschung einen kumulativ fort­ schreitenden Erkenntnisprozeß geben? Im positiven ebenso wie im negativen Sinne drängt diese Frage auf eine Beantwortung. Über die verschiedensten gesellschaftlichen Tatsachen liegt heute eine kaum noch überschaubare, dazu überwiegend bibliographisch unzureichend erschlossene und nicht nur aus diesem Grunde kaum genutzte Fülle an Forschungsberichten vor. Was steht einer vertiefenden, auf weiter­ führenden Erkenntnisgewinn gerichteten Auswertung im Wege? Der offensichtliche, jedem Leser soziologischer Veröffentlichun­ gen vertraute, aber selten ernsthaft beklagte Mißstand, daß selektiv oder zufällig der »Stand der Forschung« aufgearbeitet wird, hat meh­ rere einsichtige Gründe. Zunächst fällt auf, daß die an den Univer­ sitäten kultivierten Standards in der Empirischen Sozialforschung, wenn überhaupt, dann nur mit starken Einschränkungen Beachtung finden. Die Abnabelung der Empirischen Sozialforschung von den

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Ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung

Universitäten fordert ihren Preis. Die sorgfältige,- auf Vollständigkeit gerichtete Aufarbeitung des Forschungsstandes stößt hier an »natür­ liche Grenzen«. »Forschungsberichte« werden unzulänglich dokumentiert und sind als »graue Literatur« schlecht verfügbar. Die fleißige Samm­ lertätigkeit von Diplomanden und Promovenden, die an den Uni­ versitäten wissenschaftliche Themen in Metaanalysen aufbereiten und damit wesentlich zur Dokumentation und Fortschreibung des Forschungsstandes beitragen, entbehrt in der außeruniversitären Sozialforschung der Funktion, da diese nur die für spezifische auf­ tragsgebundene Fragestellungen »relevante« Literatur verwertet. Der Forschungsstil der Drittmittelforschung verträgt keine Metaanalysen als Selbstzweck. Sie haben hier keinen »Preis« – zugegebenermaßen haben sie auch an den Universitäten häufig nur noch eine symboli­ sche Funktion. Ernster ist schon die Tatsache zu werten, daß Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften, also in den Zentralorganen der sci­ entific community, eine nachrangige Bedeutung gegenüber anderen Formen der Mitteilung haben. Die Ergebnisse der Auftragsforschung und die Suche der Forscher nach Anerkennung haben sich andere Öffentlichkeiten erschlossen. Berichte an Auftraggeber und Förderer, Vorträge auf workshops sowie deren nachträgliche Veröffentlichung in Sammelbänden dienen der Bekanntmachung von »Gewolltem und Erreichtem«, tragen aber außer mit ihrer dokumentierenden Funk­ tion wenig zum Erkenntnisfortschritt bei. Nur selten einmal stehen »Vorwort« oder »Einleitung«, »Zusammenfassung« oder »Schlußbe­ merkung« unter dem Ziel kumulativer Erkenntnisfortschreibung. Der an den Universitäten kultivierte Standard, Forschungsergebnisse in den Organen einer scientific community in der Erwartung zu publizieren, sie einer kritischen Fachöffentlichkeit vorzustellen, um sie in einen gemeinsam getragenen, fortschreitenden Erkenntnispro­ zeß einzuspeisen, hat sich in der Empirischen Sozialforschung nicht eingespielt. Neben und – ihrer quantitativen Bedeutung nach – an die Stelle der scientific community sind neue wissenschaftliche Kommunikationsformen in der Absicht getreten, Ergebnisse der Empirischen Sozialforschung öffentlichkeitswirksam zu verbreiten, den Erfahrungsaustausch unter den Forschern, vor allem aber mit den Zielgruppen des Forschungsthemas zu fördern, um auf diese Weise für die Arbeit von Instituten und Arbeitsgruppen zu werben.

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5 Kodifizierung der Ergebnisse

Im eigenen Interesse unterstützt und gefördert wurde diese community of discourse durch Einrichtungen und Organisationen, die sich auf den Diskurs zwischen Sozialwissenschaftlern und ihren Bezugsgruppen aus der Praxis spezialisiert haben – Hans Paul Bahrdt hat diese Spezies sehr treffend die »Zwischenträger« genannt. Sie balancieren zwischen Sozialforschung und Praxis, verstehen von bei­ dem genug, um darüber »gescheit« reden zu können, sind aber außer in der Aufrechterhaltung des Diskurses unter immer neuen, gerade aktuell erscheinenden Themen nirgends positioniert oder – wie Rudolf Tartler es zu Beginn dieser neuen Kommunikation im Blick auf die Akademien und ihre Tagungen formuliert hat – »es tagt und tagt und wird nicht hell!« Beide, Sozialforschung und ihre Bezugsgruppen in der Praxis, sind allerdings an einem Diskurs in einer durch Auswahl beschränkten Öffentlichkeit auf einem unverbindlichen Terrain inter­ essiert, ja zum raschen Umschlag von »Ergebnissen« angewiesen. Akademien, Tagungs- und Begegnungsstätten, Wissenschaftszentren bis hin zu Tagungshotels haben sich dieses Bedürfnisses erfolgreich angenommen – nur auch dieses wissenschaftliche Verkehrsgewerbe ist an einem kumulativen Erkenntnisfortschritt nicht interessiert. Ein Thema, oft von den Massenmedien bereits hochgespielt, ersetzt das andere, das pointierte Statement die Sache, ehe es zum Nachdenken und Sichten überhaupt kommen kann. Oder – um es mit einem kritischen Begleiter der empirischen Sozialforschung, Theodor W. Adorno, zu sagen: »Im Eifer zu sagen, was sein soll, wird übersehen was ist.« Doch dies ist alles nur zu bekannt. Es beschreibt die Bedingungen der Möglichkeit, unter denen sich so etwas wie ein kumulativer Erkenntnisprozeß in der Sozialforschung einspielen könnte. Es beant­ wortet allerdings nicht die Frage, was unter günstigeren Bedingun­ gen eintreten würde. Oder, um es in einem Bilde zu sagen: Die Kommunikationsformen verweisen auf das Fehlen der Krüge, in die man den Wein schütten könnte, sagen aber nichts über die Trauben, Kelterung und Gärung des Weins, ja, ob man denn überhaupt Wein statt Wasser auszuschenken versteht. An dieser Stelle ist es m. E. hilfreich sich eines ersten bahnbrechenden Kodifizierungsversuchs in der Empirischen Sozialforschung an R. K. Mertons »Social theory and social structure« zu erinnern. Jede Kodifizierung wissenschaftlicher Erkenntnisse erwartet theoretische Vorgaben, aufgrund derer Einsichten, die unter spezi­ fischen Fragestellungen gewonnen wurden, in einen breiteren, grund­

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Ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung

begrifflich gesicherten Rahmen gestellt werden können. Kodifizieren heißt, einsichtig begründete wechselseitige Beziehungen zwischen allgemeinen, theoretisch gestützten Begriffen und methodisch gesi­ cherten Beobachtungen herzustellen. Kodifizieren erfüllt stets zwei Absichten, die Anwendungschancen von Begriffen zu erweitern und die Gültigkeit von Beobachtungen zu verallgemeinern. Die Kodifizie­ rung von Ergebnissen der Empirischen Sozialforschung kann also ohne theoretische Annahmen über konstituierende Bedingungen gesellschaftlicher Tatsachen nicht einen kumulativen Erkenntnispro­ zeß einleiten. Aus diesem Grunde war es notwendig, sich eingangs über die gesellschaftlichen Prozesse Gedanken zu machen, die die Entwicklung der Sozialforschung bisher bestimmt haben. Empirische Sozialfor­ schung hat die gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik von Beginn an wissenschaftlich begleitet, sie stellte sich in den Dienst gesellschaftspolitischer Absichten der Demokratisierung, der Moder­ nisierung und des sozialpolitischen Umbaus. Ihre dienende Funktion erschöpft sich allerdings nicht in der Instrumentalisierung für eine Feinsteuerung der gesellschaftspolitisch induzierten Prozesse, son­ dern vollzieht sich mit ausdrücklichem Bezug auf gesellschaftliche Werte wie Begrenzung und Kontrolle politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht, Chancengleichheit, individuelle Freiheit, gesellschaftliche Integration von Gruppen, die durch Ausgrenzung und Isolation bedroht sind – Sozialforschung »ein Ferment der Kritik und ein Werkzeug der Freiheit« also. Die theoretischen Annahmen, die der Empirischen Sozialfor­ schung den Weg zu den gesellschaftlichen Tatsachen bahnen, die also das tragen sollen, was im Jargon »soziologische Rekonstruktion« gesellschaftlicher Gegebenheiten bezeichnet, betreffen Strukturen und Prozesse, also ein gesichertes Wissen über das, was Tatsachen als im spezifischen Sinne »gesellschaftliche« kennzeichnet. Hierüber besteht ungeachtet eines pluralistischen Verständnisses von soziolo­ gischer Theorie Einverständnis. Die theoretischen Annahmen betreffen aber in herausgehobener Weise auch den Wertbezug, der den gesellschaftlichen Tatsachen zukommt, ihnen Sinn verleiht. Die Kodifizierung des Sinn- oder Wertbezuges stellt sich daher für die Empirische Sozialforschung als eine um so dringlichere Aufgabe heraus, je mehr sie in gesellschafts­ politische Absichten involviert wird. In dieser Einbeziehung, in der wissenschaftlichen Begleitung gesellschaftlicher Transformation lag

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5 Kodifizierung der Ergebnisse

gerade – wie wir gezeigt haben – ihre große Entwicklungschance in der Bundesrepublik. Die Kodifizierung des Wertbezuges unterscheidet die Situation der Empirischen Sozialforschung in den 90er Jahren in Deutschland von dem ersten großen Versuch, aus dem Fundus der Sozialforschung einen kumulativen Erkenntnisprozeß einzuleiten. R. K. Mertons »Theorien der mittleren Reichweite« waren von der theoretischen Vorstellung geprägt, daß gesellschaftliche Strukturen und Prozesse sich aus dem »großen Markt« (Polanyi) der kapitalistischen Wirt­ schaftsgesellschaft heraus entwickeln. Dementsprechend verstand sich die soziologische Theorie überwiegend als eine komplementäre Erweiterung der Wirtschaftswissenschaften. Beider Gegenstand war die Marktgesellschaft, die sich unter dem demokratischen Rechtsstaat nach der Überwindung des Absolutismus in Westeuropa und Nord­ amerika entwickelt hatte. Diese theoretische Position liegt auch dem hier eingangs zitierten Beitrag von Helmuth Plessner »Der Weg der Soziologie in Deutschland« zugrunde (Chr. von Ferber 1995). Die westeuropäischen Wirtschaftsgesellschaften haben nach dem Zweiten Weltkrieg den Handlungsspielraum, den das Wirt­ schaftswachstum der Nachkriegsperiode unter der Pax Americana ihnen eröffnete, für gesellschaftspolitische Programme genutzt, ja auf diesem Feld untereinander gewetteifert. Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung diente nicht allein der Verteilung des Wohlstandes, sondern verfolgte ausdrücklich soziale Ziele wie Gewährleistung von mehr Chancengleichheit in bezug auf Bildung, Gesundheit, Teilhabe am Erwerbsprozeß, gesellschaftliche Integration, Gewährleistung von Sozialer Sicherheit bei wirtschaftlicher Not, Krankheit, Behinde­ rung, Alter und Pflegebedürftigkeit, Gewährleistung individueller Freiheit. Die genannten sozialen Ziele blieben in ihrer Verwirklichung nicht auf programmatische Aussagen zur Etikettierung wahlpoli­ tisch kalkulierter Vorhaben beschränkt, sondern wurden schrittweise gesetzlich (z. B. in einem eigens zu diesem Zweck geschaffenen Sozialgesetzbuch) und institutionell (z. B. Bildungseinrichtungen, System Sozialer Sicherheit, Beauftragte für Gleichstellung, Behin­ derte, Datenschutz etc.) verankert. Viele Untersuchungen der Empiri­ schen Sozialforschung beschäftigen sich mit der faktischen Geltung der normativ und institutionell verbürgten sozialen Ziele. Wirkungs-, Evaluations- und Qualitätsforschung bezeichnen Typen und Verfah­ ren der Empirischen Sozialforschung. Max Planck Institute, Wissen­ schaftszentren und Forschungsprogramme wurden eigens zu dem

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Ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung

Zweck eingerichtet und aufgelegt, um die Beziehungen zwischen der Realität (sie ist eben nicht allein soziologischer Methodik gegeben) und den sozialen Zielen (sie bleiben ungeachtet ihrer normativen Verbürgung auslegungsbedürftig) zu untersuchen. Für den Soziologen stellt sich die gesellschaftliche Entwicklung der westeuropäischen Wirtschaftsgesellschaften in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg daher als eine Summe von Experimenten dar, die die Gesellschaft mit sich selbst veranstaltet hat und die durch die Sozialforschung wissenschaftlich begleitet wurden. Diese »Expe­ rimente« – und das allein rechtfertigt die Übertragung des Begriffs – standen unter »Hypothesen« (den sozialen Zielen). Sie können daher sowohl in bezug auf ihre Ziele (waren sie realitätsgerecht formuliert?) und auf die eingesetzten Mittel (waren sie tauglich?), als auch auf ihre Ergebnisse hin (erwartete? unerwartete? keine?) ausgewertet werden. Selbst unter dem Eindruck der gegenwärtigen Krise der west­ europäischen Wohlfahrtsstaaten haben wir derzeit keinen Anlaß anzunehmen, daß die westeuropäischen Wirtschaftsgesellschaften in einen frühkapitalistischen Liberalismus, in faschistoide oder in »real existierende sozialistische« Gesellschaftsformationen regredie­ ren werden. Sie werden »offene Gesellschaften« bleiben. Vielmehr ist anzunehmen, daß die weitere Entwicklung von gesellschaftspoli­ tischen Programmen, sei es deren Fortschreibung, Korrektur oder Abbruch, seien es innovative Schübe wesentliche Themen der Poli­ tik bleiben werden. Nichts sollte daher in Zukunft von der Sozial­ forschung stärker gefragt werden als eine nüchterne Rechenschaft über den seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erreichten Stand. Bestandsaufnahmen der sozialen Ziele, der eingesetzten Mittel, des Grades der Zielerreichung und der unerwarteten Nebenfolgen sind dringend geboten im Interesse der künftigen gesellschaftlichen Ent­ wicklung, aber auch in der konsequenten Weiterverfolgung des bishe­ rigen Weges der Empirischen Sozialforschung. Es ist hier nicht der Ort, auf bereits erkennbare Ansätze der Zukunftsperspektive der Sozialforschung einzugehen. Ich möchte mich hier darauf beschränken auf zwei Suchmuster hinzuweisen, unter denen zukunftsweisende Entwicklungen sichtbar werden. Merton machte Erkenntnisfortschritte in der Sozialforschung an Konvergenzen bisher getrennt verlaufender Forschungsprozesse fest. Derzeit sind eine Reihe von Konvergenzen eingetreten, die paradigmatische Neuorientierungen zur Folge haben, z. B. in der Stressforschung (Arbeits- und Medizinsoziologie, Arbeitsschutz),

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6 Zukunftsperspektive der Sozialforschung

in der Gesundheitssystemforschung (Soziologie der Professionen, Organisations- und Selbsthilfeforschung), in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Gesundheitspolitik (Soziologie der Sozialpo­ litik, Verwaltungswissenschaft, Konsumforschung) etc. Allein eine Liste solcher Knotenpunkte der Empirischen Sozialforschung würde einen sichtbaren Fortschritt auf dem Wege kumulativer Erkenntnisgewinnung einleiten (z. B. Meulemann 1996). Kaum bemerkt hat sich ein Paradigmenwandel in der Bewertung von Struktur und Funktion vollzogen. Die vordergründige Beschäf­ tigung mit gesellschaftlichen Strukturen mit dem Ziel der Struktur­ veränderung durch Machtverschiebung weicht zunehmend einer Hin­ wendung zu den Funktionen von Systemen. Funktionsanalysen von Sozialsystemen und Organisationen, Suche nach intelligenten Funk­ tionsergänzungen und -erweiterungen, Untersuchungen zur Funk­ tionserfüllung werden zunehmend nachgefragt und durchgeführt. Sichtbares Zeichen hierfür ist das verstärkte Interesse an Evaluation und Qualität der durch die Modernisierung in den 70er und 80er Jah­ ren in gesellschaftspolitischer Absicht geschaffenen Einrichtungen.

6 Zukunftsperspektive der Sozialforschung Die Analyse hätte ihren Zweck verfehlt, wenn sie für die anstehenden Probleme keine Lösungsperspektive aufzeigen würde. Im Kern geht es m. E. darum, vor allem eine Antwort auf zwei Fragen zu finden: –



Haben die Sozialforscher die Herausforderungen, die der Umbau der Gesellschaft im Zeichen der Ökonomisierung stellt, für ihre eigenen zukünftigen Aufgaben richtig erkannt? Können Position und Beitrag der Sozialforschung in dieser neuen Phase gesellschaftlicher Entwicklung konsensfähig nach innen und überzeugend nach außen dargestellt werden? Werden die Sozialforscher die Schwächen ihrer wissenschaftli­ chen Selbstorganisation beheben können, werden sie die im Zuge der Ökonomisierung aller Lebensbereiche immer hartnäckiger gestellte Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen der Sozialfor­ schung mit einer offensiven Strategie beantworten, die einerseits die gesellschaftlichen Werte offenlegt, denen die Sozialforschung verpflichtet ist, und anderseits sich für die Qualität der eigenen Arbeit verbürgt?

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Ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung

Die Sozialforschungsinstitute spüren die Herausforderungen einer veränderten gesellschaftspolitischen Situation bereits seit einigen Jahren – nicht zuletzt deswegen, weil die Akquisition von Projek­ ten zunehmend schwieriger wird. Aber auch die Fragestellungen haben sich gewandelt. Öffentliche Förderprogramme setzen nicht nur infolge der finanziellen Engpässe ihre Priorität bei den Naturwis­ senschaften, insbesondere bei der biomedizinischen Forschung, der Technik und Ökonomie in der Erwartung, mit dieser Schwerpunkt­ setzung dem Wirtschaftsstandort Deutschland am besten zu dienen. Dahinter steckt die gewandelte Einschätzung, die Sozialforschung habe ihr innovatorisches und emanzipatorisches Potential verspielt und könne allenfalls noch in Unterstützung von Theologie und Rechtswissenschaft zur Technikfolgenabschätzung beitragen. Dabei wird die einfache, auf der Hand liegende Frage gar nicht erst gestellt, ob denn der erreichte Wohlstand in der Bevölkerung und die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebauten demokratischen, politischen und sozialen Institutionen sich den anstehenden Herausforderungen auch auf Dauer gewachsen zeigen werden. Aus der Sicht der Sozi­ alforschung verkennt diese in der Wissenschaftspolitik verbreitete Einschätzung Entstehung und Grundlage dieser Institutionen. Die demokratischen und sozialen Institutionen in Deutschland sind in den beiden vorangegangenen Phasen der Demokratisierung und Modernisierung der Gesellschaft durch die Mobilisierung und durch das Engagement breiter Bevölkerungsschichten geschaffen worden. Mangels historischer Traditionen vollziehen Bürger und Bürgerinnen ihre Identifikation mit der Bundesrepublik mit den Institutionen, die ihnen demokratische Beteiligung, Schutz gegen Benachteiligung, Soziale Sicherheit und gesellschaftliche Integration verbürgen. Aus diesem Grunde gewinnt der Umbau des Sozialstaa­ tes in Deutschland vermutlich eine tiefere Bedeutung für das gesell­ schaftspolitische Klima als in den übrigen westeuropäischen Ländern, deren Selbstbewußtsein in historisch gesättigten demokratischen Traditionen wurzelt. Unter dem Leitgedanken, daß die unter weltwirtschaftlichen Zwängen als unausweichlich erscheinende Veränderung des Sozial­ staates das Gesellschaftsbild breiter Schichten, ja ihr Vertrauen in eine von ihnen geschaffene Gesellschaft in sensiblen Bereichen berührt, sind daher intensive Anstrengungen der Sozialforschung gefragt und bleiben nicht auf die Technikfolgenabschätzung beschränkt.

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6 Zukunftsperspektive der Sozialforschung

Es stellen sich Fragen, die eigentlich nur die Sozialforschung beantworten kann: Wie werden die Menschen sich in ihrer Lebens­ gestaltung und in der Zukunftsplanung, im politischen Bewußtsein verhalten? Wie wird es um die soziale Integration vieler Menschen bestellt sein, wenn die anhaltende Strukturschwäche des Arbeits­ marktes und der demographische Wandel eine Reorganisation sozia­ ler und politischer Institutionen erzwingen? Diese Fragen bedürfen in gleicher Weise vorausschauender Bearbeitung, wie die Vorhaben der Molekularbiologie, der Gentechnik oder der »Informationsge­ sellschaft«. Auch wäre es naiv zu meinen, die Antworten aus den politischen Parteien und Verbänden stellten die Menschen bereits zufrieden, deren Lebenslage und deren Zukunftserwartungen ganz entscheidend von öffentlich finanzierten Leistungen abhängen. In der Beantwortung solcher Fragen kann die Sozialforschung auf einen beeindruckenden Fundus an Untersuchungen aus den vergan­ genen Jahrzehnten zurückgreifen. Gerade ihre Ausbreitung in die ver­ schiedensten Lebensbereiche und die thematische Ausdifferenzierung ihrer Fragestellungen haben sowohl zu einer Verfeinerung der Metho­ den geführt als auch inhaltliche Ergebnisse dokumentiert, deren systematische Sekundäranalyse unter den neuen Fragestellungen vielversprechend erscheint. Denn die Herausforderungen, die sich aus dem Umbau der Gesellschaft unter dem Zwang einer umfassenden Ökonomisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ergeben, erwarten von der Sozialforschung Analysen, die das gegebene empirische und theoretische Wissen voll ausschöpfen. Solche Analysen verlangen zumindest in ihrem ersten Schritt Zusammenfassungen und Verdich­ tungen von Untersuchungen, die in den zurückliegenden Jahren eine detaillierte Aufnahme gesellschaftlicher Lebensverhältnisse vor­ genommen haben. Die stärkere Orientierung an bereichsübergreifenden Fragestel­ lungen, z. B. zum Thema Arbeit (Peter 1997), liegt zugleich im Eigeninteresse der Sozialforschung, die Ergebnisse ihrer bisherigen Forschungsaktivitäten zu reflektieren und zu bilanzieren, um auf diesem Wege die Kontinuität ihres kumulativen Erkenntnisgewinns zu sichern und ihre Identität als Sozialforschung im System der Wissenschaften zu festigen.

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Ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung

Literatur Adorno, Theodor W (1957): Soziologie und empirische Forschung; in: Klaus Ziegler (Hg.) (1957): Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner. Göttingen, 245–260 Ceram, C. W., Kurt W. Marek (1995): Götter, Gräber und Gelehrte. Reinbek Merton, Robert K. (1957): Social theory and social structure. Introduction: Consolidation of Social Theory and Research. Codification of Sociological Theory; in: The Free press, Glencoe, Illinois, 3–16 Meulemann, Heiner (1996): Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteil­ ten und wieder vereinten Nation. Weinheim und München Peter, Gerd (1997): Theorie und Praxis der Arbeitsforschung. Frankfurt / New York Plessner, Helmuth (1966): Der Weg der Soziologie in Deutschland; in: Helmuth Plessner (1966); Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursozio­ logie. Düsseldorf, 36–54 von Ferber, Christian (1996): Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit?; in: Jürgen Friedrich, Bernd Westermann (Hg.) (1996): Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner. Frankfurt/Main, 327–335

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Teil 3 Studien zur Medizinsoziologie

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

Dem nachfolgenden Aufsatz, dessen Veröffentlichung wir im Mai-Heft 1967, Seite 111, ankündigten, liegt das im wesentlichen unveränderte Manuskript eines Vortrages zugrunde, den der Verfasser im März d. J. bei einer für den Bereich der LVA Hannover veranstalteten Fortbildungs­ tagung vor Vertrauensärzten hielt. Die Schriftleitung

Der werbetechnische oder propagandistische Akzent im Thema mei­ nes Referates »Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie« ist nicht unabsichtlich formuliert, sondern kenn­ zeichnet die Situation. Wir stehen heute, wenn ich recht sehe, in einem Stadium der Neuorientierung der medizinischen Forschung. Die spektakulären Neugründungen von medizinischen Ausbildungs­ stätten, die einen publizistischen Ausschlag bis in die Boulevardblät­ ter hinein nach sich ziehen, stehen im Zeichen wissenschaftlicher Neubesinnung. Der große politische Aufwand der Gründungsfeier­ lichkeiten und die »atemberaubenden« finanziellen Kosten können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Anstrengungen auf dem Gebiet der medizinischen Ausbildung und Forschung Ausdruck einer Krise sind. Als Nicht-Mediziner muß ich hinzufügen, daß ich den Ausdruck »Krise« hier als soziologischen Fachterminus verwende; ich versuche einen gesellschaftlichen Zustand zu diagnostizieren, ich verfolge dabei nicht etwa die Absicht, den von diesem Zustand primär betroffenen Personen zu nahe zu treten. Denn Soziologie ist keine Kriminalistik, die dem Verschulden der menschlichen Schwäche einzelner Personen nachspürt, sondern eine Denkmethode, die die überindividuellen Bedingungen erforscht, die ein Kollektiv von Perso­ nen in eine gleichsam zwingende Lage versetzt. Aus dieser Lage gibt es für den einzelnen in der Regel kein Entrinnen, auch wenn wir diese Lage unter bestimmten Wertvorstellungen als verwerflich beurteilen. Das Vordringen der epidemiologischen Forschung, das wir gegenwärtig in allen Zweigen der Medizin beobachten können, läßt

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

sich nur auf dem Hintergrund des Zustandes verständlich machen, den ich als »Krise« bezeichnet habe. Diese Krise geht hervor aus einem Mißverhältnis zwischen der Organisation der medizinischen Forschung und der Aufgabenstellung in der Therapie.1 Wenn Sie es 1 Als Beleg seien zwei prononcierte Äußerungen hier zitiert: Der Beitrag von Kisker bezeichnet eine zwingende Neuorientierung in der Psychiatrie. Die Bemerkungen von Rainer sind seinem Gutachten für die Sozialenquete entnommen und weisen auf die Schwächen des deutschen Gesundheitswesens hin. Die ambulante Psychiatrie wird vermutlich die Psychiatrie am Krankenbett bald in Praxis, Theorie und Ausbildung überholen. Klinische Erfahrung seit 150 Jahren unter den quasi-experimentellen Bedingungen eines beinahe unverändert gebliebenen Stationslebens herausgebildet, erfährt nach dem Versuch einer psychodynamischen Umbildung, die bei aller Bemühung um Aneignung des Haltbaren an Psychoanalyse oberflächlich bleiben mußte, heute eine produktive Zersetzung durch neue Erfahrun­ gen an jenen Kranken, welche man in stetig zunehmender Zahl extramural, frei von Verhaltens-Artefakten unserer Institutionen, zu studieren beginnt. Zwar streben unsere Anstalten noch vornehmlich danach, die Klinik zu imitieren, »klinisch« zu werden in Namensgebung und vorweisbaren Aufnahme-Abteilungen, zwar scheinen sie ihre gültige, lehrbuchmäßige Rechtfertigung in einer »Klinik der ›Anstalts‹-Psychiatrie« zu finden; jedoch griffen W. Schulte, als er dieses Buch konzipierte, und mit ihm eine Reihe »anstalts«-psychiatrischer Kollegen weit über die Mauern ihrer Häuser hinaus, wenn sie Werden und Vergehen der Verrücktheit aus einem originären lebensweltlich-sozietären Zusammenhang heraus ins Auge faßten. Schätzungen jenes Gremiums psychiatrischer Experten, welches während der letz­ ten Jahre vergleichsweise umfassende Erfahrungen über zeitgemäße Formen der psychiatrischen Versorgung großer Bevölkerungsgruppen sammelte, zeigen, daß etwa die Hälfte der zur Zeit noch hospitalisierten Kranken außerhalb des psychiatrischen Krankenhauses betreut und gehalten werden könnte, wenn man sich entschließen würde, ein hinreichend dichtes Netz halbambulanter Einrichtungen zu schaffen. K. P. Kisker; u. a.: Psychiatrie ohne Bett, in: »Der Nervenarzt« 38. Jahrgang, 1967, S. 10 bis 15 (Hervorhebungen im Text vom Verfasser). Das geschärfte soziale Gewissen, die vertieften Erkenntnisse der sozialen und medi­ zinischen Zusammenhänge, der psychosomatischen Faktoren, die immer stärker in Erscheinung tretenden Zivilisationskrankheiten, die Altersverschiebung erfordern zwingend eine zielbewußte Vorsorge ... Doch fehlt es heute noch sehr weitgehend an systematischer Grundlagenforschung im vernachlässigten Zwischenbereich von »Gesund – Krank«. Dass es so ist, läßt sich historisch leicht erklären. Forschungsstätten sind vorwiegend die Kliniken. Ihr »Material« ist der nachweisbare Kranke. Retrospektiv gibt es spekulative Überlegungen des Warum und Wieso. Erst eine breite, aber gezielte Grundlagenforschung bei nicht manifest Kranken könnte Kriterien aufdecken, die für rationelle Vorsorgemaßnahmen unerläßlich sind ... Es fehlte an Initiative, an hochwertigen, sozialhygienischen Instituten, die mindestens gleich wichtig sind wie die zahlreichen hygienischen-bakteriologischen Institute ... Bedenkt man, daß für eine gezielte Vorsorgekurverschickung (oder auch für andere Maßnahmen wie Berufswechsel usw.) eine sehr eingehende Untersuchung nach vorhergehender inten­ siver Anamnese und eine klare Einbeziehung der häuslichen, beruflichen und psy­

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

gestatten, können wir von einem Konflikt zwischen Fortschritt und Erfolg auf der einen und etablierten Herrschafts- und Besitzansprü­ chen auf der anderen Seite sprechen. Die epidemiologische Forschung, die, wie ihr Name schon an­ deutet, geschichtlich auf die Entdeckung, Erforschung und Bekämp­ fung der Infektionskrankheiten zurückgeht, stellt den Versuch dar, eine gewandelte Gesundheits- und Gesellschaftssituation medizi­ nisch-ärztlich wieder in den Griff zu bekommen. Eine ebenso kurze wie treffende Definition der Epidemiologie bezeichnet diese als »Erforschung der Krankheit unter dem Gesichtspunkt der Masse«. Sie dient der »Messung bestimmter Krankheitsanfälligkeiten« innerhalb von Populationen oder Merkmalskollektiven »sowie der Klärung ihrer Entstehung und Ausbreitung«. »Sie ist eine Methode, keine Theorie.«2 Oder sagen wir es deutlicher: Sie ist ein übergreifender Denkansatz, der eine Vielzahl von Forschungsmethoden unter sich vereinigt. Unter diesen bilden die Forschungsmethoden der Soziolo­ gie eine Gruppe. Ich habe daher hier von dem Beitrag meines Fachge­ bietes für einen neuen Denkansatz in der Medizin zu handeln. Aus diesem Grunde muß ich einige Bemerkungen über die wissenschaftsund sozialgeschichtliche Situation vorausschicken, von der her sich die epidemiologische Forschung begründet. Als Erforschung der Krankheit unter dem Gesichtspunkt der Masse steht die Epidemiologie in ausgesprochenem Gegensatz zu zwei Selbstverständlichkeiten des ärztlichen Handelns bzw. der medi­ zinischen Forschung. Sie sprengt das Arzt-Patienten-Verhältnis im herkömmlichen Sinne. Indem die Epidemiologie sich für die Morbi­ dität einer Bevölkerung interessiert, tritt auch der Patient in ihren Gesichtskreis, der noch keinen Arzt aufgesucht hat, u. U. nie einen Arzt aufsuchen wird. Die therapeutische Zielsetzung geht daher über chologischen Faktoren in die ärztliche Überlegung notwendig sind, so verlangt der Einzelfall ein bis zwei Stunden Aufwand. Er kann dadurch nicht wesentlich verkürzt werden, weil gelegentliche Betreuung schon ein gewisses Bild des Patienten ergibt ... Wenn Hunderttausende zu untersuchen sind, dann ergibt sich ohne weiteres, daß die praktizierende Ärzteschaft, die jetzt schon in der Regel durch das herrschende System überfordert ist, das einfach nicht schaffen kann. Deshalb sind kritische Überlegungen vor einer einzuleitenden (eventuell gesetzlich verankerten) Maßnahme geboten. Dr. A. Rainer, Bemerkungen zur Gesundheitspolitik, in Sozialenquete, Anlagenband, Bonn o. J. (1966), S. 136 bis 138 (Hervorhebungen im Text vom Verfasser). 2 Vgl. Karl Peter Kisker, Einleitung zu D. D. Reid, Epidemiologische Methoden in der psychiatrischen Forschung, Stuttgart 1966.

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

die herkömmliche Applizierung ärztlicher Kunst an den Patienten hinaus. Die ärztliche Sprechstunde ist nur ein Weg neben anderen, das in der epidemiologischen Forschung gewonnene Wissen in therapeu­ tisches Handeln zu übersetzen. Gleichwohl – und das unterscheidet die heutige Situation von der der hygienischen Maßnahmen zur Vorbeugung gegen Infektionskrankheiten – beschränkt dieser Zugriff sich nicht auf technisch-administrative Verfahren. Da die krankheits­ begünstigenden Faktoren, mit denen die epidemiologische Forschung unserer Tage konfrontiert wird, weniger die physische oder juristisch verfügbare Umwelt betreffen, sondern weit stärker der gesellschaft­ lichen Gestaltung bzw. der Privatautonomie anheimgegeben sind, ist die Therapie auf andere Wege der Vermittlung angewiesen. Die Beeinflussung großer Menschenkollektive stellt sich hier als Aufgabe, sei es durch Aufklärung über die sogenannten Risikofaktoren (das Rauchen, die Eßgewohnheiten), sei es in der systematischen Entwick­ lung dessen, was wir heute mit dem etwas säuerlich-gouvernanten­ haften Ausdruck Gesundheitserziehung ansprechen.3 Die zweite Selbstverständlichkeit unserer medizinischen Welt, mit der die Epidemiologie respektlos umgeht, ist das Gefälle zwischen Klinik und Nicht-Klinik. Der Alleinvertretungsanspruch der Kliniken, insbesondere der der Universitäten, in der medizinischen Forschung läßt sich schon jetzt für die Epidemiologie nicht aufrechterhalten. Denn die epidemiologische Forschung verlagert den Schwerpunkt der medizinischen Forschung aus den Laboratorien und Kliniken hinaus in die sogenannten Felduntersuchungen. Nicht der Patient kommt zum Arzt, geht in die Klinik und tritt damit in den Bannkreis klinischer Beobachtung und Untersuchung, sondern der Mediziner geht hinaus und sucht den potentiellen Patienten, den Gefährdeten zu erfassen. Und wieder sucht er diesen nicht als Individuum, als Einzelperson, auf, um einen unmittelbaren ärztlichen Kontakt zu stiften, ihm als der Persönlichkeit in ihrer individuellen Existenzgefährdung zu helfen. Nein, er untersucht ihn als repräsentatives Individuum, als Merk­ malsträger eines gefährdeten Kollektivs. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Der Denkansatz der Epidemiologie führt zur Therapie zweiter Hand, er sucht den unbe­ kannten – und dem Arzt vielleicht bis zur Ausstellung des Toten­ scheines unbekannt bleibenden – Patienten über die Kommunikati­ 3 Vgl. H. Mensen, Herzgefährdung als Zivilisations- und Wohlstandsproblem, in: »Allgemeine Therapeutik«, 6. Jahrgang, 1966, Heft 6 und Heft 7.

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

onswege zweiter Hand zu erreichen, ihn therapeutisch anzusprechen: Zeitung, Rundfunk, Fernsehen, Erwachsenenbildung werden in die Therapie einbezogen. Und weiter: Die Klinik, insbesondere die Uni­ versitätsklinik, ist nicht länger der ausschließliche Ort, an dem medi­ zinische Forschung betrieben werden kann. Der Monopolanspruch der großen Kliniken, der sich auf eine Art Alleinvertretungsrecht in der medizinischen Forschung gründet, weicht der Arbeitsteilung. Ich brauche wohl in diesem Kreise keine Ausführungen darüber zu machen, daß diese Veränderung die Landschaft des innermedizini­ schen Sozialstatus4 ganz neu gestalten wird. Hier liegt m. E. eine ent­ scheidende Chance des ärztlichen Dienstes in der Sozialversicherung, die immerhin 86 % der gesamten deutschen Bevölkerung betreut. Und es liegt in der Logik dieser Situation, daß in der Bundesrepublik ohne offizielle Förderung, geschweige denn Ermutigung, eine Reihe von epidemiologischen Untersuchungen im ärztlichen Dienst der Sozialversicherung entstanden ist5. Ja, ich muß es der Wahrheit wegen aussprechen, mir ist von einigen dieser Untersuchungen bekannt, daß die Verwaltung sie nicht gerade gern gesehen hat. Forschungen im eigenen Geschäftsbereich werden nur zu oft als Störung empfunden. Die Epidemiologie als ein neuer Denkansatz in der medizinischen Forschung wird daher – so steht zu hoffen – ein Umdenken auch in der Sozialverwaltung von Gesundheit und Krankheit in der Bundes­ republik erzwingen. Allerdings zeichnet sich schon jetzt in der Pla­ nung sozialmedizinischer Forschungsvorhaben die Möglichkeit ab, daß diese Untersuchungen von dem Vorhandensein eines ärztlichen Dienstes, der den überwiegenden Anteil der Bevölkerung ohnehin betreut, keine Notiz nehmen. Die Fragen der Forschungsorganisation, die die Epidemiologie aufwirft, werden sofort deutlich, wenn wir uns jetzt den Ergebnis­ sen einzelner epidemiologischer Untersuchungen zuwenden. Dabei werde ich mich auf die prinzipiellen methodischen Gesichtspunkte Wie prekär die Statusprobleme im ärztlichen Beruf gegenwärtig sind, hat in einer sehr sorgfältigen Analyse Rohde kürzlich dargestellt. J. J. Rohde, Die Selbst­ einschätzung des Arztes und seine Einschätzung in der modernen Gesellschaft, in: »Hippokrates«, 37. Jahrgang, Hefte 22 bis 24 (1966). 5 Fritz W. Adam, Beitrag zu einer Phänomenologie der Berufsunfähigkeit, Stuttgart 1964. – H. Abendroth, Fehlzeitenauffälligkeit und Medizin-soziologische Analysen in einem Hüttenwerk, in: »Arbeitsmedizin – Sozialmedizin – Arbeitshygiene«, 1. Jahrgang, Heft 6, 1966. – Gerhard Möllhoff, Heidelberg, Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Unfall und Selbstmord (noch unveröffentlicht). 4

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

konzentrieren und die Auswahl auf zwei Untersuchungsgruppen beschränken: Die Arbeiten über Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die vor allem in den Vereinigten Staaten durchgeführten Untersu­ chungen über psychische Störungen.

Der klinische Beobachtungsfehler Alle bisher durchgeführten Untersuchungen zeigen, daß die klinische Beobachtung einem systematischen Beobachtungsfehler unterliegt. Unsere Kenntnis über die Verbreitung von Krankheiten, unser Wis­ sen über die Morbidität der Bevölkerung unterliegen einer systema­ tischen, also keiner zufallsbedingten Unvollständigkeit, wenn wir unsere Schlüsse auf das klinische Krankengut allein stützen. Der Beobachtungsfehler, den wir dabei begehen, ist von einer Größenord­ nung, der für unsere Kenntnis über eine Krankheit von prinzipieller Bedeutung ist. Und schließlich variiert der Beobachtungsfehler für die untersuchten Krankheitsgruppen nach spezifischen Kriterien, er ist also für jede Krankheit durch andere Faktoren bedingt. Dazu einige Beispiele: Die Framinghamstudie, die die korona­ ren Herzerkrankungen epidemiologisch aufzuklären versucht, ist eine prospektiv-epidemiologische Längsschnittstudie. Sie trägt ihren Namen nach der Stadt in den USA, in der sie durchgeführt wird. Sie wurde begonnen im Jahre 1949, die Zahl der Probanden beträgt mehr als 5000 Einwohner im Alter zwischen 35 und 60 Jahren. Aus den Untersuchungsergebnissen sind für unsere Überlegungen hier bedeutsam: Die Zahl der an koronaren Herzerkrankungen Leidenden ist wesentlich größer, als nach klinischer Kenntnis zu erwarten ist. Darunter ist eine große Anzahl von Personen, die subjektiv symp­ tomfrei ist, sich also nicht krank fühlt und daher nie einen Arzt konsultiert, jedenfalls nicht unter dem Verdacht dieser Erkrankung. Diese Untersuchungsergebnisse bestätigen deutsche Beobachtungen, unter denen ich hier die Untersuchungen des jetzt in Köln lehrenden Gerichtsmediziners Dotzauer6 nennen möchte. Dotzauer fand in sei­ 6 Günther Dotzauer und Werner Naeve, Statistische Erhebungen über den Panora­ mawandel des akuten Herztodes, in: »Deutsche Zeitschrift für Gerichtliche Medizin«, Band 45, 1956, S. 30 bis 49; dieselben: Weitere signifikante Zunahme der Koronar­ thrombose, in: »Deutsche Medizinische Wochenzeitschrift«, 84. Jahrgang, 1959,

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Der klinische Beobachtungsfehler

nem Hamburger Sektionsgut (1948–1957) 3330 Koronartodesfälle. Die Obduktion deckte häufig eine ausgedehnte Verschwielung des Herzmuskels auf; man hörte dann von den Angehörigen. – ich zitiere Dotzauer: »Nie krank, nie geklagt, keine ärztliche Behandlung. Eine leere Vorgeschichte trotz erheblicher Kennzeichnung des Herzens mit zurückliegenden Durchblutungsstörungen.« Auf Grund einer großen Übersicht kann man schließen, daß selbst bei weitgehend verschwie­ lten Herzen infolge zurückliegender Koronarokklusion Prodrome bei jüngeren und alten Personen häufiger fehlen. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt die nach der Stadt Basel genannte Untersuchung. Ihr Untersuchungsgut sind 6437 Arbeitneh­ mer aus vier pharmazeutischen Unternehmungen. »Die Beobachtun­ gen« – ich zitiere aus einer Veröffentlichung von Widmer und Mitar­ beitern7 – »widersprechen in vielem der allgemeinen Auffassung, daß der Verschluß der peripheren Arterien eine seltene und lokalisierte Erkrankung ist, die ausschließlich bei älteren Menschen auftritt ...« Die Baseler Studie hebt hervor, daß der Verschluß der peripheren Arterien eine häufig auftretende Manifestation der Arteriosklerose ist, die sogar bei relativ jungen Arbeitnehmern festgestellt wird.8 Die epidemiologische Forschung zeigt also eine andere Häufig­ keits- und eine andere Altersverteilung im Vorkommen der koronaren Herzerkrankungen, denen eine zentrale Bedeutung für die Mortalität der erwachsenen arbeitsfähigen Bevölkerung im mittleren Lebensab­ schnitt zukommt. Die Manhattan-Studie, so genannt nach dem Stadtteil Manhat­ tan in New York, steht in der Untersuchungsreihe sozialpsychiatri­ scher Studien, die ein groß angelegtes sozialpolitisches Reformwerk begründet haben. Sie wurde 1950 begonnen, der abschließende Bericht erschien 19629.

S. 1237 bis 1241; dieselben: Spontane Herzrupturen nach Myocardinfarkt, in: »Lebensversicherungsmedizin«, 11. Jahrgang, 1959, Nr. 2. 7 Vgl. L. K. Widmer et al. Occlusion of peripheral Arteries, in: »Circulation«, Vol. XXX, December 1964, p 836 bis 842. 8 Ebd. 9 Leo Srole, a. o.: Mental Health in the Metropolis. The Midtown Manhattan-Studie, McGraw-Hill, 1962.

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

Tabelle 1 Home Survey Sample *) (Age 20–59). Im psychiatrisch-klinischen Sinne kranke (impaired) Untersuchungspersonen. Verteilung nach der Vorge­ schichte ihrer psychiatrischen Behandlung (patient-history) und nach Altersgruppen (Age groups).

Patienthistory

Age Groups A. 20–29

B. 30–39

C. 40–49

D. 50–59

gegenwärtig ambulant behandelte Patienten

8,9 %

8,9 %

5,6 %

1,5 %

Vor dem Untersu­ chungszeit­ punkt ambu­ lant oder stationär behandelte Patienten

25,0 %

26,7 %

18,5 %

19,3 %

Behandelte Patienten überhaupt (Ever patients)

33,9 %

35,6 %

24,1 %

20,8 %

Nicht behan­ delte Patienten (Never patients)

66,1 %

64,4 %

75,9 %

79,2 %

Absolute Zah­ len = 100 %

(56)

(90)

(108)

(135)

*) Stichprobe (Sample) der in ihren Wohnungen aufgesuchten und psychi­ atrisch untersuchten Bevölkerung des Stadtteils Midtown, Manhattan, New York.

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Der klinische Beobachtungsfehler

Schwerpunkt der Studie bildete eine Repräsentativuntersuchung von 1660 Personen in einem Bezirk von Manhattan, der psychiatrisch zu den am besten versorgten Stadtgebieten auf der Erde überhaupt zu zählen ist. Es handelte sich um eine epidemiologische Querschnitt­ studie, die zu einem Zeitpunkt einen repräsentativen Ausschnitt aus der Bevölkerung untersucht hat. Von den untersuchten Personen waren im klinischen Sinne als krank in der Altersgruppe 20 bis 59 Jahre 389 Personen anzusprechen; von diesen waren zwei Drittel bis über drei Viertel niemals in ärztlicher Behandlung (vgl. Tab. 1). Die Gründe für dieses offenkundige Mißverhältnis zwischen Behand­ lungsbedürftigkeit und ärztlicher Versorgung (nicht nur im psychi­ atrisch-fachärztlichen Sinne) sind in einer für den Gesellschaftstypus charakteristischen Verzahnung von sozialen Besitz- und Herrschafts­ verhältnissen auf der einen und ärztlicher Versorgung auf der ande­ ren Seite zu suchen. Nach der Moral der Stärke, wie Nietzsche sie formuliert hat – Wer fällt, den sollst du auch noch stoßen, wer schwach ist, den sollst du auch noch niederwerfen –, sind Morbidi­ tät und Behandlungswahrscheinlichkeit miteinander verknüpft. Die Morbidität im Sinne psychischer Störungen steigt progressiv mit absinkendem Sozialstatus (vgl. Übersicht 1 und Tab. 2), im gleichen Sinne sinkt die Behandlungshäufigkeit (vgl. Tab. 3). Tabelle 2 Home Survey Sample (Age 20–59). Verteilung der Untersuchungspersonen nach psychiatrischer Beurteilung für die oberste und die unterste Sozial­ schicht.

Mental Health categories *) (Psychiatrische Beurteilung)

Highest stratum (Oberste Sozialschicht)

Lowest stratum (Unterste Sozialschicht)

Well

30,0 %

4,6 %

Mild symptom formation

37,5 %

25,0 %

Moderate symptom formation

20,0 %

23,1 %

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

Impaired Marked symptom formation

6,7 %

16,7 %

Severe symptom formation

5,8 %

21,3 %

Incapacitated

0,0 %

9,3 %

N = 100 %

120

108

Sick-Well ratio

42

1,020

*) Siehe Erläuterung zu Übersicht 1

Tabelle 3 Home Survey Sample (Age 20–59). Verteilung der im psychiatrisch-klini­ schen Sinne kranken Untersuchungspersonen nach ihrem eigenen sozioökonomischen Status (Own S (ocio) E (conomic) S (tatus)) und nach ihrer Behandlungsvorgeschichte. Own SES Upper (A–B)

Middle (C–D)

Lower (E–F)

Gegenwärtig ambulant behandelte Patienten

19,1 %

4,5 %

1,1 %

Vor dem Untersuchungszeit­ punkt ambulant oder statio­ när behandelte Patienten

32,4 %

18,0 %

19,9 %

Behandelte Patienten über­ haupt

51,5 %

22,5 %

21,0 %

Nicht behandelte Patienten

48,5 %

77,5 %

79,0 %

(68)

(134)

(187)

Absolute Zahlen = 100 %

Erläuterung: Es wurde ein 6-Schichten-Modell (A, B, C, D, E, F) ent­ wickelt, das in der vorstehenden Tabelle zu drei Sozialschichten zusam­ mengefaßt wurde: Oberschicht (Upper A–B), Mittelschicht (Middle C–D), Unterschicht (Lower E–F).

Nicht immer gelingt es, wenigstens einen Faktor für die systematische Abweichung der epidemiologisch ermittelten Morbidität vom klini­ schen Krankengut so prägnant herauszuarbeiten. Seitdem in ihrer bahnbrechenden, 1958 erschienenen Untersuchung Hollingshead und Redlich, der eine Psychiater, der andere Soziologe, die enge Ver­ knüpfung von »social and mental illnes«, die Symbiose von gesell­

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Der klinische Beobachtungsfehler

schaftlicher und geistiger Armut, nachgewiesen hatten, hat sich die Vergesellschaftung von »Armut und Verrücktheit« (Kisker)10 immer wieder bestätigt; sie gilt in anderem Gewande sicherlich auch für die Bundesrepublik, obwohl vergleichbare Studien noch ausstehen. Übersicht 1

Figure 5. Home Survey Sample (ages 20 to 59). Sick-Well ratios of expanded own-SES strata.

Erläuterung: Das Diagramm bezieht sich auf die gleiche Stichprobe wie in Tabellen 1 und 3 mit der Ausnahme, daß nicht nur die im psychiatrisch-kli­ nischen Sinne kranken, sondern auch die gesunden und die psychiatrisch auffälligen Untersuchungspersonen einbezogen sind. Die psychiatrische Beurteilung ergab insgesamt 4 Hauptgruppen: Die Gesunden (Well), die Auffälligen (mild symptom formation – moderate symptom forma­ tion) und die Kranken (impaired). Im Diagramm werden die Kranken 10 K. P. Kisker, Die Verrücktheit, die Armut und wir, in: »Der Nervenarzt«, 38. Jahr­ gang, 1967, S. 89 bis 92.

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

(impaired) zu den Gesunden (Well) in Beziehung gesetzt (sick-well ratio) und die Verteilung der sich ergebenden Meßzahlen auf 12 unterschiedene Sozialschichten untersucht. Dabei ergeben sich vier typische Beziehungen zwischen Morbidität (gemessen in der sick-well ratio) und Sozialschicht. Die oberen vier Sozialschichten: Die Gruppe A; zu ihr zählen die Oberschicht und ein Teil der Mittelschicht (1–4), sie umfaßt 34 Prozent der gesamten Stichprobe, sie hat den günstigsten Morbiditätsindex (sick-well ratio). Eine zweite Gruppe B; zu ihr gehören die übrige Mittelschicht und ein Teil der Unterschicht (5–10), sie umfaßt 47 Prozent der Stichprobe. Und schließlich die beiden untersten Schichten C und D (11–12); zu ihnen gehören noch insgesamt 19 Prozent der Stichprobe, sie haben den weitaus ungünstigs­ ten Morbiditätsindex.

Die letztgenannten sozialpsychiatrischen Studien führen bereits in eine neue, das bisherige System der ärztlichen Versorgung spren­ gende Dimension hinein. Das Ausmaß der Behandlungsbedürftig­ keit, das diese Untersuchungen aufdecken, übersteigt nicht nur die gegenwärtige, sondern auch die in Zukunft zu erreichende Kapazität psychiatrischer Behandlungsmöglichkeiten, und das in dem indus­ triell fortgeschrittensten Gebiet der Erde, dessen Gesellschaft der Psychiatrie und Psychotherapie einen angesehenen und anerkannten Platz einräumt. Für die Therapie müssen völlig neue Wege beschritten werden, vor allem aber gilt es, präventive Maßnahmen zu ergreifen, zu denen die Diagnose unmittelbar herausfordert. Zugleich aber liegt es auf der Hand, daß die Prävention jenseits des administra­ tiv-technischen Bereichs im Wirkungsfeld gesellschaftlicher Kräfte ansetzen muß. Die Soziogenese psychisch gesunder Menschen führt in die Familien und in die Bedingungen ihres Sozialstatus hinein. Andeutungsweise möchte ich an dieser Stelle wenigstens darauf auf­ merksam machen, daß diese Situation prinzipiell für alle gegenwärtig epidemiologisch zu diagnostizierenden Erkrankungen gilt.

Der Morbiditätstrend Die bis hier entwickelten Gesichtspunkte erlauben es, ein Problem schärfer einzugrenzen. Die auffällige Zunahme bestimmter Erkran­ kungsarten im klinischen Krankengut, z. B. die der koronaren Herz­ erkrankungen, kann danach zumindest aus zwei Bedingungen her­ vorgehen: aus einer tatsächlichen Zunahme der Morbidität und bzw. oder aus einer Zunahme der klinischen Behandlungshäufigkeit. Die

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Zur Frage der Ätiologie

epidemiologische Feststellung, daß die Erkrankungen wesentlich häufiger auftreten, als nach der klinischen Beobachtung zu erwar­ ten war, besagt über den Morbiditätstrend selbst bei epidemiolo­ gischen Längsschnittstudien zunächst gar nichts, es sei denn, die Untersuchungsergebnisse hätten auch ätiologisch ausreichende Klar­ heit erbracht. Um ein Beispiel zu geben: Die Identifizierung des Risikofaktors Rauchen (20 und mehr Zigaretten am Tag) für eine Steigerung der Anfälligkeit auf koronare Herzerkrankungen erlaubt erst in Verbindung mit einer weiteren Aussage eine Prognose über einen zu- oder abnehmenden Trend. Erst wenn wir über die gleichzei­ tige Zunahme des Rauchens in den für die Erkrankung bedeutsamen Merkmalsgruppen unterrichtet sind, können wir eine tatsächliche Steigerung der Morbidität unterstellen.

Zur Frage der Ätiologie Epidemiologische Untersuchungen verwenden ein multifaktorielles Konzept.11 Erforschung der Krankheit unter dem Gesichtspunkt der Masse, d. h. einer großen Zahl beobachteter Fälle, bedeutet, daß erst die statistische Auswertung über das Gewicht der untersuchten Faktoren Auskunft zu geben vermag. Die Erhebungsdaten, die in die Materialsammlung eingehen, sind bei dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens weniger durch die Erschöpfung sinnvoller Hypothesen, sondern in der Regel durch Zumutbarkeitsschwelle im Blick auf den Probanden bzw. auf die Finanzierungsfreudigkeit des Geldgebers gesetzt. Die Auswahl der Merkmale unter Untersuchungsmethoden wird daher einmal durch den Stand des Vorwissens, zum anderen aber durch pragmatische Gesichtspunkte bestimmt, z. B. die Zugänglichkeit und leichte Überprüfbarkeit der Merkmale oder die Intensität des interdisziplinären Kontaktes usf. Diese Forschungssituation trägt daher als Ganzes den Charakter der Exploration. Sie ist eine Erkundung sinn­ voller Fragemöglichkeiten in einem Dschungel höchst komplexer und noch weitgehend unbekannter Zusammenhänge. Die Konsequenzen, die sich aus einer solchen Forschungssituation für die Interpretation der Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen ergeben, kann ich hier nur andeuten. Die Merkmale, die sich als fündig, als relevant, erweisen, stehen stellvertretend für einen höchst komplexen Zusam­ 11

H. J. Bochnik, H. Legewe, Multifaktorielle klinische Forschung, Stuttgart, 1964.

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

menhang; z. B. die Abhängigkeit der koronaren Herzerkrankungen vom Rauchen, vom Übergewicht, von einer unterdurchschnittlichen Vitalkapazität oder die Abhängigkeit psychischer Störungen vom Lebensalter und von der sozialen Schichtung. Epidemiologische Erhe­ bungen liefern daher sehr häufig Zwischenergebnisse, die zum Aus­ gangsdatum gezielter ätiologischer Untersuchungen werden können.

Der Beitrag der Soziologie Wenden wir uns nach dieser Schilderung des übergreifenden Denkan­ satzes in der medizinischen Forschung, der durch die Epidemiologie bezeichnet ist, dem möglichen Beitrag der Soziologie zu. Was kann die empirische Sozialforschung für epidemiologische Untersuchun­ gen leisten? Der Epidemiologe kann sich der Soziologie in zweierlei Hin­ sicht für seine Untersuchungen bedienen. Er kann sich auf das Tech­ nisch-Handwerkliche der Untersuchungsmethoden einstellen, das ist der leichteste und für den Mediziner herkömmlicher Ausbildung gebräuchlichste Weg. Zum anderen aber kann er den soziologischen Denkansatz für die Formulierung der Untersuchungsziele und für, Interpretation der Untersuchungsergebnisse heranziehen. Dieses Verfahren setzt eine intime Kenntnis der Soziologie voraus und läßt den medizinischen Standpunkt nicht unberührt. Epidemiologie, die sich in diesem Sinne auf Soziologie einläßt, wird in der Regel auf interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht verzichten können, d. h., Mediziner und Soziologe müssen gemeinsam den Untersuchungsan­ satz festlegen. Das Handwerk der Untersuchungstechnik dagegen ist interdisziplinär übertragbar, Der Mediziner kann sich wie jeder andere mit einigem Fleiß und Geschick die Methodik aneignen. Das ganze Geschäft der Empirie: Die Anlage eines Fragebogens, die Durchführung eines Interviews, die Auswahl des Sample, die statistische Auswertung etc., sie lassen sich auch ohne soziologische Vorkenntnisse erlernen und gehören als Technik mit entsprechenden Variationen auch anderen Disziplinen zu. Doch hat dieses Vorgehen seine Grenzen. Der Zugriff auf den Kranken, der nicht auf den gebahnten Wegen des Arzt-Patienten-Verhältnisses in den Gesichtskreis medizinischer Beobachtung eintritt, sondern mit den für die Analyse großer Kollektive erdachten Methoden erfolgt, läßt sich nur scheinbar in Neutralität zur

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Der Beitrag der Soziologie

Gesellschaftsstruktur vollziehen. Die Raffinesse der Verfahrenstechnik trägt nur eine Weile über die Konturen der Sozialstruktur hinweg, denen epidemiologische Forschungen unausweichlich begegnen. Welche unterstützende Interpretation verspricht der soziologische Denkansatz? Was hat die epidemiologische Forschung von der Soziologie, jenseits der technisch-handwerklichen Erfahrung im methodischen Umgang mit großen Merkmalskollektiven zu erwarten? Zwei Themen möchte ich hier hervorheben: Der Soziologe kann einmal die Merkmale der gesellschaftlichen Differenzierung angeben. Diese erlauben es, die Krankheitshäufigkeiten nach Sozialkategorien aufzuschlüsseln. Wir erhalten mit der Verteilung auf die Sozialka­ tegorien ein zutreffendes Bild von der sozio-kulturellen Lagerung der untersuchten Morbidität einer Bevölkerung. Die in der Regel verwendeten Kategorien sind Geschlecht, Lebensalter, Familienstand bzw. Position innerhalb des Familienzyklus, Stellung im Erwerbs­ prozeß, Beruf, formaler Ausbildungs- und Bildungsgrad, Wohnort, Besitz (auch Wohnung), soziale Herkunft und in Zusammenfassung verschiedener Merkmale die Konstruktion eines Sozial-Status als vermutete Zugehörigkeit zu einer Sozialschicht und ferner unter Einbeziehung der Vergangenheit die Fixierung von Mobilitäten als Veränderung der Zugehörigkeit zu den Kategorien der Sozialstruktur: Sozialer Auf- und Abstieg, Wanderungen. Die genannten Merkmale liefert die Verwaltungsroutine nahezu absichtslos, sie werden in unserer heutigen Existenzform laufend abgefragt. Daher haben sie den Vorzug, unproblematisch für die Befragung zu sein. Da die Gesamtheiten bekannt sind, können Teil­ gesamtheiten und Stichproben, mit denen es der Epidemiologe zu tun hat, unschwer mit den dazugehörigen Gesamtmerkmalsgrup­ pen in statistische Beziehung gesetzt werden. Ein wesentlicher Nachteil, der diesen Merkmalen anhaftet, kann nur durch eine sorgfältige Interpretation überwunden werden. Sie enthalten eine undefinierte Faktorenbündelung, und sie sind nicht unabhängig von­ einander. Schon die scheinbar unproblematischen Merkmale: Lebens­ alter und Geschlecht, besitzen für epidemiologische Fragestellungen einen multifaktoriellen Aussagewert, um so mehr gilt dies für kom­ plexe Merkmale, wie sozialer Status und Mobilität. Der eindeutige Zusammenhang zwischen sozialer Schichtung und geistig-seelischer Gesundheit z. B. löst sich für eine ätiologische Betrachtung in eine Vielzahl von Komponenten auf. Die Formulierung sachgerechter Hypothesen kann nur auf der Grundlage einer intimen Kenntnis der

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

sozialen Schichtung und der »Soziogenese« der Persönlichkeitsstruk­ tur erfolgen. Dieser Gesichtspunkt führt uns schon in das zweite Thema hinein. Der Soziologe kann den Epidemiologen hinsichtlich der gesellschaftlichen Sanktionen beraten, die das Verhalten bewerten und steuern. Gewohnheiten, auf die die epidemiologische Forschung stößt, wie z. B. Zigarettenrauchen, überhöhte Nahrungszufuhr oder Verhaltenssysteme wie der Aktionsradius von Familien, unterliegen einer sozio-kulturellen Bewertung. Ihnen kommt ein qualitativer Stellenwert im Gesamthaushalt des Verhaltens zu. Rauchen und Essen sind in unserer Wohlstandsgesellschaft banale Handlungen, die Zigarette steht gerade an der Schwelle, noch ein wirtschaftliches Gut zu sein, und weiter, nicht allein das Sattwerden, sondern das kulinarische Genießen gehören zu den Selbstverständlichkeiten des Alltages. Ein Blick auf den Speisezettel mancher Werkskantinen ist in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich. Die Gesundheitsgefährdung, die solche banalen Gewohnheiten nach sich ziehen können, hebt sie aus der Banalität zurück in das Bewußtsein der Bewertung. Dem übergewichtigen Raucher demonstriert die epidemiologische Forschung, die die Genese der koronaren Herzerkrankungen aufzu­ hellen bestrebt ist, daß er zwei Risikofaktoren auf sich vereinigt, ja, bei sich kultiviert. Rauchen und Essen aber avancieren für diese Menschen von schlichten Selbstverständlichkeiten zu bedeutsamen, das Leben verkürzenden Handlungen. Dieses simple Beispiel verdeutlicht bereits, daß die Epidemio­ logie im Ergebnis eine Umwertung, ja eine Neubewertung im Ver­ haltensinventar nach sich zieht. Allerdings liegt es in unserer Gesell­ schaft nahe, Wertfragen dieser Art technisch zu umschiffen, z. B. Rauchen und Essen gleichsam physiologisch zu entmachten. Die lustvollen Handlungen bleiben dann als Fassade bestehen, hinter der sich physiologisch nichts oder nur Harmlosigkeiten ereignen. Solange das aber technisch noch nicht möglich ist, die Anti-Adipositas-Pille nicht existiert, muß sich die therapeutische Absicht der Epidemiolo­ gie soziologisch einkleiden. Wie diese Umsetzung ins Soziologische geschieht, mag an einem Beispiel deutlich werden.

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Ein Beispiel: Zur Soziogenese der Fettsucht

Ein Beispiel: Zur Soziogenese der Fettsucht Die Bedeutung der Übergewichtigkeit, die epidemiologische For­ schungen nachdrücklich herausstellen, hat zu gesonderten Untersu­ chungen angeregt. Dabei hat sich ätiologisch die Sozio- oder Psy­ chogenese der Fettsucht als wesentlicher Faktor herauskristallisiert. Pflanz12 hält es nach der Diskussion der bis dahin bekannten Arbei­ ten und auf Grund seiner eigenen Erhebungen »auf jeden Fall« für »wahrscheinlich, daß soziologische Faktoren bei der Entstehung der Fettsucht mitbeteiligt sind«13. Die Verteilung der Fettsüchtigen in der Sozialstruktur zeigt u. a.: 1.

2.

Eine über der statistischen Erwartung liegende Beteiligung der Verheirateten, im deutlichen Unterschied zu den Ledigen und Geschiedenen beiderlei Geschlechts und den verwitweten Män­ nern. Da in einigen Altersklassen die Bevölkerung bis zu mehr als 90 % verheiratet ist, haben wir es also mit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung zu tun. Eine Übergewichtigkeit der Frauen in fast allen Sozialschichten mit deutlicher Ausnahme der Oberschicht. Da die Oberschicht verhältnismäßig klein ist, zeigt auch dieser Nachweis die Betei­ ligung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Kein Wunder also, daß ca. 20 % der Bevölkerung als übergewichtig anzusprechen sind.14

Der Versuch einer ätiologischen Klärung führt also in den normalen Familienhaushalt hinein, in seine Ernährungsgewohnheiten, in die Art der Vorratshaltung, die Bedeutung der Nahrungsaufnahme als Freizeitgestaltung und Familienerlebnis. Eine soziologische Analyse – die wir hier nur skizzenhaft zur Verdeutlichung des Denkansatzes ausführen können – wird nach die­ ser Fixierung der Fettsüchtigen im soziologischen Merkmalsbereich sich auf zwei Fragen konzentrieren müssen: 1.

Welchen funktionalen Stellenwert haben die Handlungen, die mit der Nahrungsaufnahme in einem Zweck-Mittel-Zusammen­

Sozialer Wandel und Krankheit. A. a. O., S. 199. 14 Manfred Pflanz, Medizinisch-soziologische Aspekte der Fettsucht, in: »Psyche«, 16. Band, Jahrgang 1962, S. 579 bis 591. 12

13

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

2.

hang stehen, in den Beziehungen zwischen den Familienmitglie­ dern? Welcher Art sind die Sanktionen, mit denen unsere Gesellschaft das Essen bewertet?

Für die Soziogenese der Fettsucht, d. h. für die Ableitung eines Zustandes (durch den sich eine Reihe von Individuen von ande­ ren sonst ähnlichen Individuen unterscheiden) aus einer Verhaltens­ struktur15, ist sowohl die Zugehörigkeit dieser Verhaltensstruktur zu einem gesellschaftlichen Beziehungssystem (hier der Familien­ haushalt) zu ermitteln, als auch die Bewertung zu untersuchen, die diese Verhaltensstruktur in der Gesellschaft findet. Zu beiden Fragen beschränken wir uns auf einige erläuternde Bemerkungen. Die Zubereitung der Mahlzeiten in den deutschen Familien ist in der Regel Aufgabe der Ehefrau. Die Bestimmung der Diät durch Beschaffung der Lebensmittel, durch Vorratshaltung, durch Zubereitung und Offerieren der Mahlzeiten bildet einen wesentli­ chen Aktionsparameter für die Frau. Hier liegt eine »strategische Chance« für ihre Position gegenüber den übrigen Familienmitglie­ dern. Hier kann sie Anerkennung, Liebe, Wertschätzung erlangen; das gilt nicht nur gegenüber den Kindern, solange der Weg zur Speisekammer oder zum Eisschrank über ihre Zustimmung führt, sondern das gilt genauso im Verhältnis zum Ehemann sowie zu den Personen, denen gegenüber der Familienhaushalt sich öffnet; ihr »Angebot« repräsentiert dann die Familie. Umgekehrt – und darin tritt das strukturelle Moment an diesem Verhalten hervor – wird die Ehefrau nach ihrer Kochkunst bewertet. Auch die Frauen, die der Essensvorsorge im Haushalt keinen Geschmack abgewinnen können, bleiben einem kollektiven Mechanismus unterworfen, der die Frauen nach Fähigkeiten einschätzt, die sie im Saubermachen, im Aufräumen und Kochen entwickeln. In Konkurrenz zu diesen »Befä­ higungsnachweisen« tritt die Pflege und Kultivierung der äußeren Erscheinung für die Ledigen und für die Frauen der Oberschicht, die, wie Pflanz zeigt, bemerkenswert schlank bleiben. – Auch wäre in 15 Daß wir in der Fettsucht auf eine Verhaltensstruktur treffen, dafür spricht die Hartnäckigkeit, mit der diese Haltung allen Versuchen einer Auflösung, etwa durch moralische Appelle oder durch ärztliche Beratung, widersteht. Wir können daher annehmen, daß die zur Fettsucht affinen Verhaltensweisen einer individuellen Ver­ fügung weitgehend entzogen sind. Sie bilden offenbar ein »pattern of behavior«, eine Verhaltensstruktur.

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Ein Beispiel: Zur Soziogenese der Fettsucht

diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß auch die Einzelkinder in der Fettsüchtigkeit den Kindern aus Mehr-Geschwister-Familien voraus sind. Die Mutter-Kind-Beziehung in den Einkinderfamilien, insbesondere in der relativen Isolierung gegenüber der Umwelt, wie sie für die städtische Lebenssituation gilt, läuft stärker Gefahr, ein »Abfüttern« aller Triebregungen des Kindes herbeizuführen. Dabei ist es gleichgültig, ob die Mutter einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgeht oder im Haushalt bleibt; im letzteren Falle tritt tendenziell eine Überbewertung der Aktionsparameter »Essenzubereiten« oder »Fürsorglichkeit« gegenüber dem Kinde (»Machtmutter«) ein als Folge der Handlungseinschränkung für die Frau. M. a. W. die Soziogenese der Fettsucht verweist uns darauf, die soziale Rolle der Frau zum Ansatzpunkt der Forschung zu machen. Sie bildet auf dem Weg zur Wohlstandsfettsucht sicher eine Schlüssel­ person. Wenden wir uns nunmehr der kollektiven Wertung der die Fettsucht begünstigenden Verhaltensstrukturen zu. Eine Analyse der Sanktionen einer Gesellschaft erfordert stets die Distanzierung aus den selbstverständlichen Regeln des Zusammenlebens. Blicken wir daher aus dem Jahre 2000 auf unsere heutige Gesittung zurück, so wird uns eine Barbarei der Gegenwart deutlich zu Gesicht kommen: Während zwei Drittel der Menschheit hungern, besteht für eine Minorität in den industriell führenden Ländern eine Gefährdung durch Überernährung; während in weiten Gebieten der Erde der Nahrungsmangel den Alltag beherrscht, werden in den großen Städ­ ten der industriellen Zivilisation gigantische Nahrungsmittelmengen täglich auf den Kehricht geworfen. Für das Sanktionensystem der Wohlstandsgesellschaft erlaubt uns diese Distanzierung zwei wesent­ liche Feststellungen: 1. 2.

Die Nahrungsmittelverwendung unterliegt, in weiten Grenzen gesellschaftlich unkontrolliert, dem freien privaten Belieben. Erst die Müllverwertung offenbart die Verschwendung. Das Hungergefühl hat keine positive Bedeutung. Die Menschen der Wohlstandsgesellschaft müssen von Nahrungsmitteln zu jeder Tages- und Nachtzeit gleichsam umlagert sein, eine Vor­ ratsschaltung sowie ein auf Absatz gerichtetes Nahrungsmittel­ gewerbe nehmen sich dieser Aufgabe hilfreich an.

Diese sehr allgemeinen, aber tiefverankerten Strukturen werden nun mannigfach variiert und sublimiert. Die Nahrungsaufnahme ist im städtischen Familienhaushalt in hohem Maße privatisiert. Zu Tisch

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Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie

werden nur die engsten Freunde zugelassen. In den Verfügungsbe­ reich der Privatautonomie gehören aber auch die Nahrungsmittel zu den leicht zugänglichen Befriedigungen. Im Außenverhältnis der Familie bilden Essen und Trinken die Basis geselliger Integration, sie bilden den handgreiflichen Beweis der Opulenz und der Großzügig­ keit, der vom Gast die Entgegennahme erwartet.16 Die Verlagerung der Essensgewohnheiten, aber auch der Geselligkeit auf den Abend, wie sie die städtisch-industrielle Zivilisation fördert, begünstigt noch die Kalorienablagerung. Die herrschenden gesellschaftlichen Sanktionen setzen der Fett­ sucht also nicht nur keinen Widerstand entgegen, sondern sie fördern sie ausdrücklich durch institutionelle Vorkehrungen (Marktautoma­ tismus – Rhythmus von Arbeit und Freizeit – gesellige Riten), aber auch durch eine fehlende Stilisierung dieser Verhaltensstruktur. Soviel mag an dieser Stelle genügen, um den möglichen Beitrag der empirischen Sozialforschung für ein epidemiologisches Problem zu demonstrieren; ein Beitrag zur Soziologie der Fettsucht müßte wesentlich differenzierter ansetzen und könnte sich schon im Ansatz nicht mit einer so graben Merkmalsdifferenzierung zufriedengeben. Abschließend müssen wir noch ein weiteres mögliches Mißverständ­ nis erörtern.

Epidemiologie und Sozialmedizin Wir haben uns in unseren bisherigen Beispielen an klinischen Krank­ heitsbildern orientiert. Die Auswahl der Beispiele könnte dahin mißverstanden werden, als ob epidemiologische Forschung ledig­ lich auf eine Erweiterung des klinischen Krankheitsbegriffes in das Vorfeld der klinisch nicht sichtbar werdenden Prodromalstadien abzielte. Eine solche Ausrichtung wird durch die Mortalitätsstatistik nahegelegt. Die imponierenden Anteile, die der Tod im Gewande des Lungenkarzinoms oder des Herzinfarktes unter den industriell fortgeschrittenen Bevölkerungen sich zueignet, fordern gerade dazu 16 Der Witz ist oft ein scharfsinniger Gesellschaftskritiker: Als bei einer Gesellschaft der Reigen der kulinarischen Genüsse kein Ende nimmt, greift ein erschöpfter Gast schließlich zur – der Wohlstands-Tausch-Gesellschaft würdigen – Alternative und erklärt der Gastgeberin: »Wenn Sie uns nun noch etwas Gutes antun wollen, gnädige Frau, dann bitte in bar!«.

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Epidemiologie und Sozialmedizin

heraus, vom letalen Ausgang rückwärtsschreitend die Anfangsstadien und ihre Genese zu erforschen. Doch schon unter dem Gesichts­ punkt der Forschungsökonomie kann das nicht der allein tragende Gesichtspunkt epidemiologischer Forschung bleiben. Denn die weni­ gen vorliegenden Ergebnisse lehren, daß die gesuchten Anfangssta­ dien häufig mit Erscheinungsbildern vergesellschaftet sind, die eine besondere Auffälligkeit auch unter dem Gesichtspunkt der »Befind­ lichkeitsstörungen« besitzen. Übergewichtigkeit, Nikotinabusus und Tablettenmißbrauch; neurotisierende Kindheitserlebnisse, frustrie­ rende Dauersituationen des Lebens und aktuelle Konflikte bilden den Hintergrund für Krankheitsmanifestationen in zweifacher Rich­ tung. In der Biographie eines Menschen »erklären« sie ätiologisch die chronischen Erkrankungen seiner letzten Lebensjahrzehnte und den Exitus. Für die aktuelle Lebenssituation im Querschnitt der Lebensstadien, in der Jugend und in der Vollzeit des Lebens, »erklä­ ren« sie das zeitweise Versagen, die Leistungsminderung gegenüber den ubiquitären leistungsintensiven Ansprüchen der industriellen Zivilisation.17 M. a. W. die medizinisch-epidemiologische Forschung stößt von zwei institutionell getrennten Beobachtungsrichtungen auf kongruente Manifestationen der Krankheit. Aus der klinischen Frage nach den Anfangsstadien der »Krankheiten zum Tode« und aus der ärztlichen Allgemeinpraxis nach dem Hintergrund von Leidenszu­ ständen, die sich klinisch nicht klären lassen, werden sehr ähnliche Verhaltensstrukturen sichtbar gemacht.18

17 Entgegen den landläufigen moralisierenden »Erklärungen« des »Krankenstandes« hat schon Anfang der 60er Jahre Kohlhausen die sozialmedizinischen Gesichtspunkte herausgearbeitet. Die heftige Reaktion, die auf seine Ausführungen hin erfolgte, bildet eine Bestätigung für die auch heute noch verbreitete vorurteilsbehaftete Einstellung zu diesen Fragen. Karl Kohlhausen, Der Krankenstand, Erkenntnisse und Folgerungen, in: DIE KRANKENVERSICHERUNG, Jahrgang 1962, S. 64 ff. und S. 257 ff.; derselbe: Der Krankenstand – eine soziale Aufgabe, ebenda 1965, Heft 7/8. 18 Beispielsweise macht v. Uexküll (Die Bedeutung funktioneller Syndrome für die Allgemeinpraxis) auf die eigentümliche Altersverteilung dieser Befindlichkeitsstö­ rungen aufmerksam. Sie zeigen ein Maximum für die Patienten, die im dritten und vierten Lebensjahrzehnt stehen, während mit zunehmendem Alter die Häufigkeit im Auftreten funktioneller Störungen abnimmt. v. Uexküll hält unter anderen Erklä­ rungsmöglichkeiten es für wahrscheinlich, daß »die früher funktionellen Störungen inzwischen in organische Krankheiten übergegangen sind«. Die verläßlichste Methode, diese Hypothese zu testen, ist sicher eine prospektive Längsschnittstudie, die in ihrer Fragestellung das Auftreten funktioneller Syndrome explizit berücksichtigte (»Ärztliche Wochenschrift«, 14. Jahrgang, 1959, S. 573 bis 579).

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Selbstverständlich müssen wir vorschnelle Hypothesen vermei­ den, dennoch sollten wir der augenscheinlichen Konvergenz der Fra­ gerichtung nachgehen. Wenn sich die bisherigen Vermutungen und Interpretationen von Forschungsergebnissen weiterhin bestätigen sollten, daß die Krankheiten der Menschen in der industriellen Zivi­ lisation aus selbstproduzierten Zuständen der gesellschaftlichen Ver­ hältnisse hervorgehen, dann stellen sich dem Soziologen Aufgaben von einer unerhörten Größenordnung und politischen Bedeutung. Wenn es sich in der Tat so verhalten sollte, wie es in der übergrei­ fenden Ortsbestimmung epidemiologischer und sozialmedizinischer Forschung immer wieder anklingt: Zivilisationskrankheiten, unge­ sunde Lebensweise, die Gefahren der industriellen Zivilisation, die Überforderung des Menschen durch die moderne Gesellschaft etc., dann ist bei dem heute erreichten wissenschaftlichen Stand eine streng soziologische Analyse der von den Medizinern anvisierten Ver­ haltensstrukturen unausweichlich. Eine Verteufelung der gegenwärti­ gen Gesellschaftssituation führt ebensowenig weiter wie moralische Appelle! Die Erkenntnis, daß das Individuum, dessen Gesundheit und Krankheit in spezifischer Weise dem Arzt anvertraut sind, in einer nahezu total kollektiv produzierten Situation lebt, bedeutet für unseren Zusammenhang zweierlei: Sie impliziert, daß Gesund­ heit und Krankheit in spezifischer Hinsicht kollektiv produzierte Zustände sind, und sie fordert, daß wir diese Produktionsprozesse19 mit einem ihnen adäquaten wissenschaftlichen Denkansatz nachzu­ bilden bestrebt sein müssen, wie das für die biologischen und techni­ schen Umweltfaktoren seit Jahrzehnten fortlaufend geschieht. (KV 1967 S. 145)

19 Um nicht mißverstanden zu werden: Wir berücksichtigen durchaus die Mehrstu­ figkeit dieser Produktionsprozesse: Zwar entsteht der Schornsteinfegerkrebs z. B. durch die ständig wiederholte Berührung mit Kohlenruß, doch der Schornsteinfeger in einer mit Kohle heizenden, Kamine bauenden Zivilisation, ist ein gesellschaftli­ ches »Produkt«.

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Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin Multidisziplinäres und sozialmedizinisches Konzept Worin liegt der Nutzen für die Mediziner, sich mit den Methoden und Begriffen der Soziologie zu beschäftigen? Welchen Erkenntnisgewinn und welche Gesichtspunkte für die Alltagsarbeit kann der gesund­ heitspolitisch tätige Arzt, z. B. der Vertrauensarzt, vom Soziologen erhoffen? Bei dem gegenwärtigen Stand der Zusammenarbeit von Medizin und Soziologie können wir drei Nutzanwendungen unter­ scheiden. Der Unterschied kommt in der Kombination medizinischer und soziologischer Denkweisen zum Ausdruck. Die erste Nutzanwendung liegt darin, »soziale Faktoren« in die Ursachenforschung und in die Therapie einzubeziehen. Es handelt sich um ein additives Hinzufügen soziologischer Forschungsmetho­ den zu feststehenden Modellen der Medizin. Die vorherrschenden Ordnungsschemata der Medizin, die Krankheiten erklären und The­ rapien begründen, bleiben unberührt. Die soziologischen Forschungs­ methoden und Erklärungen gesellschaftlicher Erscheinungen werden den medizinischen Kategorien beigeordnet, wie es mit den physikali­ schen, chemischen oder anderen naturwissenschaftlichen Verfahren seit jeher geschehen ist. Die besten Beispiele hierfür bieten die Sozialhygiene1, die Epide­ miologie2, die Gesundheitserziehung. Die soziologischen Verfahren, die hier eingesetzt werden, sind: die Methoden der empirischen Sozi­ alforschung zur Ermittlung und Sicherung der Zusammenhänge, die zwischen medizinisch bekannten Krankheiten und gesellschaftlichen Erscheinungen bestehen: unzureichende Ernährung, gesundheitsge­ fährdende Wohnverhältnisse, gesundheitsschädigende Gewohnhei­ ten, mangelnde Einsicht in die Zusammenhänge, die zwischen Lebensgewohnheiten und Gesundheitsgefährdung bestehen, man­ gelnde Motivation, auf gesundheitserzieherische Vorschläge einzuge­ hen. Die soziologisch unumgänglichen Fragen nach der Begründung der gesellschaftlichen Erscheinungen, die eine Gesundheitsgefähr­ dung verursachen, werden – wenn überhaupt – nur am Rande gestellt: Warum Menschen unzureichend ernährt werden, warum 1 2

Mosse, M. und G. Tugendreich: Krankheit und Soziale Lage, München 1912/13. Manfred Pflanz: Sozialer Wandel und Krankheit, Stuttgart 1962.

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Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin

gesundheitsgefährdende Wohnungen gebaut werden, auf welche Weise gesundheitsgefährdende Gewohnheiten entstehen, auf wel­ chem Erziehungshintergrund mangelnde Einsicht und mangelnde Motivation erwachsen, alle diese soziologisch und sozialpolitisch bedeutsamen Fragen werden allenfalls aufgeworfen, aber nicht mehr zum Gegenstand der Forschung gemacht. Sie fallen aus dem »Para­ digma« der Medizin heraus. Die zweite Nutzanwendung liegt in dem Erbringen zusätzlicher Argumente für die psychosomatische Betrachtungsweise. Diese ver­ läßt den konventionellen Rahmen der somatischen Medizin nach zwei Richtungen hin. Sie versucht die Hypothese einzulösen, daß Psychisches auf Physisches, Seelisches auf Körperliches einwirkt, sie untersucht die seelischen Bedingungen somatisch faßbarer Krank­ heitserscheinungen. Statt: »Krankheiten sind das Ergebnis im Körper beginnender Leistungsveränderungen« formuliert die psychosoma­ tische Medizin: »Krankheiten entwickeln sich im Korrelationsfeld von Erlebnis und diesem Erlebnis zugeordneten körperlichen Leistun­ gen. ... Übersteigt die psychische Erregungskomponente die Spann­ weite physiologischer Variationen, so provoziert sie den Übergang in die pathologische Reaktion.«3 In der Ausführung dieses Grund­ gedankens hat die psychosomatische Medizin eine Vielzahl konkur­ rierender Modellvorstellungen entwickelt, die sich von denen der somatischen Medizin dadurch unterscheiden, daß sie den Begrün­ dungszusammenhang für Krankheiten außerhalb des Somatischen in den Griff bekommen wollen. Aber auch noch nach einer anderen Richtung sprengt die psy­ chosomatische Medizin die somatische Betrachtungsweise. Wie Fritz Hartmann4 es einmal formuliert hat: Statt der Krankheitsgeschichte wird ihr die Krankengeschichte wesentlich. Die psychosomatische Medizin setzt die menschlichen Subjekte, die allein Krankheiten haben können, die an Krankheiten leiden, wieder als Partner des Arztes ein. Statt ein »Fall von« X-Krankheit zu sein, wird die Krank­ heit in einen biographischen Lebenszusammenhang hineingestellt. Interpretationsschema ist nicht allein alles Wissen um den objektiven Krankheitsprozeß, sondern zugleich und nachdrücklich das Wissen 3 Alexander Mitscherlich: Die psychosomatische und die konventionelle Medizin, in: 10., S. 140–154. 4 Fritz Hartmann: Krankheitsgeschichte und Krankengeschichte. Naturhistorische und personale Krankheitsauffassung. In: Marburger Sitzungsberichte, Bd. 87 (1966) Heft 2, S. 17–32.

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Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin

um den Stellenwert dieser Krankheit in dem Bedeutungszusammen­ hang eines individuellmenschlichen Lebens. Für das psychosomatische Konzept erweist sich die Soziologie als ein hilfreicher Bundesgenosse vor allem in zweierlei Hinsicht. Sie erweitert den Erklärungsrahmen des »Erlebens« und der »psychi­ schen Erregungskomponenten« um einen detaillierten Beitrag über die Konfliktstruktur der für die menschliche Person wesentlichen Primärerfahrungen in der Familie sowie in Arbeit und Beruf.5 Die Soziologie teilt dieses Arbeitsgebiet mit der Sozialpsychia­ trie und der Sozialpsychologie. Die wichtigsten Forschungsthemen sind die Familie, die Erziehungsprozesse und die betriebliche Orga­ nisation der Berufsarbeit. Aber auch für die Bearbeitung der biogra­ phischen Dimension im psychosomatischen Konzept, für die Kran­ kengeschichte, erweist sich die Soziologie als nützlich. Denn die Lebensgeschichte eines Menschen ist immer Bestandteil der Sozial­ geschichte. Die Biographie eines Menschen, seine Lebensgeschichte, stellt über wesentliche Strecken das Erlernen sozialer Rollen oder – anders gesagt – den Erwerb gesellschaftlich anerkannter und geforderter Funktionsleistungen dar. Die prägenden Kleingruppen der Familie und des Berufes sind stets gesellschaftlich verortet, sie sind Vollstrecker übergreifender Sozialstrukturen. Die bekanntesten Sozi­ alstrukturen sind die soziale Schichtung und die Herrschaftsordnung des Betriebes. Die Ansprüche, die das psychosomatische Konzept an die Sozio­ logie richtet, betreffen wieder einen Ausschnitt in deutlicher Isolie­ rung gegenüber dem möglichen Beitrag der Soziologie. Gefordert werden die Verfahren und Ergebnisse der Kleingruppenforschung, insbesondere der der Familie. Doch die soziologisch und gesell­ schaftlich relevanten Fragen bleiben auch hier unausgesprochen und unbearbeitet: Bietet die sozialgeschichtlich absichtslos entstandene Familienverfassung, mit der es die Psychosomatiker zu tun haben, nämlich die Kernfamilie, in der im Regelfall keine bis drei Kinder her­ anwachsen, die mit dem Abschluß der Berufsausbildung die Familie verlassen, eine optimale Erziehungschance? Ist nicht vielleicht diese Familienform eine endemische Brutstätte von »psychischen Erre­ gungskomponenten, die die Spannweite physiologischer Variationen 5 Alexander Mitscherlich, Tobias Brocher, Otto von Mering und Klaus Horn: Der Kranke in der modernen Gesellschaft. Neue Wissenschaftliche Bibliothek »Soziolo­ gie«, Köln und Berlin 1967.

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Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin

übersteigen und damit pathologische Reaktionen provozieren«? Gilt vielleicht ähnliches für die vorherrschende betriebliche Organisation der Erwerbs-und Berufsarbeit? Es ist verständlich, daß diese Fragen in der psychosomatischen Medizin – wenn überhaupt – allenfalls am Sonntag oder vorm Fernsehschirm gestellt werden. Ungeachtet aller Anleihen bei der Soziologie werden die zentralen Fragestellungen dieser Disziplin nicht übernommen, weil der Therapieplan und das diesem entsprechende Ätiologiekonzept der psychosomatischen Medizin an den individu­ ellen Einzelfall gebunden bleibt. Die Absage an die Krankheitsge­ schichte, an das Denken in exemplarischen Fällen einer Gattung X-Krankheit, das so vorteilhaft die psychosomatische Medizin dem Menschen wieder zuwendet, verstellt zugleich den Blick für die überindividuellen Zusammenhänge der sozio-kulturell gestalteten Umwelt. Denn wir haben es in der sogenannten Industriegesellschaft mit einer zwar nach keinem einheitlichen Plan, aber durchaus mit menschlichen Mitteln gestalteten und organisierten Umwelt zu tun. Wohin wir blicken: Familie und Wohnung, Lebensbedürfnisse und Kultur, Arbeit und Beruf, politische Teilhabe werden organisiert, verplant, sind partikularen, überindividuellen Interessen ausgeliefert. Von daher bleiben psychosomatische Anleihen bei der Soziologie, die sich auf die Familie oder auf die kleinen Gruppen oder die Primärerfahrung von Arbeit und Beruf beschränken, diesseits der gesellschaftlichen Strukturen. Die beiden geschilderten Nutzanwendungen der Soziologie haben gemeinsam, daß sie Ausschnitte aus der Soziologie in einge­ führte medizinische Arbeitskonzepte rein additiv einbringen. Die medizinischen Arbeitsprozesse bleiben dadurch unverändert, wir können noch nicht einmal sagen, daß sie dadurch effektiver werden. Die dritte Nutzanwendung der Soziologie bedeutet, daß sozio­ logische Theorien und Forschungsmethoden verwendet werden, um zentrale Probleme der gegenwärtigen Medizin zu lösen. Probleme, die uns allen gut bekannt unter folgenden Überschriften diskutiert wer­ den: Arzt-Patienten-Verhältnis, Prävention und Rehabilitation, Stationäre und ambulante Versorgung, Klinische Forschung und Forschung in der Allgemeinpraxis, Gesundheitspolitik – Sozialversicherung und Arzt als freier Beruf.

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Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin

Allen diesen Problemen ist gemeinsam, daß sie das Verhältnis der Medizin zur Gesellschaft betreffen. Es geht im Kern um die Frage, ob so, wie die ärztliche Tätigkeit und die medizinische Forschung organisiert sind, sie ihren Auftrag erfüllen. Einen Auftrag, den wir vielleicht so formulieren können: die Erkenntnisse über die Bedingungen des menschlichen Lebens in einer Weise zu fördern und praktisch anzuwenden, daß sie auch in jedem Einzelfall der Erhaltung und Steigerung des Lebens die­ nen. Dieser Auftrag kann nur über eine planvolle Organisation der hochspezialisierten wissenschaftlichen Leistungen erfüllt werden. Die absichtslos, aus verschiedenen sozialgeschichtlichen Prozessen heraus entstandenen Einrichtungen der Medizin können diese Auf­ gabe nicht leisten. Medizinische Fakultäten, die sich den einschlägigen Erkenntnissen außerhalb der Naturwissenschaften verschließen, ein ärztlicher Berufsstand, der auf seine Aufgabe nicht vorbereitet ist, eine Soziale Krankenversicherung, die über eine Milliarden-Finanzmasse verfügt, aber sich keine Rechenschaft über die sachliche Zweckmäßig­ keit ihrer Ausgaben zu geben vermag, Krankenanstalten, die mehr der Befriedigung von Prestigebedürfnissen dienen als Konzepte der Infra­ struktur realisieren, alles das, so verständlich aus seiner Geschichte, so idyllisch in seinem Eigenleben, entspricht nicht den Forderungen der Bürger, die diese milliardenschweren Einrichtungen unterhalten und denen sie ihre Gesundheit anvertraut sehen. Welchen unmittelbaren Nutzen kann der Mediziner aus solchen grundsätzlichen Erkenntnissen ziehen? Diese Frage verlangt eine Antwort. Denn eine Kritik der bestehenden Institutionen trägt nur in Jahrzehnten Früchte, allerdings auch nur dann, wenn die Arbeit im Alltag sich auf ein so langfristiges Ziel wie den Wandel von Institutionen einstellt. Als erstes müssen wir den methodischen Ansatz herausarbei­ ten, der zu der vorgetragenen Kritik berechtigt und auch für die Alltagsarbeit gilt. Das soziologische Konzept, das hier zum Tragen kommt, möchte ich als das Prinzip divergierender Bezugssysteme hier einführen. Dieses Prinzip ist der konventionellen Verfahrensweise in der Medizin konsequent entgegenzusetzen. Es besagt, daß es wissenschaftlich sinnvoll und praktisch nützlich ist, ein- und dieselbe Erscheinung unter verschiedenen Bezugssystemen zu interpretieren, ungeachtet der offensichtlichen Widersprüchlichkeit zwischen den Bezugssystemen. Formal beinhaltet dieses Prinzip die zunächst beun­ ruhigende Feststellung, daß ein- und dieselbe Erscheinung mehrdeu­

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Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin

tig ist, und daß es wissenschaftlich falsch ist, diese Mehrdeutigkeit aufzuheben. Die soziologisch reflektierte medizinische Auffassung wird gerade darin zum Ausdruck kommen, daß es ihr gelingt, die vor­ dergründig eindeutige Bewertung der Erscheinungen, mit denen es die Medizin zu tun hat, aufzuheben und in mehreren Bezugssystemen zugleich zu denken. Das beste Beispiel für die Anwendung des Prinzips divergieren­ der Bezugssysteme und zugleich Thema dieser Überlegungen ist die Krankheit6. Wir wissen – und das motiviert ganze Literaturgattungen –, daß die Krankheit (z. B. Erkältung) des Arbeitnehmers Christobald Rönnespieß zumindestens drei öffentlichen Bezugssystemen zuzu­ ordnen ist, der Bewertung durch Ärzte: Beratungsursache Erkältung; der Bewertung durch die Krankenversicherung: Versicherungs­ fall; der Bewertung durch den Betrieb: Arbeitsausfall. Die Ärzte müssen eine Erscheinung ihrem Bezugssystem (dem im Studium erlernten Krankheitsverständnis) einordnen, was in die­ sem nur deswegen einen Platz hat, weil die Sozialverfassung es erzwingt. Welcher Arzt würde frei von Unternehmungen, die für jede Arbeitsbefreiung ein ärztliches Attest erwarten, und frei von einer Krankenversicherung, die ihre Ausgaben »sachlich richtig« belegen muß, eine »Erkältung« behandeln oder gar als »Diagnose« auf ein Formular verbuchen? Die Krankenversicherung muß einen Versicherungsfall regis­ trieren, der ihre Ausgabenseite belastet, sie wird daher bestrebt sein, ihre Verwaltung darauf abzustellen, diese Belastung klein zu halten, daher bei »Erkältungen« rasch zum Vertrauensärztlichen Dienst vor­ zuladen. Nach unseren Erhebungen werden 63,6 % der Männer wäh­ rend der ersten 11 Tage der Arbeitsunfähigkeit vorgeladen, wenn sie eine kassenärztliche Diagnose ›Erkältungen, Grippe, Infekte‹7 haben, der Gesamtdurchschnitt liegt bei 43,6 %! Ferner wird die Kranken­ kassenverwaltung die jüngeren Patienten tendenziell rascher vorla­ den als die älteren usf. (Tab. 1).

Christian von Ferber: Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Hamburg 1967. Ders. und Karl Kohlhausen: Der »blaue Montag« im Krankenstand, in: ASA, 5. Jg. 1970, S. 25–30.

6 7

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Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin

Tab. 1 Von 100 Patienten der jeweiligen Altersgruppe bzw. der unter den gleichen Beurteilungsindex fallenden Versicherten wurden vorge­ laden für den 1. bis 11. Tag der Arbeitsunfähigkeit bzw. für den 12. bis 30. Tag der AUF Beurteilungsindex

I

Vorladezeit

1.–11.

II 12.–30.

1.–11.

III 12.–30.

1.–11.

12.–30.

Alter im Untersuchungsjahr 50 Jahre und älter

v. H. abs.

45,5 121

54,5 145

39,1 141

60,9 220

34,4 119

65,1 222

40 bis 49 Jahre

v. H. abs.

61,3 152

38,7 96

39,2 94

60,8 146

46,2 85

53,8 99

30 bis 39 Jahre

v. H. abs.

69,0 314

31,0 141

46,2 182

53,8 212

58,3 155

41,7 111

29 Jahre und jünger

v. H. abs.

69,3 233

30,7 103

49,5 208

50,5 212

56,8 142

43,2 108

Gesamt

v. H. abs.

62,8 820

37,2 485

44,2 625

55,8 790

48,1 501

51,9 540

Erläuterung: Der Beurteilungsindex verwertet die »Diagnosen« der Kassen­ ärzte unter zwei Gesichtspunkten: Diagnosen, die typisch zu einer frühen Vorladung führen und typisch mit einer Vertrauensärztlichen Begutachtung »arbeitsfähig« abschließen (Beurteilungsindex I). Diagnosen, bei denen das Umgekehrte der Fall ist, also späte Vorladung mit dem Ergebnis »weiterhin arbeitsunfähig« (Beurteilungsindex II). Diagnosen, die sich weder I noch II zuordnen lassen (III). Vorladezeit wird aus der Differenz zwischen 1. Tag der AUF und Tag der Vertrauensärztlichen Untersuchung gebildet. N = 3761 = Vertrauensärztlich untersuchte männliche Patienten der LVA Hannover, die zwischen 1. und 30. Tag der AUF vorgeladen wurden. Zufallsstichprobe August 1966 bis Juli 1967. Die Tabelle zeigt deutlich, daß neben der kassenärztlichen Beurteilung der Patienten (»Diagnosen«) für das Verwaltungshandeln der Krankenkassen das Alter der Patienten ein zusätzliches Entscheidungskriterium darstellt.

Der Betrieb muß einen Arbeitsausfall hinnehmen, der seine Gewinn­ rechnung negativ belastet, er wird gleichermaßen bestrebt sein, diesen Verlust so niedrig wie möglich zu halten: Einrichtung von Betriebskrankenkassen, Einsatz von Krankenbesuchern, Vormerken für etwaige Entlassungen in der Rezession oder bei der Mechanisie­ rung.

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Alle drei Institutionen, bei denen die Erkältung des Christobald Rönnespieß ein Verhalten auslöst, handeln zwangshaft gemäß den ihnen immanenten vorprogrammierten Systemprozessen und -ent­ scheidungen. Die Ärzte müssen »Diagnosen« produzieren, die Kran­ kenkassen müssen Versicherungsleistungen zwar gewähren, aber auf Sparsamkeit bedacht sein, die Unternehmungen müssen den Arbeitsausfall gering halten. Der Frage, ob diese Systementscheidun­ gen letztlich sinnvoll sind, weichen sie ebenso aus wie der Frage, warum der erkältete Christobald Rönnespieß die Arbeitsunfähigkeit der Arbeit vorzieht. Dabei enthält die Beantwortung der letzten Frage den Schlüssel zum Verständnis des gesamten Vorgangs. Der erkältete Christobald Rönnespieß zieht die Arbeitsunfähigkeit der Arbeit vor, weil die Sozialverfassung ihm gar keine andere Alternative anbietet. Was ergibt sich praktisch aus einem solchen Denken in Bezugs­ systemen? Wir können diese Bezugssysteme jetzt als die Denk- und Verhaltensorientierungen bezeichnen, die in bestehende Institutio­ nen eingebracht sind: Ärzte denken in Diagnosen, Krankenkassenbe­ amte in Verwaltungsentscheidungen und Kosten, Betriebe in Rentabi­ lität, Arbeitnehmer in dem Angebot an Verhaltensalternativen, das gesellschaftliche Institutionen ihnen machen. Nun, praktisch ergibt diese Analyse folgendes Ergebnis: Die Erkältung des Christobald Rönnespieß der Bewertung der Ärzte zu subsumieren war solange sinnvoll, wie die Finanzierung des Einkom­ mensausfalls Sache einer betriebsexternen Umverteilung war. Die Ärzte und die Krankenkassen zur Regulierung der Arbeitsunfähigkeit einzusetzen, wenn der entstehende Einkommensausfall vom Betrieb getragen wird, erscheint entbehrlich, es sei denn, es sollte sich heraus­ stellen, die deutschen Unternehmungen seien unfähig, befriedigende Entscheidungsprozesse betriebsintern zu institutionalisieren, um die Unpäßlichkeit ihrer Arbeitnehmer im Rahmen des Arbeitsvertrages auszugleichen und abzufangen. Lösen wir uns von dem Beispiel – es hätte auch Diagnose »Herz­ infarkt« oder »Magenulcus« lauten können mit selbstverständlich anderen Konsequenzen! Das ist jedoch nicht das Wesentliche. Das methodische Prinzip divergierender Bezugssysteme erlaubt es uns, die Eigenwirkungen gesellschaftlicher Handlungssysteme an jedem Einzelfall unbefangen zu diskutieren. Die naive Bindung an einen Standpunkt, sei es der der Volkswirtschaft oder der der Medizin oder der der Krankenkasse, wird aufgehoben. Hier liegt die Quelle für Vorurteile und Mißverständnisse, die die Diskussion gegenwärtig

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beherrschen. Vor allem aber verstehen wir Krankheit nicht länger isoliert als Thema medizinischer Lehrbücher oder als den kranken Leib, der in die ärztliche Sprechstunde gleichsam mitgebracht wird, sondern als eine durch das Handeln von Institutionen und Personen hervorgebrachte, produzierte Tatsache. Denn das, was wir Krankheit nennen, stellt ja das Ergebnis von Feststellungen und Bewertun­ gen dar, die gesellschaftliche Einrichtungen: Medizin, Krankenkasse, Unternehmungen getroffen haben. Sie haben diese Feststellung und Bewertungen nicht allein im Interesse der Kranken getroffen, sondern sehr wohl auch in ihrem eigenen Interesse. Denn damit der Arzt als Arzt tätig werden kann, d. h. seine im Studium und in der Medizi­ nalassistentenzeit sowie in der Fort- und Weiterbildung erworbene Kompetenz einsetzen kann, muß »Krankheit« vorliegen. Der Leser stelle sich einmal als Gedankenexperiment vor, es kommt jemand zum Arzt und sagt: »Herr Doktor, meine Tochter kommt jetzt aus der Schule und will Friseuse werden. Ich hatte für sie geplant, sie sollte noch eine Fachschule besuchen. Ich bin aber völlig machtlos und fühle mich sehr niedergeschlagen, es kostet mich Überwindung, noch zur Arbeit zu gehen.« – Um diesem Menschen als Arzt helfen zu können, muß er dessen Problem transformieren. Er kann es als Neurose einordnen, er kann es als climacterium virile anpacken, er kann es als Aufbraucherscheinung oder als Folge früherer Erkrankungen oder als Vorstadium einer chronischen Krank­ heit oder ..... oder ....; das Inventar möglicher medizinischer Begrün­ dungen ist groß. Doch was er nicht kann als Arzt: ein Gespräch mit Vater und Tochter führen! Das gleiche gilt für Krankenkassen und Betriebe. Erst wenn wir das hier angesprochene Problem sehen, daß die Menschen, mit denen wir es als Patienten, als Ratsuchende und Hilfsbedürftige zu tun haben, in ihren Entscheidungen unfrei sind, gebunden an die Verhaltensangebote, an die präformierten Verhaltensalternativen, die gesellschaftliche Einrichtungen (Institutionen) entworfen haben, und daß diese Verhaltensangebote auch und nicht zuletzt im Interesse der Institutionen gemacht werden, dann beginnen wir soziologisch zu denken.

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Exkurs zum Prinzip divergierender Bezugssysteme Dieses Prinzip kommt – wenn ich recht sehe – in der sozialpolitischen und sozialmedizinischen Diskussion bereits zur Geltung. Hans Achin­ ger hat in seinen Arbeiten zur Sozialpolitik8910 auf die divergenten Bezugssysteme der sozialpolitischen Gesetzgebung und Institutionen einerseits und der individuellen Hilfsbedürftigkeit andererseits hin­ gewiesen. Das aus der Divergenz der Bezugssysteme sich herleitende sozialpolitische Problem hat er sehr präzise und treffend bezeich­ net: »Die gesetzlich begründeten Institute geben den Dingen ihren Namen. Sie definieren und benennen soziale Tatbestände solange, bis auch die Notleidenden selbst ihren Zustand nur unter diesen Titeln begreifen ... Es wird also ein neutraler Durchschnittstyp der Menschen vorausgesetzt, bei dem es im Zweifelsfalle an Geld oder Gesundheit mangelt«11. Für die ärztliche Begutachtung in der Krankenversicherung tritt Karl Kohlhausen nachdrücklich für eine vieldimensionale Betrach­ tungsweise in Abhebung von einer rein medizinisch orientierten Beurteilung ein; er schreibt: »Der ärztliche Sachverständige könnte versucht sein, eine Erklä­ rung des Begriffs ›Krankheit‹ nach medizinischen Gesichtspunkten zu geben, was aber bei der hierzu möglichen und notwendigen viel­ dimensionalen Betrachtungsweise als nicht erreichbar bezeichnet werden muß. Die bekannte Definition ›regelwidriger Körper- oder Geisteszustand‹ läßt immer die Frage nach dem Bezugswert, nämlich dem regelrechten Körper- oder Geisteszustand stellen. Es erscheint unmöglich, eine Grenzfestlegung im Rahmen dieser Frage zwischen ›gesund‹ und ›krank‹ auch nur einigermaßen befriedigend zu geben. Der vorerwähnte Bezugswert kann nicht allgemein festgelegt, son­ dern muß an der Einzelperson jeweils immer wieder ermittelt wer­ den«12. Hans Achinger: Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, rde Bd. 47, Hamburg 1958. Ders.: Soziologie und Sozialreform. In: Verhandlungen des 14. Deutschen Soziolo­ gentages, Stuttgart 1959, S. 39 ff. 10 Ders.: Sozialpolitik und Wissenschaft, Stuttgart 1963. 11 Hans Aichinger: Soziologie und Sozialreform. In: Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1959, S. 39 ff. 12 Karl Kohlhausen: Die ärztliche Begutachtung in der Krankenversicherung. In: Handbuch für das öffentliche Gesundheitswesen, Bd. 5. 8

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Exkurs zum Prinzip divergierender Bezugssysteme

Als wissenschaftstheoretisches Konzept hat Delius dieses Prinzip für die psychosomatische Medizin formuliert. Er wendet sich gegen eine einseitige psychogenetische Ausdeutung der psychosomatischen Krankheitsbilder. Kritischer gegenüber den Erkenntnismöglichkeiten reflektiert er auf die Gegebenheitsweise und erkennt die wissen­ schaftliche Gleichrangigkeit des »Erlebens« an, das als selbständige Dimension das Krankheitsbild bestimmt. Neben den konventionell medizinischen Methoden der Diagnostik und der Therapie werden zwei weitere Bezugssysteme erschlossen, die Erlebniswelt des Pati­ enten, d. h. sein Situationsverständnis, seine Umweltverarbeitung und seine Biographie, und die wissenschaftlichen Verfahren zur Ermittlung, Darstellung und Auswertung der Erlebniswelt. Hierzu gehören in der Einteilung unseres Wissenschaftssystems: die Psy­ choanalyse, die Psychologie, die Empirische Sozialforschung, die Soziologie. M. a. W. in der Erforschung der psychosomatischen Krankheitsbilder können wir für die Gegebenheitsweise des Erlebens auf eine vergleichbare Vielfalt von wissenschaftlichen Methoden zurückgreifen wie für die Gegebenheitsweise des Somatischen. In diesem Sinne ist die Formulierung von Delius zu verstehen: »Als psy­ chovegetativ werden jene Lebensvorgänge bezeichnet, bei denen, wie auch in den psychomotorischen Abläufen, ein Simultangeschehen mit einem somatischen und psychischen Aspekt gegeben ist. Die Einheit der beiden Erscheinungsweisen des Psychischen und des Somatischen in diesen Vorgängen sowie die Eigenart ihres Doppelaspektes wird nur einer komplementären Betrachtungsweise deutlich. Der Erleb­ nisanteil kann nicht als ›Begleiterscheinung‹ oder ›Epiphänomen‹ des Somatischen, aber auch umgekehrt das Körpergeschehen nicht als kausale Folge des Psychischen gedeutet werden. Der Terminus ›psy­ chovegetativ‹ ist stattdessen auf die koordinierte und komplementäre Funktionsdynamik des Psychischen und des Vegetativen gerichtet.« Wissenschaftstheoretisch liegen den hier skizzierten Konzepten von einer therapeutisch wirksamen wissenschaftlichen Erforschung menschlicher Hilfsbedürftigkeit durchaus verschiedene Vorausset­ zungen zugrunde: Die Annahme der Unvereinbarkeit der Bezugssys­ teme, die zur Vergewaltigung des einen durch den anderen führt (etwa bei Achinger in der schlichten Niederwalzung der individuellen Not­ lage durch die Eigenrationalität der sozialpolitischen Institutionen oder bei Delius in der betonten Abwehr der psychogenetischen oder der rein somatischen Betrachtungsweise), oder die der Koexistenz verschiedener wissenschaftlicher Gegebenheitsweisen, für die eine

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Integration vielleicht in der Zukunft zu erhoffen ist (das entspricht etwa dem Tenor des Buches von Delius13), oder die der Einheit von Wissenschaft und Gegenstand, die die Verschiedenartigkeit der Gege­ benheitsweisen über eine interdisziplinäre Problemstellung schließ­ lich überwindet. Die soziologische Denkweise vermag in dieser wissenschafts­ theoretisch unbefriedigenden Erkenntnissituation eine hilfreiche Konstruktion anzubieten. Sie versteht die wissenschaftlichen Bezugs­ systeme: wissenschaftlich-klinische Medizin, Psychoanalyse, Psy­ chologie und Soziologie nicht nur als theoretische Konstruktionen, z. B. als System theoretischer Sätze, sondern auch als »theoretische Praxis«14, und zwar aus folgender Berechtigung. Generell organisiert sich Forschung als kollektiver Arbeitsprozeß, wir können daher wis­ senschaftliche Arbeit soziologisch kaum anders denn als Soziales Handeln verstehen. Die medizinisch relevanten Forschungsprozesse stehen aber noch unter einer weiteren Bedingung, die sie als »Praxis« ausweist. Sie transformieren ein Ersuchen um Rat, Beistand oder Hilfe in eine wissenschaftliche Fragestellung. Die dem Arzt als dem Ange­ hörigen eines wissenschaftlich (nicht fachhochschulmäßig, sondern universitär) vorgebildeten Berufes dargebrachten lebenspraktischen Fragen seiner Patienten verlangen nach wissenschaftlich kompetenter Auskunft. Der Arzt muß diese Frage transformieren, und zwar in die Modellvorstellungen und Lösungsmethoden, die medizinisch relevant und anerkannt sind. Diese Transformation eines praktischen Ersuchens, das an einen Experten oder an die ihn tragenden Wissen­ schaften gerichtet wird, ist in unserer Gesellschaft fest institutionali­ siert; wir können auch sagen, daß die Patienten sich in hohem Grade auf diese Situation eingestellt haben, ebenso wie die Organisation der ärztlichen Versorgung. Diese könnte die gegenwärtige Inanspruch­ nahme rein zahlenmäßig gar nicht bewältigen, wenn sie die Transfor­ mation lebenspraktischer Fragen in wissenschaftliche Fragestellungen und Lösungen nicht bereits erfolgreich durchgesetzt hätte. Die Trans­ formation lebenspraktischer Problemlösungen ist aber soziologischgesellschaftliche Praxis. Die wissenschaftlichen Arbeitsprozesse in medizinisch relevanten und medizinisch genutzten Wissenschaften sind daher nicht allein für sich betrachtet (als Organisation wissen­ schaftlicher Arbeit) theoretische Praxis, sondern auch in ihrem Beitrag 13 14

Ludwig Delius und J. Fahrenberg: Psychovegetative Syndrome, Stuttgart 1966. Louis Altbusser: Pour Marx, dt. Frankfurt 1968 (ed. Suhrkamp).

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Exkurs zum Prinzip divergierender Bezugssysteme

zur Lösung lebenspraktischer Belange (Diagnose und Therapie für Patienten, die medizinisch kompetenten Beistand erwarten) theore­ tisch-gesellschaftliche Praxis. Für das hier betrachtete Prinzip der Divergenz wissenschaftli­ cher Bezugssysteme hat unsere Analyse folgende Konsequenz: Die Unvereinbarkeit der wissenschaftlichen Konzepte ist nicht allein ein logisch-theoretisches Problem, sondern ein Problem der »theoreti­ schen Praxis«. Es geht letztlich um die Frage, welche wissenschaftliche Transformation der lebenspraktischen Belange wir für die sinnvollangemessenste halten, ob der konventionell-medizinische oder der psychosomatische oder der psychoanalytische oder der psychologi­ sche oder der soziologische oder vielleicht keiner der angebotenen Lösungsvorschläge dem dargebrachten Problem gerecht wird. Die Kriterien für die Entscheidung dieser Frage können wir nicht einem der wissenschaftlichen Bezugssysteme entnehmen – das war der naive Irrtum der bisherigen Wissenschaftsauffassung. Wir können sie auch nicht mehreren zugleich entnehmen – das ist m. E. der Trugschluß der meisten »interdisziplinären Programme« –, sondern wir können sie letztlich nur den Existenzbedürfnissen der Patienten entnehmen. Das bedeutet aber, daß wir danach trachten müssen, die Experten-Klienten-Beziehungen aufzuheben, die gegenwärtig den Verkehr zwischen Arzt und Patient, zwischen organisierter Medizin und Bevölkerung vor-strukturieren. Das würde ferner bedeuten, daß die Aufgabe des Experten auch darin bestehen könnte, dem Patienten dazu zu verhelfen, seine Bedürfnisse nach Beistand und Hilfe ange­ messen zu formulieren, anstatt sie in vorgefertigte Lösungsvorschläge einzubringen. Die technokratische Vergewaltigung der Patienten, die wir gegenwärtig an unserem Gesundheitssystem allerwärts regis­ trieren, geht aus dieser Struktur hervor.15 Der Eifer der verschiede­ nen »theoretischen Praxen« (sc. der medizinisch relevanten Wissen­ schaften) führt aus dem Eigenzwang institutioneller Vorkehrungen zu einer höchst effektiven Transformation von lebenspraktischen Problemen in spezifisch wissenschaftliche Lösungen und damit zu einer Vernachlässigung der Frage, ob das lebenspraktische Problem eigentlich »angemessen« interpretiert wurde. Die Effizienz unserer »theoretischen Praxis« – das erkennen wir immer deutlicher – besteht eben leider darin, Probleme immer schon für entscheidbar und für gelöst zu halten, ehe sie überhaupt formuliert werden konnten. 15

Christian von Ferber: Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Hamburg 1967.

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Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin

Das Prinzip der Divergenz der Bezugssysteme erzwingt in dem entwickelten soziologischen Ansatz eine Reflexion auf die lebens­ praktische Bedürfniskonstellation, die allein die wissenschaftlichtheoretische Praxis zu rechtfertigen vermag. Solange die Soziologie sich als legitimer Anwalt der Existenzbedürfnisse der Bürger versteht, fällt ihr die wissenschaftliche Verantwortung auch für die Artikulie­ rung dieser Bedürfnisse zu. In der Wahrnehmung dieser Aufgabe scheint mir der wesentliche Nutzen der Soziologie für die Medizin zu liegen. Denn sie führt die Medizin wieder auf die Ursprungssitua­ tion des Arztes zurück, eine hilfreiche Antwort auf die Leiden von Menschen zu geben.

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Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit* Wann werden wir in der BRD eine Gesundheitspolitik haben? Wer diese Frage stellt, meint zweierlei. Einmal wird schon mit der Frage zum Ausdruck gebracht, daß wir bislang in der Bundesrepu­ blik Deutschland auf gesundheitspolitischem Gebiet keine Initiative entfaltet haben. Damit soll nicht verkannt werden, daß von verschie­ denen Einrichtungen, etwa der Krankenversicherung, oder von Ver­ bänden, etwa der Ärzteschaft, auf diesem Gebiet gearbeitet wird, dennoch fehlt es an überzeugenden Prinzipien für eine Politik, die sich an der Volksgesundheit orientiert. Zum andern aber will die Frage: Werden wir eine Gesundheitspolitik haben? deutlich unterstreichen, daß es keineswegs,sicher ist, ob die vor uns liegenden 10 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland eine Politik der Volksgesundheit bringen werden. Zwar läßt sich auch heute schon – und damit komme ich zum ersten Teil meiner Ausführungen – eine Politik der Volks­ gesundheit wissenschaftlich begründen, ob sie durchsetzbar sein wird, hängt von einigen Bedingungen ab. Ich möchte diese Bedingungen einleitend als die Durchsetzbarkeit eines institutionellen Wandels bezeichnen. Damit ist gemeint, daß die bestehenden Einrichtungen – der Sozialpolitiker spricht von Institutionen1 –, die der Versorgung der Bevölkerung im Krankheitsfall dienen, sich wandeln müssen. Veränderungen im System der Krankenversicherung, Wandel im System der ärztlichen Versorgung, Neuorientierung im Denken der Bevölkerung sind für eine erfolgreiche Politik der Volksgesundheit notwendige Vorbedingungen, sie können nur über eine Veränderung des Bestehenden, also über einen institutionellen Wandel, geschaffen werden. Mit diesem Problem werden wir uns im zweiten Teil dieses Beitrages auseinandersetzen müssen. Welche Prinzipien begründen eine Politik der Volksgesundheit? Warum reichen die Einrichtungen, die zur Versorgung der Bevölke­ rung im Krankheitsfall während der letzten hundert Jahre geschaffen Nach einem Vortrag im Süddeutschen Rundfunk in der Sendereihe: Die Deutsche Politik in den Siebziger Jahren. September 1970. 1 Achinger, H.: Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Hamburg. (rde) 1958.

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Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit

wurden, nicht länger aus? Mit der Beantwortung dieser Frage wollen wir uns zunächst beschäftigen.

Wandel des Krankheitspanoramas Eine erste Antwort lautet: Die Erfolge der wissenschaftlichen Medi­ zin in unserem Jahrhundert haben eine neue Situation geschaffen, die ein aktives Eingreifen politischer Instanzen fordert. Die Medizi­ ner sprechen von einem Wandel des Krankheitspanoramas.2 Damit bezeichnen sie sehr treffend den Rückgang, ja zum Teil die Ausrot­ tung bedrohlicher Infektionskrankheiten, an denen noch vor einer Generation Jahr für Jahr viele Menschen starben. Das Zurückdrängen dieser als Infektionskrankheiten bekannten Krankheitsgruppen hat – wie wir wissen – nicht dazu geführt, daß unsere Bevölkerung überhaupt von Krankheit befreit worden ist, sondern es treten jetzt andere, schleichend verlaufende Krankheiten in den Vordergrund, die in der Regel erst nach einem längeren Krankheitsverlauf zum Tode führen: die vielen Arten von Krebserkrankungen und die coro­ naren Gefäßleiden stellen heute bedrohliche Volkskrankheiten dar. Ferner sind in diesem Zusammenhang die vielfältigen psychosoma­ tischen Leiden zu nennen, die der Wissenschaft noch weitgehend ungelöste Probleme aufgeben.3 Die Sozialgeschichte der Medizin zeigt also in der Bekämpfung von Krankheiten eine widersprüchliche Bilanz. Den bahnbrechenden Erfolgen, die zur Ausrottung gefährli­ cher Volkskrankheiten geführt haben, stehen ungelöste Aufgaben von vergleichbarer Mächtigkeit gegenüber. Darin erweist sich die Medizin als ein echtes Kind des industriell-zivilisatorischen Fortschrittes. Jeder Erfolg wirft sofort neue Probleme auf, die den gewachsenen Produktivkräften entsprechen. Dem Leistungsstand einer Medizin angemessen, die einige utopische Hoffnungen der Menschheit reali­ siert hat, stellen sich neue Aufgaben. Die Bedrohung menschlichen Lebens durch todbringende Krankheiten oder durch Leiden, die die Lebensfreude zerstören, hat sich mit dem medizinisch-wissenschaftli­ chen Fortschritt auf ein neues Feld der Auseinandersetzung verlagert. In einem uralten mythischen Bilde gesprochen: die Unsterblichkeit, die nach den frühesten Überlieferungen vieler Völker die ersten 2 3

Pflanz, M.: Sozialer Wandel und Krankheit. Stuttgart 1962. Delius, L., und Fahrenberg, J.: Psychovegetative Syndrome. Stuttgart 1966.

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Menschen durch ihren frevelhaften Übermut verspielt haben, ist noch nicht zurückgewonnen, ungeachtet der prometheischen Anstrengun­ gen einer wissenschaftlichen Zivilisation. Die neuen Aufgaben, die sich der Medizin im Zeichen ihrer eigenen bahnbrechenden Erfolge stellen, verlangen nach einer Reor­ ganisation der Kräfte. Mit den Denkmethoden und den Einrichtun­ gen, die zur erfolgreichen Bekämpfung von Infektionskrankheiten in jahrhundertelanger Arbeit ersonnen wurden, lassen sich die Pro­ bleme der schleichend verlaufenden Volkskrankheiten nicht lösen. Die wissenschaftliche Medizin, wie sie sich gegenwärtig noch weitge­ hend darbietet, ist ausschnitthaft auf ein bestimmtes Feld der Bedro­ hung menschlichen Lebens gerichtet unter Aussparung der Aspekte menschlichen Leidens, die zunehmend die Szene beherrschen. Wis­ senschaftstheoretisch können wir von einem »Paradigma« sprechen4, das der Forschung in den vielen medizinischen Spezialdisziplinen den Weg weist und das – die wissenschaftliche Spezialisierung übergrei­ fend – den Medizinern gemeinsam ist. Dieses »Paradigma«, das als Leitvorstellung die Arbeit der Mediziner steuert, fixiert Forschung und Therapie auf einen Krankheitsbegriff, der für das gewandelte Krankheitsbild zugestandenermaßen nicht mehr paßt. Wir wollen zum besseren Verständnis der Situation die Merkmale dieses Krank­ heitsbegriffes kurz umreißen und seine Folgen für die Organisation der medizinischen Forschung und der ärztlichen Versorgung darstel­ len.

1. Konzentration der medizinischen Forschung Krankheiten nehmen einen typischen Verlauf, der in seinen medizi­ nisch bedeutsamen Aspekten unabhängig von der Persönlichkeit des Kranken erforscht und therapeutisch beeinflußt werden kann. Fritz Hartmann5 hat die medizinhistorische Entwicklung nachgezeichnet, die zu der Isolierung des Studiums der Krankheiten gegenüber dem Studium des kranken Menschen geführt hat. Aus der Hilfsbedürftig­ keit des Kranken, der sein Leiden dem Arzt in der Hoffnung auf Kuhn, Th. S.: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962. Hartmann, F.: Krankheitsgeschichte und Krankengeschichte. Naturhistorische und personale Krankheitsauffassung. Marburger Sitzungsberichte Bd. 87 (1966) Heft 2, S. 17–32.

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Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit

Heilung darbietet, hat die wissenschaftliche Medizin einen Aspekt isoliert: die Merkmale, die allen Kranken der gleichen Krankheit gemeinsam sind. Dieses Vorverständnis oder – wissenschaftstheore­ tisch gesprochen – »Paradigma« von Krankheit, das uns heute selbst­ verständlich ist, hat sich, sozialgeschichtlich gesehen, schrittweise durchgesetzt. Für die Organisation der Medizin hat es jedoch ein­ schneidende Folgen gehabt. Zunächst bedeutet dieses Paradigma eine Entlastung des Arztes und erlaubt eine Steigerung der Effizienz seiner Arbeit. Er konnte sich auf die typischen, bei jeder Erkrankung (an einer Krankheitsspezies) auftretenden Merkmale konzentrieren und brauchte keine zeitaufwendige Persönlichkeitsdiagnostik für jeden einzelnen Patienten einzuleiten. Er konnte den Fall von der Krankheit X (z. B. Diphtherie oder Lungenkarzinom) feststellen und nach den Regeln der Kunst behandeln. Das Prinzip der Typisierung von Gütern und Dienstleistungen, das die arbeitsteilige industrielle Produktions­ weise beherrscht, konnte auch in den Sozialverkehr zwischen Arzt und Patient erfolgreich eingebracht werden. Ein wissenschaftliches Paradigma, das vom einzelnen Patienten unabhängige Studium von Krankheiten, schlug auf diesem Wege um in ein Prinzip der Arbeitsor­ ganisation medizinischer Dienstleistungen. Den Wirkungsgrad dieses Prinzips können wir annähernd aus der Statistik der akademischen Dienstleistungen ablesen. Neben den Ärzten gilt auch für die Lehrer und für die Pfarrer der Gesichtspunkt, daß ihre Dienstleistungen auf die gesamte Bevölkerung umgelegt werden müssen, also auf die Anzahl der Personen, die schulpflichtig, die der Seelsorge bedürftig, die krank sind. Bei einer Mikrozensuserhebung aus dem Jahre 1966 waren an einem Stichtage nahezu 11 Prozent der Wohnbevölkerung krank im Sinne von behandlungsbedürftig.6 Eine Schule oder Hoch­ schule besuchten ca. 17 Prozent der Wohnbevölkerung. Etwas über 90 000 Ärzten stehen 330 000 Lehrer gegenüber, zu denen noch 128 000 teilweise beschäftigte Lehrkräfte hinzukommen.7 Gemessen an der Beanspruchung aus der Wohnbevölkerung wird für die einein­ halbfache Inanspruchnahme die drei- bis vierfache Anzahl an Akade­ mikern benötigt. Dies ist sicherlich ein grobes und auch mißverständ­ liches Maß der Effizienz, es unterstreicht aber den unterschiedlichen Rationalisierungsgrad in der Wahrnehmung von Aufgaben, die sich aus der Größe der Bevölkerung ergeben. 6 7

Wirtschaft und Statistik, 1968, Heft 2, Monatszahlen. Statistisches Taschenbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1970.

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Neben der Effizienz ärztlicher Dienstleistungen, in einer Wirt­ schaftsgesellschaft der »Knappheit« von hohem Nutzwert, ermöglichte das Paradigma der Krankheit die Konzentration der medizinischen Forschung. Das Studium von Krankheitsprozessen in Forschungslaboratorien, in experimentell simulierten Situationen oder im Tier­ versuch befreite die medizinische Forschung aus den engen Grenzen, die die Rücksichten auf die Menschlichkeit und auf die Gesamtper­ sönlichkeit des Patienten ihr auferlegten. Mit der Ablösung der Arbeitssituation des medizinischen Forschers aus der Arzt-Patienten­ beziehung wurde aber auch der Arzt aus dem Forschungsprozeß ausgegliedert, dezentralisierte ärztliche Versorgung der Bevölkerung und Konzentration der medizinischen Forschung traten auseinander, die Ziele der Forschung und die Forschungsbedürfnisse der ärztlichen Versor­ gung kamen je länger desto weniger zur Deckung. Ohne Zweifel hat die Konzentration der Forschung und – denken wir an die pharma­ zeutische Industrie – ihre Industrialisierung und Kommerzialisierung den Forschungsprozeß beschleunigt und wichtige Entdeckungen erzwungen. Doch über diese Erfolge dürfen wir nicht übersehen, daß die ärztliche Versorgung der Bevölkerung von der Forschung abgenabelt wurde. Dem medizinischen Forscher blieben die forschungswürdigen Aufgaben aus dem Arzt-Patientenverhältnis verschlossen, er wurde praxisblind. Da die Aufgabe des Arztes gerade darin besteht, die dargebrachten Beschwerden in eine medizinisch lösbare Aufgabe umzuformulieren, blieben auf diese Weise viele Fragen der Patienten unbeantwortet. Die ärztliche Versorgung entspricht nicht dem Stand des erreichten Potentials medizinischer Forschung, die Prioritäten der medizinischen Forschung decken sich nicht mit dem Dringlichkeits­ programm für die ärztliche Versorgung der Bevölkerung.

2. Patientensteuerung der Gesundheitsdienste Mit dem eben genannten Merkmal der Herauslösung der Krankheiten aus der Arzt-Patientenbeziehung und der daraus folgenden Konzen­ tration und Industrialisierung der medizinischen Forschung verbindet sich ein weiteres Prinzip, das ich die Patientensteuerung der Gesund­

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heitsdienste nennen möchte.8 Von den Impfungen, Einstellungs- und einigen Reihenuntersuchungen abgesehen, entscheidet der Patient über die Inanspruchnahme ärztlicher und pharmazeutischer Leistun­ gen. Das diese Entscheidung begründende Vorverständnis ist einfach; es besagt: der krankhafte Zustand eines Menschen meldet sich so unmißverständlich an, daß der Patient und seine nächste Umgebung gar nicht umhinkommen, kompetente Hilfeleistung in Anspruch zu nehmen. Und umgekehrt: der Arzt ist für die Kranken da, der Gesunde bedarf des Arztes nicht! Das einzige gesellschaftliche Prob­ lem an der Arzt-Patienten-Beziehung, das einer politischen Lösung bedurfte, waren die mit der Krankheit entstehenden Kosten. Die Bezahlung der Ärzte, Apotheker und Pflegedienste sowie für die Arbeitnehmer der Ersatz ihrer Einbuße an Einkommen während der Krankheitszeiten wurden daher einer sozialpolitischen Einrich­ tung, der gesetzlichen Krankenversicherung, übertragen. War die finanzielle Schwelle abgetragen, die den Patienten von der ärztlichen Hilfeleistung fernhalten konnte, so sollte – so meinte man – die Krankheit hinreichendes Motiv sein, die Menschen dem Arzt zuzu­ führen, die seiner bedurften. Die Folgen dieses Vorverständnisses bilden heute unsere Probleme: die Krankenversicherung, inzwischen fast zu einer Volksversicherung herangewachsen, die 90 Prozent der Bevölkerung erfaßt, ist vorzugsweise auf die finanziellen Aufgaben fixiert. Ob die organisatorische Regelung des Arzt-Patientenverhält­ nisses auch gesundheitspolitisch sinnvoll und zweckmäßig ist, kann heute mit Recht bezweifelt werden. Die jährlich 20 Milliarden DM, das sind 4,0 Prozent aus dem Volkseinkommen, die die soziale Kran­ kenversicherung umsetzt, werden nicht nach gesundheitspolitischen Prioritäten, sondern auf der Grundlage sachlich nicht überprüfbarer gesetzlicher Fiktionen verteilt. Die Ärzte sind auf die Behandlung von Kranken festgelegt, ungeachtet der Einsicht, daß die schleichend ver­ laufenden Krankheiten dem Patienten und seiner Umgebung den Weg zum Arzt erst dann zwingend erscheinen lassen, wenn eine Heilung erschwert oder gar ausgeschlossen ist. Die Erkennung und Behand­ lung von Frühstadien ist nach dem Prinzip der Patientensteuerung nicht erfolgreich. Die Maxime, der Gesunde bedarf des Arztes nicht, täuscht falsche Sicherheit vor und fördert eine gesundheitspolitisch von Ferber, Chr.: Aufgaben und Möglichkeiten der Epidemiologie. In: B. Waibel u. L. K. Widmer. – Epidemiologie cardiovasculärer Krankheiten. Bern, Stuttgart, Wien 1970. 8

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unwirksame Verwendung knapper ärztlicher Dienstleistungen. Die Patienten, die ein solches System erzieht, sind auf Krankheitszeichen fixiert. Denn die Inanspruchnahme von kompetenter ärztlicher Hilfe oder von Versicherungsleistungen setzt die eingetretene Krankheit, den Schaden an der Gesundheit voraus. Obwohl uns die Medizinso­ ziologen9 versichern, daß die Bevölkerung in der industriellen Zivi­ lisation ihrer Gesundheit einen steigenden Wert beimißt, liegt die Wertpräferenz der Ärzte und der Krankenversicherung eindeutig bei der Krankheit. Ein gesundheitsförderndes Verhalten wird nicht belohnt weder durch wissenschaftliche begründete Beratung noch durch materielle Anreize!

3. Therapeutische Entmündigung des Patienten Mit der Patientensteuerung der Gesundheitsdienste hängt ein Gesichtspunkt zusammen, den ich als die naive Unterstellung des Gesundungswillens der Patienten bzw. als seine therapeutische Ent­ mündigung hier zur Sprache bringen möchte. Dieses Prinzip ergänzt die bereits genannten Vorverständnisse: die Herauslösung der Krank­ heit aus der Arzt-Patientenbeziehung und die Patientensteuerung der Inanspruchnahme medizinischer Hilfeleistungen. Beide setzen nämlich als Selbstverständlichkeit voraus, daß jeder Kranke gesund werden möchte. Daher wird er stets den Arzt aufsuchen, wenn er Krankheitszeichen bei sich bemerkt, und deswegen kann sich die Forschung und die Therapie auf den äußeren Ablauf der Krankheit beschränken, sie können auf die Mitwirkung des Patienten verzichten. Seine Motive, die die Gesundung fördern oder hemmen könnten, werden als unbeachtlich aus dem Paradigma ausgeschieden. Die Forschung erstrebt die narrensichere, d. h. eine vom Patienten unab­ hängige Therapie. In diesem Prinzip treffen wir auf die Kehrseite eines von der Persönlichkeit des Patienten emanzipierten Studiums der Krankheiten. Es gehört zum Ehrgeiz dieses Forschungsprogramms, 9 Rohde, J. J.: Gesundheitserziehung im sozialen System. Einige Grundlinien für einen soziologisch-theoretischen Bezugsrahmen. In: Praktischer Arzt und Sozialme­ dizin. (Schriftenreihe Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Arbeitshygiene, Bd. 19), Stutt­ gart 1967. Schoene, W.: Zur sozialen Funktion und zur soziologischen Problematik des Gesund­ heitsideals. Soziale Welt, 14 (1963) S. 109 bis 126.

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auch die Therapie vom störenden, weil nicht vorhersehbaren Einfluß der Patienten zu befreien. Das Bild vom Patienten wird diesem Programm entsprechend verzerrt: der Patient ist »Laie«, d. h. in der Regel dumm, uneinsichtig, unberechenbar und begehrlich. Daher müssen seine Krankheiten ohne seine Beteiligung auf technischem Wege beherrschbar gemacht werden, die therapeutischen Mittel tri­ umphieren über die schwierige, zeitaufwendige Überzeugung des Patienten; ferner muß der Patient kontrolliert werden, um seine Begehrlichkeit gegenüber dem Versicherungssystem in Schranken zu halten. Der Irrtum, dem dieses Prinzip aufsitzt10, ist nach einer Richtung hin von der psychosomatischen Medizin bereits aufgedeckt worden. Diese Richtung der Medizin sieht sich von ihrem Ursprung an auch einem Patientengut gegenübergestellt, dessen Gesundungs­ wille gestört ist. Diesen Menschen bedeuten die Schwernisse des Krankseins, die Unannehmlichkeiten, die Diagnostik und Therapie ihnen bereiten, das kleinere Übel gegenüber den Leiden, die ihnen der normale Lebensalltag bereitet.11 Die Gesundheit ist schwerer für sie zu ertragen, als die Verzichtsleistungen, die ihnen ihre Krankheit abfordert. Bei diesen Patienten muß also die Therapie sich auf ihren Gesundungswillen richten, sie muß die Mitarbeit der Patienten für die Genesung gewinnen, sie kann also die Persönlichkeit nicht aus dem therapeutischen Konzept aussparen. Diese Konsequenz ist anerkannt. Weniger beachtet wird aber eine weit gefährlichere Wirkung des hier diskutierten Prinzips: die generell sich einschleichende Inakti­ vität des Patienten. Sie folgt aus dem Verzicht der Medizin auf die Mitwirkung des Patienten nach der soziologischen Regel: wenn Menschen oder Institutionen eine Konstellation als gegeben erachten, wird sie hinsichtlich der daraus für das Verhalten abzuleitenden Konsequenzen tatsächlich eintreten. Dieses in der Soziologie nach dem Amerikaner THOMAS benannte Theorem12 gilt auch hier. Die stillschweigende Übereinkunft, den Gesundungswillen. des Patienten naiv vorauszusetzen oder ihn entbehrlich zu machen, muß notwen­ digerweise beim Patienten die Vorstellung erwecken; die Therapie des Arztes müsse alles leisten, seine (des Patienten) Mitwirkung sei 10 Kohlhausen, K.: Der Krankenstand, Erkenntnisse und Folgerungen. Die Kranken­ versicherung (1962), Heft 3. 11 von Uexkull, Th.: Funktionelle Syndrome in psychosomatischer Sicht. In: Klinik der Gegenwart, Bd. 9. 12 Merton, R. K.: The self-fulfilling prophecy. In: Merton: Social Theory and Social Structure. Glencoe, III., 1957, S. 421–438.

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in der Tat entbehrlich. Die anmaßende Voraussetzung, der Patient sei in der Regel, unwissend, uneinsichtig, unberechenbar und daher als Partner entbehrlich, muß daher wie jedes hinreichend hartnäckig aufrechterhaltene Vorurteil ein entsprechendes Verhalten hervorru­ fen. Der Verzicht auf die Partnerschaft des Patienten, wie ihn das geschilderte Paradigma der Medizin vornimmt, kann nur mit dem Rückzug des Patienten beantwortet werden, dazu gehört auch die naive Überschätzung dessen, was die Medizin tatsächlich therapeu­ tisch zu leisten vermag. Fassen wir diese notgedrungen skizzenhaften Analysen zusam­ men. Als Paradigma der Medizin ergibt sich ein Krankheitsbegriff, der wissenschaftliche Medizin, soziale Krankenversicherung und Patienten in einer soziologisch angebbaren Weise einander zuordnet. Unter den theoretisch denkbaren und sinnvoll möglichen Formen der Kooperation zwischen medizinischer Forschung, finanzieller Mit­ telbeschaffung und -verteilung und den Patienten realisiert unser Gesundheitswesen eine sozialgeschichtlich absichtslos entstandene Form der Kooperation. Versetzen wir uns einen Augenblick in die Position eines Gesundheitspolitikers oder Gesellschaftsplaners, dem die Aufgabe gestellt ist, ein Kooperationsmodell zu entwerfen, in dem medizinische Forschung, soziale Krankenversicherung und Patienten in einer optimalen Weise, d. h. auf dem Stand unseres gegenwärtigen Wissens um Gefährdung und Schutz menschlichen Lebens zusam­ menwirken. Bei der Analyse des gegenwärtigen Zustandes würde er bemerken, daß die Steuerung der medizinischen Forschung und der Krankenversicherung sowie die Beeinflussung des Verhaltens der Patienten von einem Krankheitsbegriff her erfolgt, der nur einen Ausschnitt aktiviert. Die Institutionen des Gesundheitswesens und die Patienten sind Gefangene eines Vorverständnisses, das weder die finanziellen Möglichkeiten, eines Milliarden-Haushaltes noch das medizinische Forschungspotential einer hochentwickelten wis­ senschaftlichen Zivilisation noch den möglichen Stand der Gesund­ heitsbedürfnisse einer 60-Millionen-Bevölkerung ausschöpft. Denn der medizinisch-wissenschaftliche Fortschritt, der sich aus den Erfah­ rungen entfernt hat, die nur das Arzt-Patienten-Verhältnis vermitteln kann, fällt mit dem sozialen Fortschritt nicht zusammen. Die spekta­ kulären Erfolge der Medizin in der Gegenwart, die Grenzchancen des Überlebens für ein kleines ausgewähltes Krankengut eröffnet, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Prioritäten im Inter­ esse der Volksgesundheit anders gesetzt werden müssen. Und weiter,

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Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit

die imponierende Finanzmasse13, die jahraus-jahrein geräuschlos dem wirtschaftlichen Produktionsprozeß entnommen und an den Patienten vorbei dem Gesundheitswesen zugeführt wird, besagt wohl, wieviel die Krankheit, d. h. versicherungstechnisch die Regulierung eines eingetretenen Schadens kostet, doch, was auf diese Weise für die Gesundheit einer Millionen-Bevölkerung getan wird, diese letzt­ lich entscheidende Frage findet keine Antwort. Und schließlich die Patienten sind dazu erzogen worden, daß ohne sie gehandelt wird. Die Versicherungspflicht wird durch Gesetz begründet, in die Zielfindung der medizinischen Forschung gehen die Patienten nur am Rande ein, ihre Mitwirkung in der Therapie ist nicht gefordert und endlich gilt ihr über den akuten Krankheitsfall hinausgehendes Interesse an ihrer Gesundheit als unbeachtlich. Aus der Entstehungsgeschichte und aus den gesellschaftlichen Bedingungen des Gesundheitswesens können wir den geschilderten Zustand einleuchtend begründen. Angesichts seiner offensichtlichen Mängel stellt sich sehr eindringlich die Frage nach einem neuen Paradigma, nach einem Vorverständnis also, das die Zuordnung von medizinischer Forschung, sozialer Krankenversi­ cherung und Patienten in einer erfolgversprechenderen Weise leistet. Damit zeichnen sich deutlich die Aufgaben einer Gesundheitspoli­ tik ab. Gesundheitspolitik ist danach nicht schon ein dirigistisches Tätigwerden der politischen Herrschaftsverbände. Das Ausmaß an Kompetenzen, die staatlichen Institutionen oder im vorstaatlichen Feld agierenden Verbänden übertragen sind, ist kein Gradmesser der Gesundheitspolitik. Vielmehr ist Gesundheitspolitik zuerst For­ mulierung der Prinzipien, auf deren Basis medizinische Forschung, ärztliche Versorgung, Finanzierung und das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung einander sinnvoll ergänzen. In der gegenwärtigen Situation bedeutet das die Formulierung eines neuen Vorverständnis­ ses, soziologisch gesprochen, die Entwicklung eines neuen Paradigma, das die Grenzen und Fesseln des noch vorherrschenden Krankheits­ begriffes sprengt. Erst nach der Formulierung des Paradigma werden die Überlegungen für seine Realisierung und Durchsetzung relevant, dabei wird es um die Verteilung von Kompetenzen, die Gründung neuer oder bestehender Institutionen gehen. Hier werden die Fragen der gesellschaftlichen und politischen Organisation der Gesundheits­ politik akut. 13 Soziale Umverteilung. Mitteilung 1 der Kommission f. dringende sozialpolitische Fragen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1961.

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Prinzipien der Volksgesundheit

Prinzipien der Volksgesundheit Wenden wir uns zunächst der Formulierung eines neuen Paradigma zu. Dieses kann die offensichtlichen Schwächen des gegenwärtig vorherrschenden Krankheitsverständnisses nur überwinden, wenn es folgendes leistet. (1.) Die Gefahren, die die Menschen aus der Leibgebundenheit ihrer Existenz heraus bedrohen, beschränken sich nicht, wie wir gesehen haben, auf akute, vorübergehende Störungen biologischer Prozesse, wie es bei den Infektionskrankheiten in der Regel der Fall ist, hier verläßt die Krankheit den Leib wieder. Die Gefahren, die heute die Volksgesundheit bedrohen, haben einen schleichenden Verlauf, die Krankheit ergreift allmählich Besitz und verläßt den Leib in der Regel nicht wieder, die Menschen müssen mit ihrer Krankheit leben. Die Krankheit ist mit den großen zeitlichen Rhythmen des menschlichen Lebens, Jugend, Reife, Alter verbunden, sie hat eine biographische Dimension, die allerdings typisch ist. Der epidemiologischen For­ schung ist es gelungen, für einige Krankheiten bestimmte Bevölke­ rungsteile zu definieren, die ein besonderes Risiko in sich tragen.14 Die bekanntesten Gefahren sind das Rauchen und die Übergewich­ tigkeit15, ferner wissen wir, daß spezifische Familienkonstellationen im Erziehungsprozeß bleibende Persönlichkeitsschäden setzen, die beispielsweise für den chronischen Alkoholismus bedeutsam sind.16 Das neue Paradigma der Gesundheitspolitik wird daher zwei bisher vernachlässigte Dimensionen einbeziehen müssen: die endogene Entstehung der Krankheiten, d. h. ihre allmähliche Entwicklung im menschlichen Leib, die beginnend mit unbeachtlichen und unbemerk­ ten Stadien über leichte Beeinträchtigungen der Gesundheit zu irre­ versiblen schweren Krankheitszuständen führt. Und ferner wird das Paradigma auf die soziale Dimension der Krankheitsrisiken eingehen müssen, d. h. es wird die Krankheitsverläufe in ihrer gesellschaft­ lichen Konditionierung studieren müssen. Offenbar liegen in den soziokulturellen Bedingungen die äußerlich erkennbaren Risiken, die den Krankheitsprozeß einleiten und ihm zum Durchbruch verhel­ Pflanz, M.: Sozialer Wandel und Krankheit. Stuttgart 1962. Pflanz, M.: Medizinisch-soziologische Aspekte der Fettsucht. Psyche, 16 (1962), S. 579–591. 16 Mc Cord, W. and Mc Coard, J.: Origins of Alcoholism. Stanford 1960. 14 15

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Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit

fen. Rauchen, Übergewichtigkeit und reaktive Fehlsteuerung infolge mißlungener Umweltverarbeitung z. B. zeigen eine Gefährdung an, ehe manifeste Krankheitszeichen vorliegen. Die für Laien und Ärzte gleichermaßen schwer erkennbare Vorgeschichte, die die wichtigen Volkskrankheiten im Leben der werdenden Patienten durchlaufen, ehe sie manifest werden, ihre höchstkomplexe Konditionierung, an der eine Vielzahl von Bedingungen beteiligt sind, die in unserem Wissenschaftssystem von heterogenen Wissenschaften bearbeitet werden, verlangt nach einem wirksameren therapeutischen Zugriff. Die Patientensteuerung der Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen, die Erforschung der Krankheiten außerhalb der Lebensgeschichte der Patienten und der Verzicht auf die Mitwirkung der Patienten – also die Prinzipien, die unser Gesundheitssystem gegenwärtig noch steuern – sind untaugliche Instrumente gegenüber solchen Bedrohungen menschlichen Lebens. (2.) Einziger Richtpunkt der Gesundheitspolitik kann nicht länger die Krankheit oder das Vermeiden von Krankheiten sein, vielmehr gilt es die Anstrengungen der Institutionen, aber auch die Erwartungen der Bevölkerung auf die Erhaltung und Steigerung der Gesundheit hinzu­ lenken. Die Eigenart der gegenwärtig bekannten Risikofaktoren ver­ langt nach einer positiven Motivierung des Gesundheitsverhaltens; mit Verboten, Drohungen oder negativer Stigmatisierung ist wenig zu erreichen, das zeigen die bisherigen gesundheitserzieherischen Ver­ suche sehr deutlich. Denn bei den Risikofaktoren, die mit etablierten Konsumgewohnheiten, mit verfestigten Sozialbeziehungen oder mit spezifischen Persönlichkeitsstrukturen fest verbunden sind, können wir einen Wandel nicht über Drohungen mit Gefahren bewirken, deren Eintritt überdies ungewiß oder zumindest unbestimmt ist. Die Einsicht, daß die heutigen Volkskrankheiten technisch oder adminis­ trativ unter Verzicht auf die Mitwirkung der Patienten nicht zu beherr­ schen sind, erzwingt ein Konzept, das das Verhalten der Bevölkerung mit einbezieht. Verhaltenssteuerung – das lehrt die Sozialgeschichte unserer Zivilisation sehr nachdrücklich – kann wirksam nur über positive Sanktionen geschehen. Allgemein anerkannte und für erstre­ benswert gehaltene Ziele rufen auch die Verhaltensweisen hervor, über die sie realisiert werden können. Nun ist es auf dem Hintergrund des bisher vorherrschenden Interesses an der Krankheit bzw. an der Vermeidung von Krankheiten verständlich, daß das Ziel: Erhaltung und Steigerung der Gesundheit kaum konkretisiert ist. Die vielzitierte

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Gesundheit als Ziel der Forschung und der Therapie

Definition der Weltgesundheitsorganisation wird in der Regel um ihrer Abstraktheit willen erwähnt. Gesundheit ist danach ein Zustand vollständigen physischen, geistigen und gesellschaftlichen Wohlbe­ findens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Schwäche. Die deutliche positive Abhebung der Gesundheit von dem Fehlen krankhafter Befunde ist allerdings wegweisend für eine zeitgemäße Gesundheitspolitik. Die Realisierung dieses Programms erfordert zunächst eine erkenntnismäßige Neuorientierung. Denn, wenn das Thema Gesundheit lautet, dann ist der Kanon medizinisch relevanter Forschungsgebiete ganz anders zu bestimmen und zu gewichten, als wenn das Thema Krankheit heißt. Gegenwärtig sind die an einer medizinischen Fakultät oder Hochschule vertretenen Wissenschaften um die Erforschung der traditionellen klinischen Krankheitsbilder angeordnet – Krankheit, nicht Gesundheit ist das Paradigma des medizinischen Erkenntnisfortschrittes.

Gesundheit als Ziel der Forschung und der Therapie Die einzuleitende Entwicklung können wir nur andeuten. Unter dem Forschungsthema Gesundheit werden die Bedingungen neu bewertet, von denen das menschliche Leben in seinem Alltag gewährleistet und beherrscht wird: Wohnung, Ernährung, Verkehr, Bildung und Ausbil­ dung, Berufsarbeit, gesellschaftliche Beziehungen, Urlaub. Wir sind daran gewöhnt, diese Bedingungen unter verschiedenen Aspekten17 zu bewerten: dem technischen Aspekt ihrer Produktion, dem volks­ wirtschaftlichen Aspekt des Profits oder der Einkommensbelastung, dem Aspekt der Zeitplanung von Betrieben und Haushalten, dem Aspekt des Sozialprestige. Neu an unserer Perspektive ist daher nicht die gesellschaftliche Bewertung und Standardisierung der Bedingun­ gen menschlichen Lebens, sondern neuartig wäre lediglich die boh­ rende Frage: Und welche Garantien bestehen für die Optimierung der Volksgesundheit – in der Definition der Weltgesundheitsorgani­ sation gesprochen – für die Optimierung physischen, geistigen und gesellschaftlichen Wohlbefindens der Bevölkerung? Unter diesem Aspekt ist es lehrreich, die Werbung und öffentliche Selbstdarstel­ lung der Produzenten zu betrachten, die die Lebensbedingungen 17

Siberski, E.: Untergrund und offene Gesellschaft. Stuttgart 1967.

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Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit

des Alltags einer Millionen-Bevölkerung beeinflussen. Der Überfluß einer reichen Volkswirtschaft, dessen erklärtes wirtschaftspolitisches Ziel die jährliche Vermehrung des Güter- und Dienstleistungsan­ gebotes, also die Reichtumssteigerung, ist, wird einer unaufgeklär­ ten und durch die Werbung überdies desorientierten Bevölkerung dargeboten. Denn hinsichtlich der voraussehbaren Wirkungen, die dieses verwirrende Konsumangebot für die Erhaltung und Steigerung des Wohlbefindens besitzt, werden wir alle auf dem Niveau des Kindergartens gehalten. Die schon tragisch zu nennende systema­ tische Bekämpfung der Volksmedizin durch die naturwissenschaft­ lich-medizinische Aufklärung, die seit hundert Jahren das spontane Gesundheitsbewußtsein der Bevölkerung unterdrückt hat, stellt die schlichte Lebensorientierung des Bürgers in Fragen der Ernährung, des Wohnens, des Leib/Seeleverhältnisses, der sozialen Beziehun­ gen, der Erholung, dem Aberglauben anheim oder hat sie an die Marktinteressenten der Konsumgüterproduktion verkauft. Verant­ wortungsbewußte Ärzte, die unter dem Ziel der Wiedergesundung ihrer Patienten – der Rehabilitation, wie wir es wissenschaftlich ver­ fremdend bezeichnen – den Gesundungswillen als Partner gewinnen wollen, zeigen sich entsetzt über die blanke Unkenntnis, die Vorur­ teile und den Aberglauben in Fragen einer gesundheitsfördernden Lebensweise. Allerdings begegnet ihnen in der Desorientierung ihrer Patienten das Gegenbild einer wissenschaftlichen Medizin, die einen Monopolanspruch in Fragen der Gesundheit unter Verzicht auf die Mitwirkung der Bevölkerung durchgesetzt hat. Dieser Entmündigung des Bürgers, Standards für gesundheitsfördernde Lebensbedingungen durchzusetzen, spielte die Kommerzialisierung des Konsums, aber auch die obrigkeitliche Bevormundung bei öffentlich geförderten Lebensverhältnissen, z. B. dem Wohnungsbau, in die Hände. Daß die Ernährung einer Millionen-Bevölkerung nicht allein von den Absatzsorgen agrarischer Produzenten oder den Handelsspannen der Verarbeiter und Verteiler her gesteuert werden darf, sondern auch nach den Gesichtspunkten einer gesundheitsfördernden Ernährungs­ weise beurteilt werden muß, mag den Politikern unbequem sein, denen Agrar- und Mittelstandspolitik ohnehin schon fatal sind. Doch länger hinausschieben können wir diese Entscheidung wohl kaum. Selbst wenn wir den Anteil der durch Übergewicht Gefährdeten an unserer Bevölkerung von gegenwärtig 30 auf 50 oder gar 60 Prozent steigern sollten, werden wir die Probleme der Agrarmärkte damit nicht lösen. Auch sollte uns zu denken geben, daß eine für Nie­

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Gesundheit als Ziel der Forschung und der Therapie

dersachsen repräsentative Untersuchung des Vertrauensärztlichen Dienstes18 für die männlichen Arbeitnehmer zeigt, daß unter den arbeitsunfähig Kranken die Erkrankungen des Verdauungstraktes mit nahezu 16 Prozent die Spitze halten und daß für Arbeitnehmer, die eine Tätigkeit am Fließband verrichten, der Anteil auf 18 Prozent ansteigt. Die Brechung von Tabus in der Sexualerziehung war uns eine Aufklärungskampagne großen Stiles wert, allerdings war hier von den Gegnern wenig wirksamer Widerstand zu erwarten, ging es doch »nur« um moralische Anschauungen. Der Unaufgeklärtheit in Fragen der Ernährung entgegenzuwirken – um eine der hier angesproche­ nen Lebensbedingungen gesundheitspolitisch zu präzisieren – hätte dagegen mit ökonomischen und agrarpolitischen Widerständen zu rechnen. Dennoch sollte es versucht werden, dem Sexual-Atlas einen Verdauungs-Atlas folgen zu lassen, ohne erst auf einen Freud des Stoffwechsels zu warten. Für das Wohnen – eine weitere Elementarbedingung menschli­ cher Existenz – dürfte es kaum ausreichen, sich nur mit der Produk­ tion von Wohnungen zu beschäftigen und das privatwirtschaftliche Angebot durch kräftige öffentliche Bauförderung zu komplettieren. Denn im Eifer einer Wohnungspolitik, die in den Notzeiten des 1. Weltkrieges begonnen hat und von daher auf Mietpreisniveau und Quadratmeterzahl vorwiegend ausgerichtet ist, ist die Seite der Gewährleistung menschlicher Existenz völlig untergegangen. Eine kürzlich abgeschlossene, mehrjährige Forschungsarbeit des Hanno­ veraner Soziologen und Städteplaners Peter Gleichmann19 stellt einen völligen Mangel an Konzepten des Wohnens fest. Wohnen, als menschliche Existenzäußerung und als elementarer Lebensvollzug, dem mit Abstand der größte Anteil an Lebenszeit zufällt, ist wis­ senschaftlich, wohnungsbaupolitisch und privatwirtschaftlich unbe­ kannt. Eine Gesundheitspolitik, die das Wohnen als Gewährleistung menschlicher Existenz, als lebensfördernd im Sinne der Definition der Weltgesundheitsorganisation entdecken und zur Geltung brin­ gen will, hat daher nicht nur privatwirtschaftliche Interessen gegen sich, sie wird sich auch mit einer sozialpolitisch motivierten Woh­ nungs- und Städtebaupolitik auseinandersetzen müssen. Daß privat­ wirtschaftlicher Vorteil nicht mit sozialem Fortschritt zusammenfällt, 18 von Ferber, Chr., und Kohlhausen, K.: »Der »blaue Montag« im Krankenstand. Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Arbeitshygiene, 5 (1970), S. 25–30. 19 Gleichmann, P.: Soziologie des Wohnens. Habil. Schrift, Fakultät für Geistes- und Staatswissenschaften TU. Hannover 1970.

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Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit

haben unsere Väter und Großväter schon gewußt, daß wirtschaftsund sozialpolitische Errungenschaften nicht ohne weiteres schon einen menschlichen Fortschritt bedeuten, das werden wir lernen müssen, soll die Gesundheitspolitik eine Chance haben.

Realisierung einer Politik der Volksgesundheit Was in der Theorie gut ist, sollte auch für die Praxis taugen. Wel­ che realen Chancen bestehen, um eine Gesundheitspolitik in dem hier skizzierten Sinne durchzusetzen? Dieser Frage müssen wir uns abschließend zuwenden. Der institutionelle Wandel, der einer Gesundheitspolitik zum Durchbruch verhelfen könnte, wird sich auf drei Schwerpunkte konzentrieren: den Wandel der Ziele medizinischer Forschung, den Wandel der Finanzierungsinstrumente für die Gesund­ heitsdienste und den Wandel des Gesundheitsbewußtseins der Bevöl­ kerung. Den naheliegenden Gedanken, die Reorganisation der medizi­ nischen relevanten Forschung über die Universitäten zu erwarten, werden wir aus mehreren Gründen verwerfen müssen. Die Univer­ sitäten werden in den kommenden Jahren kaum zu einer Neuorien­ tierung ihrer Forschung in der Lage sein. Die Neuverteilung von Kompetenzen, die didaktischen Aufgaben und die Bürokratisierung des Wissenschaftsbetriebes werden voraussichtlich die Kräfte aufzeh­ ren und den Blick nach innen richten, anstatt die Aufmerksamkeit gesellschaftlichen Aufgaben der Forschung zuzuwenden. Hier erlie­ gen m. E. viele gerade der progressiven Hochschulreformer einer folgenschweren Selbsttäuschung. Hinzukommt, daß eine Reorgani­ sation, die die medizinisch relevante Forschung unter neuen Zielen zusammenführt, nur in enger Verbindung zum Arzt-Patientenver­ hältnis erfolgreich sein wird. Oder – um das Mißverständnis abzu­ wehren, wir verstünden unter Arzt-Patientenverhältnis die Idylle des Hausarztes oder die überlastete Kassenpraxis, die eine große sich rasch verändernde Klientele in einer 60-Stunden-Arbeitswoche bewältigt, – Arzt-Patientenverhältnis meint im Kontext einer neuen Gesundheitspolitik die ärztliche Verantwortung für die elementaren Existenzbedürfnisse einer Millionen-Bevölkerung. Die elementaren Existenzbedingungen, von denen das physische, geistige und soziale Wohlbefinden nachhaltig beeinflußt wird, sind in unserer Zivilisa­

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Realisierung einer Politik der Volksgesundheit

tion gesellschaftlich produzierte Lebensbedingungen. Ihre Eigenart wird von den Formen der arbeitsteiligen Produktion determiniert. Wie wir uns ernähren, wie wir wohnen, wie wir arbeiten, wie wir unsere geistigen und sozialen Kräfte ausbilden, wie wir die tragenden sozialen Beziehungen unseres Lebens gestalten – über alle diese gesundheitspolitisch bedeutsamen Lebensbedingungen entscheiden die Formen ihrer Herstellung und Gewährleistung. Die Rolle, die der ökonomische Selbstlauf des Marktes, die Wirtschafts- und Sozialpo­ litik im Haushalt des menschlichen Lebens spielen, ob sie lebensför­ dernd oder -feindlich wirken, können wir nur dort erforschen, wo die Nähe zum Lebensalltag der Bürger gegeben ist. Zu einem solchen Programm werden sich in absehbarer Zeit schwerlich unsere Hohen Medizinischen Fakultäten entschließen. Wir sollten daher neue Wege beschreiten und die Institutionen mit Forschungseinrichtungen aus­ statten, denen unser sozialer Rechtsstaat ohnehin bereits ein gut Stück Verantwortung für die Grundvoraussetzungen des Lebens überant­ wortet hat, für die Daseinsvorsorge, wie es die Sprache der verwalteten Welt bezeichnet. Das hätte zur Folge, daß die Einrichtungen der Sozi­ alversicherung, aber auch des öffentlichen Gesundheitswesens mit Forschungszentren, mit Stabs- oder Forschungsstellen ausgestattet würden.20 Es ist unverständlich, daß Milliarden-Haushalte verwal­ tet werden, ohne daß ein nennenswerter Betrag für die Forschung im eigenen Geschäftsbereich eingesetzt wird. Es ist ein politisches Vorurteil zu meinen, die paritätische Selbstverwaltung verbürge bereits die Demokratisierung, d. h. die mitgestaltende Beteiligung der Beitragszahler und Leistungsempfänger.21 Wirksame Formen der mitgestaltenden Beteiligung für die Bürger und für die Sozial­ versicherten können wir nicht allein dem Formenschatz einer Gläu­ biger/Schuldner-Demokratie des 19. Jahrhunderts entnehmen.22 Es geht heute um mehr als um die rechnerische Richtigkeit von Einnah­ men und Ausgaben. Die Wahrung des Interesses der Bürger oder der Sozialversicherten geht über die korrekte Verwaltung ihrer Beiträge hinaus und schließt die Verantwortung dafür ein, daß die organisierte Verfügung über große Finanzmittel und Einrichtungen sowie über qualifizierte Personen dem gesundheitspolitischen Potential dieser Delius, L.: Soziale Gesundheitsmaßnahmen und medizinischer Fortschritt. Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Arbeitshygiene, 2 (1967), Heft 12, S. 426–431. 21 Siebeck, Th.: Ehrenamtliche und korporative Selbstverwaltung. Die Ortskranken­ kasse, 50 (1968), S. 303–314. 22 Naschold, Fr.: Organisation und Demokratie. Stuttgart 1969.

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Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit

Verfügungsmacht auch entspricht. Der Anspruch demokratischer Interessenvertretung erstreckt sich daher konsequenterweise auch auf die Steuerung der Einrichtungen über eine entsprechende Forschung. Die Verbindung von Institutionen, die als öffentliche Dienstleistungs­ unternehmen sozial- und gesundheitspolitischen Zwecken dienen, mit Forschungseinrichtungen, die diese Zwecke konkretisieren und die eingesetzten Mittel auf ihre Zweckmäßigkeit hin überprüfen, ist ein Gebot der Demokratisierung. Wir treffen hier auf den heute selten gewordenen Fall, daß ein wissenschaftlicher Fortschritt zugleich auch einen menschlich-sozialen Fortschritt in sich schließt. Die gesund­ heitspolitische Forschung des vor uns liegenden Jahrzehntes wird mit der Steuerung, Entwicklung und gegebenenfalls der Neubegründung der Institutionen verbunden sein, denen die Gewährleistung des phy­ sischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens der Bürger anvertraut ist. Den Abschied von dem Forschungsmonopol der Universitäten sollten wir auch für die im friedlichen öffentlichen Interesse liegenden Aufgaben nehmen und uns dabei in Erinnerung rufen, daß die großen Durchbrüche auf wissenschaftlichem Gebiet, die unser Weltbild in diesem Jahrhundert verändert haben: die Atomphysik, die Psycho­ analyse und der Marxismus außerhalb der Universitäten erfolgt sind. Die gesundheitspolitische Forschung sprengt nicht nur das Paradigma der medizinischen Fakultäten, sondern auch das der Universitäten. Die Finanzierungsinstrumente, die in der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts unter ökonomischer Zwecksetzung geschaffen worden sind, müssen auf eine gesundheitspolitische Zielsetzung hin neu durchdacht werden. Unter der Perspektive der Erhaltung und Steigerung der Volksgesundheit stellt sich konsequenterweise die Frage, was die Finanzierung eines Gesundheitswesens eigentlich noch mit dem Arbeitsverhältnis zu tun hat außer der sozialgeschichtlichen Verknüpfung von Arbeiterfrage und Sozialversicherung. Da sich die Individualisierung der Krankheitsrisiken zum Zwecke einer differen­ zierten Beitragsgestaltung von selbst verbietet und in der sozialen Krankenversicherung zur Zeit verwaltungstechnisch auch gar nicht durchführbar wäre, bedeutet das Festhalten an Beiträgen, die sich im Arbeitsentgelt als einer Bemessungsgrundlage orientieren, eine verwaltungstechnisch überdies sehr umständliche Fiktion. Es wäre daher sehr viel sinnvoller, das Gesundheits-Budget aus Steuerein­ nahmen zu finanzieren und sein Wachstum mit dem Wachstum des Bundeshaushalts bzw. des volkswirtschaftlichen Wachstums zu verzahnen. Da die gesundheitliche Versorgung auf die Anzahl und die

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Realisierung einer Politik der Volksgesundheit

regionale Verteilung der Bevölkerung bezogen ist, sollten als Träger regionale Körperschaften gebildet werden, deren Einzugsbereich nach funktionsspezifischen Kriterien abzugrenzen wäre. Die Aufteilung der Finanzmittel auf dieses Körperschaften sollte dann allerdings auf der Grundlage des Gesundheitsrisikos erfolgen, das sich nach geschlechts- und altersspezifischen Gesichtspunkten ergibt, ferner nach den besonderen Risiken, die mit dem Beruf, mit der Klassenlage und mit spezifisch regionalen Risiken (z. B. Verkehrsdichte) gegeben sind. Die medizinsoziologische Forschung zeigt übereinstimmend, daß die Inanspruchnahme ärztlicher und pharmazeutischer Leistun­ gen sowie der Pflegedienste in beachtlicher Weise auch von Gesichts­ punkten gesteuert wird, die außerhalb medizinisch-biologischer Erwartungen liegen. Diese für das Gesundheits-Budget wichtigen Faktoren werden aber erst dann zur Grundlage gesundheitspolitischer Planung werden, wenn nicht länger der Beitragszahler, sondern der Leistungsempfänger und seine Bedürfnisse die Verteilung der Finanz­ mittel bestimmen. Gegenwärtig wird das Finanzaufkommen von den Beitragszahlern und von der Bemessungsgrenze bestimmt, das Gesundheitsrisiko, das sich aus dem Zusammenwirken von Ärzten und Patienten ergibt, bleibt dabei zugedeckt. Werden allerdings die Finanzzuweisungen abhängig gemacht von der typischen und für die Gesundheitsversorgung relevanten Struktur der Bevölkerung, dann werden auch die Risiken beachtlich und für die Gesundheitsplanung kalkulierbar. Auf diese Weise – und nur auf diese Weise – werden wir es erreichen können, daß die im sozialen Rechtsstaat verbürgte Gleichheit der Lebensbedingungen annähernd in gesundheitspoliti­ scher Hinsicht verwirklicht wird. Auf dieses Prinzip kommt es hier an, nicht so sehr auf die organisatorischen Details. Untrennbar verbunden mit dem Wandel der Forschungsziele und mit dem Wandel der Finanzierungsinstrumente sind die Verände­ rungen im Gesundheitsbewußtsein und -verhalten der Bevölkerung. Diese Veränderungen werfen weniger moralische oder individualpsy­ chologische Probleme auf – hierin liegt ein kardinaler Denkfehler vieler Gesundheitserzieher. Vielmehr geht es um das Einleiten und ständige Wiederanstoßen kollektiver Lernprozesse. Gesundheit als Verhalten ist kein Zustand, sondern bezeichnet eine durch Erfahrung geleitete ständige Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer leib­ lichen Existenz. Die Leibgebundenheit des Menschen, die vielfältige Abhängigkeit seines Wohlbefindens von gesellschaftlich produzier­ ten Umweltbedingungen muß in der Erfahrung aufgearbeitet werden.

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Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit

Hier kann niemand stellvertretend für den anderen eintreten, in diesem Erfahrungsprozeß sind alle Bürger betroffen und beteiligt. Es ist daher für die Wissenschaften vom Menschen ein folgenschwerer Irrtum unseres Wissenschafts- und Bildungssystems gewesen, For­ schung und Bildung elitär oder abgesetzt von der Alltagserfahrung zu organisieren.23 Für die Erforschung der Bedingungen menschlichen Lebens ist dieses für die naturwissenschaftliche, ökonomische und juristische Forschung erfolgreiche Prinzip ungeeignet. Die Reform unseres Gesundheitswesens darf daher nicht auf die medizinische Forschung und auf die Krankenversicherung beschränkt bleiben, sie ist nicht allein eine technische Form dieser Einrichtungen, sondern sie ist eine Sozialreform, die das Verhältnis der Institutionen des Gesundheitswesens zu den Bürgern neu begründet.

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Strzelewicz, W. u. a.: Bildung und gesellschaftliches Bewußtsein. Stuttgart 1966.

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Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens – naturwissenschaftlich kausale und sozialwissenschaftlich normative Betrachtungsweise –

»… Denn keine Macht ist imstande, den alten Dualismus von Körper und Geist zu widerlegen und die alte Kerkertheorie des Körpers oder, in gemilderter Form, die Kostümthese des menschli­ chen Leibes zu entkräften, wenn Subjekt und Mittel des Denkens für nichtentstandene, nichthistorische vielmehr absolut vorgegebene Bezugsrahmen unserer menschlichen Stellung in der Welt gehalten werden.«1 Die Geschichtlichkeit menschlicher Erfahrung, auch in der Gestalt der Wissenschaft, also in der institutionalisierten Form sich selbst vergewissernder Bearbeitung, erhebt Helmuth Plessner in seiner Einleitung in die Prophyläen-Weltgeschichte zum metho­ dischen Prinzip der Philosophischen Anthropologie. Den Prüfstein dieses Prinzips bildet die wissenschaftliche Bearbeitung der leibli­ chen Erfahrung. Der menschliche Körper, seine Zuständlichkeiten, Befindlichkeiten, Krankheit und Gesundheit machen den Gegenstand einer Fortschreibung des cartesianischen Dualismus in unserem Wis­ senschaftssystem aus. Die großen bahnbrechenden Erfolge einer deutungsunabhängigen, naturwissenschaftlich begründeten Medizin haben eine personale Auffassung der leiblichen Existenz in die vorund außerwissenschaftliche Erfahrung abgedrängt.2 Psychologie und Soziologie in der Medizin spielen eine randständige, auf einen hilfs­ wissenschaftlichen Methodenbeitrag beschränkte Rolle. Sie werden Helmuth Plessner, Conditio Humana, Einleitung in die Propyläen Weltgeschichte, Bd. I, Berlin 1961, S. 47. 2 Fritz Hartmann, Krankheitsgeschichte und Krankengeschichte. Naturhistorische und personale Krankheitsauffassung. In: Marburger Sitzungsberichte. Bd. 87 (1966) Heft 2, S. 17–32. 1

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Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens

sich aus dieser Festschreibung nur befreien, wenn sie den cartesiani­ schen Dualismus überwinden, wenn es ihnen gelingt, die naturhisto­ rischen Kategorien der Medizin in den historisch-gesellschaftlichen Prozeß zurückzuholen. Psychologie und Soziologie werden ihr wis­ senschaftstheoretisches Potential in die Grundlagendiskussion in der Medizin einbringen müssen, die gegenwärtig vornehmlich in der Epi­ demiologie und Sozialmedizin und nicht zufällig um die traditionellen naturwissenschaftlichen Grundbegriffe geführt wird. Die Achillesferse der Epidemiologie ist die Sicherung kausaler Beziehungen, die zwischen Krankheit und ihren Ursachen bzw. zwi­ schen der Erhaltung der Gesundheit und ihren Bedingungen beste­ hen. Diesem Thema wird in der theoretischen Diskussion breiter Raum gegeben. Der Hilflosigkeit entspricht eine Vielfalt an Vorstel­ lungen. So besteht ein reiches Angebot zum Thema »Ursache«. Es wird z. B. unterschieden zwischen Endursache und hinzutretenden ursächlichen Bedingungen, die näher am Ereignis liegen. Der strenge Kausalnexus wird aufgelöst in das bewegliche Geflecht multifaktoriel­ ler Genese3. Die strenge Determination wird aufgeweicht in stochas­ tische Zusammenhänge; hier dient die statistische Erhärtung einer Beziehung zwischen zwei Merkmalen der Stützung einer anderweitig noch unbewiesenen Vermutung. Die mangelnde Übereinstimmung über die Struktur kausaler Beziehungen bringt alte wissenschafts­ theoretische Positionen wieder ins Spiel. Naturwissenschaftlich mate­ rialistische Erklärungen werden gegen geisteswissenschaftlich her­ meneutische Deutungen abgesetzt. »Kausalanalyse« – sofern menschliches Verhalten beteiligt ist – »kann nur mit physiologischen Methoden, insbesondere also der Analyse zentralnervöser Mechanismen geschehen. Wo diese Mecha­ nismen der Forschung noch nicht oder grundsätzlich nicht zugänglich sind, tritt an ihre Stelle die psychologische Analyse, die mit herme­ neutischen, d. h. verstehenden Methoden arbeitet« – so heißt es bei Schaefer/Blohmke zum Thema »Allgemeine Methodenprobleme der Epidemiologie«4.

3 Hans J. Bochnik, Multifaktorielle statistische Analysen, Verbundforschung und Kli­ nikorganisation. In: Der Nervenarzt, 34. Jg. 1963, S. 430–437. ders. und H. Legewe, Multifaktorielle Klinische Forschung. Stuttgart (Enke) 1964. 4 Hans Schaefer und Maria Blohmke, Sozialmedizin. Stuttgart (Georg Thieme-Verlag) 1972, S. 107.

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Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens

Der Optimismus dieser Autoren zielt in Richtung auf eine künftige Auflösung der in der Epidemiologie beobachteten kausalen Abhängigkeiten mit Hilfe physiologischer oder wenigstens natur­ wissenschaftlich experimenteller Methoden. Ein Erfolg dieses Pro­ gramms würde uns überdies der Mühe einer Kritik der Sozialverhält­ nisse entheben. »Will Soziologie nicht in dieser psychologischen Analyse mit ihrem sozialkritischen letzten Kern verharren, sondern kausalanalytisch operieren, kann sie sich nurmehr physiologischer und mathematischer Methoden bedienen. Es müssen die Ursachen des Verhaltens erforscht und die Resultate auf das gegebene Problem angewendet werden.«5 Die Soziologie – ließe sie sich auf ein solches Angebot ein – machte sich zum unwissenschaftlichen Vorläufer der Physiologie, sie definierte sich als Physiologie im soziologischen Federkleide, solange oder insoweit die zu erforschenden »Mechanismen« der echten Phy­ siologie »noch nicht oder grundsätzlich nicht zugänglich sind.« Die Geschichte der Wissenschaften, insbesondere die der Natur­ wissenschaften6, lehrt uns, in Situationen der beschriebenen Art zwei­ erlei zu tun, die Probleme möglichst unabhängig vom Denkzwang überkommener und unzureichender Lösungen zu formulieren7, und zweitens die Instrumente der wissenschaftlichen Analyse auf ihre impliziten erkenntnistheoretischen Grundlagen hin zu überprüfen. Wollen wir die Vieldeutigkeit überwinden, die in der Epidemiolo­ gie angesichts der von ihr zu erforschenden »Kausalbeziehungen« herrscht, dann müssen wir auf zwei Fragen eine Antwort suchen. Welche Probleme der Entstehung von Krankheiten sollen epidemio­ logisch bearbeitet werden? und gibt ein von naturwissenschaftlichen Erfahrungen abgeleitetes Kausalitätsmodell eine der Problemstellung angemessene theoreti­ sche Grundlage ab?

Ebda. S. 107/108. E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Springer-Verlag 1956. Thomas S. Kuhn, The structure of scientific revolutions, The University of Chicago Press, 1962. 7 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin (Walter de Gruyter) 1928, 1. u. 2. Kap. 5

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Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens

Die Epidemiologie wird – wie Kisker8 zu Recht hervorgehoben hat – zu einer beherrschenden Methode in der Medizin unter einmali­ gen Bedingungen der Sozialgeschichte der Krankheiten und ihrer Bekämpfung mit wissenschaftlich begründeten Methoden. Der Pan­ oramawandel der Krankheiten, vor den sich die Medizin durch die gesellschaftliche Entwicklung in diesem Jahrhundert gestellt sieht, hat eine einmalige Situation geschaffen.9 Hoffnungen, die zu Beginn dieses Jahrhunderts auf die diagnostischen und therapeutischen Fort­ schritte der Medizin, ebenso wie auf die Steigerung des Pro-Kopf-Ein­ kommens gesetzt wurden, haben sich nicht erfüllt. Die Paradoxien des gesellschaftlichen Fortschritts haben auch in der Bilanz von Gesund­ heit und Krankheit die Abwendung von Gefahren mit neuen, bis dahin unbekannten Gefährdungen verbunden. Die Verbesserung in der Ver­ sorgung mit Nahrungsmitteln, mit Wohnungen, mit Medikamenten, mit Ärzten hat einen weitgehenden Schutz nur vor den Krankheiten bewirkt, die mit diesen Mitteln wirksam bekämpft werden konnten. Diesem Fortschritt aber müssen wir eine Gegenrechnung aufmachen. Andere Krankheiten haben an Bedeutung gewonnen, die auf der Grundlage verbesserter Lebensbedingungen allererst ihre Ausbrei­ tungschance erhielten: Arteriosklerose, Diabetes, Lungenkarzinom, die psychosomatischen Erkrankungen, die Neurosen. Es hieße die geschichtlich-gesellschaftliche Grundlage dieser Paradoxie des medi­ zinischen Fortschrittes verkennen, wollten wir diese Krankheiten formal neben die akuten Infektionskrankheiten einstellen mit dem klassifikatorischen Vermerk: Ätiologie und Pathogenese weitgehend noch unbekannt. Auf diese Weise würden wir uns einen Zusammen­ hang verbergen, der offensichtlich zwischen Umweltveränderung und Krankheitsspektrum besteht. –

Mehr Nahrungsmittel, die Ernährungsausgaben der einkom­ mensschwächsten Haushalte erreichen in ihrem Haushaltsbud­ get nur noch einen Anteil, mit dem vor 100 Jahren nur wenige wohlhabende Haushalte rechnen durften10,

8 K. P. Kisker, Einleitung zu D. D. Reid, Epidemiologische Methoden in der psychi­ atrischen Forschung. Stuttgart (Georg Thieme) 1966. 9 Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Gesundheitsbericht, Bonn 1971. 10 Helga Schmucker, Die langfristigen Strukturwandlungen des Verbrauchs der pri­ vaten Haushalte in ihrer Interdependenz mit den übrigen Bereichen einer wachsenden

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Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens

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komfortablere Wohnungen, Rückgang körperlicher Beanspruchung, mehr eigenbestimmte Zeit, mehr spezialisierte und technisch besser ausgerüstete Ärzte, mehr und wirksamere Medikamente, längere Lebensdauer

bilden die ökonomische und gesellschaftliche Basis eines anderen Krankheitsspektrums. Eine rein naturhistorische Klassifizierung der Krankheiten verschleiert daher den menschlich-geschichtlichen Zusammenhang, dem die Krankheiten der Menschen in den ent­ wickelten Industrieländern entstammen und aus dem die Problem­ sicht der Medizin erwächst. Die Krankheitssituation, in der sich der Anspruch der Medizin bewähren muß, wissenschaftlich begrün­ dete Therapie anzudienen, geht aus einer Umwelt hervor, die unter bestimmten gesellschaftlichen Absichten – wir sprechen global von Industrialisierung – gestaltet wurde. Die therapeutischen Chancen der Medizin sind nicht nur der Pro­ blemstellung nach an diese gesellschaftlichen Bedingungen gebun­ den. Besteht die Vermutung zu Recht, daß das Krankheitsspektrum der Gegenwart aus ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingun­ gen hervorgeht, dann müssen die diagnostischen und therapeutischen Mittel diesen Bedingungen adäquat sein. Die Epidemiologie der sogenannten Zivilisationskrankheiten kann daher gar nicht umhin, die Erklärungsmodelle einer Entstehung von Krankheiten aus ihren gesellschaftlichen Bedingungen heraus zu entwickeln. Die wissen­ schaftlich begründete Bekämpfung dieser Krankheiten aber wird sich darauf einstellen müssen, daß sie gesellschaftliche Verhältnisse und soziales Verhalten als Bedingungen vorfindet, die der Verwirklichung therapeutischer Absichten entgegenstehen. Was aber heißt gesellschaftliche Entstehung von Krankheiten? Was ist gemeint, wenn therapeutisches Handeln sich auf gesellschaft­ liche Verhältnisse und soziales Verhalten angewiesen sieht? Der Beantwortung dieser beiden Fragen müssen wir uns zunächst zuwen­ den; denn hier liegt eine Quelle vieler Mißverständnisse in der Epidemiologie und der Soziologie aus der Perspektive der Mediziner. Wirtschaft, Schriften des Vereins für Sozialpolitik. N. F. Bd. 30, In: Strukturwandlun­ gen einer wachsenden Wirtschaft. Berlin (Duncker & Humblot) 1964, Bd. 1, S. 106– 183.

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Die These: das Auftreten, die Verbreitung und das Erscheinungs­ bild von Krankheit hängen von gesellschaftlichen Bedingungen ab, behauptet zunächst nur: die Zivilisation, die auf der Grundlage der Industrialisierung sich durchgesetzt hat und die wir global mit Geor­ ges Friedmann11 als milieu technique von einem vorindustriellen Zustand des milieu naturel terminologisch abgrenzen, bringt ein ihr spezifisches Krankheitsspektrum hervor. Die Menschen im milieu technique leiden vorwiegend an den Krankheiten, die wir zusam­ menfassend Zivilisationskrankheiten nennen. Aus dieser These folgt bereits: eine Veränderung des milieu technique kann dieses Krank­ heitsspektrum beeinflussen. Unter Hinweis auf die Auswirkungen, die nach naturwissenschaftlich begründeter Ansicht die zivilisatori­ schen Veränderungen auf die Lebenserwartung geäußert haben, stellt z. B. Manfred Pflanz fest: »Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Einschränkung des Rauchens und die Rückkehr zu normaler Ernährung und normaler körperlicher Aktivität die beiden Maßnah­ men der primären Prävention sind, die bei Menschen im mittleren und höheren Lebensalter die höchste gesundheitliche Dividende bringen könnten. Im Vergleich hierzu spielen alle anderen präventiven Maß­ nahmen und alle Vorsorgeuntersuchungen vermutlich eine unterge­ ordnete Rolle.«12 Wir wissen, daß die epidemiologisch erwünschten Verhaltensveränderungen nicht auf moralischem Wege zu erreichen sind, sondern nur im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen eintreten werden – vermutlich müssen wir die komplementären Bedingungen dieser Verhaltensweisen wandeln. Unabhängig von der zu erwar­ tenden Lösung des Problems gilt aber, daß von den Wandlungen im milieu technique durchgreifendere gesundheitliche Erfolge von den Epidemiologen erwartet werden, als von den im Bereich der Medizin gegenwärtig liegenden therapeutischen Maßnahmen (Prä­ vention, Vorsorgeuntersuchungen). Und es folgt außerdem: Die Zivilisationskrankheiten entstehen nicht aus der biologischen Natur des Menschen, sondern sind die Folge seiner eigenen geschichtlich-gesellschaftlichen Produktion – die industrielle Vergesellschaftung ist die geschichtlich erste von Menschen produzierte Lebensform (milieu technique). Die Normen, Georges Friedmann, Le Milieu Technique: Nouveaux Modes de Sentir et de Penser. In: Ders. 7 Etudes sur L’Homme et la Technique, Editions Gonthier 1966. 12 Manfred Pflanz, Epidemiologie und Präventivmedizin. In: Deutsches Ärzteblatt 1971, Heft 7, S. 470. 11

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über die wir die Krankheitsbilder abgrenzen, werden daher notwen­ digerweise auch der gesellschaftlichen Lebenssphäre entnommen, nicht allein einem vorgesellschaftlich bestimmbaren biologischen Funktionsbereich. Das gilt für die Krankheiten, deren somatischer Befund im biologischen Normbereich liegt – die funktionellen13 oder psychovegetativen14 Syndrome – per definitionem, das gilt für die psychosomatischen oder chronisch somatischen Erkrankungen im Hinblick auf die sozialen Folgen der Krankheiten15. Denn die medizinische Behandlung dieser Erkrankungen in eine »Resoziali­ sation« einmünden zu lassen, wäre überflüssig, könnten wir den Krankheitsverlauf in einem vor- und außergesellschaftlichen Bereich in Quarantäne nehmen. Schon auf dieser abstrakten Ebene der Betrachtung durchstoßen wir also den Rahmen naturgesetzlicher Determination und geraten auf das Feld normativer Bestimmungen. Denn um die Zivilisations­ krankheiten in ihrem Auftreten, in ihrer Verbreitung und in ihrem Erscheinungsbild zu verändern, bedarf es nicht in jedem Fall eines technischen Überspielens naturgesetzlich bestimmter Verläufe, son­ dern wir müssen gesellschaftliche Normen, soziale Verhältnisse wan­ deln. Die industrielle Zivilisation als eine zweite Natur des Menschen, als seine Übernatur, zu deuten, wie es beispielsweise von Gehlen16 und Schelsky17 versucht worden ist, ändert an der Sachlage wenig. Denn – um ein Beispiel zu geben – wer die psychovegetative Belas­ tung unserer Sozialverhältnisse verringern will, kann dies nicht mit Valium, Librium oder anderen Psychodepressiva erreichen, sondern muß gesellschaftliche Normen, soziale Verhältnisse ändern. Was folgt aus dieser These für die epidemiologische Modell­ bildung? Welche Konsequenzen ergeben sich für den Begriff der Ursache, wenn gesellschaftliche Normen und von ihnen abgeleitete Verhältnisse als Bedingungen belastet werden?

13 Thure v. Uexküll, Funktionelle Syndrome in psychosomatischer Sicht. In: Klinik der Gegenwart, Bd. 9, S. 299–340 (1960). 14 Ludwig Delius u. J. Fahrenberg, Psychovegetative Syndrome. Stuttgart (Georg Thieme) 1966. 15 Theo Kleinschmidt, Soll und Haben der Rehabilitation im Kurort. In: Heilbad und Kurort, Zeitschrift für das gesamte Bäderwesen, Heft 3, 1969. 16 Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt/Main, Bonn (Athenäum) 19652. 17 Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln 1961.

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1. Die Modellbildung kann nicht systemisolierend verfahren, d. h. das Problem auf Kausalbeziehungen reduzieren, die experimentell im Erklärungsbereich exakter Naturwissenschaften darstellbar werden. Selbst wenn es gelingen sollte, den Zusammenhang von Zigaretten­ rauchen und Lungenkarzinom mit naturwissenschaftlich experimen­ tellen Verfahren zu erklären, bleibt die Frage nach dem Stellenwert des Rauchens im Verhaltensinventar unserer Zivilisation18 unbeant­ wortet und damit die Frage nach den Nebenfolgen, die mit einem Unschädlichmachen des Rauchens zu erwarten sind. 2. Die Modellbildung besitzt einen Entscheidungsspielraum in der Wahl ihrer theoretischen und methodischen Instrumente. Ob dem Zusammenhang zwischen Zigarettenrauchen und Lungenkarzinom mit Tierversuchen, mit Motivstudien über Rauchgewohnheiten, mit Forschungen über die ökonomischen Zwänge der »Wohlstandsgesell­ schaft«, mit soziologischen Untersuchungen über Gewohnheiten nachgegangen wird, steht zur Wahl. Denn der beobachtete Zusam­ menhang zwischen Zigarettenrauchen und überdurchschnittlich häu­ figem Auftreten eines Lungenkarzinoms kann hinsichtlich seiner kausalen Erklärung auf verschiedene Weise aufgefüllt werden. Es kann ein spezifischer Zusammenhang zwischen Nikotin und/oder Teerstoffen und Karzinomentstehung bestehen. Es kann ein spe­ zifischer Zusammenhang zwischen dem psychischen Lustgewinn des Rauchens, einem an das Rauchen gebundenen Bedürfnis, und der Karzinomentstehung gegeben sein. Es kann ein spezifischer Zusammenhang zwischen Realeinkommensentwicklung, kapitalisti­ scher Erwerbswirtschaft, also den ökonomischen Bedingungen, unter denen die Zigarettenindustrie arbeitet, sowie einer hiermit verbunde­ nen Konsumneigung einerseits und der Verbreitung des Lungenkar­ zinoms andererseits bestehen. Es kann schließlich ein spezifischer Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Menschen in den entwickelten Industrieländern (z. B. zunehmend psychosoziale Beanspruchung bei fehlendem Training) und der Ver­ breitung des Rauchens einerseits und der Ausbreitung des Lungen­ karzinoms andererseits gegeben sein.

18 I. Gadourek, Riskante Gewoonten en zorg voor eigen velzijn (Hazardous habits and human well-being) Groningen (J. B. Wolters) 1963.

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Eine Entscheidung zwischen diesen Erklärungsmodellen wird gegenwärtig zumeist unter Gesichtspunkt des vorhandenen For­ schungspotentials getroffen. Vor allem finden die aus der Geschichte unseres Wissenschaftssystems vergleichsweise reichlich vorhande­ nen naturwissenschaftlichen oder medizinischen Forschungseinrich­ tungen in der Bearbeitung dieser Fragen eine aktuelle, gesellschafts­ bezogene Verwertungschance ihres Potentials an Apparaturen und manpower vor. Eine Entscheidung sollte aber doch wohl unter dem Gesichtspunkt getroffen werden, aus welchem Erklärungsmodell lei­ ten sich voraussichtlich die erfolgreichsten therapeutischen Strategien ab. Bei einer Beurteilung der therapeutischen Konsequenzen können wir wissenschaftstheoretische Konflikte allerdings kaum vermeiden. Denn ob ich das Rauchen in seinen unerwünschten Folgen technisch umgehen will, indem ich seine Wirkungen neutralisiere (die karzino­ genfreie Zigarette auf den Markt bringe oder die Lunge biochemisch reinige oder schütze), oder ob ich das Rauchbedürfnis zu substitu­ ieren versuche, oder ob ich den Rauchzwang sozialer Verhältnisse (den Sozialzwang des Rauchens) aufzuheben trachte, ist nicht allein eine Frage an einen Forschungscomputer, der die Forschungspläne von Biochemikern, Psychologen und Soziologen mit ihren Erfolgs­ wahrscheinlichkeiten gewichtet und vergleicht, sondern wirft eine gesellschaftspolitische Frage auf. Welches der möglichen Forschungs­ ergebnisse bzw. welche therapeutischen Strategien halten wir unter den geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben, für die angemesseneren? Welche stellen für die Qualität dieses Lebens insgesamt die günstigeren Voraussetzungen? Denn wir dürfen nicht übersehen, daß jedes Forschungsergebnis, das Nervenpunkte der Zivilisation betrifft, nicht nur in sich selbst beurteilt wird, sondern paradigmatische Bedeutung gewinnt.19 Das lehrt die Geschichte unse­ rer wissenschaftlichen Zivilisation nur zu deutlich. 3. Für die Kausalbeziehungen, die die Epidemiologie erforschen will, ergibt sich eine voluntaristische Einbettung in den Forschungsent­ wurf. Denn mit der Festlegung des epidemiologischen Modells erfolgt 19 Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Aufl. Tübingen 1951. Helmuth Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihre Organisation in der deutschen Universität. 1924. In: Ders. Diesseits der Utopie, Düsseldorf/Köln (Eugen Diederichs) 1966, S. 121–142. Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt 1969.

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zugleich eine Entscheidung über die als wesentlich vermuteten Ursa­ chen. Die Entscheidung zwischen diesen verschiedenen Modellen führt – und darin liegt eine wichtige Modifizierung unserer Vorstell­ ungen über Kausalität – eine Strukturierung der Kausalbeziehungen herbei. Der Entscheidungsakt des Forschers bzw. die Absichten des Forschungsprogramms legen die Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen fest. Sie konstituieren ein Kausalverhältnis. Die Fixierung einer Kausalbeziehung durch das Forschungspro­ gramm stellt insofern wissenschaftstheoretisch kein Novum dar, als auch die systemisolierende Methode der experimentellen Naturwis­ senschaften auf dem Prinzip beruht, Wirkungszusammenhänge aus dem Realzusammenhang nach Maßgabe theoretischer Modelle – also voluntaristisch – herauszuschneiden. Die Zufälligkeit, die dem Programm der Naturwissenschaften im Hinblick auf die Wirklichkeit eigen ist, gehört heute zum Allgemeinplatz wissenschaftstheoreti­ scher Überlegungen. Jedoch verbinden wir herkömmlicherweise mit der Methode der experimentellen Naturwissenschaften die Vorstel­ lung einer Entsprechung zwischen Naturgesetz und einer unabhän­ gig davon gedachten Determination der realen Welt. Wir machen für gewöhnlich keinen Unterschied zwischen dem determinierten Ablauf des uns umgebenden Realgeschehens und unseren naturwis­ senschaftlichen Vorstellungen von diesem Geschehen. Die Epidemio­ logie stößt an die Grenze dieser naiven Vorentscheidung. Denn für sie existiert nicht allein das Problem, für wissenschaftliche Theorien eine Bestätigung im Realgeschehen zu entdecken, sondern für Realzusam­ menhänge Theorien zu finden, auf deren Grundlage eine bestimmte medizinische Therapie, die Prävention, erfolgreich sein kann. Sie muß die zu erforschenden Abhängigkeiten aus dem Realgeschehen so auswählen, daß die Rückübertragung der Forschungsergebnisse an das Realgeschehen eine medizinische Therapie im Sinne der Prävention ermöglicht.20 Zu diesem Zweck setzt die Epidemiologie wesentliche (oder wie wir auch sagen relevante) Abhängigkeiten voraus, sie behauptet damit nicht – ebensowenig wie die experi­ mentelle Naturwissenschaft – das Realgeschehen in toto erklärt zu haben, sondern sie versucht, einem Kausalnexus (z. B. Rauchen → Bronchialkarzinom) in ihren Modellen zu treffen, dessen Aufhebung 20 H. Enke, Die sozialmedizinische Forschung in der BRD und ihre gesundheitspoli­ tischen Möglichkeiten. In: Maria Blohmke (Hg.). Gesundheitspolitik und sozialme­ dizinische Forschung. Schriftenreihe »Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Arbeitshy­ giene«, Bd. 45, Stuttgart (Gentner) 1972, S. 23–33.

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erfolgreich durchgesetzt werden kann. Ihr konstruktives Verhältnis zur Wirklichkeit – das im Prinzip jeder Wissenschaft innewohnt – tritt hier nur deswegen so überdeutlich hervor, weil die analytische Absicht, die auf die Aufdeckung einer Kausalbeziehung gerichtet ist, einem praktischen Ziel untergeordnet ist, der Medizin einen präventiven Zugriff auf die Zivilisationskrankheiten zu eröffnen. Versuchen wir an dieser Stelle eine Zwischenbilanz zu ziehen. Wir haben zunächst gesehen, daß die Epidemiologie ihre gegenwärtige Bedeutung an einer sozialgeschichtlichen Wende im Krankheitsge­ schehen und einer daraus folgenden Aufgabenstellung der Medizin gewinnt. Die ökonomische und gesellschaftliche Grundlage, die das Auftreten, die Verbreitung und das Erscheinungsbild der Krankheiten im milieu technique prägt, erweitert den Bezugsrahmen ätiologischer Vorstellungen und therapeutischer Aufgaben und führt zur Einbe­ ziehung ökonomischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Das Angebot an Erklärungen für diese kausalen Beziehungen, die zwi­ schen dem milieu technique und den Zivilisationskrankheiten beste­ hen, verteilt sich auf das Spektrum mehrerer Wissenschaftsdomänen: Naturwissenschaften, Ökonomie, Psychologie und Soziologie. Jedes dieser Angebote verspricht eine Erklärung der kausalen Beziehungen im Rahmen wissenschaftlicher Modellbildung, also immer unter der Einschränkung, daß sich die globale Realdetermination z. B. milieu technique → Rauchen → Bronchialkarzinom als ein »biochemisches« oder als ein »ökonomisches« oder als ein »psychologisches« oder als ein »soziologisches« Problem zureichend definieren lasse. In dieser Hinsicht sind die Angebote einander gleichwertig, gleichrangig. Wir können mit wissenschaftlichen Argumenten nicht behaupten, nur die »biochemische« oder nur die »soziologische« Problemstellung sei die einzig vertretbare. Die Entscheidung unter den Erklärungsmodel­ len muß unter praktischen, gesundheitspolitischen Gesichtspunkten gefällt werden. Welches der Modelle bietet die größte Chance einer erfolgreichen Umsetzung in die Realität? Welches Modell ist also am geeignetsten, die globale Realdetermination milieu technique → Rauchen → Bronchialkarzinom zu durchbrechen? Und ferner: Wel­ ches Modell verspricht paradigmatische Bedeutung für eine generelle Lösung des Problems der Zivilisationskrankheiten? Denn gesucht wird ja nicht eine Lösung für das Bronchialkarzinom oder für die psy­ chosomatischen Erkrankungen je für sich, sondern gesucht wird eine allgemeine wissenschaftlich begründete Strategie gegen die Krank­

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heiten, deren Auftreten, Verbreitung und Erscheinungsbild durch das milieu technique determiniert sind. Wir haben bei unseren bisherigen Überlegungen die Probleme, die das Sozialverhalten und die gesellschaftlichen Verhältnisse der Epidemiologie aufgeben, im Zusammenhang wissenschaftstheoreti­ scher Überlegungen erörtert. Der normative Aspekt des Sozialver­ haltens zeigte sich dabei in zweierlei Hinsicht. Die Hoffnung, über einen Wandel des Sozialverhaltens oder sozialer Verhältnisse Zivili­ sationskrankheiten beeinflussen zu können, setzt als Eingriffschance voraus, daß soziale Normen, daß die Wert- und Steuerungskriterien des Sozialverhaltens anders gesetzt werden können. Wer seine Hoff­ nungen auf die geplante Veränderung sozialer Verhältnisse setzt, rechnet mit dem normativen Aspekt des Verhaltens. Zum andern zeigte sich dieser Aspekt in der Entscheidung zwischen alternativen Erklärungsmodellen. Wenn diese Entscheidung keine wissenschaftli­ che Entscheidung zwischen möglichen Hypothesen, sondern – wie wir es hier vertreten – eine Entscheidung nach gesundheitspoliti­ schen Erfolgskriterien ist, nämlich bei welchem Erklärungsmodell die größere Wahrscheinlichkeit für die erwünschte Veränderung des Sozialverhaltens besteht, dann stellen wir den normativen Aspekt des Sozialverhaltens auch wissenschaftstheoretisch in Rechnung. Denn wir setzen dann – ausgehend von der Umsetzung der For­ schungsergebnisse – einen hypothetischen Kausalzusammenhang als die wesentliche Kasualbeziehung und erhoffen die Bestätigung für die Richtigkeit dieser Entscheidung aus der erwarteten Umsetzung der Forschungsergebnisse. Welche Struktur des Sozialverhaltens und der gesellschaftlichen Verhältnisse, mit denen die Epidemiologie der Zivilisationskrankhei­ ten rechnen muß, geht dabei in unsere Überlegungen ein? Wie haben wir uns den Zugriff auf die geplante Veränderung sozialer Normen vorzustellen, von der wir die Entscheidung über die Erklärungsmo­ delle abhängig machen wollen? Der Beantwortung dieser Fragen müssen wir uns jetzt zuwenden. Die Verhaltensweisen, mit denen eine Epidemiologie der Zivi­ lisationskrankheiten konfrontiert wird, zeichnen sich durch zwei Eigentümlichkeiten aus: sie sind leibnah, und sie waren im Indus­ trialisierungsprozeß durchgreifenden Veränderungen ausgesetzt. Als leibnah wollen wir die Verhaltensweisen bezeichnen, die unmittelbar die leibliche Reproduktion beeinflussen, wie sich ernähren, sich erho­ len, arbeiten. Diese elementaren Verhaltensweisen sind soziokulturell

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variabel angelegt, wir treffen zu verschiedenen geschichtlichen Epo­ chen und in verschiedenen Kulturräumen auf unterschiedliche Aus­ prägungen, auf Verhaltensstile, die sehr verschieden gesellschaftlich und kulturell motiviert werden. Ungeachtet ihrer Leibnähe gehören diese Verhaltensweisen zum Bereich der soziokulturellen Plastizität des Menschen. Obwohl diese Verhaltensweisen die leibliche Repro­ duktion des Menschen unmittelbar beeinflussen, also den Vitalwert der biologischen Selbsterhaltung betreffen, sind sie variabler kul­ tureller Gestaltung fähig. Ihre sozio-kulturelle Ausprägung kann durchaus in Konkurrenz, ja in Konflikt zu den Forderungen treten, die sich aus dem Vitalwert biologischer Selbsterhaltung herleiten. Bis in unsere Zeit, also bis in die Epoche einer wissenschaftlich angeleiteten Zivilisation, bildete die einzige Quelle für eine Realitäts­ prüfung der sozio-kulturellen Normierung die Alltagserfahrung. Ob und inwieweit ein Ernährungs- oder Erholungsregime die biologische Selbsterhaltung förderte oder beeinträchtigte, welche Wirkungen die Arbeit auf die leibliche Reproduktion der Menschen ausübte, war der naiven Alltagsbeobachtung bzw. religiösen Deutungen anheim gege­ ben. Erst die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Arbeit, mit der Ernährung und mit der Erholung hat diese Urteilsgrundlage erweitert und Kriterien für eine Beurteilung soziokultureller Normierung unter dem Aspekt der biologischen Selbsterhaltung entwickelt. Hier liegen die großen Leistungen, insbesondere der Arbeits- und Ernährungs­ physiologie, aber auch der Arbeitsmedizin, die uns experimentell gesicherte Gesichtspunkte für die prognostische Beurteilung von Arbeits-, Ernährungs- und Erholungsgewohnheiten geben. Die begrenzte Aussagefähigkeit dieser Gesichtspunkte, ihre Interpretationsbedürftigkeit liefert allerdings nur eine schmale Basis für praktische Empfehlungen. Die sich hieraus ergebenden Aufgaben der epidemiologischen Forschung haben wir eingangs kennengelernt. Für die Darstellung der gesellschaftlichen Struktur dieser Verhaltens­ weisen aber müssen wir uns ihren einschneidenden Wandlungen im Industrialisierungsprozeß zuwenden. Dabei können wir die unmit­ telbar anschauliche Seite dieses Wandels als bekannt voraussetzen, einige Stichworte als Erinnerungsstütze müssen genügen: Entlastung von körperlicher Beanspruchung, sinkende Arbeitszeit, Rationalisie­ rung und Mechanisierung der Arbeit, Zunahme eigenbestimmter Zeit als Freizeit und Urlaub, ein Marktangebot an Nahrungsmitteln, das bei sinkendem Anteil der Nahrungsausgaben am Haushaltsbud­ get eine gesicherte und auch Luxus ermöglichende Versorgungslage

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für die überwiegende Bevölkerung eingeleitet hat. Das soziologischtheoretische Interesse an diesen Wandlungen richtet sich weniger auf das historische Gefälle oder auf die sinnhafte Interpretation der erreichten Situation, um nur an einige Schlagworte zu erinnern: »Gesellschaft im Überfluß«, »Gesellschaft am Fließband«, »Sinnent­ leerung der Arbeit«. Vielmehr beanspruchen die Strukturveränderun­ gen der elementaren Verhaltensweisen unsere Aufmerksamkeit. 1. Die Handlungsketten haben sich verlängert.21 Zwischen Erzeugung und Verzehr hat sich die arbeitsteilige Organisation der erwerbsori­ entierten Verkehrswirtschaft eingeschoben. Die Ernährungsgewohn­ heiten wurden aus überkommenen Verhaltenssequenzen, sie wurden aus der Selbstversorgung der Haushalte bzw. dem jahreszeitlichen Angebot an Nahrungsmitteln herausgelöst.22 Sie wurden aus der Verbindung mit dem Arbeitsrhythmus, mit der jahreszeitlichen Fest­ tagsfolge, mit dem religiösen Verhaltenskodex entlassen, schrittweise ausgegliedert und freigesetzt. Selbst die Einkommens- und Preisregu­ lierung hat mit der Realeinkommenssteigerung stark an Bedeutung eingebüßt.23 Das Verhalten hat sich geöffnet für einen weiten Spiel­ raum alternativer Stilisierung. Es können bei dem erreichten Zustand sehr verschiedenartige Ernährungsstile verwirklicht werden. Nicht der Mangel an Alternativen, sondern die Wahl zwischen einer Viel­ zahl an Ernährungsstilen macht die Ernährungsweise problematisch. Nicht der Ausgleich eines technischen oder ökonomischen Defizits wirft die epidemiologisch bedeutsamen Fragen auf, sondern die man­ gelnde Transparenz gegebener Ernährungsstile und ihre Bewertung im Lichte der Erhaltung und Förderung der Gesundheit. Wir sind also nicht mit einem faktischen, durch den Zwang der Versorgungs­ lage determinierten Ernährungsverhalten konfrontiert, sondern mit seinem normativen Aspekt. Das Wahlverhalten in einer aus den naturwüchsigen Zwängen der Versorgung entlassenen Gesellschaft 21 Georg Simmel, Philosophie des Geldes. München u. Leipzig (Duncker & Humblot) 19224, S. 197 ff. Hans Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, 2. Aufl., Schriften des Deutschen Vereins für Öffentliche und Private Fürsorge, Schrift 249, Frankfurt 1971, S. 4–6. 22 Hans J. Teuteberg u. Günther Wiegelmann, Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung. Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im 19. Jahrhundert, Bd. 3, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1972. John Burnett, Plenty and Want, Penguin Books A 976, 1966. 23 Vgl. Anm. 10. Ernährungsbericht 1969, hgg. von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V.

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stellt uns die Fragen nach den prognostischen Kriterien, die eine Bewertung von Ernährungsstilen ermöglichen. Eine Analyse der Arbeit unter den Bedingungen hockindustriali­ sierter Gesellschaften führt zu dem gleichen Ergebnis. Die Sicherung der materiellen Existenz, die durch die tägliche Arbeit erreicht wird, geht den komplizierten Weg der Einkommenssicherung: Geldein­ kommen, das in abgestufter Weise zur Verfügung steht. Die Verän­ derungen des Geldwertes bestimmen die jeweilige Versorgungslage. Das Nettoeinkommen gestattet die Befriedigung der wiederkehren­ den Bedürfnisse. Die Sozialabgaben dienen der pauschalen Abde­ ckung der Bedürfnisse, die aus der gewählten Organisationsform der Arbeit erwachsen: Ablösung der Haushalte der arbeitenden Bevöl­ kerung vom Produktionsmittelvermögen. Die Vermögenslosigkeit der Arbeitenden zwingt zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse aus Sozi­ alhaushalten für den Fall der Arbeitslosigkeit infolge Mangel der Beschäftigungsangelegenheit, für Krankheit, Unfall, Alter und – für die unterhaltsberechtigten Angehörigen – Tod. Die Steuern dienen u. a. der Erhaltung und dem Ausbau der Infrastruktur, die in der modernen Form eines Naturaleinkommens die spezifischen Bedürf­ nisse befriedigt, die sich einer privatwirtschaftlichen Organisierung entziehen: Dienst- und Nutzleistungen im Bereich von Bildung, Gesundheit, Erholung, Kommunikation, räumliche Mobilität. Ver­ mittelt und gespalten durch die gesellschaftliche Organisation präsen­ tiert sich das Ergebnis der Arbeit: die materielle Existenzsicherung, die den Mitgliedern der erwerbstätigen Bevölkerung als Gegenwert in Gestalt des Nettoeinkommens, der Sozialabgaben und Steuern zuteil wird. Entsprechendes gilt für die Arbeits- und Berufseignung, die zur Aufnahme in die erwerbstätige und einkommenerzielende Bevöl­ kerung führt. Schulische und berufliche Sozialisationsprozesse sind der Berufsarbeit vorgeschaltet; Fort- und Weiterbildung, Arbeits­ platzwechsel und Umschulung, die den Erfahrungshintergrund der Alltagsarbeit verändern, begleiten die Berufsausübung, die mit dem ökonomischen und technischen Wandel risikoreicher geworden ist. Die Qualitäten, die den gesellschaftlichen Individuen die Teilnahme am arbeitsteiligen Produktionsprozeß garantieren – wir wollen sie in Anknüpfung an Max Weber Arbeits- und Berufseignung nennen24 24 Max Weber, Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. In: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Tübingen 1924, S. 61–255.

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– werden über zeitlich ausgedehnte gesellschaftliche Prozesse erwor­ ben sowie gegenüber Umweltänderungen erhalten und durchgesetzt. Sie können als Eigenschaften von Personen nur über die ständige Auseinandersetzung mit der Umwelt, also prozeßhaft, stabilisiert werden. Arbeits- und Berufseignung stellen umweltbezogene und gesellschaftlich abhängige persönliche Eigenschaften dar, da sie die Mitgliedschaftsvoraussetzungen für eine einkommen- und sozialsta­ tusvermittelnde Teilhabe am gesellschaftlichen Produktionsprozeß enthalten. Der Doppelaspekt, Eigenschaft von Personen und zugleich Mitgliedschaftsbedingungen der arbeitsteiligen Sozialorganisation zu sein, macht sie mehr oder weniger planvoller gesellschaftlicher Gestaltung fähig und erzwingt bei den Individuen eine mehr oder weniger systematische Anpassung, nämlich Lernen. In diesem Doppelverhältnis: variabler gesellschaftlicher Gestal­ tung und als Lernprozeß angelegter individueller Aneignung, kommt die Struktur sich verlängernder Handlungsketten in der menschli­ chen Arbeit zum Vorschein. Die geläufige Interpretation stellt die Veränderungen der menschlichen Arbeit im Zuge des Industriali­ sierungsprozesses als ein Auseinanderrücken von Arbeitsaufwand und Arbeitsertrag dar, das die arbeitsteilige Tauschwirtschaft hervor­ bringt. Dabei wird der Wandel der Arbeits- und Berufseignung über­ sehen. Er entfernt den personalen Aspekt zunehmend von dem Mit­ gliedschaftsaspekt. Die Mitgliedschaftseigenschaft kann nur durch einen intensiven, in sich gesellschaftlich abgestützten Lernprozeß von den Individuen eingeholt, die entstehende Distanz zwischen dem personalen und dem Mitgliedschaftsaspekt der Arbeits- und Berufseignung kann nur durch soziales Lernen überbrückt werden. Terminologisch gesprochen: die Handlungsketten, über die die gesell­ schaftlichen Individuen sich ihre Arbeits- und Berufseignung, also ihre Mitgliedschaft im gesellschaftlichen Produktionsprozeß zueig­ nen, verlängern sich. Wir müssen es uns hier ersparen, diese struk­ turelle Veränderung leibnaher Verhaltensweisen auch noch für das Sich-Erholen zu skizzieren; die exemplarischen Analysen für Ernäh­ rung und Arbeit machen hinreichend deutlich, wie die anschaulichen Aspekte sich dem Strukturmodell einfügen. Ebenso können wir uns bei dem zweiten Strukturmerkmal kurzfassen: der gesellschaftlichen Vermittlung der genannten elementaren Verhaltensweisen. 2. Als gesellschaftliche Vermittlung bezeichnen wir die Unterstüt­ zung individuellen, auf einen Erfolg gerichteten Handelns durch

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gesellschaftliche Organisation; sie hebt sich von der technischen Potenzierung deutlich ab, verbindet sich aber in der Regel mit dieser. Hervorragende, von der soziologischen Theorie früh beachtete und gewürdigte »Vermittlungen« sind die gesellschaftliche Arbeitsteilung und die politische Gewaltenteilung. Die beschriebene Verlängerung der Handlungsketten der elementaren Verhaltensweisen stützt sich auf komplexe gesellschaftliche Vermittlungen ab. Arbeitsverfassung, Einkommensverteilung, tauschwirtschaftliche Organisation der Pro­ duktion, schulische Institutionalisierung von Lernprozessen bezeich­ nen die gesellschaftlichen Mechanismen, die dem individuellen Han­ deln seine Erfolge garantieren und vorgeben. Die institutionalisierten Vermittlungen individuellen Handelns haben ihre eigene Sozialgeschichte. Soziogenetisch verdanken sie ihre Existenz jeweils verschiedenen sozialgeschichtlichen Konstella­ tionen. Ihre rationalisierende Durchbildung stand im Zeichen ver­ schiedener wissenschaftlicher Paradigmata. Ihre sozialgeschichtliche Durchsetzung, ihr organisatorisches Größenwachstum und ihre Aus­ differenzierung folgte in der Regel der Verbindung, die soziale Bewe­ gungen zu wissenschaftlichen Denksystemen historisch eingegangen sind. So gingen die tauschwirtschaftliche Arbeitsteilung und die Struktur der Einkommensverteilung25 aus den Klassenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts hervor, die ihre gesellschaftspolitische Stoßrichtung in den Denksystemen des ökonomischen Liberalismus und des wissenschaftlichen Sozialismus interpretierten. Die Institu­ tionalisierung des Schulwesens verband sich beispielsweise mit dem wissenschaftlichen Positivismus, der politisch die religiös-monarchis­ tische Legitimierung des gesellschaftlichen Herrschaftssystems auf­ löste. Die historisch fortwirkende Bindung der institutionellen Ver­ mittlung an ihre Ursprungskonstellationen und an spezifische gesell­ schaftliche Denksysteme erschwert eine Systematisierung zu theo­ retischen oder praktischen (gesellschaftspolitischen) Zwecken. Vor allem aber leisten sie einer Reorganisation unter neuen, von ihnen bisher nicht mitbedachten Zwecken Widerstand. Beispielsweise ist es nahezu unmöglich, die Sozialversicherung den gewandelten Bedürf­ Helmut Meinhold, in Sozialenquete (s. Anm. 27); ders. Die Einkommensverteilung als wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Problem. In: Lohnpolitik und Einkommensverteilung. Schriften des Vereins für Sozialpolitik, NF Bd. 51, Berlin (Duncker & Humblot) 1969, S. 24–52. 25

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nissen der Bevölkerung nach Alterssicherung oder nach Sicherung ihrer Gesundheit anzupassen. Denn die strukturleitenden Prinzipien der Sozialversicherung bilden – in der treffenden Charakterisierung von Hans Achinger26 – Verrechtlichung, Monetarisierung, Zentra­ lismus und – nicht zu vergessen – eine Selbstverwaltung, die die Verteilungsgegensätze der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts fortschreibt. In diese Struktur sind die Bedürfnisse nach Individuali­ sierung und Personalisierung der Leistungen der Sozialversicherung schwer einzubringen. Nicht etwa deswegen, weil das System der Sozialen Sicherheit ineffizient wäre, im Gegenteil, die immanenten Leistungen der Einkommensumverteilung, der rechtlichen Garan­ tien, der verwaltungsmäßigen Durchführung und der gesellschaftli­ chen Kontrolle halten jeden Vergleich aus!27 Die systemimmanenten Kräfte des Systems sind ausgebildet und werden dem Stand der struk­ turleitenden Denksysteme (Sozialrecht, Wirtschaftswissenschaften, Verwaltungswissenschaft) jeweils entsprechend weiterentwickelt. Dennoch und gerade im Widerstreit zu den Prinzipien der angespro­ chenen Systemrationalität bleiben die individuellen Zwecke – die Bedürfnisse der Bürger – unberücksichtigt. Die Soziale Sicherheit, die über die Verlängerung der Handlungsketten und über die insti­ tutionelle Vermittlung im System der Sozialen Sicherheit zustande kommt, schließt, um der Effizienz der gewählten Systembedingungen willen, die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse aus. Personale Hilfe, individuelle Beratung, persönliche Betreuung, gezielte Information, politische Teilhabe ebenso wie eine planvolle Steuerung der Dienst­ leistungen, die über die Milliarden-Haushalte der Sozialversicherung finanziert werden, oder gar eine vorausschauende Anregung neuer Berufe oder wenigstens neuer Organisationsformen (z. B. ärztliche Gruppenpraxis) – alles dies liegt außerhalb des historisch überkom­ menen und durch die leitenden Denksysteme abgesteckten Rahmens.

26 Hans Achinger, Soziologie und Sozialreform. In: Soziologie und moderne Gesell­ schaft, Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages, Stuttgart (Enke) 1959, S. 39 ff. 27 Walter Bogs, Hans Achinger, Helmut Meinhold, Ludwig Neundorfer, Wilfried Schrei­ ber: Sozialenquete, Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Bericht der Sozial-enquete-Kommission. Stuttgart o. J. (1966).

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Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens

An der hier nur exemplarisch abzuhandelnden Analyse können wir zeigen, daß die geläufige, von der Gehlen28-Schelsky29-Schule vor allem in Umlauf gesetzte Interpretation zu kurz greift, die das Auseinanderfallen von Institution und Bedürfnis in ein) undialekti­ sches Schema zwängt. Eine solche Interpretation schneidet spezifische soziologische Erklärungsweisen ab. Die aufgewiesene Diskrepanz zwischen Systemzielen und individuellen Zwecken stellt sich lediglich bei einer vordergründigen Betrachtung als ein Konflikt zwischen Institution und individuellen Bedürfnissen dar. Bei näherem Zusehen entdecken wir, daß dieser Konflikt durch die gewählten Systembe­ dingungen provoziert wird, die, aus der Perspektive unserer histori­ schen Erfahrungen betrachtet, zufällig sind. Soziologisch sagen uns die Systemprinzipien mehr über ihre Soziogenese, als über ihre gegenwärtigen Leistungen aus. Der offenkundige Konflikt betrifft die Unvereinbarkeit der Denksysteme, unter denen Institutionen rational entwickelt werden können – vor die Aufgabe gestellt, ein System sozialer Sicherheit zu konstruieren, würde heute niemand mehr auf den Gedanken verfallen, die Prinzipien der Bismarck’schen Sozialpoli­ tik als die einzig denkbaren oder als die denkbar besten zu empfehlen. Vielmehr würden wir uns heute bevorzugt von den Erkenntnissen der Soziologie, der Sozialpsychologie und der Wissenschaft von der Politik leiten lassen. In welchem Umfang diese Chance dort ergrif­ fen wird, wo eine Neukonstruktion möglich erscheint, belegt die Sozialpsychiatrie30, die praktisch ein neues System psychiatrischer Versorgung während der letzten beiden Jahrzehnte konstruiert hat. Es kann auch kein Zweifel darüber bestehen, daß ein etabliertes, vor­ zugsweise nach sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen konstruiertes System Sozialer Sicherheit nicht alle Bedürfnisse befriedigen, ja, spezifische Bedürfnisse freisetzen würde. Aber eine solche Erfahrung könnte an dem geschilderten historischen Ergebnis nicht vorüberge­ hen, daß ein nach sozial-liberalen Grundsätzen, also auf WirtschaftsArnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Bd. 53, 1937. ders. Urmensch und Spätkultur, Frankfurt/Main (Athenäum) 19642. 29 Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. In: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. III, 1952. ders. Systemfunktionaler, anthropologischer und person-funktionaler Ansatz der Rechtssoziologie. In: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1 1970, S. 39–89. 30 K. P. Kisker, Psychiatrie ohne Bett. Über eine zweijährige poliklinische Arbeit der Heidelberger Klinik. In: Der Nervenarzt, 38. Jg., Heft 1, 1967. 28

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Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens

und Rechtswissenschaften vornehmlich abgestütztes System Sozialer Sicherheit31 zu einer ähnlichen Entwicklung bereits geführt hat. Wir stoßen mit dieser Überlegung auf ein dialektisches Ver­ hältnis der Denksysteme, die zur Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit verwendet werden. Die grundlegenden Prinzipien der Wissenschaften stehen ihrerseits nicht in einem harmonischen Systemzusammenhang, sondern enthalten unausgetragene Wider­ sprüche. Letztere verwandeln sich in soziale Konflikte, wenn Wis­ senschaften soziale Geltung erlangen, wenn ihre Grundsätze zu kon­ stitutiven Prinzipien gesellschaftlicher Institutionen werden. Daher ist es zwingend, die institutionelle Vermittlung einerseits auf ihre soziogenetischen Bedingungen (soziale Bewegungen, Denksysteme), andererseits auf die Verlängerung der Handlungsketten individuellen Handelns zurückbeziehen. Erst aus dieser doppelten Perspektive ergibt sich die Möglichkeit, ihre anscheinende Wandlungsunfähigkeit und ihre scheinbare Systemnotwendigkeit kritisch zu überwinden. Oder anders gewendet: die institutionellen Vermittlungen, auf die die Zweckverfolgung der Individuen im milieu technique angewiesen ist, über die der einzelne seine Daseinszwecke realisieren kann, lassen sich ihrerseits nicht aus einer höheren gesellschaftlichen oder menschlichen Vernunft begründen. Sie wirken so vernünftig oder unvernünftig, wie die bei ihrer Entstehung beteiligten wissenschaft­ lichen Disziplinen unter den seitdem gewandelten Verhältnissen wirken können. Daher ist es für jede Analyse zwingend, die institu­ tionellen Vermittlungen individuellen gesellschaftlichen Handelns als historische Elemente der Sozialstruktur in die soziologische Bear­ beitung einzubeziehen, d. h. im einzelnen, ihre Soziogenese nach­ zuvollziehen, ihre strukturleitenden wissenschaftlichen Prinzipien offenzulegen, die latenten Gegenprinzipien zu ermitteln, um aus ihnen die freigesetzten Bedürfnisse manifest zu machen. In diesem Sinne betrachtet, erscheint uns eine dialektische Methode die einzig adäquate Vorgehensweise. Was folgt nun aber aus der dargelegten Struktur der elementaren Verhaltensweisen, aus der Verlängerung der Handlungsketten und aus der institutionellen Vermittlung individuellen Sozialen Handelns für die Theorie der Epidemiologie? Welche Konsequenzen ergeben sich für die erkenntnisleitende Absicht, Zusammenhänge aufzude­ cken, die eine erfolgreiche Prävention gestatten? 31

C. v. Ferber, Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Hamburg 1967.

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Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens

1. Die soziokulturelle Variabilität, die Plastizität der elementaren Ver­ haltensweisen hat mit der Verlängerung der Handlungsketten zuge­ nommen, nicht der Mangel an Alternativen, sondern die Überzahl der zur Wahl stehenden Gestaltungen stellt die Probleme. Die bisher nur im geschichtlichen Rückblick oder im interkulturellen Vergleich theo­ retisch erfahrbare Plastizität auch und gerade leibnahen Verhaltens wird damit erstmalig zu einer praktisch umsetzbaren Erkenntnis. 2. Die soziokulturelle Variabilität der elementaren Verhaltensweisen liegt zum geringsten in der Disposition der Individuen selbst – eine Annahme, die zu großen Mißverständnissen in der Gesundheitserzie­ hung oder Gesundheitsbildung führt – sondern in der institutionel­ len Vermittlung des Verhaltens. Die soziokulturelle Variabilität ist das Ergebnis einer hochdifferenzierten institutionellen Vermittlung; zugleich liegt in dieser auch die Grenze und der Schlüssel für die Ver­ wirklichung anderer als der zur Zeit realisierten Alternativen. Um die­ sen Gesichtspunkt an einem Beispiel zu verdeutlichen: »In der DDR obliegen dem Betrieb über die Lohnzahlungspflicht hinaus Pflichten zur umfassenden Betreuung der Werktätigen ... Diese Pflichten sind nach dem Selbstverständnis der DDR die konkrete Verwirklichung des Prinzips der Sorge um den Menschen im Arbeitsprozeß ... Als Ausformungen dieses Prinzips gelten ... der ausgebaute Gesundheitsund Arbeitsschutz.«32 Auch in der BRD verpflichtet das Betriebsver­ fassungsgesetz von 1972 die innerbetriebliche Interessenvertretung der Arbeitnehmer, Gefahren für die Gesundheit abzuwehren.33 Das System der Sozialen Sicherheit knüpft an das Beschäftigungsverhält­ nis an und bekennt sich konkret zur Aufgabe einer »Erhaltung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit«. In beiden deutschen Staa­ ten bestehen also gesetzliche Bestimmungen, die zu einem verstärk­ ten Gesundheitsschutz in der betriebsgebundenen Arbeit auffordern. Technische und ökonomische »Zwänge« stehen einer Verwirklichung weniger entgegen als die Fähigkeit, den durch die Gesetzesnormen gegebenen Rahmen auszufüllen. Angesichts dieser Sachlage wirkt die betonte Orientierung der Gesundheitserziehung oder -bildung an der Aktivierung des Einzelnen einseitig und ideologisch verzerrt. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1972, Zfr. 346, Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode, Drucksache VI/3080. 33 Betriebsverfassungsgesetz von 1972, § 87 Abs. 1. Zfr. 7. 32

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Der Epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens

3. Die soziokulturelle Variabilität der elementaren Verhaltensweisen sowie ihre institutionelle Vermittlung bezeichnen den normativen Aspekt des Verhaltens. Die Begründung für einzelne, epidemiolo­ gisch bedeutsame Verhaltenselemente, wie Bewegungsmangel, Fehlbzw. Überernährung, riskante gewoonten34 wie Rauchen und Trin­ ken, wird daher stets die Offenheit dieser Verhaltenselemente für Alternativen sowie ihre institutionelle Vermittlung beachten müssen. Soziologisch betrachtet handelt es sich bei den genannten, zur Zeit epidemiologisch stark diskutierten Verhaltenselementen um grobe Beobachtungsdaten. Denn was ist eigentlich das soziologische Korre­ lat für den epidemiologischen Risikofaktor »Rauchen« oder »Überer­ nährung«? Ihre soziologische Interpretation deckt die hier skizzierten Verhaltensstrukturen auf und eröffnet allererst den Weg für eine gezielte Hypothesenbildung, wie wir sie eingangs vorgeführt haben. Da die Sozialstrukturen, in die eine solche Analyse hineinführt, varia­ bel gestaltungsfähig sind, wird auch die Bedingung erfüllt, umset­ zungsfähige, soziotherapeutisch wirksame Erkenntnisse zu gewin­ nen.

34

Anm. 18.

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Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin – Zur Partizipation im Gesundheitswesen

Die medizinsoziologische Umfrageforschung demonstriert seit geraumer Zeit Sättigungsgrenzen in der Inanspruchnahme medizini­ scher Dienst- und Sachleistungen. So können wir einer Umfrage des Emnid-Instituts, Bielefeld, entnehmen, daß die erwachsene Bevölke­ rung der Bundesrepublik im Laufe eines Jahres zu 85 Prozent mindes­ tens einmal einen Arzt konsultiert. Zwar behandelt die Bevölkerung zu zwei Drittel ihre leichten Beschwerden selbst, ohne dafür den Arzt hinzuzuziehen, eine weitere Expansion medizinischer Dienstleistun­ gen findet zweifelsohne noch ungedeckte Bedürfnisse vor, anderer­ seits aber machen Erhebungen unter Ärzten deutlich, daß nicht alles, wofür ein Arzt heute in Anspruch genommen wird, auch des Arztes bedarf. Wir können es auch so formulieren: Die Inanspruchnahme medizinischer Dienst- und Sachleistungen ist in den entwickelten westlichen Industrieländern sehr hoch – das zeigen die Indikatoren des medizinisch-organisatorischen Fortschritts wie Arztdichte pro Kopf der Bevölkerung, Medikamentenverbrauch, Anzahl der Kran­ kenhausbetten und Verweildauer und womit die medizinische Leis­ tungsstatistik sonst noch aufzuwarten mag, zugleich aber sind die Schwellenwerte des sachlich Notwendigen in vieler Hinsicht bereits überschritten. Wir können das sachlich Notwendige als diejenigen medizinischen Sach- und Dienstleistungen bezeichnen, die nicht ersetzt werden können, ohne den medizinischen Erfolg zu gefährden. Wir können in Anlehnung an einen wirtschaftswissenschaftlichen Sprachgebrauch auch von Substitutionsschwellen sprechen, an denen medizinische Dienst- und Sachleistungen durch paramedizinische Leistungen ersetzt werden können, Leistungen, die von medizini­ schen Laien, insbesondere von nichtprofessionellen erbracht werden. Gegenstand meiner Ausführungen ist die Substitutionsschwelle zwi­ schen Arzt-Medizin und nichtprofessionalisierter Laienmedizin, also

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Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin

dem, was eine vergangene Wissenschaftsgeneration »Volksmedizin« genannt hat.

Volksmedizin eine romantische Utopie? Nun könnte man hier auch ein Scheinproblem vermuten. Ein nahe­ liegender Einwand gegen den Versuch, in unseren Tagen die Grenze zwischen Arzt-Medizin und Volksmedizin zu thematisieren, könnte lauten: Die entwickelten Industriegesellschaften zeichnen sich gerade durch eine wachsende Bedeutung ihres Dienstleistungsangebots aus. Eine steigende Inanspruchnahme medizinischer Dienst- und Sach­ leistungen ist daher als ein Wohlstandsindikator zu werten. Der hohe Lebensstandard der Bevölkerung läßt sich statistisch vor allem auch an einem Verbrauch der Dienstleistungen ablesen, die die Haushalte auch selber zu erbringen vermöchten, die sie aber auf Grund der Pro­ duktivität ihrer eigenen Berufsarbeit bezahlen können. Auch für die medizinischen Dienst- und Sachleistungen zeigt demnach ein sicht­ bares Überschreiten der Substitutionsschwelle ein Wohlstandsniveau an, das zum Gegenstand von Neid oder von asketischer Konsumkritik werden kann, aber keinen Anlaß zu systemverändernden Überlegun­ gen bietet. Eine Rückkehr zur Volksmedizin verwirklichte daher kaum mehr als eine romantische Utopie des »einfachen Lebens«, einen spätbürgerlichen Katzenjammer nach dem Überdruß am Überfluß. Wie folgerichtig dieser Einwand den hohen Medizinkonsum aus der allgemeinen Wohlstandsentwicklung auch ableitet, und wie anstößig ein solches Argument angesichts der Kostenentwicklung bei stagnierendem Wirtschaftswachstum uns heute auch klingen mag, der hierin enthaltene Trugschluß ist nur zum Teil ökonomischer Natur. Bei dem Konsum an medizinischen Sach- und Dienstleistun­ gen handelt es sich nicht allein um die Frage, in welchem Umfange Eigenleistungen durch arbeitsteilig erbrachte und daher in Geldwert abzurechnende Fremdleistungen ersetzt werden. Die Verflechtung der »Produktion« von medizinischen Dienst- und Sachleistungen mit ihrer »Konsumtion« ist wesentlich enger und daher qualitativ anders als bei vergleichbaren Dienstleistungen. Medizinische Sach- und Dienstleistungen können wir nicht wie das Dienstleistungsangebot des Gaststätten-, Hotel- und Feriengewerbes je nach Konjunkturlage schrumpfen oder wachsen lassen. Medizinische Dienst- und Sachleis­ tungen sind ihrer Zweckbestimmung nach stets auf die Mitarbeit der

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Medizinales Herrschaftsverhältnis

Patienten beziehungsweise Konsumenten angewiesen. Nicht zufällig sind viele gesellschaftliche Eigenarten des Medizinbetriebes aus dem ständigen Angewiesensein der Ärzte auf die Mitarbeit der Patienten und auf deren therapeutischen Gehorsam zu erklären: die bewußte Herstellung der ärztlichen Autorität, das Arzt-Patienten-Geheimnis, bei dem der Arzt zum Mitwisser, ja, exklusiven Kenner der Geheim­ nisse seiner Patienten wird, das besondere Gewaltverhältnis, dem die Patienten im Krankenhaus unterworfen werden, die therapeuti­ schen Handlungsanweisungen an den Patienten und so fort. Die Inan­ spruchnahme medizinischer Dienst- und Sachleistungen stellt sich aus der Betrachtung ihrer gesellschaftlichen Verfassung weniger als ein Konsum beziehungsweise als ein Tauschverhältnis dar, sondern sie besteht in der Unterwerfung unter das Regime der Medizin.

Medizinales Herrschaftsverhältnis Bezahlt werden nicht allein die Leistungen der Ärzte und Gesund­ heitsberufe, sondern auch ihre Anweisungen und Handlungsanlei­ tungen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit. Die Komplementarität im Verhältnis von Medizinern und ihren Klien­ ten liegt nicht im Austausch arbeitsteilig erbrachter Leistungen, sondern in der Zuordnung von professioneller Tätigkeit und Mitarbeit der Laien zu einem gemeinsamen Zweck. Professionelle Tätigkeit und Mitarbeit der Laien unterliegen dem Regime der Medizin, für konkrete Situationen wissenschaftlich begründete Anleitungen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit durchzuset­ zen. Arzt-Klienten-Beziehungen gehören daher nicht – soziologisch betrachtet – in die Kategorie der Austausch-, sondern fallen unter die Kategorie der Herrschaftsverhältnisse. Sie unterliegen daher auch nicht den Beurteilungskriterien. der Gleichwertigkeit (Äquivalenz) von,Leistung und Gegenleistung, sondern denen der Legitimation. Mit welchem Recht nämlich beansprucht die Medizin die Unterwer­ fung ihrer Klienten unter ihr Regime? Mit welchem Recht fordert sie die Inanspruchnahme ihrer Leistungen durch die Klienten, das heißt deren Mitarbeit im Medizinbetrieb? Die Antwort kann nur heißen: Auf Grund wissenschaftlich begründeter Erfahrungen ist in wissenschaftlich abgrenzbaren Situationen die Unterwerfung unter ein Verhaltensregime geboten, zu dem der Medizinbetrieb konkret angebbare Leistungen beisteuern kann.

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Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin

Nun wissen wir alle – und das gibt auch den Anlaß unserer Diskussion ab –, daß dieses Prinzip gegenwärtig an vielen Stellen durchlöchert ist. Es wird nicht oder nur unzureichend überprüft, ob überhaupt wissenschaftlich begründete Erfahrungen für die Masse des medizinischen Handelns beigebracht werden können. Symptoma­ tisch hierfür scheinen mir Äußerungen zu sein, wie sie im Dezember 1974 von Herrn Geiser, Bern, in der Schweizerischen Ärztezeitung veröffentlicht worden sind: »Die modernen medizinischen Maßnahmen sind nicht immer harmlos und verursachen so hohe Kosten, daß Patienten, Planer und Politiker die Tatsache nicht mehr übersehen dürfen, daß der Nutzen, die Wirksam­ keit und Wirtschaftlichkeit von recht vielen medizinischen Maßnahmen nicht bewiesen sind. So fehlt nach Cochrane ein Beweis für die Überle­ genheit der Intensivpflegestation, über die häusliche Behandlung beim Herzinfarkt, für die Wirksamkeit der medikamentösen Behandlung des leicht erhöhten Blutdruckes und für den Nutzen der Behandlung der Zuckerkrankheit (Diabetes) mit Tabletten. Es werden Zweifel geäußert über die Nützlichkeit der Mehrzahl der Mandeloperationen, und es bestehen berechtigte Zweifel über die Nützlichkeit auch anderer Opera­ tionen (zum Beispiel bei der Behandlung vieler Knochenbrüche). Der Nutzen der prophylaktischen Anwendung von Blutgerinnungshemmern ist umstritten. Medikamente, die nur bei bestimmten Mangelzuständen wirken (zum Beispiel Vitamine) werden in sogenannten Stärkungsmitteln auch von Patienten konsumiert, die nicht an diesen Mängeln leiden. Unter den Vorsorgeuntersuchungen scheint sich zu bewahrheiten, daß die meisten sogenannten medizinischen checkups für das Wohlbefinden weniger wirksam sind als Catchup. Sollte man sich einmal daran zu machen wagen, die Nützlichkeit der Bäderbehandlung, der Chiropraxis, der Physiotherapie, der Laborunter­ suchungen im Blockverfahren, der perfektionierten Radiologie und des Einsatzes von Computern unter eine kritischere Lupe zu nehmen als bisher, erwarte ich nicht nur schreiende Entrüstung, weil einige beliebte Maßnahmen ins Reich der technischen Spielereien des Hokuspokus und vergnüglichen Schabernacks verwiesen werden müßten.«

Das Bemerkenswerte an der Aussage von Herrn Geiser scheint mir in der Breite der Kritik zu liegen, die von den Leistungen der hochspezialisierten Medizin für akute Krisensituationen bis hin zur medizinisch-extensiven Erholungskur reicht und für alle Maßnahmen den mangelnden Nachweis ihrer Wirksamkeit herausstellt.

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Medizinales Herrschaftsverhältnis

Die Kritik daran, daß die Medizin ein Herrschaftsverhältnis errichtet hat, das von ihren eigenen Kriterien aus, nämlich der Überprüfung an wissenschaftlich kontrollierten Erfahrungen nicht begründet, das heißt nicht legitimiert werden kann, kann sich jedoch nicht auf das Leistungsspektrum in der kurativen Medizin beschrän­ ken. Vielmehr müssen wir die Situationen miteinbeziehen, in denen die Medizin sich anschickt, in Konkurrenz zu anderen sozialen Maß­ nahmen zu treten, die ebenfalls geeignet sind, der Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit zu dienen. Bei der Gesundheits­ vorsorge – in ihrer allgemein vorbeugenden und in ihrer spezifische Risiken auflösenden Form, auch Erst- und Zweitprävention genannt – sowie bei der Krankheitsfrüherkennung stellt sich gegenwärtig die Frage, ob die Medizin das geeignete oder das effizienteste Mittel darstellt, um den chronisch-degenerativen Erkrankungen der zweiten Lebenshälfte wirksam begegnen zu können. Manfred Pflanz hat vor der Einführung der Krankheitsfrüherkennungen in die kassenärztli­ che Versorgung der Bundesrepublik zu Recht auf zwei Alternativen aufmerksam gemacht. Einmal hat er darauf hingewiesen, daß gemessen an der Lebens­ erwartung allein die Zunahme des Rauchens den medizinischen Fortschritt der letzten vier Jahrzehnte zunichte gemacht hat. Die uner­ müdliche Kleinarbeit medizinisch-wissenschaftlicher Forschung und ihre mit ungeheuren organisatorischen Anstrengungen verbundene Umsetzung in den therapeutischen Alltag hält mit der Zunahme der Gefahren nicht länger Schritt, die eine menschlich produzierte Umwelt, das milieu technique (Georges Friedman) der entwickelten Industriegesellschaften, gleich, ob unter westlichem oder sozialisti­ schem Gesellschaftssystem stehend, hervorruft. Die Medizin hat eine Reihe natürlicher Gefahren gebannt, den gesellschaftlichen Gefähr­ dungen der Gesundheit ist sie nicht nachgewachsen. Die gesellschaft­ lichen Grenzen, die heute der Erhaltung der Gesundheit gezogen werden, hat die Medizin bisher nicht überwunden. Zum anderen aber trifft Pflanz die schlichte Feststellung: Von der Einschränkung des Rauchens und von der Rückkehr zu normaler Ernährung und Bewegung sind auf die Lebenserwartung der Bevölke­ rung eine weit größere Wirkung zu erwarten als von allen Früherken­ nungsmaßnahmen. Die aufwendigen und erhebliche Organisations­ probleme aufwerfenden Programme zur Krankheitsfrüherkennung bei Krebs- und Herz-Kreislaufkrankheiten, die die manpower der Medizin nach Zukunftprognosen zu 50 Prozent auslasten werden,

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Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin

werden zu dem Ziel der Erhaltung der Gesundheit nur einen ver­ gleichsweise geringeren Beitrag leisten können. Die Verhaltenswei­ sen der Bevölkerung, ihre Mitarbeit an der Erhaltung ihrer Gesund­ heit enthalten ein weit höheres Wirkungspotential als die technisch hoch ausgerüstete, mit Expertenwissen glänzend ausgestattete und wohlorganisierte Medizin – vorausgesetzt, das Wirkungspotential der Klienten ließe sich für ihre Gesundheit mobilisieren.

Vervollständigung der Medizin-Technokratie Nach diesen Ausführungen können wir unsere These folgenderma­ ßen formulieren: Das Verhältnis der Mediziner zu ihren Klienten ist kein arbeitsteilig organisiertes Austauschverhältnis, daher ist die Rede vom Medizinkonsum abwegig. Vielmehr handelt es sich bei dem Regime der Medizin um ein technokratisches, das heißt durch Exper­ tenwissen begründetes Herrschaftsverhältnis. Dieses Herrschaftsver­ hältnis ist außer Kontrolle geraten, nachdem es seine immanenten, die wissenschaftlich begründbaren Grenzen überschritten hat. Die Technokratie der Medizin hat sich gegenüber ihren Ursprüngen ver­ selbständigt und ist in einen unkontrollierten Wachstumsprozeß ein­ getreten. Die »Kostenexplosion« im Gesundheitswesen signalisiert daher weniger eine Überkonsumtionskrise (steigender Verbrauch bei stagnierendem Wirtschaftswachstum), sondern die Krise eines technokratischen Herrschaftssystems, das außer Kontrolle geraten ist. Diese These möchte ich zunächst gegen einen naheliegenden Einwand absichern und daran anschließend zwei Konsequenzen erör­ tern. Der Einwand richtet sich gegen den hier vorgetragenen und für eine sensibilisierte Öffentlichkeit anstößigen Technokratiebegriff. Die Konsequenzen betreffen die gegenwärtige Krise der Medizin – sie läßt sich nach dem Gesagten als eine Vertrauenskrise gegenüber ihrer Organisation verstehen – zum anderen die Organisation der nicht-professionellen Laien als Gegenmacht gegen die Technokratie der Mediziner. Die Verkleidung des technokratischen Verhältnisses der Medi­ zin zur Gesellschaft in der Denkfigur von Medizinkonsum, der sich mühelos in die allgemeine Expansion des Verbrauchs in der Wohlstandsgesellschaft einordnen läßt, geschieht nicht von ungefähr. Der Durchbruch der modernen Medizin zu einem Massennachfrage befriedigenden Dienstleistungs- und Produktionsbetrieb, der immer­

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Vorsorgeerfolg hängt von Laienmitwirkung ab

hin zur Zeit 10 °/o des Brutto-Sozialprodukts umsetzt, beruht ganz erheblich auf der Industrialisierung ihrer Anwendungsmöglichkeiten. Der vorzugsweisen Beschränkung auf den Ausschnitt menschlicher Leiden und Gebrechen, die einer mechanistischen Diagnostik und Therapie zugänglich waren, ermöglichte eine arbeitsteilige, technischindustrielle Produktionsweise. Sie begegnet uns heute in vollendeter Form in einer medizinischen Großtechnik, die ihre Anwendungs­ situationen gleich mitproduziert und den Arzt, vor allem in der primärärztlichen Versorgung, zum Erfüllungsgehilfen einer anlagein­ tensiven Technostruktur (Galbraith) gemacht hat. Der unbestreitbare Erfolg der Industrialisierung und Technifizierung der Medizin, etwa in der Bekämpfung der Infektionskrankheiten, aber auch in der modernen Chirurgie, war zugleich ohne ein eigenes Engagement der Patienten möglich. Diagnostik und Behandlung konnten gleichsam hinter seinem Rücken erfolgen. Er brauchte nicht als mithandelnder und mitverantwortlicher Partner einbezogen zu werden. Im Gegen­ teil, Diagnostik und Therapie ließen sich technisch so einrichten, daß sie narrensicher, das heißt störungsfrei gegen Laieneinfluß die erwünschten Ergebnisse erbrachten. Die Labordiagnostik und die breit gestreute Verwendung von Antibiotika selbst bei banalen Infek­ ten spricht als ein Symptom für die Verselbständigung der modernen Großtechnik, die den Patienten nur noch als Anlaß und Multiplikator ihrer Eigendynamik benötigt. Es kann daher den Anschein gewinnen, daß das beherrschende Problem der medizinischen Versorgung einer Bevölkerung lediglich in der Bereitstellung der Finanzmittel besteht, um die Produktion medizinischer Leistungen zu bezahlen oder – wenn Finanzierungslücken auftreten – den Konsum zu begrenzen, wobei es folgerichtig dann nur darum geht, den Konsum über eine finanzielle Selbstbeteiligung zu kontrollieren.

Vorsorgeerfolg hängt von Laienmitwirkung ab Diese idealen Bedingungen für die Entfaltung und Verwertung einer medizinischen Großtechnik sind bei dem Wandel des Krank­ heitspanoramas nicht länger gegeben. Den chronisch-degenerativen Krankheiten der zweiten Lebenshälfte können wir nicht allein, ja, nicht einmal vorzugsweise mit dem mechanistischen Konzept einer naturwissenschaftlich begründeten Krankheitslehre begegnen, son­ dern diese Krankheiten konfrontieren uns mit den gesellschaftlichen

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Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin

Bedingungen ihres Entstehens und ihres Verlaufs, aber auch mit den organisatorischen Voraussetzungen einer erfolgversprechenden The­ rapie. Wenn wir allgemeine Gesundheitsvorsorge, Krankheitsfrüher­ kennung und Rehabilitation als die programmatischen Antworten der Medizin auf ihre Herausforderung durch die chronisch-degenerativen Krankheiten bezeichnen, dann hängen diese medizinischen Strategien ohne eine engagierte Mitwirkung der Klienten in der Luft. Wenn es nicht gelingt, zivilisatorische Verhaltenszwänge und gesellschaftliche Verhältnisse im Einklang mit den Anstrengungen der Medizin zu wandeln, läuft der Medizinbetrieb leer oder – gesundheitsökono­ misch gesprochen – er arbeitet ineffektiv oder zumindest ineffizient. An der Situation der Medizin im Zeichen der chronisch-degenerativen Krankheiten wird jedoch ihr technokratisches Verhältnis zu ihren Klienten und zur Gesellschaft deutlich. Denn der Erfolg von Gesund­ heitsvorsorge, Krankheitsfrüherkennung und Rehabilitation hängt von den gemeinsamen, koordinierten Anstrengungen des Medizin­ betriebes und der nichtprofessionellen Laien ab, Hier herrscht kein Austauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung, sondern eine Komplementarität von professionellen und nichtprofessionellen Leis­ tungen vor. Indem der Medizinbetrieb die Mitwirkung der Laien ignoriert oder als gegeben, das heißt von ihm nicht zu verantworten, voraussetzt, offenbart er seinen Herrschaftscharakter. Er beansprucht die Mitwirkung des Patienten als sein Recht, ohne selber eine Ver­ pflichtung für die Mobilisierung gesundheitsgerechten Verhaltens einzugehen, Er schreibt die Situation der Entmündigung der Patien­ ten vor, die mit der Industrialisierung von Diagnostik und Thera­ pie im Zeichen eines mechanistischen Krankheitskonzeptes unter einem anderen Krankheitspanorama erfolgreich durchgesetzt werden konnte. In dem Festschreiben etablierter Verhältnisse liegt auch der Grund für die Unfähigkeit des heutigen Medizinbetriebes, allgemeine Gesundheitsvorsorge, Krankheitsfrüherkennung und Rehabilitation, also die einzig erfolgversprechenden Maßnahmen gegen die chro­ nisch-degenerativen Krankheiten, wirksam zu entwickeln.

Vertrauenskrise gegenüber der Organisation Die gegenwärtige Krise der Medizin hat ihre Ursache in der Erschüt­ terung des Vertrauens in ihre Organisation, nicht in dem Verlust des Zutrauens zu ihrer technischen Leistungsfähigkeit. Ungeachtet spek­

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Vertrauenskrise gegenüber der Organisation

takulärer Erfolge, mit denen der medizinische Fortschritt gerade im letzten Jahrzehnt aufzuwarten vermochte, wächst das Unbehagen an der Medizin. Es nährt sich aus dem Kontrast zwischen dem erreichten wissenschaftlich-technischen Niveau der Medizin und den Bedürfnis­ sen der Bevölkerung auf Erhaltung und Verbesserung ihrer Gesund­ heit. Das Mißverhältnis zwischen den beunruhigten gesundheitspo­ litischen Fragen unserer Zeit und den Antworten, die die Medizin bereithält, macht den Nährboden einer breit ansetzenden und sich von Jahr zu Jahr verstärkenden Kritik aus. Dabei richtet sich das öffentliche Interesse weniger auf die Tätigkeit des einzelnen Arztes als auf die Fähigkeit der Medizin, zur Lösung gesundheitspolitisch als wichtig angesehener Fragen beizutragen. Die Sterblichkeit bestimm­ ter Personengruppen oder an bestimmten Krankheiten wird der Medizin als Zeichen ihres Versagens vorgehalten. Säuglings- und Müttersterblichkeit, Sterblichkeit am Collumcarzinom, Sterblichkeit an Herz-Kreislauferkrankungen im 5. und 6. Lebensjahrzehnt – um nur einige wiederkehrende Fragen der Öffentlichkeit an die Medizin zur Verdeutlichung hier zu nennen – werden zum öffentlichen Maß­ stab für den Leistungsstand der Medizin erhoben. Sie repräsentieren die gesundheitspolitischen Erwartungen, die die Bevölkerung an die Medizin richtet. Solche Erwartungen aber können die Ärzte je für sich – mag die Qualität ihrer Aus- und Weiterbildung oder mögen die Standards ihrer Leistungen noch so gut sein – nicht einlösen. Nur das koordinierte Handeln von Ärzten, paramedizinischen Berufen und Laien vermag das Sterblichkeitsrisiko oder die Krankheitsgefahren zu verringern. Für den gesundheitspolitischen Leistungsstand der Medizin werden neben der Anzahl und der beruflichen Qualifikation der Mediziner (manpower) und neben dem Stand der Medizintechnik (technische Produktivität) die Faktoren Koordinierung, Planung und Kooperation von ausschlaggebender Bedeutung. Gesundheitsökono­ misch gesprochen: Für den Dienstleistungsbetrieb Medizin gewinnt, wie auch in anderen Produktionsbereichen, neben den Faktoren quan­ titativer und qualitativer Arbeitseinsatz sowie Umfang und Reifegrad der technischen Ausrüstung ein dritter Faktor eine Schlüsselstellung für den gesellschaftlichen Ertrag. Wir können diesen dritten Faktor zusammenfassend mit Organi­ sation bezeichnen und darunter die Funktionen Planung, Koordinie­ rung und Kooperation begreifen. Diese Funktionen spielen unter den gegenwärtigen und für eine weitere Zukunft zu erwartenden Bedin­ gungen eine komplementäre Rolle von ausschlaggebender Bedeu­

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Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin

tung. Denn nur dann, wenn Planung, Koordinierung und Kooperation im Gesundheitswesen ausreichend entwickelt sind, kommt die Qua­ lität der ärztlichen und paramedizinischen Berufsleistungen sowie der Reifegrad der technischen Ausrüstung voll zur Wirksamkeit. Das Mißverhältnis zwischen den gesundheitspolitisch manifesten Bedürf­ nissen der Bevölkerung und der Organisation der Medizin stellt sich in dieser Betrachtung zugleich auch als ein Mißverhältnis ihrer eigenen Kräfte heraus. Ihre Produktionsfunktion – wie Schumpeter die Verbindung von verschiedenen Produktionsfaktoren bezeichnet hat – ist disproportional entwickelt: Ein hoher technischer Leistungs­ stand und anspruchsvolle berufliche Qualifikationen werden über eine Organisation angewendet, die noch dem Stand der 20er Jahre entspricht. Symptomatisch hierfür scheint mir die Verteilung der Organisationsmittel zu sein: Der Computer dient der Labormedzin und der betriebswirtschaftlichen Abrechnung, aber nicht der Gesund­ heitsplanung und der Koordinierung von Leistungen. Er ist ein reines Hilfsmittel zur Bewältigung von Massenaufgaben geblieben, aber nicht zu einem Instrument zur Modernisierung des Gesundheitswe­ sens geworden. Planung, Koordinierung und Kooperation als die wesentlichen Funktionen einer modernen Organisation des Gesundheitswesens verklammern Arztmedizin und Laienmedizin oder – im überkom­ menen Sprachgebrauch – wissenschaftliche Medizin und Volksme­ dizin. Nur über die Mobilisierung der Bevölkerung im Interesse ihrer Gesundheit und nur über die Mitarbeit der Klienten in der Gesundheitsvorsorge, in der Krankheitsfrüherkennung und in der Rehabilitation ist eine Weiterentwicklung der Medizin in der Zukunft möglich. Medizinischer Fortschritt, der sich nicht darauf beschränken will, die technologische Effizienz seiner Ausrüstung und der Medizi­ ner zu steigern, sondern auch gesellschaftlicher Fortschritt in dem Sinne sein will, daß er die für die Bevölkerung gesundheitspolitisch wichtigen Fragen beantwortet, muß die technologische Effizienz der Medizin mit der Partizipation der Bevölkerung verbinden.

Laienpartizipation – offener Horizont einer Weiterentwicklung Nun wäre es ein gefährlicher Irrtum zu meinen, eine Verklamme­ rung von wissenschaftlicher Medizin und Volksmedizin erledige sich

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Laienpartizipation – offener Horizont einer Weiterentwicklung

mit der Gesundheitserziehung in den Bildungseinrichtungen und mit der Aufklärung in Gesundheitsfragen – sozialistische Länder gebrauchen hierfür auch den Ausdruck »Gesundheitspropaganda« – in der Öffentlichkeit. Dieser leider weit verbreitete Irrtum unter­ schätzt zweierlei. Er verkennt das Ausmaß der Entmündigung der Patienten, die mit der Entwicklung der naturwissenschaftlich-mecha­ nistischen Medizin eingeleitet und kräftig gefördert worden ist. Drei Tendenzen haben sich dabei gegenseitig zugearbeitet. Die systema­ tische Bekämpfung der Volksmedizin, ihre Verketzerung als Kur­ pfuschertum im Zeichen einer naturwissenschaftlichen Aufklärung, die Durchsetzung einer narrensicheren, weil laienfreien Diagnostik und Therapie und die Finanzierung des Gesundheitsbudgets über Zwangsabgaben haben die Bevölkerung ihren Gesundheitsbedürfnis­ sen entfremdet und ihre Partizipationschancen zugestellt. Zum ande­ ren aber unterschätzen Gesundheitserziehung und -aufklärung die Komplexität einer Organisation, die professionelle Medizin und Lai­ enmedizin miteinander verknüpfen könnte. Die entfesselten Kräfte der professionellen Medizin, deren ungehemmtes Wachstum bedroh­ liche Gefahren in sich birgt in finanzieller, aber auch in gesundheit­ licher Hinsicht, werden wir nicht mit gutem Zureden und breit gestreuten, aber unverbindlichen Informationen bändigen können. Die Macht der professionellen Medizin läßt sich nur durch eine Gegenmacht der Laien in Schranken halten. Der offene Horizont in der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens liegt in der Gestal­ tung einer tragfähigen Laienpartizipation. Hierfür sehe ich gegen­ wärtig zwei alternative Modelle und drei verschiedene Ansätze zu ihrer Verwirklichung. Die Alternativen stellen sich auf dem Hintergrund eines Vorver­ ständnisses über die gesellschaftliche Stellung der professionellen Medizin. Ordnen wir das Verhältnis von Medizin und Gesellschaft nach dem Modell arbeitsteiliger Austauschverhältnisse, verstehen wir also die professionelle Medizin als einen Dienstleistungsbetrieb, der aus dem volkswirtschaftlichen Gesamtprodukt nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung (Aquivalenz) finanziert wird, dann stellen Konsumentenverbände die angemessene Formierung von Lai­ enbedürfnissen dar. Qualitätskontrolle, Wirtschaftlichkeit und Nach­ fragegerechtigkeit der medizinischen Sach- und Dienstleistungen werden durch starke Verbraucherverbände realisiert. Dies scheint mir die Modellvorstellung des comsumerism zu sein.

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Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin

Ordnen wir das Verhältnis von Medizin und Gesellschaft nach dem Modell technokratischer Herrschaftsbeziehungen, in denen Experten aufgrund ihrer wissenschaftlich-technischen Überlegenheit eine monopolähnliche Verfügung über lebenswichtige Güter erlangt haben, dann erfolgt die Finanzierung ihrer Leistungen über tributähn­ liche Zwangsabgaben. Erforderlich für die Aufrechterhaltung eines solchen Herrschaftsverhältnisses aber ist im Sinne von Max Weber ein Legitimitätsglauben, das heißt das Vertrauen der Beherrschten in die gesundheitspolitische Leistungsfähigkeit der Medizin. Wir stehen gegenwärtig aus einsichtigen Gründen in einer verbreite­ ten und wachsenden Vertrauenskrise gegenüber der Organisation des Gesundheitswesens. So wie das Gesundheitswesen in den ent­ wickelten Industrieländern gegenwärtig organisiert ist, ignoriert es die für seine Weiterentwicklung notwendige Partizipation der Laien. Es ermangelt der Organisation an Formen, um die Mitarbeit der Laien verbindlich festzumachen. Die systembezogene Verantwortung der Mediziner für die Leistungen des Gesundheitswesens, gemes­ sen in spezifischen Kennziffern für Sterblichkeit, Morbidität oder Risiko bedarf einer ergänzenden systembezogenen Verantwortung der Laien für die Kennziffern, die von ihrem Handeln weitgehend mitbestimmt sind. Das gilt für alle Kennziffern im Bereich von Gesundheitsvorsorge, Krankheitsfrüherkennung und Rehabilitation. Die Verantwortung der Laien aber kann nur über ihre Partizipation im Gesundheitswesen begründet werden. Allerdings müssen wir einer solchen Partizipation eine breitere und intensivere Mitwirkung unterlegen, als sie die gängigen Partizipationsmodelle enthalten. Die Mitbestimmung über die Einnahmen-, Ausgaben-Rechnun­ gen der Finanzträger durch Verbandsdelegierte nach dem Modell der Sozialen Krankenversicherung in der Bundesrepublik reichen hierfür ebenso wenig aus, wie spontane Laieninitiativen, die aus akutem Anlaß heraus, etwa bei Standortentscheidungen über Krankenhäuser oder über Arztsitze zustande kommen. Die Betroffenheit der Laien durch Mortalitäts- und Morbiditätsrisiken ist wesentlich ernster und individuell bedeutsamer als die durch die Wirtschaftlichkeit von Verwaltungen, hier ist eine Delegation möglich. Geldinteressen kön­ nen durch Funktionäre wahrgenommen werden, Gesundheitsbelange sind unvertretbar. Bei der Finanzkontrolle oder auch bei der Über­ wachung der Qualität medizinischer Leistungen werden die Kontroll­ rechte von Gruppen, die der Laien gegenüber Verwaltungen oder gegenüber den Ärzten organisatorisch gestaltet. Bei der Partizipation

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Laienpartizipation – offener Horizont einer Weiterentwicklung

in Gesundheitsfragen handelt es sich um ein ganz anderes Prinzip: Der Selbstverantwortung der Laien gegenüber ihrer Gesundheit wer­ den die organisatorischen Bedingungen gewährleistet, unter denen sie in einem technisch und professionell hockentwickelten Gesund­ heitswesen allein wirksam werden kann. Gesundheitsvorsorge, Betei­ ligung an der Krankheitsfrüherkennung und an der Rehabilitation müssen in den Zeit- und Zielhorizont des Alltagslebens eingebracht werden. Sie überfordern den Einzelnen, wenn er sie allein auf sich gestellt gegen eine gesundheitsblinde oder gar -feindliche Umgebung durchsetzen sollte. Ein Ernährungs- oder ein Bewegungsregime, aber erst recht ein Genußmittelentwöhnungsregime, wie sie die medizini­ sche Rehabilitation und Prävention in der Regel ergänzen müssen, können nur in den Gruppen verwirklicht werden, in die die Laien in ihrem Alltag einbezogen sind. Es sind dies die Primärgruppen der Familien und der Freundeskreise, aber auch die Bezugsgruppen, deren Verhaltensmaßstäbe eine Leitfunktion für die Gestaltung des eigenen Lebensalltags besitzen. Eine Bezugsgruppe der Laien aber von gar nicht zu unterschätzender Bedeutung sind die Ärzte, ist die professionelle Medizin. Deren Desinteresse, deren Vorstellungen vom Patienten als einem unmündigen, aber unbelehrbaren und letzt­ lich gegenüber seiner Gesundheit verantwortungslos handelnden Mitspieler hat daher im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezei­ ung (self-fulfilling prophecy – R. K. Merton) gute Aussicht, von den Laien als Selbstbild angenommen zu werden. Ein negatives Fremdbild wird auf diesem Wege zum Maßstab des eigenen Verhaltens. Die Medizin hat ihre didaktische Dimension (W. Schulenberg), wenn überhaupt, dann negativ entwickelt, indem sie durch soziale Vorur­ teile Lernbarrieren errichtet. Eine Partizipation der Bürger am Gesundheitswesen muß die Gruppenbezogenheit ihres Alltagshandelns ebenso berücksichtigen, wie den technischen und professionellen Reifegrad der Organisation der Medizin. Daher kommen wissenschafts- und technikfeindliche Gesundheitssekten für ein Partizipationsmodell ebenso wenig in Betracht wie hochbürokratisierte Verbände. Die Lösung wird in einem Ausbau der Selbstverwaltung zu suchen sein, durch die die bestehen­ den Organisationen des Gesundheitswesens zur Laienwelt hin geöff­ net werden. Dabei müssen der Selbstverwaltung vor allem die Funk­ tionen zugänglich werden, die im Gesundheitswesen unterentwickelt sind; Planung, Koordination und Kooperation. Sie gehören zu den Aufgaben von Organisationen, die sich einer Zentralisierung sperren.

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Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin

Während die Verwaltung von Finanzmitteln und die Organisation von Dienstleistungen eine starke Tendenz zur Zentralisierung besitzen, gilt dies für Planung, Koordination und Kooperation eher in einer umgekehrten Richtung. Diese Funktionen treten auch in der kleinsten organisatorischen Einheit auf und können nicht an zentrale hierar­ chisch übergeordnete Einheiten abgegeben werden. Sollen überdies über Planung, Koordination und Kooperation professionelle Medizin und Laienmedizin miteinander verknüpft werden, dann muß eine sol­ che Verbindung in überschaubaren Einheiten ansetzen, etwa bei den Arztsitzen in der primärärztlichen Versorgung oder bei gemeindlichen bzw. stadtteilbezogenen Gesundheitszentren und Sozialstationen. Wenn ich einleitend sagte, daß in der Bundesrepublik 85 Prozent der erwachsenen Bevölkerung einmal im Jahr einen Arzt sieht, dann ist an dieser Stelle hinzuzufügen, daß 90 Prozent aller Behandlungs­ fälle in der primärärztlichen Versorgung bleiben. Ein Brückenschlag zwischen professioneller und Laienmedizin kann also nur auf dieser Ebene erfolgen. Umgekehrt gilt aber auch, daß die gesundheitsrele­ vanten Bedingungen im Laienbereich wie Einrichtungen des Breiten­ sports, zum Beispiel Schwimmbäder, Sport- und Spielflächen, aber auch Beratung und Anleitung auf dem Gebiet der Ernährung oder der Rauchentwöhnung gemeindezentriert oder stadtteilbezogen gewähr­ leistet sein müssen. Von der Größenordnung her, aber auch unter dem Gesichtspunkt einer Bündelung von gesundheitsrelevanten Interes­ sen und Sozialbeziehungen bietet sich die Schulgemeinde als Kristal­ lisationskern an. Nur in der Nahoptik alltagsweltlicher Einrichtungen des Gesundheitswesens kann die von Haus aus gruppenbezogene Partizipation der Laien mobilisiert und in das Gesundheitswesen eingebracht werden. Allerdings müssen wir uns dabei eingestehen, daß eine solche für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesen unabdingbare Partizi­ pation der Laien sich gegen zwei mächtige Tendenzen des Medizin­ betriebes durchsetzen muß: gegen seine technisch und bürokratisch bedingte Zentralisation und gegen seine arbeitsteilige Spezialisie­ rung in Professionen. Die Partizipation der Laien erfolgt gegenläufig zu den erfolgreichen Instrumenten des Medizinbetriebes, nämlich seine Effektivität durch Großtechnik, durch bürokratische Zentrali­ sation, durch Milliarden-Haushalte und durch eine breit gefächerte arbeitsteilige Spezialisierung zu steigern. Diese Entwicklung hat die im Gesundheitswesen stets vorhandenen Kräfte einer Selbstverwal­ tung der Laien schrittweise an den Rand gedrängt und entmachtet.

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Revolution überkommener Organisationsformen

So schließt die Selbstverwaltung der Ärzte die paramedizinischen Berufe und vor allem die Laien aus, während die Selbstverwaltung der Krankenkassen die Ärzte und die paramedizinischen Berufe aus­ schließt, jedoch die Laien nur höchst unvollkommen repräsentiert. Allen Organisationen des Gesundheitswesens wohnt die Tendenz zum größeren Finanzhaushalt und zur größeren Verwaltungseinheit inne. Die Geschichte der Organisationen des Gesundheitswesens ist eine Abfolge von steigenden Mitgliederzahlen und Finanzmitteln bei gleichzeitigem Schrumpfen der Organisationseinheiten.

Revolution überkommener Organisationsformen Diesen starken Kräften der Zentralisierung und der arbeitsteiligen Spezialisierung gemeinde- und stadtteilzentrierte, gruppenbezogene und der Mitwirkung der Laien geöffnete Organisationen entgegen­ zusetzen, leitet daher eine Revolutionierung der überkommenen Organisationsformen ein. Sie kann sich der Sache nach auf die not­ wendigen Funktionen der Planung, Koordinierung und Kooperation berufen, sie kann historisch an die im Gesundheitswesen stets vor­ handenen Selbstverwaltungskräfte anschließen, sie wird aber nur durchsetzbar sein, wenn sie sich mit einer sozialen Bewegung verbin­ det. Ansätze hierzu sehe ich unter einigen fortschrittlichen Ärzten und vor allem in dem wachsenden Selbstbewußtsein paramedizinischer Berufe. Von ihnen könnte eine revolutionierende Veränderung in der Organisation des Medizinbetriebes ausgehen, durch die die Laien in die Lage versetzt würden, ihre Partizipation wirksam einzubringen. Zum anderen könnte die Finanzkrise die Krankenkassen dazu führen, ihre bürokratisch erstarrten Organisationsformen zu modernisieren. Es könnte durchaus der Fall eintreten, daß mit den negativen Bilanzen der kommenden Jahre der Immobilismus einer erstarrten Selbstver­ waltung der Krankenkassen aufgebrochen und der Partizipation der Laien ein neuer und breiterer Weg geöffnet wird. Welche der beiden Möglichkeiten für einen Umbau des Gesundheitswesens wir auch ins Auge fassen, ihre Verwirklichung wird mehr als ein Jahrzehnt beanspruchen. Daher ist die Gefahr gegenwärtig nicht von der Hand zu weisen, daß an die Stelle einer schrittweisen, aber in ihrem Ergebnis revolutionierenden Reform des Gesundheitswesens ein reaktives und kurzschlüssiges Handeln der Politiker tritt, das um des Effektes willen

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Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin

nur die Etiketten und die leitenden Personen tauscht, aber die Laien weiterhin in Unmündigkeit hält!

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Wie wird der Patient Beteiligter? Zur Partizipation im Gesundheitswesen* Die Mitverantwortung der Patienten für ihre Gesundheit und die Parti­ zipation der Laien ist im Gesundheitswesen schwach entwickelt. Der beherrschende Einfluß der Ärzte unterliegt nur in geringem Umfang einer wissenschaftlichen Selbststeuerung und kaum einer öffentlichen Kontrolle. Eine Stärkung der Position der Laien würde die Wirksamkeit der Medizin verbessern. Auf eine Mitverantwortung der Patienten und auf eine Laienpartizipation wirken drei Tendenzen: 1. 2. 3.

der Übergang des Gesundheitswesens aus der Expansions- in die Rationalisierungsphase, die Orientierung der Medizin an diagnostischen und therapeuti­ schen Programmen, die spezifische Zielgruppen ansprechen, die Einführung gesundheitspolitischer Informationssysteme.

Vorbemerkung: Interaktionistischer oder systemanalytischer Aspekt? Die Frage, auf die meine Ausführungen eine Antwort zu geben versuchen: »Wie wird der Patient Beteiligter?« Teilhaber am Gesund­ heitswesen? zielt im Vorverständnis auf das individuelle Arzt-Patien­ ten-Verhältnis. Wir möchten etwas mehr darüber erfahren, auf welche Weise wir Laien, jeder von uns, in die für unser Leben wichtige Berufsarbeit der Mediziner einbezogen werden können, wie unser Verständnis vermehrt, unsere Mitverantwortung gesteigert, unsere Mitarbeit verbindlich gemacht werden kann. In unserem Vorver­ ständnis zielt die Frage, soziologisch gesprochen, auf die Dimension der Interaktion und Kommunikation oder – pädagogisch gesprochen – auf die medizinische Sozialpädagogik und die Medizindidaktik. In dem Vorverständnis, daß dem Thema eine solche interaktio­ nistische, sozialpädagogische Ausrichtung gibt, steckt allerdings eine Prämisse, die leider fragwürdig ist. Wenn das für die Perspektive unseres künftigen Gesundheitswesens entscheidende Problem in der Referat gehalten auf der Tagung »Woran krankt unser Gesundheitswesen?« vom 30.1. bis 1.2.1976 in Hofgeismar.

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Wie wird der Patient Beteiligter?

Tat darin zu suchen wäre, das Arzt-Patienten-Verhältnis medizin­ didaktisch, sozialpädagogisch oder interaktionistisch anzureichern, es zu entwickeln oder auszubauen, dann lohnte es sich eigentlich nicht, darüber zu reden. Denn eine gute Kommunikation von Arzt und Patient, ein gegenseitiges Verstehen und ein Aufeinanderzugehen in der ärztlichen Sprechstunde, ein aufgeklärteres Verhältnis der Laien zu ihrer eigenen Gesundheit oder zu ihrer Krankheit, wer wünschte das nicht, wer hielte sie nicht für die wesentliche Grundlage jeder Medizin? Die Frage kann daher gar nicht lauten: Wie wird der Patient mündiger Partner des Arztes? Wie machen wir »human relations« im Gesundheitswesen?, sondern die Intention der Frage, theologisch gesprochen, ihr Skopus zielt auf die Lösung des Problems: Was verhindert Kommunikation und Interaktion zwischen Gesundheits­ berufen und Laien? Warum spielt die Beteiligung, die Teilhabe, die Partizipation der Laien eine Schlüsselrolle in der Perspektive einer zukünftigen Medizin? Die Beantwortung dieser Frage jedoch führt uns zunächst – soziologisch gesprochen – in die Dimension einer Systembetrach­ tung. Wir müssen uns auf die Ebene der Systemanalyse einstellen, die zugegebenermaßen aus der Laienperspektive verfremdend und abstrakt wirkt, vor allem aber häufig zu Mißverständnissen führt, weil die Aussagen, dem Vorverständnis entsprechend, auf die eigene individuelle Lebenswelt übertragen werden. Um es in einem zu Anschauungszwecken drastischen Vergleich zu sagen: Wer seine Berufsarbeit mit Freude und Qualitätsbewußtsein tut, kann in der gleichen Erlebnis- und Verständnisdimension sicher nicht begreifen, warum seine Firma, bei der er arbeitet, in den roten Zahlen steckt und dem Bankrott zutreibt. So werden auch die Ärzte unter uns, die sich die Qualität ihrer eigenen Arbeit mit Recht zugute halten, auf dieser Verständnisebene keinen Zugang zu der besorgniserregenden Krise finden, in der unser Gesundheitswesen gegenwärtig steckt. Noch ein kurzes Wort zu dem Systembegriff, den wir im folgen­ den verwenden müssen. Bezeichnungen wie »die Medizin«, »das Gesundheitswesen«, »das Gesundheitssystem« meinen den organi­ satorisch vielfältig gegliederten Arbeits- und Lebensbereich, in dem systematisch, von Berufswegen und auf wissenschaftlicher Grundlage das Ziel verfolgt wird, Krankheiten zu erkennen, sie zu heilen, sie zu vermeiden oder ihren Verlauf risikoärmer zu gestalten. Die Verpflich­ tung, die gegenüber einem solchen gesellschaftlich anerkannten,

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Laienmedizin und professionelle Medizin

ja, unausweichlichen Ziel jeder menschlichen Gesellschaft1 besteht, rechtfertigt es, von der Medizin als einem Dienstleistungsbereich zu sprechen, der arbeitsteilig verselbständigt ist. Das Gesundheits­ system ist also ein Dienstleistungsbereich, der für die Gesamtgesell­ schaft wichtige, weil unausweichliche Aufgaben selbständig, d. h. mit Autonomie ausgestattet, wahrnimmt. Soziologisch sprechen wir im Hinblick auf solche arbeitsteilig verselbständigten Lebensbereiche auch von Institutionen oder gesellschaftlichen Teilbereichen. Den sys­ temanalytischen Ansatz haben Gesundheitsökonomie, Gesundheits­ planung und Medizinsoziologie gemeinsam, wenn auch die Begriffe, mit denen sie arbeiten, also das Gesundheitssystem analysieren, durchaus verschieden sind. Selbstverständlich ergeben sich aus der Verschiedenartigkeit des methodischen und begrifflichen Ansatzes auch einander widersprechende Aussagen in Detailfragen. Systemvergleiche für das Gesundheitswesen können auf zwei Vergleichsebenen vorgenommen werden. Es lassen sich Gesundheits­ systeme verschiedener Länder oder unterschiedlicher Gesellschafts­ systeme vergleichen. Es läßt sich aber auch das Gesundheitssystem als ein arbeitsteilig verselbständigter Dienstleistungsbereich mit anderen Dienstleistungsbereichen, z. B. dem Bildungssystem, vergleichen. Wir wollen im folgenden die letztgenannte Vergleichsebene verwen­ den.

Laienmedizin und professionelle Medizin Die gesundheitspolitische Beurteilung der Laienmedizin2 ist wider­ spruchsvoll. Während die präventive Medizin nahezu alles vom Laien erwartet: er soll unaufgefordert und regelmäßig zu den Untersuchun­ gen zur Krankheitsfrüherkennung (gemäß § 181 RVO) kommen, er soll einsichtig und folgsam den Vorschlägen folgen, die Sozialmedi­ ziner und Epidemiologen für ein gesundheitlich erfolgreiches Leben Erwin H. Ackerknecht: Medicine and Ethnology, Bern, Stuttgart, Wien (Hans Huber) 1971. 2 Rudolf Schenda: Volksmedizin – Was ist das heute? In: Zeitschrift für Volkskunde II, 1973, S. 189–210. Ders.: Das Verhalten der Patienten im Schnittpunkt professio­ nalisierter und naiver Gesundheitsversorgung. Historische Entwicklung und aktuelle Problematik. In: Handbuch der Sozialmedizin, Band III, Stuttgart (Enke) 1976, S. 31– 45. Manfred Pflanz: Die soziale Dimension in der Medizin. Stuttgart (Hippokrates) 1975. 1

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Wie wird der Patient Beteiligter?

entworfen haben, macht die kurative Medizin den Patienten für die geringe Effizienz des Gesundheitswesens verantwortlich. Aus ihrer Sicht ist der Patient uneinsichtig, begehrlich, vor allem darauf bedacht, die Leistungen des viel zu großzügigen Sozialstaates abzu­ schöpfen, meist genußsüchtig und von einer passiven Konsumenten­ haltung, die von der Medizin die Reparatur selbstverschuldeter Krankheiten erwartet. Man kann es ein wenig hämisch auch so aus­ drücken: Je weniger die Mediziner selber wissen und können, desto mehr erwarten sie vom Laien, und umgekehrt, bei den Virtuosen- und Bravourstücken, die sie selber beherrschen, spielt der Laie die Rolle des dummen August, der durch seine Tölpelhaftigkeit den Glanz der Meister erst richtig zum Erstrahlen bringt. Nun, ob dummer August oder Laienspieler, bemerkenswert bleibt, die professionelle Medizin wird die Laienmedizin nicht los. Zwar wird unser Gesundheitswesen von den Ärzten dominiert, und es müssen der hohe gesellschaftliche Rang und die hohen Kosten vor allem ihrer Tätigkeit zugerechnet werden. Dennoch bildet die Welt der Laien einen wichtigen, wenn auch in seiner Bedeutung schwer faßbaren und in seiner Auswirkung schlecht kalkulierbaren Bestandteil. In der Verflechtung von profes­ sioneller und Laienmedizin liegt eine Besonderheit des Gesundheits­ wesens. Hierin unterscheidet es sich von anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen, die ebenfalls durch die Tätigkeit von wissenschaft­ lich ausgebildeten Berufen, von Professionen und Experten, hervor­ gerufen und geprägt sind. Zum besseren Verständnis des Folgenden möchte ich diesen Unterschied kurz ansprechen. In dem weiten Spektrum von Dienstleistungen, die durch wis­ senschaftlich vorgebildete Berufe erbracht werden bzw. durch ihre Tätigkeit charakterisiert sind, also Bildung und Ausbildung, Rechts­ beratung, Rechtsverfolgung und -durchsetzung, Seelsorge und medi­ zinische Versorgung, zeichnet sich das Verhältnis von professionel­ ler Tätigkeit und Laienmitarbeit im Gesundheitswesen durch die folgenden Merkmale aus: – Die Berufsarbeit der Mediziner deckt die gesamte Bevölkerung, sie beschränkt sich also nicht auf einen Ausschnitt, etwa auf die Kinder und Jugendlichen oder diejenigen, die ein besonderes Rechtsschutzrisiko tragen oder aktive Mitglieder einer Kirchengemeinde sind. –

Die Berufsarbeit der Mediziner erhebt den Anspruch einer den Laien bewußt ausschließenden Kompetenz. Die Mediziner bekämpfen wie kein anderer wissenschaftlicher Beruf sonst

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Laienmedizin und professionelle Medizin



Autodidaktentum, Kurpfuscherei, aber auch häretische Richtun­ gen innerhalb der eigenen Zunft.3 Die Berufsarbeit der Mediziner hält im Prinzip gesellschaftliche Unterschiede für bedeutungslos. Die Behandlungsbedürftigkeit und -fähigkeit hängt von dem Schweregrad der Erkrankungen, von der biologischen Konstitution oder Kondition des Patienten ab, nicht jedoch von seinem gesellschaftlichen Status. Ganz anders verhält es sich etwa mit der Berufsarbeit der Lehrer. Das Bildungssystem ist durch die soziale Schichtung und durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung geprägt und mit beiden eng ver­ flochten.4

Wir können es auch so ausdrücken: Die Berufsarbeit der Mediziner stellt umfassende Ansprüche in bezug auf die Bevölkerung, im Rah­ men ihrer Kompetenz beansprucht sie Ausschließlichkeit, und gegen­ über der gesellschaftlichen Differenzierung verhält sie sich neutral. Sicher unterscheiden diese Merkmale die Berufsarbeit der Mediziner nur graduell von der der Theologen, Lehrer und Juristen. Zusammen­ genommen aber markieren sie eine Grenze zwischen Medizinern und Laien, die es für die anderen akademischen Dienstleistungsberufe nicht gibt. Wir wollen diese Grenze zur Verdeutlichung an einigen Erscheinungen festmachen. –

Die Medizin hat (wie Schulenberg5 herausgearbeitet hat) ihre didaktische Dimension nicht entfaltet. Medizinische Halbbil­ dung gilt als gefährlich, Medizinpädagogik als eine modische Spielerei. Das Potential, das die Psychoanalyse, die Psychologie und die Soziologie für eine Medizinpädagogik enthalten, bleibt therapeutisch, von zufälligen isolierten Versuchen einmal abge­ sehen, ungenutzt. Der Anspruch, für die gesamte Bevölkerung lebenswichtige Dienstleistungen anzubieten, bleibt in der kogni­ tiven Dimension, d. h. in einer für alle verständlichen Mitteilung, in der popularisierenden Zuwendung zu anderen, uneingelöst.

Carola v. Littrow: Die Stellung des Deutschen Ärztetages zur Kurpfuscherfrage in Deutschland von 1869–1908. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Uni­ versität Berlin, Mathematisch-naturwissenschaftliche Reihe 19, 4, 433–446 (1970). 4 Klaus Hurrelmann: Erziehungssystem und Gesellschaft. Reinbek (Rowohlt) 1975. 5 Wolfgang Schulenberg: Zur didaktischen Dimension der Medizin. In: Günter Dux u. Thomas Luckmann. Sachlichkeit. Festschrift für Helmuth Plessner. Opladen (West­ deutscher Verlag) 1974, S. 347–352. 3

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Wie wird der Patient Beteiligter?





In die Modelle der Gesundheitsökonomik6, durch die wir den Ertrag des Gesundheitswesens zu seinen Kosten in Beziehung setzen, gehen die Aktivitäten der Laien nur als Kosten (Mor­ bidität) oder als Kennziffern/Indikatoren der Leistungsfähig­ keit für die Berufsarbeit der Mediziner (Lebenserwartung, Ster­ beziffer) in das Modell ein. Bei der Modellbildung wird die schlichte und inzwischen für die medizinische Sozialgeschichte gut belegte Tatsache außer acht gelassen, daß die Verbesse­ rung der Lebenserwartung und die Verringerung der Morbidi­ tät für die Infektionskrankheiten nicht allein der Berufsarbeit der Medizin zugerechnet werden kann, sondern auch gleichge­ richteten Veränderungen in den Lebensumständen der Laien zu verdanken ist. Für das Gesundheitswesen bleibt jedoch die Grenze, die in solchen Modellen zwischen dem System und seiner Umwelt gezogen wird, die zwischen professioneller und Laienmedizin. Patienten- und Gesundheitsverhalten rechnen nicht zum »Input« des Gesundheitssystems, für Patienten- und Gesundheitsverhalten gibt es keine verbindlichen Standards. Die Medizin entbehrt einer Laienkontrolle. Das Gesundheits­ wesen ist der gesellschaftliche Dienstleistungsbereich, der – wie ich meine – über wichtige Risikoschwellen hinaus einer Selbststeuerung durch die Mediziner anheim gegeben ist. Das Risiko, das hiermit angesprochen ist, betrifft das Risiko der gesellschaftlichen Organisation, deren arbeitsteilige Differenzie­ rung in Instrumenten der Beeinflussung und Steuerung rückge­ bunden und koordiniert sein muß. Bei den weitgezogenen Gren­ zen ihrer Autonomie erwächst der Medizin eine gesellschaftliche Verantwortung, an der sie zusehends gemessen wird und die sie ohne eine Organisationsreform je länger, desto weniger wird tragen können.

6 Elisabeth Liefmann-Keil: Die Beziehung zwischen Medizin und Wirtschaftswis­ senschaft. In: Handbuch der Sozialmedizin, Band I, Stuttgart (Enke) 1975, S. 326–340. Herbert Weissenböck: Studien zur ökonomischen Effizienz von Gesundheitssyste­ men. Stuttgart (Thieme) 1974.

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Abwehr der Laienkontrolle

Abwehr der Laienkontrolle Greifen wir zunächst auf die beiden soeben entwickelten Gedanken zurück, dann können wir feststellen, daß eine Laienkontrolle abge­ wehrt wird 1.

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durch das Abschneiden der didaktischen Brücken, die den Laien ein Verständnis für das Handeln der Mediziner eröffnen könn­ ten. Der Laie kann gar nicht mitreden, weil an ihn schon von vornherein der Anspruch auf Mitverständnis nirgends gestellt wird. Die Anspruchslosigkeit gegenüber dem Mitverständnis der Laien beginnt in der Schule und endet auf dem Sterbelager in der Klinik7. durch die fehlende Verbindlichkeit, die das Laienhandeln für das Gesundheitswesen besitzt. Folgen wir der medizinsoziologi­ schen Einteilung, die das Gesundheitsverhalten von dem Han­ deln als Kranker und als Patient unterscheidet, so gibt es für diese Verhaltensformen keine Standards, die das Gesundheits­ wesen verbindlich festmachte. Der Laie beansprucht daher auch gar keine Kontrolle, weil ihm nirgends eine Mitverantwortung abverlangt wird. Zu diesen Abwehrmechanismen gegen eine Laienkontrolle, die sich am Mitverständnis und an der Mitverantwortung entwi­ ckeln könnte, treten weitere hinzu. das Fehlen der Öffentlichkeit. Die Berufsarbeit der Mediziner vollzieht sich in einem Schutzraum, der auch als »Geheimnis« bezeichnet wird, sei es als ein Arzt- oder als ein Patientengeheim­ nis. Dieses Arzt- oder Patientengeheimnis stellt, sozialgeschicht­ lich gesehen, eine außerordentlich wichtige Kulturleistung dar, indem es berechtigte Existenzängste abwehrt bzw. die Risiken ärztlichen Handelns allererst tragbar macht.8 Nur – dessen muß man sich bewußt sein – wird damit ein Instrument der Kontrolle außer Kraft gesetzt. Und es stellen sich die ebenso berechtigten Fragen nach den Grenzen dieser Geheimnissphäre und nach den Äquivalenten, die den Verlust der Öffentlichkeit als einer Instanz, vor der man sich verantworten muß, ausgleichen. Denn

7 Barney G. Glaser u. Anselm Strauss: Interaktion mit Sterbenden. Göttingen (Van­ denhoeck & Ruprecht) 1974. 8 Christian v. Ferber: Medizin und Sozialstruktur. In: Handbuch der Sozialmedizin, Band I, Stuttgart (Enke) 1975, S. 265 bis 273.

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Wie wird der Patient Beteiligter?

– daran sollte kein Zweifel bestehen – die öffentliche Verantwor­ tung bildet einen unverzichtbaren Weg, die Risiken einer weit vorgetriebenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung überhaupt auf die Dauer tragen zu können. das Fehlen einer Selbstkontrolle. Das fachliche Können wird nach Abschluß der berufsberechtigenden Examina nicht mehr geprüft. Zwar betreiben die Ärzte vergleichsweise viel Fortbil­ dung, doch ist die Wirksamkeit dieser Vielgeschäftigkeit selbst in der ärztlichen Standesvertretung umstritten. Die Qualität der Berufsarbeit bleibt in weiten Grenzen einer Fremdbeurtei­ lung entzogen. Die Ringkontrollen für Laborleistungen haben sich erst in den letzten Jahren durchgesetzt und betreffen nur einen Teil der ärztlichen Leistungen. Vor allem aber fehlt es an einer kritischen Selbstvergewisserung durch eine wissenschaft­ lich-methodisch abgesicherte Therapieforschung. Das Kernpro­ blem jeder Effizienzuntersuchung im Gesundheitswesen stellt ja gerade die Beantwortung der Frage dar: Inwieweit ist der Wirksamkeitsnachweis für die allgemein praktizierten und aner­ kannten Therapieverfahren gesichert? Sehr anschaulich hat m. E. dieses Problem, das gegenwärtig unter dem Arbeitsthema »Grenzen der Medizin« Experten und Politiker beschäftigt, Herr Geiser9 formuliert. Er schreibt: »Die modernen medizinischen Maßnahmen sind nicht immer harmlos und verursachen so hohe Kosten, daß Patienten, Planer und Politiker die Tatsache nicht mehr übersehen dürfen, daß der Nutzen, die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit von recht vielen medizinischen Maßnahmen nicht bewiesen sind. So fehlt nach Cochrane ein Beweis für die Überlegenheit der Intensivpflegestation über die häusliche Behandlung beim Herzinfarkt, für die Wirksamkeit der medika­ mentösen Behandlung des leicht erhöhten Blutdruckes und für den Nutzen der Behandlung der Zuckerkrankheit (Diabetes) mit Tabletten. Es werden Zweifel geäußert über die Nützlichkeit der Mehrzahl der Mandeloperationen, und es bestehen berechtigte Zweifel über die Nützlichkeit auch anderer Operationen (zum Beispiel bei der Behandlung vieler Knochenbrüche). Der Nutzen der prophylaktischen Anwendung von Blutgerinnungshemmern ist umstritten. Medikamente, die nur bei bestimmten Mangel­ zuständen wirken (zum Beispiel Vitamine) werden in sogenann­

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Geiser: Schweizerische Ärzte-Zeitung, Dezember 1974.

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Abwehr der Laienkontrolle

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ten Stärkungsmitteln auch von Patienten konsumiert, die nicht an diesen Mängeln leiden. Unter den Vorsorgeuntersuchungen scheint sich zu bewahrheiten, daß die meisten sogenannten medizinischen check-ups für das Wohlbefinden weniger wirk­ sam sind als Catchup. Sollte man sich einmal daran zu machen wagen, die Nützlichkeit der Bäderbehandlung, der Chiropraxis, der Physiotherapie, der Laboruntersuchungen im Blockverfah­ ren, der perfektionierten Radiologie und des Einsatzes von Com­ putern unter eine kritischere Lupe zu nehmen als bisher, erwarte ich nicht nur schreiende Entrüstung, weil einige beliebte Maß­ nahmen ins Reich der technischen Spielereien, des Hokuspokus und vergnüglichen Schabernacks verwiesen werden müßten.« das Fehlen einer politischen Kontrolle. Die Verwendung der Finanzmittel, die der medizinischen Versorgung über die Sozial­ versicherung oder aus dem Steueraufkommen, also überwiegend aus Zwangsabgaben öffentlicher Haushalte zufließen, entbehrt einer politischen Kontrolle. D. h. eine Laienkontrolle auch in den Formen unseres politischen Regierungs-und Selbstverwal­ tungssystems hat die Medizin von sich abgewehrt. Ein Vergleich mit dem Bildungswesen lehrt sehr eindrücklich, wie rasch und durchgreifend politische und bürokratische Eingriffe das Haus­ haltsvolumen der Finanzlage anzupassen wissen, während im Gesundheitswesen das Verhalten der Krankenhausträger, der Ärzte, der Apotheker und der Pharmazie einer steuernden Beein­ flussung trotzt.

Fassen wir diese Beobachtungen und Bemerkungen zusammen. Es besteht ein offenkundiges Mißverhältnis zwischen dem Anspruch, den die Medizin als ein gesellschaftlicher Dienstleistungsbereich erhebt, umfassend für die gesamte Bevölkerung mit ausschließen­ der Kompetenz und neutral gegenüber Statusdifferenzierung und gesellschaftlicher Arbeitsteilung zu handeln, und der Einbeziehung des medizinischen Dienstleistungsbereichs in seine gesellschaftliche Umgebung. Es findet keine Verbindung statt zwischen den wissen­ schaftlichen Grundlagen medizinischer Dienstleistungen und dem Alltagswissen der Laien, d. h. die Verhaltensorientierung der Laien besitzt keinen Zugang zu den Erkenntnisgrundlagen der Medizin. Gesundheits-, Kranken- und Patientenverhalten bleiben blind oder sind der Halbbildung anheim gegeben. Die Mitverantwortung der Laien für eine gesundheitsfördernde und Krankheitsrisiken vermei­ dende Umweltgestaltung und Lebensführung wird nirgends festge­

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Wie wird der Patient Beteiligter?

macht. In autonomer Selbstgewißheit schreiben die Mediziner Erfolg und Mißerfolg ihrer Berufsarbeit sich selber zu. Um einen Vergleich zu ziehen: Wir hätten im Bildungssystem die gleiche Situation, wenn die Lehrer beanspruchten, das Erziehungsverhalten der Eltern und die Bildungspolitik der Regierungen mitzuverantworten. Ein solcher Omnipotenzanspruch der Pädagogen kann gar nicht aufkommen, weil die Mitverantwortung der am Bildungsprozeß beteiligten Laien und politischen Instanzen von vornherein feststeht, offengelegt und verbindlich gemacht wird. Und schließlich bildet die Medizin als ein gesellschaftlicher Dienstleistungsbereich eine Art Staat im Staate. Sie hat eine Sou­ veränität erlangt, indem sie jede mögliche, in anderen Dienstleis­ tungsbereichen praktizierte und in einer arbeitsteiligen Gesellschaft unentbehrliche Laienkontrolle erfolgreich abgewehrt hat.

Herrschaft der Experten Nach dieser Erläuterung können wir einen Begriff einführen, der freilich in der sozialwissenschaftlichen Diskussion durch seine kon­ troverse Verwendung belastet ist, aber treffend und daher eigentlich unersetzbar das Verhältnis von Medizin und Laienwelt auf eine For­ mel bringt. Die Mediziner haben das in allen akademischen Berufen enthaltene Element der Expertenherrschaft, der Technokratie, am ausgeprägtesten verwirklicht. Sie haben den Anspruch der Wissen­ schaft, einen gesellschaftlichen Lebensbereich zu ordnen und den Entscheidungen eines wissenschaftlich vorgebildeten Berufsstandes zu unterwerfen, am weitesten ausgedehnt und am konsequentesten gegen Beobachtung und gegen einen Zugriff von außen abgedichtet.10 Technokratie bezeichnet eine Situation, in der eine Personen­ gruppe mittels Verfügung über ein Wissen, das in der gesellschaftli­ chen Arbeitsteilung unentbehrlich ist, eine Herrschaft ausübt, die unkontrolliert bleibt. Es sind also drei Kriterien, die der Begriff der Technokratie für seine Anwendbarkeit voraussetzt: 10 Eliot Freidson: Dominanz der Experten. München, Berlin, Wien (Urban & Schwar­ zenberg) 1975. Christian v. Ferber: Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft. Hamburg (Wegner) 1967, S. 117 ff.

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Herrschaft der Experten

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3.

Die arbeitsteilige Verselbständigung von Wissenschaft in Beru­ fen oder gesellschaftlichen Teilbereichen (z. B. Gesundheitsoder Bildungssystem). Sie macht die Ergebnisse wissenschaftli­ cher Arbeit nur im Austausch verfügbar, indem dem Bildungsoder dem Gesundheitswesen ein Anteil am Bruttosozialprodukt zugewiesen und garantiert wird. Die Umwandlung von arbeitsteiligen Erwerbschancen, also die Umwandlung des garantierten Anteils am Bruttosozialprodukt, in Herrschaftspositionen. Dies geschieht mit der Zuweisung von Verfügungschancen über Sachmittel, über Organisationen und über die Bedürfnisse anderer Personen. Die gar nicht oder nur unzureichend ausgebildete Kontrolle über die Herrschaftspositionen.

Die unkontrollierte und unkontrollierbare Herrschaft der Medizin erstreckt sich auf die Finanzierung des Gesundheitsbudgets, also der medizinischen Leistungen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit, auf die Organisation des Gesundheitswesens und auf die Definition der Bedürfnisse der Patienten. Wie es im Blick auf die ökonomische Steuerung des Gesundheitswesens vor 10 Jah­ ren bereits die Sozial-Enquête formuliert hat: »Die entscheidende strukturelle Schwäche des ›Marktes‹ für ärztliche Leistungen besteht jedoch darin, daß der Arzt als ›Anbieter‹ nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu die Aufgabe hat, Art und Maß der ›Nachfrage‹ im wesentlichen selbst zu bestimmen. Er ist der Sachkundige und weiß besser als der Patient, was diesem frommt. Diese eigenartige und auf keinem anderen (wirklichen) Markt anzutreffende Anbieterposition stellt fast übermenschlich hohe Ansprüche an die Selbstlosigkeit und moralische Widerstandskraft des Arztes; ... kann man im Ernst von ihm verlangen, daß er mit Eifer darauf bedacht ist, sein Einkommen zu schmälern und seinen Berufserfolg in einem möglichst geringen Einkommen zu suchen«11? Angesichts dieser von keinem anderen akademischen Beruf sonst erreichten Herrschaftsposition entbehrt der Vorschlag, die Laien über die Zwangsabgaben der Sozialversicherung und der Steu­ ern hinaus noch zur Selbstbeteiligung aufzufordern, nicht einer unfreiwilligen Komik. Es wäre m. E. das gleiche, als wenn für die 11 Bericht der Sozialenquête-Kommission: Walter Bogs, Hans Achinger, Helmut Meinhold, Ludwig Neundörfer, Wilfried Schreiber. Soziale Sicherung in der Bundes­ republik Deutschland. Stuttgart (Kohlhammer) 1966, S. 210.

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Wie wird der Patient Beteiligter?

Mineralölwirtschaft, die nach den massiven willkürlichen Preiserhö­ hungen ihre Kapazität einer veränderten Nachfrage anpassen muß, zu Spendenaktionen aufgerufen würde! Aus dem hier entwickelten soziologischen Modell kann die For­ derung nach ökonomischer Beteiligung der Laien mit guten Gründen abgewehrt werden. Selbstbeteiligung ist danach eine Art Doppelbe­ steuerung, die den in der technokratischen Position bereits enthalte­ nen ökonomischen Vorteilen der Bestimmung von Menge, Qualität und Preis des Angebots auch noch die Regulierung der Nachfrage hin­ zufügt. Denn wer legt fest, welche Leistungen der Selbstbeteiligung unterliegen sollen und was zum Grundbedarf gerechnet wird? Nur wenn man von den außerökonomischen Voraussetzungen absieht oder die Bedingungen des ökonomischen Modells bereits für die Wirklichkeit nimmt, läßt sich die Selbstbeteiligung als ein wissen­ schaftlicher Beitrag zur Gesundheitspolitik vertreten. Andererseits aber enthält das soziologische Modell zwingende Argumente für die Partizipation der Laien. Eine solche Beteiligung kann nicht allein auf das Arzt-Patienten-Verhältnis beschränkt blei­ ben, sondern muß für alle Beziehungen durchdacht und neu ent­ wickelt werden, die zwischen professioneller und Laienmedizin beste­ hen. Die Partizipation richtet sich auf die Aufhebung aller Aspekte der technokratischen Fremdbestimmung der Laien.

Laienpartizipation in der Perspektive einer zukünftigen Medizin Dieses Zwischenergebnis, daß in der Perspektive eines zukünftigen Gesundheitswesens die Partizipation der Laien in der ganzen Breite der Mitkenntnis, der Mitverantwortung, der Mitarbeit und einer demokratischen Kontrolle entwickelt und ausgebaut werden muß, trifft auf den zunächst berechtigten Einwand: Was ist mit dem Auf­ stellen einer solchen Forderung überhaupt gewonnen? Was hat uns der mühsame, weil abstrakte, mit der alltäglichen Erlebniswelt kon­ fligierende Weg soziologischer Systemanalyse eingebracht? Warum diese schwerfälligen, aus der soziologisch-politischen Dimension entlehnten Begriffe wie Technokratie und Partizipation? Geht es nicht schlicht darum, den medizinischen Alltag menschlicher zu machen? Bewirken Begriffe wie Technokratie und Partizipation nicht eher das

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Laienpartizipation in der Perspektive einer zukünftigen Medizin

Gegenteil, indem sie weitere verfremdende Aspekte in eine ohnehin schon verfremdete Situation hineintragen? Einem solchen naheliegenden und aus dem eingangs geschilder­ ten Vorverständnis mir durchaus verständlichen Einwand möchte ich zweierlei entgegenhalten. Die soziologische Systemanalyse macht sichtbar, warum und in welchen Beziehungen Medizin und Laienwelt sich auseinanderentwickelt, einander entfremdet haben. Bei der Rolle, die das Gesundheitswesen als Teilsystem einer wissenschaftlich-tech­ nisch hochentwickelten und arbeitsteilig differenzierten Gesellschaft spielt (welches Teilsystem sonst verfügt über 6 bis 10 % des Brutto­ sozialprodukts?), handelt es sich nicht mehr um einen Vorgang, der in der Erlebniswelt des Alltags abgebildet und mit den Kategorien des Alltagslebens dargestellt werden könnte. Vielmehr haben wir es mit einem kollektiven Vorgang, mit einem Gesellschaftsprozeß zu tun. Es bringt daher m. E. wenig ein, die Zufriedenheits- und Unzufrieden­ heitsprozente von Ärzten und Patienten in demoskopischen Unter­ suchungen gegeneinander aufzurechnen, um daraus das Arzt-Patien­ ten-Verhältnis in seiner Qualität zu bewerten. Daher müssen wir Kategorien wählen, die das Verhältnis eines relativ autonomen Teil­ systems zu seiner gesellschaftlichen Umgebung treffen, für die das Gesundheitssystem Dienstleistungsaufgaben erfüllt und von dem es in seinen Ressourcen abhängig ist. Zum anderen aber gibt eine Sys­ temanalyse eine Perspektive für den zu erwartenden, in der politischgesellschaftlichen Wirklichkeit möglichen Wandel her. Wir können in den Grenzen sozialwissenschaftlicher Prognose abschätzen, auf welche Bedingungen die Partizipation der Laien zählen kann, damit sie nicht eine leere Forderung bleibt, sondern Chancen der Verwirk­ lichung bekommt. Einer solchen sozialwissenschaftlichen Prognose der Laienpartizipation im Gesundheitswesen wollen wir uns jetzt zuwenden. Es kann als gesicherter theoretischer Bestand der Sozialwissen­ schaften angesehen werden, daß etablierte gesellschaftliche Macht­ verhältnisse, also die Technokratie der Medizin, sich nicht von selbst abbaut. Herrschaftspositionen werden nicht aus Einsicht der Herr­ schenden oder aufgrund guten Zuredens durch die Beherrschten geräumt, sondern sie werden im Strudel des sozialen Wandels aufge­ löst. Es sind drei Strömungen – um in dem Bilde zu bleiben –, die eine Strukturveränderung der Medizin unausweichlich machen. –

Das Mißverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag. Es wird in der schleichenden Finanzkrise der Krankenkassen offenbar und

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Wie wird der Patient Beteiligter?

bewirkt, je länger diese Krise andauert, desto einschneidendere Veränderungen der Autonomie des Gesundheitswesens. Der Übergang von einer Patienten- zu einer Arzt- oder Institutio­ nen-zentrierten Medizin. Er öffnet die Medizin der gesundheits­ politischen Planung und begründet eine sozialmedizinische Ver­ antwortung. Die Einführung von gesundheitspolitischen Informationssyste­ men. Diese machen das Dienstleistungssystem Medizin in seiner Arbeitsweise transparent und machen damit Systemwirkungen allererst sichtbar und kalkulierbar.





Allen drei Veränderungen ist gemeinsam, daß sie die Laienmedi­ zin und die Laienkontrolle gegenüber der professionellen Medizin verstärken und zu einem festen und notwendigen Bestandteil des Gesundheitswesens machen. Diesen Gedanken möchte ich im folgen­ den erläutern und präzisieren.

1. »Grenzen der Medizin« Das Mißverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag hat lange vor Illich12 und anderen Gesundheitspropheten unserer Tage Manfred Pflanz13 auf einem Seminar der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zum Ausdruck gebracht. Zu der Frage, ob die professionelle Medizin das geeignete und das effizienteste Mittel darstellt, um den chro­ nisch-degenerativen Erkrankungen der zweiten Lebenshälfte wirk­ sam begegnen zu können, hat er zu Recht auf zwei Alternativen aufmerksam gemacht. Einmal hat er darauf hingewiesen, daß gemessen an der Lebens­ erwartung allein die Zunahme des Rauchens den medizinischen Fortschritt der letzten vier Jahrzehnte zunichte gemacht hat. Die uner­ müdliche Kleinarbeit medizinisch-wissenschaftlicher Forschung und ihre mit ungeheuren organisatorischen Anstrengungen verbundene Umsetzung in den therapeutischen Alltag hält mit der Zunahme der Gefahren nicht länger Schritt, die eine menschlich produzierte Umwelt, das milieu technique (Georges Friedmann) der entwickelten Industriegesellschaften, gleich, ob unter westlichem oder sozialisti­ schem Gesellschaftssystem stehend, hervorruft. Die Medizin hat eine 12 13

Ivan Illich: Enteignung der Gesundheit. Reinbek (Rowohlt) 1975. A. a. O. S. 197–210.

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Laienpartizipation in der Perspektive einer zukünftigen Medizin

Reihe natürlicher Gefahren gebannt, den gesellschaftlichen Gefähr­ dungen der Gesundheit ist sie nicht nachgewachsen. Die gesellschaft­ lichen Grenzen, die heute der Erhaltung der Gesundheit gezogen werden, hat die Medizin bisher nicht überwunden. Zum anderen aber trifft Pflanz die schlichte Feststellung: Von der Einschränkung des Rauchens und von der Rückkehr zu normaler Ernährung und Bewegung sind auf die Lebenserwartung der Bevölke­ rung eine weit größere Wirkung zu erwarten als von den Früherken­ nungsmaßnahmen. Die aufwendigen und erhebliche Organisations­ probleme aufwerfenden Programme zur Krankheitsfrüherkennung bei Krebs- und Herz-Kreislauf-Krankheiten, die die manpower der Medizin nach Zukunftsprognosen zu 50°/o auslasten werden, wer­ den zu dem Ziel der Erhaltung der Gesundheit nur einen vergleichs­ weise geringeren Beitrag leisten können. Die Verhaltensweisen der Bevölkerung, ihre Mitarbeit an der Erhaltung ihrer Gesundheit, enthalten ein weit höheres Wirkungspotential als die technisch hoch ausgerüstete, mit Expertenwissen glänzend ausgestattete und wohl­ organisierte Medizin – vorausgesetzt, das Wirkungspotential der Klienten ließe sich für ihre Gesundheit mobilisieren. Aus diesen wissenschaftlich erhärteten Feststellungen ergeben sich zwei Konsequenzen. Einmal wird man die Aufwendungen, die für die medizinische Forschung, aber auch für die medizinische Versor­ gung gemacht und geplant werden, an dem voraussehbaren Erfolg für die Lebenserwartung und für die Lebensqualität messen und diesen Erfolg zu vergleichbaren alternativen Anstrengungen in Beziehung setzen müssen. Wir werden nicht weiterhin naiv alles, was der medi­ zinisch-wissenschaftliche Fortschritt an Lösungen anbietet, unbefragt und ohne Rücksicht auf alternative Vorschläge verwirklichen können. Zum anderen werden wir angesichts der Bedeutung der chro­ nisch-degenerativen Krankheiten ihre Bekämpfung nicht allein der professionellen Medizin überlassen können, sondern werden die Anstrengungen zur Senkung von Morbidität und Mortalität auf alle dafür in Betracht kommenden Lebensbereiche ausdehnen müs­ sen. Von der Vorstellung, daß das Gesundheitswesen eine Art gesellschaftliche Reparaturwerkstätte sei, in die man, wie ein Auto, zur Wartungs-»Diagnose« und zur Wiederherstellung einkehrt, ist Abschied zu nehmen. Wir müssen auch die übrigen Lebensbereiche gesundheitsfreundlicher, gesundheitsbezogener machen: die Schule, die Arbeitswelt, das Wohnen und die Freizeit. In diese Richtung zielt bereits die zweite vorhin genannte Wandlungstendenz:

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Wie wird der Patient Beteiligter?

2. Programmorientierte Medizin oder der Übergang von einer Patienten- zu einer Arzt- oder besser Insti­ tutionen-zentrierten Gesundheitsversorgung. Mit dieser Formulie­ rung ist gemeint, daß in einem zukünftigen Gesundheitswesen nicht der Patient überwiegend das Handeln der Ärzte und Einrichtungen des Gesundheitswesens auslöst, sondern daß die Aktivitäten des Dienstleistungsbereiches Medizin durch Programme, die sich auf die Verbesserung der Versorgung von Zielgruppen richten, gesteuert werden. Krankheitsfrüherkennung und Rehabilitation, Gesundheits­ erziehung und Gesundheitsvorsorge stellen Ansätze und Beispiele für eine solche programmorientierte Vorgehensweise dar. Sie richten sich auf die Bekämpfung von Krankheiten oder Krankheitsgefahren, die hinsichtlich ihrer Erkennbarkeit, auch für den Laien, hinsichtlich der Gefährdung bestimmter Personenkreise (nach Alter, Geschlecht, Lebensgewohnheiten, Eigenart des Arbeitsplatzes) sowie hinsichtlich der einzuleitenden Gesundheitsmaßnahmen voneinander abgrenz­ bar sind. Bezugsgruppe medizinischen Handelns sind nicht länger die gesamte Bevölkerung, je nach Bedürfnislage und Leistungsangebot, sondern spezifische Risikogruppen. Diese Risikogruppen können Gesunde sein, dies gilt für die Gesundheitserziehung, die allgemeine Gesundheitsvorsorge und für die Krankheitsfrüherkennung; diese Risikogruppen können aber auch sogenannte gesunde Kranke sein, die gezielt in Rehabilitationsmaßnahmen, auch im Sinne einer Nach­ sorge, einbezogen werden. Eine Programmorientierung der Medizin, wie sie von der WHO seit langem auch für die hochindustrialisierten Länder gefordert wird14, trägt einmal der statistischen Tatsache Rechnung, daß der Anteil Akutkranker in allen Altersgruppen in der Bundesrepublik ca. 7 % beträgt, während der Anteil Chronischkranker mit steigendem Lebensalter kontinuierlich zunimmt und in der Altersgruppe der über 70jährigen 50 % der Altersklasse beträgt.15 Die medizinische Versor­ gung der Chronischkranken, also der Masse der Behandlungsfälle, ist jedoch gegenwärtig hinsichtlich des Anteils, der aus allen unter einem bestimmten Krankheitsrisiko stehenden Personen tatsächlich auch in ärztlicher Behandlung steht, und hinsichtlich Qualität und Wirksam­ 14 WHO-Technical Report Series, No. 472. Statistical Indicators for the Planning and Evaluation of Public Health Programmes. Geneva 1971. 15 Wirtschaft und Statistik, Jg. 1972, S. 572.

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Laienpartizipation in der Perspektive einer zukünftigen Medizin

keit dieser Behandlung selbst unbekannt. Untersuchungen für bestimmte Krankengruppen (z. B. für Hochdruck-Kranke oder Herz­ infarkt-Patienten) zeigen aber, daß mit einer programmorientierten, auf die Zielgruppe bezogenen Vorgehensweise wesentlich bessere Erfolge erreicht werden können als mit der gegenwärtigen zufälligen, vom jeweiligen Krankheitsgefühl des Patienten abhängigen Behand­ lung. Zum anderen trägt eine Programmorientierung der epidemio­ logischen Erkenntnis Rechnung, daß den chronisch-degenerativen Krankheiten wirksam vor allem in ihrem Vorfeld begegnet werden kann, also durch eine bessere Mitkenntnis der Laien im Wege der Gesundheitserziehung in der Schule und in den Massenmedien sowie durch ihre Mitverantwortung und Mitarbeit bei der Verbreitung und Beachtung gesundheitsfördernder Kriterien und Verhaltensweisen. Eine Programmorientierung der Medizin verspricht eine größere Wirksamkeit des Gesundheitswesens und bedeutet unausweichlich eine weit stärkere Beteiligung der Laien. Obwohl also eine solche Programmorientierung Arzt- oder Institutionen-zentriert ist, weil nämlich die Aktivitäten (nach systematischer Vorbereitung und spe­ zifisch auf Zielgruppen gerichtet) von den Gesundheitsberufen aus­ gehen, bringt sie gleichwohl eine ungleich höhere Beteiligung der Laien zustande, weil ein programmorientiertes Vorgehen die Laien aktiviert, motiviert und in verbindlicher Weise in die Berufsarbeit der Gesundheitsberufe hineinnimmt. Denn solche Programme erwarten nicht nur vom Arzt oder vom Sozialarbeiter im Gesundheitswesen ein qualifiziertes Vorgehen, sondern setzen zugleich Standards für das Verhalten der Laien, Standards, die in geeigneter Form verbindlich gemacht werden müssen. Ein erster Schritt zur Verbindlichkeit ist zweifellos, daß solche Standards überhaupt erst einmal gesetzt, ver­ breitet werden und ihre Beachtung in den entsprechenden Situatio­ nen erwartet wird, z. B. regelmäßige Gewichtskontrolle, regelmäßige Blutdruckmessung oder die Forderung nach körperlicher Aktivität. Ein naheliegender Einwand, der in den Antworten der Ärzte­ schaft zur Kostensteigerung im Jahre 1975 täglich in den Tageszei­ tungen zu lesen ist, lautet, mit der Realisierung solcher Vorschläge werde der Behandlungsaufwand vermehrt, die Kostenflut gesteigert und bestenfalls, wenn überhaupt, langfristig ein ökonomischer Erfolg erzielt. Dieser Einwand läßt sich, wenn ich recht sehe, leicht ent­ kräften. Ziel einer programmorientierten Vorgehensweise ist nicht eine additive Vermehrung des Behandlungsaufwandes, gleichsam

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Wie wird der Patient Beteiligter?

eine Aufstockung der ärztlichen Aufgaben, sondern der bewußte Einstieg in eine Neugewichtung der ärztlichen Tätigkeit selbst. Wenn z. B. Herr Geiser und mit ihm viele andere, die Wirksamkeit der gegenwärtigen, von der zufälligen Inanspruchnahme durch den Pati­ enten gesteuerten Behandlungsweise bezweifeln und, wie mir scheint, zu Recht bezweifeln, dann kann der gegenwärtige, die Arbeitskraft der Ärzte bereits auslastende Block von Aufgaben nicht ungeprüft und unbesehen übernommen werden, sondern hier bedarf es der Neugewichtung und Neuverteilung. Es wird in der Öffentlichkeit sehr viel von den uneigentlichen Aufgaben der Krankenversicherung, von den Auftragsangelegenheiten, etwa der Mutterschaftshilfe, der Familienhilfe, der Schwangeren-Konfliktberatung gesprochen, von dem überflüssigen und obsoleten Arbeitsanfall in der ärztlichen Praxis ist leider nur sehr selten die Rede, etwa von den Arbeitsunfähigkeits­ bescheinigungen bei kurzfristigen Erkrankungen. Eine Setzung von Prioritäten in der ärztlichen Alltagsarbeit scheint gegenwärtig nur über die Durchsetzung programmorientierter Versorgungsformen erfolgreich zu sein. Sie könnte dazu beitragen, den gesamten Einsatz im Gesundheitswesen wirksamer auf die Aufgaben zu verteilen.

3. Medizinische Informationssysteme Nun ist eine programmorientierte Vorgehensweise auf der Grundlage der gegenwärtigen Informationslage nicht zu leisten. Das lehren die Erfahrungen von Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigun­ gen mit der Krankheitsfrüherkennung nur zu deutlich. Daher ist die Einführung ADV-unterstützter Informationssysteme die unabding­ bare Voraussetzung für jede Weiterentwicklung des Gesundheitswe­ sens. Dabei arbeiten sich zwei Vorteile einander zu: Die automatische Datenverarbeitung erlaubt allererst die Bewältigung und Nutzung der Informationen, die gegenwärtig in der medizinischen Versorgung anfallen. Hier werden durch die Technik neue Möglichkeiten erschlos­ sen. Der Aufbau von organisationsübergreifenden Informationssys­ temen, also die Zusammenführung der Informationen, die bei den verschiedenen Betriebseinheiten eines Versorgungsgebietes anfallen, also in ärztlichen Praxen, in Krankenhäusern, in den sozialärztlichen Dienststellen, bei den Krankenkassen, liefert die Voraussetzungen für gesundheitspolitische Planungen, aber auch für die Evaluierung bestimmter Gesundheitsmaßnahmen.

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Laienpartizipation in der Perspektive einer zukünftigen Medizin

Ein gutes Beispiel hierfür bilden die Auswertungen der Krank­ heitsfrüherkennungsuntersuchungen der Sozialen Krankenversiche­ rung. Ich möchte aus der Fülle dessen, was hieraus allgemein für die Perspektiven eines künftigen Gesundheitswesens zu lernen ist, illustrierend auf zwei Ergebnisse hinweisen. Gerhard Neumann, der wohl zu Recht als Pionier einer programmorientierten Krebsfrüher­ kennung in der Bundesrepublik bezeichnet werden kann, hat bei der Auswertung der Ergebnisse für Baden-Württemberg gezeigt, daß selbst bei den Frühstadien des Gebärmutterhalskrebses, dessen Früherkennung durch die zytologische Diagnostik außerordentlich verbessert werden konnte, ein Viertel der neu entdeckten Fälle nicht der Krankheitsfrüherkennung, sondern der Aufmerksamkeit der Pati­ entinnen selbst, also der Laiendiagnostik, zuzuschreiben ist.16 Mögli­ cherweise ist dieses Ergebnis nicht unabhängig von der Einführung und Propagierung der gynäkologischen Vorsorgeuntersuchungen zu sehen. In jedem Falle aber bereiten solche exakten und sorgfältigen Auswertungen von Informationen, die organisationsübergreifend zusammengeführt werden, eine Evaluierung von Gesundheitsmaß­ nahmen. Sie wirken normbildend und standardsetzend auf das Verhal­ ten der im Gesundheitswesen Tätigen und auf das der Laien zurück. Das gleiche gilt für die Auswertung der Krankheitsfrüherkennungs­ untersuchungen für Kleinkinder. Hier zeigt sich, daß die Beteiligung, also das Interesse der Eltern, desto stärker abnimmt, je loser der Kontakt zu den Ärzten wird. Aber erst die organisationsübergreifende Zusammenführung der Informationen und ihre Auswertung machen deutlich, daß hier möglicherweise das Recht der Kleinkinder auf eine ausreichende Gesundheitsvorsorge gegenüber der Nachlässig­ keit und Interesselosigkeit der Eltern, vielleicht aber auch gegenüber einer unzulänglichen Organisation des Untersuchungsprogramms selbst wahrgenommen werden muß. Hier wird die Öffentlichkeit einer Gesundheitsmaßnahme hergestellt und damit eine Setzung und Durchsetzung von Standards gesundheitsförderlichen Verhaltens für Laien und Gesundheitsberufe möglich. Werfen wir abschließend noch einen Blick zurück auf die Ein­ gangsfrage: Wie wird der Patient Beteiligter?, verstanden als Frage nach der Qualität der Kommunikation zwischen den Personen, die Medizin als Beruf betreiben, und den Laien, die an ihrer Gesunder­ 16 Gerhard Neumann: Krebsregister und Krebsfrüherkennung. In: Medizinische Kli­ nik, 70. Jg. (1975), S. 181–185.

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Wie wird der Patient Beteiligter?

haltung mitarbeiten und für ihre Krankheit Verantwortung mittragen wollen. Zweifellos werden in einer zukünftigen Medizin die Kontakte häufiger sein, werden mehr Informationen gegeben und ausgetauscht werden, wird vor allem gezielter informiert werden als bisher. Ferner wird die Öffentlichkeit stärker beteiligt sein, Gesundheitsmaßnah­ men werden zum Gegenstand sachbezogener Auseinandersetzungen werden. Allerdings werden, ihrer Qualität nach betrachtet, diese Kon­ takte und Informationen funktionsbezogener und spezifischer sein. Zu den Fragen, die Herr Jacob17 aufgeworfen hat, wie die Kontakte und Informationen menschlicher werden können, wie die Kommunikation und Interaktion zwischen Professionellen und Laien Lebens- und Krankheits-Sinn erschließen könnten, erhalten wir in dieser Perspektive keine Antwort. Ich meine auch, daß die Probleme akut Schwerkranker, vielleicht Moribunder keine Alltags­ probleme der Medizin darstellen und daher einer gesonderten Dis­ kussion bedürften. Angesichts dieses, vielleicht manchen nicht befriedigenden Ergebnisses sollten wir uns die Grenzen der vorgetragenen Analyse eingestehen. Im Zentrum unserer Überlegungen standen nicht die Probleme akut schwerkranker oder gar moribunder Patienten, son­ dern der Alltag der Medizin, der es mit gesunden Kranken und mit Menschen im Vorfeld ernster, letztlich lebensbedrohender Krank­ heiten zu tun hat. Für diesen Personenkreis ist eine gezielte und aktivierende Information wichtig, auch ist es nötig, diesen Personen­ kreis in regelmäßigen Zeitintervallen möglichst vollständig zu errei­ chen. Das Gespräch mit dem akut Schwerkranken oder gar mit dem Moribunden wird kaum dem Arzt ausschließlich anvertraut werden können, sondern stets die Personen mit einschließen, die die Pflege der Kranken im Krankenhaus oder in der Familie tragen. Es scheint mir die Eigenart solcher Grenzsituationen zu verkennen, den Arzt in eine höchst persönliche Dialogbeziehung zu einem Patienten zu rücken, dem er möglicherweise das erstemal in seinem Leben begegnet. Vermutlich müssen wir auch außerhalb der Situationen, in denen es nun öffentlich sichtbar zum Problem wird, wenn nämlich Geburt und Tod »Veranstaltungen« der Krankenhausorganisation werden,

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Vgl. oben Seite 56 ff.

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Laienpartizipation in der Perspektive einer zukünftigen Medizin

darauf bedacht sein, daß das Gespräch über die unausweichlichen und wesentlichen Fragen unseres Lebens nicht verstummt.18

18 Christian v. Ferber: Soziologische Aspekte des Todes. In: Zeitschrift für Evangeli­ sche Ethik, 7. Jg. 1963, S. 338–360. Ders.: Der Tod. Ein unbewältigtes Problem für Mediziner und Soziologen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 22. Jg. 1970, Heft 2, S. 237–250.

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Was verdankt die Medizin der Soziologie?1

Inhalt: Welche theoretischen Konzepte der Soziologie eignen sich für die Interpretation der Arzt-Patienten-Beziehung? Der Rollenbegriff, den die strukturell-funktionale Theorie entwickelt hat, eignet sich vornehmlich dafür, die in der Berufsrolle des Arztes enthaltenen Strukturelemente zu erfassen, die die Interaktion mit den Patienten erleichtern oder hemmen. Diese Elemente verbinden das Handeln der Einzelpersonen mit übergreifenden gesellschaftlichen Strukturen. Der Patientenrolle dagegen wird die Theorie »interpretierter Rollenbeziehungen«, wie sie der Symbolische Interaktionismus vor­ geschlagen hat, besser gerecht. Diese Theorie macht auf das »Lernen« der Rolle in der doppelten Auseinandersetzung mit der Krankheit und mit dem Arzt aufmerksam. Sie bringt damit die prozeßgebundenen, von der »Interpretation« der Beteiligten abhängigen Elemente ins Spiel, die für die Patientenrolle und für die Patientenkarriere wich­ tig sind. Allerdings gehen in die Interpretationen, d. h. in die Auslegung der Arzt-Patienten-Beziehungen, weitere strukturelle Elemente ein, z. B. die Überlegenheit des ärztlichen Expertenstatus, sie erlaubt eine »Stigmatisierung« der Patienten, sowie die Rationalisierung des Gesundheitswesens, d. h. Effektivitäts- und Effizienzüberlegungen. Eine Isolierung der Arzt-Patienten-Beziehung gegenüber ihrer Ein­ bettung in die übergreifenden Strukturen des Gesundheitswesens ist daher nur in Grenzen möglich. Die Komplexität der Arzt-Patienten-Beziehungen fordert zu einem differenzierten, mehrere theoretische Ansätze nutzenden Vor­ gehen heraus und verbietet einen naiven Zugriff unter der program­ matischen Formel »sozio-psychosomatischer Zusammenhang«, wie er von einer soziologisch unberatenen Sozialmedizin oft ins Spiel gebracht wird.

1 Max Halhuber, dem die Soziologie in der Medizin vieles verdankt, zum 60. Geburts­ tag gewidmet.

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Was verdankt die Medizin der Soziologie?

1.0 »Unmittelbarer Praxisbezug?« Sehr präzise hat kürzlich Volrad Deneke in der Frankfurter Allgemei­ nen Zeitung die Erwartungen der ärztlichen Praxis gegenüber der Soziologie formuliert. Als Fazit des »ersten«2 Seminars »Medizini­ sche Soziologie« auf dem Fortbildungskongreß in Grado stellt er fest: »Rein soziologische Erkenntnisse bleiben in großer Fülle für die prak­ tizierte Medizin distanzierte Theorie, wenn nicht im gleichen Zuge der sozio-psychosomatische Zusammenhang sichtbar gemacht wird« und – so fährt er fort – »die noch so großartige Schilderung sozialer Prozesse, die Vorführung noch so einleuchtender Modelle sozialer Schichtung bleibt allgemeinbildend, wirkt aber nicht ärztlich fortbil­ dend, wenn es dabei nicht gelingt, den unmittelbaren Praxisbezug herzustellen« (FAZ, 29. Oktober 1975). Was Deneke hier als Erfahrung aus einer Begegnung von Ärzten und Soziologen im Medium der Fortbildung verallgemeinernd fest­ stellt, hat den Arzt im Blick, der für die Entscheidungssituationen seines Alltags diagnostische und therapeutische Hilfen von der Sozio­ logie wie von jeder anderen Fachdisziplin erwartet. In der ärztlichen Sprechstunde ist der Patient nicht Träger sozialer Merkmale oder Mikrokosmos gesellschaftlicher Prozesse, sondern eine Persönlich­ keit mit einer Lebensgeschichte, mit konkreten Bedürfnissen und Interessen sowie mit seinen Reaktionen auf das Beratungs- und Behandlungsangebot des Arztes. Der Patient reagiert in vielfältiger Weise. Er interpretiert die Situation, er macht sich seinen Vers auf das Verhalten des Arztes und stellt sich auf das der Sprechstundenhilfen ein. Der Patient zieht Konsequenzen aus dem Besuch beim Arzt für den Anlaß seines Besuches, aber auch für künftige Situationen. Der Patient »lernt« in solchen Situationen, wenn wir auch über diesen Lernvorgang durch die bisherige Forschung nur sehr unzulänglich informiert sind (RIDDER 1974). Ungeachtet der großen Lücken, die unter einer solchen Frage­ stellung von der Forschung noch zu schließen sind, läßt sich für den »unmittelbaren Praxisbezug«, den Deneke zu Recht für die Medizin­ soziologie fordert, doch folgendes einleitend feststellen. Den Alltag Im Kontakt zwischen Medizinern und Soziologen sollte man besser die Ordnungs­ zahl »erstens« vermeiden. M. W. hat bereits 1959 ein medizinsoziologisches Seminar auf einem ärztlichen Fortbildungskongreß in Meran stattgefunden mit Rudolf Tartler, dessen auch heute noch bedeutsame Studie über das Alter aus der Zusammenarbeit mit Ärzten und Pflegeberufen hervorgegangen ist. 2

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2.0 Interpretierte Rollenbeziehungen

des Arzt-Patienten-Verhältnisses in das Wortungeheuer »sozio-psy­ cho-somatischer Zusammenhang« einzusperren, verkennt, daß die Dreidimensionalität möglicher wissenschaftlicher Bearbeitung von Gesellschaft, Psyche und Körper sich im Forschungsprozeß erst als »Zusammenhang« herausstellen muß. Bislang gelingt ja noch nicht einmal der Anfang einer wissenschaftlichen Kooperation unter den Beteiligten. Das Wortungeheuer »sozio-psychosomatischer Zusam­ menhang« verführt aber auch dazu, daß der Arzt sich in seinem ange­ lernten biologischen, allenfalls individualpsychologisch angereicher­ ten, Vorverständnis bestätigt fühlt; es wird eine Reduktion des soziologischen auf die psychosomatischen Aspekte eingeleitet. M. a. W. die wesentlichen Perspektiven, die eine soziologische Bear­ beitung des Alltags von Patienten und Ärzten erschließen könnte, werden gar nicht erst in Angriff genommen. Unter der Forderung des unmittelbaren Praxisbezuges wollen wir drei soziologische Vorgehensweisen hier charakterisieren: – – –

Arzt-Patienten-Kontakte als interpretierte Rollenbeziehungen (»Theorie des Symbolischen Interaktionismus«), Arzt-Patienten-Kontakte als Experten-Klienten-Beziehung (»die Dominanz der Experten«), Arzt-Patienten-Kontakte im Medium der Sprache (zur »Sprach­ soziologie als Methode der Medizinsoziologie«).

2.0 Interpretierte Rollenbeziehungen Dem soziologischen Rollenbegriff (Dahrendorf 197414, Popitz 1967, Gerhardt 1971) kommt das umgangssprachliche Verständnis der ArztPatienten-Beziehungen in mehrfacher Weise entgegen. Die Rede vom Arzt, von der Sozialpflichtigkeit des Arztberufes, die Unterscheidung von Arzt-Medizin und Laien-Medizin (Schenda 1973, 1976) meint die Berufsrolle des Arztes (Freidson 1970). Diese ist durch die Rechts­ ordnung garantiert, durch die wissenschaftliche Ausbildung definiert (Merton u. a. 1957, Hesse 19722) und in den Standards ärztlicher Berufsausbildung konkretisiert (Pflanz 1968).

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Was verdankt die Medizin der Soziologie?

2.1 Der strukturell-funktionale Rollenbegriff Die soziologische Bearbeitung der Berufsrolle des Arztes eröffnet einen wissenschaftlichen Zugriff auf die typischen Elemente ärztli­ chen Handelns, die jeden Arzt-Patienten-Kontakt prägen und die daher nur über das organisierte Handeln von Gruppen oder durch Prozesse der Meinungsbildung zur Disposition gestellt und verändert werden können. Für die Elemente ärztlichen Handelns, die zwar in jeder einzelnen Behandlungs- und Beratungssituation wirksam werden, denen aber auch eine situationsunabhängige allgemeine Bedeutung zukommt, verwendet die Soziologie den Ausdruck »Struk­ tur« (v. Ferber 1975 a). Angewendet auf den Berufsalltag des Arztes erleichtert der soziologische Rollenbegriff die Analyse derjenigen Bedingungen, an die der Arzt im Verkehr mit seinen Patienten gebun­ den ist und die er allenfalls überspielen oder in berufspolitischen Aktionen verändern kann. Die Kenntnis solcher Bedingungen, die den Berufsalltag tragen, wird unentbehrlich, soweit sie den Kontakt zu den Patienten erleichtern, ihn erschweren oder gar verhindern. Zu den sozialstrukturellen Bedingungen, die das ärztliche Handeln erleichtern, wird vor allem die wissenschaftliche Rollenkompetenz des Arztes gezählt, aufgrund derer er die Indikation seiner Therapie festlegt und eine Abgrenzung seiner persönlichen Verantwortung vornimmt. Er kann sich davor schützen, von den Problemen seiner Patienten überwältigt zu werden, indem er seine eigene Kompetenz in der Zuständigkeit seines Fachgebietes oder der wissenschaftlichen Medizin abgrenzt und die Anliegen seiner Patienten auf wissen­ schaftlich entscheidbare und auf anerkannte therapeutische Lösungen zurückführt. Die strukturell-funktionale Rollentheorie hat dies auf die Begrifflichkeit sogenannter Handlungsalternativen gebracht (Parsons 1951 a/b, Brandenburg 1971). Dem »diffusen« Anliegen der Patien­ ten begegnet der Arzt mit problem„spezifischen« diagnostischen und therapeutischen Lösungsstrategien. Der lebensgeschichtlichen »affektiven« Beteiligung der Patienten hält der Arzt vermöge seiner »neutralisierenden« Distanz stand, zu der ihm seine objektivierende Diagnose und eine wissenschaftlich abgesicherte Therapie verhilft. Zu den sozialstrukturellen Bedingungen, die den Kontakt zu den Patienten erschweren oder gar verhindern, gehören folgende Eigenschaften der ärztlichen Berufsrolle. In der arbeitsteiligen Spe­ zialisierung wissenschaftlicher Berufe ist eine soziale Distanz zwi­ schen Experten und Laien angelegt (Freidson 1975), die das ärztliche

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2.0 Interpretierte Rollenbeziehungen

Gespräch behindert (Engelhardt u. a. 1973). Die wissenschaftliche Ausbildung errichtet Sprach- und Kommunikationsbarrieren (L. v. Ferber 1971 a, b, Lüth 1974), die die Verständigung zwischen Ärz­ ten und Laien, aber auch unter den Ärzten selbst erschweren. Die Bindung ärztlichen Handelns an wissenschaftliche Beurteilungs-und Entscheidungskriterien macht die Bestimmung des Wissens, was medizinisch-ärztlich relevant sein soll, und dessen Umsetzung zum Problem. Der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt setzt sich in der Regel erst mit einer zeitlichen Verzögerung in die Praxis um (Salzmann 1970, Kuntz 1973). Darüber, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Berufswissen des Arztes gehören sollen, kann, wie die »Hochschulbiographie« solcher Fächer wie Epidemiologie, Sozial­ medizin, Medizinsoziologie, medizinische Psychologie, Gesundheits­ ökonomik lehrt, lange und fruchtlos gestritten werden, unabhängig von den akuten Bedürfnissen der Patientenversorgung. Ersichtlich leistet der strukturell-funktionale Rollenbegriff zwei­ erlei. Er verknüpft die individuelle Berufssituation des Arztes mit übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhängen, wie es in der deutschen Programmschrift zum Rollenbegriff heißt: »Am Schnitt­ punkt des Einzelnen und der Gesellschaft steht homo sociologicus, der Mensch als Träger sozial vorgeformter Rollen: die Soziologie bedarf bei der Lösung ihrer Probleme stets des Bezuges auf soziale Rollen als Elemente der Analyse; ihr Gegenstand liegt in der Entde­ ckung der Strukturen sozialer Rollen« (Dahrendorf 197110, S. 19/20). Zum anderen erleichtert der Rollenbegriff das Auffinden und Benen­ nen der für die Arztrolle grundlegenden und wichtigen Inhalte. Grenzen für die Anwendung des Rollenkonzeptes zeigen sich in zweierlei Richtungen. Aus gegebenen Situationen holt der Rollen­ begriff nur die gesellschaftlichen Strukturen heraus, die sichtbar in der Gesellschaftsorganisation herausgearbeitet sind. Daher bietet die Berufsrolle des Arztes ein paradigmatisches Anschauungsfeld der Rollenanalyse (Parsons 1951 a). Patientenrollen, deren gesellschaft­ liche Verfaßtheit selbst eine Forschungsfrage ist, lassen sich relativ sicher noch im Krankenhaus erfassen (Rohde 19742, v. Troschke 1974), jenseits des Stützkorsetts von Organisationen verfließt der Rollenas­ pekt (Ridder 1974, Ahrens 1975, C. v. Ferber 1975 b). Die Soziologie behilft sich mit der Unterscheidung von »Gesundheitsverhalten«, also dem Verhaltensinventar, das gezielt der Erhaltung der Gesundheit dient, »Krankheitsverhalten«, also die Verhaltensweisen, die sich um eine zunächst nur vom Laien bemerkte Gesundheitsstörung heraus­

379 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Was verdankt die Medizin der Soziologie?

bilden, und »Patientenverhalten«, also die aus einer Beziehung zur professionellen Medizin hervorgehenden Verhaltensweisen (Siegrist 19752). Eigentlich nur das »Patientenverhalten« eignet sich für eine Analyse unter dem Rollenbegriff, weil es in eine organisierte Sozial­ beziehung einbezogen ist und Elemente des Rollenlernens enthält. Zum anderen aber führt ein strukturell-funktionaler Rollenbe­ griff zu einer Überzeichnung der strukturellen Elemente der Situation. Das geht bei Dahrendorf so weit, daß das Individuum als Träger sozialer Rollen zum »Mann ohne Eigenschaften« deklariert wird. Der Spieler verschwindet hier hinter den Masken seiner gesellschaftlichen Funktionen. Bei diesem Defizit der Rollenanalyse hat die soziologi­ sche Theoriebildung in der Folgezeit angesetzt. Man hat versucht, die Ich-Leistung herauszuarbeiten, um der Alltagserfahrung Raum zu geben, daß in den konkreten Situationen von den Persönlichkeiten, die sich im Rollenspiel begegnen, nicht abgesehen werden kann. Gerade wenn der Rollenbegriff am Schnittpunkt ansetzt, an dem sozialstrukturelle Bedingungen und individuelles Handeln sich in der Wirklichkeit miteinander verbinden, dann muß der Soziologe auch adäquate Begriffe für den individuellen Beitrag zum Rollenhan­ deln bilden. Die strukturell-funktionale Theorie löst dieses Problem rein for­ mal mit dem Wechsel der Systemreferenz. In der sozialen Rolle stoßen »Sozialsystem« und »Persönlichkeitssystem«, soziologische und psy­ chologische Zuständigkeit aufeinander. Die individuelle Handhabung der sozialstrukturellen Bedingungen wird mittels des Kunstgriffes »Bezugsrahmen der Analyse« dem wissenschaftlichen Bereich über­ antwortet, der sich mit der Persönlichkeit als einer gedachten Ord­ nung individueller Bedingungen beschäftigt (Parsons, Bales 1955). Diese Lösung macht die wissenschaftsinterne Arbeitsteilung zwi­ schen Soziologie und Psychologie zum Ordnungskonzept für die Erfassung der gesellschaftlichen Realität.

2.2 Der interaktionistische Rollenbegriff Eine gegenseitige Ausgrenzung soziologischer und psychologischer Erkenntnisverfahren erweist sich jedoch weder für die Zusammen­ arbeit zwischen Soziologen und Psychologen als förderlich noch ist sie für die Praxis hilfreich. Dem Arzt, der seine chronisch-kran­ ken Patienten führen oder Vorsorgeberatung betreiben will, stellen

380 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

2.0 Interpretierte Rollenbeziehungen

sich die Probleme nicht getrennt nach Psychologie oder Soziologie, sondern in der Komplexität des Alltags. D. h. der Arzt muß seine therapeutischen und beratenden Vorschläge in der Sprache seiner Patienten formulieren, er muß allgemeinverständliche und verbind­ liche Handlungsanweisungen geben. Er muß ferner seine aus allge­ meinen wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleiteten Vorschläge auf eine individuelle Lebenssituation beziehen, und schließlich muß er die Beratung seiner Patienten in sein Zeitbudget einordnen können, das durch ökonomische und soziostrukturelle Bedingungen vielfältig begrenzt ist. Die medizinsoziologische Forschung hat sich daher in verschiedener Weise einen methodischen Zugang zu der Kommu­ nikation und Interaktion zwischen Arzt und Patient gebahnt. Sie findet eine starke Unterstützung in der Theorie des Symbolischen Interaktionismus (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973). Der Symbolische Interaktionismus bestreitet eine wesentliche Annahme der strukturell-funktionalen Theorie, daß die Sozialstruktur schlicht als gegeben vorausgesetzt werden kann, daß also in die Alltagssitua­ tion des Arztes die sozialstrukturellen Bedingungen seines Berufes ebenso als Datum eingehen wie der Stand der diagnostischen oder therapeutischen Verfahren. Zwischen die sozialstrukturellen Bedin­ gungen und ihr Wirksamwerden in der Alltagssituation fügt der Symbolische Interaktionismus die Interpretation ein. Eine solche »Interpretation« findet erstens auf mehreren Stufen statt, d. h. die aktuellen Arzt-Patienten-Beziehungen werden nicht allein aus der Situation heraus interpretiert, sondern die Auslegung greift auf Vorverständnisse zurück: von seiten des Arztes auf das medizinische Wissen und die ärztliche Erfahrung, von seiten des Patienten auf laienmedizinische Kenntnisse und auf Erwartungen hinsichtlich der Folgen seines Arztbesuches (z. B. Arbeitsbefreiung, Verschreibung von Arzneimitteln, Befreiung von Angst). Die Interpretation erfolgt zweitens durch »Definitions«-Instan­ zen, die mit unterschiedlichen Kompetenzen ausgestattet sind. Sehr eindrücklich zeichnet sich diese unterschiedliche Definitionskompe­ tenz in der Handhabung des Krankheitsbegriffs ab. Rothschuh (1973) hat auf die Funktionalisierung des Krankheitsbegriffs im Dienste unterschiedlicher Zwecke oder Interessen aufmerksam gemacht. Ver­ allgemeinernd können wir für soziologische Analysen festhalten, daß die Feststellung »krank«, gleich, von welcher Instanz sie getroffen wird, stets eine Handlungsanweisung enthält. In dem Handlungs­ bezug, der den Beurteilungen von Personen auf der Dimension

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Was verdankt die Medizin der Soziologie?

gesund – krank zukommt – gleich, wer diese Beurteilung vornimmt, ein Arzt oder ein Laie – steckt auch die Kulturabhängigkeit des Krankheitsverständnisses (Ackerknecht 1971). Krankheit als »soziale Tatsache« (Emile Durkheim), die bei angebbaren Personen Handlun­ gen auslöst, beruht auf kulturellen »Definitionen«.

3.0 »Definitions«prozesse und -instanzen Für die gegenwärtige Situation können wir mehrere deutlich von­ einander abgehobene Definitionsinstanzen unterscheiden. In einem »patientengesteuerten« Gesundheitswesen (C. v. Ferber 1970 a) ent­ scheidet der Patient zunächst darüber, ob er seiner Befindlichkeit Krankheitswert beilegen will oder nicht. Er trifft diese Entscheidung auch mit Rücksicht auf die Anforderung, die seine Alltagsumgebung an ihn richtet und ob eine Entlastung für ihn erreichbar ist oder nicht (Zimmermann 1970). Im Sinne der Laienmedizin ist »krank«, wer eine Befindlichkeitsstörung bei sich feststellt, ihr Krankheitswert beilegt und dieser Interpretation entsprechend handelt, sich von seinen alltäglichen Pflichten mit Rücksicht auf seinen angegriffenen Gesundheitszustand zurückzieht und von seiner Umgebung befreien läßt, Medikamente oder Hausmittel gebraucht, seinen Arzt um Rat fragt oder sich gar ins Krankenhaus bringen läßt (Pflanz 1964, 1969). Im Sinne der behandelnden Ärzte ist »krank«, wer eine ärztliche Sprechstunde mit einem Krankheitsverdacht aufsucht oder wegen eines Leidens in ärztlicher Behandlung steht. Bei ihnen stellt der Arzt in der Regel eine »Beratungsursache« (Braun 1970) fest, und da er seine Leistung honoriert sehen möchte, gibt er eine »Rechtferti­ gungs«-Diagnose ab, die sein Tätigwerden rechtfertigt. Tabelle 1: Zusammenfassung der Mißempfindungen der männlichen Patienten als Krankheitszeichen, als unklare und als nicht zur Dia­ gnose passende Mißempfindungen. Die Gruppen: Unfälle, WDB-Lei­ den und keine Antwort wurden in diesem Zusammenhang nicht bearbeitet. Untersuchungszeitraum: 1966–67. (Quelle: L. v. Ferber 1971 b) »Krankheitszeichen« (männliche Patienten)

382 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

3.0 »Definitions«prozesse und -instanzen

Mißempfindungen

Krankheits­ zeichen %

Unklar %

Unpas­ send %

Summe insges.

Gestörtes Allge­ meinempfinden

47,3

49,8

2,9

311

Allergien

95,2

1,6

3,2

62

BESCHWERDEN

84,1

8,9

7,0

359

Bauch

87,3

8,6

4,1

197

Brust

82,9

6,6

10,5

76

Rumpf

(81,8)

44

Kopf

(77,3)

22

Bein

(70,0)

20

SCHMERZEN

88,5

8,7

2,8

1851

Allgemein

24,8

74,4

0,8

129

Bauch

95,0

3,1

1,9

522

Brust

88,8

3,2

8,0

187

Rumpf

92,5

4,9

2,6

545

Kopf

92,6

6,7

0,7

134

Extrem.

94,0

3,0

3,0

334

SYMPTOME

89,0

7,0

4,0

832

Allgemein

90,2

8,5

1,3

306

Bauch

87,6

9,0

3,4

145

Brust

91,4

4,3

4,3

164

Kopf

(63,3)

30

Extrem.

90,3

1,6

8,1

185

Diagnosen

88,1

7,4

4,5

352

SUMME

84,8

11,6

3,6

3766

Im Sinne der Wissenschaftlichen Medizin ist »krank«, wer einen Befund von Krankheitswert besitzt. Die Sicherung und einwandfreie Bestimmung eines solchen krankhaften Befundes ist häufig erst nach

383 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Was verdankt die Medizin der Soziologie?

eingehender Untersuchung und längerer Beobachtung möglich. Auch ist bei vielen Befunden, die eine technisch weit vorgetriebene Dia­ gnostik produziert, die Bestimmung der Normgrenzen noch proble­ matisch (Eggstein 1973). »Krank« im Sinne der wissenschaftlichen Medizin kann jedoch nur sein, wer einen krankhaften Befund im Rahmen medizinisch-wissenschaftlicher Diagnostik zeigt. Die wis­ senschaftliche Medizin definiert, was als »krankhaft« gelten darf und was nicht, sie ist im Sinne des spinozistischen Wahrheitsbegriffes norma sui et falsi. Im Sinne der Sozialmedizin ist »krank«, d. h. »gesundheitsge­ fährdet«, wer seine Gesundheit bekannten und als solchen gesi­ cherten Risiken aussetzt, z. B. Zigarettenrauchen, Überernährung, Bewegungsmangel, Alkohol- und Medikamentenabusus, oder bereits Frühstadien bekannter Krankheiten, z. B. Hyperlipidämie, zeigt. Empirische Untersuchungen solcher Definitionsprozesse zeigen deutlich den unterschiedlichen Handlungsbezug, den Patienten­ selbstdiagnosen, in der Kassenpraxis gebräuchliche Diagnosen, Ver­ trauensarztdiagnosen und klinische Diagnosen besitzen (L. v. Ferber 1971 a). Sie machen verständlich, warum die Gesundheitsvorsorge bisher so wenig Erfolge aufzuweisen hat. Denn der sozialmedizini­ schen Definition »gesundheitsgefährdet« fehlt es bisher an einem eindeutigen Handlungsbezug. Empirische Untersuchungen zeigen aber auch die Grenzen auf, die einer Verständigung unter den Defi­ nitionsinstanzen gezogen sind. Die Kommunikationsbarriere zwi­ schen Arzt und Patient ist auch eine Funktion der unterschiedlichen Sprachen von Ärzten und Patienten. Dies zeigt sich in der Verwertung der Beschwerdeangaben von Patienten in der ärztlichen Diagnose. »Durchschnittlich gehen über 80 % der Mißempfindungen der Pati­ enten als Krankheitszeichen in die Diagnose ein. Die Tabelle 1 zeigt aber auch, daß nicht alle Mißempfindungen vom Arzt gleich gut ver­ standen werden, d. h. gleich häufig zu Krankheitszeichen werden. Schmerzangaben, die sich auf einen bestimmten Körperbereich bezie­ hen, haben die größte Chance – über 90 % – in die Diagnose des Arztes aufgenommen zu werden. Fast genauso gut versteht der Arzt, wenn der Patient ihm Symptome nennt, die bestimmten Körperre­ gionen oder Organbereichen zugeordnet sind, wie etwa Husten, Atemnot, Durchfall oder Durst. Sehr gering ist dagegen die Verstän­ digung über die allgemein gehaltenen Beschreibungen des Sichbefin­ dens des Patienten. Nur etwa die Hälfte dieser Mißempfindungen greift der Arzt auf und verwendet sie als Krankheitszeichen für eine

384 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

4.0 »Alltagswissen« als Quelle ärztlicher Entscheidungen

Diagnose, die dann meist in die Gruppe des funktionellen Syndroms gehört« (L. v. Ferber 1971 b). Empirische Untersuchungen der Definitionsprozesse im Gesundheitswesen fordern zu sprachsoziologischen (L. v. Ferber 1975) und zu medizinsemantischen Forschungen (C. v. Ferber u. a. 1972) heraus.

4.0 »Alltagswissen« als Quelle ärztlicher Entscheidungen Der Symbolische Interaktionismus trifft noch eine weitere wichtige Unterscheidung, die zunehmend in die Medizinsoziologie Eingang findet: die zwischen »Alltagstheorien« und wissenschaftlichen Theo­ rien. Diese Unterscheidung ist für alle Situationen, in denen wis­ senschaftliche Erkenntnisse Beurteilungskriterien liefern und Hand­ lungsanleitungen hergeben sollen, sehr nützlich. Wir wollen auch diesen systematischen Gedanken am Beispiel ärztlichen Handelns erläutern. Vorausgesetzt wird in der Diagnostik und in der Therapie, daß der Arzt aufgrund wissenschaftlich gesicherter Erfahrungen han­ delt, daß er seine Entscheidungen im anerkannten medizinischen Wissen begründen kann. Diese rigorose Voraussetzung wird dadurch realitätsnäher formuliert, daß der Arzt seine Zweifel oder die Lücken im medizinischen Wissen nach rationaler Abwägung aufgrund ärzt­ licher Erfahrung überbrückt. Folgt man nun der Theorie des. Sym­ bolischen Interaktionismus, dann rückt neben den medizinischen Erkenntnisstand und neben die ärztliche Erfahrung das Alltagswissen als weitere Quelle ein, die die ärztlichen Entscheidungen begründet. Dieses Alltagswissen kann aus unbefragter Routine, aus gesellschaft­ lichen Vorurteilen, aus Fehlschlüssen, aus generationsspezifischen persönlichen Erfahrungen bestehen, also aus dem Konglomerat von Meinungen, aufgrund derer auch Laien ihre Alltagsaufgaben lösen. Es liegt nahe, der Wirksamkeit ärztlichen Alltagswissens für die »Kar­ rieren« psychiatrischer Patienten nachzugehen, also Bestätigungen für die Theorie in einem Feld medizinischen Handelns zu suchen, in dem Außenkriterien für die ärztliche Beurteilung kaum bestehen oder in dem diese sich mit der lebenspraktischen Beurteilung »sozialabweichenden« Verhaltens vermischen können (Ridder 1974, Siegrist 19752). Aber auch für die Praxis der Sozialversicherungsmedizin läßt sich die durchschlagende Wirkung von Alltagstheorien nachweisen (Tab. 2).

385 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

Was verdankt die Medizin der Soziologie?

Tabelle 2: Von 100 Patienten der jeweiligen Altersgruppen bzw. der unter den gleichen Beurteilungsindex fallenden Versicherten wurden vorgeladen für den 1. bis 11. Tag der Arbeitsunfähigkeit bzw. für den 12. bis 30. Tag der AUF. (Quelle: C. v. Ferber 1970 b S. 215) Beurteilungsindex

I

Vorladezeit

1.–11.

II 12.–30.

1.–11.

III 12.–30.

1.–11.

12.–30.

Alter im Untersuchungsjahr 50 Jahre und älter

v. H. abs.

45,5 121

54,5 145

39,1 141

60,9 220

34,4 119

65,1 222

40 bis 49 Jahre

v. H. abs.

61,3 152

38,7 96

39,2 94

60,8 146

46,2 85

53,8 99

30 bis 39 Jahre

v. H. abs.

69,0 314

31,0 141

46,2 182

53,8 212

58,3 155

41,7 111

29 Jahre und jünger

v. H. abs.

69,3 233

30,7 103

49,5 208

50,5 212

56,8 142

43,2 108

Gesamt

v. H. abs.

62,8 820

37,2 485

44,2 625

55,8 790

48,1 501

51,9 540

Erläuterung: Der Beurteilungsindex verwertet die »Diagnosen« der Kassen­ ärzte unter zwei Gesichtspunkten: Diagnosen, die typisch zu einer frühen Vorladung führen und typisch mit einer Vertrauensärztlichen Begutachtung »arbeitsfähig« abschließen (Beurteilungsindex I). Diagnosen, bei denen das Umgekehrte der Fall ist, also späte Vorladung mit dem Ergebnis »weiterhin arbeitsunfähig« (Beurteilungsindex II). Diagnosen, die sich weder I noch II zuordnen lassen (III). Vorladezeit wird aus der Differenz zwischen 1. Tag der AUF und Tag der Vertrauensärztlichen Untersuchung gebildet. N = 3761 = Vertrauensärztlich untersuchte männliche Patienten der LVA Hannover, die zwischen 1. und 30. Tag der AUF vorgeladen wurden. Zufallsstichprobe August 1966 bis Juli 1967. Die Tabelle zeigt deutlich, daß neben der kassenärztlichen Beurteilung der Patienten (»Diagnosen«) für das Verwaltungshandeln der Krankenkassen das Alter der Patienten ein zusätzliches Entscheidungskriterium darstellt.

Ein lohnendes Untersuchungsfeld für die empirische Ausarbeitung dieser Theorie stellte sicher die Labor-Diagnostik dar, bei der eben­ falls das Fehlen von Normwerten – und damit von Außenkriterien – einen weiteren Ermessensspielraum für eine Zurechnung der Befunde auf der Dimension pathologischer – nicht pathologischer Wert eröff­ net. Ersichtlich liegt der Anwendungsbereich dieses methodischen Zugriffs bei den ärztlichen Beurteilungen oder bei den Begründun­

386 https://doi.org/10.5771/9783495998878 .

4.0 »Alltagswissen« als Quelle ärztlicher Entscheidungen

gen therapeutischer Maßnahmen, die selbst in nur sehr begrenzter Weise durch Außenkriterien kontrolliert werden und die wiederum bei den Laien aufgrund lebenspraktischer Interessen das »Anheften von Eigenschaften an Personen« (label) auslösen, weil nämlich die ärztlichen Beurteilungen in riskante Sozialbeziehungen eingreifen. Denn das Interesse an der »psychischen Auffälligkeit« oder an der »Behinderung« von Personen speist sich aus der Erwartung der Kalku­ lierbarkeit des Verhaltens, die eine Grundvoraussetzung differenzier­ ter arbeitsteiliger Vergesellschaftung bildet. Für die in die modernen stark differenzierten Vergesellschaftungsformen eingebrachte allge­ meine Erfahrung, daß der »Andere« seine Sozialrollen in gleicher Weise ernst nimmt, sie in annähernd gleicher Weise interpretiert und an dem Fortbestand des Netzwerkes sozialer Beziehungen ebenso interessiert ist wie man selber, entbehrt positiver Außenkriterien. Die Erwartung auf die »Verläßlichkeit« des Anderen ist nur durch das Fehlen gegenteiliger Anzeichen gesichert. Denn »ehrenwerte Männer sind wir alle« – solange nichts Gegenteiliges bekannt ist. Sobald aber Zweifel, zudem von der Autorität des Arztes bestätigt, bekannt werden, kann sich die latente Furcht vor Enttäuschung durch den Anderen und vor den unabsehbaren Folgen unerwarteter Situationen an einem Objekt festmachen. Personen, die sich »in unerwünschter Weise anders verhalten, als wir sie antizipiert hatten« (Goffmann 1967), werden dann zum Objekt abwertender Zuschreibungen mit der Tendenz, ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Rollenspiel zu beschrän­ ken (Thimm 1975). Die »Autorität des Arztes«, die mit dieser Anwendung des Labeling-Ansatzes zum Kristallisationskern von Zuschreibungen gemacht wird, trägt jedoch mehr an Erklärung hinein, als mit dem Hinweis des Symbolischen Interaktionismus auf die Bedeutung von »Alltagstheorien« zunächst gemeint ist. Der Autorität des Arztes, die seinen Beurteilungen, auch seinen nur alltagsweltlich gestütz­ ten Feststellungen bevorzugte soziale Geltung einräumt, entspricht die Formulierung von den »Instanzen sozialer Kontrolle«, mit der die Anhänger des Labeling-Ansatzes die unterschiedliche »soziale Geltung« von alltagsweltlichen Zuschreibungen zu fassen suchen (Hohmeier u. Brusten 1975).

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Was verdankt die Medizin der Soziologie?

5.0 Versuch einer Gewichtung Die Rollen- und die Interaktionsanalyse, wie sie die strukturell-funk­ tionale Theorie und der Symbolische Interaktionismus ermöglichen und vorbereiten, führt in Weiterverfolgung dieses Gedankens auf gesamtgesellschaftliche Analysen hinaus. Denn was verschafft den Ärzten, der Medizin die überragende Stellung in der Gesellschaft, aufgrund derer sie systemsprengende Ansprüche an das Brutto-Sozi­ alprodukt stellen? (L. v. Ferber 1974, C. v. Ferber 1975 c, Thiemeyer 1976). Hier kommen die Ergebnisse von Untersuchungen zum Tra­ gen, die Veränderungen der Sozialstruktur und des Gesellschaftssys­ tems aus dem zunehmenden quantitativen und qualitativen Gewicht von »Experten«, akademischen Berufen oder dem »Dienstleistungs­ sektor« herleiten (Bell 1974). Die Verflechtungen des Gesundheits­ budgets mit dem Sozialbudget und mit dem Brutto-Sozialprodukt (Weissenböck 1974) sowie ihre ideologische Auswertung (Illich 1975, Läpple 1975) üben auf die Veränderung der Arzt-Patienten-Beziehun­ gen gegenwärtig und in naher Zukunft sicher eine weit größere Wirkung aus als die Ergebnisse subtiler Forschungen über Kommuni­ kation und Interaktion im ärztlichen Alltag. Kehren wir nach diesen Üerlegungen zum Ausgangspunkt zurück. Die Hoffnung, den »sozio-psycho-somatischen Zusammen­ hang« mit der Panazee einer Metatheorie erhellen zu können, hat sich als leer erwiesen: Wer sich ernsthaft um Medizinsoziologie bemüht, wird sich der Differenzierung ihrer Zugriffsweisen vorur­ teilsfrei und ohne blinden Eifer stellen müssen. Auch die Erwartung, handlungsanleitende praxisnahe Rezepte geliefert zu erhalten, hat sich nicht in der Weise erfüllt, wie das bei naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen der Fall ist, die von einer bereitstehenden Zuliefer-Industrie der Medizin rasch umgesetzt werden. Wohl aber wird sichtbar, an welchen Knotenpunkten seines Alltags der Arzt eine Hilfe vom Soziologen für die kritische Bewertung seines Handelns erwarten kann. Wo steht ihm seine funktional-spezifische Arztrolle im Wege, bei welchen Krankheitsbildern ist die Kommunikation mit den Patienten erschwert, wann besteht die Gefahr, gesichertes medizi­ nisches und ärztliches Wissen zu überschreiten und sich ungeprüften Alltagstheorien zu überlassen, in welcher Weise lassen sich die Folgen einer negativen Abwertung durch ärztliche Feststellungen für die Patienten verringern, wo werden die Grenzen einer Expertenherr­ schaft überschritten und gerät die Medizin als ein gesellschaftlicher

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Schrifttum

Dienstleistungsbereich in die Gefahr, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren und der medical nemesis anheim zu fallen? Zu diesen und ähnlichen Fragen liegen soziologische Forschungsergebnisse vor, die in die ärztliche Fort-und Weiterbildung eingebracht werden können.

Schrifttum Ackerknecht, Erwin H.: Medicine and Ethnology. Selected Essays. Bern-Stutt­ gart–Wien: Huber, 1971. Ahrens, Stephan: Außenseiter und Agent. Der Beitrag des Labeling-Ansatzes für eine Theorie abweichenden Verhaltens. Stuttgart: Enke, 1975. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1. Symbolischer Interaktionismus und Eth­ nomethodologie. Bd. 2. Ethnotheorie und Ethnographie des Sprechens. Reader Sozialwissenschaft, Reinbek: Rowohlt, 1973. Bell, Daniel: The coming of post-industrial society. London: Heinemann, 1974. Brandenburg, Alois Günter: Systemzwang und Autonomie. Gesellschaft und Persönlichkeit in der soziologischen Theorie von Talcott Parsons. Düsseldorf: Bertelsmann, 1971. Braun, Robert N.: Lehrbuch der ärztlichen Allgemeinpraxis. München–Berlin– Wien: Urban & Schwarzenberg, 1970, S. 127 ff. Dahrendorf, Ralf: Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Opladen: Westdeutscher Verlag, 197110, 197414. Eggstein, M.: Bewertung von Felduntersuchungen mit internmedizinischen Maßstäben. In: Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Präventivmedizin, 8: 10– 15 (1973). Engelhardt, K., A. Wirth u. L. Kindermann: Kranke im Krankenhaus. Gren­ zen und Ergänzungsbedürftigkeit naturwissenschaftlich-technischer Medizin. Stuttgart: Enke, 1973. v. Ferber, Christian: Aufgaben und Möglichkeiten der Epidemiologie. In: P. Waibel u. L. K. Widmer, Epidemiologie kardiovaskulärer Krankheiten. Bern– Stuttgart–Wien: Hans Huber, 1970 a, 11–17. v. Ferber, Christian: Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin. In: Arbeitsme­ dizin, Sozialmedizin, Arbeitshygiene, 5: H. 8, 213–217, August 1970 b. v. Ferber, Christian, L. v. Ferber, K. Kohlhausen u. H. Silomon: Die Aussagefähig­ keit der kassenärztlichen Begründungen der Arbeitsunfähigkeit für Analyse von Krankenständen. In: Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Arbeitshygiene, 7: H. 1, 1–7, Januar 1972. v. Ferber, Christian: Medizin und Sozialstruktur. In: Handbuch der Sozialmedi­ zin, Bd. I. Stuttgart: Enke, 1975 a, 261–300. v. Ferber, Christian: Soziologie für Mediziner. Berlin–Heidelberg–New York: Springer, 1975 b.

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Schrifttum

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Kommunales Gesundheitswesen – eine historische Erinnerung oder ein zukunftsfähiges Konzept?

Weiterentwicklung des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung oder Neuorientierung der Strukturpolitik? In der öffentlichen Diskussion ebenso wie in den Diskursen der gesundheitspolitischen Experten über die Strukturreform des Ge­ sundheitswesens werden zwei Sichtweisen nicht klar geschieden. Geht es um eine Weiterentwicklung der Gesetzlichen Krankenversi­ cherung und – im einzelnen – der von ihr finanzierten Infrastruktur, der von dieser erbrachten Leistungen und den von der Gesetzlichen Krankenversicherung verantworteten gesellschaftlichen Aufgaben? Oder steht eine Neuorientierung der Strukturpolitik in Rede, die alle Träger der Gesundheitspolitik, also auch die Bundesländer und die kommunale Selbstverwaltung, neben der Gesetzlichen Krankenversi­ cherung einbezieht? Diese Zweiteilung der gesundheitspolitischen Sichtweisen ent­ spricht der Zuständigkeitsverteilung nach dem Grundgesetz. Der Bund besitzt gesundheitspolitische Zuständigkeit nur für die Sozi­ alversicherung, während die Bundesländer für alle darüber hinaus liegenden gesundheitspolitischen Bereiche die Verantwortung tragen. Solange die gegenseitige Abhängigkeit der auf diese Weise getrenn­ ten gesundheitspolitischen Aufgaben in der Sache kein Problem darstellte, konnte man auf konzeptionelle Überlegungen verzichten, auf welche Weise die Krankenversicherungspolitik des Bundes mit der Gesundheitspolitik von Ländern und Gemeinden miteinander ver­ knüpft werden sollte. Ungereimtheiten der Zuständigkeitsverteilung brauchten nicht thematisiert zu werden und konnten im Sinne einer »friedlichen Koexistenz« den Gesundheitspolitikern als Gegenstand ihres Nachdenkens erspart bleiben.

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Kommunales Gesundheitswesen

Zu den offensichtlichen Ungereimtheiten in der Zuständigkeits­ verteilung gesundheitspolitischer Aufgaben gehörte – um nur die wichtigsten hier zur Veranschaulichung zu nennen – die Trennung von primärer und sekundärer Prävention, die Krankenversicherung der Rentner, denn diese fallen aus dem Paritätsmodel! von Arbeit­ nehmer- und Arbeitgeberbeiträgen, aber auch aus der paritätischen Selbstverwaltung heraus –, die Legitimation von Entscheidungen durch Verbände in der Gesetzlichen Krankenversicherung im Unter­ schied zu der Legitimation durch demokratische Wahlen zu den Länder- und Gemeindeparlamenten, der Sicherstellungsauftrag für die stationäre Versorgung in der Aufteilung der Verantwortung für die Infrastruktur und für die Betriebskosten, soweit sie für die Versi­ cherten von den Krankenkassen getragen werden, die Gesundheitsbe­ richterstattung, die wegen ihres epidemiologischen Bevölkerungsbe­ zuges regional organisiert und wegen des Interessenbezuges neutral ausgewertet werden sollte, aber keinen entsprechenden Zugang zu den Leistungsdaten der Gesetzlichen Krankenversicherung erhält, die sozialrechtliche Zielvorgabe für die Gesetzliche Krankenversi­ cherung, sie enthält einmal sozialstaatliche Verbürgungen für die »Versorgung der Versicherten«, die über das Sozialstaatsgebot verfas­ sungsrechtlich geschützt sind, auf der anderen Seite Zielvorgaben wie die »Beitragsstabilität« und die »Einkommenssicherung der Leis­ tungserbringer«, die nur im Rahmen des verfassungsrechtlich nicht geschützten Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung gelten, etc. – die Liste der Ungereimtheiten lässt sich unschwer verlängern! Nun könnte man mit dieser Analyse die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Schließlich ist es Sache der Politiker, mit Ungereimt­ heiten zu leben und zu überleben, wenn nicht zwei Entwicklungen auf eine Auseinandersetzung mit Strukturfragen des Gesundheitswe­ sens und nicht nur mit denen des Systems der Gesetzlichen Kran­ kenversicherung drängen würden. Auf die Dauer können auch die hartnäckigsten Verfechter der These, mit einer Weiterentwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung ließen sich deren Probleme ohne Qualitätsverluste lösen, nicht umhin, zuzugestehen, dass Ver­ sicherte und Bürger endlich einmal Erfolge dieser seit einem Vier­ teljahrhundert betriebenen Politik der ständigen Weiterentwicklung der Krankenversicherung sehen möchten. Die Strukturreform der Gesetzlichen Krankenversicherung ist inzwischen zu einem die Legis­ laturperioden überdauernden Thema geworden. Die Forderung, von der die gesundheitspolitische Denkrichtung der ständigen »Weiter­

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Weiterentwicklung des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung

entwicklung« lebt, den Krankenkassen mehr Macht gegenüber den Leistungsanbietern, also gegenüber den Krankenhäusern, der Phar­ maindustrie, den Kassenärztlichen Vereinigungen, Wissenschaftsund Sozialministerien der Länder, einzuräumen, übersieht, dass die Erfüllung dieser Forderung die Krankenkassen zu einem Staat im Staate machen würden, dem neben der demokratischen Legitimation durch allgemeine Wahlen zudem ein weiteres essenzielles Merkmal, die (Interessen-)Neutralität, fehlen würde. Der gegenwärtige gesund­ heitspolitische Einfluss des Systems der Gesetzlichen Krankenver­ sicherung ist das Äußerste, was sich auch angesichts des ständig wachsenden finanziellen Volumens, das die Krankenkassen verwal­ ten, ein demokratischer Rechtsstaat leisten kann. Insofern laufen die Forderungen nach Ausweitung des finanziellen und gesundheitspoli­ tischen Handlungsspielraums der Krankenkassen zur Sicherung der Beitragsstabilität, zudem zu einer nicht sachlich, sondern dezisionis­ tisch begründeten politischen Vorgabe, ins Leere. Zum andern ist der Zielkonflikt im System der Gesetzlichen Krankenversicherung unübersehbar. Zu den sozialstaatlichen Ver­ bürgungen und damit zu den verfassungsrechtlich geschützten Auf­ gaben der »Versorgung« – diese soll bedarfsgerecht, gleichmäßig, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Kenntnisse entsprechend, ausreichend, zweckmäßig, wirksam und human sein1 – geraten die GKV-spezifischen politischen Ziele der »Beitragsstabi­ lität« und »die angemessene Vergütung der Leistungserbringer« in einen immer schärferen Dauerkonflikt. Starke Interessengruppen, wie Arbeitgeber, aber auch Einzelgewerkschaften sowie parteipoli­ tisch übergreifende Positionen der Bundesländer schreiben die Vorga­ ben der Beitragsstabilität sowie das Angebot an Leistungserbringern (Ärzten, Krankenhäusern) sowie deren Vergütung (Interessenver­ bände) fest. Sie erhöhen damit den politischen Preis für eine bei den Ursachen der finanziellen Dauerkrise des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung ansetzenden gesundheitspolitischen Strategie. Wolfgang Gitter hat in seinem Sondergutachten für den Sachver­ ständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, auf das wir uns hier beziehen, diesen Zielkonflikt von Versorgung, Wirt­ schaftlichkeit und angemessener Vergütung der Leistungserbringer 1 Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Gesund­ heitsversorgung und Krankenversicherung 2000. Sondergutachten 1995 BadenBaden: Nomos 1995; Tz. 63 u. 64.

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Kommunales Gesundheitswesen

zutreffend als ein »Magisches Dreieck«, also als einen rational nicht lösbaren Zielkonflikt, bezeichnet.

Die Gesundheitsreform 1969–1976 der ersten sozialliberalen Koalition war ein gesellschaftspolitisches Experiment – mehr nicht! Den Gesundheitspolitikern geben die Entscheidungen von gestern die aktuellen Probleme vor. Es sind genau drei Jahrzehnte vergangen, seit die erste sozialliberale Koalition die Position der Gesetzlichen Krankenversicherung grundlegend neu bestimmte. Diese wurde 1969 durch das Lohnfortzahlungsgesetz von den Krankengeldzahlungen während der ersten sechs Wochen entlastet. Ihr Leistungsrahmen erweiterte sich um die Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen (also um die sekundäre Prävention). Die Krankenkassen übernahmen die Kostendeckung für die stationäre Behandlung ihrer Versicherten in den Krankenhäusern der Akutversorgung. Und sie gingen mit der Krankenversicherung der Rentner einen »Generationenvertrag« ein. Absehbar war auch zu diesem Zeitpunkt, dass die wichtigste Therapie des niedergelassenen Arztes, die Arzneitherapie, ein kaum kalkulierbares und schwer zu beeinflussendes finanzielles Risiko zu Lasten der Krankenkassen enthielt. Die finanzielle Überforderung des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung zeigte sich bereits am Ende dieser ersten Strukturreform des GKV-Systems 1976, als die Spitzenverbände der Krankenkassen in einer gemeinsamen Erklä­ rung vom Gesetzgeber eine »einnahmeorientierte Ausgabenpolitik« einforderten2 – allerdings mit dem wichtigen Zusatz, dass diese fiskalische Notmaßnahme durch intelligentere und sachgerechtere Lösungen ersetzt werden sollte. Verfassungsrechtlich gesehen erfüllte die gesundheitspolitische Strukturreform 1969 (Lohnfortzahlungsgesetz) bis 1976 (Weiter­ entwicklungsgesetz) den Verfassungsauftrag einer umfassenden Gesundheitssicherung, wie sie nunmehr – ebenfalls ein Gesetzesvor­ haben der sozialliberalen Koalition – im Sozialgesetzbuch verbürgt Gemeinsame Erklärung der Sozialpartner vom 21.4.1976. Nachweise s. von Ferber, Chr, Soziale Krankenversicherung im Wandel – Weiterentwicklung oder Strukturreform. WSI Mitteilungen. 10/1985; 38. Jg: S. 584. 2

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Die Gesundheitsreform 1969––1976 der ersten sozialliberalen Koalition

wird. Die Argumente dafür, zur Erfüllung des Sozialstaatspostu­ lats eines »Rechts auf Gesundheit« sich vorzugsweise der Gesetzli­ chen Krankenversicherung zu bedienen, war freilich dezisionistischer Natur; sie entsprachen Erwägungen einer politischen Opportunität. Rückblickend wird man zugestehen müssen, dass vermutlich auf keine andere Weise als durch die Gesetzgebung des Bundes eine ein­ heitliche Gesundheitsversorgung für die Versicherten hätte erreicht werden können. Ferner wurde auf diesem Wege über die Sozialversi­ cherungsbeiträge der Einkommenszuwachs einer wachsenden Wirt­ schaft unmittelbar und zweckgebunden in das durch den Krieg und die Kriegsfolgen zerrüttete und durch die Gesetzgebung der 50er und 60er Jahre unterfinanzierte Gesundheitswesen geleitet. Prinzipi­ ell aber standen andere Konstruktionen offen, mit denen die vorhin erwähnten Ungereimtheiten zumindest zum Teil hätten vermieden werden können, zum Beispiel die Krankenversicherung der Rentner als einen eigenen Versicherungszweig mit einer anderen Beitragsund Leistungsgestaltung auszustatten oder für die Finanzierung der Krankenhäuser nach »intelligenten« Lösungen zu suchen.3 »Intelligentere Lösungen« sind freilich keine Alternativen, son­ dern streben eine sinnvollere Zuständigkeitsverteilung und – auf dieser Grundlage – eine Gesamtverantwortung in der Gesundheits­ politik an. Ihr Kriterium ist eine Entlastung des Systems der Gesetz­ lichen Krankenversicherung von Aufgaben und Funktionen, für die es aufgrund seiner Struktur weniger geeignet ist als andere Träger, zum Beispiel in der primären Prävention, in der Gesundheitsbericht­ erstattung oder in der patientenbezogenen, an Gesundheitszielen orientierten Koordination gesundheitlicher Dienstleistungen etc. Wer eine Beschneidung des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Kranken­ versicherung auf eine Grundsicherung oder eine Priorisierung ver­ meiden und gleichzeitig die Beitragsstabilität, das heisst die einnah­ meorientierte Ausgabenpolitik, beibehalten möchte, kann letztlich der folgenden Überlegung nicht ausweichen. Funktionen und Aufga­ ben des Verfassungsauftrages der Gesundheitsversorgung sind im Rahmen einer »Gesamtverantwortung« (Alfred Schmidt), das heisst unter Einbeziehung der Zuständigkeit aller nach der Verfassung Krankenhausfinanzierung in Selbstverwaltung, z. B. Robert Bosch Stiftung. Teil I Kommissionsbericht. Beiträge zur Gesundheitsökonomie 20. Gerlingen (Bleicher) 1987. Teil II Verfassungsrechtliche Stellungnahmen. Beiträge zur Gesundheitsökono­ mie 21 Gerlingen (Bleicher). 1990.

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legitimierten Gebietskörperschaften, neu zu ordnen.4 Die derzeitig politisch vorherrschende Tendenz, das System der Gesetzlichen Kran­ kenversicherung mit weiteren, zum Teil kostenträchtigen Funktionen (z. B. monistische Krankenhausfinanzierung) zu überladen oder ihm Aufgaben zu übertragen, für die es von der Sache her weniger geeignet ist als andere Träger (z. B. Primärprävention), erliegt einem Wunsch­ denken.

Argumente für eine Stärkung kommunaler gesundheitspolitischer Verantwortung – ein historischer Rückblick Überlegungen, die dahin gehen, die kommunale Selbstverwaltung als Träger der Gesundheitspolitik ins Spiel zu bringen, sind nicht erst seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten aktuell. Erin­ nert sei an die »Sozialgemeinde« (1957), an die »Selbstverwaltung der medizinischen Versorgung« (1975) und an die »Gesundheitli­ che Selbstverwaltung« (1985) der SPD5. Diese ordnungspolitischen Konzeptionen begleiten die Gesundheitsreform der sozialliberalen Koalition; sie sind darauf gerichtet, die damals bereits erkennbaren Risiken der Gesundheitsreform der ersten sozialliberalen Koalition zu entschärfen – sie waren allerdings nicht nur in der Koalition, sondern auch in der SPD nicht mehrheitsfähig und hatten nach dem Regierungswechsel keine Chance. Es spricht heute vieles dafür, dass sie inzwischen in der eigenen Partei in Vergessenheit geraten sind! Als Vorschlag jedoch, die dysfunktionale gesundheitspolitische Zuständigkeitsverteilung innovativ und dynamisch zu überwinden, besitzen sie nach wie vor aktuelles Interesse. Die Prinzipien der Regionalisierung eines Managements der gesundheitlichen Versorgung, verbunden mit einem epidemiologi­ schen Bevölkerungsbezug für Assessment (Gesundheitsberichter­ stattung) und Evaluation (Kontrolle der Zielerreichung gesundheits­ 4 Schmidt A. Aufgaben eines Krankenversicherungssystems in der Rehabilitation. Gutachten für die Enquete-Kommission »Strukturreform der gesetzlichen Kranken­ versicherung« des Deutschen Bundestages. Düsseldorf 1989. 5 von Ferber C. Wird der sozialpolitische Handlungsspielraum der Sozialen Selbst­ verwaltung ausgeschöpft? In: Bosdorf U, Hemmer HO, Leminsky G, Markmann H. Gewerkschaftliche Politik: Reform aus Solidarität zum 60. Geburtstag von Heinz O. Vetter herausgegeben. Köln: Bund-Verlag 1977; S. 373–392.

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Argumente für eine Stärkung kommunaler gesundheitspolitischer Verantwortung

politischer Interventionen), erfahren neuerdings eine überraschende Unterstützung durch die historische Forschung. In der Beschäftigung mit der Geschichte des modernen Gesundheitswesens, die unlösbar mit den gesellschaftlichen Prozessen der Industrialisierung und Urba­ nisierung verbunden ist, können wir drei Interessenrichtungen aus­ machen: – – –

Die sorgfältig dokumentierte Beschreibung dessen, was wirk­ lich war, die Interpretation dessen, was aus der Sicht der handelnden Personen gemeint war im Blick auf realisierte und nicht reali­ sierte Entwicklungspotenziale, die Positionsbestimmung der heute Lebenden und Handelnden, die aus der Geschichte für die Zukunft lernen wollen.

Wer aus der Geschichte des kommunalen Gesundheitswesens für eine innovative Gesundheitspolitik lernen will, stößt auf zwei heraus­ ragende Arbeiten: – –

Beate Witzler, Großstadt und Hygiene (1995)6 Richard J. Evans, Tod in Hamburg (1990)7

Folgen wir diesen beiden Autoren, so können wir Folgendes feststel­ len. Das Gesundheitswesen der Städte, insbesondere das der im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert rasch wachsenden Städte, hat die Strukturbildung des heutigen Gesundheitswesens wesentlich beeinflusst. Das Gesundheitswesen der Städte hat die Zielvorstellun­ gen des – wie wir heute sagen würden – westeuropäischen Modells der gesundheitlichen Versorgung8 geprägt, sie erstmals erprobt und zu ihrer Institutionalisierung beigetragen. Diese Leistungen des kom­ munalen Gesundheitswesens werden in der Geschichte der Sozial­

Witzler B. Großstadt und Hygiene. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch-Stiftung. Stuttgart: Steiner 1995; Beiheft 5. 7 Evans RS (Original-Ausgabe: Death in Hamburg. Oxford University Press 1987). Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910. Reinbek: Rowohlt 1990. 8 von Ferber C, Laaser U. Lützenkirchen A. Gesundheit, Gesundheitswissenschaften, Gesundheitssicherung. Homfeldt HG u.a. Gesundheit, Strukturen und Handlungs­ felder. Neuwied: Luchterhand 2000; 2: S. 1–30. 6

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Kommunales Gesundheitswesen

versicherung selten anerkannt.9 Das hat Folgen für unser heutiges Verständnis des Gesundheitswesens sowie für die Perspektiven sei­ ner Strukturreform. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang fünf Gesichts­ punkte: – –





»Seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts (gingen) die entschei­ denden gesundheitspolitischen Initiativen und deren praktische Verwirklichung von den Städten aus« (6, S. 93). Es gibt gesundheitspolitisch in den Städten »eine klare Tendenz zur allmählichen Ablösung der traditionellen, eher ad hoc reagie­ renden Eingriffsverwaltung durch eine planerische und aktiv handelnde Leistungsverwaltung« (ebd., S. 93). »Folgt man ... dem zeitgenössischen Begriff der öffentlichen Gesundheits­ pflege, so wurden letztlich alle menschlichen Lebensbereiche in der städtischen Umwelt als gesundheitspolitisch relevant beur­ teilt« (ebd., S. 100). Daraus folgt Schutz, Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit sind öffentliche Aufgaben und von der Fürsorge nicht zu trennen. Dabei sind zwei Aspekte eng miteinander verknüpft: Gesund­ heitliche Gefahren bleiben nicht auf Sozialgruppen beschränkt (der Einzelne, gleich welcher Einkommens- oder Soziallage kann sich aus eigener Kraft nur in Grenzen schützen), jedoch sind spezifische Gruppen stärker betroffen, die folglich auch eines intensiveren öffentlichen Schutzes bedürfen. Es führt daher zur Verzerrung des verfassungsrechtlichen Auftrags einer umfassen­ den Gesundheitssicherung, sie organisatorisch und funktional zu trennen. Kommunale Gesundheitspolitik musste sich auch in dieser Peri­ ode ihrer größten Selbständigkeit und verbunden mit ihrer für die Struktur des Gesundheitswesens innovativen Rolle mit gesetzlichen Vorgaben arrangieren. Denn »die Stadtverwaltun­ gen (unterlagen) in ihrer Entscheidungsfreiheit in Angelegen­ heiten der öffentlichen Gesundheitspflege gesetzlichen Ver­ pflichtungen, da sie zugleich die unterste Stufe in der staatlichen Verwaltungshierarchie bildeten« (ebd., S. 93).

Tennstedt F. Sozialgeschichte der Sozialversicherung. Blohmke M, von Ferber Chr, Kisker KP, Schaefer H. Handbuch der Sozialmedizin, Bd. III Sozialmedizin in der Pra­ xis. Stuttgart: Enke 1976; S. 385–492. 9

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Argumente für eine Stärkung kommunaler gesundheitspolitischer Verantwortung



Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Gesund­ heitspolitik. In den Städten wurde nach dem Vorbild Englands (boards of health) und Frankreichs Gesundheitskommissionen eingerichtet (6, S. 102 ff.). Zu den Mitgliedern gehörten Fach­ leute, wie Ingenieure (Trinkwasserversorgung und Kanalisation) und Ärzte (»Hygieneexperten«) (6, S. 110 ff.), also nicht nur Ver­ waltungsbeamte oder Kommunalpolitiker. Diese Kommissionen arbeiteten unabhängig und hatten einen erheblichen Einfluss, obwohl ihnen exekutive Funktionen fehlten. Wir treffen hier auf Einrichtungen, die offensichtlich aus einer ähnlichen Problem­ lage heraus – an die Stelle der Infektionskrankheiten tritt die Herausforderung durch chronische Krankheiten – mit den Kom­ munalen Gesundheitskonferenzen wieder aktuell zu werden beginnen.

Stadtverwaltungen konnten gesundheitspolitisch allerdings eines nicht leisten: ein flächendeckendes, gleichmäßiges und bedarfsge­ rechtes Dienstleistungsangebot vorzuhalten. Die Erfüllung solcher Ansprüche sichert einem System Sozialer Sicherung unter der Kom­ petenz der Zentralregierung, heute des Bundes (gleich, ob in der Form der Sozialversicherung oder in der eines Nationalen Gesund­ heitsdienstes), den Vorrang vor dezentralen Lösungen. Seine Ver­ wirklichung hatte freilich – rückblickend gesehen – ihren Preis. Einmal setzt es einen aus der Sicht der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg gesehen, eine unvorstellbare Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivi­ tät und des Realeinkommens voraus. In der Bundesrepublik war es allererst der gesundheitspolitischen Gesetzgebung (1969 bis 1972) wirtschaftlich möglich und politisch durchsetzbar, die Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung einschließlich eines Teils der Prä­ vention und seit 1990 auch die der Pflege den Krankenkassen zu über­ tragen. Zum anderen entwickelt ein System Sozialer Sicherheit aus seiner Eigendynamik heraus unter der Hand eine Struktur, die indivi­ duelle Gestaltungsspielräume einengt und damit letztlich in Konflikt zu den personenbezogenen Aufgaben persönlicher Dienstleistungen geraten muss. Überdies entsteht mit der Zentralisierung der Entschei­ dungen ein Legitimationsdefizit im Verhältnis zu den Betroffenen. Die aktuelle Frage nach der Beteiligung von Bürgern und Patienten an gesundheitspolitischen Entscheidungen stellt sich nicht aufgrund

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eines gewachsenen Selbstbewusstseins von Patienten und Bürgern oder wegen partizipationsfreundlicher politischer Parteien, sondern dieses Problem bezeichnet eine Strukturfrage des Systems selbst.10 Hans Achinger, einer der Mitbegründer des sozialpolitischen Systems in der Bundesrepublik nach der nationalsozialistischen Diktatur, cha­ rakterisiert das System Sozialer Sicherheit durch seine immanenten Tendenzen der Verrechtlichung, der Bürokratisierung sowie der Ablö­ sung persönlicher Dienstleistungen durch Geldleistungen bzw. ihre gesundheitspolitische Steuerung durch monetäre Anreize (»Mone­ tarisierung«)11. Während die Verrechtlichung und die Bürokratisie­ rung der persönlichen Dienstleistungen unmittelbar anschaulich in dem Jahrhundertwerk des Sozialgesetzbuches und der permanenten Gesetzgebungsarbeit sowie in den Körperschaften und Verbänden der Sozialversicherung den Bürgern bzw. den Versicherten begegnen, beginnt die Tendenz zur Monetarisierung des Dienstleistungsver­ kehrs mit dem Aufstieg der Gesundheitsökonomie zur Leit- und Steuerungswissenschaft im Gesundheitswesen, für die Bürger bzw. Versicherten sichtbar und als »Rationierung« oder »Priorisierung« von Leistungen spürbar zu werden.12 Die von Achinger herausgearbeiteten drei strukturimmanenten Tendenzen manifestieren sich im Bewusstsein von Dienstleistungs­ berufen, Bürgern, Versicherten und Patienten als überindividuelle, dem persönlichen Einfluss zunehmend unzugängliche und anonyme Kräfte, die den Charakter der persönlichen Dienstleistungen prägen und verfremden. Als symptomatisch für den systembedingten Wan­ del ärztlicher und pflegerischer Dienstleistungen kann die Tatsache gewertet werden, dass der Gesetzgeber sich genötigt sah, die Huma­ nität der Krankenbehandlung (§ 70 Abs. 2 SGB V) und die Achtung der Menschenwürde in der Pflege (§ 2 Abs. 1 und § 11 Abs. 1 SGB XI) einzufordern. Wenn wir uns aufgrund solcher Erfahrungen mit einem zentral geleiteten und über Großorganisationen mehr verwalteten als »gema­ 10 Bogs H, von Ferber C. infas Soziale Selbstverwaltung, Bd. 1 Aufgaben und Funk­ tionen der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung o. (1976). Tennstedt F. Bd. 2. Geschichte der Selbstverwaltung. 11 Achinger H. Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Frankfurt: Eigenverlag Deut­ scher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge 1979; 3. Aufl. 12 Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihrer Grenzgebiete (Zentrale Ethikkommission). Prioritäten in der medizinischen Versor­ gung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Müssen und können wir uns entscheiden? Deutsches Ärzteblatt 97. Jg. 2000; Heft 15: S. 1017–1023.

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nagten« System gesundheitlicher Dienstleistungen auf die innova­ tiven Konzepte des kommunalen Gesundheitswesens im 19. Jahr­ hundert zu besinnen beginnen, dann sollten wir dabei allerdings drei seiner Eigenschaften nicht zu gering einschätzen. Kommunale Gesundheitspolitik war Querschnittspolitik, sie bezog alle Politikbe­ reiche ein. Sie war eine aktiv handelnde Leistungsverwaltung, die eine koordinierte oder integrierte Planung betrieb, sich also nicht auf sektorale Teilplanungen beschränkte. Und sie stand noch diesseits einer Trennung von Versicherung und Fürsorge. Soziale und gesund­ heitliche Benachteiligungen mussten nicht über sozialepidemiologi­ sche Argumentationen als Kehrseite der gleichen Medaille wieder »entdeckt« werden.

Welche Konsequenzen hat eine solche historische Erinnerung? Was können wir aus einer Besinnung auf die innovativen Konzepte städtischer Gesundheitspolitik für die Zukunft lernen? Zwar führt kein Weg in das kommunale Gesundheitswesen, wie es von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933 modellbildend Bestand gehabt hat, zurück, aber wir sollten von seiner Konzeption aus Wege über das zentral verantwortete, von der Sozialversicherung dominierte Gesundheitswesen hinaus bahnen. Dazu ist es hilfreich, zunächst seine Defizite zu benennen, für die eine regionale Verant­ wortung Abhilfe zu geben verspricht. Ohne Anspruch auf Vollstän­ digkeit zu erheben, kommt eine solche Auflistung auf eine stattliche Reihe von Themen. Es fehlt an einer alle gesundheitspolitisch relevanten Dienstleis­ tungsbereiche einbeziehenden Politik – die »gesundheitspolitische Gesamtverantwortung«, die Alfred Schmidt13 nicht müde wurde ein­ zufordern –, ist nicht gegeben, stattdessen manifestieren sich bei all­ fälligen Reformvorhaben latente Konflikte zwischen Bund und Bun­ desländern, Bundesländern und Kommunen, Gebietskörperschaften und Sozialverbänden. Kommission »ÖGD 2000« Reform des Öffentlichen Gesundheitsdienstes NRW. Notwendigkeit und Perspektiven. Schlussbericht. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Düsseldorf.

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Kommunales Gesundheitswesen

Es mangelt an einer institutionellen Grundlage für die Formu­ lierung von umsetzungsfähigen Versorgungszielen und deren Priori­ sierung. Die ungeklärte Situation in der Zielbestimmung fördert die Konzentration des gesundheitspolitischen Interesses auf die nachhal­ tige Finanzierbarkeit der Sozialhaushalte unter Vernachlässigung der inhaltlichen Fragen, die die Versicherten interessieren. Die sektorale Gliederung der Versorgungsbereiche schließt eine notwendige integrierte Gesundheitsplanung aus, ja, die sektoralen Planungen verschärfen Konkurrenz und Konflikte unter den Versor­ gungsbereichen und führen nicht zu dem angestrebten Leistungs­ wettbewerb oder der zielbezogenen und wirtschaftlichen Allokation der Ressourcen. Die Frage nach der Einhaltung der »Gleichmäßigkeit der Versor­ gung« oder – anders gesagt – nach der Befolgung des Diskriminie­ rungsverbots, also eines der essenziellen Standards der Versorgung, richtet sich überwiegend auf die Ungleichheit in den sozialen und kulturellen Lebensbedingungen der Versicherten und spart die in den strukturellen Mängeln des Gesundheitswesens liegenden Einflüsse aus, obwohl deren Aufzählung zu einer langen Liste gravierender Disparitäten führt: die Trennung von Sozialhilfe und Versicherung (z. B. Wohnungslose – grundsätzlich das Fehlen einer nachgehenden medizinischen Versorgung), die Trennung von hausärztlicher und pflegerischer Versorgung, die Trennung von primärer und sekundärer Prävention, die Trennung von öffentlichem Gesundheitsdienst und medizinischer Versorgung nach SGB V und pflegerischer Versorgung nach SGB XI, die Trennung von vertragsärztlicher ambulanter Ver­ sorgung und stationärer medizinischer Versorgung etc. Diese man­ gelnde Reflexion der sozialethischen Konsequenzen aus der Organi­ sation des Gesundheitswesens kontrastiert offensichtlich zu den öffentlichen, inzwischen sogar die Parlamente einbeziehenden bio­ ethischen Diskursen und ist symptomatisch für eine fehlende Distanz der Politik zu den Strukturfragen des Gesundheitswesens. Sie ist unschwer aus den Standardwerken zu Public Health abzulesen, die entweder auf ethische Bezüge überhaupt verzichten oder sie in einer realitätsfernen Abgehobenheit präsentieren. Die unklare Positionierung der wissenschaftlichen Politikbera­ tung schöpft das Potenzial der Gesundheitswissenschaften, die sich als wissenschaftliche Verantwortung für Public (und nicht für private or particular) Health verstehen, nicht aus. Zwar gibt es einen Sach­ verständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen,

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und es gibt Beratergremien auf der Ebene der Bundesländer, zum Teil landeseigene Institute für die wissenschaftliche Unterstützung der Gesundheitspolitik, ferner haben sich die verschiedenen Inter­ essenverbände wissenschaftliche Institute zugelegt; das Statistische Bundesamt und das Robert Koch-Institut organisieren eine kontinu­ ierliche Gesundheitsberichterstattung auf Bundesebene etc., jedoch der Beratungsauftrag aller dieser Einrichtungen, vor allem die Wirk­ samkeit ihrer Vorschläge, leiden unter den eingangs genannten unter­ schiedlichen Sichtweisen von gesundheitspolitischer Verantwortung, der Verkürzung der Perspektive auf die Probleme der Gesetzlichen Krankenversicherung und die Vernachlässigung die Strukturfragen, die sich aus dem Fehlen einer Gesamtverantwortung für das Gesund­ heitswesen zwangsläufig ergeben. Die Anwendung des »allgemein anerkannten Standes der medi­ zinischen und medizinisch-pflegewissenschaftlichen Erkenntnisse«, aber auch die Durchführung kommunaler Gesundheitskonferenzen, richten inzwischen spezifische Anforderungen an Gesundheitsma­ nagement und Gesundheitspolitik als Beruf. Die Organisation von Qualitätssicherung, Gesundheitsplanung und die Organisation einer sektorübergreifenden Zusammenarbeit verlangen eine spezifische Kompetenz. Sie kann mit der Aus-und Weiterbildung in den Basisbe­ rufen des Gesundheitswesens nur unzureichend vermittelt werden, solange nicht geklärt ist, ob es sich bei der Anwendung dieser Erkennt­ nisse um die methodisch-theoretische Unterstützung der spezifischen Interessen von verschiedenen Trägern der Gesundheitspolitik han­ delt, also um eine im Feld konkurrierender Interessen zu leistende Verwertung von wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen oder um deren interessenneutralen Einsatz. Allzu leichtfertig wird die unaus­ weichliche Konsequenz aus der Forderung nach anwendungsbezoge­ ner Wissenschaftlichkeit übersehen, dass nämlich Anwendungsbezug ohne Wertorientierung zur Beliebigkeit verführt bzw. blind macht. Die Mitbestimmung der Betroffenen im Gesundheitswesen ent­ spricht nicht den Standards, die im Zuge der Demokratisierung der Gesellschaft in anderen Bereichen der Gesellschaft gesetzt wurden; vor allem aber ist ihre Verwirklichung den spezifischen Bedingungen nicht angemessen, unter denen gesundheitliche Dienstleistungen nachgefragt und erbracht werden. Wohlgemerkt, es geht nicht um die Mitbestimmung der Dienstleistungsberufe – sie ist ausreichend verbandlich organisiert und in den Personalvertretungsgesetzen gere­ gelt. Bei der Mitbestimmung Betroffener geht es um eine öffent­

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Kommunales Gesundheitswesen

lich verantwortete Ordnung ausreichender Handlungs- und Entschei­ dungsspielräume, innerhalb derer Patienten, Klienten, Versicherte und Bürger auf die Bereitstellung gesundheitlicher Dienstleistungen Einfluss nehmen können. Die Menschen, die auf ärztliche Behand­ lung, medizinische Versorgung und Pflege, deren professionelle Qua­ lität und individuelle Angemessenheit u. U. existenziell angewiesen sind, müssen auf die personellen, organisatorischen und technischen Bedingungen dieser Dienstleistungen einwirken können. Die Einflussnahme muss sowohl individuell für die unmittelbar Beteiligten oder für sachverständige und engagierte Bürger gesichert, als auch kollektiv für die Zusammenschlüsse oder Verbände garantiert sein, die durch die Mitgliedschaft Betroffener legitimiert sind. Rechts­ schutz und Konsumentenrechte sind notwendig, aber reichen für eine adäquate Vertretung der Bedürfnisse der Betroffenen ebensowenig aus wie die Soziale Selbstverwaltung der Sozialversicherung, die aus ihrer Konstruktion heraus z. B. gerade diejenigen unterrepräsentiert, die am stärksten von den Dienstleistungen des Systems abhängig sind. Die Interessenverbände von Patienten dagegen repräsentieren unter 10 %, überwiegend unter 5 %, der jeweils Betroffenen und damit ein stark eingeschränktes Spektrum an Meinungen und Bedürfnissen. Es stellt sich daher zu Recht die Frage, ob das demokratische Prinzip der Willensbildung über politische Parteien und Interessenverbände, auf die sich die Entscheidungsstruktur der repräsentativen Demokra­ tie gründet, eine ausreichende Vertretung der Bedürfnisse von Betrof­ fenen im Gesundheitswesen überhaupt gewährleisten kann. Schwierigkeiten für eine Willensbildung Betroffener bereitet bereits die adäquate sprachliche Konkretisierung dessen, was mit »Betroffenheit« angesprochen sein soll. Das Spektrum reicht von dem auf intensive und individualisierte, aber zugleich auch umfassende Behandlung aktuell Angewiesenen bis zudem gesundheitspolitisch interessierten und engagierten Bürger. In diesem breiten Spektrum der Bedürfnisse nach Mitbestimmung kann es durchaus eine Kumula­ tion von persönlichen Merkmalen geben, die begrifflich der »Betrof­ fenheit« zugerechnet werden sollten. Gängige Bezeichnungen, wie Versicherte, Nutzer, Konsumenten (jeweils auch in der weiblichen Form), ehrenamtlich bzw. bürgerschaftlich Engagierte (meist mit dem Zusatz »freiwillig«), zeigen nicht nur Verlegenheit an, sondern decken allenfalls spezifische, eher ökonomisch motivierte Aspekte des Bedürfnisspektrums ab. Vor allem aber schließen sie jedenfalls in der Intention der gewählten Begriffe die sogenannten »Professionellen«

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aus, ungeachtet der Tatsache, dass diese als »normale Menschen« nicht von Krankheiten oder Behinderungen, eigener wie der ihrer Angehörigen, verschont bleiben und dass ihre gesundheitspolitischen Interessen nicht auf berufsspezifische Inhalte beschränkt bleiben. Die theoretische Herleitung solcher Bezeichnungen aus der soziolo­ gischen Theorie der Sozialen Rolle erweist sich hier wie anderwärts als fragwürdig, wenn letztlich das Subjekt aller sozialen Rollen die menschliche Persönlichkeit und ihre Bedürfnisse in Rede stehen. Wer einerseits die vielfältige, facettenreiche Realität der Bedürfnisse von Betroffenen ernst nimmt, anderseits aber deren umfassende und wirkungsvolle Vertretung in den Handlungs- und Organisationspro­ zessen des Gesundheitswesens für zwingend notwendig hält, kann eigentlich nicht umhin, neben der Vertretung durch Interessenver­ bände im System der repräsentativen Demokratie andere, vor allem niedrigschwelligere, Angebote zur Partizipation verbindlich einzu­ führen. Die geschilderte Problematik zeigt sich sehr anschaulich bei den bürokratischen Verrenkungen, den Teilnehmerkreis von kommu­ nalen Gesundheitskonferenzen nach dem ÖGD-Gesetz NordrheinWestfalens zu bestimmen.

Chancen einer kommunalen Gesundheitspolitik – Stategien des bottom up Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik – so ist es oft charakteri­ siert worden – ist ein Geflecht organisierter Interessen, die sich gegen­ seitig begrenzen und in der Waage halten – es ist »vermachtet` und stabilisiert sich in dieser Form als »System«. Wandlungen sind daher nur durch hintergründige oder schleichende Prozesse zu erwarten, die dieses Machtgefüge auch gegen den Willen der Funktionsträger verändern. Zu diesen Prozessen gehören – – – –

der zunehmende Einfluss der Patienten, Verbraucher oder Nutzer und der Bürger, die Begrenzung des Leistungsrahmens der Gesetzlichen Kran­ kenkassen, integrative Versorgungsformen als Gegengewicht zu Arbeits-, Funktions- und Zuständigkeitsverteilung, die Legitimation eines wachsenden finanziellen Aufwands und Leistungsumfangs durch eine Orientierung an Versorgungszie­ len.

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Die Forderung nach individuellen und kollektiven Patientenrech­ ten sowie nach Konsumentenvertretung im Gesundheitswesen steht auf einer das politische Parteienspektrum übergreifenden Agenda. Ohne die Mitwirkung der Bürger und Patienten an der Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Gesund­ heit und ohne entsprechende Vorgaben für eine solche Mitwir­ kung sind anspruchsvolle Versorgungsziele nicht zu erreichen (Asthma- oder Diabetesmanagement z. B. setzen spezifische Kenntnisse, Fertigkeiten und eine entsprechende Motivation auf Seiten der Betroffenen voraus). Wer mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit, eine Orientierung an Gesundheitszielen und an »harten« Erfolgsparametern will, um das – zugegebenerma­ ßen ungünstige – Verhältnis von Leistungsaufwand und gesund­ heitlichem Zustand der Bevölkerung zu verbessern, muss den Preis einer breiten und niedrigschwelligen Mitbestimmung der Betroffenen zahlen; diese setzt überschaubare Räume voraus. An der Notwendigkeit, den Leistungsrahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung zu begrenzen und damit den gesundheits­ politischen Einfluss der Krankenkassen und ihrer Verbände zu beschränken, statt ihn auszuweiten, führt auf die Dauer kein Weg vorbei. Die über drei Jahrzehnte betriebene Strategie der Wei­ terentwicklung durch Kostendämpfung ist ausgeschöpft. Dieser Sachzwang bringt zwangsläufig die Träger der Gesundheitspoli­ tik ins Spiel, die sich freilich zu Unrecht durch die Gesundheits­ reform von 1971 von ihrer Verantwortung entlastet wähnten: die Bundesländer und die Kommunen. Beide Prozesse, Zunahme der Patienten- und Bürgerrechte und Beschränkung des Leistungsrahmens der Gesetzlichen Kranken­ versicherung, werden die Schnittstellen deutlicher hervortreten lassen, die durch politische und verwaltungsorganisatorische Zuständigkeitsverteilung sowie durch arbeitsteilige Spezialisie­ rung entstanden sind und die Erreichung von Versorgungszielen behindern. Die Überwindung der Schnittstellen macht inno­ vative Formen Berufs-, organisations- und sektorübergreifen­ der Zusammenarbeit unumgänglich, sogenannte Formen einer »integrierten Versorgung«. Die hierfür notwendige Konsensbil­ dung und Förderung der Kooperation, die erwartete »Integra­ tionsleistung«, kann nur von einer zur Interessenneutralität verpflichteten, durch allgemeine Wahlen legitimierten und mög­ lichst dezentralen Instanz, also von den Gebietskörperschaften,

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den Bundesländern und bürgernah nur von den Kommunen bzw. von deren Zusammenschlüssen gewährleistet werden. Versorgungsziele, sollen sie mehr bewirken als rhetorische Programme, die als Instrumente einer symbolischen Politik nach tagespolitischer Opportunität auswechselbar sind, setzen Versorgungsräume voraus. Nur in definierten Versorgungsräu­ men können Leistungen und deren Ergebnisse, Interventionen und deren Erfolge nach spezifischer Verantwortung zugerechnet werden und damit motivierend wirken. Hier werden regionale Gesundheitspolitik und regionale Selbstverwaltung unverzicht­ bar. In dieser Hinsicht hat das ÖGD-Gesetz Nordrhein-Westfa­ lens von 1997 Zielvorstellungen entwickelt und Voraussetzun­ gen geschaffen.14 Kommunale Selbstverwaltung und ihr Pendant Selbstbeschränkung der Landesregierung haben mit diesem Gesetz eine Chance für eine Gesundheitspolitik bottom up an Stelle der bisher betriebenen Politik des top down bekommen. Ihre Verwirklichung müssen allerdings noch intensive Lernpro­ zesse begleiten. Wenn wir eingangs sagten, die Gesundheitsre­ form der ersten sozialliberalen Koalition war ein gesellschaftspo­ litisches Experiment des top down, so gilt dies selbstredend auch für eine zukünftige Strategie des bottom up.

14 Renner A, Brandenburg A, von Ferber C. Zur Evaluation von Gesundheitskonfe­ renzen – eine Pilotstudie. Badura B, Siegrist J (Hrsg). Evaluation im Gesundheitswe­ sen. Ansätze und Ergebnisse. Weinheim und München: Juventa 1992; S. 179–199.

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Beitragsnachweise

Teil 1 Helmut Plessner zum Gedächtnis (4. September 1892 – 12. Juni 1985), in: Köl­ ner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1985 (4), S. 811–813

Teil 2 Interdisziplinarität und Praxisorientierung – nur eine Utopie? Ein Plädoyer für die Phänomenologie, in: Karl Martin Bolte/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.) Soziologie als Beruf. Erinnerungen westdeutscher Hochschulprofessoren der Nachkriegsgeneration. Soziale Welt. Sonderband 11. Nomos Verlagsgesell­ schaft. Baden-Baden 1998, S. 109–129 Christian von Ferber: 1931–1938, Der Emigrationsverlust (Tabellen), in: ders. Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschu­ len 1864–1954. Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer. Hrsg. von H. Plessner. Bd. III. Göttingen 1956, 143–148 Interessenpluralismus und empirische Sozialforschung. Zur Frage der politi­ schen Voraussetzungen der Soziologie. In: Zeitschrift für Politik. 4 Jg. (N. F.) 1957, S. 316–332 Moderne Kunst und industrielle Arbeit, in: Christian von Ferber: Arbeitsfreude. Wirklichkeit und Ideologie. Ein Beitrag zur Soziologie der Arbeit in der indus­ triellen Gesellschaft. Göttinger Abhandlungen zur Soziologie. Bd. 4. Stuttgart 1959, S. 34–57 Der Tod. Ein unbewältigtes Problem für Mediziner und Soziologen. In memo­ riam Werner Hofmann. Kölner Zeitschrift für Soziologie. 22 (1970). S. 237– 250 Soziologische Aspekte des Todes. In memoriam Otto Schmidt, 1898–1962, ordentlicher Professor für Gerichtliche Medizin an der Universität Göttingen, in: Christian und Liselotte von Ferber. Der kranke Mensch in der Gesellschaft. Rowohlts Deutsche Enzyklopädie. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 45–70 Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit? in: Jürgen Friedrich/Bernd Wes­ termann (Hrsg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner. Mit einem Geleitwort von Dietrich Goldschmidt, Peter Lang, Euro­ päischer Verlag der Wissenschaften. Frankfurt am Main 1995, S. 327–335 Aufklärung durch Soziologie? in: Wissenschaft und Aufklärung. Hrsg. Rainer Enskat. Opladen 1997, S. 159–172

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Beitragsnachweise

Sozialforschung – ein zukunftsweisendes Modell für Interdisziplinarität und Praxisorientierung, in: Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsge­ staltung und Arbeitspolitik. Heft 2. Jg. 6 (1997), S. 139–153

Teil 3 Die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Epidemiologie, in: Die Krankenversicherung, Bd. 19 (Juni 1967), S. 145–153 Vom Nutzen der Soziologie für die Medizin, Arbeitsmedizin – Sozialmedizin – Arbeitshygiene, 8 (1970), S. 213–217 Gesellschaftliche Grundlagen der Volksgesundheit, in: Arbeit und Leistung, 25 Jg. 1971, Heft 1, S. 1–8 Der epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens – naturwissenschaft­ lich kausale und sozialwissenschaftlich normative Betrachtungsweise, in: Sachlichkeit. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Helmuth Plessner, hg. von Günter Dux und Thomas Luckmann, Opladen 1974, S. 331–346 Volks- und Laienmedizin als Alternative zur wissenschaftlichen Medizin – zur Partizipation im Gesundheitswesen, in: Soziale Sicherheit, 24 (1976), S. 203–209 Wie wird der Patient Beteiligter? Zur Partizipation im Gesundheitswesen, in: Anstöße, 3/4 (1976), S. 69–77 Was verdankt die Medizin der Soziologie?, in: Hippokrates, Jg. 47, Heft 3, 1976, S. 199–211 Kommunales Gesundheitswegen – eine historische Erinnerung oder ein zukunftsfähiges Konzept?, in: Gesundheitswesen 2001 (63 Jg.), S. 651–657

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